Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich, wünsche Ihnen einen guten Tag und uns weiter-hin gute Beratungen.Es fängt mit erfreulichen Mitteilungen an: Der Kol-lege Hubert Deittert feierte am 21. März seinen65. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliereich nachträglich herzlich und wünsche alles Gute.
Wir haben den Schwerpunkt der heutigen Debatte an derZahl 65 orientiert; insofern ist sichergestellt, dass wiruns in der Nähe dieses Ereignisses aufhalten.Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass der frühereAbgeordnete Horst Schmidbauer aus dem Stiftungsratder Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch BlutprodukteHIV-infizierte Personen“ ausgeschieden ist. Als Nach-folger wird der Kollege Christian Kleiminger vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen-sichtlich der Fall. Dann ist der Kollege Kleiminger inden Stiftungsrat gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um einige Überweisungen im verein-Redefachten Verfahren zu erweitern. Die Vorlagen sind in derIhnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:ZP 1 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,der FDP und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENBelarus nach den Präsidentschaftswahlen– Drucksache 16/1077 –
ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes über elektronische Han-delsregister und Genossenschaftsregister sowie dasUnternehmensregister
– Drucksache 16/960 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologiAusschuss für Kultur und Medienzung den 30. März 2006.00 Uhrb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem ÜbereinkommenNr. 146 der Internationalen Arbeitsorganisation vom29. Oktober 1976 über den bezahlten Jahresurlaubder Seeleute– Drucksache 16/1001 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem ÜbereinkommenNr. 166 der Internationalen Arbeitsorganisation vom9. Oktober 1987 über die Heimschaffung der Seeleute
– Drucksache 16/1002 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Rah-menbeschlusses über den Europäischen Haftbefehlund die Übergabeverfahren zwischen den Mitglied-
– Drucksache 16/1024 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
textAusschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungInnenausschussAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnione) Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte ander Friedensmission der Vereinten Nationen im Sudan
auf Grundlage der Resolution 1663 (2006)
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom24. März 2006– Drucksache 16/1052 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
htsausschussteidigungsausschussschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undwicklungeRecVerAusAusEntHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
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Präsident Dr. Norbert LammertVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden. Ich vermute, dassSie auch mit diesen Vereinbarungen einverstandensind. – Dann ist das so beschlossen.Wir setzen nun die Haushaltsberatungen – Tagesord-nungspunkt 1 – fort:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2006
– Drucksache 16/750 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungFinanzplan des Bundes 2005 bis 2009– Drucksache 16/751 –Überweisungsvorschlag:HaushaltsausschussIch erinnere daran, dass wir für die heutige Ausspra-che insgesamt neuneinhalb Stunden beschlossen haben– erfahrungsgemäß wird das eher etwas länger als kür-zer –, damit jeder disponieren kann.Wir beginnen die Haushaltsberatungen mit demGeschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeitund Soziales, Einzelplan 11. Das Wort hat der Bundes-minister Franz Müntefering.
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit undSoziales:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie auch meinerseits ganz herzlich.Wir haben, was die Konjunkturzahlen angeht, in denletzten Tagen und Wochen gute Nachrichten bekommen:Einzelhandelsumsatz plus 1,8 Prozent, Auftragseingangder Industrie plus 10,6 Prozent, Auslandsaufträge plus15,9 Prozent, Inlandsaufträge plus 5,3 Prozent, Produk-tion im verarbeitenden Gewerbe plus 4,7 Prozent, Auf-tragseingänge im Bauhauptgewerbe plus 7,3 Prozent,Ifo-Geschäftsklimaindex von 103,3 im Februar auf105,4 im März. Das sind nüchterne Zahlen, aber sie zei-gen eine gute Tendenz auf. Wir haben allen Grund, in derKoalition daraus etwas zu machen.
Dieses Jahr 2006 soll ein Jahr sein, in dem sich die Kon-junktur in Bewegung setzt, ein Jahr, in dem dieses LandZuversicht gewinnt und wieder besser lernt, seine Chan-cen zu nutzen und daraus auch für den Arbeitsmarkt et-was Gutes zu machen.
Die Arbeitsmarktzahlen, die die Bundesagenturheute bekannt geben wird – es ist nicht meine Aufgabe,sie hier schon zu kommentieren –, sind noch nicht sogut, wie wir sie uns eigentlich wünschen. Die Zahl derArbeitslosen wird unter 5 Millionen liegen. Es gibt alsodeutlich weniger Arbeitslose als im letzten Jahr, auchwenn es nicht befriedigend ist. Die Zahl der Arbeitslosenin Deutschland ist zu hoch und das bleibt die große He-rausforderung für die Politik, aber auch für die Wirt-schaft und die Gesellschaft insgesamt. Wir wollen undwir müssen dafür sorgen, dass mehr Menschen inDeutschland Arbeit haben, dass sie Beschäftigung ha-ben, dass sie aus der Arbeitslosigkeit herauskommen.
Dazu wird unser 25-Milliarden-Euro-Programm fürdiese Legislaturperiode beitragen. Ich will noch einmaldeutlich machen, dass durch diese 25 Milliarden Euro,die der Bund gibt, Investitionen von etwa 100 MilliardenEuro in Bewegung gesetzt werden.
Der Einzelne bekommt beispielsweise von 3 000 Euroan Arbeitskosten, die er für Reparaturen an seinem Haus,an seiner Wohnung, an seinem Grundstück zu bezahlenhat, 600 Euro über das Finanzamt wieder.
Das heißt, mit dem, was wir anschieben, werden wirhohe Investitionen in Bewegung setzen.
Diejenigen, die gleichzeitig noch etwas für die ener-getische Gebäudesanierung machen, können das addi-tiv absetzen. Das heißt, es können auch 1 200 Euro imJahr sein. Es liegt an uns allen, diese Programme in derÖffentlichkeit bekannt zu machen, dafür zu werben undden Menschen zu zeigen, wie sie diese nutzen können.
Wir müssen und wollen natürlich besser werden, wasdie Vermittlung der Arbeitslosen durch die Bundesagen-tur für Arbeit, die Argen oder die optierenden Gemein-den angeht. Die Bundesagentur wird in diesem Jahr ohneBundeszuschuss auskommen. Das ist gut. Den Argenund den optierenden Gemeinden stehen insgesamt10 Milliarden Euro zur Verfügung: 3,5 Milliarden Eurofür die Verwaltung und 6,5 Milliarden Euro für die Ein-gliederung. Das ist eine Summe, mit der man eine ganzeMenge erreichen kann. Im Gegensatz zu allem, was inDeutschland so üblich geworden ist, will ich die Gele-genheit heute Morgen nutzen, den Männern und Frauenzu danken, die bei der Bundesagentur, in den Argen undin den optierenden Gemeinden ihre Arbeit tun.
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Bundesminister Franz MünteferingEs klappt nicht alles,
aber dort ist eine Menge Engagement vorhanden. Wirsollten die unterstützen, die gut sind, die sich anstrengenund die die Dinge im Rahmen dessen, was möglich ist,in Bewegung setzen.
Sie tragen im Übrigen auch dazu bei, dass die Zahlderer, die sich inzwischen als Saisonarbeiter gemeldethaben, über 20 000 hinausgeht. Das ist, so finde ich, eingutes Zeichen. Wir haben lange darüber gestritten, wieviele von den 330 000 erforderlichen Saisonarbeitern fürdie Ernte – so viele gab es im letzten Jahr – vom deut-schen Arbeitsmarkt geholt werden können. Wir habengesagt, es könnten 10 Prozent sein, also 30 000 bis33 000. Inzwischen sind es 20 000; die Tendenz ist stei-gend. Da ist vielleicht ein kleines Stückchen Hoffnung,dass das, was wir versuchen, erreicht wird, nämlich dass10 Prozent dieser Saisonarbeiter auf dem deutschen Ar-beitsmarkt rekrutiert werden. Das ist meine Erwartungund das muss möglich sein.
Angesichts von 4,9 Millionen Arbeitslosen müssen30 000 vom deutschen Arbeitsmarkt für solche Arbeitenzur Verfügung stehen.
Der Haushalt, über den wir sprechen, umfasst119,5 Milliarden Euro. Davon entfallen 38,5 MilliardenEuro auf den Bereich Grundsicherung, Arbeitslosen-geld II. Wir werden noch in diesem Jahr darüber zusprechen haben, was wir an welcher Stelle noch präzisereinsetzen können und ob wir möglicherweise an der ei-nen oder anderen Stelle sparen können.In dem Haushalt sind aber auch zwei kleinere Posten,die ich stellvertretend nennen will, weil sie eine Linieder Politik der großen Koalition deutlich machen.267 Millionen Euro werden speziell für die Eingliede-rung Älterer – 50 plus – ausgegeben. Es muss eine dergroßen Aufgaben der großen Koalition sein, die Mentali-tät zu brechen, dass Leute im Alter von 50 oder 55 zumalten Eisen gezählt werden. Sie sind wichtig, sie könnenetwas und sie werden auch in Zukunft in dieser Gesell-schaft gebraucht.
68 Millionen Euro setzen wir für das Programm EQJein. Das ist ein Kürzel, das man sich merken sollte. Esgeht um die Einstiegsqualifizierung für junge Men-schen. Das sind solche, die ohne Schulabschluss in dasAlter der Ausbildung kommen und mit diesen Maßnah-men ausbildungsfähig gemacht werden. Die Maßnah-men sind erfolgreich. Im letzten Jahr sind 61 Prozentdieser jungen Menschen anschließend in eine Ausbil-dung gekommen. Das ist eine gute Zahl, ein gutes Er-gebnis. Dieses Programm wollen wir auf jeden Fall wei-terführen.
Wir werden, wie versprochen, zum 1. Juli die Exis-tenzgründung aus der Arbeitslosigkeit heraus neu ord-nen. Aus dem Überbrückungsgeld und der Ich-AG wer-den wir ein neues, effizientes Konzept machen. Wennman sich die Ich-AG anschaut, dann sieht man, dassganz besonders viele Frauen in diesem Bereich eineExistenz gegründet haben. Die Zahl der Frauen unterden Selbstständigen hat sich in den letzten vier Jahrenvon 27,9 auf fast 30 Prozent erhöht. Diese Zahl bietet dieGelegenheit, auf die Situation der Frauen am Arbeits-markt zu schauen. Die Erwerbsquote ist inzwischen bei59,2 Prozent angekommen. Auf europäischer Ebene ha-ben wir vereinbart, bis zum Jahr 2010 die Quote auf60 Prozent zu steigern. Wir könnten das schaffen.
– Ja, es gibt noch viele „Aber“ dabei. Deswegen sprecheich das an; denn wir wollen nicht nur über das sprechen,was schon erreicht worden ist.Wenn man sich die Löhne der Frauen für vergleich-bare Arbeit anschaut, dann erkennt man, dass sie in Ost-deutschland bei 92 Prozent und in Westdeutschland bei76 Prozent liegen. Es gibt also immer noch ein großesGefälle. Dass es dieses Gefälle gibt, liegt ganz sichernicht an fehlender Intelligenz oder an fehlenden Fähig-keiten.
Wenn man sich das Ganze ein wenig genauer an-schaut, dann stößt man noch auf Folgendes: 3,4 Prozentder Jungen, aber nur 2,5 Prozent der Mädchen müsseneine Schulklasse wiederholen. 22 Prozent der Jungen,aber 30 Prozent der Mädchen machen Abitur oder er-werben die Fachhochschulreife. 10 Prozent der deut-schen Jungen und 23 Prozent der Jungen mit Migrations-hintergrund haben keinen Schulabschluss. Im Vergleichdazu die Mädchen: 6 Prozent der deutschen Mädchenund 15 Prozent der Mädchen mit Migrationshintergrundhaben keinen Schulabschluss. Das heißt, es gibt viel un-genutzte Kreativität und Intelligenz. Diese müssen wirmit Blick auf die Zukunftsfähigkeit unseres Landes drin-gend nutzen.
Die europäische Dienstleistungsrichtlinie ist auf ei-nem guten Weg. Ich hoffe, dass sich die Vorschläge derEU-Kommission an dem orientieren, was das Europäi-
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Bundesminister Franz Münteferingsche Parlament beschlossen hat. Diese Hoffnung teilt dieganze Bundesregierung. Unser Land wird allerdings da-für zu sorgen haben, dass es sich mit den entsprechendenMaßnahmen rechtzeitig gegen Lohndumping absichert,wenn die europäische Dienstleistungsrichtlinie in eini-gen Jahren in Kraft tritt.Die europäische Dienstleistungsrichtlinie bestimmtnicht die Höhe der Löhne. Unsere Aufgabe wird es sein,Instrumente zu finden, die Lohndumping verhindern,zum Beispiel Kombilohn, Mindestlohn, Entsendegesetz.
Ich empfehle sehr, dass wir uns angewöhnen, erst überdie Ziele, um die es geht, und dann über die Instrumentezur Zielerreichung zu sprechen. Instrumente darf mannicht ideologisieren. Die entscheidende Frage lautet:Wie können wir dafür sorgen, dass gering Qualifiziertein diesem Land ihre Arbeit behalten, dass ihre Arbeits-plätze nicht ins Ausland verlagert werden und dass siehinreichend hohe Löhne bekommen? Ich wiederhole:Wir müssen entsprechende Instrumente finden. Wir wol-len über diesen Komplex im Verlauf dieses Jahres, imHerbst, auf jeden Fall noch intensiver sprechen und danndafür sorgen, dass Brandmauern gegen Lohndumpingvon außen entstehen.
Im Bundeshaushalt sind 77,7 Milliarden Euro für denBereich Rente vorgesehen. Dabei geht es nicht nur umoriginäre Rentenzahlungen. Zum Teil geht es dabei umMaßnahmen, die in keinem unmittelbaren Zusammen-hang mit dem Rentenbereich stehen. Es sind also versi-cherungsfremde Leistungen. Die Menschen erwarten,dass sie ihr Geld bekommen. Es macht also keinen Un-terschied, ob man diese oder jene Bezeichnung wählt: Essind 77,7 Milliarden Euro.Ohne diese Mittel lägen die Rentenversicherungsbei-träge nicht bei 19,5 Prozent, sondern bei 27 Prozent oderwären die Renten um über 25 Prozent niedriger. Das al-les wollen wir aber nicht. Ich möchte nur darauf hinwei-sen, in welch hohem Maße Renten steuerfinanziert sind.Ich glaube, unsere Regelung ist vernünftig. Deshalb sageich ausdrücklich: Wir bekennen uns dazu, dass ein gro-ßer Teil dessen, was wir im Rentenbereich leisten, steu-erfinanziert ist.
Diese Regelung hat allerdings auch ihre Grenzen.Dass wir die Renten zum 1. Juli nicht erhöhen können,war klar.
Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, durch deneine Rentenabsenkung verhindert werden soll. Das wareine sinnvolle Maßnahme. Die mir mittlerweile bekann-ten Zahlen besagen: Die Löhne im Westen der Republiksind um 0,2 Prozentpunkte gestiegen und im Osten derRepublik um 0,4 Prozentpunkte gesunken. Wenn manden Riester-Faktor und den Nachhaltigkeitsfaktor hinzu-genommen hätte, dann wären die Renten rechnerisch umetwa 1 Prozentpunkt oder sogar mehr gesunken.Es gibt eine Schutzklausel, die besagt: Die Rente inOstdeutschland darf sich nicht schlechter als die in West-deutschland entwickeln. Die Konsequenz aus alldem ist,dass die Renten nicht erhöht werden. Dass wir das perGesetz geregelt haben, hat einen großen Vorteil – wirhätten sonst eine Verordnung erlassen müssen –: Da-durch wird verhindert, dass die Deutsche Rentenversi-cherung rund 20 Millionen Mitteilungen verschickenmuss. Das war nicht nur ein sinnvoller Schritt hinsicht-lich der Beteiligung des Parlaments, sondern auch einBeitrag zur Entbürokratisierung. Ich glaube, dass wir mitdem Gesetz, das wir vorbereitet haben, gut liegen.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu der zu-sätzlichen Versicherung, „Riesterrente“ genannt, sagen.Wir werden dazu in diesem Jahr noch die Initiative er-greifen, so wie das im Koalitionsvertrag auch steht. Wirwollen sie noch populärer und interessanter machen, in-dem wir den Kinderzuschlag erhöhen. Das soll im Jahr2008 umgesetzt werden, aber das Konzept muss klarsein.Wir müssen neben die gesetzliche Rente die betrieb-liche Rente und die Riesterrente setzen. Bei der betrieb-lichen Rentenversicherung sind inzwischen 15,7 Mil-lionen Menschen dabei. Bei der Riesterrente sindinzwischen 5,6 Millionen Menschen dabei. Wir solltendie Riesterrente für Familien mit Kindern noch interes-santer machen, für sie noch eine Verbesserung herbei-führen, indem wir ihnen einen höheren Zuschlag geben,wenn sie bereit sind, an dieser Stelle vorzusparen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Claus?
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und
Soziales:
Ja, bitte schön.
Herr Bundesminister, in verschiedenen Berliner Me-dien wurde berichtet, dass Sie als Bundesregierung einHartz-IV-Optimierungsgesetz geplant hätten. KönnenSie uns mitteilen, wann Sie dieses Gesetz einbringenwollen, sofern es von Ihnen denn überhaupt geplant ist,und können Sie hier ausschließen, dass mit diesem Ge-setz Kürzungen beim ALG-II-Bezug vorgesehen sind?
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Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit undSoziales:Es ist nicht neu, dass wir ein SGB-II-Optimierungs-gesetz machen. Das ist richtig. Das steht auch im Koali-tionsvertrag. Das ist vorbereitet. Wir haben ein SGB-II-Änderungsgesetz gemacht – ich nehme an, Sie haben dasmitbekommen –; darin haben wir Regelungen zu den biszu 25-Jährigen getroffen. Jetzt reden wir im Zusammen-hang mit dem SGB-II-Optimierungsgesetz über dieFrage, ob man im Bereich der BedarfsgemeinschaftenPräzisierungen haben muss und was sonst noch nötig ist,um in diesem Bereich zu sparsamem Verhalten zu kom-men.
– Warten Sie!Wir hatten im letzten Jahr im Haushalt 14,6 Milliar-den Euro für Arbeitslosengeld II vorgesehen.
Es sind aber tatsächlich ungefähr 25 Milliarden Euro ge-worden.
Die Gemeinden haben uns im vergangenen Jahr95 Prozent der Sozialhilfeempfänger in den Bereich desArbeitslosengeldes II gegeben. Das ist nicht zu kritisie-ren; ich stelle es nur fest. Im letzten Jahr haben wir alsoetwa 25 Milliarden Euro an Arbeitslosengeld II gezahlt.Zwischen Januar und September/Oktober ist die Zahlder Bedarfsgemeinschaften um etwa 16 Prozent gestie-gen. Noch immer steigt die Zahl der Bedarfsgemein-schaften, die an dieser Stelle Geld bekommen. Nunmüssen wir als Gesetzgeber schauen: Wird das Gesetz sogenutzt, wie es gemeint war, oder entwickelt sich da et-was, was wir so nicht wollen können?Ich will Ihnen sagen, dass das, was dazu aus IhremBereich kommt – ich will Sie nicht persönlich dafür inAnspruch nehmen –, nämlich die Unterstellung, die ichin diesen Tagen an verschiedenen Stellen lesen musste,wir versuchten, das Arbeitslosengeld II, die Grund-sicherung, auf 225 Euro oder eine vergleichbare Zahl zusenken, falsch ist. Ich sage es Ihnen nur; Ihre Frage isteine gute Gelegenheit dafür, das klarzustellen. Ich bitteSie ganz dringend, dies zu unterlassen und nicht dazubeizutragen, dass da Verunsicherung entsteht.
Niemand will das Arbeitslosengeld II streichen oderkürzen; aber es muss damit ein vernünftiger Umgangpraktiziert werden. Einer muss es ja bezahlen; die Steu-erzahler sind dran. Was ich in den letzten Tagen und Wo-chen dazu gehört habe, sagt mir: Wir müssen noch ein-mal ehrlich darüber sprechen, welche Zielrichtung dasArbeitslosengeld II hat. Es ist eine Grundsicherung undes darf nicht über das hinaus gebraucht werden, was wireigentlich vorgesehen haben.Also, das Optimierungsgesetz – das war Ihre Frage –wird kommen. Sie sind herzlich eingeladen, dabei mitzu-wirken.
Wenn wir über die Riesterrente und über deren Ent-wicklung sprechen, werden wir auch darüber sprechen,wie wir stärker als bisher Wohneigentum einbeziehenkönnen.
Ob sich das nun auf Wohneigentum unmittelbar oderauch auf Dauerwohnrecht beziehen wird, wird zu klärensein. Es ist ganz zweifellos so: Wohnmöglichkeiten,Wohnrecht im Alter zu günstigen Bedingungen zu ha-ben, kann ein wichtiger Faktor für das Gefühl der Men-schen sein,
zum Alter hin Sicherheit zu haben. Wir werden ganz si-cher einen Weg finden, um da zu einer vernünftigen Re-gelung zu kommen.
Herr Minister, würden Sie noch eine weitere Zwi-
schenfrage, nämlich des Kollegen Seifert, zulassen?
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und
Soziales:
Ja, bitte schön.
Bitte schön, Herr Kollege Seifert.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank auch Ih-nen, Herr Minister, dafür, dass Sie das gestatten.Erlauben Sie mir bitte eine Frage zu einem Punkt, denSie bisher nicht angesprochen haben. Da Sie sagten, dassSie zum Schluss Ihrer Rede kommen, möchte ich, weildas in Ihrem Haushalt bis jetzt nirgends zu finden ist,gern Folgendes fragen:Nächstes Jahr ist das Jahr der Chancengleichheit. InIhrem Ressort muss dafür ja etwas gemacht werden.Was, bitte, haben Sie vorgesehen, damit dieses Jahr, indas auch die EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands fällt,für Menschen, die auf Chancengleichheit angewiesensind und für die das Jahr wichtig ist, einen Impuls gibt,der auch über dieses Jahr hinausreicht? Ihr Staatssekretärkonnte mir auf diese Frage vor einem Monat leider nochkeine vernünftige Antwort geben, weil Ihr Haus damalsnoch nicht so weit war. Sind Sie da inzwischen etwasweiter? Was planen Sie in diesem Jahr an Mitteln in denHaushalt einzustellen, damit das Jahr der Chancen-gleichheit vorbereitet werden kann, und was planen Siefür nächstes Jahr, damit wirklich vernünftige Impulsegegeben werden können?
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Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit undSoziales:Vielen Dank, Herr Kollege. Das ist ein richtiger Hin-weis. Das nächste Jahr wird das Jahr der Chancengleich-heit sein. Wir werden in der Europäischen Union dieRatspräsidentschaft haben. Das Thema wird natürlichvon der Bundesregierung und der Koalition aufgenom-men werden. Jetzt ist, glaube ich, nicht der richtige Zeit-punkt, darüber in aller Breite Ausführungen zu machen.Ich bin aber gern bereit, das im zuständigen Ausschussin absehbarer Zeit ausführlich zu tun. Wir wollen dafürsorgen, dass im nächsten Jahr unter dem Gesichtspunktder Chancengleichheit insbesondere Diskriminierungverhindert wird, dass die Interessenlage der Menschenmit Behinderungen in besonderer Weise Berücksichti-gung findet. Sie können sicher sein, dass wir diese Auf-gabe nicht vergessen, auch wenn heute Morgen nicht dieZeit ist, über alles im Einzelnen zu sprechen. Aber ichglaube, dass das, was wir für Menschen mit Behinderun-gen in den vergangenen Jahren getan haben, gut undüberzeugend war. Diese Arbeit wollen wir auch fortset-zen. Sie ist nötig und wichtig. Ich bin gern bereit, bei an-derer Gelegenheit ausführlicher über diese Zusammen-hänge zu sprechen. Das Thema ist bei uns jedenfallsgesetzt. Wir sind uns bewusst, dass das im nächsten Jahreine große Rolle spielen wird.
– Ich habe zur Opposition noch nichts gesagt. Was sollman dazu auch sagen?
Aber das kommt mir gerade recht. Denn dann will ichfolgendermaßen abschließen, wenn ich so weit überzie-hen darf. Gestern hat der Herr Westerwelle ja hier ge-standen und sich darüber mokiert, dass ich früher etwasanderes gesagt hätte als heute, dass ich meine Meinunggeändert hätte. Er hat dazu aus den vergangenen Jahrenzitiert. Ich will Ihnen ausdrücklich sagen: Das ist wahr.Ich empfehle Herrn Westerwelle, noch einmal die Ge-schichten von Herrn Keuner nachzulesen. Dort heißt es:Als Herr Keuner nach vielen Jahren einen alten Bekann-ten wieder traf, begrüßte dieser ihn und sagte: „Sie ha-ben sich gar nicht verändert.“ Dazu heißt es bei Brecht:„Und K. erbleichte.“
Ganz im Ernst: Wer nicht den Mut hat, in verändertenpolitischen Situationen neu nachzudenken, an den Zielenfestzuhalten, aber die Instrumente so zu wählen, dassman damit Gescheites machen kann, der ist für die Poli-tik nicht geeignet. Schönen Gruß an Herrn Westerwelle:Westerwelle bleibt Westerwelle. Er hat sich nicht verän-dert.Vielen Dank.
Ich will, Herr Minister, der Vollständigkeit halber hin-
zufügen, dass der von Ihnen zitierte Autor Bert Brecht
weder Mitglied der FDP-Fraktion noch Mitglied der
SPD-Fraktion war.
Jedenfalls setzen wir nun die Debatte fort. Das Wort
erhält die Kollegin Frau Dr. Winterstein für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ver-ehrter Herr Minister! Bei der Betrachtung des neuenMinisteriums für Arbeit und Soziales muss man leidereines in aller Deutlichkeit sagen: Der Arbeitsministerhat, was den Beitrag zur Haushaltskonsolidierung an-geht, völlig versagt. Nach Ihren schönen Worten, HerrMinister, kommen wir jetzt einmal zu den weniger schö-nen Tatsachen.3 Milliarden Euro sollten, so die Koalitionsvereinba-rung, durch Optimierungen bei Hartz IV im Jahr 2006gespart werden. Davon ist kaum etwas übrig geblieben.Durch die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge fürArbeitslosengeld-II-Empfänger sollten 2 MilliardenEuro gespart werden. Das findet in 2006 nicht statt.600 Millionen Euro sollten durch Senkung der Ansprü-che der unter 25-jährigen Arbeitslosengeld-II-Empfän-ger eingespart werden. Davon sind für 2006 nur noch160 Millionen Euro an Einsparungen übrig geblieben.Auch dieser Beitrag steht nur auf dem Papier; denn dieBundesagentur ist nicht in der Lage, dies zeitgerecht um-zusetzen.
Stattdessen wurden Entscheidungen getroffen, dieden Haushalt 2006 zusätzlich belasten, wie die Erhö-hung des Arbeitslosengeldes II Ost – das sind 220 Mil-lionen Euro –, die Weiterzahlung des Bundesanteils anden Unterkunftskosten – das sind 3,6 Milliarden Euro –oder die Verlängerung der Förderungsdauer der Ich-AGs, die die Bundesagentur 270 Millionen Euro kostenwird.Auch aus der Absicht, den Bundeszuschuss zurRente zu stabilisieren, wird nichts. Der Zuschuss steigtweiter, jedes Jahr um 1 Prozent. Das ist keinesfalls einEinfrieren, wie sich die Koalition das vorgenommenhatte. 77,5 Milliarden Euro überweist der Bund in die-sem Jahr an die Rentenkasse. Das ist der größte Postendes gesamten Haushalts.Im Februar 2006 lag die Arbeitslosenzahl in Deutsch-land wieder bei 5 Millionen, jetzt knapp darunter. Wennwir hier endlich zu Verbesserungen kommen wollen,müssen wir Verkrustungen auf dem Arbeitsmarkt besei-tigen. Aber auch hier leistet der Arbeitsminister nichtdas, was notwendig ist. Notwendig aus Sicht der FDPsind gesetzliche Öffnungsklauseln im Tarifrecht, die Ab-schaffung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von
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Dr. Claudia WintersteinTarifverträgen, eine Änderung des Günstigkeitsprinzipsund Reformen beim Kündigungsschutz. Alldem verwei-gert sich die Koalition.
Im Wahlprogramm der Union klang das übrigens allesnoch ganz anders. Wo sind denn jetzt Ihre Reforman-sätze, meine Damen und Herren von der Union? Verges-sen, versenkt oder ins Gegenteil verkehrt.
Herr Müntefering hat jetzt sogar die Umsetzung des Ko-alitionsvertrags in Bezug auf den Kündigungsschutzgestoppt. Das Wenige, was sich die Koalition dort vorge-nommen hat, ist der SPD schon zu viel.Am 1. März schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zei-tung“:Wer Lohnzusatzkosten senken will, darf die Abga-benlast der Minijobs nicht von 25 auf 30 Prozenterhöhen.
Wer Beschäftigung schaffen und Schwarzarbeitverhindern will, darf nicht Mindestlöhne einfüh-ren …
Wer die Steuerzahler beim Arbeitslosengeld II ent-lasten will, darf nicht ohne zwingenden Grund neueLeistungen wie die höheren Regelsätze im Osteneinführen.
Wer die Nürnberger Bundesagentur entlasten will,darf ihr nicht mit dem geplanten Kombilohn neueAufgaben aufbürden.
So ist es, meine Damen und Herren. Besser kann man esnicht sagen.Ich will den Blick noch auf einige Elemente des vor-liegenden Haushaltsplanentwurfes lenken. Der Entwurfnutzt die Umstrukturierung zwischen Arbeits-, Wirt-schafts- und Gesundheitsministerium dazu, ein nureingeschränkt aussagefähiges Zahlenwerk zu präsentie-ren. Klar zu erkennen sind in dem Hauptkapitel „Minis-terium“ lediglich die Sollzahlen für 2006, nicht aber dieIstzahlen für 2005, sodass ein Vergleich mit dem Vorjahrüberhaupt nicht möglich ist.Ich habe den Eindruck, dass das Arbeitsministeriumdiese Unübersichtlichkeit für sich nutzt. Es gibt etlicheTitel, bei denen die alten Häuser wenig abgeben, dasneue Haus sich aber mehr nimmt. Das betrifft zum Bei-spiel die Öffentlichkeitsarbeit. 2005 gaben Wirtschafts-und Gesundheitsministerium – allein im engsten Minis-teriumsbereich – zusammen 14 Millionen Euro aus. Mitdem neuen Arbeitsministerium sollen es jetzt zusammen17 Millionen Euro werden. Das sind im Gesamthaushaltkeine großen Summen. Aber sie sind symptomatisch.Aus dem alten Ansatz „Forschung, Untersuchungenund Ähnliches“ des Gesundheitsministeriums in Höhevon 10 Millionen Euro nimmt das Arbeitsministerium6,3 Millionen Euro mit. Das Gesundheitsministeriumsetzt aber auch 6 Millionen Euro an, also unter demStrich 2,3 Millionen Euro zusätzlich. So funktioniert dasalso.Es liegt auch die Vermutung nahe, dass der Arbeitsmi-nister, der ja auch Vizekanzler ist, diese Unübersichtlich-keit dazu nutzt, um Personalaufwüchse zu verstecken.Aufgrund der Trennung sollen dem Gesundheitsministe-rium schon 18 neue Stellen zugebilligt werden. Zusätz-lich reklamiert aber auch das Arbeitsministerium19 neue Stellen allein für den Leitungsbereich, die jähr-lich etwa 1,3 Millionen Euro kosten werden.
Man muss schon genau und kritisch hinsehen, wodiese neuen Stellen für erforderlich gehalten werden.Hier wird deutlich, dass die schiere Existenz des Ar-beitsministeriums als neu gestaltetes Haus für den Steu-erzahler ein teures Unterfangen ist.
Ein Minister mehr, damit ist es nicht getan, wie mansieht.Im Haushalt 2006 werden die Kosten für die Arbeits-marktpolitik wieder einen sehr großen Posten ausma-chen. Insgesamt 38,3 Milliarden Euro sind im Entwurffür die Grundsicherung der Arbeitsuchenden vorgese-hen. Darin stecken neben den eigentlichen Zahlungenfür das Arbeitslosengeld II unter anderem die3,6 Milliarden Euro, die der Bund sich als Beteiligungan den Kosten für Unterkunft und Heizung hat abhan-deln lassen, 6,5 Milliarden Euro für Eingliederungsleis-tungen plus 3,5 Milliarden Euro für Verwaltungskosten.Bei den Eingliederungsleistungen bitte ich genauhinzusehen. Denn bei den Instrumenten, die hier zumEinsatz kommen, handelt es sich auch um solche, die inder Untersuchung der Effekte von Hartz I bis III beson-ders schlecht bewertet wurden. Maßnahmen, die im bes-ten Fall unwirksam, im schlechtesten sogar kontrapro-duktiv sind, müssen so schnell wie möglich abgeschafftwerden.
Allerdings sieht es nun so aus, als wolle der Arbeitsmi-nister – er hat es eben angesprochen – besonderen Ehr-geiz darauf verwenden, genau diese Instrumente nochbreiter anzuwenden. Seine Initiative „50 plus“ deutet je-denfalls in diese Richtung.Herr Minister, nicht einmal die Bundesagentur willdiese Instrumente noch. Sie plädiert dringend für einDurchforsten des Förderdschungels und für eine Kon-zentration auf weniger Maßnahmen.
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Dr. Claudia WintersteinEs ist deswegen ein Fehler, wenn die Regierung die Effi-zienzprüfung dieser Maßnahmen verzögert, statt sich ihrzu stellen.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Der Arbeitsminister ist mit seinem Sparbeitrag weit hin-ter den Vorgaben der Koalitionsvereinbarung zurückge-blieben. Die Regierung ist zu den notwendigen Refor-men am Arbeitsmarkt nicht bereit. Bei den Ausgaben fürdas Arbeitslosengeld II drohen auch in diesem JahrHaushaltslöcher. Der Bundeszuschuss zur Rente steigtnach wie vor.Ihr Haushaltsentwurf, Herr Minister, enthält also er-hebliche Risiken. Das ist alles andere als solide Arbeit.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die Kollegin Ilse Falk, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieDebatte über den Haushalt des Bundesministers für Ar-beit und Soziales hat nicht allein wegen des großen fi-nanziellen Volumens dieses Einzelplans erhebliche Be-deutung, sondern auch und vor allem deswegen, weil einGroßteil unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger von die-sem Haushalt und den darin enthaltenen Maßnahmen un-mittelbar betroffen ist.
Die große Herausforderung dieser Koalition – das isteben schon sehr deutlich angesprochen worden – ist dieBekämpfung der Arbeitslosigkeit.Deswegen lautet die schlichte Frage: Was kann dasRessort Arbeit und Soziales dazu beitragen, dass wiedermehr Arbeitsplätze entstehen? Denn nur durch dieSchaffung von zusätzlichen sozialversicherungspflich-tigen Beschäftigungsverhältnissen eröffnen wir denbetroffenen Menschen Zukunftsperspektiven, bekämp-fen wir nachhaltig Armut und Benachteiligung und errei-chen wir die notwendige Entlastung bei den Sozialaus-gaben, was alles dauerhaft zur Konsolidierung desHaushalts beiträgt.In der Arbeitsmarktpolitik gibt es nicht den großenWurf, die Lösung. Der Erfolg misst sich vielmehr letzt-lich an vielen einzelnen Maßnahmen, die sinnvoll inei-nander greifen müssen und zum Gesamtergebnis beitra-gen können. Deswegen lassen Sie mich zu Beginnmeiner Rede noch einmal einen Blick auf das Sofort-programm für Wachstum und Beschäftigung mit ei-nem Volumen von 25 Milliarden Euro werfen, das vomMinister gerade angesprochen worden ist. Ich will dazuergänzend einen Punkt benennen, der aus meiner Sichteinen wichtigen Ansatz im Zusammenhang mit der Ar-beits- und Sozialpolitik bietet: Der private Haushaltwird als Arbeitgeber anerkannt. Wir kommen also derlang gehegten und in der 13. Legislaturperiode schoneinmal auf den Weg gebrachten, aber dann leider wiederabgeschafften Idee vom Haushalt als Betrieb ein ganzesStück näher. Private Haushalte werden zunehmend zu ei-nem wichtigen Feld für neue Beschäftigung. Unter-schiedlichste Aufgaben werden bezahlten Arbeitskräftenübertragen: Haushaltsführung, Kinderbetreuung, Garten-arbeit, aber auch Dienstleistungen, die das Alter erfor-derlich macht, bis hin zur Pflege.Ich will an dieser Stelle auf Folgendes aufmerksammachen: Frankreich wird uns ja immer als ein Vorbildzum Beispiel in der Familienpolitik und der Kinderbe-treuung vorgehalten. Dort sind inzwischen in den Haus-halten im Bereich der Tagesmütter und der Kinderbe-treuung 400 000 Stellen entstanden. Man ist dort vollerOptimismus, dass sich das auf 600 000 Stellen steigernlässt. Ich denke, das ist eine Größe, die wir nicht ver-nachlässigen sollten.
Allerdings – deshalb wird die Diskussion nicht gernelaut geführt – erfolgt dies weitgehend im Bereich derSchattenwirtschaft. Herr Biedenkopf sagte letzte Wo-che: Der Haushalt ist die stärkste Säule der Schattenwirt-schaft. – Damit kommen wir zu dem größten Problem,das hier besteht: Sozialversicherungspflichtige Arbeitmuss bezahlbar sein. Deswegen sollten wir neben demnun begonnenen Einstieg in eine bessere Steuerabsetz-barkeit diesen Bereich im Zusammenhang mit den Über-legungen zum Niedriglohnsektor – ich nenne hier nurden Kombilohn – noch einmal näher betrachten. Arbeits-platzpotenzial scheint hier auf jeden Fall vorhanden zusein.Aber auch hierzu eine kritische Anmerkung: Bei of-fensichtlich zunehmendem Bedarf an Dienstleistungenim Haushalt sollten wir für dieses Arbeitsfeld als Aus-bildungsberuf werben. Ich kenne viele erwerbstätigeFrauen, die verzweifelt nach qualifizierten Hilfen suchenund keine finden. Ganz sicher gibt es viele junge Frauen– Männer wohl eher weniger –, die hier eine geeigneteArbeit finden könnten. Es ist bedauerlich, dass der Haus-halt viel zu lange niedergeredet und als nicht zumutbarerArbeitsplatz bezeichnet wurde. Das muss sich dringendändern.
Noch ein Wort zur Schwarzarbeit. Ein gewichtigerBeitrag sowohl zur Konsolidierung des Haushalts alsauch zur Senkung der Lohnnebenkosten kann mit derBekämpfung illegaler Beschäftigung erreicht werden.Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung haben ein be-denkliches Maß erreicht. Deshalb hat sich die Koalitionzum Ziel gesetzt, den gesamten Bereich der Schatten-wirtschaft zurückzudrängen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen wichtigen Im-puls auch für den Mittelstand versprechen wir uns von
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Ilse Falkder Senkung der Lohnzusatzkosten. Die Koalition hatsich vorgenommen, die Lohnzusatzkosten dauerhaft aufunter 40 Prozent zu senken. Ein erster Schritt, um diesesZiel zu erreichen, wird die Absenkung des Beitrags zurArbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,5 Prozent ab1. Januar nächsten Jahres sein.Auch der Bundeshaushalt 2006 – nicht nur unser Ein-zelplan – ist in seiner Struktur von einem viel zu hohenAnteil an Sozialausgaben geprägt, die sich auf rund134 Milliarden Euro belaufen. Schwerpunkte bilden er-neut die Leistungen an die gesetzliche Rentenversiche-rung und die Arbeitsmarktausgaben. An dieser Stellemüssen wir ansetzen. Wir haben uns im Rahmen von Re-formen und Strukturverbesserungen eine Reihe vonMaßnahmen vorgenommen, um dauerhaft Einsparungenzu erzielen.Erste Sparmaßnahmen sind bereits durch die Ände-rung des SGB II umgesetzt.
Ich will beispielhaft auf die Ausweitung der Bedarfsge-meinschaften eingehen, die ja unbestreitbar stattgefun-den hat. Es ist beschlossen, die Bildung von Bedarfsge-meinschaften durch unter 25-Jährige wiederzurückzuführen und Eltern wieder stärker in die Verant-wortung für ihre Kinder zu nehmen.
Darüber hinaus erarbeitet die Koalition gegenwärtigEckpunkte für den Entwurf eines Optimierungsgesetzes,mit welchem Fehlentwicklungen im Bereich der Grund-sicherung für Arbeitssuchende entgegengewirkt werdensoll. Durch die Optimierung von Verwaltungsabläufenund eine Verbesserung der Strukturen sollen Einsparun-gen und auch Effizienzgewinne erzielt werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Einsparungen sindnötig. Sie sind gerechtfertigt und, wie wir finden, auchgerecht; denn die Ausgaben im Bereich der Grund-sicherung haben mit ungefähr 10 Milliarden Euro – dieZahl wurde bereits erwähnt – bei weitem das angenom-mene Volumen überschritten. Das liegt nicht allein ander zusätzlichen Zahl von erwerbsfähigen Sozialhilfe-empfängern, denen durch diese Regelung wieder eineChance auf dem Arbeitsmarkt eröffnet wurde – das be-grüßen wir alle –, sondern vor allem an der offensicht-lich kreativen Ausnutzung mancher Regelung; dafür gibtes deutliche Anzeichen. Die Koalition wird diesemMissbrauch im Interesse der ehrlichen ALG-II-Empfän-ger, die darunter ebenso leiden wie die Beiträge und Ab-gaben zahlenden Arbeitnehmer, entgegensteuern.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass esuns in diesem Bereich zwar sehr wohl um Einsparungengeht, aber auch darum, wie wir die zur Verfügung ste-henden Mittel sinnvoll und im Interesse der Betroffeneneinsetzen können. Wichtig ist mir, dass wir diejenigen,die trotz besonderer Belastungen arbeiten möchten unddie Solidargemeinschaft nicht belasten wollen, dabeinicht aus dem Blick verlieren. Ich werde mich im Zugeder anstehenden Reformmaßnahmen daher ganz beson-ders dafür einsetzen, dass bezogen auf das ALG II Rege-lungen geschaffen werden, die Behinderten die Rück-kehr ins Berufsleben dadurch erleichtern, dass im Zugeeiner Rehabilitation auch die Kosten für besondere Maß-nahmen übernommen werden.An dieser Stelle sei mir ein kleiner Schlenker zur Ge-sundheitspolitik erlaubt. Sie alle werden in diesen Tagenvermutlich von Menschen mit Behinderungen, denenaufgrund der Budgetierung der Arztleistungen gesund-heitserhaltende Therapien vorenthalten werden bzw.zum Ende eines Quartals nicht mehr zur Verfügung ste-hen, angesprochen werden. Ich denke, an dieser Stellemüssen wir sehr genau hingucken, denn gerade dieseTherapien sind oft von substanzieller Bedeutung für dieErhaltung der Arbeitskraft.
– Genau hingucken heißt, dass an dieser Stelle keineSparmaßnahmen stattfinden dürfen.
Die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben istnicht nur Verpflichtung, sondern ein Gewinn für dieganze Gesellschaft. Das sollten wir uns immer wiederklarmachen.Die Koalition ist überzeugt, dass die aktive Arbeits-marktpolitik einen wichtigen Beitrag zur Verbesserungder Beschäftigungschancen leistet. Wir planen daher, dieVielzahl der kaum noch überschaubaren Förderinstru-mente im Interesse der arbeitssuchenden Menschen aufden Prüfstand zu stellen und konkrete Verbesserungsvor-schläge zu machen. Es wäre schon viel gewonnen, wennwir uns dazu durchringen könnten, der örtlichen Ebenebei den Fördermaßnahmen wieder mehr Verantwortungzuzutrauen und den einzelnen Agenturen und ihren Mit-arbeitern Ermessensspielräume einzuräumen.Wichtige Instrumente der Arbeitsmarktpolitik sindangesprochen worden. Eine Arbeitsgruppe arbeitet ander Neuregelung der Maßnahmen zur Beförderung vonExistenzgründungen. Die Kanzlerin hat gestern zumKündigungsschutz, so denke ich, die richtigen Worte ge-funden. Daher will ich darauf nicht näher eingehen.An dieser Stelle sei mir aber erlaubt, darauf hinzuwei-sen, wie wichtig es auch aus arbeitsmarktpolitischen undwirtschaftlichen Gründen ist, Familien verstärkt in denBlick zu nehmen. Die Verantwortung von Familien, zumBeispiel in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit und die Leis-tungsbereitschaft der Kinder, der zukünftigen Arbeitneh-mer, ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Auchdie Erziehung zukünftiger Führungseliten unseres Lan-des findet in erster Linie in den Familien statt. Das dür-fen wir nicht unterschätzen.
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Deshalb ist es für Unternehmen und Politik gleicher-maßen eine Herausforderung, den Familien durch rich-tige Rahmenbedingungen und die bessere Gestaltung derVereinbarkeit von Familie und Beruf entgegenzukom-men, damit Familie auch gelebt werden kann.Des Weiteren ist es nicht von der Hand zu weisen,dass Familie auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für unsersoziales Sicherungssystem gar nicht ernst genug genom-men werden kann. Rentenpolitik ist in diesen Tagen al-lerorten das Thema. Der Zusammenhang mit den zu-rückgehenden Kinderzahlen ist offensichtlich.
Wir haben den Beschluss gefasst, das Renteneintritts-alter von 65 auf 67 Jahre anzuheben. Diese Antwort hal-ten wir für gerecht. Sie soll für die faire Lastenverteilungzwischen den Generationen sorgen; denn bei allem, waswir tun, dürfen wir den Ausgleich zwischen den Genera-tionen nicht vergessen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle zwei Bemerkungenzu der Anhebung des Renteneintrittsalters von 65 auf67 Jahre machen: Erstens finde ich es bemerkenswert,dass sich vor allem diejenigen immer lautstark zu Wortmelden, die von der Regelung gar nicht betroffen sind.Zweitens habe ich mich gefragt, wie sich ein Arbeits-minister eigentlich richtig verhalten kann. Im Zuge derDebatte wird uns immer wieder der Spruch des ehemali-gen Arbeitsministers Blüm „Die Rente ist sicher!“ vor-gehalten.
Er habe angeblich nicht die Wahrheit gesagt. Zugleicherlebe ich, wie dieselben Kritiker den heutigen Arbeits-minister verbal niedermachen, wenn er ihnen zur Be-gründung für unser beabsichtigtes Handeln die Faktenvorhält. Verstehe das, wer will.
Man kann es drehen und wenden, wie man will. An denFakten kommt man einfach nicht vorbei.Das Thema Rente wird uns weiterhin heftig begleiten.
Aber es ist zu betonen, dass die gesetzliche Rente auchin Zukunft einen hohen Stellenwert haben wird. Sie be-darf angesichts der demographischen Entwicklung derErgänzung durch die betriebliche und die private Alters-vorsorge. Die beabsichtigte zusätzliche Förderung durchdie Erhöhung der Kinderzulage und die Einbeziehungdes selbstgenutzten Wohneigentums in die geförderteAltersvorsorge wurden hier schon angesprochen.Abschließend möchte ich noch einmal betonen: Sonotwendig und richtig die beschriebenen Maßnahmensind, eine dauerhafte und nachhaltige Entspannung aufdem Arbeitsmarkt und in der Sozialversicherung werdenwir nur erreichen, wenn es gelingt, in unserem Land wie-der mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs-verhältnisse zu schaffen.
Erst dann haben Arbeitslose eine echte Chance, wiederArbeit zu bekommen, Arbeit, die ihnen oft verlorenesSelbstwertgefühl zurückgibt und sie von staatlichenLeistungen unabhängig macht.Da logischerweise im Zusammenhang mit dem Ar-beits- und Sozialhaushalt immer eher von der anderenSeite, nämlich den Schwervermittelbaren oder den Un-willigen die Rede ist, ist es mir besonders wichtig, zumSchluss gerade die in den Blick zu nehmen, die alles Er-denkliche tun, um einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatzzu finden. Dies sollten wir viel häufiger ansprechen.Wir alle haben eine große Verantwortung dafür, fürunser Land wieder Zukunft zu gewinnen. Viele Signalelassen uns inzwischen optimistischer in die Zukunft se-hen. Aber ich appelliere an alle Verantwortlichen in derPolitik – also an uns –, in der Wirtschaft und den Ge-werkschaften, stets das Ganze im Blick zu haben undden sich abzeichnenden Aufbruch nicht durch Klientel-politik bereits im Keim zu ersticken.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun die Kollegin Kornelia Möller, Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben die höchste Zahl an Langzeitarbeitslo-sen, die die Bundesrepublik Deutschland je erlebthat, und das muss sich wieder ändern.Dies verkündete Angela Merkel in ihrer Regierungser-klärung.
Inzwischen sind mehr als hundert Tage vergangen.Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist weiter gewachsen.Über zwei Millionen sind es nach den gestrigen Anga-ben der Kanzlerin. Die offizielle Gesamtzahl arbeitsloserMänner und Frauen liegt immer noch bei fast fünf Mil-lionen. Mir fehlt jedes Verständnis, Frau Merkel. Sie ha-ben anscheinend vergessen, Ihrem Finanzminister, HerrnSteinbrück, Ihre Zielstellung mitzuteilen. Denn derHaushalt 2006 ist als Instrument des Abbaus der Ar-beitslosigkeit völlig ungeeignet.
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Kornelia MöllerImpulse für die dringend notwendige offensive Be-schäftigungspolitik? Fehlanzeige. Wenn es nicht mehrArbeitsplätze gibt, dann laufen viele, vielleicht gut ge-meinte Aktivitäten in der Arbeitsmarktpolitik bei derVermittlung und Eingliederung ins Leere. Ich prophezeieIhnen: Spätestens die geplante Erhöhung der Mehr-wertsteuer wird die Binnenkonjunktur in verantwor-tungsloser Weise weiter schwächen und die Zahl derArbeitslosen weiter in die Höhe treiben.
Landauf, landab glaubt man Ihren vollmundigen Ver-sprechen nicht mehr, Frau Merkel, Herr Steinbrück undHerr Müntefering. Eine ernüchternd niedrige Wahlbetei-ligung belegt das anschaulich. Selbst dem Chef der Bun-desagentur für Arbeit fällt es schwer, auch nur funktions-bedingten Optimismus zu verbreiten. Denn AnfangApril wird er wieder verkünden müssen, dass es fast fünfMillionen arbeitslose Menschen gibt.Ich unterstelle einfach, dass es einige in Ihrem Regie-rungslager gibt, die an Vollbeschäftigung wirklich inte-ressiert sind. Aber die, die tatsächlich das Sagen haben,die Bosse in Nadelstreifen, nutzen die Arbeitslosigkeitschamlos aus. Sie machen Druck auf die, die noch Arbeithaben. Dass nach dem Motto „Friss oder stirb!“ einStundenlohn von 4 Euro gezahlt wird, ist längst keineSeltenheit mehr.Aber der eigentliche Skandal in der Politik ist: Ließensich die Sozialdemokraten noch vor Jahren von demGrundsatz leiten, dass der wichtigste Weg zur Konsoli-dierung des Haushalts der Abbau der Arbeitslosigkeitist, so sehen sie heute offenbar, vereint mit CDU undCSU, in der weiteren Senkung des Lebensniveaus ar-beitsloser Menschen die entscheidende Quelle der Haus-haltskonsolidierung. Der Arbeitsminister stellt sich da-bei an die Spitze der Befürworter dieser Politik. ImKlartext: Die Schere zwischen Arm und Reich klafftweiter auseinander, und das mit sozialdemokratischemSegen.Wir haben Ihnen konkrete Vorschläge gemacht, dievon Ihnen aber abgelehnt wurden. Abgelehnt wurde un-ser Antrag auf Übertragung der Mittel aus dem Jahr2005 in das Jahr 2006. Dabei handelte es sich um einenBetrag in Höhe von rund 1 Milliarde Euro für Eingliede-rungsmaßnahmen innerhalb des Regelkreises ALG II.Hätten Sie zugestimmt, stünde heute 1 Milliarde Euromehr für aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung.
Es wären mehr Arbeitsgelegenheiten in der Entgeltvari-ante möglich, und die dringend nötige Weiterbildungvon Langzeitarbeitslosen könnte stattfinden.Abgelehnt wurde auch unser Vorschlag zur Einbezie-hung weiterer Branchen mit diskontinuierlicher Beschäf-tigung in die Regelung des Saisonkurzarbeitergeldes.Hätten Sie zugestimmt, gäbe es heute weniger saisonbe-dingte Arbeitslose.
Abgelehnt wurde schließlich unser Vorschlag, das Ar-beitslosengeld in den neuen Ländern rückwirkend zumJanuar 2005 an das Niveau in den alten Ländern anzu-gleichen. Hätten Sie zugestimmt, hätten wir heute eineStärkung der Binnennachfrage und dadurch eine ver-stärkte Nachfrage nach Arbeit.
Das iso-Institut, eine der 20 Evaluierungseinrichtun-gen, hat sinngemäß festgestellt: Wer nicht leicht vermit-telbar ist, fällt durch den Rost.
Denn die BA konzentriert ihre Vermittlungsbemühungenauf jene Arbeitsuchenden, die relativ leicht vermittelbarsind, weil sie zum Beispiel jung, gesund und gut ausge-bildet sind.Damit keine Zweifel aufkommen: Auch wir sind füreinen effektiven Einsatz der Mittel. Gerade deswegen istes für mich als Ökonomin besonders verwunderlich,dass Sie noch immer glauben, mit betriebswirtschaftli-chen Methoden neoliberaler Ausprägung eine Volkswirt-schaft beleben und Arbeitsplätze schaffen zu können.
Früher sagte man dazu: „den Bock zum Gärtner ma-chen“. Aber früher gab es in diesem Parlament auchnoch eine sozialdemokratische Partei.
Besonders hart hat es die Hartz-IV-Empfängerinnenund -Empfänger getroffen. Hans-Jürgen Marcus, derSprecher der Nationalen Armutskonferenz, sagte gesternin Berlin, dass sich allein die Anzahl der Kinder unter15 Jahren, die auf Sozialhilfeniveau leben, im Jahre2005 von 1 Million auf rund 1,5 Millionen erhöht hat. Esgibt in Deutschland also 1,5 Millionen arme Kinder. DieDunkelziffer schätzt er auf zusätzlich rund 200 000 Kin-der. Als Grund für die steigende Anzahl armer Men-schen in diesem Land nannte er die ArbeitsmarktreformHartz IV.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, spätes-tens nach diesem Beispiel müssten Sie sich eigentlich anIhre Verantwortung erinnern. Ich sage Ihnen: BeseitigenSie diese Zustände! Denn Hartz IV ist ein schlechtes Ge-setz. Hartz IV muss weg!
Die Kollegin Brigitte Pothmer ist die nächste Redne-
rin für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! GutenMorgen, Herr Arbeitsminister Müntefering! Ich freuemich, dass nun auch bei Ihnen angekommen ist, dassFrauen nicht dümmer sind als Männer. Allerdings hätte
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Brigitte Pothmerich es noch besser gefunden, wenn Sie uns heute Morgenmitgeteilt hätten, welche Konsequenzen die Regierungdaraus ziehen wird, dass Frauen auf dem Arbeitsmarktgleichwohl auch weiterhin diskriminiert werden.
Herr Minister, was wir in den vergangenen Wochenvon dieser Regierung und der großen Koalition in Sa-chen Arbeitsmarktpolitik gehört haben, lässt sichselbst bei wohlwollendster Betrachtung nicht andersüberschreiben als folgendermaßen: Die große Koalitionund die Arbeitsmarktpolitik – das Ende einer Legende.Ich will hier gar nicht ausführlich auf die weitgehend un-veränderten Arbeitslosenzahlen eingehen. Sie werdenaber nicht bestreiten, dass letztlich diese Zahlen der ob-jektive Gradmesser für den Erfolg oder Misserfolg einerRegierung in Sachen Arbeitsmarktpolitik sind. Wennsich eine Steigerung des Geschäftsklimaindex auf demArbeitsmarkt nicht in Form von neuen Arbeitsplätzenniederschlägt, dann nützt uns das am Ende wenig.Die Vorgängerregierungen haben jeweils eine Viel-zahl von Gründen für das Ausbleiben einer Verbesserungauf dem Arbeitsmarkt anführen können. Sowohl dieKohl-Regierung als auch die rot-grüne Regierung habenunter der Blockade vieler ihrer Reformen durch die Op-position im Bundesrat gelitten. Aber das sei jetzt vorbei,so die große Ankündigung von CDU/CSU und SPD beiihrer Elefantenhochzeit. Ihre Versprechen lauteten:Union und SPD in einem Boot; beide ziehen an einemStrang; Bahn frei für eine neue Republik. Reformstausolle ein Fremdwort sein. Es gebe neue Möglichkeitenund rasante Veränderungen. Das alles mache man zumWohle der Bürgerinnen und Bürger und vor allen Dingenzum Wohle der arbeitslosen Menschen.Viele wussten vorher, dass das so nicht kommen wird,aber jetzt haben wir es amtlich. Das war letztlich ein gro-ßer Bluff. Auch und gerade im Bereich der Arbeits-marktpolitik ist nicht mehr passiert, als dass die früherzwischen Bundesrat und Bundestag ausgetragenen Gra-benkämpfe nun in der gemeinsamen Regierung stattfin-den. Das Kabinett Merkel und Müntefering ist quasi einständiger Vermittlungsausschuss.
Und was kommt dabei heraus? Die Politik des kleins-ten gemeinsamen Nenners. Der kleinste gemeinsameNenner ist aber zu wenig angesichts der großen Pro-bleme, die sich uns bei der Bewältigung der Massen-arbeitslosigkeit in diesem Land stellen.Sie haben den Menschen eine Koalition der neuenMöglichkeiten versprochen.
Aber was passiert? Sie streiten! Sie streiten als verschie-dene Arbeitgeber bei den Tarifverhandlungen im öffent-lichen Dienst. Sie streiten über das Renteneintrittsalter.Sie streiten über Kombi- und Mindestlöhne.
Sie streiten über den Kündigungsschutz. HerrMüntefering, ich glaube, dass auch Sie sich das etwasanders vorgestellt haben. Sie hätten gerne das Motto ge-habt: Wo ein Münte ist, da ist auch ein Weg.
Aber abgesehen davon, dass man zunehmend den Ein-druck gewinnen muss, dass Sie dann gar nicht gewussthätten, welchen Weg Sie dann hätten einschlagen sollen,muss es heute heißen: Wo ein Münte ist, da sind ein Dut-zend Wegelagerer, aus der eigenen Partei und aus denParteien des Koalitionspartners.
Diese Wegelagerer wollen den Kündigungsschutzweiter lockern, obwohl Ihnen die Arbeitgeber schon einhohes Maß an Flexibilität beim Kündigungsschutz be-scheinigen und immer wieder sagen, dass die Befris-tungsregelungen, die unter Rot-Grün eingeführt wordensind, allemal besser sind als eine zweijährige Probezeit,die jetzt von der CDU/CSU gefordert wird. Ich finde esgut, dass Sie diese Heckenschützen in die Schrankenweisen.
Gut so, kann ich nur sagen. Sie haben uns dabei auf IhrerSeite.Wenn Sie schon dabei sind, unsinnige Projekte zustoppen, dann stoppen Sie bitte auch die großflächigeEinführung von Kombilöhnen. Herr Müntefering, auchin diesem Punkt sind Sie letztlich klüger als Ihr Koali-tionspartner. Sie wissen, dass das kein geeignetes Instru-ment ist, um eine nennenswerte Zahl zusätzlicher Ar-beitsplätze zu schaffen.
Herr Minister, Sie haben einmal gesagt – das hat mirgut gefallen –, eine Regierung solle ab und an ruhig malauf die Opposition hören; denn auch die habe manchmalkluge Ideen. Ich kann Ihnen sagen: Das stimmt, manch-mal haben auch wir kluge Ideen. Wenn Sie richtig flottvoran wollen, dann kann ich Ihnen nur unser Progressiv-modell empfehlen. Mit diesem würden Sie die Lohn-nebenkosten im unteren Einkommensbereich, also indem Bereich, in dem wir am dringendsten zusätzlicheArbeitsplätze brauchen, gezielt senken. Was hindert Siedaran, dieses Progressivmodell einzuführen, HerrMüntefering?
Sie haben die Bekämpfung der Schwarzarbeit jaganz groß auf Ihre Agenda geschrieben. Was Sie tun, istaber leider das Gegenteil. Die Anhebung der Mehrwert-steuer auf 19 Prozent ist ein gigantisches Konjunktur-
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Brigitte Pothmerprojekt für Schwarzarbeit. Mit der Anhebung der Abga-ben für Minijobs belasten Sie ausgerechnet den Teil derArbeit, der extrem schwarzarbeitgefährdet ist. Die Bun-desknappschaft rechnet Ihnen den Verlust von750 000 Arbeitsplätzen in diesem Bereich vor. Diesewerden Sie mit dem Kombilohn nie und nimmer wiederaufbauen. Stoppen Sie also bitte auch diesen Unsinn!
Sie wollen das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre anhe-ben. Sie wissen, dass auch wir keine wirkliche Alterna-tive dazu sehen und dass wir das Projekt unterstützen.Die widersprüchlichen und unzureichenden Maßnahmenzur Integration älterer Menschen ins Erwerbsleben wer-den wir aber nicht mittragen. Sie haben hier auch heutenoch einmal lautstark die Initiative „Arbeit 50 plus“ ver-kündet, während Sie mit der 58er-Regelung gleichzeitigdie Ausgrenzung Älterer, also genau das Gegenteil, be-treiben. Bei uns in Teichlosen, wo ich herkomme, würdeman sagen: Was der mit den Händen aufbaut, reißt er mitdem Hintern wieder um. So kommen Sie nicht voran,Herr Müntefering.
Diese Politik wird uns auch vor dem Hintergrund derdemographischen Entwicklung sehr teuer zu stehenkommen, übrigens genauso teuer wie die unzureichen-den Kraftanstrengungen für die über 600 000 arbeitslo-sen jungen Menschen unter 25 Jahre. Diesen Jugendli-chen wird eine miserable Prognose für ihr Arbeitslebengestellt. Durch den Fachkräftemangel, der auf uns zu-kommen wird, wird dieses Problem auf die Gesellschaftzurückschlagen. Wenn wir eine Alternative zur lebens-langen Alimentierung dieser fast schon verlorenen Ge-neration schaffen wollen, dann brauchen wir mehr, alsSie uns hier anbieten, dann brauchen wir nämlich einenationale Kraftanstrengung in Sachen Bildung und Qua-lifikation. Das, was Sie im Rahmen der Föderalismus-reform in diesem Bereich vorhaben, ist auch in dieserHinsicht wirklich Gift.
Herr Arbeitsminister, ich fasse zusammen: Der Ar-beitsmarktpolitik dieser Regierungskoalition fehlt es anjeglicher Konsistenz. Bislang sind CDU/CSU und SPDjeden Beweis schuldig geblieben, dass es sich für die Ar-beitslosen gelohnt hat, auf die große Koalition zu setzen.Herr Müntefering, es gibt eben doch einen Unterschiedzwischen gut gemeint und gut gemacht.
Als Münte sind Sie wirklich längst Kult – alle Ach-tung –, als Arbeitsminister haben Sie sich bislang aberalles andere als einen großen Applaus verdient.Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Kollegen Klaus Brandner für die
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Ich will ganz deutlich sagen, dassdie Leitlinien der Haushaltspolitik der Bundesregierungund auch die Leitlinien der Haushaltspolitik des Ministe-riums für Arbeit und Soziales der Schaffung von mehrBeschäftigung in Deutschland dienen müssen.
Das sind die Leitlinien, mit denen wir angetreten sind,und das ist die Messlatte für alles und letztlich auch fürden Erfolg unserer Koalition, der großen Koalition, dieganz gezielt und systematisch daran arbeiten wird.
Dazu erhoffen wir die Unterstützung aller hier im Haus.Wenn es Ihnen Ernst ist, die Arbeitslosigkeit zurückzu-drängen, werden Sie sie leisten.
Meine Damen und Herren, ich denke, wir müssen denMenschen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt geben.
Deshalb ist unsere oberste Maxime in der politischen Ar-beit, dafür zu sorgen, dass mehr Wachstum und Beschäf-tigung in diesem Land entstehen können. Kolleginnenund Kollegen von der FDP, das bekommen wir nicht da-durch hin, dass Sie unqualifizierte Zwischenrufe abge-ben und nur herumnörgeln,
sondern dadurch, dass Sie tatsächlich Vorschläge ma-chen, die zu mehr Beschäftigung führen können.
Wir können über Ihre Politik gerne einen Diskurs füh-ren. Ihr Programm – das haben Sie heute Morgen bewie-sen und dargestellt – sieht wie folgt aus: Der Markt re-gelt alles; weniger Arbeitnehmerrechte; Vorfahrt fürSozialabbau. Damit haben Sie in der Vergangenheitnicht mehr Beschäftigung erreicht und das werden Sieauch in der Zukunft nicht erreichen. Damit werden Siescheitern.
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Klaus Brandner
Wir haben gehört, was die rechte Seite dieses Hausesdenkt. Ferner haben wir gehört, was die linke Seite die-ses Hauses will: Der allumfassende Staat soll alles re-geln und die allumfassende Regulierung soll alles inOrdnung bringen. – Das ist in der DDR gescheitert undwird auch hier scheitern. Wir setzen darauf, den Sozial-staat weiterzuentwickeln und durch eine systematischeVerbindung aus Angebots- und Nachfragepolitik zumehr Beschäftigung zu kommen. Wir wollen nicht ein-äugig Politik machen. Vielmehr wird uns ein ausgewo-gener Politikmix zum Erfolg führen.
Was wir brauchen, ist mehr Binnennachfrage. Des-halb setzen wir nicht nur auf Konsolidierung pur, son-dern wir setzen auf eine vernünftige Mischung ausWachstumsimpulsen und Konsolidierung. Das ist dasLeitbild unserer Politik, wie dies gestern und auch amDienstag in der Haushaltsdebatte deutlich geworden ist,als der Finanzminister den Gesamthaushalt vorgestellthat. Der logische Dreiklang aus Reformieren, Sanierenund Investieren wird uns auf einen soliden Wachstums-kurs zurückführen
und damit auch die Grundlagen für mehr Beschäftigungschaffen.Ich will in diesem Zusammenhang nicht unerwähntlassen, dass wir die Erhöhung der Mehrwertsteuer alsdurchaus problematisch ansehen. Wir stehen aber zumKoalitionsvertrag, um das hier ganz klar zu sagen. Wirschätzen, dass die gegenwärtige Dynamik und die zu er-wartenden Wachstumsraten diesen bremsenden Effektauffangen können, sodass das wirtschaftliche Wachstuminsofern durch die veränderte Mehrwertsteuer nichtgebremst wird. Wir wollen die Situation nicht schlecht-reden, sondern wir setzen darauf, dass das gefassteVertrauen zu einem entsprechend gesicherten Wachs-tumskurs führt.Der Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit undSoziales orientiert sich an diesem Leitbild. Er ist dergrößte Einzelplan. Sein Volumen macht etwa die Hälftedes gesamten Bundeshaushalts aus. Dieser Umfangmacht schon deutlich, welche Bedeutung die RegierungMerkel/Müntefering der sozialen Sicherung und denChancen für neue Arbeitsplätze beimisst. Wir setzen mitdiesem Bundeshaushalt auf strukturelle Reformen, umdie sozialen Sicherungssysteme vor dem Hintergrundder demographischen Entwicklung und den Herausfor-derungen durch die Globalisierung zukunftsfest zu ma-chen.Die Leitlinien dieses Haushaltes sind die konjunktur-gerechte Konsolidierung; das ist richtig. Das war auchbisher ein Markenzeichen der SPD, an dem wir festhal-ten werden. Wir stehen aber ebenso – das will ich klarsagen – für eine sozial gerechte Konsolidierung. Auchdas ist das Markenzeichen der SPD und des Haushaltsvon Bundesminister Franz Müntefering, bei dem wir unsfür eine solch klare Orientierung auf eine sozial gerechteKonsolidierung in seinem Haushalt bedanken.
Der Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit undSoziales zeichnet sich durch eine sinnvolle Balance zwi-schen Haushaltskonsolidierung und Wachstumspolitikeinerseits und sozialer Sicherheit und qualitativem An-spruch auf eine nachhaltige Arbeitsmarktpolitik ander-seits aus.Was haben wir bisher gemacht? Wir haben – das istheute schon angesprochen worden – dafür gesorgt, dassdie Rentenversicherung wieder bezahlbar und verläss-lich bleibt und auf eine solide Grundlage gestellt wird.Deshalb haben wir die grundsätzliche Entscheidung ge-troffen, die Lebensarbeitszeit in einer Stufenentwicklungbis 2029 auf 67 Jahre anzuheben.Diejenigen, die skandalisierend durchs Land gezogensind und so getan haben, als würde die Rente mit67 Jahren schon morgen Wirklichkeit werden, habennichts anderes versucht, als das Vertrauen in die Renten-versicherung nachhaltig zu erschüttern. Wir setzen da-rauf, das Vertrauen in die gesetzliche Rente und derenPlanungssicherheit zu erhalten. Deshalb haben wir beider Anhebung des tatsächlichen Renteneintrittsaltersdurch die Rückführung der Frühverrentung ein systema-tisches Zeichen entgegengesetzt.
Wir haben die Frühverrentung gestoppt, um den He-rausforderungen gerecht zu werden, die die Demogra-phie bzw. die längere Lebenserwartung der Menschenmit sich bringen. An erster Stelle sollte nicht der Wunschstehen, ohne Arbeit alt zu werden; es geht vielmehr da-rum, in Würde alt werden zu können, die Bedingungenfür das Älterwerden zu verbessern und eine größereFlexibilität beim Übergang aus dem Arbeitsprozess indie nächste Lebensphase zu erreichen. Hier sind diewichtigen Veränderungen vorzunehmen, nämlich dieFlexibilität und Qualität der Arbeitsbedingungen zu ver-bessern und – auch durch lebenslanges Lernen – für ei-nen möglichst langen Verbleib im Arbeitsprozess zu sor-gen.
Wir haben in der Koalition auch dafür gesorgt, dassweder in diesem Jahr noch in dieser Legislaturperiodeeine Rentenkürzung vorgenommen wird. Wir haben fürdie Anhebung des Arbeitslosengelds II in den ostdeut-schen Bundesländern auf das Westniveau gesorgt. Wirhaben auch eine Neuregelung für die Zulassung von aus-ländischen Saisonarbeitskräften vorgesehen, durch dieerstmals festgelegt wird, dass 10 Prozent der Zulassun-gen – das ist zwar ein kleiner Prozentsatz, aber es ist im-merhin ein Einstieg – an inländische Arbeitskräfte ver-
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Klaus Brandnergeben werden. Diesen Weg müssen wir kontinuierlichfortsetzen.Es muss auch in allen anderen Bereichen – großeKontingente ausländischer Arbeitnehmer werden zumBeispiel mit Werkverträgen eingesetzt – gelingen, in ei-nem systematischen Stufenplan mehr Beschäftigung fürinländische Arbeitskräfte zu organisieren. Auch diesenWeg hat die Koalition systematisch eingeschlagen.Wir haben des Weiteren durch entsprechende Zu-schüsse zu den Unterkunftskosten zur finanziellen Ent-lastung der Kommunen beigetragen. Damit haben wireinen deutlichen Beitrag zu mehr öffentlichen Investitio-nen geleistet. In einer Tickermeldung wurde heute be-richtet, dass die öffentlichen Haushalte auf einem gutenKonsolidierungskurs sind. Dieser Prozess muss fortge-setzt werden.
Wir haben uns vorgenommen, in diesem Jahr daran zuarbeiten, dass existenzsichernde Löhne in Deutschlandwieder eine größere Bedeutung bekommen. Wir sind da-für, dass die Ausdehnung des Entsendegesetzes auf dieGebäudereiniger möglichst schnell umgesetzt wird.Diese Regelung sollte aber auch möglichst schnell aufweitere Branchen ausgedehnt werden, um zu verhindern,dass unter anderem durch die europäische Dienstleis-tungsrichtlinie Dumpinglöhne in diesem Land eingeführtwerden können, und zu gewährleisten, dass sozialeSicherheit und Mindeststandards weiterhin eine hohePriorität genießen. Wir müssen als Gesetzgeber die Vo-raussetzungen schaffen, einen Dumpingprozess zu ver-hindern.
Wir wollen die Chancen von älteren Beschäftigtenam Arbeitsmarkt verbessern. Wir brauchen dafür krea-tive Ansätze, um zum Beispiel einen Mentalitätswechselin den Unternehmen zu erreichen. Wir unterstützen dieseAktivitäten und können nur jeden Abgeordneten auffor-dern, in seinem Wahlkreis die Unternehmen zu belobi-gen, in denen es gelungen ist, ältere Beschäftigte im Ar-beitsprozess zu halten, mit guten Taten zu werben undmit gutem Beispiel voranzugehen. Das muss zu einemMentalitätswechsel in den Unternehmen beitragen. Dennwir können nicht hinnehmen, dass so viele ältere Men-schen, die qualitativ gute Arbeit leisten, über Erfahrun-gen verfügen und arbeiten wollen, aufs Abstellgleis ge-schoben werden und nicht mehr die Möglichkeit haben,in der Arbeitswelt zu verbleiben. Das wollen und dürfenwir nicht hinnehmen. Dazu muss ein deutliches Signalaus der gesamten Politik kommen.
Wir haben uns vorgenommen, im SGB-II-Optimie-rungsgesetz die Leistungen in der Grundsicherung fürArbeitslose zu optimieren. Dabei geht es uns nicht inerster Linie darum, pauschal dem Missbrauch das Wortzu reden; wir wollen vielmehr die Leistungserbringungund -umsetzung so optimieren, dass diejenigen, denenimmer wieder unterstellt wird, dass sie auf dumme Ge-danken kommen könnten, durch einen schnellen Akti-vierungsprozess erst gar nicht die Gelegenheit dazu ha-ben. Das muss unser Anspruch sein: schnell undvernünftig Leistungen zu erbringen, statt pauschal einenMissbrauchsverdacht zu äußern und auf diese Art undWeise Teile dieser Gesellschaft zu diskreditieren.
Das ist nicht in Ordnung und darum müssen wir unskümmern.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang an dielinke Seite des Hauses gewandt etwas anmerken. Sie be-klagen die wachsende Armut in diesem Land. Aber werwie wir erstens den Leistungsbezieherkreis deutlich er-weitert und zweitens das Niveau deutlich anhebt, darfsich, wenn er für Offenheit sorgt, nicht über die Arbeits-losigkeit wundern und darüber, dass die Zahl der Ärme-ren statistisch gesehen steigt. Das hat aber nichts mitwachsender Armut in diesem Land zu tun. Vielmehr hatdie Offenheit zugenommen; denn wir haben die Kraftgehabt, das ganze Ausmaß zu offenbaren.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Kündigungs-schutz sagen.
– Meine Damen und Herren von der FDP, dass die SPDkeine Änderung des Kündigungsschutzes will, wissenSie doch. Das kann ich hier noch einmal deutlich festhal-ten.
Es gibt einen Koalitionsvertrag und zu diesem stehenwir. Wir begrüßen, dass die Bundeskanzlerin gesterndazu klärende Worte gesprochen hat.
Ich will aber klar sagen: Wir bestehen nicht auf Ände-rungen. Wenn die Mehrheit in diesem Haus meint, dassder Kündigungsschutz nicht geändert werden muss,dann ändern wir nichts. Das ist auch nicht unser erstesZiel.
Wir stehen aber zu dem, was ausgehandelt worden ist,und zwar ohne Wenn und Aber. In diesem Zusammen-hang möchte ich darauf hinweisen, dass uns keine wis-senschaftliche Untersuchung bekannt ist, die die von Ih-nen ständig lauthals gepredigte These belegt, dassweniger Kündigungsschutz mehr Arbeitsplätze schafft.
Wir wollen, dass die Menschen in diesem Land da-rauf vertrauen können, dass ihnen der Kündigungsschutzweiterhin Sicherheit bietet. Es gibt nämlich eine positive
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Klaus BrandnerMotivation, wenn man mit entsprechenden Schutzrech-ten ausgestattet ist. Der Kündigungsschutz steht für unsSozialdemokraten für eine moderne Personalpolitik, dienicht auf Angst, sondern auf ein Miteinander setzt. Daswollen wir auch in Zukunft beibehalten.
Wir sind deshalb für die Abschaffung der sachgrundlo-sen Befristung von Arbeitsverträgen. Damit beenden wirdie Zweiklassengesellschaft aus befristet eingestelltenund unbefristet eingestellten Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern.Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Für uns Sozial-demokraten ist der Kündigungsschutz ein positiverWachstumsmotor.
Wir bauen darauf, dass das auch in Zukunft im Rahmeneiner sozialen Marktwirtschaft Bestand haben wird.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Brandner, Sie wissen, dass die Freude
des Präsidiums immer dann am größten ist, wenn die an-
gekündigten Schlusssätze innerhalb der angemeldeten
Redezeit erfolgen.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte mich zuerst an den Bundesarbeitsminister wen-den. Herr Müntefering, Sie haben Brecht zitiert und demVorsitzenden der FDP, Guido Westerwelle, vorgeworfen,dass er bei dem bleibe, was er schon früher gesagt habe.Ich stelle fest: Sie haben vor der Bundestagswahl dieAblehnung einer Mehrwertsteuererhöhung zum zentra-len Punkt Ihrer Politik gemacht. Aber nach der Wahl ha-ben Sie keine Sekunde gezögert, eine Mehrwertsteuerer-höhung zu akzeptieren, und zwar keine 2-prozentige.Vielmehr haben Sie noch eins draufgesetzt nach demMotto: Die Mitte zwischen null und zwei ist drei. – Dasist etwas, was ich Ihnen vorwerfe. Das ist keine Weiter-entwicklung. Vielmehr haben Sie die Masse der Wählerin Deutschland hinters Licht geführt. Dafür sollten Siesich schämen, anstatt anderen Vorhaltungen zu machen.
Ich finde, Herr Westerwelle hat eine Entschuldigung Ih-rerseits verdient.
Meine Damen und Herren von der großen Koalitionder kleinen Schritte, wie es Ihre Bundeskanzlerin gesagthat – Herr Brandner, man kann es auch anders ausdrü-cken: eine Koalition der großen Mehrheit, aber der klei-nen Ergebnisse –, ich finde, es ist bemerkenswert, wennHerr Müntefering in einem Interview in der gestrigenAusgabe des „Handelsblattes“ sagt: Der Reformmotorläuft. Wenn dem so ist, kann ich dazu nur sagen: Ihr Ko-alitionsvehikel ist stark untermotorisiert.
Sie haben die Reformen in diesem Lande viel wenigervorangebracht, als es notwendig wäre.
Sie sagen in Ihren Reden beschwörend – so auchheute –, es müsse alles dafür getan werden, dass es mehrArbeitsplätze gebe. Aber anstatt eine Politik für mehrArbeitsplätze zu konzipieren und auch zu betreiben, gibtes bei Ihnen viel kleines Karo. Gerade die Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik der schwarz-roten Koalition zeigt:Diese Koalition trägt gern Pepita. Sie mogeln sich anden Problemen vorbei, anstatt sie zu lösen, getreu IhremLeitmotiv: Es gibt keine Lösung, also gibt es auch keinProblem.
Gerade im Bereich der Sozialpolitik haben wir in denersten 130 Tagen dieser Koalition schon einige Ankün-digungen erlebt. Die gesetzgeberischen Maßnahmensind im Wesentlichen auf die Arbeitsmarktpolitik kon-zentriert gewesen. Nur muss ich feststellen: Von einerneuen Linie ist keine Spur, ja, es ist überhaupt keineLinie, kein Leitfaden, kein Plan in Ihrer Politik zu erken-nen. Sie haben die Regelungen zur Frühverrentungverlängert, obwohl Sie doch eigentlich die Lebensar-beitszeit verlängern wollten. Verlängert wurden auch dieIch-AG und das Förderinstrumentarium für ältere Ar-beitnehmer, obwohl sich Union und SPD doch eigentlicheinig sind, dass dieses Instrumentarium ineffizient ist.Wirklich neu ist bisher nur das Saisonkurzarbeitergeld.Die Einigung darüber, Herr Müntefering, war allerdingsmehr als zäh. Sie haben versucht, sie als großen Erfolgregelrecht zu zelebrieren, obwohl die Wirkung auf denArbeitsmarkt eher gering bleiben dürfte – also ein klei-ner Schritt, ganz im Sinne der Logik von Frau Merkel.Bemerkenswert ist, dass der Kollege Rauen hier imPlenum davon gesprochen hat, er habe die Verhandlun-gen über das Saisonkurzarbeitergeld als die schwierigs-ten erlebt, seit er im Deutschen Bundestag ist – der Kol-lege Rauen gehört diesem Hohen Haus seit 1987 an.Wenn sich die Koalition schon bei einem derart über-schaubaren Vorhaben wie dem Saisonkurzarbeitergeldso schwer tut und an die Grenzen ihrer Konsensfähigkeitgerät, dann ist bei anderen, größeren notwendigen Re-formvorhaben von Ihnen wohl nicht viel zu erwarten.
Eine Ahnung davon bekommt man bei der geplantenÄnderung des Kündigungsschutzes. Herr Müntefering,Sie haben im „Handelsblatt“ erklärt, die bescheidene Re-
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Dr. Heinrich L. Kolbform sei gestoppt. Frau Merkel hat gestern hier im Ple-num dafür geworben, doch erst einmal das zu machen,was verabredet worden sei; dann werde man schon se-hen. Nein, Frau Merkel, das ist gar nicht erforderlich,man sieht jetzt schon sehr klar: Bei dem zentralenThema – der Gestaltung der Rahmenbedingungen desArbeitsmarktes – hat diese Koalition keine Durchset-zungskraft.
Da ist von konstruktiven Pfadfindern, als die Sie, HerrMüntefering, die Koalition gerne sehen würden, nunwirklich keine Spur. Mein Eindruck ist eher, Sie irren imDornröschenwald umher und haben sich wahrscheinlichim Gestrüpp schon ganz fest verheddert.
Vielleicht ist es auch besser für die Wirtschaft, vor allemfür den Mittelstand, wenn Sie bei Ihrer Blockade blei-ben, Herr Müntefering. Denn der Vorschlag, eine ver-tragliche Verlängerung der Probezeit zu ermöglichen,gleichzeitig aber die Möglichkeiten der befristeten Be-schäftigung einzuschränken, führt nicht weiter. Eine sol-che vertragliche Verlängerung wird für Großunterneh-men in der Handhabung kein Problem darstellen, aberkleine Unternehmen werden mit zusätzlicher Bürokratiebelastet: Denn die Fristen müssen überwacht werden undgegebenenfalls muss eine Kündigung ausgesprochenwerden; dabei gibt es viele Fallstricke zu beachten, HerrMüntefering. Ein befristetes Arbeitsverhältnis hingegenläuft, wenn es denn erforderlich ist – wir alle hoffen na-türlich, dass eine Verlängerung möglich ist –, einfachaus. Ich frage mich, ja, ich frage Sie, Herr Müntefering,warum Sie nicht einfach die alte Regelung beibehaltenund die neue Regelung danebenstellen: Befristete Be-schäftigung und Verlängerung der Probezeit wären et-was, was man probieren sollte.
Aber so ticken die Uhren dieser Koalition nicht. Man be-äugt sich argwöhnisch und versucht sich einzureden,auch das Treten auf der Stelle sei eine Form der Bewe-gung.
– Ich glaube, es gibt hier den Wunsch nach einer Zwi-schenfrage, Herr Präsident.
Herr Kollege Niebel, bitte schön.
Ich glaube, dass meine Frage für die Öffentlichkeit
durchaus nicht uninteressant ist.
Im Moment ist es doch so, dass ein Arbeitnehmer, der
befristet beschäftigt ist, sich bei seinem nächsten Arbeit-
geber bewerben kann als jemand, dessen befristetes Be-
schäftigungsverhältnis ausgelaufen ist.
– Ihr müsst das schon ertragen.
Herr Kollege Kolb, stimmt es, dass, wenn die Rege-
lung, die im Koalitionsvertrag steht, umgesetzt wird
– nach der eine Befristung nicht mehr möglich ist –,
ein Arbeitnehmer, dem innerhalb der verlängerten Pro-
bezeit gekündigt wird,
sich bei seinem nächsten Arbeitgeber bewerben muss als
jemand, der in der Probezeit entlassen worden ist?
Wenn das stimmt: Wie wirkt eine derartige Bewerbung
auf Sie als Unternehmer?
Herr Kollege Niebel, es ist vollkommen richtig, wasSie in Ihrer Frage ansprechen.
– Etwas Richtiges wird nicht dadurch falsch, dass es voneinem Kollegen der eigenen Fraktion gesagt wird.Die vorgeschlagene Regelung führt in keinerlei Hin-sicht weiter. Sie ist für Arbeitgeber kontraproduktiv– das habe ich schon gesagt –, sie ist aber auch für Ar-beitnehmer kontraproduktiv. Sie, Herr Müntefering,wollen immer diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben,bestmöglich absichern. Wir sorgen uns auch um die5 Millionen Menschen in Deutschland, die derzeit kei-nen Arbeitsplatz haben. Für die bauen Sie mit Ihrerneuen Regelung zusätzliche Hürden auf; denn es ist ge-nau so, wie Sie, Herr Kollege Niebel, gesagt haben:Diese Regelung wird dazu führen, dass ein Bewerberkünftig mit einem Malus in seiner Bewerbung antretenmuss. Das verschlechtert seine Chancen auf dem Ar-beitsmarkt.
Wenn ich Ihre Politik anschaue, dann sehe ich, dasseines sicher ist: Am kurzen Ende tun Sie mit Ihrer Poli-tik niemandem etwas zuleide, aber langfristig fühlen Siesich stark. Das wird besonders am Beispiel der Renten-politik deutlich. Sie, Herr Müntefering, haben sich
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Dr. Heinrich L. Kolbgestern im „Handelsblatt“ damit gebrüstet, die Grund-satzentscheidung zur Anhebung der Regelaltersgrenzevon 65 auf 67 Jahre getroffen zu haben. Ich sage Ihnen:Das ist zunächst einmal kein Erfolg, sondern eine Dro-hung; denn für viele Menschen bedeutet das bei unver-änderten Rahmenbedingungen zwei Jahre längere Ar-beitslosigkeit oder aber vorzeitigen Ruhestand mithöheren Abschlägen. Das ist in keinem Fall eine gutePerspektive.
Ich sage Ihnen voraus: Solange es keine Trendumkehrbei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigunggibt, wird es auch nicht besser werden. Wir haben seitwenigen Minuten die Zahlen aus Nürnberg. Die Zahl dersozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist im Ver-gleich zum Vorjahr erneut um 166 000 zurückgegangen.Das heißt, im letzten Jahr haben pro Woche rund3 000 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Das sindarbeitstäglich 600 Menschen, die in Deutschland nichtmehr arbeiten können, obwohl sie gerne arbeiten wollen.Dafür sind Sie verantwortlich, Herr Müntefering. DiePolitik der alten Koalition von Rot-Grün wirkt in derneuen Koalition von Rot-Schwarz weiter.
Man könnte und müsste noch vieles zu der verfehltenPolitik dieser Bundesregierung sagen. Das ist leider ausZeitgründen nicht möglich.
Ich kann Sie, Herr Müntefering, nur auffordern, sichendlich an die Arbeit zu machen und die drängendenProbleme dieses Landes zu lösen, und zwar in einer Artund Weise, die sicherstellt, dass es zu mehr Beschäfti-gung kommen kann.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Die Ausgaben des Bundes für Arbeit und Soziales um-fassen 51 Prozent des Bundeshaushalts, insgesamt134 Milliarden Euro. Das ist eine enorme Summe, diewir dem Steuerzahler abverlangen. Dies ist der größteEinzelposten im Bundeshaushalt. 38,3 Milliarden Eurowerden allein für Hartz IV veranschlagt, das heißt für dieGrundsicherung, also für Menschen, die der Hilfe be-dürfen. Das steht in völligem Gegensatz zu dem Bild,das zeitweise in der Öffentlichkeit gezeichnet wordenist, wonach ein sozialer Kahlschlag stattgefunden habe.Das hatte zur Folge, dass eine Partei, die es sonst imBundestag nicht gäbe, Hartz IV ihre Existenz zu verdan-ken hat und nun hier sitzt. Demgegenüber bleibt festzu-halten: Es wird jede Menge in diesem Bereich ausgege-ben. Das ist notwendig und zu diesen Ausgaben stehenwir.
Wenn man die beitragsfinanzierten Leistungen derBA im Rahmen des Arbeitslosengeldes I mit betrachtet,ergeben sich Ausgaben für Arbeitslose in Höhe von etwa90 Milliarden Euro. Trotz dieser enormen Summen ist esin der Vergangenheit bekanntlich nicht gelungen, die Ar-beitslosigkeit zu senken. Wir wissen alle, dass es nichtreicht, nur viel Geld auszugeben. Das muss an den richti-gen Stellen passieren. Deswegen sind wir dankbar undes ist ein Ansporn für uns in der großen Koalition, dasswir nicht nur eine deutlich verbesserte Stimmung in un-serem Land haben, sondern sich in den letzten Monatenauch eine verbesserte Lage in diesem Land ergeben hat.Die positiven Anzeichen auf dem Arbeitsmarkt könnenuns nicht zufrieden stellen und wir können uns auf demErreichten nicht ausruhen, aber natürlich ist es gut, dassheute im Vergleich zu dem entsprechenden Vorjahres-monat die Zahl, um die sich die Arbeitslosigkeit verrin-gert hat, im sechsstelligen Bereich liegt. Das spornt unsan, auf diesem Weg weiterzugehen.
Der Bereich Arbeit und Soziales muss seinen Beitragzu dem Gleichklang von Investieren, Sanieren und Re-formieren leisten. Wir tun das.Im Haushaltsbegleitgesetz ist vorgesehen – das ist mirin diesem Zusammenhang ganz wichtig –, dass der Bei-trag zur Arbeitslosenversicherung im nächsten Jahr um2 Prozentpunkte auf 4,5 Prozent sinkt. Um diese Maß-nahme finanzieren zu können, braucht die BA unter an-derem den Gegenwert eines Mehrwertsteuerpunktes.Auch deswegen muss die Mehrwertsteuer angehobenwerden. Das ist wahr.Auch wir tun das nicht gerne. Wir haben uns zu derNotwendigkeit dieser Maßnahme vor der Wahl ehrli-cherweise bekannt. Herr Kollege Kolb, es ist gar keinThema: Wir haben noch sehr wohl im Ohr, was im Bun-destagswahlkampf gesagt worden ist, auch vonseiten un-seres heutigen Koalitionspartners. Der Unterschied ist:Die SPD ist nach der Wahl besser als vor der Wahl, beiIhnen ist das umgekehrt.
Deswegen können wir uns auf vernünftige Maßnahmenverständigen.Die Arbeitsmarktpolitik muss die von uns eingeleite-ten Schritte flankieren. Denn nur mit einem Mehrwert-steuerpunkt und nur mit den Maßnahmen, die die BAaus eigener Kraft beitragen kann, ist die Senkung der Ar-beitslosenversicherungsbeiträge nicht zu schultern. Da-her werden wir alle arbeitsmarktpolitischen Instrumenteauf den Prüfstand stellen. Wir werden, gerade was dieFörderung der Existenzgründungen aus Arbeitslosigkeitangeht, hier neue Akzente setzen.
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Dr. Ralf BrauksiepeSie wissen, dass die Regelung zur Ich-AG schonMitte dieses Jahres ausläuft. Es gibt bisher zwei Instru-mente. Wir werden daraus ein Instrument machen. Bis-her geben wir hierfür jährlich über 3 Milliarden Euroaus. Ich bin fest davon überzeugt: Wir können hier zuEinsparungen kommen, ohne dass sinnvollen und Erfolgversprechenden Unternehmensgründungen aus Arbeits-losigkeit die Förderung versagt werden muss. Genau daswerden wir in den nächsten Monaten in Angriff nehmen.
Wir werden die weiteren arbeitsmarktpolitischen In-strumente auf den Prüfstand stellen. Ein wesentlicherTeil davon wird im Zusammenhang mit dem Kombi-lohnmodell, das wir entwickeln, behandelt werden.Auch das können Sie im Koalitionsvertrag nachlesen: Esgeht nicht darum, neben die vorhandenen Instrumenteein zusätzliches zu stellen, sondern darum, das, was indiesem Bereich bereits existiert, sinnvoll zu verknüpfenund effizienter auszurichten.
Genau das werden wir machen. Damit werden wir einenwesentlichen Beitrag leisten, die Arbeitslosigkeit inDeutschland zu bekämpfen.Das steht im Gegensatz zu dem, was wir von den Grü-nen, die neu in der Opposition sind, hören. Sie habenhier wieder für Ihr Progressivmodell geworben.
Offensichtlich haben Sie sieben Jahre dafür gebraucht,es zu entwickeln; denn in Ihrer eigenen Regierungszeithaben Sie es noch nicht einmal in die Debatte einge-bracht. Sie müssen sich überlegen, was Sie wollen. Ei-nerseits sagen Sie, Sie wollten das Progressivmodell, dases mit sich bringt, dass die beitragsfreien Minijobs abge-schafft werden; darauf läuft es hinaus.
Auf der anderen Seite beklagen Sie, dass über eine Erhö-hung der Pauschalabgaben das gefährdet wird, was Sieeigentlich gar nicht mehr wollen. Sie betreiben keinesehr konsistente Politik.
Im Bereich des Arbeitslosengeldes II haben wirwichtige Maßnahmen ergriffen und Akzente gesetzt,
schon mit dem SGB-II-Änderungsgesetz. Fortfahrenwerden wir mit dem SGB-II-Optimierungsgesetz. Kor-rekturen sind notwendig. Es geht natürlich nicht nur,aber auch um Leistungsmissbrauchsbekämpfung, um dieeffizientere Ausrichtung der Förderung und in der Tatdarum, dass über eine bessere wirtschaftliche Entwick-lung – dazu gibt es überhaupt keine Alternative – För-dern und Fordern in Einklang gebracht werden. Das istRot-Grün nicht gelungen, weil die wirtschaftliche Ent-wicklung so katastrophal war. Die große Koalition wirddie Rahmenbedingungen so setzen, dass Fördern undFordern in diesem Bereich möglich ist.
Angesichts eines so angespannten Bundeshaushaltsmacht es natürlich Sinn, Maßnahmen zu ergreifen, diekein Geld kosten. Damit bin ich auf dem Gebiet des Ar-beitsrechts.
Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Kündigungs-schutz sagen.
Ich will deutlich machen: Es geht uns nicht darum, das,was im Koalitionsvertrag steht, zu korrigieren, sondernzu konkretisieren. Vor dieser Aufgabe stehen wir. Jederweiß doch, dass die Grundsatzvereinbarung, die wir dagetroffen haben, nicht eins zu eins ins Gesetz übernom-men werden kann. Den Text nehmen, „Gesetz“ darüber-schreiben und eine Unterschrift daruntersetzen, fertig istdas Ganze – so vorzugehen ist nicht möglich. Vielmehrmüssen wir konkretisieren. Es muss über vieles geredetwerden, so wie wir es bei jedem anderen Gesetz auch ge-macht haben. Wir werden das tun. Wir werden auf derBasis des Koalitionsvertrages eine Lösung finden, dievielleicht nicht der große Durchbruch ist, die aber einkleiner Schritt sein kann.
Wir alle wissen doch: Da gibt es große Unterschiede.Vor der Wahl hat es zwischen den Partnern der jetzigengroßen Koalition erhebliche Unterschiede gegeben. Eswar auch in den Koalitionsverhandlungen schwierig. Dableiben Unterschiede. Aber ich bin sehr für die folgendeVorgehensweise – ich bin dem Kollegen Brandner dank-bar dafür, dass er auch noch einmal ausdrücklich die Be-reitschaft der Sozialdemokraten dazu bekräftigt hat –:Wenn wir kleine Schritte miteinander vereinbaren kön-nen, dann sollten wir diese kleinen Schritte auch gehen.
Den Kolleginnen und Kollegen von der FDP muss ichsagen: Was Sie heute Morgen präsentiert haben, warschon einigermaßen diffus. Die Kollegin Wintersteinsagte, dem Arbeitsminister sei schon das Wenige, wasvereinbart worden sei, zu viel. Wenn Sie auf das Wenigeabheben, sollten wir uns erst einmal darauf einigen, dasswir jedenfalls etwas Gutes vorhaben. Beim KollegenKolb klang es so, als sei das eigentlich ein Rückschritt.Ich kann das nicht nachvollziehen.Heute gibt es im Befristungsrecht ein Wiederbe-schäftigungsverbot. Wer einmal in einem Betrieb be-schäftigt war, kann dort nie mehr befristet eingestelltwerden. Das ist von der Wirtschaft immer beklagt wor-den.
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Dr. Ralf Brauksiepe
Wenn wir den Koalitionsvertrag umsetzen, entfällt unteranderem dieses Hindernis.
Also, machen Sie sich keine Hoffnungen darauf, dassdas irgendwo versandet oder versickert. Wir werden denKoalitionsvertrag und die Vereinbarungen, die wir daringetroffen haben, nicht korrigieren. Wir werden sie kon-kretisieren. Wir werden Ihnen eine Reform des Kündi-gungsschutzes vorlegen.
Auch in der großen Koalition sind Reformen im Arbeits-recht möglich. Das werden wir zeigen, liebe Kolleginnenund Kollegen.
Wir haben in den letzten Monaten – um auch das nocheinmal deutlich zu sagen – schon eine Menge an Maß-nahmen auf den Weg gebracht. Ich sage das, weil hierimmer so getan wird, als müsste man jetzt erst so richtiganfangen. Wir haben im letzten Jahr die PSAs, in diewirklich viel Geld, mit wenig Wirkung, hineingestecktworden ist, als Obligatorium abgeschafft. Wir haben mitdem SGB-II-Änderungsgesetz neue Akzente gesetzt.Wir haben denjenigen, die der Hilfe bedürfen, auch denjungen Menschen, gesagt, dass der Anstieg der Zahl derBedarfsgemeinschaften nicht so weitergehen kann wie inder Vergangenheit. Wir haben gleichzeitig den Satz imOsten auf das Westniveau angehoben. Wir haben ein Ge-setz zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung ge-macht, gegen das am Ende kein einziger mehr gestimmthat. Also hat es sich doch offenbar gelohnt, dass wir unsein bisschen Zeit dafür genommen haben. Dabei ist eingutes Gesetz herausgekommen.
Ich sage Ihnen: Diesen Weg werden wir weitergehen.
Wo immer wir dafür auch die Unterstützung der Opposi-tion finden, sind wir dankbar. Seien Sie sicher: DieseKoalition wird das, was sie sich vorgenommen hat, auchumsetzen – im Interesse der Menschen und im Interessevon mehr Wachstum und Beschäftigung in unseremLand.Danke schön.
Das Wort erhält nun die Kollegin Katja Kipping,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit demvorliegenden Haushaltsentwurf wird der Kurs vonHartz IV zementiert, womöglich sogar noch verschärft.Uns sollte zu denken geben, dass durch diese Hartz-Re-form die Armut in Deutschland noch verschärft wurdeund dass die Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die 2005in Armut lebten, noch einmal um eine halbe Million, um500 000, zugenommen hat. Das ist nicht nur das Urteilder Linksfraktion; das ist auch das Fazit der Wohlfahrts-verbände auf der Nationalen Armutskonferenz. Kinder-armut bedeutet, von klein auf das Gefühl des Ausge-schlossen-Seins, der Ausgrenzung von gesellschaftlicherTeilhabe erleiden zu müssen.Das Abschieben von immer mehr Menschen auf einAbstellgleis ist auch für unser demokratisches Gemein-wesen alles andere als gut.
Wir wären gut beraten, gemeinsam darüber nachzuden-ken, wie wir den Ausschluss von Menschen abbauenkönnen. Dazu bedürfte es einer grundlegend anderen Ar-beitsmarktpolitik, wie meine Kollegin Kornelia Möllerschon ausgeführt hat. Dazu bedürfte es einer Anhebungdes Arbeitslosengeldes II, wobei es sich bei einer Erhö-hung auf 420 Euro nur um einen ersten Schritt handelnkann;
denn grundsätzlich gilt: Das Arbeitslosengeld II, so wiees jetzt ausgestaltet ist, muss gekippt werden und durcheine soziale sowie repressionsfreie Grundsicherung er-setzt werden.
Herr Brandner, Sie haben uns in diesem Zusammen-hang unterstellt, wir als Linke wollten den allumfassen-den Staat. Ja, es gibt Bereiche, wo der Staat nichts zu su-chen hat, zum Beispiel im Schlafzimmer.
Aber es waren Minister Ihrer Partei, die Sozialspitzelübers Land geschickt haben, um in den Schlafzimmernvon Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen danach zuschauen, ob dort nicht noch jemand wohnt – nur mit demZiel, den Leuten die ohnehin schon geringen Leistungenzu kürzen.
Dabei wäre es viel effizienter gewesen, im Bereich derSteuerfahndung aufzustocken; denn dort kann man eherGeld eintreiben und dem Haushalt zuführen.
Doch anstatt mit uns gemeinsam darüber zu diskutie-ren, wie eine Erhöhung des Regelsatzes finanziert wer-den kann, häufen sich in den Reihen der großen Koali-tion die Stimmen, die für eine weitere Absenkung desRegelsatzes sprechen.Herr Müntefering, Sie haben gesagt, niemand habedie Absicht, dort Kürzungen vorzunehmen.
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Katja Kipping
Aber dieser Satz ist alles andere als beruhigend. Ich fandes sehr schockierend, dass der niedersächsische Minis-terpräsident, Christian Wulff, am Wahlabend zur bestenSendezeit im Fernsehen erzählen durfte, dass dasArbeitslosengeld II viel zu hoch sei, und niemand ausden Reihen von SPD und CDU sich bemüßigt fühlte,ihm in dieser Frage zu widersprechen.
Dass die CDU in den Haushaltsberatungen die fürHartz IV eingestellten Gelder als geheime Einspar-reserve betrachtet, verwundert nun wirklich nicht. Aberwenn auch von der SPD kaum noch Gegenwehr kommt,dann kann einem das den letzten Glauben an die Sozial-demokratie rauben.Herr Schneider, 345 Euro im Monat bedeuten Armutper Gesetz.
Wer nun über eine weitere mögliche Absenkung auchnur nachdenkt, der denkt darüber nach, Menschen nochweiter massenweise ins Elend zu treiben.Herr Müntefering, Sie haben eine Absenkung auf225 Euro dementiert; aber Sie haben Kürzungen nichtgenerell ausgeschlossen. Solche Zwischentöne stimmenmich nachdenklich. Es kann und darf nicht Ihr Ernstsein, dass Sie ausgerechnet bei den Leuten, die ohnehinnichts haben, die Daumenschrauben weiter anziehenwollen.
– Herr Schneider, es lohnt sich in der Politik manchmal,genauer zuzuhören. Wenn ein Minister, der sonst sehrredselig ist, nun eine Kürzung nicht grundsätzlich aus-schließt, dann gibt uns das zu denken. Ich würde michsehr freuen, wenn Sie irgendwann einmal deutlich ma-chen, dass Kürzungen nicht vorgenommen werden sol-len. Aber es ist ja nicht nur darüber zu diskutieren, dassnicht gekürzt werden darf; eigentlich müssten wir übereine Erhöhung beim Arbeitslosengeld II nachdenken.
Wie es wäre, von 345 Euro im Monat zu leben, über-fordert sicherlich die Fantasie vieler von uns. Deswegenlohnt es sich, noch einmal darzustellen, was das ganzpraktisch bedeutet. Für Freizeitveranstaltungen, Zeitun-gen, Bücher und Schreibwaren stehen pro Tag nochnicht einmal 90 Cent zur Verfügung. Haben Sie einmalversucht, für weniger als 1 Euro eine ordentliche überre-gionale Tageszeitung zu kaufen?
Die „taz“, die „FAZ“, die „FR“, die „Welt“, die „FinancialTimes“, selbst das „ND“ sind für Arbeitslosengeld-II-Empfänger ein Luxus, den sie sich vom Regelsatz nichtmehr leisten können. Selbst wenn sie noch eine billigereTageszeitung finden, stehen sie jeden Tag vor der Ent-scheidung, sich diese Tageszeitung zu leisten oder Geldanzusparen, um wenigstens einmal im Monat ins Theatergehen zu können.
– Da Sie auf die Bibliotheken verweisen: Ein Ergebnis– vielleicht ist es Ihnen entgangen – der von Ihnen mitzu verantwortenden Steuerpolitik ist, dass die Kommu-nen immer weniger Geld haben und in immer mehrBibliotheken Gebühren eingeführt werden müssen, so-dass sich so mancher Erwerbslose nicht einmal mehr denGang in die Bibliothek leisten kann.
Das gehört zur ganzen Wahrheit mit dazu.
Leben in Armut bedeutet schon deswegen ein Erle-ben von Ausschluss, weil man sich die nötige Mobilitätnicht leisten kann. In meinem Wahlkreisbüro treffen sichregelmäßig Mitglieder des Erwerbslosenrates. Immerwieder berichten Einzelne, dass sie gerne zu einer Dis-kussionsrunde gekommen wären, sich aber am Ende desMonats die Fahrkarte nicht mehr leisten konnten. Das istkein Wunder: Für die gesamte Mobilität stehen pro Tag64 Cent zur Verfügung. Dafür bekommt man noch nichteinmal eine Kurzstreckenfahrkarte. Während wir Abge-ordneten in Berlin die Wahl zwischen kostenlosem Fahr-dienst zu jeder Tageszeit und kostenloser Monatskartefür Bus und Bahn haben, haben Erwerbslose gerade inländlichen Regionen enorme Probleme, sich überhauptnoch die Fahrt zu den verschiedenen Ämtern leisten zukönnen.Für Bekleidung und Schuhe sind noch nicht einmal35 Euro im Monat vorgesehen. Meine Damen und Her-ren, wer damit auskommt, muss ein wahrer Lebens-künstler sein.
Ich frage Sie: Wie soll jemand, der nicht einmal das Geldfür einen ordentlichen Anzug für ein Bewerbungsge-spräch hat, überhaupt noch Aussicht auf einen Wieder-einstieg in den Arbeitsmarkt haben?
Auch wenn Sie, meine Damen und Herren auf derrechten Seite, offensichtlich einen anderen Kurs verfol-gen, können wir nur sagen: Es ist längst überfällig, übereine Erhöhung des Regelsatzes zu diskutieren und diesein Angriff zu nehmen, allein schon deswegen, weil nachder alten Berechnung auf Grundlage der Einkommens-und Verbrauchsstichprobe völlig unberechtigte Fehl-griffe passierten. Wenn wir den Regelsatz auf 420 Euroerhöhen, dann handelt es sich nach Berechnungen desParitätischen Wohlfahrtsverbandes um nichts anderes als
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Katja Kippingum den Ausschluss von Manipulationen. Es wirdhöchste Zeit, dass wir das in Angriff nehmen.
Wir als Linkspartei werden entsprechende Vorschlägeunterbreiten. Ich kann Ihnen nur empfehlen, noch einmaldarüber nachzudenken, ob es nicht an der Zeit ist, der zu-nehmenden Armut in diesem Land etwas entgegenzuset-zen.Danke.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die großeKoalition war angetreten, die großen Zukunftsaufgabenzu lösen. Allerdings hielt dieser Anspruch nicht sehrlange; denn die Kanzlerin verließ der Mut. Sie verkün-dete schon bald die Politik der kleinen Schritte.
Jetzt, wo wir alle darauf warten, dass wenigstens diekleinen Schritte im Haushalt sichtbar werden, gehen Sie,meine Damen und Herren von der Koalition, nicht nachvorne, sondern Sie haben einen Zickzackkurs hingelegt:einmal nach rechts, einmal nach links. So kommt mannicht ans Ziel.Ich mache diesen Kurs am Beispiel des Bundeszu-schusses für die Rentenversicherung deutlich. Im Ko-alitionsvertrag haben Sie sich von der Dynamisierungdes Bundeszuschusses verabschiedet. Als der versam-melte Sachverstand Ihnen bescheinigte, dass damit IhrZiel, Rentenkürzungen zu vermeiden und den Beitrags-satz bei maximal 19,9 Prozent zu belassen, nicht einzu-halten sei, versprach der Arbeitsminister im Ausschusseine moderate Erhöhung des Bundeszuschusses. ImRentenversicherungsbericht sehen wir für das Jahr 2007eine Erhöhung des Zuschusses von 600 Millionen Euro.Ist das moderat, Herr Minister?Nun lesen wir im Haushaltsbegleitgesetz, dass derBundeszuschuss gekürzt werden soll, nämlich um170 Millionen Euro für 2006 und um 340 MillionenEuro für die Folgejahre. Das geht ganz einfach: Die Re-gierung erhöht die Sozialabgaben bei den Minijobs,führt sie bei der gut bezahlten Nachtarbeit ein, schätztdann die zusätzlichen Einnahmen für die Rentenversi-cherung, basierend auf den tatsächlich existierendenZahlen – vorhin hat meine Kollegin Pothmer gesagt,dass die Knappschaft davon ausgeht, dass es dadurch700 000 Minijobs weniger geben könnte –, und ziehtdiesen geschätzten Betrag beim Bundeszuschuss wiederab. Das ist so ähnlich, wie es Taschenspieler machen.Das ist aber keine verlässliche Politik.
Es ist aber auch keine gerechte Politik. Denn wiederwerden die Beitragszahler und Beitragszahlerinnen be-lastet, um den Bundeshaushalt zu konsolidieren. Bishergab es einen Konsens: Die Kosten der Alterung der Ge-sellschaft werden durch die Versicherten, die Rentnerin-nen und Rentner und durch die Steuerzahlerinnen undSteuerzahler gemeinsam geschultert. Auch darum, HerrMinister Müntefering, unterstützen wir Ihre Pläne, dasRenteneintrittsalter zu erhöhen. Auf der Veranstaltungder IG BAU am letzten Wochenende mussten die Kolle-gin Falk und ich Sie verteidigen. Ihre eigenen Kollegin-nen und Kollegen haben sich da sehr schnell wegge-duckt. Wir stehen also dazu; es muss nur ordentlichgemacht werden.Bei der Gelegenheit möchte ich gerne den KollegenKolb fragen. Ich habe Ihnen bei Ihrer Rede sehr auf-merksam zugehört. Sie haben dieses und jenes beanstan-det. Aber Sie haben überhaupt nicht gesagt, was Sie ma-chen wollen.
Ich möchte von Ihnen einmal wissen: Ist die FDP nunfür die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters oder istsie dagegen? Sie drücken sich einfach vor diesen Ant-worten.
Die veränderten Rahmenbedingungen der letztenJahre haben uns verdeutlicht, dass die Rentenpolitik aufneue Formen von drohender Armut und fehlender sozia-ler Absicherung reagieren muss. Das ist zum einen diesinkende Zahl von sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigungsverhältnissen und das sind zum anderenneue Formen der Selbstständigkeit und der prekären Ar-beitsverhältnisse.
– Ich möchte zunächst weiterreden. Ich lasse die Zusatz-frage nachher zu.Für beide Gruppen besteht zudem das Risiko fehlen-der sozialer Absicherung in den Bereichen Krankheitund Invalidität. Wir wissen doch auch, dass die Zahl der-jenigen steigt, die keine ausreichende Altersvorsorge be-treiben können, die manchmal noch nicht einmal mehreine Krankenversicherung abschließen können.Das sind, Herr Minister Müntefering, in der Hauptsa-che die Frauen. Ich habe mich sehr gefreut, dass Sieheute Morgen auf die Situation der Frauen in der Er-werbsarbeit eingegangen sind. Wir haben am 9. Märzauf Antrag der Grünen eine große Debatte dazu geführt.Ihre Fraktion war damals so gering vertreten, dass dieOpposition eine Mehrheit hatte. Sie haben in Ihrer eige-nen Fraktion offensichtlich noch viel zu tun.Jetzt sind Sie an der Reihe, Herr Kolb. – Ach nein, ichdarf das ja gar nicht. Das macht der Präsident.
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Bilaterale Vereinbarungen erleichtern die Geschäfts-
führung. – Bitte schön, Herr Kollege Kolb.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ich will Sie nicht imUnklaren lassen. Wären Sie denn bereit, zur Kenntnis zunehmen, dass die FDP-Bundestagsfraktion das, was inden Reihen der Koalition bisher erkennbar ist, nicht un-terstützt? Denn eine Anhebung des Regelrenteneintritts-alters von 65 auf 67 Jahre bei einer gleichzeitigen Aus-nahmeregelung für langjährig Versicherte und fürbelastete Berufe führt im Ergebnis zu einer Nulleinspa-rung bei der gesetzlichen Rentenversicherung.Außerdem glauben wir, dass man es den Menscheneinfach nicht zumuten kann, das Regelrenteneintritts-alter von 65 auf 67 Jahre zu erhöhen, wenn es gleichzei-tig schon heute für 50-Jährige keine neue Arbeitsstellemehr gibt, wenn er oder sie beispielsweise durch Kon-kurs des Arbeitgebers – davon gab es ja in den letztenJahren im Durchschnitt 40 000 pro Jahr – den Arbeits-platz verliert. Das, was die große Koalition vorschlägt,kann man so nicht machen. Sind Sie bereit, diese Posi-tion der FDP-Bundestagsfraktion zur Kenntnis zu neh-men?
Diese Position muss ich nicht zur Kenntnis nehmen,Herr Kolb.
Aber Sie machen den gleichen Fehler, den viele andereauch machen. Wir haben heute das Jahr 2006. Das Ren-teneintrittsalter soll frühestens im Jahre 2029 bei 67 lie-gen. Es scheint offensichtlich schwer zu sein, sich heutevorzustellen, was in über 20 Jahren sein wird. Ich gehenicht davon aus, dass die wirtschaftliche Situation imJahre 2029 genauso schlecht ist, wie sie heute ist.
Ich gehe aber davon aus, dass es in dieser Zeit möglichist, die Integration der Älteren in die Erwerbsarbeit zuerreichen und entsprechende Angebote zu machen.
Sie können doch nicht von dem heutigen Zustand aufeinen späteren schließen. Das ist doch genau das, wasHerr Blüm gemacht hat. Er hat von jetzt auf gleich ge-dacht und gesagt: „Die Rente ist sicher.“ Jetzt wird vo-rausschauend Politik gemacht und alle haben Zeit, sichdarauf einzustellen. Wir brauchen Gesundheitsförderungfür die älteren Menschen am Arbeitsplatz, damit siediese Lebensarbeitszeit auch erreichen können. Wenndas nicht der Fall ist, dann muss man eine Änderung her-beiführen. Wenn es aber so ist, dass die Menschen bis inein Alter von 67 Jahren gesund auf bestimmten Arbeits-plätzen arbeiten können, dann muss das auch möglichsein.
– Ich glaube, wir sollten im Ausschuss weiter darüberdiskutieren.
Die Schlagzeilen aus der gestrigen Tagespresse wie„Gutes Geschäftsklima“, „Steigende Armut“ und „Ko-alition hält an ihren Planungen fest“ beschreiben dasSzenario deutlich: Wir haben dringenden Handlungsbe-darf. Aber wie geht die große Koalition mit diesen He-rausforderungen um? Heute Nacht hat es das Treffen zurGesundheitsreform bei der Kanzlerin gegeben. Mögli-cherweise müssen die Bezieher und Bezieherinnen vonKleinsteinkommen demnächst sogar Krankenversiche-rungsbeiträge zahlen, die den Bankdirektor und die Rei-nigungskraft zu Gleichen unter Gleichen machen.
Die Union behauptet ja, Einkommensunterschiede überSteuern ausgleichen zu wollen.Herr Kauder, ich frage Sie: Wie wollen Sie der Bevöl-kerung klar machen, dass der Bundeszuschuss zur Ren-tenversicherung zur Haushaltskonsolidierung gekürztwerden muss, während gleichzeitig neue Formen von so-zialer Ungleichheit erzeugt werden, die ebenfalls überden Not leidenden Staatshaushalt zu korrigieren sind?Soziale Schieflagen werden nicht dadurch gemindert,dass neue Schieflagen aufgebaut werden. Was tun Sie?Ich habe es gerade deutlich gemacht: Sie nehmen Geldaus der linken Tasche und stopfen es in die rechte wiederhinein. Seriöse Finanzpolitik sieht anders aus.
– Dazu komme ich gleich, Herr Kauder. Das ist wunder-bar.
Wir können bei Ihnen keine Schritte zur konzeptio-nellen Weitergestaltung der Rentenpolitik erkennen.
Neuen Herausforderungen weichen Sie aus.Ich komme zum Schluss und gehe auf Herrn Kauderein. Bei der Aufstellung des Haushaltsgesetzes hat diegroße Koalition nichts Großes geleistet. Sie gehen deneinfachen Weg. Sie machen Schulden in Höhe von38 Milliarden Euro auf Kosten unserer Kinder. Das sind7 Milliarden Euro mehr, Herr Kauder, als Rot-Grün inder letzten Haushaltsdebatte vorgeschlagen hat.
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Irmingard Schewe-Gerigk
Ich kann mich noch an Ihr Geschrei erinnern, mit demSie hier alles in Grund und Boden geschrien haben. Siemachen in diesem Jahr 7 Milliarden Euro mehr Schul-den, stellen sich jetzt aber hierher und tun so, als seinichts geschehen.
Sie erhöhen im nächsten Jahr den Beitrag zur Rentenver-sicherung um 0,4 Prozent und kürzen die Rentenbei-tragszahlungen für Langzeitarbeitslose. Sie entlasten denHaushalt auf Kosten der Beitragszahler.
Eine solche Politik schafft weder Vertrauen noch ist siezukunftstauglich.
Die Schonfrist der großen Koalition ist jetzt vorbei.Wohlfühlen allein reicht nicht. Fangen Sie endlich an, zuregieren!
Ich erteile das Wort dem Kollegen Max Straubinger,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Der erste Bundeshaushalt der großen Koalition, derdiese Woche eingebracht worden ist und nun in die Bera-tungen geht, ist gekennzeichnet durch die ÜberschriftenSanieren, Reformieren und Investieren. Ich möchte nocheine Überschrift hinzufügen: soziale Verantwortung fürdie Menschen in Deutschland.
Das wird auch durch die Mittelansätze deutlich. HerrKollege Brauksiepe hat bereits darauf hingewiesen: Mitdiesem Bundeshaushalt werden 134,4 Milliarden Eurofür soziale Leistungen jedweder Art für die Menschen indiesem Land veranschlagt. Ich glaube, das ist die großeErrungenschaft unseres Sozialstaates. Wir haben etwasfür die Menschen in diesem Land getan, wir haben diesauch richtig organisiert und die Finanzmittel effektivzum Einsatz gebracht. Hier zeigt sich sehr deutlich: DieBundesregierung und die sie tragenden Fraktionen sindsich der Verantwortung gegenüber den Menschen in un-serem Land sehr bewusst.
Die linke Seite dieses Hauses hat in der vergangenenZeit Wahlkampf betrieben mit dem Argument, in unse-rem Land wäre ein Sozialabbau festzustellen. Gerade dieHaushaltsansätze machen aber deutlich, dass wir die So-zialausgaben Jahr für Jahr gesteigert haben und zum Teilauch steigern mussten. Wir geben mehr als 51 Prozentder gesamten Haushaltsmittel für soziale Leistungen aus,das ist die Antwort dieser Bundesregierung.Wenn für die Rentenversicherung überwiegend inForm des Bundeszuschusses und eines Ausgleichs fürdie Übernahme versicherungsfremder Leistungen Unter-stützungsleistungen in Höhe von insgesamt 77,4 Milliar-den Euro – das sind 29,6 Prozent des gesamten Haus-haltsvolumens –, und dies auch in der weiterenFinanzplanung, vorgesehen sind und nicht, wie Sie esdargestellt haben, Frau Schewe-Gerigk, Kürzungen vor-genommen werden – ein Blick in die schöne Vorlagewürde dies verdeutlichen –, dann belegt dies sehr deut-lich, dass wir uns auch unserer Verantwortung gegen-über den Rentnerinnen und Rentnern sehr bewusst sind.Natürlich ist auch entscheidend, dass der Arbeits-markt wieder mehr Dynamik und Wachstum erfährt.Die Bundesregierung hat mit der Umsetzung der Gens-hagener Beschlüsse – ich nenne nur das 25-Milliarden-Euro-Programm – bereits dafür gesorgt, dass es mehr In-vestitionen im Land gibt, dass der Arbeitsmarkt belebtwird und die Menschen zukünftig wieder eine besseresoziale Absicherung haben.
Angesichts einer Arbeitslosenzahl von jetzt knapp5 Millionen und des Verlusts von 1,5 Millionen sozial-versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen stehtdie große Koalition vor einer gewaltigen Herausforde-rung. Herr Bundesminister Müntefering hat bereits da-rauf hingewiesen, dass sich die Stimmung in der Wirt-schaft wesentlich verbessert hat. Ich habe mir das erst inder letzten Woche bei der Bundesagentur für meinenWahlkreis angeschaut. Die Zahl der Stellenangebote,so sagten mir die örtlichen Mitarbeiter, ist in unserer Re-gion gegenüber dem letzten Jahr um 46 Prozent gestie-gen.
Das ist ein Anzeichen dafür, dass sich die anziehendeKonjunktur belebend auf den Arbeitsmarkt auswirkt.Die Arbeitsangebote müssen aber auch angenommenwerden. Ich werte es als Erfolg – der Bundesminister hatdarauf hingewiesen –, dass circa 20 000 Arbeitslosen-geld-II-Empfänger bzw. Arbeitsuchende bereit sind, Sai-sonarbeitnehmertätigkeiten in der Landwirtschaft aufzu-nehmen.
Ich glaube, dass dies, wenn wir die vergangene Entwick-lung berücksichtigen, ein Erfolg des Prinzips „Fördernund Fordern“ ist, dem wir uns verschrieben haben.
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Max Straubinger
Die Motivation muss aber bei manchen noch angesta-chelt bzw. gestärkt werden. Angesichts von 2,9 Millio-nen Arbeitslosengeld-II-Empfängern sind 20 000 relativwenig.
Wir haben den Anfang gemacht. Ich wünsche uns, dasswir eine Zahl von 30 000 oder mehr erreichen, weil nurso die landwirtschaftliche Produktion in unserem Landverbleiben kann und nicht in das europäische Auslandabgedrängt wird.
Von der linken Seite des Hauses wurde heute vielfäl-tig Klage über niedrige Löhne und Lohndumping in un-serem Land geführt. Bevor wir aber irgendwelche Maß-nahmen – zurzeit werden viele diskutiert: Mindestlohn,Kombilohn und dergleichen mehr – ins Auge fassen,sollten wir uns klar machen: Der beste Schutz gegenNiedriglöhne in unserem Land ist Vollbeschäftigung.Deshalb gilt es, massiv daran zu gehen, die wirtschaftli-che Dynamik zu stärken. Den Weg dahin hat die Bun-desregierung in vorbildlicher Art und Weise beschritten.Der Kollege Brauksiepe hat bereits die Maßnahmen,die von dieser Regierung eingeleitet wurden, dargestellt.Es ist aber wichtig, darzulegen, dass diese große Koali-tion auch ein Partner der Kommunalpolitik ist. Ein Zu-schuss in Höhe von 3,6 Milliarden Euro beim Wohngeldentlastet unsere Kommunen und stärkt damit letztendlichdie Investitionskraft unserer kommunalen Haushalte.Deshalb auch an dieser Stelle, Herr Bundesminister, einherzliches Dankeschön für das aufgebrachte Verständ-nis. Ich glaube, es ist entscheidend und wichtig, dass wirein echter Partner der Kommunen in unserem Land sind.
Manche Kostenblöcke sind uns aber aus dem Rudergelaufen. Im Rahmen der Hartz-IV-Reform lagen dieüberplanmäßigen Ausgaben zum Beispiel – daraufwurde bereits hingewiesen – bei mehr als 11 MilliardenEuro. Diese Koalition ist aber daran gegangen, Fehlent-wicklungen einzuschränken.
Ich bin insofern schon überrascht darüber, dass die Kol-legin Winterstein hier dargelegt hat, die Koalition habemit der Angleichung des Arbeitslosengeldes II vom Ost-auf Westniveau einen Fehler gemacht. Vonseiten derFDP hatte ich nämlich bislang nicht gehört, dass sie füreine Absenkung des Westniveaus ist; vielmehr hat siesich bei dieser Abstimmung genauso enthalten wie be-züglich der Einschränkung der Bedarfsgemeinschaftenfür unter 25-Jährige.
Wo ist der Wille der FDP, für Einsparungen zu sorgen?Ich glaube, die große Koalition ist wesentlich stärker be-reit, Einsparungen zur Umsetzung zu bringen.
Wir werden daran gemessen, dass in Deutschlandmehr Arbeitsplätze entstehen. Wesentliche Umsetzungendes Koalitionsvertrages haben wir bereits vorgenommen.Insbesondere mit dem SGB-II-Optimierungsgesetz undder Senkung der Lohnnebenkosten sorgen wir dafür,dass mehr Arbeitsplätze in Deutschland verbleiben. Wirsetzen die nötigen Weichenstellungen für die Zukunft.Diese große Koalition steht für wirtschaftliche Dynamikund für die soziale Sicherung der Menschen in unseremLand.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Waltraud Lehn,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mi-nister Müntefering und Steinbrück haben, wie ich finde,einen sehr soliden und ausgewogenen Haushalt vorge-legt.
Gleichwohl macht gerade der Sozialhaushalt deutlich, inwelch schwieriger Ausgangssituation sich die Koalitionbefindet. Wir geben dieses Jahr 138 Milliarden Euro fürSozialleistungen aus. Diesen 138 Milliarden Euro stehenSteuereinnahmen in Höhe von 192 Milliarden Euro ge-genüber. Was heißt das? Das heißt, von 100 Euro Steu-ern, die wir einnehmen, geben wir 72 Euro für Sozial-leistungen aus. Wenn die Opposition zur Linken fordert,dieser Anteil müsse erhöht werden, kann das im bestenFall als völlig absurd bezeichnet werden.Damit wir uns die Ausgaben des Bundes leisten kön-nen – zum Beispiel für Straßenbau, Familienförderung,Umweltschutz –, verschulden wir uns dieses Jahr mit38 Milliarden Euro. Schulden vermindern die Hand-lungsfähigkeit des Staates in der Zukunft. Deswegenmüssen wir umsteuern. Wir müssen weg von der Ver-schuldung und hin zu mehr Zukunft. Nun hört sich dassehr einfach an, aber in der Realität ist es schwierig.Wem will man denn etwas wegnehmen? Damit meineich nicht nur die Ausgabenseite, sondern auch die Ein-nahmenseite: Von wem soll man denn noch etwas rein-holen?
Gerade im Bereich der Sozialversicherung darf es keineDenkverbote geben. Ich finde es gut und richtig, dieseFrage ständig zu stellen und sich Gedanken darüber zumachen. Aber solche Maßnahmen werden nie einfach
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Waltraud Lehnund nie populär sein. Gleichwohl bleibt es unsere stän-dige Aufgabe.In den vergangenen Jahren haben wir im Gesund-heitswesen, bei der Rente und am Arbeitsmarkt wichtigeReformen begonnen. Diese gilt es jetzt in der großenKoalition fortzusetzen. Ehrlichkeit in der Debatte – so-wohl was möglich ist als auch was nötig ist – würde unsallen sehr gut tun. Um den Menschen die nötige Orien-tierung zu geben, müssen wir Eckpfeiler setzen, auf diesich der Sozialstaat in der Zukunft stützt, also eine ArtPositivliste des Sozialstaates.
– Dass Sie das nicht wollen, weiß ich. Aber Sie müssendas nicht ständig wiederholen. Dadurch wird es auchnicht besser.
Dabei orientieren wir uns an drei Dingen: an der Bedürf-tigkeit – was braucht jemand, was braucht der Mensch? –,an der Verlässlichkeit – was gilt auch noch morgen undnicht nur heute? – und am Prinzip der sozialen Gerech-tigkeit.Der Einzelplan des Bundesministeriums für Arbeitund Soziales ist mit rund 120 Milliarden Euro und47 Prozent des Ausgabevolumens der größte Einzelpos-ten im gesamten Haushalt. Darin enthalten sind – dassind die größten Bereiche – der Bundeszuschuss für dieRentenversicherung in Höhe von 77 Milliarden Euround die Leistungen für die Grundsicherung der Arbeit-suchenden in Höhe von gut 38 Milliarden Euro.77 Milliarden Euro für die Rentenversicherung – dasentspricht etwa jedem dritten Euro, den wir an Steuerneinnehmen. Nur damit man das einschätzen kann undzum Vergleich: Für Bildung und Forschung geben wirjeden 30. Euro aus, für Umwelt und Naturschutz nur je-den 337. Euro.Ich sage ausdrücklich: Es ist gut, dass wir über denBundeszuschuss die Existenzgrundlage von Menschensichern. Aber alles hat seine Grenzen. Diese Grenzensind erreicht. Die Bundesregierung hat eine Reihe vonrichtigen Maßnahmen beschlossen, um die Dynamik desAnstiegs des Bundeszuschusses zur gesetzlichen Ren-tenversicherung, die in den letzten Jahren zu beobachtenwar, zu stoppen.Dazu gehört die vorgesehene Anhebung der Pauschal-abgaben auf Minijobs von 12 auf 15 Prozent. Das wirdnicht dazu führen, dass wir 700 000 Minijobs verlieren.Im Gegenteil: Wenn man sich mit Vertretern der Bundes-knappschaft, die das abwickelt, unterhält, dann erfährtman, dass mittlerweile – zwar noch in moderatem Um-fang; aber diese kontinuierliche Tendenz ist erkennbar –ein Übergang von Minijobs zu Midijobs, also in dieGruppe derjenigen, die 400 bis 800 Euro im Monat ver-dienen, stattfindet. Das ist eine gute Entwicklung, dieeine sehr positive Wirkung hat.In den letzten zehn Jahren stieg der Bundeszuschusszur Rentenversicherung massiv. Aufzufangen war dasnur durch die Einführung der Ökosteuer. Ohne die Öko-steuer wäre das überhaupt nicht denkbar gewesen. Daman nun aber nicht einfach eine weitere Steuer einführenkann, ist es meiner Meinung nach richtig, die Dynamikvon jährlich 6 Prozent, die in den vergangenen Jahren zuverzeichnen war, auf höchstens 1 Prozent pro Jahr zu be-grenzen.Wer fordert, den Bundeszuschuss zur gesetzlichenRentenversicherung und die Ausgaben für den Sozial-staat zu senken, der muss auch sagen, was er damitmeint. Ich will Ihnen aufzeigen, welche zwei Möglich-keiten es gibt – denn es gibt nur diese beiden –: Wennman den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung um10 Milliarden Euro kürzt, dann bedeutet das eine Kür-zung der Renten um 4,4 Prozent. Legt man die Durch-schnittsrente von zurzeit 1 175 Euro zugrunde, ent-spricht das 52 Euro.
Für einen Rentner ist eine Kürzung um mehr als 50 Euroeine ganze Menge. Abgesehen davon haben wir auchden Rentnern bereits an vielen Stellen zusätzliche Belas-tungen zugemutet.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Wenn es denn sein muss!
– Ich kann es auch netter sagen: Immer gerne, Herr
Koppelin.
Ganz herzlichen Dank, geschätzte Kollegin Lehn. –
Sie haben gerade ein Rechenbeispiel angeführt, das ich
überhaupt nicht bestreite. Darf ich Sie dennoch fragen,
wie hoch das Minus für einen Rentner aufgrund einer
3-prozentigen Mehrwertsteuererhöhung ausfällt?
Ich glaube, dass dieses Minus schwer zu errechnenist,
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Waltraud Lehnweil durch eine Mehrwertsteuererhöhung die Rentnermit hohem Einkommen stärker belastet werden als dieje-nigen, die ein niedriges Einkommen haben,
und zwar deswegen, weil die Güter des täglichen Be-darfs von der Mehrwertsteuererhöhung ausgenommensind.
In diesen Tagen können wir in den Zeitungen vielüber die demographische Entwicklung in Deutschlandlesen, als sei es eine völlig neue Erkenntnis, dass in un-serem Land schon seit vielen, vielen Jahren immer weni-ger Kinder geboren werden. Manchmal bin ich darüberverblüfft; denn als wir die Rentenreform beschlossen ha-ben, war genau diese Entwicklung, die wir erkannt undüber die wir auch politisch diskutiert haben, die Grund-lage für unsere Entscheidung, ein Rentennachhaltig-keitsgesetz zu erarbeiten. Dieses Gesetz ist vor zweiJahren verabschiedet worden. Ich denke, die demogra-phische Entwicklung haben wir in der Zwischenzeit an-gemessen berücksichtigt.Aber die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit ist für diegesetzliche Rentenversicherung ein gravierendes Pro-blem geblieben. Die Einnahmen der Rentenkasse sind zueinem nicht unerheblichen Teil von der Entwicklung aufdem Arbeitsmarkt abhängig. Wer eine sozialversiche-rungspflichtige Beschäftigung hat, zahlt in die Renten-kasse ein. Zu zwei Dritteln sind die Renten auch heutenoch beitragsfinanziert; lediglich das fehlende Drittelstammt aus Steuermitteln.Manchmal wird irrtümlich angenommen, die Renten-kasse sei wie ein Sparstrumpf, in den die heutigen Rent-ner während ihres Arbeitslebens 40 Jahre lang und län-ger ihre Beiträge eingezahlt haben und aus dem sie jetztihre Rente bekommen. So ist das aber nicht. Die heuti-gen Rentner haben während ihres Arbeitslebens die Ren-ten ihrer Eltern und Großeltern gezahlt. Die heutigen Ar-beitnehmer, quasi ihre Kinder und Enkel, zahlen dieRenten der jetzigen Rentner.Wenn die Zahl der Beschäftigten sehr niedrig ist,dann fließt eben auch sehr wenig Geld in die Sozialkas-sen hinein. Das verursacht natürlich Probleme. Deswe-gen ist es richtig, dass in diesem Haushalt zusätzlicheMittel für Beschäftigung vorgesehen sind. Das kommtdem Sozialhaushalt unmittelbar zugute. Hier sind näm-lich die Grenzen des Sparens erreicht: Wenn Sparendazu führt, dass keine Investitionen mehr getätigt wer-den und so die Arbeitslosigkeit weiter verfestigt wird,dann ist das Sparen an der falschen Stelle; denn so wirdzusätzlicher Druck unmittelbar auf die Sozialsystemeausgeübt.Ich will an dieser Stelle den Zusammenhang deutlichmachen: Bei 1 Million Arbeitslosen fehlen allein derRentenkasse 4 Milliarden Euro. Wenn wir die Arbeitslo-sigkeit also in erheblichem Umfang abbauen, wird dieSituation auch bei den Sozialleistungen wesentlich güns-tiger aussehen.
Ich glaube, dass dieser Haushalt in seiner Gesamtheit einganz wesentlicher Beitrag zu einer solchen Entwicklungist.Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich halte es fürwichtig, den heute Erwerbstätigen und vor allem denjungen Menschen, die erst ins Berufsleben einsteigen,sehr deutlich zu sagen, wie wichtig für sie eine zusätz-liche private Altersvorsorge ist. Die Berechnungen imAlterssicherungsbericht der Bundesregierung belegen,dass der gewohnte Lebensstandard im Ruhestand dannaufrechterhalten werden kann, wenn beizeiten privateVorsorge getroffen wird. Dabei wollen wir denjenigenbesonders helfen, die das nicht aus eigener Kraft können.Die Altersversorgung bleibt für alle gesichert, auchfür diejenigen, die heute für die Sicherung der heutigenRenten aufkommen. Allerdings brauchen wir neben dergesetzlichen Rente zwei weitere Säulen, nämlich einegut ausgebaute private und eine gut ausgebaute betriebli-che Zusatzversorgung.
– Wenn Sie das wirklich wollen, dann weiß ich nicht,warum Sie die Riesterrente in der Vergangenheit so oftmadig gemacht haben.
– Natürlich!Wir wollen den Sozialstaat für alle Bürgerinnen undBürger erhalten: für die Alten, die für ihre Lebensleis-tung einen angemessenen Ruhestand verdient haben,aber auch für die Jungen, die die Möglichkeit habenmüssen, sich ein Leben nach ihren Vorstellungen auf-bauen zu können. Diesen Ausgleich zwischen den be-rechtigten Interessen der jungen und der älteren Genera-tion hinzubekommen, ist eine unserer Hauptaufgaben.Also: Kein Ausstieg aus dem Sozialstaat! Größtmög-liche Zielgenauigkeit bei den Instrumenten, vor allembei staatlichen Transferleistungen! So wenig Schuldenwie möglich, ohne Verzicht auf Maßnahmen, die demArbeitsmarkt zugute kommen!Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Fuchtel,CDU/CSU-Fraktion.
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2346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 29. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2006
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ZweiPunkte sind aus meiner Sicht in dieser Debatte nicht inausreichendem Maße angesprochen worden:Erstens. Es ist ein Irrglaube, zu denken, allein durchkonjunkturelle Verbesserungen könne eine Sanierungdes Haushaltes gelingen.
Das strukturelle Defizit beträgt 50 Milliarden Euro.Das sage ich all denjenigen, die neue Forderungen andiesen Haushalt stellen. Ein strukturelles Defizit von50 Milliarden Euro kann man nur durch Konsolidierungauffangen. Genau zu diesen Themen ist heute nur sehrwenig gesagt worden.
Zweitens. Mittlerweile beträgt der Anteil der Kostenim Sozialbereich am Gesamtetat 51 Prozent. Ich schauezur linken Seite des Hauses und frage: Wie viel mehrmuss es eigentlich noch kosten, damit Sie zufrieden ge-stellt werden können?
Es sind 51 Prozent! Wenn wir Ihren Forderungen nach-kämen, würde es so teuer, dass dieser Staat an seinenSozialkosten total Pleite geht. Dadurch würden Sie IhrerKlientel am allermeisten schaden; denn Ihre Leute parti-zipieren an diesen Sozialausgaben überproportional.
Meine Damen und Herren von den Grünen, es istrichtig, dass dieser Haushalt noch einmal etwas auf-wächst. Aber es gibt gar keinen Zweifel daran, dass dasein Haushalt der Umsteuerungen ist.
Es ist ein großer Tanker, der jetzt in eine andere Rich-tung gelenkt werden muss. Fragen Sie doch einmal, wel-chen Beitrag Sie dazu geleistet haben, dass der Tanker solange in die falsche Richtung gefahren ist. Wenn Sie sichdas vergegenwärtigen, dann werden Sie erkennen – ichsage es Ihnen jetzt –: Sie sind maßgeblich schuld daran,dass es dazu gekommen ist.
Jetzt, da die SPD einen ordentlichen Koalitionspartnerhat,
sieht man, dass sie durchaus Potenzial für eine sehr zu-kunftsfähige Politik auf diesem Gebiet hat.
Meine Damen und Herren von der FDP, in dem einenoder anderen Fall kann man bei Ihnen durchaus Punktefinden, die man aufgreifen und in der weiteren Beratungberücksichtigen kann. Eines dürfen Sie aber nicht tun,nämlich diese Rosinenpickerei. Highlight war natürlichwieder das Thema Zahl der Ministerien.
Ich habe gelernt:
Wenn man mit der FDP konkret über Koalitionen zu ver-handeln hat, dann verschwindet das Thema einer Redu-zierung der Anzahl der Ministerien auf einmal ganzschnell von der Tagesordnung.
Ich erwarte, dass wir auch in Baden-Württemberg wie-der ein Beispiel dafür geliefert bekommen.
Meine Damen und Herren, wer künftig Sozialpolitikzukunftsträchtig gestalten möchte, der wird ordnungspo-litisch stärker als bisher zwischen den sozialen Investi-tionen – dieser Begriff muss die Sozialpolitik prägen –und der sozialen Verschwendung unterscheiden müssen.Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Im Bereich der Altersteil-zeit muss inzwischen ein Kostenvolumen von1,1 Milliarden Euro getragen werden.
– Sie wollen wissen, wo das steht? Das steht im Haushaltder Bundesagentur. Diese kleine Lehrstunde speziell fürden Vorsitzenden der SPD-Arbeitsgruppe ist nunmehrbeendet. –
An diesem Beispiel der Altersteilzeit kann man doch denZielkonflikt erkennen: Einerseits wachsen die Ausgabendynamisch, auf der anderen Seite werden Wissen undErfahrungen verschwendet.Wir sollten darauf hinwirken, dass solche Fehlsteue-rungen im System beseitigt werden. Das sieht zum Bei-spiel so aus: Wenn ein Unternehmen ankündigt, dass8 000 Leute kurzfristig freigesetzt werden müssen, dannmuss man fragen dürfen, welche intelligenten Verände-rungen unternehmensintern vorgenommen wurden, umdies zu verhindern.
Insofern sind solche Entwicklungen in der Wirtschaftnicht nur eine monetäre Frage, sondern natürlich aucheine Managementfrage. Wenn wir verstärkt Begründun-gen einklagen, können wir sicher Fehlsteuerungen besei-tigen. Hier bin ich völlig auf Ihrer Seite.
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Hans-Joachim Fuchtel
Der Minister Müntefering sagte, er bewege sich meis-tens im Maschinenraum. Ich denke, angesichts des An-teils von 51 Prozent am Gesamtetat sind Sie natürlichauch Kapitän.
Ich darf die Aufgabe, die der Haushaltsausschuss hat,einmal so beschreiben: Wir stehen in schwierigen Ge-wässern gerne als Lotse zur Verfügung, um in diesemRahmen mit Ihnen gemeinsam das Sparziel zu prägen.In diesem Zusammenhang auch Folgendes: Wenn wirden Zuschuss für die Bundesagentur für Arbeit aufnull setzen wollen, dann sollten wir das durchhalten, undzwar nicht nur in diesem, sondern auch im nächsten Jahr.
Wir sollten das Haushaltsbegleitgesetz daraufhin über-prüfen, ob es nicht noch Schlupflöcher enthält, die mög-licherweise in Darlehensform überjährige Kredite er-möglichen
und damit zu einem Bauchladen werden, den wir nichthaben wollen.
Schließlich müssen wir uns so fit machen, dass wir darandenken können, bei den Beitragssätzen einen nächstenSchritt zu tun, über das hinaus, was wir jetzt wollen. Daskönnen wir nur erreichen, wenn wir in den nächsten Jah-ren keinen Darlehensbauchladen vor uns hertragen. Dasist ein ganz wichtiger Punkt, weil wir da unsere Ressour-cen richtig einsetzen können.Ich bin der Auffassung, dass wir alles tun sollten, da-mit die Bundesagentur ihren Beitrag leistet und einenBeitragspunkt aus ihrem Haushalt erbringt. Hier darf eskein Wenn und Aber geben, sondern wir müssen unsereweiteren Maßnahmen darauf ausrichten, diesen Bei-tragspunkt aus den Ressourcen der Bundesagentur zu er-wirtschaften.
Wenn wir dies tun, dokumentieren wir damit unserenSparwillen und werden erfolgreich sein.Herr Minister, Sie können davon ausgehen, dass wirmit Ihnen nicht nur oben auf der Kommandobrücke ste-hen wollen, sondern dass wir uns – das gilt für alle Haus-hälter – auch gerne um die Aufgaben im Maschinenraumkümmern.
Insoweit haben Sie unsere volle Unterstützung.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen deshalb zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz, Einzelplan 10.
Das Wort hat der Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer.
Horst Seehofer, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mit einem Thema beginnen, das nicht mehr allzu
sehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht, aber das uns
in Deutschland und darüber hinaus nach wie vor intensiv
beschäftigt, nämlich mit der Vogelgrippe.
Mir liegt sehr daran, darauf hinzuweisen, dass unsere
Schutzmaßnahmen, nachdem wir seit dem 14. Februar
mit dieser Krankheit in Deutschland zu tun haben, ge-
wirkt haben. Es ist gelungen, das oft befürchtete Über-
springen des Virus auf Nutztiere in Deutschland zu ver-
meiden. Das ist ein Erfolg der von uns gesetzten
Rahmenbedingungen. Aber ich habe mich auch bei den
Geflügelhaltern und der Bevölkerung zu bedanken, weil
aufgrund ihres verantwortlichen Handelns das Über-
springen auf Nutztiere vermieden werden konnte.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hinsken?
Horst Seehofer, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz:
Ja. Diese Frage war aber nicht bestellt.
Herr Minister, Sie haben auf die Besonnenheit derGeflügelhalter und der Bevölkerung verwiesen. Aller-dings wurden nicht nur die Geflügelhalter, sondern auchganze Landstriche, insbesondere die Insel Rügen, in tou-ristischer Hinsicht in Mitleidenschaft gezogen.Deshalb meine Frage an Sie: Würden Sie mir bei-pflichten, dass es jedem, auch allen hier im Haus Befind-lichen, gut anstehen würde, Solidarität mit dem Touris-mus auf Rügen zu zeigen und dies dadurch zu beweisen,in diesem Jahr dort ein paar Urlaubstage zu verbringen?
Die Menschen dort warten auf ein Signal und hoffen,dass wir sie nicht im Regen stehen lassen, sondern dasswir etwas für sie tun. Da bietet sich ein Urlaub geradezuan.
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2348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 29. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2006
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Ernst Hinsken
Horst Seehofer, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Verbraucherschutz:Ihre Frage war: Würden Sie mir beipflichten? Das tueich ausdrücklich.
Das, was ich gesagt habe, ist wichtig. Trotzdem müs-sen wir bei unserer Linie bleiben und konsequent, beson-nen und wachsam sein.Ich beginne mit einem Punkt, der deutlich macht, dasswir trotz aller Sparzwänge auch in diesem Haushalt Ak-zente in Richtung Innovation und Wachstum setzen.Trotz der Mittelknappheit wendet die Bundesregierung60 Millionen Euro zusätzlich für ein Sofortprogrammim Bereich Forschung auf, um Erkenntnislücken im Zu-sammenhang mit dieser gefährlichen Tierseuche, aberauch bei Zoonosen generell in Deutschland zu schließen.Damit sollen zum Beispiel die Ausbruchursache derVogelgrippe in Deutschland und die Infektionswege er-forscht und insbesondere nach Möglichkeit in absehba-rer Zeit ein Impfstoff entwickelt werden, der die Sicher-heit von Tier und Mensch erhöht.Allein dieses Beispiel zeigt, wie man Sparen und In-novation vernünftig miteinander verbinden kann.
Wir geben mehr für Innovationen aus.Ich teile ausdrücklich die Meinung, dass die Regie-rung und die Koalition jetzt eine zweite Etappe beschrei-ten. Ich nenne sie Pyrenäenetappe, weil es ein steinigerWeg wird. Auch im Haushalt des Landwirtschafts- undVerbraucherschutzministeriums steht eine ganze Reihevon Baustellen an. Ich denke zum Beispiel an die Hal-tung von Schweinen und Hennen, die uns in diesen Ta-gen intensiv beschäftigt – ich werde pausenlos öffentlichzu bestimmten Dingen aufgefordert –, den verantwortli-chen Umgang mit der Grünen Gentechnik, die Reformder agrarsozialen Sicherungssysteme, die Entbürokrati-sierung, die auch in der Landwirtschaft ein zentralesThema darstellt, das die Bäuerinnen und Bauern beson-ders bewegt,
und die Erarbeitung eines ressortübergreifenden Kon-zepts zur Förderung des ländlichen Raumes in der Bun-desrepublik Deutschland.Ich möchte einige Schlaglichter auf diese Themenwerfen, weil sie unmittelbar mit der Finanzausstattungunseres Haushalts zusammenhängen. Ich halte von derGrundausrichtung der Koalition, verlässliche Politik zumachen, sehr viel. Zu verlässlicher Politik gehört auch,dass man über schwierige Themen zuerst nachdenkt, be-vor man sich öffentlich äußert und handelt.
Das gilt für die Grüne Gentechnik ebenso wie für dieTierhaltung.Ich möchte zunächst einige Anmerkungen zur Tier-haltung machen. Zurzeit ist die Legehennenhaltung inder Diskussion. Niemand in der Koalition möchte zur al-ten Käfighaltung zurück und niemand ist der Auffas-sung, dass die geltende Rechtslage unverändert bleibenkann.
Wenn die geltende Rechtslage beibehalten würde,hätte das zur Folge, was sich schon in den letzten Jahrenabgezeichnet hat, dass es eine Hennenhaltung inDeutschland im nennenswerten Umfang nicht mehr gibt,die Investitionen im Ausland – insbesondere in Ost-europa – erfolgen und anschließend die im Ausland ge-legten Eier nach Deutschland importiert werden.
Ich bin dafür, dass wir uns gemeinsam und in allerRuhe in der Koalition, aber auch darüber hinaus Gedan-ken über mögliche Anschlussregelungen zum 1. Januar2007 machen. Dazu finden in der Koalition sachlicheund vernünftige Gespräche statt. Wenn diese abgeschlos-sen sind, dann werden wir auch eine öffentliche Debattedarüber führen. Ich bin sehr dafür, erst in der Koalitionmiteinander zu sprechen und dann eine Entscheidung zufällen.
Es kann sich also jeder die Pressemitteilungen sparen;sie werden den Prozess nicht ändern. Wir bleiben bei un-serer Grundrichtung.Das Gleiche gilt für die Grüne Gentechnik. Auchdas ist eines der Themen, die ich bei meinem Amtsantrittvorgefunden habe. Wir wollen einen verantwortlichenUmgang mit der Grünen Gentechnik und auch ihre Wei-terentwicklung, wir müssen aber immer eine vernünftigeBalance zwischen der Förderung und Entwicklung einer-seits und dem Schutz von Mensch und Umwelt anderer-seits finden. Auch hier gibt es einen großen Widerspruchin der öffentlichen Debatte. Nicht wenige, die öffentlichfeststellen, es gebe noch viele Erkenntnislücken hin-sichtlich der Auswirkungen auf die Böden, andere Pflan-zen und der Wechselwirkungen in der freien Natur,fordern uns gleichzeitig auf, Deutschland zur gentech-nikfreien Zone zu erklären. Darin liegt ein großer Wider-spruch.Wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass wir nochdas eine oder andere im Zusammenhang mit der GrünenGentechnik und ihrer Anwendung wissen wollen odermüssen, dann kann man nicht gleichzeitig dagegen sein,in Deutschland Forschung zu betreiben, um diese Er-kenntnislücken zu schließen.
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Bundesminister Horst Seehofer
Ich bleibe dabei – das ist zuallererst Aufgabe des zu-ständigen Ressorts –: Wir werden den Dialog mit allenVerantwortlichen führen. Das werde ich im April tun.Wir werden dann im Mai ein Eckpunktepapier für dieBeratungen in der Koalition vornehmen, um schließlichauf dieser Grundlage zu entscheiden, wie wir mit derNutzung der Grünen Gentechnik in der BundesrepublikDeutschland weiter verfahren. Hierbei geht es insbeson-dere um die Anbau- und Haftungsregeln, aber auch umdie Bedingungen für die Forschung in Deutschland;denn bei uns muss Forschung ebenfalls möglich sein. Esdarf nicht geschehen – wie auch bei der Tierhaltungnicht –, dass wir uns Regeln geben, die dazu führen, dassdie Forschung im Ausland erfolgt und anschließend dieProdukte dieser Forschung in die BundesrepublikDeutschland importiert werden.
Ein ganz großes Thema in den nächsten Monatenwird die Reform der agrarsozialen Sicherung sein. Ichbin sehr froh, dass es gelungen ist, in diesem Bundes-haushalt die Mittel für die agrarsoziale Sicherung unan-getastet zu lassen. Das war im letzten Jahr nicht so. Wirhaben nun die Mängel des letzten Jahres wieder ausge-glichen. Ich bin der Auffassung, dass man die Mittel fürdie agrarsoziale Sicherung nur dann reduzieren kann,wenn man gleichzeitig Strukturreformen bei der agrarso-zialen Sicherung durchführt. Sonst bedeutet es für dieLandwirte nichts anderes als eine Einkommenskürzung.
Diese Strukturreformen sind schwierig. Da werden wirin der Koalition viel Gehirnschmalz aufwenden müssen.Ich nenne an erster Stelle die landwirtschaftlichenBerufsgenossenschaften. Die Landwirte klagen zuneh-mend über die Höhe der Beiträge. Ich teile ihre Sorgenausdrücklich. Ich weise darauf hin, dass die Verwal-tungsausgaben in den landwirtschaftlichen Berufsgenos-senschaften im Durchschnitt bei 12 Prozent liegen,während die Verwaltungsausgaben in der landwirtschaft-lichen Krankenversicherung im Durchschnitt noch nichteinmal 6 Prozent betragen. Ich sage allen, die in diesemBereich der Verwaltung tätig sind: Wir müssen aufdiesen Stand kommen und die Verwaltungskosten hal-bieren; denn wir können angesichts der Lage in derLandwirtschaft nicht zunehmend mehr für die Selbstver-waltung ausgeben.
Ich gehe davon aus, dass wir auch hier Ende Mai, nach-dem wir in der Koalition darüber beraten haben, in derLage sind, die notwendigen Entscheidungen herbeizu-führen.Ich bin entschieden der Auffassung, dass wir die an-stehende große Gesundheitsreform nutzen sollten, umdie landwirtschaftliche Krankenversicherung mit derallgemeinen Krankenversicherung zu verzahnen. Nicht,dass die landwirtschaftlichen Krankenkassen aus der all-gemeinen Krankenversicherung bedient werden sollen.Aber ich glaube, dass die demographische Herausforde-rung in der Landwirtschaft noch ein ganzes Stück größerist als in der allgemeinen Sozialversicherung und dassdie landwirtschaftliche Krankenversicherung nur dannernsthaft eine Zukunft hat – ohne ständig am Tropf deröffentlichen Haushalte zu hängen –, wenn wir sie mit derallgemeinen Krankenversicherung stärker verzahnen.
Ich bin deshalb sehr dafür, dass wir die landwirtschaftli-che Krankenversicherung in die Grundentscheidung ein-beziehen, die wir in den nächsten Wochen im Hinblickauf die allgemeine Krankenversicherung treffen.
– Frau Höfken, darauf dürfen Sie gespannt sein. ZumSchluss werden Sie sogar überrascht sein, was wir alleszustande gebracht haben.
Ein weiteres großes Thema ist der Bürokratieabbau.Natürlich braucht man auch in der Landwirtschaft eineVerwaltung. Eine Verwaltung ordnet ja, wenn sie ver-nünftig aufgebaut ist, die Systeme. Aber wir haben imlandwirtschaftlichen Bereich die Grenze von der Verwal-tung zur Schikane überschritten. Das muss man so deut-lich sagen.
Das hat zwei Ursachen. Die eine Ursache ist – hier binich sehr selbstkritisch – die These von der Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinien. Wenn man mit der Um-setzung der Richtlinien beginnt, dann wird man sehrschnell ernüchtert, insbesondere auf Bundesebene. Dassage ich für beide Koalitionsfraktionen. Wenn noch derBundesrat die Bühne betritt, wird es entschieden schwie-riger. Es werden dann viele Gründe angeführt, warum et-was so und nicht anders gemacht werden soll. Ich bin al-les andere als amüsiert, dass man nun im Bundesratversucht – Kollege Kelber, darin stimmen wir überein –,die Regelung der Schweinehaltung mit der der Hennen-haltung formal zu verbinden, wohl in der Erwartung,dass wir in Berlin dann wegen der notwendigen Umset-zung der EU-Richtlinie zur Schweinehaltung gezwungenwären, bei der Hennenhaltung alles zu akzeptieren, wasim Bundesrat beschlossen wird. Ich spreche das so offenan: Es wird nicht gelingen, das eine mit dem anderen sozu verknüpfen; das hat mit Eins-zu-eins-Umsetzungnichts zu tun.
In dem anderen Punkt, nämlich der Kontrolle derlandwirtschaftlichen Betriebe wegen der Direktzahlun-gen aus der Europäischen Union – die Fachleute nennendas Cross Compliance –, sind wir auf der europäischenEbene in den letzten Tagen, was die Entschlackung be-trifft, sehr erfolgreich gewesen. Ich kann dem Parlament
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Bundesminister Horst Seehoferhier mitteilen, dass es nach den Informationen der letz-ten Stunden gelungen ist, Cross Compliance – das ich imGrunde für notwendig halte: wenn 6 Milliarden Euro ausSteuermitteln als Direktzahlungen fließen, muss manauch kontrollieren, ob die Vorschriften im Pflanzen-schutz, im Tierschutz, das Futtermittelrecht oder das Le-bensmittelrecht eingehalten werden – sinnvoll weiterzu-entwickeln. Aber dabei dürfen wir keine bürokratischenUngeheuer aufbauen. Deshalb bin ich froh, dass dieKernanliegen, die Deutschland letztes Jahr im Dezembereingebracht hat, jetzt berücksichtigt worden sind: DieKontrollen sollen sich jetzt auf die landwirtschaftlicheUrproduktion – auch für diese gibt es Direktzahlungenaus Brüssel – konzentrieren und nicht auf die Weiterver-arbeitung; es gibt also keine Ausweitung auf andere Be-reiche.Zweitens wird das Prinzip der Verhältnismäßigkeiteingeführt: Wenn eine Ohrmarke nicht angebracht ist,aber schon bestellt ist, ist es geradezu widersinnig, fürdiesen minimalen Verstoß finanziell eine maximale Be-strafung vorzunehmen. Deshalb wird jetzt der Verhält-nismäßigkeitsgrundsatz eingeführt. Drittens werden aufeuropäischer Ebene die Kontrollschwerpunkte definiert,die gewährleisten sollen, dass die Kontrollen auf dieSchwerpunkte konzentriert werden, die für die Verbrau-cher wirklich relevant sind.
Nur dürfen wir diesen Erfolg auf der europäischenEbene, diesen bürokratischen Rückgang, jetzt nichtdurch zusätzliche Bürokratie in der BundesrepublikDeutschland konterkarieren. Ich bin mit den Bundeslän-dern im Gespräch über das Problem von fachrechtlichenPrüfungen und Cross Compliance. Dieses Nebeneinan-der muss beendet werden: Wer in Cross Compliancewar, braucht nicht mehr in fachrechtliche Prüfungen,und wer in fachrechtlichen Prüfungen war, muss nichtmehr in Cross Compliance; das ist ein Übermaß.
Ich bitte auch die Parlamente vor Ort, in den Bundeslän-dern, mich zu unterstützen; ich bin ziemlich sicher, dassdas der Fall sein wird.Gut in diesem Haushalt ist, dass die nachwachsendenRohstoffe uneingeschränkt gefördert werden: mit53,6 Millionen Euro, kein einziger Cent wird gekürzt.Lieber Herr Goldmann, diese Entscheidung ist goldrich-tig und sie ist kein Rückschritt in die Künast-Politik,sondern sie folgt der gesellschaftlichen Grundüberzeu-gung, dass das dritte Standbein der Landwirte, nämlichdie Rohstoffproduktion, gefördert werden sollte, auchweil sie eine Voraussetzung für die zukünftige Wert-schöpfung in den ländlichen Räumen ist.
Keinerlei Kürzungen werden beim Verbraucher-schutz vorgenommen: 104 Millionen Euro für den Ver-braucherschutz. Ich bin froh, dass wir im Grundsatz soweit sind, dass sich die Fraktionen und die Bundesregie-rung mit dem seit fünf Jahren anstehenden Verbraucher-informationsgesetz beschäftigen und darüber entschei-den können. Ich denke, dass dieses Gesetz, wie man beinüchterner Betrachtung zugeben muss, verbraucherpoli-tisch einen Durchbruch darstellt, mit dem auch Konse-quenzen gezogen werden aus manchem Lebensmittel-skandal der letzten Wochen. In diesem Gesetz ist zumBeispiel vorgeschrieben, dass die Staatsanwaltschaft ihreKenntnisse den Lebensmittelbehörden mitteilt. Denn eswar ein unerträglicher Zustand, dass die eine Staatsbe-hörde wusste, dass etwas faul ist, aber der anderen zu-ständigen Behörde, im Lebensmittelbereich, dies nichtmitgeteilt hat. Künftig wird es möglich sein, dass beson-ders raffgierige schwarze Schafe – wir haben es Gott seiDank nicht mit mafiösen Strukturen zu tun, sondern nurmit raffgierigen Einzelfällen; das ist eindeutig – nichtdadurch geschützt werden, dass sie, wenn sie ihre Warebereits verkauft haben, nicht mehr öffentlich genanntwerden dürfen. Ich bin froh, dass wir uns in der Koali-tion einig sind, dass auch dann Namen genannt werdendürfen, wenn das Produkt schon verkauft ist. Alles an-dere würde bedeuten, dass derjenige, der am Gesetz vor-bei schnell verkauft hat, privilegiert ist gegenüber dem-jenigen, der so dumm war, dass sein Produkt noch aufdem Markt ist.
Wir bekommen auch den Anspruch des Bürgers aufInformationen über die Produktbeschaffenheit von Le-bensmitteln, Futtermitteln und Bedarfsgegenständen ge-genüber einer Behörde, soweit sie dort vorliegen undverbraucherschutzpolitisch relevant sind. Zu der ständi-gen Behauptung, dass dieser Anspruch des Bürgers insLeere gehe, weil wegen der Wahrung der Geschäftsge-heimnisse die Auskunft nicht erteilt werden dürfe,möchte ich sagen, dass eindeutig in dem Gesetz geregeltist, dass Rechtsverstöße nicht durch Geschäftsgeheim-nisse gedeckt werden. Es wäre aberwitzig, wenn jemand,der einen Rechtsverstoß begangen hat, sich anschließendauf das Geschäftsgeheimnis berufen könnte, um dasAuskunftsbegehren der Bevölkerung zu umgehen.Ich bin der Meinung, dass wir in den ersten gut hun-dert Tagen viele Probleme, die auf uns eingeströmt sind– von der WTO über die Zuckermarktordnung und dasGammel- bzw. Ekelfleisch bis hin zur Vogelgrippe undaktuellen Schweinepest –, in guter koalitionärer Zusam-menarbeit bewältigt haben. Jetzt kommen wir zur Py-renäenetappe, die sehr steinig sein wird. Im nächstenVierteljahr wird es eine Fülle von Baustellen und The-men geben, die für die Menschen und für die Agrarwirt-schaft insgesamt von großer Bedeutung sind.Positiv festzuhalten ist die Tatsache, dass es uns in derKoalition gelungen ist, die verschiedenen Denkschulenund Produktionsprofile in der Agrarwirtschaft zusam-mengeführt zu haben. Diese haben sehr lange daruntergelitten, dass sie entweder ausgegrenzt und diskriminiertoder gegeneinander ausgespielt wurden. Jetzt haben wirin wenigen Wochen einen Geist des Dialogs und der
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Bundesminister Horst SeehoferPartnerschaft geschaffen. So war es beispielsweise vorwenigen Tagen bei einem Treffen bei der Bundeskanzle-rin ganz selbstverständlich, dass die Geflügelhalter kon-ventioneller Art und die des Ökolandbaus beieinandersaßen und vernünftig die Argumente ausgetauscht ha-ben. Genau das ist der richtige Ansatz: nicht das Gegen-einander, sondern partnerschaftliche Umgangsformenangesichts der Vielfalt innerhalb der Agrarwirtschaft.Ich bin überzeugt davon, dass wir, wenn wir diesen Geistweiter pflegen, die Probleme lösen und insgesamt vielfür die Agrarwirtschaft tun.Die Agrarwirtschaft ist für unsere Volkswirtschaftvon großer Bedeutung. 12 Prozent der Erwerbstätigenarbeiten in der Agrarwirtschaft. Das wird oft übersehen.In der Agrarwirtschaft sind exakt so viele Menschen be-schäftigt wie im ganzen deutschen Gesundheitswesen,nämlich 4 Millionen. Diese haben eine ungeheure Be-deutung für den ländlichen Raum und für die Versorgungunserer Bevölkerung mit hochwertigen und sicherenNahrungsmitteln. Deshalb plädiere ich weiter für diesenGeist der Partnerschaft und wende mich gegen Ausgren-zung und Diskriminierung. Die Zukunft liegt bei allerPluralität und Vielfalt der Denkschulen letzten Endes inder Partnerschaft, weil wir dann alle miteinander gewin-nen.Danke.
Das Wort hat der Kollege Michael Goldmann, FDP-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich werde aufgefordert, zu sagen, das sei einegute Rede gewesen. Das war nicht der Fall. Es warenschöne Worte. Es waren viele sympathische Worte, dievon einer durchaus sympathisch auftretenden Person he-rübergebracht wurden.
Wir wollen uns aber mehr an den Fakten orientieren.
Bei einer Haushaltsdebatte hat man sich an den Faktenzu orientieren.
Sehr geehrter Herr Minister Seehofer, Ihnen und auchallen anderen hier im Haus wird klar sein, dass die FDPin dem Bereich Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz eine sehr klare Furche zieht. Wir sind für un-ternehmerische, marktorientierte Landwirtschaft. Wirsind ganz klar für Bürokratieabbau. Wir sind für Trans-parenz und Klarheit. Man kann sagen, dass das immermehr bei den Menschen ankommt; denn beispielsweisebei den Wahlen in Rheinland-Pfalz haben 20 Prozent derLandwirte unsere Idee vom eigenverantwortlichen Land-wirt gewählt. Darauf sind wir stolz. Diese Linie wollenwir fortsetzen und daran messen wir Ihr Tun.
Wie ich eben schon gesagt habe, war vieles von dem,was Sie vorgetragen haben, sympathisch und angenehm.Aber manchmal ging Ihre Rede auch an der Sache vor-bei; ich will hier nicht das Wort „unehrlich“ benutzen.Sie haben mich vorhin persönlich angesprochen: Ichhabe die Bereitstellung von Mitteln für nachwach-sende Rohstoffe mit keinem einzigen Wort kritisiert. Ichdenke, dass Sie dpa-Meldungen lesen: In dem, was dawiedergegeben wird, geht es um die Bereitstellung vonMitteln für den Ökolandbau. Die geschätzten Kollegin-nen und Kollegen der CDU/CSU haben den Künast-Haushalt wegen der Bereitstellung von Mitteln für denÖkolandbau immer außerordentlich scharf kritisiert. Ichhabe meine Verwunderung darüber zum Ausdruck ge-bracht, dass dieser Bereich in diesem Haushalt völlig un-geschmälert überlebt. Das ist doch ein Vorgang, zu demich sagen muss: Das überrascht mich.
Mich überrascht auch Ihre Bereitstellung von Mittelnfür sonstige Aufgaben: im Bereich der Öffentlichkeitsar-beit, im Bereich der Konferenzen. Ich glaube, dass wirdeutlich sagen müssen: Das ist nicht die notwendige Be-reitstellung von Mitteln für den Bereich Ernährung,Landwirtschaft, Verbraucherschutz; das sind Spielwie-sen, die Sie pflegen, die den Interessen der Betroffenenvor Ort aber nicht Rechnung tragen.
Herr Minister, Sie haben gesagt: Dort, wo Verwaltungzur Schikane wird, haben wir eine Grenze überschritten.Das hört sich toll an. Dass das richtig ist, ist völlig klar.Nur, Sie überschreiten diese Grenze doch an vielen Stel-len. Sie haben sie in den ersten vier Monaten Ihrer Re-gierungszeit permanent überschritten. Das ist im Koali-tionsvertrag angelegt. Sie wollen zum Beispiel einenStall-TÜV. Dieser TÜV ist so überflüssig wie ein Kropf.Das Kuratorium für Technik und Bauwesen in der Land-wirtschaft ist im Grunde genommen ein entsprechendesBegleitgremium. Wir sind gerade auf dem Gebiet derUmsetzung von Stalltechnik für kluge Haltungsformenabsolute Spitze.
Sie kritisieren den Bürokratieaufwuchs in bestimm-ten Bereichen. Aber was machen Sie denn bei den bioge-nen Kraftstoffen? Gerade dort schaffen Sie eine Rege-lung, die wiederum zu sehr viel Bürokratie führen wird.Völlig unklar ist nämlich: Was ist die Verwendung voneinem biogenen Kraftstoff durch einen Landwirt auf sei-ner eigenen Fläche? Wo ist die Abgrenzung? Wo sinddie Nachweiskriterien?Sie sagen: Ich bin für Bürokratieabbau. Was machenSie? Durch die Pauschalierung über die Erhöhung der
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Hans-Michael GoldmannMehrwertsteuer schaffen Sie gerade diese unbürokrati-sche Praxis ab. Das wird doch nicht nur von uns kriti-siert, sondern sogar von Kollegen aus Ihren eigenen Rei-hen, die sich wegen dieses Sachverhalts an dieBundeskanzlerin gewandt haben, um hier Abhilfe einzu-fordern.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres
Kollegen Koppelin?
Ja, bitte.
Lieber Kollege Goldmann, ist das, was Sie eben ange-
sprochen haben, vielleicht der Grund dafür, dass, seit-
dem Minister Seehofer gesprochen hat, fast die gesamte
Regierung fluchtartig den Saal verlassen hat?
Ich finde die Auseinandersetzung mit Herrn MinisterSeehofer, Herr Kollege Koppelin, außerordentlich span-nend. Durch sein Verhalten kann man möglicherweisedas eine oder andere lernen, wenn man eine populisti-sche Politik machen will. Wenn man sich an der Sacheorientieren möchte, dann wäre es gut, wenn die Regie-rungsbank stärker besetzt wäre; denn dann würden dieRegierungsmitglieder zwischen der Botschaft, die HerrSeehofer verbal verkündet, und seinem Tun differenzie-ren können. Frau Bundeskanzlerin Merkel würde dannnicht die Frage in den Raum stellen, was die Menschenüber uns denken würden, wenn wir etwas anderes als dastäten, was in der Koalitionsvereinbarung festgelegt ist.Man würde feststellen, dass im Koalitionsvertrag eineEins-zu-eins-Umsetzung vereinbart ist und dass HerrSeehofer europäische Vorgaben nicht eins zu eins um-setzt.Herr Kollege Koppelin, Sie können sich jetzt wiedersetzen, weil ich jetzt in der Sache fortfahre.
– Herr Kelber, zu Ihnen und Ihren Widersprüchlichkei-ten komme ich noch.
– Das steht in Ihrer Koalitionsvereinbarung.
– Warum soll ich das? Entschuldigung, kennen Sie Ihreeigene Koalitionsvereinbarung nicht?
– Ich behaupte das nicht nur. Ich gehe davon aus, dassSie Ihre eigene Koalitionsvereinbarung kennen. Darinsteht, dass Sie für eine Eins-zu-eins-Umsetzung europäi-scher Vorgaben in nationales Recht sind.
Ich will das einmal an einem Beispiel belegen, damitklar wird, worum es hier geht. Herr Minister Seehofer,wir sind die Allerletzten,
die für die alten Käfige sind, aber wir sind die Allerers-ten, wenn es darum geht, Weichen für die Zukunft, füreine unternehmerische Landwirtschaft zu stellen. Siesetzen auch die Nutztierhaltungsverordnung im Schwei-nebereich nicht sachgerecht, nicht eins zu eins, um. Wis-sen Sie, dass das die Schweinewirtschaft eine halbe Mil-liarde Euro kostet? Wissen Sie, dass das jedenDurchschnittsbetrieb mit 65 000 Euro zusätzlich belas-tet?
Wissen Sie, dass das die direkteste Möglichkeit ist, umArbeitsplätze und Unternehmen in diesem Bereich zuzerstören? Das ist unsere Kritik an Ihnen: Sie erzählenschöne Dinge, aber Sie handeln dann so, dass Arbeits-plätze vernichtet werden, dass es für die Agrarwirtschaftin Deutschland noch enger wird. Das kritisieren wir,meine ich, zu Recht.
Ich will das auch beim Thema Vogelgrippe anspre-chen. Wir sind in den Fällen, in denen Sie eine kluge undsachgerechte Politik machen, immer auf Ihrer Seite.Aber Ihr Auftritt auf Rügen – dabei bleibe ich – war inder Sache falsch. Das haben wir kritisiert. In der Sonder-sitzung waren Sie übrigens keineswegs so sympathischund freundlich, wie Sie sich heute hier dargestellt haben,sondern sehr angriffsfreudig. Es ist in der Sache geboten,sich dafür einzusetzen, dass man das Problem der Vogel-grippe in den Griff bekommt. Aber es ist in der Sachenicht geboten, Kollegen in der Form anzugreifen, wieSie es bei der Sondersitzung getan haben.
Wir sind nicht die Verursacher des Stutenbeißens mit Ih-rem Landwirtschaftsminister in Bayern; das müssen Siedann schon mit Ihrem Kollegen vor Ort austragen.Herr Kelber, Sie haben vorhin etwas angesprochen.Kommen wir gleich zur Sache: Die CSU-Landesgruppefordert: „Vorsteuerpauschale muss angepasst werden“.Sie widersprechen. Das ist das Problem, das Sie alsschwache große Koalition haben:
Der eine läuft vor und der andere pfeift zurück. HerrSeehofer erklärt, er sei auf dem besten Wege, und dieKollegin Mortler beschwert sich bei der Bundeskanzle-rin darüber, dass im Grunde genommen keine Weichen
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Hans-Michael Goldmannfür eine unternehmerische, marktorientierte Landwirt-schaft gestellt werden.
Wir stimmen in bestimmten Dingen Ihrer Zielsetzungzu, Herr Seehofer. Bei den agrarsozialen Sicherungssys-temen sind Sie auf dem richtigen Weg, bei der GrünenGentechnik auch. Aber dazu kann ich dann auch nur sa-gen: Fangen Sie an, die Pyrenäen zu erklimmen!
Machen Sie nicht weiter Versuche, sondern machen Siesich konkret daran, die vierte Novelle des Gentechnikge-setzes auf den Weg zu bringen!Herr Minister Seehofer, kommen Sie in der Agrarpo-litik an! Beschäftigen Sie sich engagiert, wie Sie es vor-hin beim Thema Cross Compliance dargelegt haben, mitder Bereitstellung von Prämien für die Fläche!
Herr Kollege, schauen Sie bitte auf die Uhr!
Beschäftigen Sie sich nicht mit der Kopfpauschale!
Sie sind Agrarminister und nicht Gesundheitsminister.
Wir warten auf die Beweise für Ihr Tun.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Waltraud Wolff,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Herr Goldmann, zu den Aussa-gen, die Sie zum Schluss zur Koalition getroffen haben
– Herr Goldmann, ich rede mit Ihnen; es wäre schön,wenn Sie zuhören würden –, kann ich nur sagen: Daspricht der Neid der Besitzlosen. Was Sie angesprochenhaben, ist ein Diskussionsprozess. Wenn man zwischenKoalitionären unterschiedliche Meinungen hat, die zu-nächst einmal diskutiert und das öffentlich wird: Dasnennt man Demokratie. Das ist eigentlich eine ganz guteKultur. Die sollten wir beibehalten.
Sie haben von Transparenz, Verbraucherschutz undBürokratieabbau gesprochen. Lieber Kollege Goldmann,das alles sind Themen, die wir in der Koalition auch be-arbeiten.
Wenn Sie sich unseren Haushalt anschauen, dann kön-nen Sie dem eigentlich nur zustimmen.
Was den Ökolandbau angeht, bitte ich Sie, meinenAusführungen zu folgen; ich glaube, davon kann mannoch ein bisschen lernen.Die Zeit der Haushaltsberatungen ist immer sehrspannend. Ich mache das zum achten Mal mit. Jedes Malfehlt mir aber ein spannender Einstieg. Ich habe gedacht,dass ich heute eigentlich sagen könnte: Wir haben nichts.Wir geben nichts. – Das wäre für die Opposition dierichtige Schlagzeile.
Aber ich muss Ihnen sagen, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Opposition: Das stimmt nicht. Ich mussSie enttäuschen, und das im positiven Sinne. Durch denKonsolidierungsbeitrag von 200 Millionen Euro hat un-ser Haushalt zwar ein geringeres Volumen, aber uns sindviele Einzelheiten sehr gut gelungen.Die Grundlage unseres Haushaltsplans ist natürlichder Koalitionsvertrag, in dem wir festgehalten haben,dass wir die Rahmenbedingungen und die Wettbewerbs-situation für die deutsche Land- und Forstwirtschaft, dieErnährungswirtschaft und den Gartenbau verbessernwerden.Grundsätzlich will ich vorausschicken, dass wir trotzaller Sparzwänge der Entwicklung der ländlichenRäume, der Forschung, gerade im Bereich der nach-wachsenden Rohstoffe, und dem Verbraucherschutz un-sere ganze Aufmerksamkeit widmen werden. Wir wer-den Schwerpunkte setzen und deren Entwicklung mitaller Kraft vorantreiben.
Mit fast 3,8 Milliarden Euro ist der Bereich der land-wirtschaftlichen Sozialpolitik der finanzielle Schwer-punkt unseres Einzelplans. Ich bin ganz besonders froh,Herr Minister Seehofer, und möchte mich dafür herzlichbei Ihnen bedanken, dass wir keine weiteren Einsparun-gen bei der landwirtschaftlichen Unfallversicherung vor-nehmen müssen. Das war meine große Befürchtung.Hier gibt es Bundeszuschüsse von 200 Millionen Euro.In den vergangenen Jahren war es immer wieder ein gro-ßes Problem, dass das Bundesministerium leider keinegrundlegenden Konzepte für die landwirtschaftliche So-zialversicherung vorgelegt hat, sondern dass lediglichder Rotstift angesetzt wurde. Ich bin froh, dass wir es indiesem Haushaltsjahr geschafft haben, die Zuweisungenzu sichern.Trotzdem möchte ich das Dankeschön mit einer Bitteverknüpfen. Da sind Sie aber schon vorausgeeilt. Ichwünsche mir, dass wir das Ministerium an unserer Seitehaben, wenn es erneut um die Reform der landwirt-schaftlichen Sozialversicherung geht. Wenn wir dasSystem für die Versicherten erhalten wollen, ist eineReform unumgänglich. Ich bitte darum, dass wir die
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Waltraud Wolff
Unterteilung in Unfall-, Kranken- und Alterssicherungbeibehalten und einheitliche Beitragsmaßstäbe für dieKranken- und Unfallversicherung in Deutschland ein-führen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundespro-gramm für tiergerechte Haltungsverfahren wird mit3 Millionen Euro auf gleichem Niveau weitergeführt.Hier können die Landwirte, die dieses Programm nutzen,von Kontinuität ausgehen.Das Bundesprogramm „Ökologischer Landbau“werden wir – das haben Sie sehr richtig gelesen, HerrGoldmann – künftig weiterhin mit 20 Millionen Eurofördern. Denn der ökologische Landbau ist eine beson-ders nachhaltige Form der Landbewirtschaftung unddessen Ausdehnung ist sinnvoll. Die Maßnahmen diesesBundesprogramms setzen sowohl bei der Erzeugung alsauch bei der Vermarktung an. Darüber hinaus werdenVerbraucherinnen und Verbraucher über die Produktedes Ökolandbaus informiert.Ich meine, es kommt nicht von ungefähr, dass der in-ländische Umsatz von Lebensmitteln aus dem Ökoland-bau auch im Jahr 2005 ein konstantes Wachstum ver-zeichnen konnte. Mit einem Anstieg um 15 Prozenterreichte er 4 Milliarden Euro – wirklich eine erfreulicheEntwicklung.
Kommen wir zu einem in meinen Augen sehr wichti-gen und zukunftsträchtigen Punkt, der aber nur im Zu-sammenhang mit anderen Punkten genannt werdenkann. Ich meine die nachwachsenden Rohstoffe. Diedazugehörigen Stichworte sind aus meiner Sicht For-schung, Biomasse, Bioenergie und Wertschöpfung imländlichen Raum. Wir haben uns in Deutschland durchdie Beschlüsse zum EEG gut positioniert. Herr Seehoferhat schon gesagt, dass 53 Millionen Euro für diesen Be-reich aus unserem Haushalt kommen. Ich möchte ergän-zen: Die Masse der Zuwendungen kommt aber aus demEEG, das wir in der letzten Legislaturperiode durchge-setzt haben.
Wir können auch die Energieerzeugung aus erneuer-baren Energien in der Zukunft noch viel besser decken,wenn wir uns politisch konsequent dahinterstellen. Län-der wie Schweden haben da eine Vorreiterrolle; sie sindsehr mutig. Ich bin überzeugt, dass wir das genauso gutkönnen. Hinzu kommt, dass unsere Technologien in die-sem Bereich weltweit sehr gefragt sind. Diese Positiongilt es weiter auszubauen.Aus diesem Grund ist hier ein Schwerpunkt auf dieForschung zu legen. Wie könnten wir das besser tun alsmit dem schon in der letzten Legislaturperiode beschlos-senen Biomasseforschungszentrum in Ostdeutschland?Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, esbleibt mir nicht erspart, das zu sagen: Wir haben das inder letzten Legislaturperiode beschlossen; allein an derUmsetzung hat es gefehlt. Die große Koalition wird diestun; wir haben die Umsetzung sozusagen auf demSchirm.
Als ich vorhin von der Stärkung der Landwirtschaftgeredet habe, meinte ich das Potenzial, das über die Nah-rungsmittelproduktion hinaus ausgeschöpft werdenmuss.
Ich habe immer den Standpunkt vertreten, dass unsereLandwirte am Anfang der Kette zur Nutzung der nach-wachsenden Rohstoffe stehen. Hier gilt es, noch vielAufklärungsarbeit zu leisten; aber auch unsere Unter-stützung ist gefragt. Denn die großen Konzerne habenlängst erkannt, dass man mit alternativen Energien undmit Treibstoffen richtig Geld verdienen kann.
Aus diesem Grund liegt unser Augenmerk nicht nurdarauf, dass es eine steuerfreie Verwendung von reinenBiokraftstoffen in der Landwirtschaft, in der Forstwirt-schaft und bei den Lohnunternehmern geben wird, son-dern wir werden im Rahmen der Neuregelung zur Be-steuerung der Energieerzeugnisse auch intensiv daraufachten, dass es nicht zu Verwerfungen auf diesem jungenund noch labilen Markt kommt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Happach-Kasan?
Aber gerne.
Frau Kollegin Wolff, ich freue mich sehr, dass Siehier noch einmal ausdrücklich betont haben, dass manmit biogenen Kraftstoffen Geld verdienen kann und dasssich inzwischen eine Industrie in Deutschland entwickelthat, die aufstrebend ist und die sich die Marktführer-schaft erobert hat. Dies alles ist geschehen vor dem Hin-tergrund des Bundestagsbeschlusses, bis zum 1. Januar2009 die biogenen Kraftstoffe mineralölsteuerfrei zustellen.Ich frage Sie aufgrund Ihres Plädoyers für die bioge-nen Kraftstoffe, das Sie eben gehalten haben: Warum hatdie schwarz-rote Koalition beschlossen, diese Steuerbe-freiung vorzeitig aufzuheben und durch einen Beimi-schungszwang zu ersetzen? Sie wissen doch genau, dassdamit Investitionen in ihrem Wert gefährdet sind, dassdas Vertrauen von Unternehmen in das politische Han-deln massiv untergraben wird und dass schon jetzt ab-
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Dr. Christel Happach-Kasansehbar ist, dass Investitionen, die in Deutschland geplantwerden, nach Großbritannien und Schweden verlagertwerden.
Frau Kollegin Happach-Kasan, von der Verlagerung
in andere Länder ist mir überhaupt nichts bekannt.
Die Beimischungspflicht birgt nicht nur ein Risiko,
wie Sie sagen, sondern auch eine Chance. Wir müssen
im Rahmen der Diskussion über das Energiesteuergesetz
darauf achten, die Quoten gerecht festzulegen. Darauf
muss man den Schwerpunkt setzen. Wenn wir es schaf-
fen, die Steuerbefreiung für die Landwirtschaft aufrecht-
zuerhalten, dann sind wir insgesamt einen großen Schritt
weiter gekommen. Eine Beimischungspflicht bedeutet,
dass es einen gesicherten Absatz geben wird.
Unsere Landwirtschaft leistet mit der Erzeugung von
Energiepflanzen – dieser Punkt passt sehr gut zur Zwi-
schenfrage – den Grundstock für die CO2-Minderung in
Deutschland und auch für die Erfüllung des Kiotoproto-
kolls. Darum sage ich: Die Produktion dieser Pflanzen
kann nicht zum Nulltarif zu haben sein. Wir wissen: In
vielen Bereichen der Lebensmittelproduktion diktieren
andere die Preise. Ich erinnere nur an die Schleuder-
preise für Milch oder für Eier und an andere Sonderan-
gebote. Das darf uns bei den Energiepflanzen nicht pas-
sieren.
Deshalb ist es wichtig, an dieser Stelle im Energiesteuer-
gesetz Schwerpunkte zu setzen.
Änderungen, die im Haushaltsbegleitgesetz vorge-
nommen werden, oder auch Gesetzgebungen aus ande-
ren Fachbereichen, die die Landwirtschaft originär be-
treffen, müssen wir auch in Zukunft im Blick behalten.
Nun zu einem ganz anderen Thema. Ich weiß, dass
viele Kreis- und Landesbauernverbände bereits Kolle-
ginnen und Kollegen gebeten haben, sich im Zuge der
Mehrwertsteuererhöhung für eine Erhöhung der Vor-
steuerpauschale für die Landwirtschaft von 9 auf
12 Prozent einzusetzen. Um was geht es hier eigentlich?
Die Mehrwertsteuer, die ein Unternehmer als Vorleis-
tung für seine Produktion zu entrichten hat, nennt man
Vorsteuer; sie wird später vom Finanzamt zurückerstat-
tet. Für die Landwirtschaft entfällt normalerweise die
Aufzeichnungspflicht gegenüber dem Finanzamt. Die
Landwirte können von der so genannten Vorsteuerpau-
schale Gebrauch machen. Zurzeit beträgt sie 9 Prozent.
Prinzipiell darf jeder Berufsstand seine Forderungen
stellen, auch die Bauern. Ich erlaube mir aber an dieser
Stelle, einfach einmal die Frage zu stellen, ob die Erhö-
hung der Pauschale die richtige Lösung ist. Ich bin zwar
für Bürokratieabbau und auch für den Abbau ungerecht-
fertigter Härten. Aber meiner Ansicht nach muss man
bei der Vorsteuerpauschale ein bisschen genauer hin-
schauen. Landwirte können jederzeit zur Buchführung
wechseln, wenn sie unzumutbare Härten vermuten oder
sich vom Fiskus ungerecht behandelt fühlen.
– Herr Goldmann, genau darauf will ich Ihnen gerne ant-
worten. Wenn Sie die Vorsteuerpauschale mit Bürokra-
tieabbau in Verbindung bringen, ist das lächerlich. Hier
geht es um Steuergerechtigkeit.
Wir leben im Jahre 2006. Wir leben in einem Zeital-
ter, in dem jeder Hartz-IV-Empfänger seine Konten of-
fen legen muss,
in dem jeder, der Zuwendungen vom Staat erhalten will,
transparent bis aufs Hemd sein muss. Ist es da wirklich
zeitgemäß, dass Landwirte pauschalieren?
Berechnungen besagen, dass eine Anhebung des Pau-
schalierungssatzes von 9 auf 12 Prozent für die Land-
wirtschaft sowie in der Forstwirtschaft von 5 auf
5,5 Prozent Mindereinnahmen von sage und schreibe
570 Millionen Euro zur Folge hätte. Ich bin der Mei-
nung, dass wir, wenn wir über die Entwicklung der länd-
lichen Räume reden, Steuergelder sinnvoller und wir-
kungsvoller einsetzen könnten. Hier könnten wir unsere
Kreativität einsetzen. Ich will es auf den Punkt bringen:
Für mich bedeutet „Buchführung beim Finanzamt“, eine
ordentliche Steuererklärung zu erstellen, wenn mich
nicht alles täuscht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe zu Beginn
von der Verantwortung der Regierungskoalition in Be-
zug auf die Verbraucherpolitik gesprochen. Dazu wird
– denn ich sehe, dass meine Redezeit dafür zu kurz ist –
mein Kollege Kelber einiges sagen. Ich möchte zum
Schluss auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen –
Frau Kollegin, Sie müssen diesen Punkt aber sehrkurz halten.
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2356 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 29. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2006
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– den halte ich ganz kurz –, damit mir die Opposition
nicht vorwerfen kann, ich schummele mich um dieses
Thema, nämlich um die GAK, herum. Wir alle wissen:
In Zukunft werden wir dafür 50 Millionen Euro
– ja, Entschuldigung, 70 – weniger zur Verfügung haben.
Dazu möchte ich sagen: Hier ist die Kreativität von
Bund und Ländern gefragt. Wir müssen gemeinsam im
PLANAK Mittel und Wege finden, nicht mit der Gieß-
kanne zu arbeiten, sondern ganz gezielt Fördermaßnah-
men vorzunehmen.
Wir haben einen Haushaltsplan vorgelegt, der es lohnt
diskutiert und dann auch mit Mehrheit beschlossen zu
werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Um es gleich vorwegzusagen:
Wir glauben, dass mit diesem Agrarhaushalt die Pro-
bleme im ländlichen Raum nicht nur nicht gelöst, son-
dern sich weiter zuspitzen werden.
Aber gestatten Sie mir zunächst eine grundsätzliche
Bemerkung. Der nun auch von der Bundesbank bestä-
tigte wesentliche kausale Zusammenhang zwischen feh-
lenden Einnahmen und dem Staatsdefizit bringt uns in
eine prekäre Situation: Die politischen Gestaltungs-
möglichkeiten werden immer kleiner. Stattdessen ver-
walten wir selbstverschuldeten Mangel. Das trägt zu
Politikverdrossenheit und Wahlverweigerung bei und
beschädigt die Demokratie.
Der erneut reduzierte Bundesagrarhaushalt spitzt die
Probleme im ländlichen Raum weiter zu, selbst wenn
man berücksichtigt, dass Bundesmittel nicht die einzige
Finanzierungsquelle sind. Uns allen wurde die Aufgabe
gestellt, mit nunmehr 5 Milliarden Euro zu politischen
Rahmenbedingungen beizutragen, die dem ländlichen
Raum und der Landwirtschaft eine wirkliche Zukunfts-
chance eröffnen. Da ist selbst mit einer Prioritätenset-
zung nicht viel zu stemmen. Umso mehr kommt es aus
unserer Sicht darauf an, wirtschaftliche, ökologische
– könnte ich um ein bisschen Ruhe bitten – und soziale
Interessen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern
zusammenzudenken.
Doch die gegenläufige Tendenz ist der Fall. Immer
mehr ländliche Räume werden zu sozialen Brennpunk-
ten. Ein expandierender Niedriglohnsektor und Hartz IV
führen dazu, dass nicht nur Langzeitarbeitslose, sondern
auch Einzelhändler, Dienstleister und ihre Angestellten
ihre Existenz nicht mehr bestreiten können. Gleichzeitig
werden Umwelt- und Naturschutz zunehmend als wirt-
schaftsfeindlich oder gegen die Interessen der Menschen
gerichtet dargestellt. Angesichts dieser Probleme wird
dringender denn je ein zukunftsfähiges agrarpolitisches
Konzept gebraucht.
Im Zentrum unserer konzeptionellen Gedanken steht,
dass eine sozialökologische Umgestaltung der Gesell-
schaft zwingender denn je ist und dass die ländlichen
Räume mit ihrer Agrarwirtschaft dabei eine zentrale
Funktion haben. Sie müssen als soziale und nicht nur als
wirtschaftliche Räume politisch gestaltet werden, und
zwar so, dass auch künftige Generationen dort leben
können. Das heißt, sowohl natürliche Ressourcen zu
schonen als auch existenzsichernde Arbeitsplätze zu er-
halten oder zu schaffen – nicht nur in der Landwirt-
schaft. Das ist zugegebenermaßen gelegentlich ein Span-
nungsfeld, das sich aber mit gutem Willen und klugen
Ideen durchaus auflösen lässt und das aufgelöst werden
muss, wollen wir nicht die zunehmende Verarmung und
Vergreisung in den ländlichen Räumen tatenlos hinneh-
men.
Das heißt agrarkonzeptionell gedacht: Erstens. Wir
brauchen existenzsichernde Arbeitsplätze auch in der
Landwirtschaft. Die Tendenz zu diskontinuierlicher, sai-
sonaler Beschäftigung und Niedriglohn hat gerade im
ländlichen Raum dramatische Folgen. Wir wollen keine
Tagelöhner.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schirmbeck?
Selbstverständlich.
Frau Kollegin, um Ihnen die Chance zu geben, unsaufzuzeigen, was man im Einzelnen tun könnte, hätte ichfolgenden Hinweis für Sie: Die Kollegen Holzenkampund Kues und ich kommen aus einer Region mit intensivbetriebener Landwirtschaft. Schauen Sie sich einmal dieSchweine- und die Hühnerhaltung in diesen Regionenan, auch die Ernährungswirtschaft und die dort ausge-wiesenen FFH-Gebiete und vergleichen Sie dies mit demBundesdurchschnitt! Dann werden Sie zur Kenntnis neh-men müssen, dass die Tagelöhner, von denen Sie gespro-chen haben, immerhin dazu geführt haben, dass die Ar-beitslosenquote bei uns um 6 Prozent beträgt. Zeigen Sie
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Georg Schirmbeckmir einmal andere Räume in Deutschland, wo die Ent-wicklung so positiv verläuft, und sagen Sie mir einmal,was Sie in diesen Räumen umgestalten wollen, wennman die Politik umsetzen würde, die zu skizzieren Sieuns eigentlich schuldig bleiben. Sagen Sie uns einmal,was wir dann zu erwarten haben!
Mir ging es um die Tagelöhner, denen für die Arbeit2,50 Euro pro Stunde gezahlt werden und die auch nurzeitweise arbeiten können. Ich glaube, es ist unser ge-meinsames Anliegen, die saisonale und diskontinuierlichanfallende Arbeit in der Landwirtschaft in eine ganzjäh-rige Beschäftigung zu überführen.
Sie haben selber einen entsprechenden Gesetzentwurfeingebracht. Das muss unser Ansatz sein. Diskontinuier-liche und saisonale Arbeit kann nicht unsere Zukunftsein. – Aber recht schönen Dank für Ihre Nachfrage.Ich fahre fort und zähle jetzt einige Punkte auf, dieauch Antworten auf Ihre Frage sind.Zweitens. Als traditioneller Kern der ländlichen Wirt-schaft muss flächendeckende Land- und Forstbewirt-schaftung mit vielfältigen Betriebsstrukturen und Eigen-tumsformen gesichert werden.Drittens. Regionale Wirtschaftskreisläufe können einstabilisierender Faktor für die regionalen Arbeitsmärktesein.Viertens. Wir wollen eine multifunktionale Landwirt-schaft, die sich neue Erwerbsfelder erschließt, ob rege-nerative Energien, nachwachsende Rohstoffe oder Tou-rismus.Fünftens. Die Agrarwirtschaft muss umweltgerechtund verbraucherorientiert sein. Das spricht zum Beispielgegen eine Anwendung der Grünen Gentechnik, aber füreine tierschutzgerechte Nutztierhaltung.
Sechstens. Die Pflege und ökologisch sinnvolle Ge-staltung der Kulturlandschaft durch die Landwirte mussals gesellschaftlich gewollte Arbeitsleistung entlohntwerden.
Messen wir also den vorliegenden Agrarhaushalt andiesen Herausforderungen. Ich fange einmal mit demPositiven an. Die Bundeszuschüsse für das agrar-soziale System sollen nicht gekürzt werden. Das ist einrichtiger und mutiger Schritt; denn immerhin – das istbereits gesagt worden – macht dieser Etat 75 Prozent desGesamthaushalts aus. Da sind Begehrlichkeiten vorpro-grammiert. Es ist dringend erforderlich, diese Begehr-lichkeiten angesichts der meist geringen Verdienste inder Landwirtschaft abzuwehren. Weitere Beitragserhö-hungen wären von vielen nicht mehr zu verkraften. Derletzte Agrarbericht gab selbst für das Spitzenjahr 2004/05einen Durchschnittsgewinn plus Personalaufwand vonnur rund 23 000 Euro je Arbeitskraft an. Als Landwirtwird man im Laufe des Lebens vermutlich reich, abernur an Erfahrung.
Die bloße Fortschreibung der Bundeszuschüsse istkein zukunftsfähiges Konzept. Die dafür notwendigenÜberlegungen müssen unter Einbeziehung der Betroffe-nen angestellt werden und die Lösungen solidarisch undsozial gerecht sein.
Ich fahre mit einem weiteren positiven Aspekt – vielmehr gibt es nicht – fort. Das Budget für Verbraucher-politik im Bundeshaushalt lässt erkennen, dass die Le-bensmittelskandale der vergangenen Monate nicht ganzspurlos geblieben sind. Die tatsächliche Lage in diesemBereich wird aber leider nicht stabilisiert; denn auf Län-derebene wurden die finanziellen Mittel für die Verbrau-cherzentralen zum Teil drastisch gekürzt. Das gilt vor al-len Dingen für die ärmeren Bundesländer. Dort lebenaber meistens auch die ärmeren Menschen. Für sie sinddie immer weiteren Wege zu den Beratungsstellen kaummehr überbrückbar – und das in einer Situation, in derdie Herausforderungen an die mündige Verbraucher-schaft immer größer werden. Das heißt, Arme werdennoch rechtloser und damit noch ärmer.Schauen wir uns als nächstes den Etat für dieGemeinschaftsaufgabe an. Der Situationsbericht 2006des Deutschen Bauernverbandes stand unter dem Motto„2005 nur noch 685 Millionen Euro“. Jetzt verhandelnwir über gerade einmal 615 Millionen Euro. Das sind70 Millionen bzw. circa 10 Prozent weniger.Das ist nicht alles. Auch die EU-Mittel für den ländli-chen Raum, die so genannte zweite Säule, werden dras-tisch, nämlich um durchschnittlich 40 Prozent, gekürzt,obwohl sie schon ungekürzt alles andere als ausreichendwaren.Um die Liste des Raubbaus an finanziellen Mittelnfür die ländliche Strukturpolitik zu vervollständigen: DerBund kofinanziert mit Mitteln aus der Gemeinschafts-aufgabe Landesmittel. Also gehen auch diese verloren.Hinzu kommt, infolge der ebenfalls bundespolitisch ver-ursachten Haushaltsnotstände, der zunehmende Ausfallder öffentlichen Hand bei Investitionen in den ländlichenGemeinden.Fazit: Die ländlichen Räume sind die großen Verliererder aktuellen Politik, und zwar in Ost und in West.
Diese Misere wird durch die neuen Ideen zur Besteue-rung der biogenen Kraftstoffe – sie wurden schon ge-nannt – verstärkt. Dadurch droht eine Vernichtung derumfangreichen Investitionen, gerade der dezentralen Öl-mühlen. Eine neu erschlossene Wertschöpfungsquelle imländlichen Raum wird damit versiegelt. Das kommt da-bei heraus, wenn man die Agrarstrukturpolitik vom Fi-nanzminister machen lässt. Das ist zumindest politischunklug.
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Dr. Kirsten TackmannZum Schluss will ich ein Thema ansprechen, weil aufdiesem Gebiet seit Jahren Handlungsbedarf vorhandenist, der zwar offensichtlich, aber unbeachtet gebliebenist. Tierseuchen und Zoonosen sind seit Jahren im zu-nehmenden Maße medial gefühlte oder tatsächliche Be-drohungen für Menschen und Nutztiere. Leider mussaber oft erst der Ernstfall eintreten, bevor die Politik sieals Risiko wirklich wahrnimmt. Die Ereignisse um dieVogelgrippe in den vergangenen Wochen haben einesbewiesen: Der Bundesrepublik fehlen Ressourcen in derveterinärepidemiologischen Forschung.
Auf diesem Gebiet sind wir bestenfalls ein Entwick-lungsland.Einige Nachbarländer haben spätestens nach denbrennenden Kadaverbergen des MKS-Seuchenzugs inGroßbritannien reagiert und die Veterinärepidemiologiegestärkt.
In der Bundesrepublik wurden als Schlussfolgerung ausder BSE-Krise zwar zwei große neue Bundesinstitute ge-schaffen, an der Veterinärepidemiologie ging diesesFüllhorn aber vorbei.Gestern teilte mir Minister Seehofer per Antwortbriefmit, dass er an den Umzugsplänen für das Institut fürEpidemiologie des Friedrich-Loeffler-Instituts in Wus-terhausen festhalten will. Seine Begründung: Synergie-effekte. Das ist die Begründung seiner Vorgängerin. DerUmzug an einen wenig geeigneten Standort ist aber nachBSE, MKS, Schweine- und Geflügelpest falscher als1996.
Damit würde mittel- und erst recht langfristig die Ar-beitsfähigkeit der einzigen ausschließlich veterinärepi-demiologisch arbeitenden Einrichtung in der Bundes-republik gefährdet und damit die wissenschaftlicheBeratung des Bundesministeriums bei diesen Themen.Eine vernünftige Ausgabenpolitik sieht, denke ich, an-ders aus.
Die richtige Schlussfolgerung aus den Ereignissen dervergangenen Wochen wäre die Aufarbeitung der offen-sichtlichen Defizite, statt die Fehler der Vorgänger fort-zusetzen. Nicht das Festhalten am Umzug, sondern dieStärkung dieses Instituts wäre das Gebot der Stunde, üb-rigens auch unter strukturpolitischen Gesichtspunkten.Es geht hier um die letzten Arbeitsplätze in der Wissen-schaft in einer Region mit 20 Prozent Arbeitslosigkeitund um einen der größten lokalen Arbeitgeber.Es geht aber nicht nur um den Standort. Die Diskre-panz zwischen den notwendigen und den personell tat-sächlich verfügbaren Ressourcen wird in diesem Res-sortforschungsbereich immer größer.Das Gleiche gilt in der Bundesforschung für die For-schung zu wildbiologischen Fragen. Diese Defizite sindzwar bei der aviären Influenza offensichtlich geworden,sie sind aber für andere Wildtierinfektionen wie Tollwut,Wildschweinepest und Kleiner Fuchsbandwurm ebensogültig. Angesichts dieser Situation klingen die gestrigenvollmundigen Bekenntnisse der Koalition zur Forschungnur bedingt glaubwürdig.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen.
Jetzt werde hier mal nicht fies.Wenn man den Nebel einmal beiseite schiebt, der vonder großen Koalition verbreitet wird,
dann muss man sagen: Mit der schwarz-roten Regierungund CSU-Minister Seehofer findet ein nie da gewesenerKahlschlag für die ländlichen Räume statt.
Herr Seehofer steht als Kaiser ohne Kleider da, bejubeltvom Hofstaat. Denn gleich in den ersten hundert Amts-tagen beschloss die schwarz-rote Regierung zwar groß-zügig die Aufstockung der deutschen Zahlungen anBrüssel um immerhin 2 Milliarden Euro pro Jahr, ver-zichtete dabei aber ebenso großmütig auf rund 400 Mil-lionen Euro an Fördermitteln aus der EU für die deut-schen ländlichen Räume. Ob aus Ignoranz oder Naivität,das bleibt Spekulation. Tatsache ist: Während Luxem-burg, Österreich, Italien und andere mit erheblichen Auf-stockungen nach Hause gehen konnten, fehlen ab jetztvor allem in den westdeutschen Bundesländern etwa45 Prozent der bisherigen Finanzmittel.
Mit den Kofinanzierungsmitteln summiert sich dasGanze auf Defizite von über 700 Millionen Euro proJahr. Seehofer und andere rechtfertigen dieses Desasterdamit, dass man so die Direktzahlungen gesichert habe.Da haben die Hühner endlich wieder einmal etwas zumLachen.
Im Dezember hat Frau Merkel noch von Kompensa-tionen geredet, aber wenn man sich den Haushalt an-sieht, findet man davon nichts. Im Gegenteil: minus200 Millionen Euro zusätzlich im nationalen Haushalt,
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Ulrike Höfkendavon eine Kürzung in Höhe von 70 Millionen Euro fürdie deutsche Gemeinschaftsaufgabe – und das trotz desguten Mittelabflusses in den Ländern und trotz guter In-vestitionswirkung dieser Maßnahmen.Was hatten CDU und CSU nicht alles versprochen?Wenn man sich die alten Haushaltsreden durchliest, dannsieht man: Die Steuern für Agrardiesel sollten auf dasgleiche Niveau wie in Frankreich gebracht und die Mit-tel für Öffentlichkeitsarbeit sollten abgesenkt werden.
Man sieht, all das waren Rattenfängereien im Wahl-kampf. Das kann man jetzt erkennen.
Der von Schwarz-Rot vorgelegte Haushalt zeigt deut-lich, dass Landwirtschaft, Forsten, die ländliche Ent-wicklung und der Verbraucherschutz die Verlierer dieserPolitik sind.Es gibt natürlich ein paar Bonbons: Der Haushalt fürdie Verbraucherzentralen wurde nicht angetastet, dasBundesprogramm „Ökologischer Landbau“ besteht wei-ter und die agrarsoziale Sicherung ist gesichert. Das istokay. Aber ganz klar ist auch: Im Gesamten betrachtetkann man das nur als einen Kahlschlag begreifen.
Was dieser Haushalt übrigens auch nicht zeigt, dassind Wahrheit und Klarheit. Es gibt einen Schattenhaus-halt, eine globale Minderausgabe von über 100 Millio-nen Euro,
was ihr bei viel geringeren Summen heftig kritisierthabt. Es gibt keinerlei Transparenz über die Mittelver-wendung, es gibt spekulative Einnahmen usw. Das zeigtauch, dass die große Koalition die Rechte des Parla-ments komplett ignoriert. Darüber werden wir in den Be-ratungen noch reden.
Frau Künast als Ministerin
und Rot-Grün hatten umgesteuert, Wertschöpfung ge-schaffen, Arbeitsplätze in der Qualitätserzeugung beiden erneuerbaren Energien geschaffen, die Umweltleis-tungen und besseren Verbraucherschutz in der Landwirt-schaft honoriert, erfolgreiche Programme für die Regio-nalentwicklung und bessere Kinderernährung aufgelegt,Rapsanbau für Biokraftstoffe unterstützt, Bioprodukte,regionale Spezialitäten, tiergerechte Erzeugung, Natur-schutz und Gewässerpflege gefördert. Hier gibt es – dassieht man jetzt – eine enorme Entwicklung gerade fürden Mittelstand, in der Landwirtschaft und im ländlichenRaum. Zehntausenden von neu geschaffenen Arbeits-plätzen wird jetzt die Unterstützung entzogen.
Es ist schon angesprochen worden: Durch die Mehr-wertsteuererhöhung und die Vorsteuerpauschale gerätdie Lebensmittelwirtschaft weiter unter Druck und be-kommt große Absatzprobleme. Aus Erfahrung wissenwir, dass die Leute hier am meisten sparen, wenn manihnen Geld wegnimmt.
Hinzu kommt die Besteuerung der Biokraftstoffe. Diegeplanten Zwangsbeimischungen machen den Bauernden Markt kaputt
und entwerten die getätigten Investitionen.
Durch die Hintertür kommt es auch noch zu einer kräfti-gen Erhöhung der Kraftstoffpreise.Statt den Mittelstand und die Bauern zu stärken, wer-den die Weichen ganz radikal in Richtung Industriali-sierung gestellt. Die Agrogentechnik soll mit den Pro-dukten von Bayer und Monsanto gegen alle Widerständevon Bauern und Verbrauchern durchgedrückt werden.Die gewerblich-industrielle Geflügelwirtschaft darf ihretierquälerische Käfighaltung und damit ihren Dumping-wettbewerb gegenüber der tiergerechten Produktion fort-setzen.
Der Raps stürzt im Preis ab und fließt in den Profit derMineralölkonzerne. Die Tabaklobby feiert fröhliche Ur-ständ und darf weiterhin für Produkte werben, die unse-rer Gesellschaft enorme Probleme bereiten und hoheKosten verursachen. Es handelt sich um 140 000 Tote,3 300 davon durch Passivrauchen, und Kosten in Höhevon 17 Milliarden Euro pro Jahr.Herr Seehofer, hier sehen Sie als ehemaliger Gesund-heitsminister wohl keinen Handlungsbedarf.
Dabei könnte man an dieser Stelle wirklich Haushalts-konsolidierung betreiben, indem man diese gesundheits-schädlichen Produkte angemessen besteuert
– ich kritisiere ja auch die eigenen früheren Beschlüsse –,statt die blödsinnigen Steuerhinterziehungsaktivitätender Tabakindustrie noch tatsächlich zu verlängern.
Durch die Feinschnittausnahme, die so genannten Sticks,und die vor kurzem eingeführten Volumentabake
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Ulrike Höfkenentgehen dem Staat pro Jahr Einnahmen von mindestens2 Milliarden Euro. Hätte man dem Finanzminister diesenWeg vorschlagen, wären dadurch alle Kürzungen imEinzelplan 10 völlig überflüssig geworden.
Hinzu kommt, dass 7 Milliarden Euro für die Schwer-punkte Forschung und Innovationen zur Verfügung stan-den. Was haben Sie in diesem Bereich eigentlich ge-macht? Wieso hat das Bundesministerium fürErnährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hierkeinen Bedarf angemeldet? Ich nenne nur die StichworteTierseuchen, Biomasse, Verbraucherschutz, Ökoproduk-tion, Pflanzenschutz und Tierzucht. Besteht hier etwakein Bedarf? Das ist wohl komplett an Ihnen vorbeige-gangen. Wie ist das zu begründen?Betreiben Sie beim Flugbenzin einen vernünftigenSubventionsabbau, sorgen Sie für eine gerechtere Vertei-lung der Agrarfördermittel –
Frau Kollegin.
– ich komme zum Schluss – und schaffen Sie Trans-
parenz bei der Verwendung der Mittel!
Mit Ihrer Politik werden zukunftsfähige Entwicklun-
gen blockiert,
die wir angesichts der WTO-Verhandlungen und der not-
wendigen Reformen machen müssen. Mein Fazit zu den
neuen Kleidern des Ministers, der Kanzlerin und der
schwarz-roten Koalition lautet – das ist die nackte Wahr-
heit –: keine Unterstützung und keine Perspektive für die
Landwirtschaft, für den Verbraucherschutz und für die
ländlichen Räume.
Nächster Redner ist der Kollege Peter Bleser, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieneue Bundesregierung ist jetzt 129 Tage im Amt.
Eine Bewährungsprobe nach der anderen war zu beste-hen.
Gleich nach seiner Vereidigung musste MinisterSeehofer nach Brüssel reisen, um die fast fertig verhan-delte Zuckermarktordnung noch in eine verträglicheForm zu bringen,
mit dem Ergebnis, dass wir in der Zuckerwirtschaft50 000 Arbeitsplätze gesichert haben.
Kurz danach kamen die Gammelfleischskandale ansLicht. Hier wurde zusammen mit den Ländern binnenweniger Tage ein Zehnpunkteprogramm erarbeitet, umsolche Machenschaften in Zukunft wirksam bekämpfenzu können.
Nur wenige Wochen später war auf der Insel Rügendas erste Tier mit dem H5N1-Virus befallen. Damit hatteeine aus Asien kommende furchtbare Tierseuche, die un-sere Nutztierbestände und letztlich auch die Menschenbedroht, auch Deutschland erreicht.Die konsequente und rigorose Bekämpfung dieserTierseuche hat dazu geführt, dass bisher keine Nutztier-bestände befallen sind und sich auch noch kein Menschmit diesem Virus infiziert hat. Deswegen ist auch in Zu-kunft am Worst-Case-Prinzip festzuhalten,
um zu verhindern, dass sich diese Tierseuche bei unsweiter ausbreitet.Warum nenne ich gerade diese drei Vorfälle? Ichnenne sie, weil die Art und Weise, wie wir mit diesenProblemen umgegangen sind, eine neue politische Ver-haltensweise sichtbar macht, die einen fundamentalenWechsel der Agrarpolitik in Deutschland darstellt.
Nicht im bockigen Alleingang und von einer einseitigenIdeologie geprägt, wie dies bei Frau Künast der Fall war,
sondern unter Einbindung der Betroffenen
und der Länder wird jetzt Politik gemacht. Kooperationstatt Konfrontation, so lautet das Motto. Das ist dieMarschrichtung, die wir eingeschlagen haben. Mit einersolchen Politik helfen wir den Menschen.
Mit unserem Vorgehen haben wir aber auch Folgen-des erreicht: Die Verbraucher sehen, dass ihre Regie-rung, wenn es um gesundheitlichen Verbraucherschutzund die Sicherung höchster Qualitätsansprüche geht,
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Peter Bleserkompromisslos ist. Ein solider und wissenschaftlich be-gründeter Verbraucherschutz schafft Vertrauen in un-sere Lebensmittel und damit letztlich auch in unsere Po-litik.
Das hat übrigens ganz konkrete Auswirkungen. Hatsich schon jemand gefragt, warum es in den südlichenLändern wie Frankreich, Italien oder Griechenland beiGeflügelfleisch einen dramatisch hohen Absatzeinbruchgab, während der Absatzeinbruch in Deutschland – Gottsei Dank – weit unter 25 Prozent geblieben ist?
Das ist eine konkrete Auswirkung unseres Verhaltens beider Bewältigung dieser Krise. Die Menschen trauen uns.Herr Goldmann, leider haben Sie dazu keinen großenBeitrag geleistet.
Mit unserer neuen Politik – Kooperation statt Kon-frontation, Schaffung von Vertrauen in den Verbraucher-schutz, Vertretung deutscher Interessen in der Europäi-schen Union und in anderen Gremien – haben wir dazubeigetragen, dass die ersehnte Bauernbefreiung stattge-funden hat.
Die 4,3 Millionen Beschäftigten in der Agrarbranchekönnen wieder Hoffnung und Zuversicht schöpfen. Dasist sogar messbar. Das Agrarkonjunkturbarometer ist imSeptember sofort steil nach oben geschnellt. Der Anstiegist bisher ungebrochen. Damit wird sichtbar, dass dieMenschen wieder an die Politik glauben
und dieser Koalition zutrauen, mehr Beschäftigung zuschaffen,
was Voraussetzung dafür ist, dass es wieder mehr Fami-lien mit Kindern gibt. Das sind zwei zentrale Ziele dieserKoalition. Diese müssen wir auch im Agrarbereich ver-folgen und wir müssen mithelfen, sie zu erreichen.Meine Damen und Herren, das ist das Ergebnis harterArbeit der Regierung, aber auch – das sage ich ganzohne Eigenlob – der Koalitionsfraktionen und der Ar-beitsgruppen. Dabei hatten beide Koalitionspartner beiden verschiedenen Themen unterschiedlich lange Wegezurückzulegen. Das ist uns bisher immer gelungen, zu-mal die Atmosphäre immer menschlich und angenehmwar.
Frau Wolff, zu Ihrer Einlassung zur Mehrwertsteuer-erhöhung. Das ist natürlich nicht Konsens in der Koali-tion.
Natürlich muss der Finanzminister seine Einnahmen er-mitteln und erwirtschaften, gerade auch mithilfe derUmsatzsteuer. Ich denke, das kann man auf verschiedeneArt und Weise tun. Hier müssen wir uns verständigen.Ich bin sicher, dass die Argumente letztlich greifen, in-dem wir uns in der Koalition auf Bürokratieabbau eini-gen.
Neben den bisher umgesetzten EU-Vorhaben in natio-nale Gesetze – ich nenne das Gentechnikgesetz, dasPflanzenschutzgesetz und die Zuckermarktordnung;diese Gesetze waren überfällig – sind noch andere we-sentliche Dinge anhängig, die zu regeln sind. Dazu ge-hört die Tierhaltungsverordnung. Ich kann dazu nur soviel sagen, weil in den nächsten Tagen die Entscheidun-gen hierzu fallen: Die Vorschläge des Bundesrates wei-sen in die richtige Richtung. Ich denke, dass wir auf demSektor einen Konsens finden, der dazu führt, unter Ach-tung des Tierschutzes – das ist der entscheidende Punkt –30 000 Arbeitsplätze zu sichern und 1 Milliarde Euro anInvestitionen freizugeben. Hier blockt alles.
Wir müssen in den nächsten Wochen dafür sorgen, dassauch dort eine Planungssicherheit entsteht, die ein Wirt-schaften und die Sicherung von Arbeitsplätzen in diesemBereich ermöglicht.Das Gleiche gilt auch für die Schweinehaltungsver-ordnung. Auch hier müssen wir die Planungsrahmen sosetzen, dass investiert werden kann, um Marktanteile zusichern. Ich sage es ganz bewusst: Dort werden keineSubventionen gezahlt, dort gibt es die Wettbewerbsfä-higkeit. Es muss das Ziel dieser Koalition sein, diesePolitik in den nächsten Monaten – das muss sehr schnellgehen – fortzusetzen.
Herr Kollege.
Ich weiß, die Redezeit ist leider beschränkt worden.
Nicht von der Präsidentin.
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Es ist ganz wichtig, dass wir den Menschen die Zu-
versicht vermitteln, dass sie mit der jetzigen Koalition,
mit dem Minister und der ministerialen Führung An-
sprechpartner haben, die ihre Probleme nicht nur verste-
hen, sondern die ihnen auch helfen, eine Perspektive für
die Zukunft aufzubauen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich muss schon sagen, dass die Berufung von MinisterSeehofer zumindest für uns eine Überraschung war;
denn daran führt ja kein Weg vorbei: Minister Seehoferhat ein bestimmtes Image, auch in seiner eigenen Frak-tion. Er trat als Vize der Fraktion zurück und verzog sichschmollend nach Bayern. Das Interessante war aller-dings, dass er das Fenster weit öffnete, um den Ruf alsMinister zu hören – er bot sich in den Zeitungen auchselbst als Minister an –, als die Bundestagswahl gelaufenund eine große Koalition in Sicht war. Gut, vielleichtwollte er seine Erfahrungen, die er mit Frau Schmidt beider Gesundheitsreform gemacht hat, einbringen. ZumLeidwesen unserer Bürger hatten wir ja damals schondie große Koalition.Herr Minister Seehofer, Sie haben heute Ihren Etatvorgestellt. Ich fand es übrigens erfreulich, dass Sie auchauf einzelne Positionen eingegangen sind. Auch ichwerde das gleich tun. Sie müssen sich aber fragen lassen,warum Sie sich nicht bemüht haben, das umzusetzen,was Ihre Fraktionskolleginnen, die Kollegin Aigner unddie Kollegin Hasselfeldt, in der Oppositionszeit hier ge-sagt haben. Nicht ein Stück davon haben Sie umgesetzt.
– Ich habe die Reden übrigens da. Du kannst es nachle-sen. Der Zuruf war also überflüssig.
Fangen wir einmal an. 200 Millionen Euro sollen alsglobale Minderausgabe gespart werden. Sie haben unszwar nicht gesagt, wo Sie sparen wollen, aber Sie habenschon gesagt – das ist richtig; Kollege Goldmann hatdarauf hingewiesen –, dass wir bei den agrarsozialenVersicherungssystemen einen Umbau vornehmen müs-sen. Das ist richtig, keine Frage. Ich habe allerdings diegroße Sorge – das sage ich auch in Richtung unsererLandwirte –, dass das solch vermurkste Konzepte sindwie die, die Sie gemeinsam mit Frau Schmidt beschlos-sen und uns hier vorgetragen haben. Den Murks, den Siemit Frau Schmidt damals beschlossen haben, dürfen Sieunseren Landwirten nicht zumuten.
Der zweite Bereich ist der Ökolandbau; er ist hierangesprochen worden. Herr Minister, ich wundere michschon, dass Sie diese Position im Haushalt gelassen ha-ben. Die Kollegin Wolff hat das hier noch einmal glor-reich dargestellt. Der Etat für den Ökolandbau beträgt20 Millionen Euro. Herr Minister, haben Sie denn ver-gessen, was der Bundesrechnungshof zu dieser Positiongesagt hat? Ich zitiere:Das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Er-nährung und Landwirtschaft … hat aus dem Bun-desprogramm Ökologischer Landbau … in weitemUmfang Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit fi-nanziert, um die politische Grundausrichtung derBundesregierung darzustellen. Damit hat es gegenHaushaltsrecht verstoßen.Das haben wir in der Oppositionszeit – auch Ihre Frak-tionskollegen – hier mehrfach kritisiert.
Was tun Sie? Sie belassen die Position in genau dergleichen Höhe im Haushalt. Beim ersten Berichterstat-tergespräch – Sie konnten nicht dabei sein; ich glaube,Sie waren zum Starkbieranstich in München – habe ichdanach gefragt und Ihr Ministerium war nicht in derLage, auch nur ein einziges Konzept vorzulegen.
Ich muss vermuten, dass es genauso weitergeht wie bis-her. Eventuell wollen Sie diese Position ja auch als Spar-dose nutzen.Für das Bundesprogramm „Tiergerechte Haltungs-verfahren“ stellen Sie 3 Millionen Euro zur Verfügung.Sie wissen doch ganz genau – ein Blick in den Haushaltund auf die Ist-Zahlen zeigt das –, dass das Geld nie ab-gerufen worden ist.
Bei Frau Künast war das früher aufgebläht bis zumGehtnichtmehr. Es ist nie abgerufen worden. Nicht ein-mal 1 Million ist abgerufen worden. Warum lassen Siedas Geld weiterhin drin?
Für die Förderung von Modell- und Demonstra-tionsvorhaben stehen 9 Millionen zur Verfügung. KeinKonzept steht dahinter. Ihr Ministerium ist nicht in derLage, uns ein Konzept bzw. einen Plan vorzulegen, ausdem hervorgeht, was Sie damit tun wollen.
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Jürgen KoppelinEin weiterer Bereich. Sie lassen ein Gutachten erstel-len, nämlich eine neue nationale Verzehrserhebung.5 Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung. Wir neh-men 38 Milliarden Euro an neuen Schulden auf und Sieführen solche Programme durch, die nichts bringen. DasErgebnis, das bei einer nationalen Verzehrserhebung für5 Millionen Euro herauskommen wird, kann ich – meineKollegen in der Fraktion sicher auch – Ihnen heute schonsagen.
Bei der Forschung – auch das ist unglaublich interes-sant – begründen Sie Ihre Forderung nach mehr Geld ge-genüber den Berichterstattern damit, dass die For-schungsinstitute, die Ihrem Ministerium zur Verfügungstehen, nicht in der Lage seien, diese Aufgaben zu erfül-len. Dazu kann ich nur sagen: Wenn das stimmt, dannmachen Sie doch die Läden dicht. Die Menschen dortleisten aber hervorragende Arbeit und man sollte auf dasFachwissen dieser Forschungsinstitute zurückgreifenund sich nicht den Sachverstand von außen holen; denndas kostet den deutschen Steuerzahler viel Geld.
Im Etat finde ich nur eine Position zur Vogelgrippe,und zwar unter dem Begriff internationale Zusammenar-beit: Vogelgrippevorbeugung in Kambodscha. Wenn Siediese Vorbeugung schon seit zwei Jahren finanzieren,hätten Sie sich das Fachwissen vielleicht aus Kambod-scha holen können. Ich sage etwas süffisant, Herr Minis-ter: In Ihrem Etat ist dazu nichts zu finden.Ich habe die Sorge, Herr Minister – damit komme ichzum Schluss –, dass Sie dieses Amt nicht angestrebt ha-ben, um etwas für unsere Landwirte zu tun, sondern auseinem ganz anderen Grund. Ich darf einmal zitieren, da-mit es dem einen oder anderen deutlich wird. NachdemSie aus dem Präsidium der CDU/CSU-Fraktion und alsVizefraktionsvorsitzender zurückgetreten waren, habenSie in einem Interview mit dem „Stern“ dazu einiges ge-sagt. Frage vom „Stern“:Was sagen Ihre Fraktionskollegen denn?Ihre Antwort:Die fragen mich: Wer hat denn nun dich aufs Kreuzgelegt – Merkel oder Stoiber?
Zweite Frage vom „Stern“:Monatelang hat Stoiber Sie an die Front ge-schickt … Dann knickt er im letzten Moment ein.Werden Sie ihm jemals wieder richtig vertrauenkönnen?Antwort von Seehofer:Natürlich werde ich solche Erlebnisse immer imHinterkopf haben.Das ist der entscheidende Punkt. Sie haben etwasganz anderes im Hinterkopf. Sie wollen nicht der Minis-ter für unsere Landwirte und die Verbraucher sein, son-dern Sie wollen zukünftiger Ministerpräsident in Bayernwerden. Das ist Ihre Zielsetzung. Dazu benutzen Sie die-ses Amt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Ernst Bahr, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Dass wir uns in der Haushaltsberatung sachlichmiteinander auseinander setzen, versteht sich von selbst.Dass es manchmal auch polemisch wird, verstehe ich.Ich bin aber nicht dafür, Kolleginnen oder Kollegen fürihre Redebeiträge zu kritisieren. Dennoch will ich zweikritische Anmerkungen zu dem machen, was eben ge-sagt wurde.Herr Koppelin, ich frage mich wirklich, ob wir in derHaushaltsberatung über Herrn Seehofers Karriere redenmüssen.
Aber ich will auf die Sachthemen zurückkommen.Adipositas bzw. die Fehlernährung von jungen Men-schen ist ein Modell, das zu Demonstrationszwecken imEtat des Ministeriums enthalten ist. Sie können dochnicht ernsthaft behaupten, dass das ein Fehlprogrammsei und nicht notwendig sei.Zur Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küs-tenschutz will ich an dieser Stelle anmerken: Dies ist ei-gentlich Aufgabe der Länder. Wir machen eine Ko- bzw.Ergänzungsfinanzierung. Wie die Abrufung der Mittelbisher ausgesehen hat, wissen Sie. Ich denke, wir solltenhier sachlich bleiben.Ein anderer Beitrag hat mich heute ein bisschen mehrgeärgert. Da muss ich mich an Sie wenden, Frau Höfken.Sie haben Begriffe wie Verlierer, Kahlschlag, Schatten-haushalt, Einschränkung der Rechte des Parlaments, In-dustrialisierung der Landwirtschaft und Tabakwerbungin einem Zusammenhang gebraucht,
den ich für unangemessen halte. Außerdem könnten Siedie Kritik, die Sie heute am Entwurf des Haushalts 2006geäußert haben, auch auf die Haushalte der vergangenensieben Jahre beziehen; denn vom Inhalt und vom Betragher ist der Entwurf des Einzelplans 10 fast identisch mitdem, was wir in den vergangenen Jahren vorgelegt ha-ben. Eigentlich hätten Sie eine Lobrede halten müssen.
Das, was Sie von sich gegeben haben, finde ich demago-gisch. Deswegen muss ich das ausdrücklich kritisieren.
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Ernst Bahr
Über den Entwurf für den Haushalt 2006 wird untersehr schwierigen finanzpolitischen Bedingungen disku-tiert; das wissen wir alle, das muss ich nicht wiederho-len. Ich will aber deutlich machen, dass es deshalb um sonotwendiger ist, die Konsolidierung des Haushalts vor-anzutreiben und dennoch gewisse Schwerpunkte in un-serer Politik zu setzen. Dabei ist es uns wichtig, dass wirInvestitionen und Innovationen fördern. Im Einzel-plan 10 ist das berücksichtigt.Wie ich gerade gesagt habe, haben wir die Kontinuitätder vergangenen Jahre inhaltlich und finanziell gewahrt.Von den 5,05 Milliarden Euro dieses Etats werden allein74,9 Prozent für Sozialleistungen ausgegeben. Das be-weist, dass es – der Minister und auch meine KolleginWolff haben das dankenswerterweise schon angespro-chen – um wichtige Aufgaben geht. Hier müssen wir unseiner Herausforderung stellen, die in den nächsten Jah-ren Strukturveränderungen mit sich bringen wird, diewir bewältigen müssen. Schließlich wollen wir denLandwirten nichts wegnehmen. Gleichzeitig müssen wirdie Ausgaben auch finanzieren.
Dass wir im Entwurf für den Haushalt die Zuschüssesicherstellen, ist das eine. Das andere ist die Finanzie-rung der Zukunftsaufgaben. Ich finde es in diesem Zu-sammenhang wichtig, Mittel bereitzustellen, um im Be-reich der nachwachsenden Rohstoffe für die Landwirteneue Einkommensbereiche zu erschließen und eine grö-ßere Unabhängigkeit in der Energieversorgung inDeutschland erreichen. Viele Gemeinden sind auf Basisdieser Form der Energieversorgung bereits völlig autark.In der Forschung verstetigen wir ebenfalls die Mittel.So werden in diesem Jahr wieder 200 Millionen Euro fürdie Bundesforschungsanstalten eingestellt. Wie Sie wis-sen, sichern diese Mittel die Wahrnehmung der ihnen ge-setzlich zugewiesenen Aufgaben, deren vernünftigeDurchführung durch die Forschungsanstalten außerFrage steht. Weitere 9 Millionen Euro haben wir für diebereits erwähnten Modell- und Demonstrationsvorhabenbereitgestellt, die ich für sehr wichtig halte.Auch in der Verbraucherpolitik verfolgen wir konti-nuierlich den von uns eingeschlagenen Weg weiter. DieMittel für die Verbraucheraufklärung werden auf dembisherigen Niveau fortgeschrieben. Das ist – wie in allenanderen Bereichen – sicherlich nicht genug, aber manmuss die Bedingungen berücksichtigen, unter denen wirden Haushalt aufstellen.Dass wir Einsparungen vornehmen müssen, ist unum-gänglich.
200 Millionen Euro ist ein hoher Betrag, auch wenn ergemessen am Volumen des Gesamthaushalts von5,05 Milliarden eher niedrig erscheint. Davon werdenaber 3,78 Milliarden Euro für Sozialleistungen einge-setzt, sodass nur etwa 1 Milliarde Euro übrig bleibt. Dieerforderlichen Einsparungen in Höhe von 200 MillionenEuro werden vor allem durch Kürzungen im Bereichder GAK und durch eine globale Minderausgabe von100 Millionen Euro erbracht, die im Wege der Haus-haltsdurchführung aufzulösen sein wird.
Den Restbetrag müssen wir durch Veräußerungen auf-bringen.Wichtig ist es, auch in diesem Haushaltsplan struktu-relle Veränderungen vorzunehmen. Das haben wir ver-abredet und wir werden einen Beitrag dazu leisten, dieNotwendigkeit, Aufgaben zu finanzieren, mit den Finan-zierungsmöglichkeiten in Übereinstimmung zu bringen.In diesem Sinne freue ich mich auf die vor uns liegendenBeratungen und hoffe auf eine gute Zusammenarbeit beider Bewältigung dieser Aufgaben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Cornelia Behm,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Herr Minister, dieser Agrar-haushalt ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Armuts-zeugnis und nach meiner Auffassung eine Katastrophefür den ländlichen Raum.
Das ist keine Oppositionsrhetorik, Herr Minister.
Sogar aus den eigenen Reihen kommt herbe Kritik. Sohat Ihre Kollegin Marlene Mortler einen Beschwerde-brief direkt an die Kanzlerin gerichtet. Ich darf mit Er-laubnis der Präsidentin aus der „Saarbrücker Zeitung“vom 22. März zitieren:Obwohl der Haushalt des Agrarministers „ausge-lutscht und ausgebeutelt“ sei, habe Seehofer Kür-zungen in Höhe von 200 Millionen Euro pro Jahrzugestimmt.Von den 200 Millionen Euro, die Sie einsparen wol-len, entfallen allein 70 Millionen auf die Gemeinschafts-aufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küs-tenschutzes“, kurz GAK genannt. Diese Kürzungen beider GAK bedeuten eine klare Absage an die ländlichenRegionen in Deutschland. Denn die GAK ist neben denEU-Mitteln das wichtigste Förderinstrument für denländlichen Raum. Sie ist das zentrale Element, um die
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Cornelia BehmAgrarstrukturpolitik in Deutschland zu koordinieren undzu vereinheitlichen.Schlimm genug, dass uns der Merkel-Kompromissbeim Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefsim Dezember vergangenen Jahres 3,5 Milliarden EuroEU-Mittel für den ländlichen Raum in der nächsten För-derperiode gekostet hat. Dadurch werden jährlich500 Millionen Euro fehlen. Das entspricht einer Kür-zung von 37 Prozent. Nun kürzen Sie vorab schon ein-mal die nationale Kofinanzierung. Damit wird nicht we-niger als die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit derdeutschen Land- und Forstwirtschaft zur Disposition ge-stellt.
Ich nenne als Fallbeispiel die Umsetzung der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie in Waldgebieten. Zur Ausfi-nanzierung der Umsetzungsverpflichtung des Natur-schutz-Netzwerks Natura 2000 sind jedes Jahr 600 Mil-lionen Euro notwendig. Die GAK-Mittel haben einenerheblichen Anteil daran. In Wäldern, die im Rahmenvon Natura 2000 als FFH-Gebiete ausgewiesen sind,gelten bekanntlich Bewirtschaftungsauflagen. Dafürmüssen die Waldbauern auch Ausgleichszahlungen er-halten. Sonst drohen deutliche Einkommenseinbußen.
Wenn Sie, Herr Minister, diese Gelder nicht bereitstel-len, verstoßen Sie entweder gegen EU-Recht oder Sieschädigen die Waldbauern. Beide Varianten stellen mei-nes Erachtens keine Option für eine seriöse Haushalts-planung dar.
Ich könnte unzählige weitere Beispiele nennen.Wovon wollen Sie denn, Herr Minister, zusätzliche Leis-tungen im Tierschutz honorieren? Wie wollen Sie diedringend notwendige Diversifizierung der landwirt-schaftlichen Tätigkeiten fördern? Aber nicht allein die Kürzungen bei der GAK sinddas Problem. Von dem Unsinn mit der Biokraftbesteue-rung will ich hier gar nicht reden. Nur so viel: Da habenLandwirte in Ölmühlen investiert und sollen nun wiederzu billigen Rohstofflieferanten für die Mineralölindus-trie degradiert werden.
Eines liegt mir noch am Herzen. Während sich Minis-ter Gabriel damit brüsten kann, dass die Forschungs-ausgaben für die erneuerbaren Energien verdoppelt wer-den – was allerdings mehr ein Buchungstrick ist –,
ist Minister Seehofer stolz, den Titel für die FachagenturNachwachsende Rohstoffe auf gleichem Niveau zu hal-ten. Aber was ist denn mit einer nationalen Biomasse-strategie? Was ist denn mit den Herausforderungen, dieder Klimawandel für die Landwirtschaft bedeutet? DerAgrarhaushalt ist jedenfalls keine adäquate Antwort aufdiese Fragen.Ich bleibe dabei: Dieser Haushalt ist kein Beitrag zuWachstum und Beschäftigung, Herr Minister. Er ist viel-mehr ein Armutszeugnis Ihrer Agrarpolitik und eine Be-drohung einer zukunftsfähigen Landwirtschaft.
Nächster Redner ist der Kollege Georg Schirmbeck,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Goldmann und Frau Kollegin Behm, es ist dochfestzustellen, dass wir eine Zeitenwende in Deutschlandhaben. Als die Bundesministerin vor zwei Jahren dieGrüne Woche besuchte, rührte sich keine Hand. Nun warder Bundesminister dort und es gab stehende Ovationen.Daran sehen Sie, wie diejenigen, die ein Interesse an Er-nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz haben,das bewerten.
Der Minister ist hier eben souverän aufgetreten nachdem Grundsatz „sehen, urteilen, handeln“. So wollen dasdie Menschen in unserem Land. Sie wollen keine Sprü-che. Nun gibt es Erleichterung und Zuversicht in unse-rem Land. Das sehen Sie insbesondere dort, wo inves-tiert wird. Das brauchen wir auch.
Herr Minister Seehofer hat gesagt, dass wir die Doppel-verwaltung – in manchen Bereichen haben wir sogareine Dreifachverwaltung – abbauen müssen. Wenn erden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Förde-rung durchsetzt, dann ist das etwas ganz Konkretes, wassich zwar nicht in Euro in unserem Bundeshaushalt nie-derschlägt, wohl aber bei den Bauern. Das ist eine rich-tige Sache.
Es ist deutlich geworden, dass wir in der Koalition beider Mehrwertsteueroptierung noch nicht hundertpro-zentig einer Meinung sind.
Aber wir werden jeweils ganz konkret berechnen – undnicht schätzen –, welche Auswirkungen welche Rege-lung auf den Bundeshaushalt haben wird. Wenn wir diePauschalierung abschaffen, kann es passieren, dass man-cher Bauer eine Rückrechnung für die letzten fünf Jahre
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Georg Schirmbeckmacht, was dann den Bundeshaushalt stärker belastet alsdie Pauschalierung.
Der Kollege Bahr und ich sind letztlich für denEinzelplan 10 zuständig und wir werden das sehr sach-lich berechnen. Ich bin optimistisch, dass wir zu einemguten Ergebnis kommen.
Denn auch die FDP-Minister im Bundesrat stellen fest:Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren. Dasheißt, wir können uns zwar vieles ausdenken, haben abernicht mehr Geld zur Verfügung. Danach müssen wir un-sere Beschlüsse ausrichten.
Im Übrigen verhält es sich mit dem Agrarhaushalt ge-nauso wie mit dem Bundeshaushalt. Von den eingestell-ten 5 Milliarden Euro sind 4 Milliarden für Soziales vor-gesehen. Wenn wir uns einig sind – der Minister hat daszu Recht gesagt –, dass wir das nur im Rahmen generel-ler Strukturreformen im Sozialbereich ändern können,dann haben wir nur 1 Milliarde, über die wir uns poli-tisch auseinander setzen können. Mehr Geld steht nichtzur Verfügung.Die 615 Millionen Euro, die für die GAK zur Verfü-gung stehen, entsprechen immerhin den Istmitteln imletzten Jahr. Das heißt, das, was im letzten Jahr in denBundesländern umgesetzt wurde, kann auch zukünftigumgesetzt werden. Das ist im Rahmen der Gestaltungs-möglichkeiten, die wir haben, eine ganze Menge. Ichdarf noch einmal sagen: Wir machen keine ideologischePolitik von dem einen Graben in den anderen Graben,
sondern wir kümmern uns um jeden einzelnen Ansatz imBundeshaushalt und werden behutsam umsteuern. Ichhätte wirklich gedacht, dass gerade Sie, Frau Behm, ausgrüner Sicht sagen würden: Respekt, wir haben Schlim-meres befürchtet!
Es geht nicht um Ideologie, sondern um sachgerechtePolitik.
Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zur GAK.Ich höre in den Diskussionen mit den Fachleuten manch-mal „Die GAK hat beschlossen …“. Ich werde in denanstehenden Beratungen über den Haushaltsplan ganzkonkret nachfragen, wer bei den Ländern einzelne De-tailregelungen auf den Weg bringt und wer die Lobbyist, die dahinter steht. Manchmal habe ich nämlich denEindruck, wir werden zwar politisch zur Verantwortunggezogen dafür, an der Meinungsbildung selbst sind wiraber überhaupt nicht beteiligt.
Da meine beiden Vorredner, Herr Minister Seehoferund auch Peter Bleser, mir zugesagt haben, in meinenWahlkreis zu kommen dafür, dass sie mir einige Sekun-den Redezeit genommen haben,
lassen Sie mich damit schließen: Wo uns die Mittel feh-len, müssen wir mit Innovation und Kreativität an dieLösung der vor uns liegenden Aufgaben gehen. Ich sageIhnen: Im ländlichen Raum sind die Menschen hart imNehmen und wirklich kreativ. Mancher sagt: Lasst unsbitte in Ruhe, lasst uns gestalten, dann nehmen wir un-sere Zukunft in die eigenen Hände und dann wird es gutsein. – Was gut ist für den ländlichen Raum, ist gut fürdie ganze Republik. In diesem Sinne wird die große Ko-alition zukünftig Agrarpolitik und Verbraucherschutz-politik machen.Herr Präsident, ich bedanke mich, dass Sie mir30 Sekunden mehr gegeben haben.
Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Zwei Bemerkungen vorweg: Im Zusammenhangmit den Biokraftstoffen können wir viel diskutierenüber die Unterschiede zwischen einem Kabinettsentwurf
und dem, was in den Fraktionen diskutiert wird. Aberwas mich an unserem ehemaligen Koalitionspartnerschon wundert, ist, dass er mit uns ein Gesetz gemachthat, in dem steht, dass die steuerliche Förderung aufÜberkompensation geprüft wird und sie gegebenenfallsangepasst wird, aber jetzt, da wir dies machen, so tut, alssei er nicht dabei gewesen. Das ist nicht in Ordnung.
Das Bild von der Pyrenäenetappe, das Bundesminis-ter Seehofer gebraucht hat, nehme ich gerne auf: Wirfühlen uns fit für die Pyrenäenetappe, wir halten es mitGerhard Schröder, der immer gesagt hat: Wenn es ein-fach wäre, könnten es auch die anderen machen.
Da wir uns in der Debatte über den Etat des Bundes-ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-braucherschutz befinden, möchte wenigstens ich einenBeitrag zum Thema Verbraucherschutz liefern, nachdemwir bisher eine reine Agrardebatte geführt haben.
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Ulrich KelberIm Mittelalter hat man Bäcker, die zu kleine Brote ge-backen haben, in Eisenkörbe gesperrt; in Münster – eskommen ja einige aus dieser Gegend – sieht man Eisen-körbe, die auch noch für andere Zwecke verwendet wur-den. Diese aus heutiger Sicht natürlich unangemessenbrutale Form des Verbraucherschutzes hat seinen Ur-sprung damals übrigens nicht nur aufseiten der Kundengehabt; es war vielmehr gerade die Bäckerzunft, diewollte, dass man die ehrlichen Bäcker schützt. Auch sei-nerzeit ging es schon um zwei Ziele: darum, die Wirt-schaft vor einem ruinösen Preiswettbewerb zu schüt-zen, und darum, die berechtigten Interessen der Kundendurchzusetzen.
Dieselbe Debatte ist in unserem Land nach demZweiten Weltkrieg erneut geführt worden. Es warLudwig Erhard, der die Rolle des Konsumenten in derMarktwirtschaft betont hat. Als auf sein Betreiben 1957das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb einge-führt worden, bekämpften die deutschen Wirtschaftsver-bände dieses neue Gesetz als – Zitat – „Staatsinterven-tionismus“. Ich glaube, nicht nur mir kommt dieseWortwahl mancher Wirtschaftsverbände in der Debatteüber den Verbraucherschutz sehr bekannt vor. Ich würdemir wünschen, dass auch die deutschen Wirtschaftsver-bände verstehen, welches Eigeninteresse Deutschlandmit seinen vielen Premiummarken und der Topqualitätan hohen Standards im Verbraucherschutz hat – damitaus einem reinen Preiswettbewerb ein Qualitätswettbe-werb wird.
Ich erwähne die wirtschaftliche Bedeutung des Verbrau-cherschutzes ungeachtet seiner anderen Ziele: Schutzvon Gesundheit und Sicherheit, Schutz wirtschaftlicherInteressen der Kunden, Wahlfreiheit, nachhaltiger Kon-sum. Die Wirtschaftsverbände müssten sich als Partnerim Verbraucherschutz verstehen. Viele Unternehmen tundas längst.Es gibt noch ein wichtiges Signal, das manchmal un-ter anderen Vorzeichen diskutiert wird. Gelegentlichwird so getan, als sei Verbraucherschutz etwas für diewohlhabenden Schichten. Das Gegenteil ist der Fall.
Es ist die aktive Verbraucherschutzpolitik, die dafürsorgt, dass auch preisgünstige Lebensmittel gesund sind,dass auch preisgünstiges Kinderspielzeug keine gefährli-chen Inhaltsstoffe hat und dass auch Menschen mit ei-nem kleinen Geldbeutel Zugang zu einem Girokonto be-kommen. Verbraucherschutz ist etwas gerade für dieSchwächeren in unserer Gesellschaft.
Herr Kollege Kelber, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Goldmann?
Ja, gerne.
Sehr geehrter, geschätzter Kollege Kelber, ich finde
das interessant, was Sie sagen. Ich frage mich vor die-
sem Hintergrund, wie Ihre Aussage zu verstehen ist, die
in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ stand – wörtliches
Zitat –:
Der SPD-Fraktionsvize geht davon aus, dass
„Seehofer sich noch bewegen wird“.
Es geht um das Verbraucherinformationsgesetz.
Sie sagen dann – wörtliche Rede –:
„Das dürfte er schon deshalb tun, um sich nicht mit
einem unwirksamen Gesetz zu blamieren.“
Sind Sie der Auffassung, dass das von Herrn Minister
Seehofer auf den Weg gebrachte Verbraucherinforma-
tionsgesetz den Tatbestand der Blamage erfüllt?
Ich bedanke mich aus zwei Gründen für die Frage.Erstens ist die Debatte mit solchen Zwischenfragenspannender und zweitens wäre das der nächste Punktmeiner Rede gewesen. Diesen kann ich nun in der Ant-wort auf Ihre Frage ergänzen, ohne dass dies auf meineRedezeit angerechnet wird.Das Verbraucherinformationsgesetz, wie es inKürze von den beiden Koalitionsfraktionen eingebrachtwerden wird, ist klar die gemeinsame Position vonCDU/CSU und SPD. Es gab bestimmte Punkte bei demGespräch innerhalb der Koalition, die meiner Fraktionbesonders wichtig waren. Das war zum Beispiel dieklare Verpflichtung der Behörden zur Auskunft, also derÜbergang von einer Kann- zu einer Sollbestimmung,was für den Nichtjuristen gleichbedeutend mit einerMussbestimmung ist.
Hinzu kam eine klare Definition der Fristen und derAusnahmetatbestände und Ähnliches. Es hat Entwick-lungen gegeben, die dazu geführt haben, dass wir jetzteine gemeinsame Vorlage der Koalition haben. DiesesGesetz ist brauchbar, es ist wirksam und es ist ein deutli-cher Fortschritt gegenüber dem, was auch Ihre Fraktionin der Vergangenheit vertreten hat.
Mit diesem Verbraucherinformationsgesetz, das wir ein-bringen, schaffen wir eine klare Rechtsgrundlage
über die Unterrichtung.
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Ulrich Kelber– Ist das jetzt eine erneute Zwischenfrage oder nur einZwischenruf? Ich habe so viel Zeit gespart, dass ich auchauf den Zwischenruf eingehen kann: Sie sollten etwasvon der Dynamik von Politik verstehen, nicht nur vonder Statik von Politik, und wissen, wann man welchenDruck ausübt, um Kompromisse zu erreichen. Man musssich aufeinander zubewegen. Das ist in Koalitionen not-wendig. Ich weiß, dass Sie nur noch in drei Koalitionenin der Bundesrepublik vertreten sind. In Baden-Württemberg hat es gerade noch einmal zu einer ge-reicht, in den beiden anderen Ländern nicht mehr. Siewürden gerne in einer Koalition solche Prozesse mitge-stalten; Sie sind aber nicht dabei. Überlassen Sie dochuns, wie wir es so organisieren, dass wir zu guten Ergeb-nissen kommen.
Wenn also in Zukunft ein Unternehmen Gammel-fleisch verkauft, kann es benannt werden, egal welcheMethoden es vorher angewendet hat, um schnell den bis-herigen Bereich zu verlassen.Es gab einige Punkte, die wir diskutiert haben, zumBeispiel welche Informationen die Unternehmen eigent-lich von sich aus den Verbraucherinnen und Verbrau-chern geben müssen. Das ist eine wichtige Debatte.Aus meiner Sicht gibt es dabei drei Punkte zu beden-ken.Erstens. Kundeninformation ist ein Teil des Wettbe-werbs und ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Un-ternehmen, das man nicht vollständig verwischen sollte.Zweitens. Für kleine Unternehmen kann eine gesetzli-che, dann sehr starre Regelung in der Tat zu einer Belas-tung werden.Drittens. Gerade Premiummarken und inländischeUnternehmen müssen ein Interesse an einem höherenStandard als heute haben, um mit Importeuren und Un-ternehmen, die einen niedrigeren Qualitätsstandard ha-ben, in einen fairen Wettbewerb eintreten zu können.Wir in der Koalition haben uns darauf geeinigt, dass wirvon der deutschen Wirtschaft eine Hebung des Informa-tionsniveaus und eine evaluierbare, quantitativ und qua-litativ überprüfbare Information der Verbraucherinnenund Verbraucher durch die Unternehmen erwarten unddass es ansonsten zu einer gesetzlichen Lösung kommt.Das ist die richtige Art und Weise, wie man solche Pro-bleme löst. Genau das haben wir erreicht.
Herr Bundesminister Seehofer hat auch unsere klareUnterstützung, wenn es darum geht, ein eigenständigesVerbraucherinformationsgesetz einzubringen. UnsereKoalition wird gemeinsam Vorbereitungen dafür treffen,dass weitere Produkte und Dienstleistungen dort in die-sem Verbraucherinformationsgesetz aufgenommen wer-den, wo es ihre spezifischen Bedingungen betrifft.
Folgende Fragen sind beim Verbraucherinformations-gesetz sehr wichtig: Wann gibt es Ausnahmen von dieserInformationsmöglichkeit? Was sind die Betriebsge-heimnisse und Ähnliches mehr?
Wir legen einen Entwurf vor, der im Augenblick dergemeinsamen Beschlusslage entspricht und der von unsmitgetragen wird. Ich bitte allerdings darum, dass wir inden Anhörungen etwas prüfen.
Mir ist ein Schreiben eines Futtermittelverbandes anseine Mitgliedsunternehmen zugespielt worden. In die-sem Schreiben werden alle Unternehmen aufgefordert,möglichst alle Daten zu Betriebsgeheimnissen zu erklä-ren.
Wir werden in den Anhörungen prüfen müssen, wo Lü-cken sind, die man ausnutzen will. Wenn wir Lücken fin-den, dann werden wir sie im parlamentarischen Verfah-ren schließen.
Das Verbraucherinformationsgesetz ist also ein ersterwichtiger Schritt. Wir wollen noch mehr machen; wirwollen in weitere Bereiche vordringen. Für uns sind vierFelder besonders wichtig: Verbraucherschutz für dieBelange von Kindern und Jugendlichen,
Verbraucherschutz für die Belange älterer Menschen,
Verbraucherschutz im Bereich der Finanz- und Versiche-rungsdienstleistungen und Verbraucherschutz in der di-gitalen Welt.
Seien wir offen: Wir muten Kindern in unserer heuti-gen Welt sehr viel zu. Sie haben mehr Möglichkeiten alsje zuvor; aber diese Welt ist auch komplexer und orien-tierungsloser als vorher. Deswegen muss eine aktiveVerbraucherschutzpolitik Kinder informieren, Angebotefür sie vergleichbar machen, Qualität sichern und schüt-zen.
Beispiel: Im Augenblick engagiert sich die SPD imDialog mit den Mobilfunkunternehmen, vor allem mit
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Ulrich Kelberden Discountern, dafür, dass sich Jugendliche nichtzwischen guten Tarifen und kostenlosen Jugendschutz-optionen entscheiden müssen. Vielmehr muss es eineSelbstverständlichkeit sein, dass jedes Unternehmenkostenlose Jugendschutzoptionen zum günstigsten Tarifanbietet, genauso wie ein alkoholfreies Getränk in jederGastwirtschaft das preisgünstigste Getränk sein muss.Wir wollen das durchsetzen, entweder im Dialog odermit einer klaren gesetzlichen Grundlage.
– Herr Goldmann, ich reagiere noch einmal auf einenZwischenruf von Ihnen. Wenn Ihr Horizont im Verbrau-cherschutz bei der Kenntnis des Verbraucherinforma-tionsgesetzes und keiner weiteren gesetzlichen Initiati-ven endet, ist das nicht mein Problem. Wir sind bereit,innerhalb einer Legislaturperiode mehr als ein Gesetz zumachen.
Zum zweiten Bereich, dem Verbraucherschutz fürältere Menschen. Ja, wir brauchen verbesserte Patien-tenrechte. Wir müssen die Altersdiskriminierung bei derVergabe von Krediten stoppen und wir müssen ein Ver-tragsauflösungsrecht bei unlauter zustande gekommenenVerträgen durchsetzen.
Das sind die Aufgaben in dieser Legislaturperiode. Eineaktive Verbraucherschutzpolitik muss dem auch nach-kommen, um das Vertrauen älterer Menschen in dasWirtschaftsgeschehen zu stärken. Die Möglichkeit, dassdas Investitionen, Nachfrage und damit Arbeitsplätzenach sich zieht, ist groß.
Zum dritten Bereich: Die Politik erwartet von denMenschen immer häufiger, dass sie individuell vorsor-gen. Dieser Trend wird sich nicht so schnell umkehren.Dann muss Politik aber auch dafür sorgen, dass die Men-schen dieser Erwartung im Finanz- und Versicherungs-bereich gerecht werden können. Dazu gehören dasRecht auf ein Girokonto und ein Ende des diskriminie-renden Scorings bei Kreditvergaben.
Das System muss transparent sein. Es muss klar sein,nach welchen Kriterien bewertet wird. Alles, was mitprivaten Entscheidungen zu tun hat – Wohnort, Informa-tion über Konditionen –, darf vom Kreditgewerbe nichtmehr verwendet werden.
Die SPD hat die zentralen Unternehmen dieser Branchefür die nächste Woche eingeladen, um nach Gesprächenschnell zu einem Ergebnis zu kommen.Wir werden auch die Bedingungen von Versicherun-gen vergleichbar machen und Transparenz in die Bezie-hung zwischen dem Versicherungsmakler und seinenAngeboten bringen, damit die Kunden mehr Sicherheithaben.Ich komme zum letzten Bereich, dem Verbraucher-schutz in der digitalen Welt. Wir werden auf die Ver-braucherrechte beim Urheberrecht achten müssen.
Wir wünschen uns von unserem Koalitionspartner, dasser sich in der Frage der Bagatellgrenze bei Privatkopienendlich bewegt. Das hat etwas mit der Akzeptanz derRealität zu tun.
Wir wollen an denjenigen Stellen, wo die Rechts-grundlage ausreicht, zum Beispiel beim Phishing, diePraxis anpassen. In Bereichen wie Spam und Spit – dageht es um die Überflutung mit unerwünschter Werbungper E-Mail oder Telefon – wollen wir die Rechtsgrund-lage verbessern. Was dort geschieht, muss endlich zurOrdnungswidrigkeit erklärt werden.Alles zusammen heißt: Wir wollen durch eine aktiveVerbraucherschutzpolitik erreichen, dass die Menschenin unserem Land gut leben können und gleichberechtigtePartner der Wirtschaft sind. Das ist die Aufgabe von Ver-braucherschutzpolitik. Begleiten Sie uns, anstatt nur da-zwischenzurufen!
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Ich rufe die Zusatzpunkte 2 a bis 2 e auf:ZP 2 a)Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes überelektronische Handelsregister und Genossen-schaftsregister sowie das Unternehmensregis-ter
– Drucksache 16/960 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Kultur und Medienb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen Nr. 146 der InternationalenArbeitsorganisation vom 29. Oktober 1976über den bezahlten Jahresurlaub der Seeleute– Drucksache 16/1001 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solmsc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen Nr. 166 der InternationalenArbeitsorganisation vom 9. Oktober 1987 überdie Heimschaffung der Seeleute
– Drucksache 16/1002 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurUmsetzung des Rahmenbeschlusses über denEuropäischen Haftbefehl und die Übergabe-verfahren zwischen den Mitgliedstaaten der
– Drucksache 16/1024 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungInnenausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unione) Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung deutscher Streit-kräfte an der Friedensmission der VereintenNationen im Sudan auf Grundlageder Resolution 1663 des Sicherheitsra-tes der Vereinten Nationen vom 24. März 2006– Drucksache 16/1052 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: Eshandelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu de-nen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 3 a:Beratung der Ersten Beschlussempfehlung desWahlprüfungsausschusseszu 51 gegen die Gültigkeit der Wahl zum16. Deutschen Bundestag eingegangenen Wah-leinsprüchen– Drucksache 16/900 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Wolfgang GötzerBernhard KasterThomas Strobl
Klaus Uwe BenneterDr. Carl-Christian DresselErnst BurgbacherUlrich MaurerPetra Merkel
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist einstimmig angenommen bei Enthaltung derFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungendes Petitionsausschusses, zunächst zu Tagesordnungs-punkt 3 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 25 zu Petitionen– Drucksache 16/942 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 25 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Enthal-tung der Fraktion Die Linke und der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 3 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 26 zu Petitionen– Drucksache 16/943 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 26 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ableh-nung der Fraktion Die Linke und der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 3 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 27 zu Petitionen– Drucksache 16/944 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 27 ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen und der Fraktion der FDP bei Gegen-stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltungder Fraktion Die Linke angenommen.Wir setzen die Haushaltsberatungen mit demGeschäftsbereich des Bundesministeriums für Ver-kehr, Bau und Stadtentwicklung, Einzelplan 12, fort.Das Wort hat als erster Redner der BundesministerWolfgang Tiefensee.
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Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrter HerrVizekanzler! Meine sehr geehrten Damen und HerrenAbgeordnete! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Zur Debatte steht der Einzelplan 12. Mit einem Finanz-volumen von circa 24 Milliarden Euro im Jahr 2006 ister der viertgrößte Etat. Mit einem Investitionsvolumenvon etwa der Hälfte, von rund 12 Milliarden Euro, ist erder größte Investitionshaushalt, den die Bundesregie-rung vorlegt. Die Bundesregierung setzt auf Investitio-nen, um wirtschaftlichen Aufschwung und ein Mehr anArbeitsplätzen zu ermöglichen.
Wir stehen vor aktuellen Herausforderungen, die mitdiesem Haushalt zu bewältigen sind. Im europäischenKontext wird prognostiziert, dass wir im Jahr 2020 etwa1,5 Millionen LKW sowie etwa 70 Millionen PKWmehr auf den Straßen der Europäischen Union habenwerden. Für Deutschland sind die Zahlen ähnlich drama-tisch. Es wird ein Zuwachs im Güterverkehr um 30,40 Prozent prognostiziert.Hinzu kommen die Herausforderungen im Städtebau,in der Stadtentwicklung und im Zusammenhang mit denWohnungsbeständen, die der Sanierung bedürfen, undden innerstädtischen Straßen. Der Wettbewerb zwischender Innenstadt und der grünen Wiese will genauso be-wältigt werden wie die sozialen Problematiken, die mitUrbanität und Lebensqualität, also mit städtischen Bal-lungsräumen und den umgebenden Regionen, zu tun ha-ben. Schließlich spielt auch die Frage des Aufbaus Ostmit all seinen Facetten eine Rolle.Der Haushalt des Einzelplans 12, den wir vorlegenund der die Bereiche Verkehr, Bau und Stadtentwicklungumfasst, soll auf diese Herausforderungen reagieren. Ichbin dankbar, dass ich im Ausschuss für Verkehr, Bau undStadtentwicklung Gelegenheit hatte, zweimal mit Ihnenausführlich zu debattieren und die Schwerpunkte zu be-sprechen. Ich denke und hoffe, dass sie sich quer durchdie Fraktionen des Deutschen Bundestages in der Ak-zentsetzung wiederfinden.Ich darf in Erinnerung rufen, dass ich bei meiner Re-gierungserklärung im Dezember auf drei SchwerpunkteWert gelegt habe, die sich im Einzelplan 12 wiederfin-den sollen:Erstens will unser Haus seinen Beitrag zur Wirt-schaftsentwicklung und zur Schaffung neuer Arbeits-plätze leisten. Hier geht es speziell darum, den Mittel-stand in Ost und West, in Nord und Süd mit stetiger undzunehmender Investition, also auch mit zunehmendenAufträgen, zu versorgen. Der Mittelstand ist – das istkeine Aussage aus einer Sonntagsrede, sondern wurdeim Etat in Zahlen gegossen – das Fundament der wirt-schaftlichen Entwicklung und der Zur-Verfügung-Stel-lung von Arbeitsplätzen.
Zweitens beschäftigt sich unser Haus mit der Fort-entwicklung von neuen Technologien, mit Innovationsowohl in den Verfahren als auch in den Prozessen, inAntrieben, beim Kraftstoff, im modernen Verkehrsleit-system. Auch das finden Sie im Haushalt wieder.Drittens ist unser Haus angetreten, seinen Beitragzum regionalen sozialen Zusammenhalt zu leisten. DieEtats für Bau und Stadtentwicklung belegen das eindeu-tig.Der frühere Oberbürgermeister Rommel pflegte zusagen, Politik sei, den Bürgern das Geld aus der Taschezu ziehen und unter Abzug der Verwaltungskosten in ei-ner Zeremonie zurückzugeben, die sie glauben macht,sie würden beschenkt.
Es geht nun also darum, mit den Steuergeldern, die unsgegeben worden sind, möglichst effizient auf die He-rausforderungen zu reagieren. Wie tun wir das?Zunächst schnallen wir den Gürtel enger. Wir fangenbei der Bürokratie, bei der eigenen Verwaltung an, zusparen.
In den letzten zwölf Jahren ist der Personalbestand inunserem Hause von 1 850 um 450 reduziert worden. Dassind knapp 25 Prozent. Auch im Jahre 2006 werden wirmit Stelleneinsparungen, verlängerter Arbeitszeit undStreichung der Sondervergütungen für die Beamten ei-nen nachhaltigen Sparbeitrag leisten und damit den Gür-tel enger schnallen.Bei den Investitionshaushalten sieht es folgenderma-ßen aus: Wir haben ein Investitionsvolumen von12 Milliarden Euro, von denen etwa 9 Milliarden Euroauf die reinen Verkehrsträger entfallen. Ungefähr4,9 Milliarden Euro davon werden in die Straße inves-tiert. Wir setzen auf den Erhalt und den Neubau vonStraßen, damit wir Engpässe beseitigen und die von mirangesprochenen erheblichen Zuwächse beim Personen-und Güterverkehr mit unseren Infrastrukturmaßnahmenabfangen können.Wir wollen diesen Etat verstetigen und in denJahren 2007, 2008 und 2009 Planungssicherheit gewähr-leisten. Meine Damen und Herren, das ist konkrete Mit-telstandspolitik.
Wir wollen weitere rund 3,4 Milliarden Euro dafüreinsetzen, dass die Schienenwege weiter ausgebaut wer-den können. 2,5 Milliarden Euro sollen ins Bestandsnetzfließen, der Rest in die Neubaumaßnahmen, die Sie ausder 66er-Liste kennen.Es muss uns darum gehen, mehr Güterverkehr vonder Straße auf die Schiene zu verlagern.
Unser Beitrag dazu ist ein nachhaltiges Investitionsvolu-men.Die Wasserstraßen, ein weiterer Verkehrsweg – vie-len Dank für das Stichwort –, mit rund 700 Millionen
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Bundesminister Wolfgang TiefenseeEuro stellen dann die verbleibende Differenz zu denetwa 9 Milliarden Euro dar.Diese Verstetigung auf 9 Milliarden Euro über diekommenden Jahre ist ein hervorragendes Ergebnis nichtzuletzt der Koalitionsverhandlungen. Es zeigt, dass dieseKoalition antizyklisch investieren will, obwohl dieHaushaltslage schwierig ist und für Kontinuität im Ver-mögenshaushalt im Bereich der Investitionen sorgt. Ichdenke, das ist aller Ehren wert.
Stichwort Bundeswasserstraßen. Wir wollen in denJahren 2008 und 2009 eine zusätzliche Anhebung, alsoeine Veränderung der Quote, erreichen, weil wir glau-ben, dass insbesondere im Bereich der Schleusen, aberauch in Bezug auf die Anbindung der großen Häfen andas Hinterland das nachgeholt werden muss, was in derVergangenheit liegen geblieben ist. Beispiele für solcheInnvestitionen sind die Schleuse an der Mosel und derHafen Magdeburg.Ein weiterer Bereich umfasst die Mittel aus demGemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Auch hiergibt es eine Verstetigung in Höhe von reichlich 1,6 Mil-liarden Euro über die kommenden Jahre. Damit werdenwir gezielt Bundesprogramme für größere Maßnahmenauf den Weg bringen. Mit Länderprogrammen sollenzum Beispiel die innerstädtischen Straßen ertüchtigtwerden. Diese Verstetigung des Betrags von 1,6 Milliar-den Euro im Bereich des GVFG ist ein großer Erfolg,der den Städten und Gemeinden zugute kommen wird.
Der vorliegende Haushalt kümmert sich auch umTechnologie und Innovationen. Wir investieren in dasSystem Galileo, das GPS ersetzen soll. Wir investierenin den Transrapid. Vorausgesetzt, dass die Finanzie-rungsvereinbarung hoffentlich recht bald in trockenenTüchern ist, dann kann es schnell vorangehen.
Wir investieren in Programme wie die Entwicklungvon Brennstoffzellen und Wasserstoffzellen. Im Laufeder nächsten zehn Jahre stellen wir dazu50 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung. Wir beginnendamit bereits jetzt. Mit diesem Anschubprogramm fürdie Industrie wollen wir dieser Technologie zum Durch-bruch verhelfen. Auch das ist ein wichtiger Meilensteinin der Entwicklung neuer Technologien in Deutschland.
Die Verkehrsleitsysteme werden ergänzt durch inno-vative Verfahren wie beispielsweise das Mautverfahren.Dieses Verfahren macht uns weniger Sorgen auf derAusgabenseite. Wir müssen es schaffen, die Einnahmenzu verstetigen. Im Jahre 2006 etatisieren wir auf der Ein-nahmeseite 2,9 Milliarden Euro. In den folgenden Jahrenwerden es 3,1 Milliarden sein. Wir werden mit diesenEinnahmen nachhaltig in die Verkehrsträger investierenkönnen.Zum Städtebau und Wohnungswesen: Dazu gehörenwichtige Programme für den Aufbau Ost. Wir wollen indiesem Bereich nachhaltig Akzente setzen. Im Bereichdes Städtebaus beträgt das Finanzvolumen bisher470 Millionen Euro. Dieses Volumen stocken wir imJahr 2006, wenn Sie denn zustimmen, um 76 MillionenEuro auf. Die Mittel für das Programm „Soziale Stadt“sollen von 70 Millionen Euro um 40 Millionen Euro auf110 Millionen Euro aufgestockt werden. Diese Maß-nahme soll sich nicht nur im investiven Bereich auszah-len. Wir wollen damit auch mittels Modellvorhaben dieVerschränkung von wirtschaftlichen, sozialen und kultu-rellen Belangen mit investiven Belangen ermöglichen.Ich weiß, dass es darüber in den Ausschüssen Diskussio-nen gibt. Ich werbe nachdrücklich dafür, dass Sie so wieunser Haus Stadtentwicklungspolitik als einen integrier-ten Ansatz sehen und diese Mittel in den Etat einstellen.
Beim Stadtumbau Ost gibt es eine Aufstockung derMittel um 20 Millionen Euro. Der Abriss von Häusernund die Aufwertung von Flächen sollen mit diesem zu-sätzlichen Geld kontinuierlich ermöglicht werden. Ichnenne ferner die Erhöhung der Mittel für den Stadtum-bau West um 16 Millionen auf 56 Millionen Euro. FürDenkmalschutzprogramme, für die Bundesstiftung Bau-kultur sowie für Programme, durch die die Forschungs-vorhaben der Bauindustrie unterstützt werden, werdenebenfalls Mittel in den Etat für Stadtentwicklung undWohnungsbau eingestellt.
Herr Minister Tiefensee, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Seifert?
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Sehr gerne.
Bitte, Herr Seifert.
Schönen Dank, Herr Minister, dass Sie mir dieseFrage erlauben. – Sie haben die ganze Zeit von Innova-tionen im Zusammenhang mit der Stadtentwicklung unddem Verkehrsbereich gesprochen. Mir fällt auf – ichhabe Sie im Ausschuss schon mehrfach danach gefragt;wir haben auch darüber gesprochen, als der zuständigeKommissar da war –, dass in Ihren Reden, in IhrenSchreiben und in Ihrem Etat die Barrierefreiheit alsdurchgehendes gestalterisches Prinzip – ich meine damitnicht nur den Bau von Rampen – nicht vorkommt. Inves-titionen in Barrierefreiheit können aber zu einem Inno-vationsschub werden. Außerdem würde diese Investitionallen nützen. Dazu gehören ferner die Stadt der kurzenWege wie auch Leitsysteme für gehörlose oder fürblinde Menschen. Ich möchte das gerne von Ihnen hörenund dann auch etatisiert haben. Warum sagen Sie dasnie?
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Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Vielen Dank. Das ist ein wichtiger Hinweis. – Siewissen, dass das im Wesentlichen Länder- oder kommu-nale Angelegenheit ist. Dennoch leistet der Bund seinenBeitrag. Dieser ist nicht in einem Extratitel ausgewiesen,sondern findet sich beispielsweise dann wieder, wennwir über die im Rahmen des Gemeindeverkehrsfinan-zierungsgesetzes vorgesehenen Mittel reden. Das sindrund 1,7 Milliarden Euro. Die werden eingesetzt, um dieVerkehrswege in den Städten und Gemeinden so zu ge-stalten, dass sie modernen Anforderungen genügen.Dazu gehören die Barrierefreiheit bzw. der Anspruch,dass sie behindertengerecht sind. Maßnahmen wie dasProgramm „Stadtumbau Ost“ beschäftigen sich damit,auf der einen Seite den Rückbau von leer stehenden Plat-tenbauten oder auf der anderen Seite die Aufwertung derStädte, insbesondere die Wiederherstellung von Grün-derzeitquartieren, zu ermöglichen. Für den Rückbau gibtes eine Förderung von 60 Euro pro Quadratmeter, für dieAufwertung einen Anteil, der in den Ländern unter-schiedlich ist. Mit diesen Aufwertungsgeldern werdenunter modernsten Gesichtspunkten Plätze gestaltet undWohnungen erneuert. Dazu gehört auch das Ziel, dassdie Plätze und Gebäude behindertengerecht werden undder Barrierefreiheit Genüge leisten.Ich verstehe Ihren Ansatz und würde ihn gern in dieAufforderung ummünzen, dass nicht nur der Bund mitseinen Programmen auf diesem Gebiet aktiv ist, sondernnatürlich auch die Städte und Gemeinden trotz ihrerschwierigen Haushaltssituation auf diesen UmstandWert legen. Die Wohnungsgenossenschaften bzw. Woh-nungsgesellschaften sind insbesondere beim Neubau, beider Umgestaltung und der Renovierung von Wohnungengefragt. Bei der Errichtung von öffentlichen Gebäuden,auch der von Bundesbauten, spielt die Barrierefreiheiteine große Rolle. Das alles sind Bereiche, in denen IhrAnliegen Berücksichtigung findet, auch im Etat.
Erlauben Sie eine Nachfrage des Kollegen Seifert,
Herr Minister?
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Ja, bitte schön.
Herr Seifert.
Herr Minister Tiefensee, selbstverständlich ist derAppell an die Länder und die Kommunen wichtig; dasist ganz klar und überhaupt keine Frage. Das ändert abernichts an der Tatsache, dass der Bund eine Vorbildfunk-tion ausüben muss. Es kann nicht sein, dass wir einer-seits ein Bundesbehindertengleichstellungsgesetz ha-ben, in dem steht, Barrierefreiheit sei der wichtigstePunkt, auf der anderen Seite dieses Anliegen aber in al-len Etats der einzelnen Ressorts nicht mehr vorkommt.Wenn die Bundesregierung dies tatsächlich umsetzenwill, dann kann das kein Spezialgesetz sein, sondernmuss überall vorkommen.Es ist ja so – das will ich ausdrücklich sagen –, dassgerade die Gemeindeverkehrsfinanzierung und damit dieHerstellung der Barrierefreiheit in Verkehrsmitteln of-fensichtlich durch die Föderalismusreform sehr gefähr-det ist. Wir erhalten von den zuständigen InstitutenAlarmsignale. Die sagen: Genau dort wird das Problemeinsetzen. Das unterliegt dann dem Wettbewerb zwi-schen den Ländern, wenn Sie all diese Aufgaben an dieLänder übertragen. Wie bekommen wir es denn geregelt,dass es Barrierefreiheit nicht nur in wenigen Länderngibt, während in den anderen die Barrieren umso größersind? Wie bekommen wir das hin?
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Sehr verehrter Herr Abgeordneter, noch einmal zumGVFG: Wir haben nach wie vor die gleiche Regelungwie in den vergangenen Jahren in Bezug auf die in Höhevon 1,66 Milliarden Euro vorgesehenen Mittel. 20 Pro-zent dieser Mittel behält der Bund; der Rest steht denStädten zur Verfügung. Wir haben eine Veränderung– ich weiß nicht, ob Sie darauf anspielen – bei der För-derung von sozialem Wohnraum. Das ist ein wichtigerAspekt. Durch die Föderalismusreform werden wir diebisherigen Bundesfinanzhilfen an die Länder ab 2007durch pauschale Ausgleichszahlungen ersetzen, bis 2013mit einer Zweckbindung für den bisherigen Aufgabenbe-reich.Ihre Zwischenfrage gibt mir im Übrigen die Gelegen-heit, deutlich zu machen, wie der Bund im Sinne derKonnexität, also der Finanzierung von Aufgaben, die erabgibt, mit den Ländern umgeht. Momentan brauchendie Länder rund 220 oder 230 Millionen Euro pro Jahrfür den sozialen Wohnungsbau. Ab 1. Januar 2007 zahltder Bund für ein erweitertes Spektrum 520 MillionenEuro. Ihre Befürchtung wird nicht eintreten. Im Gegen-teil: Der Bund gibt eine Aufgabe ab und – irgendeinerhat bei den Föderalismusverhandlungen sehr gut verhan-delt und ist sehr erfolgreich gewesen – stockt diese Gel-der um mehr als das Doppelte auf.
Die Schwierigkeit besteht allerdings darin – das gebeich gerne zu –, dass dann die Landesminister in der Ver-antwortung stehen. Ich kann mir vorstellen, dass dieseroder jener Landesminister das Geld, das er vorher für die50-prozentige Kofinanzierung verwendet hat, nun eherfür etwas anderes ausgeben wird. Aus diesem Grundgeht der Appell an die Landesfinanzminister, dem Woh-nungsbau weiterhin Geld zur Verfügung zu stellen.
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Bundesminister Wolfgang TiefenseeMeine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich einen weiteren Punkt herausgreifen: die Energie-bilanz und in diesem Zusammenhang den Mittelstand.Unser Haus gibt neben der Aufstockung in Höhe von4,3 Milliarden im direktinvestiven Bereich in dieser Le-gislaturperiode, also bis zum Jahr 2009, 5,6 MilliardenEuro für ein Programm zur CO2-Gebäudesanierungaus. Dieses Programm kommt dem Mittelstand eins zueins zugute.
Wir prognostizieren, dass dadurch am Markt Aufträge ineinem Volumen von 28 Milliarden Euro ausgelöst wer-den können.
Dies wird ergänzt durch die Steuerbefreiung von Hand-werkerleistungen bis zu 3 000 Euro jährlich.
Das ist eines der größten Mittelstands- und Energiebi-lanzverbesserungsprogramme, die es je gegeben hat. Eserfolgt antizyklisch, aber es ist zyklisch im Sinne derMittelstandsförderung und einer besseren Energiebilanz.
Ich komme nun zum Aufbau Ost. Wenn Maßnahmenwie die Zahlung der Investitionszulage mit einem pro-gnostizierten Volumen von etwa 600 Millionen Euro proanno – das gehört zwar nicht zum Einzelplan 12, aberich möchte es der Vollständigkeit halber erwähnthaben – fortgeführt werden, wird dies dazu führen, dasswir einerseits wiederum die kleinen und größeren Hand-werksbetriebe – speziell im Osten – fördern und auf deranderen Seite Unternehmen, die Neuinvestitionen bzw.Erweiterungsinvestitionen tätigen, eine verlässliche Ba-sis geben. Da ist noch eine Menge zu tun, aber dies zutun haben wir uns vorgenommen.Zum Schluss zwei Stichworte. Wir haben im Haus-halt, zum Beispiel im Mautbereich, das Problem, dasswir neue Finanzierungsinstrumente – ich nenne alsStichworte die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesell-schaft, VIFG, und die A-Modelle für Public Private Part-nership – in Gang setzen wollen. Diese Bundesregie-rung, unser Haus, kümmert sich darum, das Geld, daswir vom Steuerzahler bekommen haben, vernünftig aus-zugeben und durch privates Geld zu ergänzen. Meineherzliche Bitte ist – das ist auch ein Appell an die Län-der, die Städte und Gemeinden –, an diesen Projektenmitzuwirken.Schließlich kümmern wir uns darum, dass dieses Geldschnell und effizient ausgegeben wird. Wir wollen mitden Vorhaben aus dem Infrastrukturplanungsbeschleuni-gungsgesetz Nutzeffekte ziehen,
um die Verfahren um bis zu zwei Jahre zu verkürzen,schneller mit dem Bau zu beginnen und so schneller dieInfrastruktur zur Verfügung stellen zu können. Mit die-sem Projekt leisten wir unseren Beitrag zu weniger Bü-rokratie und schnellerem Bauen.
Herr Minister, wollen Sie noch eine Zwischenfrage
der Kollegin Zimmermann zulassen?
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Sehr gerne.
Bitte schön, Frau Zimmermann.
Herr Bundesminister Tiefensee, Sie kommen wie ichaus Sachsen – ich komme aus Zwickau – und wissen ja,dass die Sachsen-Magistrale nicht in der vorgesehenenForm realisiert wird. Zum 1. Dezember soll die Verbin-dung von Dresden nach Hof anders gestaltet werden.Wie bewerten Sie die Abkoppelung von Zwickau, einemwirtschaftlich starken Standort mit einem VW-Werk mit6 000 Beschäftigten? Vor allem im Bereich der mittel-ständischen Unternehmen ist bereits ein Abzug zuverzeichnen. Sie sagen: Wir haben dann keine entspre-chende Anbindung mehr; es gibt nur noch den Regional-verkehr. Das bedeutet für uns zusätzliche Zeit. Daskönnen wir uns nicht leisten. – Es gibt also bereits Un-ternehmen, die Zwickau verlassen, weil es schlecht an-gebunden ist. Ich frage gerade unter dem Aspekt derFörderung des Mittelstandes.Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Vielen Dank für die Frage. – Aufbau Ost hat etwasmit Infrastruktur zu tun. Es geht darum, Ballungs-räume, wie beispielsweise Zwickau, an die größerenBallungszentren, wie Chemnitz, Leipzig oder Dresden,anzuschließen.Im Investitionsetat spielt der Osten sowohl im Be-reich Schiene als auch in den Bereichen Straße und Bin-nenwasserstraße – Stichwort „Verkehrsprojekte Deut-sche Einheit“: 8.1 Nürnberg–Erfurt, 8.2 Erfurt–Halle/Leipzig – eine herausragende Rolle. Diese Projekte kön-nen dank des gestiegenen Etats – 4,3 Milliarden Euro indieser Legislaturperiode – mit einem Aufwuchs vondurchschnittlich circa 100 Millionen Euro pro annorechnen, das heißt, wir ziehen, wenn Sie dem zustim-men, die Bauzeit vor.
Wichtige Projekte – Stichwort „Ballungszentren“ –,wie die A 20, die Autobahn an der Ostsee, die A 72,Chemnitz–Dresden, die A 38, die B 6 im Vorharzland inSachsen-Anhalt, mit 87 Millionen Euro etatisiert, sindbereits umgesetzt oder werden fortgesetzt. Die A 71wird von Thüringen, vom Suhler Ballungsgebiet nachBayern fortgeführt.
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Bundesminister Wolfgang TiefenseeWir haben in unserer „66er-Liste“ auch die Sachsen-Franken-Magistrale einsortiert.
– In den neuen Ländern, soweit ich weiß.Im Rahmen der internen Beratungen wird es an Ihnensein, diese Prioritätenliste fortzuschreiben bzw. an die-ser oder jeder Stelle neue Prioritäten zu setzen. Wir ha-ben ein Gesetz und eine verabschiedete Liste. Daran hal-ten wir uns zunächst. Der Souverän ist aberselbstverständlich in der Lage, andere Prioritäten zu set-zen.
Wir führen hier keine Dialoge, das nimmt überhand.
Ihre Fraktion hatte drei Zwischenfragen, das ist genug.
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Ich darf herzlich bei Ihnen dafür werben, dass Sie
dem Einzelplan 12 in seinen Eckpunkten – hoffentlich
quer durch alle Fraktionen – zustimmen. Das ist ein rich-
tungsweisender, nach vorn weisender Einzelplan, der
Wirtschaft, Arbeit, Technologie und Innovation voran-
treiben wird.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Claudia
Winterstein von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ver-ehrter Herr Minister Tiefensee, wenn man Ihnen zuhört,bekommt man den Eindruck, als würde in Deutschlandtatsächlich wieder mehr in die Verkehrsinfrastruktur in-vestiert, als würden Sie so richtig Gas geben.
Sie schwärmen ebenso wie Ihre Kolleginnen und Kolle-gen von Union und SPD in den bisherigen Debatten-beiträgen von dem 25 Milliarden schweren Investitions-und Wachstumsprogramm, von denen nun 4,3 Milliar-den Euro in den Verkehrsbereich fließen sollen. Dochdie Investitionen in die Verkehrsträger steigen keines-wegs.
Zum einen fließen die 4,3 Milliarden Euro nicht im Jahr2006, sondern werden über die Jahre bis 2009 verteilt.Zum anderen kommt die angebliche Steigerung der In-vestitionen 2006 lediglich im Vergleich mit der altenmittelfristigen Finanzplanung zustande, die von etwa8 Milliarden Euro ausging, also deutliche Absenkungenvorsah.
Sie treten also eher auf die Bremse, Herr Minister.
Zur Verdeutlichung der tatsächlichen Zahlen: DieInvestitionsausgaben in die Verkehrsträger Straße,Schiene und Wasserstraße betrugen im Jahr 2004 circa9,7 Milliarden, im Jahr 2005 knapp 9 Milliarden Euround in diesem Jahr, 2006, sollen sie 9 Milliarden Eurobetragen. Das ist keine Erhöhung. Das ist gegenüber frü-heren Jahren eine Senkung und eine Stagnation im Ver-gleich zum letzten Jahr.
Im Prinzip ist das ein Stillstand. Das sind Zahlen, dieSie, meine Damen und Herren von der Koalition, sichvielleicht noch einmal in Erinnerung rufen sollten.In dem so genannten Regierungsprogramm vom Juli2005 hat die Union die über die Jahre sinkenden Investi-tionen des Bundes in die Verkehrsinfrastruktur noch kri-tisiert. Nun beteiligt sie sich munter an genau dieserPolitik. Zudem werden in den Haushaltstiteln für denVerkehr – wie übrigens im Jahr zuvor – die Investitions-titel in der Höhe der Mauteinnahmen abgesenkt. Das isteine weitere Unverfrorenheit.
Denn es war, wie Sie alle wissen, vereinbart, die Mittelaus der Maut zusätzlich in die Verkehrsinfrastruktureinfließen zu lassen. Vor der Wahl hat die Union denMautbetrug angeprangert, jetzt stimmen Sie dafür.
Ich sage Ihnen: Wir wollen bei den Investitionen indie Verkehrsinfrastruktur einen Schwerpunkt setzen.Denn nur mit bedarfsgerechten Investitionen in die Ver-kehrsinfrastruktur wird es zu mehr wirtschaftlichemWachstum kommen. Zudem wirken diese Investitionenauch positiv auf den Arbeitsmarkt. Sie, Herr Minister,argumentieren ja gern damit, dass 1 Milliarde Euro anVerkehrsinvestitionen etwa 25 000 Arbeitsplätze be-deutet.
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Dr. Claudia WintersteinInvestitionen in den Verkehrsbereich sind wirtschaft-lich auch deswegen vernünftig, weil sie für den Staatrentabel sind. Die Straßenverkehrsteilnehmer zahlendem Bund jährlich rund 45 Milliarden Euro an Mineral-ölsteuer und LKW-Maut, aber nur 4,8 Milliarden Eurowill der Bund in die Bundesfernstraßen investieren.
Diese Summe deckt nicht den Bedarf. Das wissen Sie,seit die Pällmann-Kommission dies bekannt gegebenhat, doch sehr wohl. Bedarfsgerecht wäre ein verkehrs-trägerübergreifendes Investitionsniveau von 12 Milliar-den Euro.
Doch Sie halten die Investitionen kurz und benutzen Ihreso gefeierten Investitionsprogramme letztendlich nur alsFeigenblatt.Auch Ihre Verteilung der Mittel auf die Verkehrs-träger fördert die Wirtschaft nicht optimal. Tatsache istdoch, dass die Straße nach wie vor der VerkehrsträgerNummer eins ist. Im Personenfernverkehr liegt derMarktanteil der Bahn bei gerade einmal 7 Prozent, imGüterverkehr – der doch so gefördert wird – bei nur15 Prozent. Es kann nicht angehen, dass die für den Ver-kehr weit weniger bedeutsame Schiene 40 Prozent derInvestitionsmittel erhält. Davon profitiert am Ende nurdie Deutsche Bahn AG, die sich damit für die Börse at-traktiv macht.Sie sollten die übertriebene Großzügigkeit gegenüberder Deutschen Bahn AG sowieso endlich beenden, HerrMinister.
Der Bundesrechnungshof kommt in seinem aktuellenBericht zur Finanzierung der Bundesschienenwege vomMärz 2006 zu dem Schluss, dass der Steuerzahler derDeutschen Bahn AG für die Jahre 1998 bis 2008 insge-samt 7 Milliarden Euro mehr zur Verfügung stellt, als esdie Gesetzeslage vorsieht.
Allein durch die Rückkehr zur Gesetzeslage – daskönnte man ja verlangen –, also zur Gewährung vonzinslosen Darlehen statt verlorener Zuschüsse, könntenfür die verbleibenden Jahre 2006 bis 2008 circa2,25 Milliarden Euro eingespart werden.
Angesichts der miserablen Kassenlage dürfen wir unssolche Milliardengeschenke nicht erlauben.
Noch einmal zum Stichwort Investitionen und Ehr-lichkeit: Hier lassen Sie auch auf dem Gebiet des Woh-nungswesens und des Städtebaus einiges zu wünschenübrig. Im Rahmen der Zuweisungen zur Förderung vonStadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf, beimso genannten Programm „Soziale Stadt“, stellen Sie68 Millionen Euro in dem Etat ein. Dann liest man aberim Haushaltsvermerk, dass die Bundesmittel in Höhevon 40 Millionen Euro auch für Modellvorhaben in denGebieten, die das Programm „Soziale Stadt“ umfasst,eingesetzt werden können, also zum Beispiel für Zweckewie Spracherwerb, zur Verbesserung von Schul- und Bil-dungsabschlüssen und zur Betreuung von Jugendlichenin der Freizeit. Damit wir uns hier nicht missverstehen:Das alles sind ganz sinnvolle Vorhaben, aber es sindeben keine Investitionen im Sinne des Haushaltsrechts.
Daher haben sie im Etat für Wohnungswesen und Städte-bau überhaupt nichts verloren.
Sie bessern durch diese sachwidrige Verschiebung vonHaushaltstiteln nur Ihre Investitionsstatistik auf. Das istin hohem Maße unlauter.
Ebenso zu erwähnen ist ein weiteres Projekt des an-geblich so großartigen Investitions- und Wachstumspro-gramms, nämlich das CO2-Sanierungsprogramm miteinem Umfang von jährlich gut 1 Milliarde Euro. DasZiel der Verminderung der CO2-Emissionen ist richtig.Doch seine Präsentation als Investitions- und Wachstums-programm ist verfehlt. Denn wir alle wissen: Solche Pro-gramme sind allenfalls ein konjunkturelles Strohfeuer.Zu den Zinsverbilligungen des bisherigen Programmskommen ab dem Jahr 2006 nun sogar direkte Zuschüssehinzu. Sicher ist dabei nur eines: Durch zusätzliche Zu-schüsse erhöhen Sie auch die Schuldenlast des Staates.Herr Minister, in Ihrer Antrittsrede haben Sie verkün-det, Ihnen komme es darauf an, mit Ihrer Politik bei derBevölkerung und bei den kleinen und mittelständischenUnternehmen für eine Aufbruchstimmung zu sorgen.Dabei haben Sie besonders hervorgehoben, dass Sie zu-sätzliche Arbeitsplätze schaffen wollen.
Damit werden Sie scheitern, weil Sie in Wirklichkeitkeine zusätzlichen Investitionsmittel zur Verfügung stel-len. Sie betreiben eine Nebelkerzenpolitik.
Damit werden Sie keine Aufbruchstimmung erzeugen.Alles, was Sie erzeugen, sind weitere Unsicherheit undweitere Verluste von Arbeitsplätzen. Das ist die zu er-wartende Bilanz Ihrer Politik.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-PeterFriedrich von der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren Kolle-gen! Im Koalitionsvertrag vom Herbst letzten Jahresheißt es – ich darf zitieren –:Unsere Verkehrspolitik ist sich ihrer Verantwortungfür Wirtschaft, Beschäftigung und Umwelt inDeutschland bewusst.Herr Minister, ich denke, an diesem Bundeshaushaltwird deutlich, dass wir dieses Bewusstsein auch in ganzkonkrete Politik umsetzen.
Verehrte Frau Winterstein, bei Investitionen in die In-frastruktur handelt es sich nicht um Programme, die nurfür ein konjunkturelles Strohfeuer sorgen, sondern umZukunftsinvestitionen. Das sollten Sie zur Kenntnisnehmen.
Denn eine gut durchdachte Infrastrukturpolitik ist dieVoraussetzung für Wachstum und Beschäftigung. DieMobilität sichert den Zugang der Wirtschaft zu denMärkten und den Rohstoffen,
und sie sichert den Zugang der Menschen zu ihren Ar-beitsplätzen
sowie – umgekehrt – den Zugang der Wirtschaft zu denArbeitskräften.Verkehrsinfrastrukturpolitik ist also einerseits eineGrundlage für das Funktionieren einer Volkswirtschaft.Andererseits hat sie aber auch – insofern haben SieRecht – unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeits-plätze,
insbesondere im Baubereich und in der Bahnindustrie,
die im Übrigen – darauf können wir stolz sein – interna-tional sehr erfolgreich ist.
Deswegen werden im gesamten Bundeshaushalt diemeisten Investitionen im Bereich Bau und Verkehr getä-tigt. Sie haben jedoch gesagt, Sie könnten keine Erhö-hung der Mittel erkennen. Diese Kritik verstehe ichnicht. Denn in der bisherigen mittelfristigen Finanzpla-nung waren für diesen Sektor 8 Milliarden Euro vorge-sehen. Diesen Betrag haben wir auf 9 Milliarden Euroerhöht. Dem normalen Verständnis zufolge ist das eineSteigerung.
Allerdings haben wir diese Mittel nicht nur erhöht,sondern auch und vor allem verstetigt. Jetzt sind die Zei-ten vorbei, in denen die Mittel für Investitionen zunächstviel zu niedrig angesetzt und dann durch das hektischeAuflegen von Sonderinfrastrukturprogrammen erhöhtwurden. Das Programmchaos ist beendet.
Nun werden die Mittel verstetigt.
Diejenigen, die im Baubereich tätig sind, kann mannicht wie Hampelmänner behandeln, an denen manzieht, wenn man Lust dazu hat, und die man sonst hän-gen lässt.
Diese Leute brauchen Planungssicherheit und Kalkula-tionsmöglichkeiten. Diese Voraussetzungen haben wirjetzt für sie geschaffen.Berücksichtigt man auch die Sonderprogramme ein-schließlich der Gemeindeverkehrsfinanzierung, so be-trägt das Investitionsvolumen fast 11 Milliarden Euro.Ich denke, das kann sich wirklich sehen lassen.
Ich wünsche mir, dass wir es durch den Einsatz dieserInvestitionsmittel schaffen – das ist ein wichtiger wirt-schaftspolitischer Aspekt –, unseren mittelständischenUnternehmen zu weiteren Aufträgen zu verhelfen. Je-der Einsatz lohnt sich. Wenn öffentliche Gelder inves-tiert werden, muss bei den Ausschreibungen dem Mittel-stand eine faire Chance im Wettbewerb gegeben werden.Ich sage das auch mit Blick auf die Finanzierungöffentlicher Aufgaben mit privatem Kapital, auf dieso genannten PPP-Projekte; Minister Tiefensee hat die-ses Thema schon angesprochen. Wir hören immer wie-der von erfolgreichen Projekten solcher öffentlich-priva-ten Partnerschaften, bei denen Gelder privater Anlegerverwendet werden, um Einrichtungen zu schaffen, dievom Staat gegen Entgelt gemietet und genutzt werden,um öffentliche Aufgaben zu erfüllen.
Es gibt viele Beispiele in der Kommunalpolitik, die zei-gen, dass der Weg einer solchen Finanzierung erfolg-reich ist.
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Dr. Hans-Peter Friedrich
Es handelt sich um die Ergänzung und nicht um den Er-satz staatlicher Mittel. Ich denke, wir sollten diese Formder Finanzierung in der Zukunft verstärkt auch für denVerkehrsbereich nutzen. Wir werden in der Koalitiondarüber sprechen, wie wir privates Kapital mobilisierenkönnen. Auch die Frage der Beteiligung des Mittelstan-des an solchen PPP-Projekten ist ein wichtiger Punkt.Wenn es ums Geld geht, lohnt sich immer auch einBlick auf den Verkehrsträger Schiene. Sie haben dasangemahnt; ich möchte das nun tun. In den vergangenenJahren wurden alles in allem 19 Milliarden Euro in denVerkehrsträger Schiene investiert.
– Das ist in der Tat eine Menge Geld. – Wenn man be-rücksichtigt, welcher Nachholbedarf beim Ausbau desSchienennetzes und der Infrastruktur in den neuen Län-dern bestand und wie der Ausbau seit 1990 Stück fürStück vorangegangen ist, dann kann man nur sagen, dassdie Bahnpolitik in diesem Land seit der Wiedervereini-gung vorbildlich gewesen ist.
Die Kritik der FDP an dem bemerkenswerten AufbauOst in diesem Bereich, der geleistet worden ist, kann ichnicht verstehen.
Das Ausland beneidet uns zu Recht um unser gutfunktionierendes und gut ausgebautes Schienenverkehrs-system.
Trotzdem oder gerade deshalb, Kollege Friedrich, halteich es für unerlässlich, dass wir einen ernsthaften Dialogüber die Zukunft des Verkehrsträgers Schiene führen.Ich habe das Gefühl, dass in dieser Frage sehr viel hintervorgehaltener Hand diskutiert wird. Es gibt nicht we-nige, die den Verkehrsträger Schiene als einen Verkehrs-träger vergangener Zeiten ansehen
und davon ausgehen, dass er von neuen Verkehrssyste-men, insbesondere vom Individualverkehr, abgelöstworden ist.
Ich fordere in dieser Frage eine differenzierte und offeneDiskussion.
– Kollege Oswald, Sie haben Recht. Auch für meine Be-griffe hat die Schiene ein großes Zukunftspotenzial.Das Potenzial des Verkehrsträgers Bahn besteht vorallem im Güterfernverkehr und im Personennahver-kehr: Der Güterfernverkehr ist wichtig für den Wirt-schafts- und Investitionsstandort Deutschland, der Per-sonennahverkehr ist ein wichtiger Bestandteil derDaseinsvorsorge. Ich denke, wir als Verkehrspolitikerhaben die Aufgabe, ohne Ideologie und ohne unnötigeBesitzstandswahrung die Möglichkeiten zu nutzen, diesich insbesondere für den Verkehrsträger Schiene in Zu-kunft ergeben.Das bringt mich zum Thema Regionalisierungsmittel.
Herr Kollege Friedrich, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Günther?
Ja.
Bitte schön, Herr Günther.
Kollege Friedrich, Sie haben gerade die Investitionen
von 19 Milliarden Euro in den Verkehrsträger Schiene
angesprochen. Ist Ihnen als Einwohner von Hof in Ober-
franken bekannt, dass die Sachsen-Magistrale – sie ist in
dieser Debatte bereits angesprochen worden – im Ver-
kehrswegeplan zwar enthalten ist, aber nicht auf der
Dringlichkeitsliste steht? Sie sagen, die Schiene habe
Zukunft. Der Zug zwischen Dresden und Nürnberg
braucht gegenwärtig 40 Minuten länger als 1924. Das
passt meines Erachtens nicht zusammen.
Lieber Kollege Günther, es ist wichtig, dass wir nunmöglichst viele Projekte der 66er-Liste abarbeiten unddafür verstärkt Mittel zur Verfügung stellen. Dann kön-nen wir andere Projekte, die im Bedarfsplan stehen undauf Realisierung warten, nachziehen. Das ist ein ganzwichtiger Punkt. Kollege Friedrich, selbstverständlich istdie Elektrifizierung der Franken-Sachsen-Magistrale imStreckenabschnitt Nürnberg bis Reichenbach im Ver-kehrswegeplan enthalten.
Es geht darum, dass wir die 66er-Projekte jetzt abarbei-ten, damit wir neue Projekte nachziehen können.
Durch die Erhöhung der Mittel erzielen wir insgesamteinen Vorzieheffekt in allen Bereichen.
Zum Thema Regionalisierungsmittel möchte ich ei-nige Anmerkungen machen.
Es war in der Vergangenheit zweifellos ein Erfolgsmo-dell der deutschen Haushalts-, Finanz- und Verkehrspoli-
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Dr. Hans-Peter Friedrich
tik, diese Mittel bereitzustellen. Es war richtig, den Län-dern diese Mittel pauschal zuzuweisen und ihnen dieMöglichkeit zu geben, dadurch Effizienzgewinne zu rea-lisieren. Diese Mittel wurden in den letzten Jahren im-mer wieder angepasst und dynamisiert. Ich sage aber:Auch hier können die Bäume haushalts- und finanzpoli-tisch nicht in den Himmel wachsen.
Ich weise die Behauptungen und die Panikmache zu-rück, dass die moderate Reduzierung der Regionalisie-rungsmittel, die jetzt vorgenommen wird, sozusagen ei-nen Kahlschlag und einen Zusammenbruch desSchienenpersonennahverkehrs bedeutet.
Ich denke, dass es richtig ist, dass wir einen Teil der Effi-zienzgewinne, die die Länder zum Beispiel durch dieAusschreibung von Leistungen erzielen können, auchfür den Bund reklamieren und aktivieren.
Erzielte und erzielbare Einspareffekte müssen auch demBund ein Stück weit zugute kommen.
Wenn die Länderfinanzminister den unerwarteten Geld-segen aus der Mehrwertsteuererhöhung, den sie imnächsten Jahr erhalten werden, nur ein wenig auch fürden Schienenpersonennahverkehr verwenden, dannmuss keine sinnvolle Verbindung im Schienenverkehrausgedünnt oder gar gestrichen werden.
Ich komme zum Bereich Bau- und Stadtentwick-lung. In diesem Bereich wird nicht gekleckert, sonderngeklotzt. Die Maßnahmen sind genannt: Absetzbarkeitvon Bauhandwerkerleistungen, energetische Sanierungvon Bundesbauten – das ist ein Schub für unser Hand-werk – und 1 Milliarde Euro für Energieeinsparungs-maßnahmen und die Reduzierung des CO2-Ausstoßes.Ich denke, in Zeiten steigender Energiepreise und ange-sichts der Möglichkeit, dass es vom Staat finanzielle Zu-schüsse gibt, muss man jedem Besitzer alter Wohnungenoder Häuser die Frage stellen: Wann wollen Sie investie-ren, wenn nicht jetzt? Ich glaube, jetzt ist der richtigeMoment, auch diese Möglichkeiten zu nutzen.Es freut mich erstens besonders, dass wir neben derZinsverbilligung, die es ja schon gibt, künftig auch einenZuschuss einführen. Ich halte es nämlich für einen gro-ßen strukturellen Fehler, dass wir bei den politischenEntscheidungen immer diejenigen, die Schulden ma-chen, denjenigen gegenüber bevorzugen, die sparsamsind. Wer heute Konsumverzicht übt und Geld spart, umetwas zu investieren, muss ebenso von öffentlichen Pro-grammen profitieren. Das halte ich in diesem Zusam-menhang für einen wichtigen Aspekt.
Das Zweite, was ich für gut und richtig halte, ist, dasswir auch bezogen auf öffentliche Gebäude – Kindergär-ten und Schulen – die Möglichkeit eröffnen wollen,Maßnahmen zur Einsparung von CO2 durch zinsgünstigeKredite des Bundes zu fördern, und dass insbesonderefür strukturschwache Gebiete und Gemeinden besondersgünstige Zinssätze angestrebt werden. Ich denke, daswird die Bürgermeister in den strukturschwachen Gebie-ten freuen.Ich denke, dass wir mit diesem Programm insgesamtauch eine Neuausrichtung unserer Handwerksbetriebe inRichtung auf Bestandserhalt und Pflege der vorhandenenBausubstanz bewirken können. Ich glaube, dass unserHandwerk in sehr starkem Maße neubauorientiert ist unddass wir mit diesem Programm eine Neuorientierung inRichtung Substanzerhalt und Substanzpflege auf denWeg bringen können. Angesichts der demographischenEntwicklung und der Veränderung der städtischen undder dörflichen Struktur halte ich dies für den richtigenWeg. Das ist im Übrigen ein Weg, auf dem die deutschenHandwerkerleistungen noch mehr zu einem Exportschla-ger werden können als bisher; denn ich glaube, dass esauch im Vergleich mit dem europäischen Ausland, nir-gends so viel handwerkliches Know-how wie gerade inunserem deutschen Handwerk gibt. Ich komme aus ei-nem grenznahen Raum und erwarte dadurch einen gro-ßen Schub für unser Handwerk im benachbarten Aus-land.
Die Mittel für das Programm der Städtebauförderung„Soziale Stadt“ wurden aufgestockt. Gleiches gilt fürdie Programme „Stadtumbau Ost“ und „StadtumbauWest“. Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dasssich die Städtebauförderung und die Stadtumbaupro-gramme nicht nur auf Großstädte in Ballungsgebietenbeziehen; vielmehr profitieren davon auch kleine Städteim ballungsfernen bzw. ländlichen Raum; das muss manganz klar sehen.Wir wollen Städte mit einem stabilen sozialen und ge-sellschaftlichen Umfeld. Insofern haben diese Pro-gramme auch einen sozialpolitischen Aspekt; ohneFrage. Wer Wohnumfeldverbesserungen vornimmt, dererhöht auch die Lebensqualität und das Lebensgefühl.
Dazu gehört natürlich auch, lieber Kollege Dr. Seifert,die Barrierefreiheit. Ich kenne kein Projekt im Rahmender „Sozialen Stadt“, von „Stadtumbau Ost“ oder „Stadt-umbau West“, in dem die Frage der Barrierefreiheit nichtautomatisch in die Planungen mit eingeflossen ist. Daswird flächendeckend berücksichtigt. Ich halte das fürwichtig.
Vor allem aber geht es darum, die Wirtschaft in denStädten, gerade in strukturschwachen Gebieten zu
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Dr. Hans-Peter Friedrich
fördern. Ich fordere die Länder, soweit das nicht schongeschehen ist, auf, ihre operativen Programme, die sieschon unter Nutzung von beispielsweise europäischenProgrammen aufgelegt haben, mit Strukturfördermaß-nahmen und Stadtentwicklungsprogrammen des Bundeszu verzahnen. Das wird eine Möglichkeit sein, dieWohnqualität unserer Städte zu erhöhen.Im Bereich von Verkehrsinfrastruktur, Bau und Stadt-entwicklung werden und wollen wir die Innovationenund die technologischen Meisterleistungen deutscherHerkunft besser präsentieren. Das Thema Bauforschungerhält in diesem Haushalt eine neue Dimension. DerKomplex Forschung und Innovation zieht sich alsodurch alle Einzelpläne dieses Haushalts. Wir werden mitder Bundesstiftung „Baukultur“ die Leistungsfähigkeitvon Architekten und Ingenieuren in Deutschland auf denWeltmärkten besser präsentieren. Auch hier haben wirExport- und Innovationschancen durch die Präsentationdeutscher Leistungsfähigkeit zu erwarten.
Die Wirtschafts- und Konjunkturlokomotive von Ver-kehrsinfrastruktur und Bau nimmt Fahrt auf. Lieber HerrMinister, wir stehen in dieser Frage dicht an Ihrer Seite.Die große Koalition ist auf Kurs in Richtung Zukunft.
Alles Gute.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Roland Claus von der Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Bevor ich mit einer kritischen Analyse diesesHaushaltes beginne,
gestatte auch ich mir eine Sicht von oben auf die Sub-stanz dieses Planes. Es ist schon beachtlich, über wieviel Substanz wir hier reden. Man kann das im Um-kehrschluss deutlich machen, indem man sich einmalvorstellt, was wäre, wenn all das, worüber wir hier imZusammenhang mit diesem Einzelplan reden, nicht exis-tierte: Schienen, Straßen, städtische Infrastruktur, ja so-gar der Wetterdienst.
Es geht also in der Tat um drei große Bereiche. Dererste ist die Frage der Mobilität: Wie wollen wir uns be-wegen? Der zweite Bereich dreht sich um die Frage desBauens und der Stadtentwicklung: Wie wollen wir woh-nen? Der dritte Bereich betrifft die Frage: Wie wollenwir die Förderpolitik gegenüber den neuen Bundeslän-dern gestalten?Ich will zunächst deutlich sagen, dass dieser Plan vielGutes und Vernünftiges enthält. Wenn Dinge gut undvernünftig sind, finden sie natürlich auch die Zustim-mung meiner Fraktion.
Sie nennen uns gerne Ideologen.
Dazu will ich sagen: Die Sache wird nicht besser, wenndie einen Ideologen die anderen Ideologen „Ideologen“nennen.
Dieser Haushalt – das kann man von keinem anderenHaushalt behaupten – enthält über die Hälfte Investiti-onsanteile. Ein solcher Haushalt fordert die politischeGestaltungskraft heraus.
Er fordert auch Verantwortung heraus. Wir meinen – dasist unsere generelle Kritik –, dass Sie vor allem im Ver-kehrsbereich die Prioritäten erneut falsch gesetzt haben.
– Ich komme noch auf die einzelnen Bereiche zu spre-chen.Der Bundesfinanzminister hat uns am Dienstagmor-gen zu verstärktem Optimismus aufgefordert. Bundes-minister Tiefensee hat erwartungsgemäß sein Alles-wird-gut-Lächeln aufgesetzt.
– Nein, Herr Kampeter. Auch wir wollen, dass eherHoffnungsträger als Bedenkenträger Konjunktur haben.Das ist keine Frage.
Es geht aber darum, erfüllbare Hoffnungen zu wecken,keine vorgetäuschten.Der hinter uns liegende Wahlsonntag hat doch Ihrengefühlten Aufschwung Lügen gestraft.
Die Wählerinnen und Wähler sehen diesen Aufschwung,von dem Sie pausenlos reden, nicht.
Jetzt will ich die einzelnen Bereiche durchgehen. Ichkomme zuerst zum Thema „Mobilität und Verkehr“. DieBundeskanzlerin hat ihre Regierungserklärung unter dasMotto „Mehr Freiheit wagen!“ gestellt.
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Roland Claus
Freiheit und Mobilität hängen zusammen. Aber es istheute bittere Realität, dass für eine Empfängerin vonArbeitslosengeld II die Freiheit schon an der Bushalte-stelle endet, weil sie die teurer gewordenen Fahrscheinenicht mehr bezahlen kann.
Deshalb wollen wir vor allem eine Frage in den Mit-telpunkt stellen, Herr Minister. Im Herbst dieses Jahressteht der geplante Börsengang der Bahn AG ins Haus.
Unsere Aufgabe ist die politische Begleitung dieses Pro-zesses.
Dieser Prozess wird wahrscheinlich eines Tages mit Ih-rem Namen verbunden sein, Herr Minister. Wir meinen,dass Sie damit bereit sind, die historische Fehlentschei-dung des Jahres 2006 zu treffen.
– Ich höre mit Wohlwollen, dass noch nichts entschiedenist, Herr Kollege. Aber ich kenne den Stand der Vorbe-reitungen.Wir wollen vor allem auf folgende Fakten aufmerk-sam machen: Sie rechnen gegenwärtig den Wert derBahn AG erheblich nach unten, Experten zufolge ummehr als das Zweieinhalbfache. Das ist nach unsererAuffassung ein Widerspruch zur Bundeshaushaltsord-nung.
– Ich denke, Sie wissen sehr wohl, dass das gründlichberechnet worden ist. Sie müssen sich nur die internenBerechnungen anschauen.
Sie sind laut Grundgesetz dafür verantwortlich, zu ge-währleisten, dass in Bezug auf die Bahn das Wohl derAllgemeinheit geachtet und den VerkehrsbedürfnissenRechnung getragen wird. Mit dem geplanten Börsen-gang der Bahn gefährden Sie aber Kundinnen und Kun-den und Beschäftigte der Bahn gleichermaßen.
In Art. 14 unseres Grundgesetzes heißt es, dass eineEnteignung nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässigist. Was Sie jetzt vorhaben, bedeutet die Enteignung vonVermögen der Bevölkerung.
Da sage ich Ihnen ganz deutlich: Die Bahn gehört nichtder Bundesregierung, sondern der gesamten Bevölke-rung.
An die Kolleginnen und Kollegen der Koalition ge-wandt möchte ich Folgendes feststellen: Ich hätte eigent-lich von Ihnen ein bisschen mehr Dankbarkeit erwartet.
Ich will Ihnen das erklären. Sie leben schließlich davon,dass es Opposition gibt. Ich erlebe aber seit Dienstag inden Haushaltsberatungen, dass Sie sich in der Auseinan-dersetzung mit den Liberalen oder den Grünen erkenn-bar künstlich aufregen müssen. Das merkt man Ihnen an.Mit uns müssen Sie sich aber so auseinander setzen, dassSie sich ehrlich aufregen können. Das ist doch wohl eingewisses Maß an Dankbarkeit wert.
Wir kritisieren ausdrücklich die Kürzung der Regio-nalisierungsmittel für die Verkehre in den Bundeslän-dern. Sie haben nun eine Diskussion über Fehlverwen-dungen eröffnet. Wir kennen ja den Verlauf solcherDebatten. Ich sage Ihnen dazu nur eines: Solange in die-sem Land Fördermittel für Golfplätze eingesetzt werdenund das als Investition in die Wirtschaft bezeichnet wird,so lange sollte niemand hier von Fehlverwendungen re-den.
Herr Minister, die Art und Weise, wie Sie sich zu denausstehenden 5 Milliarden Euro Schadenersatz im Zu-sammenhang mit dem Mautvertrag geäußert haben – Siehaben uns mit einem fröhlichen Lächeln darauf hinge-wiesen, dass wir hier noch ein paar Einnahmen zu erwar-ten hätten –, ist angesichts der Bedeutung dieses Vor-gangs etwas zu lax.
Im Bereich Bau- und Wohnungswesen gibt es vieleMaßnahmen, die wir bereits positiv gewürdigt haben.Ich will daran erinnern, dass wir uns in den zuständigenAusschüssen ausdrücklich für das CO2-Sanierungspro-gramm stark gemacht haben. Wir sind der Meinung, dassdie Mittel dafür erheblich aufgestockt werden sollten,und wir wollen Ihnen in den weiteren Haushaltsberatun-gen dazu Vorschläge machen. Wenn wie in diesem Fallein vernünftiger Schritt gegangen wird, dann können Sieimmer davon ausgehen, dass er die energische Unterstüt-zung der linken Opposition in diesem Hause findet.
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Roland ClausKritischer sehen wir nach wie vor die Fragen betref-fend den Bereich des Altschuldenhilfe-Gesetzes. Hierhaben sich viele in den letzten Jahren – ich nehme unsnicht aus – erheblich versündigt. Wir brauchen mehr Un-terstützung für die Wohnungsunternehmen. Wir werdenIhnen in Bälde einen entsprechenden Antrag vorlegen,der vorsieht, die bislang gültigen Fristen aufzuheben.Wir müssen zudem endlich die kommunale Investitions-kraft stärken. Das ist gerade für die Wohnungsbauwirt-schaft nicht unwichtig. Meine Fraktion wird deshalb imZuge der Haushaltsberatungen vorschlagen, erneut einekommunale Investitionspauschale in Höhe von 1,5 Mil-liarden Euro aufzulegen.
– Das bekommen Sie alles geliefert. Ich denke, Sie ha-ben sich inzwischen gründlich mit unserem Steuerkon-zept beschäftigt.
Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang auf einenFakt hinweisen: Unser Steuerkonzept sieht vor,
die Kommunen mit 20 Prozent am Mehrwertsteuerauf-kommen – von der Sünde, die Sie im nächsten Jahr be-gehen wollen, will ich gar nicht reden – zu beteiligen.Mit dieser Summe ließe sich Planungssicherheit schaf-fen.
Wir sind zudem mit den Plänen betreffend den Neu-bau des Bundesinnenministeriums – das wird ebenfallsden Einzelplan 12 tangieren – nicht einverstanden.Ich will noch einige Worte zum Aufbau Ost sagen.Diesbezüglich werden in der Koalitionsvereinbarungviele relativ gute Ziele gesetzt. Die Abteilung „Über-schriften“ hat ganze Arbeit geleistet.
– Leider nicht, Herr Kollege. – Nach der Beschreibungder Ziele heißt es aber nur, dass der bisherige Weg fort-gesetzt wird und dabei auf die bewährten Instrumentezurückgegriffen wird. Wenn die bewährten Instrumenteaber bislang nicht zu den Ergebnissen geführt haben, dieman sich wünscht, dann werden sie auch nicht den neuenZielen, die Sie in den Überschriften formuliert haben,gerecht werden.
Schauen wir uns einmal die Fakten an. Nach wie vorist die Industrieproduktion in Westdeutschland zehnmalhöher als die in Ostdeutschland. Wir haben es in Ost-deutschland mit einer verstetigten Abwanderung zu tun.Die Arbeitslosigkeit in Westdeutschland liegt im Durch-schnitt bei 8,5 Prozent, während sie in Ostdeutschlandbei 18,4 Prozent liegt. Da das Bundesministerium neueZahlen vorgelegt hat, kann ich allerdings den oft ge-machten Vorwurf entkräften, die neuen Bundesländerhätten eine zu hohe Personalkostenquote. Das ist nichtsanderes als eine Legende; denn aus den jüngsten Berech-nungen geht hervor, dass der Anteil der Personalkostenan den Landeshaushalten in Ostdeutschland bei26,3 Prozent, aber in Westdeutschland bei 40,6 Prozentliegt. Der Vorwurf geht also ins Leere.Die Absicht dieser Regierung, eine so genannteHartz-IV-Optimierung vorzunehmen – das darf mannicht ausblenden, wenn es um Ostdeutschland geht –,bereitet mir große Sorgen. Wenn davon gesprochenwird, die Arbeitsuchenden oder ALG-II-Bezieher sollennicht auf dumme Gedanken kommen können, dann weißich, dass das wieder eine Verschärfung der Diskriminie-rung und der Repression von Arbeitsuchenden bedeutet.
Dazu will ich eines sagen: Solange es in diesem Landeein legalisierter Volkssport ist, dass sich Begüterte beider Steuer arm rechnen – ich verweise nur darauf, dasseines der meistgekauften Bücher „1000 ganz legaleSteuertricks“ ist –, kann man es den Ärmsten der Gesell-schaft nicht vorwerfen, dass sie anwenden, was das Ge-setz hergibt. Wo kommen wir denn da hin?!
Leider ist es so – das wissen auch Sie –, dass gemäßden wichtigsten wirtschaftlichen Indikatoren sich dieSchere zwischen Ost und West seit 1997/1998 wiederöffnet. Deshalb schlagen wir ein Zukunftsinvestitions-programm „Jugend und Innovation“ für diesen Bereichvor. Dieses Programm wollen wir solide gegenfinanzie-ren. Ich will daran erinnern: Als wir im vergangenenJahr – da war von der Bundestagswahl eigentlich nochnicht die Rede – davon gesprochen haben, dass wir einsolches Zukunftsinvestitionsprogramm brauchen, habenSie schon diesen Begriff als sozialistisches Teufelszeugabgetan.
Inzwischen haben auch Sie sich damit angefreundet. Ichwill damit sagen: Wir werden die Probleme dieses Lan-des nicht weglächeln können, wir müssen uns ihnen stel-len – da hilft weder schwarz malen noch schönreden. Esmacht mir Sorgen, wenn ich mir anschaue, was die CDUmacht, wenn sie Regierungsverantwortung hat. In demBundesland, aus dem ich komme, Sachsen-Anhalt,
waren die ersten Schritte der damaligen CDU/FDP-Re-gierung, das Kinderförderungsgesetz zu verschlechternund ein Feststellenprogramm im Jugendbereich kurzer-hand auslaufen zu lassen. Das sind völlig falsche Wege.Deswegen haben Sie kein Recht, Innovation, Familien-
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Roland Clausfreundlichkeit oder Jugendfreundlichkeit als Überschriftfür Ihre Programme zu nehmen.
Es ist uns in diesen Haushaltsberatungen von Vertre-tern der Regierung und der Koalition gerade erneut vor-gehalten worden, ihre Haushalts- und Finanzpolitik seialternativlos. Wer so etwas behauptet, stellt sich selbstein Armutszeugnis aus und sollte nicht den Anspruch er-heben, in diesem Land etwas nach vorne bewegen zukönnen. Meine Damen und Herren, Politik ist immerMenschenwerk; deshalb ist sie nie alternativlos – es gehtimmer auch anders.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Hermann von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Herr Minister Tiefensee! Meine Da-men und Herren! Die große Koalition betont oft und im-mer wieder – auch heute haben wir es mehrfachgehört –, dass der Bereich Verkehr der zentrale Zu-kunftsbereich überhaupt ist. Ich will das durchaus unter-streichen; ich glaube, in diesem Punkt sind wir uns einig.In der Drucksache zur mittelfristigen Finanzplanungheißt es unter anderem:Bei den Verkehrsinvestitionen handelt es sich umeines der wichtigen Zukunftsfelder für den wirt-schaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Stand-ort Deutschland.Danach kommen weitere hehre Worte, die das alles un-terstreichen und betonen. Abgesehen davon, dass Ver-kehrspolitik nicht nur Standortpolitik sein kann, findeich, dass sich diese hehren Worte im Programm-Klein-Klein des Haushaltes nicht wirklich wiederfinden, undauch nicht in der mittelfristigen Finanzplanung.Herr Minister, Sie haben heute in Ihrer Rede vielfachdas Wort „Zukunft“ in den Mund genommen, übrigensauch sehr oft das Wort „nachhaltig“, wenn auch meistensnicht im Sinne von „ökologisch verträglich“ oder „sozialverträglich“, sondern eher im Sinne von „nachdrück-lich“; anscheinend ist es Ihnen aber nicht fremd. Sie ha-ben von wichtigen Zukunftsaufgaben gesprochen undich war gespannt, was Sie sagen würden. Erstaunlichfinde ich, dass Sie eine ganze Reihe von offensichtlichenZukunftsfragen überhaupt nicht angesprochen haben– Sie haben sie weder in Ihrer Rede thematisiert noch in-direkt, in Programmen –: Wenn die Prognose lautet, dassder Verkehr auf der Straße zunimmt, liegt es doch aufder Hand, dass man sich fragt: Wie können wir diesenVerkehr umweltverträglich und klimafreundlich organi-sieren? Was kann man da verbessern, was können wirtun? Das ist eine zentrale Frage.Wenn wir wissen, dass wir in allen Bereichen Erfolgin Sachen Klimaschutz erzielt haben, wie können wirdann den Klimaschutz beim Verkehr anders angehen, wodoch Jahr für Jahr immer mehr CO2-Emissionen zu be-klagen sind? Da braucht man doch ein Konzept. Damuss man als Regierung ran.
Eine weitere Frage: Wie sichern wir zukünftig Mobi-lität, wenn wir wissen, dass unser Verkehrssystem zuüber 90 Prozent auf der Nutzung und Vernutzung von Ölbasiert? Wenn das offenkundig ist, dann muss sich dieRegierung doch darüber Gedanken machen, wie Mobili-tät auch ohne Öl dauerhaft gesichert werden kann. Esweiß doch jeder, dass die Ölvorräte zu Ende gehen, Öl inabsehbarer Zeit ziemlich teuer wird und man es sichwahrscheinlich nicht mehr leisten kann, den Verkehr aufder bisherigen Basis zu organisieren. Das sind meinesErachtens große Zukunftsfragen. Um die sind Sie, HerrMinister, herumgeschlichen. Sie haben sie nicht wirklichgestellt, jedenfalls nicht in dem umfassenden Sinne, indem ich sie angesprochen habe. Ganz zu schweigen da-von, dass Sie Antworten gegeben hätten, was allerdingskein Wunder ist. Wer keine Fragen stellt, findet auchkeine Antwort.
Nehmen wir ein typisches Feld, um die Fragen abzu-arbeiten, den Schienenpersonennahverkehr. Sie wer-den in Ihren eigenen Veröffentlichungen ständig die For-mulierung finden, dass es für die Qualität der Städte, fürdie Lebensqualität, für die Menschen, die keine Autoshaben, und aus Klimaschutzgründen dringend notwen-dig wäre, den Schienenpersonennahverkehr zu fördern.Was aber tun Sie? Ausgerechnet in dem Bereich, in demdie Politik der letzten zehn Jahre über alle Fraktionenhinweg außerordentlich erfolgreich war, weil wir durchRegionalisierungsmittel, die jährlich gestiegen sind, die-sen Bereich gestärkt und weil wir den Ländern viel Geldgegeben haben, damit sie guten Nahverkehr organisierenund bezahlen können, also in einem Bereich, an demman erfolgreich zeigen kann, dass man Menschen zumUmsteigen vom Straßenverkehr auf den Schienenver-kehr bringen kann – heute benutzen 30 Prozent mehrMenschen den öffentlichen Personennahverkehr auf derSchiene –, setzen Sie mit Ihren Kürzungen an. Das istdoch absolut kontraproduktiv unter dem Gesichtspunkt,dass wir einen umweltfreundlichen und umweltverträgli-chen Verkehr wollen.
Sie kürzen in den nächsten Jahren die Regionalisie-rungsmittel sukzessive. In der Summe sind es in vierJahren 2,3 Milliarden Euro, in sechs Jahren – über die-sen Zeitraum geht Ihre Planung – sind es schon 3,3 Mil-liarden Euro. Das ist, wie ich meine, noch kein Kahl-schlag. Das will ich nicht behaupten. Aber wenn Sie indiesem System in diesen Zeiträumen um zwei bis3 Milliarden Euro kürzen, dann machen Sie viel kaputt.Dann wird in manchen Ballungsräumen jeder fünfte odersechste Zug einfach gestrichen werden müssen.
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2384 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 29. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2006
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Es wird natürlich zu Tariferhöhungen kommen, weil dieBahnen sonst nicht mehr bezahlbar sind.
Eine womöglich schlecht privatisierte Bahn wird Stre-cken stilllegen müssen, was dann gut zusammenpasst.
Man hat weniger Mittel und braucht deshalb auch nichtalle Strecken zu bedienen. Das ist die große Gefahr, diewir sehen.
Meine Damen und Herren, Kollege Kampeter, es isteiner der größten Fehler dieser großen Koalition, dasssie ausgerechnet im Nahverkehr die Mittel streicht.
– Doch, Sie streichen die Mittel drastisch. Sie waren üb-rigens der Erste, der das angekündigt hat. Sie haben unsdankenswerterweise vorgewarnt.Was wollen Sie? Sie sagen, Sie wollten die Mittel ef-fizienter einsetzen.
Gerne, wir sind dabei.
Um Effizienzgewinne zu erzielen und die Gelder präzisezu verwenden, hatten Sie aber genügend Zeit. Sie hättenschon längst die Länder in die Pflicht nehmen können.
Wir sind dabei, wenn es darum geht, konkret nachzuwei-sen, wo es Fehlverwendungen gibt. Es gibt einzelne Bei-spiele, aber es ist nicht so, dass in der Summe das Geldin den Ländern falsch verwendet wird. Es ist vielmehrmit viel Geld ein guter Nahverkehr organisiert worden.Das wollen wir fortsetzen. Es ist eigentlich eine Heraus-forderung dieser Zeit, den Nahverkehr auszubauen undzu verbessern, aber es kann nicht angehen, ihn zusam-menzustreichen.
Der nächste Bereich betrifft die Investitionen. DieKollegin Winterstein hat Ihnen, wie ich finde, zu Rechtvorgerechnet, dass man das nur auf der Grundlage eineraußerordentlich mickrigen mittelfristigen Finanzplanungmachen kann.
– Noch unter Rot-Grün? Wir haben ihr nie zugestimmt,weil sie in erheblicher Weise Eingriffe in die Schienen-infrastrukturinvestitionen bedeutet hätte. Das haben wirimmer kritisiert.Wenn man von dieser Basis ausgeht, dann haben Sieetwas draufgelegt. Wenn man aber gegenrechnet und die4 Milliarden Euro durch vier Jahre teilt, dann kommtman auf gerade einmal 1 Milliarde Euro. Wenn mannoch die 2 bis 3 Milliarden Euro herausrechnet, die Siebei den Regionalisierungsmitteln einsparen, dann ist ausder großen Infrastrukturinvestitionspackung ein kleinesPäckle geworden, wie wir in Schwaben sagen.Sie von der großen Koalition erwecken den Eindruck,dass Sie etwas tun. Aber Sie tun nichts. Es ist mir fastpeinlich, zu sagen, dass selbst Rot-Grün mehr für denStraßenbau getan hat, als Sie in den kommenden Jahrentun wollen.
Was den Schienenverkehr angeht, ist der Unterschieddrastisch. Im Schnitt wird hierfür eine halbe MilliardeEuro weniger als unter Rot-Grün in den letzten Jahrenausgegeben. So sorgen Sie weder für einen umwelt-freundlichen Verkehr noch für mehr Klimaschutz. Siewerden gar nichts erreichen, sondern eher Abstriche indenjenigen Bereichen machen müssen, die wir eigentlichfördern müssen.Nächster – und wahrscheinlich mein letzter – Punkt:Klimaschutz, Treibstoffe.
– Sie sagen „Gut so“. – Die Frage ist doch: Was könnenwir tun, um zum Beispiel mehr biogene Treibstoffe aufden Markt zu bringen? Was können wir tun, um andereAntriebssysteme, andere Technologien auf den Markt zubringen?
– Sie fördern sie, ja. Sie wollen sogar viel Geld für denBereich Wasserstoff zur Verfügung stellen. Für Biokraft-stoffe sollen gerade einmal 3 „Milliönchen“ Euro bereit-gestellt werden, obwohl diese Kraftstoffe in der Zukunfteine wesentliche Rolle spielen. Angesichts der Milliar-den, die Sie für die Infrastruktur ausgeben wollen, sind3 Millionen Euro einfach zu wenig.
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Winfried HermannAuch bei Ihnen muss doch irgendwann einmal an-kommen, dass moderne Verkehrspolitik nicht nur Infra-strukturpolitik ist. Man muss vielmehr auch in innova-tive Technologien gehen; denn dort entstehen dieArbeitsplätze von morgen.Herr Minister Tiefensee, Sie betonen immer wieder,dass Verkehrspolitik auch Arbeitsplätze schafft. Wirk-lich gefährdet sind diejenigen Arbeitsplätze in Deutsch-land, die etwas mit der Produktion von Öl fressendenAutos zu tun haben. Wir alle müssen uns doch Gedankenmachen, wie wir umweltverträgliche Autos, umweltver-trägliche Verkehrssysteme
und die umweltverträgliche Verknüpfung der verschie-denen Verkehrsteilnehmer organisieren und fördern. Da-für tun Sie mit diesem Haushalt deutlich zu wenig.
Ich komme zum Schluss.
Ich will zusammenfassend sagen: Anstatt mit einer gutenPolitik, die innovative Konzepte, das Spritsparen undneue Technologien fördert, Schritt für Schritt vom Ölwegzugehen, streichen Sie bei den Mitteln für denSchienenverkehr. Anstatt wirklich moderne Mobilitäts-konzepte zu entwickeln, setzen Sie letztendlich dochnur auf die alte Infrastruktur, im Wesentlichen auf dieStraße.Mir ist völlig klar, dass eine moderne Verkehrspolitiknicht allein von Politikern gemacht werden kann. Dabeimüssen auch Menschen mitmachen, die das Leitbild derNachhaltigkeit leben. Aber man muss sich natürlichauch im Kopf bewegen. Meine Damen und Herren vonder großen Koalition, ich muss Ihnen schon sagen: Einbisschen mehr Mobilität im Kopf in der Verkehrspolitiktäte Ihnen gut.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Beckmeyer von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Angesichts des Volumens dieses Haushaltes mussman den Oppositionspolitikern erst einmal sagen: Ver-gleichen Sie ihn mit den Vorgängerhaushalten!
Die Vorgängerhaushalte hatten ein deutlich geringeresVolumen; wir haben es dagegen mit einem Aufwuchs zutun.Herr Hermann, der hochverehrte Kollege AlbertSchmidt hat, als wir noch in einer Koalition waren, zumletzten Haushalt gesagt, der Vorgängerhaushalt habezwar am seidenen Faden gehangen, aber der Haushalt2005 hänge an einem dicken Tau. Was sagen wir denn zudiesem Haushalt? Das Tau ist noch viel dicker gewor-den.
Der Aufwuchs dieses Haushaltes ist erheblich. Insofernhaben wir ein großes Stück erreicht.Noch unter der alten Koalition wurden zusätzlich2 Milliarden Euro für den Verkehrshaushalt mobilisiert.Diese Koalition will noch mehr Mittel bereitstellen. Unddas ist auch gut so, weil Deutschland seine Infrastrukturfür die Ökonomie dieses Landes und für die damit ver-bundenen Arbeitsplätze – sie entstehen direkt, aber auchindirekt, zum Beispiel Systemindustrie – weiterentwi-ckeln muss. Das Prinzip der Verstetigung ist ein zentra-ler Punkt.Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode im-mer wieder Probleme gehabt – man muss es einmalnüchtern sagen; das ist auch beklagt worden –: Malmusste die Rente finanziert werden. Dann gab es eineglobale Minderausgabe, die umgesetzt werden musste.Der Verkehrshaushalt war immer mit einem Viertel da-bei. Dies gilt es auf Dauer zu vermeiden.
Jetzt kommt 1 Milliarde Euro obendrauf, um diesesAuf und Ab im Verkehrsbereich, diese Unsicherheitenbezüglich der Höhe der Investitionen zu reduzieren. DieAbsicht und das klar erklärte Ziel dieser Koalition lau-ten: Verstetigung auf höherem Niveau.
Wichtig ist auch, dass wir im Koalitionsvertrag ge-meinschaftlich endlich klar gemacht haben: Investitio-nen in die Verkehrsinfrastruktur sind keine Subventio-nen. Ich sage das, damit ja niemand mehr, obMinisterpräsident oder wer auch immer, auf diese Ideekommt.
Bei den Ausgaben für die Wirtschaftsstruktur handelt essich um Investitionen; es sind keine Subventionen.
Wir brauchen hierüber Klarheit. Wir haben sie gemein-schaftlich geschaffen.Investitionen in die Verkehrsträger sind notwendig.Wir haben festzustellen, dass die Mittel, die wir hier in-vestieren, auskömmlich sein werden. Weil auch an die-ser Stelle immer wieder Kritik von der Oppositionkommt, will ich noch einmal festhalten: Wir haben esmit einem integrierten Verkehrskonzept, mit einem inte-grierten Ansatz der Verkehrspolitik in Deutschland zu
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Uwe Beckmeyertun. Insofern ergänzen sich die Investitionen in dieStraße mit den Investitionen in die Schiene und den In-vestitionen in die Wasserstraße.Was man auch festhalten muss: Der Bundesverkehrs-wegeplan, die Fünfjahrespläne und die jährlichen Inves-titionsansätze, auf die das Ganze heruntergebrochenwird, vermitteln die klare Erkenntnis, dass wir nicht nurNeubauten finanzieren, sondern dass wir immer auch dieUnterhaltungs- und Sanierungsmaßnahmen
auf der Agenda haben. Das sage ich vor dem Hinter-grund des Vorwurfs, der aus der Öffentlichkeit so wiederin dieses Haus schwappt: Ihr unterhaltet eure Infrastruk-tur nicht richtig. – Im Haushalt ist das fast fifty-fifty!
Ich will etwas zu dem Konjunktureffekt sagen. DerMinister sprach vorhin von starken Effekten auch fürden Mittelstand. Dieser Einzelplan, der Verkehrshaus-halt, hat enorme konjunkturelle Effekte. Wir Parlamenta-rier haben schon im vergangenen Jahr, im November/Dezember, darauf gedrungen, dass möglichst viele Pro-jekte aus dem Bundesverkehrswegeplan angefangenwerden, um auf diese Art und Weise das Problem desHaushalts 2006, der seine Wirksamkeit erst im Juli ent-falten wird, zu überbrücken, damit wir schon jetzt Auf-träge erteilen können, ohne gegen die Haushaltsordnungzu verstoßen, damit wir schon jetzt Investitionen in dasLand bringen. Auch das ist ein ganz wesentlicher Punkt,der hier heute benannt werden muss.
Wir wollen, dass die Systemindustrien, ob Eisenbahn-industrie oder die Industrien, die sich mit dem Auto-bahnbau beschäftigen, wissen, dass wir diese Versteti-gung, diese Kontinuität im Ausgabeverhalten, imInvestitionsverhalten der Bundesrepublik auch für dieZukunft aufrechterhalten wollen.Die Infrastrukturplanungsbeschleunigung ist einganz wesentliches Thema. Wir wollen mit diesem Instru-ment schneller werden – das will ich unterstreichen –,aber wir setzen weiter darauf, dass auch noch das eineoder andere im nachgelagerten Bereich schneller wird.Wir müssen darüber nachdenken, ob das deutsche Verga-berecht nicht am Ende dazu führt, dass die Beschleuni-gung in der Infrastrukturplanung durch Klagen ausge-schiedener Wettbewerber wieder zunichte gemacht wird.Hier müssen wir gegebenenfalls auf eine Änderungdrängen. Das ist ein Thema, dem sich der Gesetzgebermöglicherweise in einem zweiten Durchgang noch zu-wenden muss, weil sonst der beabsichtigte Effekt sowieder aufgehoben wird.Maritimes Bündnis. Das ist ein gutes Beispiel dafür,wie zwischen Wirtschaft und Politik eine über Jahre ver-lässliche Verabredung getroffen werden kann. Dadurchist in diesem Feld der deutschen Verkehrswirtschaft in-zwischen Hervorragendes geleistet worden. Die Rück-flaggungsquote ist enorm hoch. Von dem volkswirt-schaftlichen Nutzen profitiert der Finanzminister indreistelliger Millionenhöhe. Ich denke, das eine oder an-dere davon sollte auch, wie in der Maritimen Konferenzversprochen, bei der Wirtschaft ankommen.
Zum Thema Kapitalprivatisierung. Bei der Kapital-privatisierung der Deutschen Flugsicherung befindenwir uns in der letzten Kurve. Das ist ein ganz wesentli-cher Punkt, weil wir mit der Deutschen FlugsicherungOptionen in Europa nutzen wollen. Eines der bestenFlugsicherungsunternehmen der Welt hat die Chance,sich auch in Europa zu bewähren, zu wachsen und aufdiese Weise noch mehr Sicherheit in den europäischenLuftraum hineinzutragen.
Zur Kapitalprivatisierung bei der Deutschen Bahn.Ich würde niemals mehr von einem Börsengang reden.Wer das tut, ist ein bisschen neben der Spur. Das ist eininteressanter Vorgang, bei dem wir aber, bitte schön, un-seren Grundgesetzauftrag genau im Auge behalten müs-sen. Das nehmen wir Sozialdemokraten und die gesamteKoalition sehr ernst. Das betrifft die Frage der Risikoab-grenzung, der Risikoeinschätzung und gleichzeitig dieFragen: Was bringt uns das? Welche Erträge haben wirund wie viel macht das Fresh Money aus, das bei derDeutschen Bahn ankommt? Das gilt es ganz nüchternabzuarbeiten.Wir sind in der Politik gut beraten, uns bei Modellenvon Emotionen frei zu machen und die anstehenden Fra-gen anhand von Kriterien sauber abzuarbeiten, sodasswir am Ende ein gutes, passendes Ergebnis haben, mitdem wir sowohl in ökonomischer als auch in politischerHinsicht in der Bundesrepublik bestehen können. Dasist, glaube ich, ein ganz wichtiger und nicht zu unter-schätzender Punkt.
Zu den neuen Elementen. Ich habe nicht ganz ver-standen, Herr Hermann, was Sie damit meinten, der Mi-nister habe nicht über Innovationen und über Neues ge-sprochen. Er hat über Wasserstofftechnologie undBrennstoffzellentechnologie gesprochen, für die einenormer Investitionsaufwand betrieben wird – nicht nurim Bereich des Verkehrsministeriums, sondern auch imBereich des Forschungsministeriums. Insgesamt werdenhier in der nächsten Zeit öffentliche, aber auch privateGelder in dreistelliger Millionenhöhe mobilisiert. Das istein entscheidender Punkt.
Die Forschungsmittel werden also aufgestockt, wassich auch bei den Innovationen zeigt. Dadurch werdenneue Impulse in der Wirtschaft gesetzt.
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Uwe BeckmeyerAußerdem: Umweltmotoren für die Binnenschiff-fahrt, ist das nichts Neues? Das ist ein Thema, zu demwir so schon in der Vergangenheit Überlegungen ange-stellt haben und das sich demnächst auch im Haushaltwiederfindet.Ich will an dieser Stelle noch etwas Weiteres zu neuenElementen sagen. Wir beraten den Haushalt heute in ers-ter Lesung. Im Koalitionsvertrag steht – das will ich dickunterstreichen – etwas zum Masterplan Logistik – einThema, das in Deutschland viel mehr Aufmerksamkeitverdient, als wir ihm in der Vergangenheit vielleicht ha-ben zuteil werden lassen. Um den Masterplan Logistikwird sich das Verkehrsressort sehr verdient machen,wenn wir dieses Thema jetzt gemeinschaftlich anschie-ben. Bereits im Haushalt 2006 muss es dafür einen ei-genständigen Titel geben. Wir müssen in dieser Fragejetzt die Kräfte derer bündeln, die mit uns gemeinsamdiesen Masterplan anschieben wollen. Wir brauchen ei-nen nationalen Auftritt. Bisher gibt es einzelne Aktivitä-ten der Bundesländer. Aber in anderen Ländern ist es derNationalstaat, der sich entsprechend aufstellt. Ichglaube, es wäre gut, wenn Deutschland seine Stärkenüber einen nationalen Masterplan Logistik besser heraus-arbeiten und präsentieren würde.
Das nächste Thema ist im Haushalt schon berücksich-tigt. Die damit verbundenen Bemühungen müssen mei-nes Erachtens aber noch verstärkt werden, nämlich: Wastun wir gegen Lärm? Lärm stellt eine hohe Belastungdar und sorgt für große Akzeptanzprobleme beim ThemaVerkehr. Wenn wir den Bürgern nicht vermitteln, dasswir uns bei der Frage der Lärmvermeidung und Lärmbe-kämpfung noch mehr anstrengen, werden wir langfristigoder auch schon kurz- oder mittelfristig Probleme hin-sichtlich der Akzeptanz von zusätzlichem Verkehr ha-ben, den es in Zukunft geben wird. Darum bin ich derMeinung, dass wir auch im Sektor Lärmvermeidung undLärmbekämpfung ein wenig mehr zulegen müssen. Wirwerden das mit der großen Koalition auch schaffen.
Ich komme nun zum Thema Binnenschifffahrt. Wirhatten einen langen und kalten Winter. Die Binnenschiff-fahrt hat daher unsere Unterstützung verdient.
Die Kollegen, die in beiden Fraktionen der großen Ko-alition in diesem Bereich tätig sind, warnen vor Schädenaufgrund der sehr langen Aufliegezeiten der Schiffe. Vorvielen Jahren gab es das Instrument der so genanntenEishilfe. Wir sollten dieses Instrument im Rahmen derBeratungen des Haushalts 2006 zur Sprache bringen undes vielleicht nutzen.
Ich denke, es lohnt sich, darüber nachzudenken. Es han-delt sich zwar nicht um sehr große Beträge. Aber es isteine Geste gegenüber diesem wichtigen Wirtschafts-zweig.Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen. Esgeht um die Kapitalprivatisierung der Deutschen Flug-sicherung. Ich darf sowohl dem Verkehrsminister alsauch dem Finanzminister danken, dass es im Zusam-menhang mit der Vorbereitung der Kapitalprivatisierunggelungen ist, das Bundesamt für Flugsicherung so stabilaufzustellen, wie es nötig ist, um im Zuge einer Kapital-privatisierung, einer entsprechenden Beleihung derDeutschen Flugsicherung, die staatlichen Aufgaben wieÜberprüfung und Kontrolle in qualitativ hochwertigerWeise wahrzunehmen.Die Beratungen in den Ausschüssen werden zeigen,welche Einzelvorschläge noch auf den Tisch des Hauseskommen. Wir werden sie sachgerecht beraten und dannin der zweiten und dritten Lesung abschließend behan-deln.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister Tiefensee, ich muss Ihnen zunächst einmaldafür danken, dass Sie etwas in den Diskussionsprozesswieder eingebracht haben, von dem ich gedacht habe, essei vergessen worden, nämlich das Thema Transrapid.Ihre Einlassung habe ich wohlwollend aufgenommen.Spannend wird es allerdings, wenn man Faktenschafft. Bleibt es bei der Festlegung von Rot-Grün, dassder Transrapid München ein regionales Projekt ist?Bleibt es dabei, dass maximal 550 Millionen Euro finan-ziert werden? Wie wird die Differenz zu den eigentli-chen Baukosten beglichen? Wenn das geklärt ist, kannman sich freuen. Aber bis dahin ist es ein Schattenboxenauf hohem Niveau.
Ich komme nun zu dem Haushalt und zu den Zahlen.Wenn Ihre Aussagen nicht ganz falsch sind, dann hattenwir im Jahre 2004 im Haushalt des Verkehrsministerseine Istausgabe für Investitionen in Höhe von 9,5 Mil-liarden Euro. Im Jahr 2005 waren wir bei 9 MilliardenEuro. Für das Jahr 2006 werden wiederum 9 MilliardenEuro erwartet. Das ist für mich kein Aufwuchs, sondernbestenfalls eine Stagnation gegenüber 2005. Gegenüber2004 ist es sogar weniger.Um den Haushalt einzuordnen, darf ich den KollegenDirk Fischer zitieren. In seiner Rede zum Haushalt desJahres 2005 kommt er zu der bemerkenswerten Erkennt-nis:
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Horst Friedrich
Die für 2005 vorgesehenen Investitionsmittel de-cken die Kosten für Neu-, Ausbau- und Instandhal-tungsmaßnahmen nicht einmal ansatzweise.
Er sagt ferner:Der drastische Investitionsrückgang ist Folge einesverantwortungslosen Gesetzesverstoßes.
– Herr Kampeter, es ist schon beachtlich, dass Sie alshaushaltspolitischer Sprecher mir gerade erklären, dassder Unterschied zwischen 9 Milliarden Euro und 9 Mil-liarden Euro eine Erhöhung ist. Wenn das Ihre Mathema-tik für die Haushaltssanierung ist, dann wundert mich al-lerdings nichts mehr.
Ich zitiere weiter:Der drastische Investitionsrückgang ist Folge einesverantwortungslosen Gesetzesverstoßes. Hier standzu Recht § 11 des Mautgesetzes im Mittelpunkt derDiskussion.Da frage ich mich, Herr Kollege Fischer: Wo bleibt dennIhr Gesetzentwurf, um Verstöße gegen § 11 Mautgesetzzu sanktionieren? Sie haben doch jetzt die Mehrheit. Ichwarte immer noch darauf. Wenn das, was Sie gesagt ha-ben und was ich inhaltlich voll teile, für 2005 gegoltenhat, dann gilt es in gleicher Weise für 2006.
Ich habe den Eindruck, Sie versuchen das Ganze zuübertünchen, indem Sie jetzt schnellere Planungsverfah-ren fordern. Das ist wunderbar. Ich stimme Ihnen vollund ganz zu, dass wir die Verfahren beschleunigen müs-sen und dass wir in ganz Deutschland ein einheitlichesPlanungsrecht brauchen. Aber das löst nicht das Problemder fehlenden Mittel. Allein mein geliebtes HeimatlandBayern hat, wenn der zuständige Minister für Straßen-bau Recht hat, einen Bestand von planfestgestellten Pro-jekten im Straßenbau, die ein Volumen von750 Millionen Euro haben. Er bräuchte eigentlich garkeine neuen Planungen; er bräuchte mehr Geld. Nur, dasbekommt er nicht; denn die Investitionshöhe ist gleich.Ich habe schon den Eindruck, dass Sie jetzt mit IhrerÄnderung des Planungsvereinfachungsgesetzes versu-chen, ein bisschen davon abzulenken, dass Sie offen-sichtlich nicht in der Lage sind, das umzusetzen, wasman mit der Maut eigentlich erreichen wollte.
– Herr Kollege Kampeter, ich bin davon ausgegangen,dass der Kollege Fischer das, was er vor der Bundestags-wahl zur Maut gesagt hat,
nach der Bundestagswahl umsetzt. Wir reden über einenBetrag von schätzungsweise 2,2 bzw. knapp3 Milliarden Euro, der von dem damals amtierenden Fi-nanzminister, bevor die Maut eingeführt wurde, abge-senkt wurde, um danach durch die Einnahmen aus derMaut ersetzt zu werden.
Von zusätzlichen Mitteln ist nicht die Rede; das alles ha-ben Sie mit beschlossen.Lassen Sie mich noch zwei Sätze zum Thema Bahnsagen. Wir haben jetzt erleben dürfen, dass das Ergebnisdes Jahres 2005 vorliegt und als sensationeller Erfolg imVergleich zur Planung gefeiert wurde. Richtigerweisemüsste man fragen, mit welcher Planung das Ergebnisverglichen wird. Die für Morgan Stanley zugrunde lie-gende mittelfristige Planung sah zu diesem Zeitpunkt ei-nen Betriebsergebnis-II-Betrag von 1 Milliarde Euro vor.Morgan Stanley hat daraus geschlossen, dass die Pla-nung nicht ausreichend ist. Dann hat man in zwei weite-ren Planungen das Ergebnis auf 420 Millionen Euro re-duziert. Jetzt erreicht man mit 448 Millionen Euro dieZiellinie. Die Steigerung des Ergebnisses ist zwar rich-tig, löst das Problem aber nicht. Denn alle sind sich ei-nig, dass die Bahn erst dann börsenfähig wäre, wenn dasBetriebsergebnis II bei 2,4 Milliarden Euro läge. Dahinist es noch ein weiter Weg. Auch den sollten wir uns zuGemüte führen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Bartholomäus Kalb
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Minister, ich will einige wenige Punkte ausIhrer Rede aufgreifen. Sie haben in besonderer Weise aufdie Bedeutung der Verkehrsinfrastrukturinvestitionenhingewiesen. Sie haben die Bedeutung dieses Haushaltssehr zu Recht als Investitionshaushalt schlechthin her-vorgehoben. Sie haben am Beispiel des Verkehrswege-planungsbeschleunigungsgesetzes herausgestellt, wiewichtig es ist, dass Investitionen sehr schnell zur Aus-führung kommen.Wir haben in diesem Jahr ein besonderes Problem,weil wir unter dem Zeichen der vorläufigen Haushalts-führung stehen. Die Bundesregierung bzw. die Ressortshaben vernünftige Regelungen getroffen, um laufendeMaßnahmen zügig und ununterbrochen fortführen zukönnen. Dafür möchten wir uns ganz herzlich bedanken.Wir halten dies im Interesse des Vorankommens der Pro-jekte, aber auch im Interesse der beteiligten Unterneh-
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Bartholomäus Kalbmen, die auf diese Aufträge natürlich angewiesen sind,für ganz wichtig.Ich möchte die Aufmerksamkeit auf einen weiterenPunkt lenken: auf das In-Gang-Setzen neuer Maßnah-men. Dies ist etwas komplizierter, weil wir hier in be-sonderer Weise Art. 111 des Grundgesetzes zu beachtenhaben. Aber nach meiner Überzeugung ist es auch hiermöglich, in Übereinstimmung mit Art. 111 des Grundge-setzes zu Lösungen zu kommen, die uns in der Praxisweiterhelfen. Nach bisherigem internen Regelwerk– schade, dass jetzt kein Vertreter des Finanzministeri-ums da ist; denn meine Aussage richtet sich auch an dasFinanzministerium – ist es so, dass, ehe beispielsweisedie DB AG oder ein anderer Maßnahmeträger Aus-schreibungen tätigen kann, die entsprechenden Finanzie-rungsvereinbarungen und -zusagen vorhanden sein müs-sen.Ich bin der Meinung – ich habe das vergaberechtlichprüfen lassen –, dass es in dieser Sondersituation durch-aus möglich ist, schon vorher Ausschreibungen zu täti-gen – natürlich unter dem Haushaltsvorbehalt; das mussdem Bieterkreis vorher bekannt sein –, um dann schnellhandeln zu können, wenn der Haushalt in Kraft getretenist. Das wird aller Voraussicht nach erst Mitte Juli diesesJahres der Fall sein. Wenn es nicht gelingt, zu einer sol-chen pragmatischen Vorgehensweise zu kommen, hättenwir das Problem, dass faktisch vor Mitte Juli nicht aus-geschrieben und konsequenterweise vor Mitte Oktoberkeine Aufträge vergeben werden könnten. Das kannnicht in unserem Sinne sein.
Ich denke, so, wie ich es dargestellt habe, vorzugehen,ist vergaberechtlich zulässig und steht in Übereinstim-mung mit Art. 111.Ich fordere die Bundesregierung auf, diesen Weg zubeschreiten, damit wir entsprechend schnell die notwen-digen Investitionen tätigen können, zumal, Herr KollegeHübner und Herr Kollege Königshofen, die Bericht-erstatter der Koalitionsfraktionen in keiner Weise dieAbsicht haben, bei den Mittelansätzen für den investivenBereich bezogen auf die Verkehrsinfrastruktur Kürzun-gen vorzunehmen. Dies möchte ich als Botschaft an dasHaus weitergeben.Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen. Der Kol-lege Friedrich hat das Thema Transrapid bereits aufge-griffen; Sie, Herr Minister, haben dies dankenswerter-weise selber angesprochen. Ich bin sehr dankbar, dass inden Erläuterungen zur Titelgruppe 03 nach wie vor zulesen ist – ich zitiere –:Der Transrapid ist nicht nur ein innovatives Ver-kehrsprojekt, sondern auch ein Symbol für die Leis-tungsfähigkeit des Industriestandortes Deutschland.Bei dem einschlägigen Titel 882 31 heißt es weiter:Die Planung und Realisierung von Anwendungs-strecken für die Magnetschwebebahntechnik dientder Sicherung der Magnetschwebebahntechnik undliegt im Interesse des Technologievorsprungs, desErhalts der Arbeitsplätze und der Sicherung des In-dustriestandortes Deutschland.Ich möchte dies ausdrücklich unterstreichen, weil esdeutlich macht, dass es sich bei dem jetzt ins Auge ge-fassten Projekt in München nicht um ein lokales bzw. re-gionales Interesse handelt, sondern um ein nationales In-teresse. Ich denke schon, dass es richtig ist, diesesSystem, dessen Entwicklung hier mit Milliardenbeträgenunterstützt worden ist, auch in Deutschland zur Anwen-dung zu bringen. Ich gehe jetzt nicht darauf ein, warumes bei den anderen zunächst geplanten Anwendungsstre-cken nicht zur Realisierung kam. Es ist aber schon ei-genartig, wenn man die Interessenten aus aller Welt nachShanghai einladen muss, um dort eine deutsche Techno-logie zu besichtigen. Es sei mir ein leiser Hinweis gestat-tet: Wenn wir uns nicht beeilen, jetzt selber zum Zuge zukommen, dann werden wir gewollt oder ungewollt– wahrscheinlich mehr ungewollt – einen riesigen Ver-lust an Know-how erleben. Das wollen wir nicht.
Die Frau Bundeskanzlerin hat gestern noch einmaldeutlich gemacht, dass es wichtig ist, die erzielten Er-gebnisse im Forschungs- und Entwicklungsbereich, diewir mit entsprechenden Mitteln unterstützt haben, zunutzen, indem wir sie zugunsten der Entstehung von Ar-beitsplätzen zur praktischen Anwendung bringen.
Herr Kollege Kalb, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Lührmann?
Gerne.
Bitte schön, Frau Lührmann.
Herr Kollege Kalb, ich habe eine Frage zum ThemaTransrapid. Sie haben vorhin nur einen Teil der Erläute-rungen vorgelesen. In den Erläuterungen wurde bisherkonkretisiert, dass die Mittel für die Transrapidstrecke inBayern erst dann freigegeben werden sollen, wenn einGesamtfinanzierungs- und Wirtschaftlichkeitskonzeptvorliegt. Dieser Teil der Erläuterungen ist nun aufWunsch der Berichterstatter der großen Koalition ge-strichen worden. Vielleicht können Sie mir sagen, wodieses Gesamtfinanzierungs- und Wirtschaftlichkeits-konzept vorliegt und wie es genau aussieht.
Ich habe dies weder von der großen Koalition bzw. vonder Bundesregierung noch von der bayerischen Regie-rung vorgelegt bekommen.
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Erstens. Wenn Sie mir die notwendige Redezeit zubil-
ligen könnten, hätte ich die Erläuterungen komplett vor-
gelesen. So viel Redezeit habe ich aber leider nicht.
Zweitens. Wir sind bei dem Projekt München sehr
weit vorangekommen; das wird nicht bestritten. Sie wis-
sen, dass jetzt die Verfahren beginnen und dass die öf-
fentliche Auslegung der Unterlagen erfolgt. Natürlich
müssen die letzten Feinheiten beim Finanzierungskon-
zept noch zwischen dem zuständigen bayerischen Minis-
terium, Herrn Bundesminister Tiefensee und dem ver-
mutlichen Projektträger, der DB AG, abgestimmt
werden. Wir sind aber sehr weit vorangekommen. Bis
wir den Bundeshaushalt zum Abschluss bringen, werden
wir hier klarer sehen.
Nach meiner festen Überzeugung haben wir keine
Zeit mehr zu verspielen, wenn wir hier nicht ins Hinter-
treffen geraten wollen. Ich könnte fast boshaft sagen:
Ansonsten kommt „Commander Wu“ und sagt: Wenn ihr
es nicht könnt, dann realisiere ich das bei euch. – Das
sollten wir eigentlich vermeiden.
Herr Minister Tiefensee hat vorhin zu Recht darauf
hingewiesen, bei welchen Technologien wir in Deutsch-
land Schwerpunkte setzen können. Der Transrapid ist ein
Beispiel von denen, die vorhin schon genannt wurden.
Er ordnet sich in den Gesamtbereich von Verkehrs-, Sys-
tem- und Verkehrsleittechnologie ein. An dieser Stelle
sei beispielsweise auf Galileo verwiesen. Das ist in sich
stimmig.
Wir tun gut daran, einen Blick über die Grenzen zu
werfen und von unseren Nachbarn zu lernen. Wenn ich
nach Frankreich schaue, dann fällt mir auf, dass dort eine
konsequente Industrie-, ich würde sogar sagen: Techno-
logiepolitik betrieben wird und Schwerpunkte gesetzt
wurden. In den Bereichen Luft- und Raumfahrt,
Nuklearenergie – Stichwort „Kernfusionsforschung“ –
und Biotechnologie hat die französische Nation zahlrei-
che Schwerpunkte herausgebildet. Ich bin der Meinung,
dass es uns gut ansteht, unsere Chancen in den Berei-
chen, in denen wir Stärken haben, zu nutzen. Wir müs-
sen unsere Stärken zur Anwendung bringen und Akzente
setzen. Herr Bundesminister, hierin weiß ich mich mit
Ihnen einig. Wir sollten diesen Weg weiter voranschrei-
ten.
Gerne hätte ich jetzt noch ausführlicher zur VIFG,
der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft,
Stellung genommen. Ich bin der Meinung – es ist fast et-
was gewagt, wenn das ein Haushälter sagt –, dass wir
hierzu noch verstärkt Diskussionen führen sollten, um
bei diesem Thema voranzukommen und diese Gesell-
schaft geschäftsfähig, handlungsfähig zu machen.
Das steht im Zusammenhang mit dem, was wir bei
der DB AG vorhaben. Hier müssen ebenfalls weitere
Schritte eingeleitet werden. Ein Vorbild könnte die
ASFINAG in Österreich sein.
Wir sollten nicht mit Scheuklappen an das Thema heran-
gehen. Es geht darum, die Effizienz zu steigern sowie
mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln sparsam
und wirksam umzugehen.
Ich danke Ihnen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Peter Hettlich von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Sehr geehrte Da-men und Herren! Nach der Verkehrspolitik komme ichjetzt zur Baupolitik. Ich habe der Rednerliste entnom-men, dass Petra Weis und Joachim Günther, beides aus-gewiesene Bauexperten, folgen. Ich werde mich in mei-ner Rede also mit dem Aspekt des Stellenwertes derBaupolitik in diesem Haushaltsentwurf beschäftigen.Man muss vorwegschicken, dass man zwar über daseine oder andere diskutieren kann, es von unserer Seiteaber relativ wenig Kritik gibt. Der Aufwuchs beim CO2-Gebäudesanierungsprogramm zur Förderung derenergetischen Sanierung zum Beispiel ist ein großerSchritt in die richtige Richtung. Und das tragen wir ganzsicher mit.
Allerdings bin ich der Meinung, dass man sich bei derFrage, wie viel Geld am Ende tatsächlich in das Pro-gramm fließt, nicht Taschenspielertricks bedienen sollte:Im Koalitionsvertrag war noch von mindestens1,5 Milliarden Euro die Rede; im Haushaltsentwurf sind1,4 Milliarden Euro gelistet. Ich denke, es wäre ehrli-cher, von 1 Milliarde Euro zu sprechen. Auf jeden Fallist das aber ein deutlicher Aufwuchs. Das Ziel, das damitverfolgt wird, ist richtig.Wir müssen kritisch beäugen – das ist eine der zentra-len Aufgaben –, ob die KfW-Mittel am Ende dieses Jah-res auch tatsächlich abgerufen wurden, ob man mit einerweiteren Zinsvergünstigung tatsächlich eine größereNachfrage bewirken kann. Wir haben aufmerksam regis-triert, dass die Zuschüsse erst einmal nur für die Jahre2006 und 2007 festgeschrieben wurden. Wir werden ge-nau schauen, ob sich diese Packung zumindest bis zumEnde Ihrer Legislaturperiode als haltbar erweist. Wie ge-sagt: Es ist der richtige Schritt in die richtige Richtung.
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Peter HettlichAn dieser Stelle will ich ein wenig abschweifen. Wirhaben uns im Nationalen Allokationsplan und im Kioto-protokoll verpflichtet, den CO2-Ausstoß im Bereich Ge-bäudewirtschaft von 123 Millionen Tonnen auf lediglich120 Millionen Tonnen zu senken. Aus meiner Sicht istdas zu wenig. Wir müssen in den nächsten Jahren erheb-lich mehr tun,
auch jenseits von Fördergeldern. Ich appelliere an alle:Wir müssen uns überlegen, was uns Klima und Klima-schutz wert sind. Wir können nicht nur dann reagieren,wenn es eine staatliche Förderung gibt. Fördermittel sindals Anstoß sicher wichtig. Aber jeder hier im Raum istan seiner eigenen Verantwortung gepackt, an dieserStelle etwas für sich selber, für seine Kinder und Kindes-kinder und für die Zukunft unserer Welt zu tun.
Außerdem ist noch einmal ganz deutlich geworden– die Debatten über die steigenden Energiepreise in denletzten Wochen und Monaten haben das gezeigt –, dassÖkologie und Ökonomie absolut kein Widerspruch sind,sondern sich gegenseitig bedingen. Es ist ganz eindeutig,dass Energieeffizienz und vor allen Dingen der Einsatzvon regenerativen Energien in Verbindung mit Kraft-Wärme-Kopplung die Themen sind, mit denen wir unsin den nächsten Jahren gerade in der Gebäudewirtschaftsehr stark und intensiv beschäftigen müssen. An diesesFeld müssen wir energisch und noch sehr viel stärker he-rangehen.Ich möchte meinen zweiten Punkt der Zukunft derStadt widmen. Herr Minister Tiefensee hat das Themagerade angesprochen. Aus meiner Sicht liegt hier eineder zentralen Aufgaben. Auch hier – das muss ich sa-gen – kommt der Haushaltsentwurf unseren Anforderun-gen durchaus entgegen. Der Stadtumbau Ost ist eine an-strengende Aufgabe und wird weiterhin sehr aufwendigbleiben, aber auch der Stadtumbau West – das habe ichschon in vorhergehenden Reden gesagt – wird uns in dennächsten Jahren immer stärker beschäftigen. Aus diesemGrund ist es richtig, dass im Haushalt die entsprechen-den Akzente gesetzt wurden.Ich muss noch einmal ausdrücklich betonen, dass ichmich freue, dass für das Programm „Soziale Stadt“ fürdas nächste Jahr ein Aufwuchs geplant ist. Meiner Mei-nung nach, liebe Kollegin Winterstein, sind auch dieModellvorhaben im Rahmen dieses Programms durch-aus wichtig und haben ihre Berechtigung. Sie habenwahrscheinlich die extremsten Beispiele aus dem Haus-haltsplan vorgelesen. Meine persönliche Erfahrung ist,dass sich integrierte Ansätze lohnen, und in solchen Mo-dellen können Sie die einzelnen Maßnahmen nicht ent-koppeln.
Viele Investitionen gerade in diesem Bereich weisen indie Zukunft.
Ich denke mir, dass man den Haushaltsbegriff da etwasweiter fassen muss, auch was die streng investive Ver-wendung angeht.Lebenswerte Stadt, das ist sicher ein Thema, das inden nächsten Jahren ansteht. Uwe Beckmeyer hat geradegesagt: Lärm ist die Seuche der modernen Zeit. Er ist ausmeiner Sicht fast noch schlimmer als andere Emissio-nen. Dagegen müssen wir viel stärker etwas machen. Ichfordere weitere innovative Schritte seitens des Ministe-riums, seitens der großen Koalition ein. Es ist ganz klarIhre Aufgabe, hierzu Maßnahmen vorzulegen.
Ganz kurz – ich habe nur noch eine halbe Minute Re-dezeit – zum Aufbau Ost: Ich freue mich, dass die Ge-meinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsförderung“unverändert geblieben ist und der Ansatz einer Kürzungentgangen ist. Ich warne davor – wie das mancher hierim Raum vielleicht will –, an dieser GA die Axt anzule-gen. Sie ist für die Investitionsförderung in Ostdeutsch-land ein ganz wichtiges Instrument und aus meiner Sichteines der erfolgreichsten überhaupt. Wenn Sie an dieserStelle Unterstützung brauchen, dann werden Sie dieauch von uns als Oppositionspartei bekommen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Petra Weis hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Mi-nister! Kollege Hettlich hat schon darauf hingewiesen:Wenn man sich bei einer Debatte wie dieser zumEinzelplan 12 mit den Themen Bau, Wohnen und Stadt-entwicklung beschäftigt, hat man das Problem, dass manerst relativ spät zu Wort kommt, und läuft Gefahr, bereitsGesagtes zu wiederholen. Letzterer Gefahr werden wirjetzt, so glaube ich, nicht erliegen. Aber man muss natür-lich versuchen, die Aufmerksamkeit des Publikums biszum Ende zu behalten.Ich habe mir vorgenommen, in den nächsten Minutenden Entwurf zum Einzelplan 12 für die Bereiche Bau,Wohnen und Stadtentwicklung zum Anlass zu nehmen,um deutlich zu machen, dass sich in dem vorliegendenZahlenwerk in einer, wie ich finde, beeindruckenden Artund Weise die Bausteine einer ausgesprochen zeitgemä-ßen, nachhaltigen und sich ihrer gesellschaftspolitischenBedeutung durchaus bewussten Bau-, Wohnungs- undStädtebaupolitik widerspiegeln. Ich stelle mit Genugtu-ung fest, dass die neue Bundesregierung hierbei in dieFußstapfen der alten tritt und diesen Fachbereich zu ei-nem Markenzeichen ihrer Politik gemacht hat,
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Petra Weisund das bei einem Finanzvolumen, das im Verhältniszum Bereich der Verkehrspolitik eher bescheiden daher-kommt.Dass wir mit vergleichsweise geringen Summen – na-türlich unter Mittun von Ländern und Gemeinden – einedurchweg positive Entwicklung in unseren Städten ange-stoßen haben, verdient, wie ich finde, ein bisschenSelbstlob. Es passiert in diesen Zeiten ja nicht allzu oft,dass wir gelobt werden. Deswegen will ich das hier ein-mal tun. In dieses Lob will ich auch die Tatsache einbe-ziehen, dass es gelungen ist, die Städtebauförderung inZukunft als eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Län-dern und Gemeinden festzuschreiben.
Die Herausforderungen sind gewaltig und die Lö-sungsansätze dementsprechend komplex und sehr strengan Effizienzgesichtspunkten orientiert; darauf hat Minis-ter Tiefensee schon hingewiesen. Das gebietet nicht nurdie schwierige Haushaltslage, sondern auch das Credoeiner problembewussten und lösungsorientierten Politikder nachhaltigen Stadtentwicklung, wie wir sie seitvielen Jahren praktizieren.Es ist fast banal, wenn ich sage, dass sich der wirt-schaftliche Strukturwandel und die demographische Ent-wicklung zuallererst in unseren Städten auswirken. Einehoch entwickelte, letztendlich aber auch noch bezahl-bare Infrastruktur wird auf Dauer – das wissen wir – nurin den Städten vorgehalten werden können. Die Städtesind gut beraten, sich früh darauf einzustellen. UnsereAufgabe ist, sie dabei nachhaltig zu unterstützen.
Die Anpassung der Wohnungsbestände und der sozia-len und technischen Infrastruktur an eine Bevölkerung,die nachweislich schrumpft, und die Attraktivierung un-serer Städte, insbesondere unserer Innenstädte, für alteMenschen wie für junge Familien gleichermaßen sinddas Gebot der Stunde, von der Integration der Menschenmit Migrationshintergrund, vor allen Dingen der Kinderund Jugendlichen, ganz abgesehen.Die Programme „Soziale Stadt“, „Stadtumbau Ost“und „Stadtumbau West“ sind differenzierte Antwortenauf differenzierte Problemlagen. Die bisherigen Finanz-volumina und die vorgesehenen Aufstockungen sind be-kannt. Umstritten ist unsere Absicht, den integrativenAnsatz der Städtebauförderprogramme weiterzuentwi-ckeln, indem wir beispielsweise im Programm „SozialeStadt“ auch nichtinvestive Zwecke fördern, zum Beispieldie Sprachförderung von Jugendlichen oder Initiativender lokalen Ökonomie und damit auch der lokalen Be-schäftigung. Ich weiß, dass wir hier noch keinen endgül-tigen Konsens erzielt haben, würde mich aber freuen,wenn wir das im Verlauf der Beratungen schaffen wür-den.
Die von uns geplante Weiterentwicklung des integra-tiven Ansatzes zeigt sich auch daran, dass wir die zusätz-lichen Mittel des Programms „Stadtumbau Ost“ verwen-den können, um die städtische Infrastruktur derschrumpfenden Bevölkerungszahl anzupassen, zum Bei-spiel bei der technischen Infrastruktur.Ich möchte ebenfalls nicht unerwähnt lassen, dass derStadtumbau in Ost und West – es ist mir sehr wichtig,das zu betonen – klare Leitbilder für die Entwicklung derStädte braucht. Diese klaren Leitbilder müssen einherge-hen mit einer nachdrücklichen Aufklärungsarbeit und– lassen Sie es mich einmal so deutlich sagen – mit einermutigen Enttabuisierung von unabweisbaren Entwick-lungen. Wer schon einmal mit interessierten Laien unterdem Aspekt des demographischen Wandels über dasThema Stadtentwicklung diskutiert hat und in die teil-weise ungläubigen Augen des Publikums geschaut hat,der weiß sicherlich, wovon ich spreche.Ich möchte einen Vergleich wiederholen, den ich vorkurzem gezogen habe – das tue ich, obwohl ich weiß,dass er ein bisschen hinkt –: Ich bin nach wie vor fest da-von überzeugt, dass das Gelingen eines nachhaltigen unddamit auch erfolgreichen Stadtumbaus in all seinen Fa-cetten von nahezu gleichem gesellschaftspolitischenRang ist wie der erfolgreiche Umbau unserer sozialenSicherungssysteme.
Denn jenseits aller materiellen Zwänge und Möglich-keiten – ich denke, das wissen wir alle – ist die Qualitätder Wohnung, des Wohnumfelds, des Quartiers, desStadtteils und der Gesamtstadt nicht nur ein wichtigerDreh- und Angelpunkt einer erfolgreichen städtischenÖkonomie, sondern natürlich auch einer der wichtigstenStabilitätsfaktoren in unserer Gesellschaft.Allen Programmbereichen ist gemeinsam, dass derEinsatz der Mittel möglichst flexibel handhabbar seinmuss und dass wir regelmäßig überprüfen müssen, obsich die mit der Programmentwicklung verfolgten Zieletatsächlich eingestellt haben oder ob wir die Notwendig-keit für Veränderungen sehen. Insofern, denke ich, istauch das ein Bestandteil einer modernen und an Effi-zienzgesichtspunkten ausgerichteten Politik.Diese komplexen und effizienten Problemlösungs-strategien verlangen nach einem integrierten Politikan-satz; einige meiner Vorrednerinnen und Vorredner habendas schon deutlich gemacht. Diese Lösungsstrategienverlangen aber auch nach Partnerinnen und Partnern,sowohl in der Bürgerschaft als auch in der Wohnungs-wirtschaft. Die Stärkung des bürgerschaftlichen Engage-ments und die Ermutigung zu privater Initiative auf al-len Ebenen sind von ebenso großer Bedeutung wie dieVerknüpfung von stadtentwicklungspolitischen undwohnungspolitischen Zielen.Dazu gehört, dass wir die vorbildlichen wohnungs-wirtschaftlichen Initiativen, die es vielerorts gibt, unter-stützen. Das Gleiche gilt für die genossenschaftlichenModelle; auch sie müssen wir dringend stärken. Daranführt meines Erachtens kein Weg vorbei. Das ist einesunserer ganz besonders wichtigen Ziele.
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Petra Weis
Hier ist im Augenblick sicherlich weder die Zeit nochder Raum, um auf die Entwicklung der Wohnungs-märkte, auf die Zukunft der Immobilienwirtschaft undauf die Situation in den Kommunen einzugehen. Aberich denke, in den nächsten Wochen und Monaten werdenwir die Gelegenheit haben, darüber auch in diesemHause zu diskutieren.Wenn es um das CO2-Gebäudesanierungspro-gramm geht, lauten die Stichworte Qualitätsverbesse-rung, nachhaltiger, weil sparsamer Ressourcenver-brauch, Innovation und Beschäftigung; auch darauf istbereits eingegangen worden. Minister Tiefensee hat aufdie finanziellen Dimensionen des Programms hingewie-sen und darauf, dass die zu erwartenden Folgeinvestitio-nen die Förderung hochwirtschaftlich machen. Jede in-vestierte Milliarde Euro sichert oder schafft – das wissenwir – Tausende Arbeitsplätze. Dass auch Maßnahmender Städte und Gemeinden zur Energieeinsparung mitzinsgünstigen Krediten gefördert werden, ist aus meinerSicht ebenso zukunftsweisend wie die Möglichkeit, dassman neben zinsverbilligten Krediten auch Zuschüsse inAnspruch nehmen kann.
Dass das Programm mit dem Energieausweis, der inKürze eingeführt werden wird, verknüpft werden muss,versteht sich von selbst, sodass das Programm die Mög-lichkeit bietet, sowohl die Energiekosten zu senken alsauch Wohnqualität zu steigern.Für Qualität und Qualitätsverbesserung steht die Stif-tung Baukultur; hier wende ich mich besonders Ihnenzu, Frau Kollegin Blank. Ich hoffe, dass es uns in denkommenden Monaten gelingen wird, die Stiftung unbe-schadet von weiteren Kapriolen ins Leben zu rufen unddamit das gute Planen und Bauen als gesellschaftlichenAnspruch für lebendige Städte ins öffentliche Bewusst-sein zu bringen. Es ist an der Zeit – ich glaube, KollegeFriedrich war es, der darauf schon hingewiesen hat –, diehohe Leistungsfähigkeit deutscher Architekten und Inge-nieure auf internationalen Märkten noch besser darzu-stellen.
Apropos Qualität: Im Bereich der Bauforschung ist esuns gelungen, dass hierzu im Finanzplan ein eigenerForschungsschwerpunkt mit einem Volumen von2 Millionen Euro pro Jahr vorgesehen worden ist. DieseRessortforschung soll die Umsetzung wichtiger Be-schlüsse der Regierung wie beispielsweise die zum Kli-maschutz und zur Energieeinsparung sowie Forschungs-initiativen unterstützen.Dazu gehört natürlich auch, dass wir die Bauwirt-schaft in diesen Prozess einbinden. Unser Ziel ist die Er-arbeitung eines „Leitbildes Bauwirtschaft“ als Gesamt-rahmen für eine moderne Baupolitik, die mit Innovationund Qualität Investitionen und zukunftsfähige Arbeits-plätze sichert. Im Übrigen will ich an dieser Stelle daraufhinweisen, dass die Bauwirtschaft durch die Vorhaben,die wir auf den Weg bringen wollen, wenigstens etwasLicht am Ende des Tunnels sehen kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir sicher,dass wir mit diesem Haushalt die Grundlage für eine mo-derne, den ökonomischen, sozialen, demographischenund ökologischen Gegebenheiten angepasste Wohnungs-und Stadtentwicklungspolitik gelegt haben. Ich weiß,dass in einer Haushaltsdebatte die Versuchung groß ist,nur über die Höhe der zur Verfügung stehenden Mittel zudiskutieren. Ich habe versucht, deutlich zu machen, dassauch die Qualität von Konzepten und Programmen eineRichtschnur für den Erfolg oder den Misserfolg von Po-litik sein kann. Auch vor diesem Hintergrund muss sichder Einzelplan 12 nicht verstecken, die Fachpolitik musses schon gar nicht. In jeder Zeile des Haushaltsentwurfsist spürbar, so empfinde ich es nach der Lektüre des Ent-wurfs jedenfalls, dass wir Verantwortung für die Zukunftunserer Gesellschaft übernehmen.Ich bin sehr gespannt auf die weiteren Beratungen.Zum Abschluss wünsche ich mir eine Verabschiedung inmöglichst großem Konsens.Herzlichen Dank.
Der Kollege Joachim Günther hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister, der Haushalt zum Einzelplan 12 muss, so-weit er den Bereich Bau- und Wohnungswesen betrifft– ich werde mich so wie der Kollege Hettlich vorrangigauf diesen Bereich beziehen –, auch von unserer Seitepositiv eingeschätzt werden.Ich gehe davon aus, dass die Investitionsmittel, diefür diesen Bereich zur Verfügung stehen, vorrangig fürMaßnahmen eingesetzt werden, die sich aus dem demo-graphisch-strukturellen Wandel ergeben. Schließlichwird uns in Deutschland dieses Thema in der nächstenZeit bewegen.In der Vergangenheit gab es hierzu ein erfolgreichesProgramm – das haben wir als Opposition immer soaufgefasst –, nämlich das Programm „Stadtumbau Ost“,später ergänzt um den Stadtumbau West. Ein Artikel, derheute hierzu in der „Welt“ erschienen ist, hat mich aller-dings etwas stutzig gemacht. Es geht darin um einen un-veröffentlichten Statusbericht zum Programm „Stadtum-bau Ost“. Es wird unverhohlen Kritik daran geübt, dasszum Beispiel zu wenig Mittel für den Rückbau von Plat-tenbauten und anderen Wohnungen im Osten eingesetztwerden, wodurch zum Teil eine falsche Steuerung in derImmobilienpolitik erfolge. Deshalb bitte ich Sie, uns die-sen Bericht möglichst bald zur Verfügung zu stellen, da-mit wir ihn in die weiteren Diskussionen über den Haus-halt und über das Stadtumbauprogramm einbeziehenkönnen.
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Joachim Günther
Ich möchte im Zusammenhang mit dem Stadtumbau-programm noch etwas richtig stellen. Es geht uns nichtdarum – die Kollegin Winterstein hat das vorhinangesprochen –, dass wir die 40 Millionen Euro nichteinsetzen wollen, zum Beispiel zur Integration von Per-sonen. Wir möchten lediglich nicht, dass diese Mittel iminvestiven Bauhaushalt eingesetzt werden. Sie sind an-ders einzusetzen, nämlich vor Ort in den Städten undKommunen.
Wir als FDP kümmern uns immer auch etwas um dasWohneigentum. Da das heute kaum eine Rolle gespielthat, möchte ich diesen Punkt noch einmal kurz anspre-chen. Herr Minister, ich stelle fest, dass wir seit demWegfall der Eigenheimzulage keinen Schritt vorange-kommen sind: Es gab nicht die Steuerreform, durch dieder Bürger entlastet wird, damit er das Geld für Wohnei-gentum verwenden kann, und ab 2007 wollen Sie selbstgenutztes Wohneigentum in die Altersvorsorge einbe-ziehen.
– Ach, Herr Tauss, kümmern Sie sich mehr um Ihr LandBaden-Württemberg als um die Zwischenrufe.Inzwischen gibt es viele Verbände – Sie wissen das,Herr Tiefensee –, die entsprechende Angebote unterbrei-tet haben. Ich nenne das KaNaPE-Modell, Bau-Riesterund die Immobilie als vierte Säule. Als Bundesregierunghaben Sie sich hier bisher in Schweigen gehüllt. Heutefrüh, als Ihr Kollege Müntefering gesprochen hat, bin ichdoch stutzig geworden und habe gedacht, dass ich ein-mal nachfragen muss. Er hat heute früh wörtlich gesagt:Zudem will die Regierung die Wohneigentumssituationverbessern, indem die Riesterrente einbezogen wird – obfür das Wohneigentum oder für das Dauerwohnrecht. Ichweiß nicht, was damit gemeint ist, aber das ist eine Ver-unsicherung. Dauerwohnrecht wollen wir nicht, wir wol-len eindeutig, dass unsere Bürger Wohneigentum erwer-ben können.
Zudem drängt die Zeit: Bis all diese Modelle, die un-ter den Fachexperten diskutiert wurden, auf dem Marktsind und zur Wirkung kommen, vergeht ein Zeitraumvon fast acht Jahren, in dem Luftleere herrscht. All dieseModelle sind nämlich mit Ansparzeiten verbunden undkommen frühestens nach sechs Jahren – in der Regelaber erst nach acht – zur Auszahlung. Das bedeutet fürunsere Bauwirtschaft ein Loch, das im Prinzip nicht zuschließen ist. Ich bin mir sicher, dass so der Erwerb vonWohneigentum gegenüber anderen Eigentumsformenzurückgestellt wird. Hier sollten wir schnell und umfas-send zu einer Lösung kommen.
Über den Aufbau Ost haben wir ja erst vor kurzemdiskutiert, als wir über den Jahresbericht gesprochen ha-ben. Aus Zeitgründen können wir meines Erachtens aufeine Wiederholung des Gesagten verzichten. Die GA-Mittel haben Sie – darauf wurde bereits hingewiesen –für dieses Jahr sichergestellt. Spannend wird jedochsein: Was passiert im nächsten Jahr, wenn die EU-Mittelfür die neuen Bundesländer zurückgefahren werden?Wie kann diese Differenz ausgeglichen werden und ste-hen Sie dann noch dazu, was Sie im Wahlkampf gesagthaben, dass es nämlich kein Zurückfahren geben wird?Ich bin gespannt und wir werden nachfragen.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Norbert Königshofen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKollegen und Kolleginnen! Wir haben es schon gehört:Der Einzelplan 12 ist der viertgrößte Etat. Deswegenkann man in einer so kurzen Rede auch nicht alles be-handeln. Ich beschränke mich also auf fünf Aspekte.Erstens. Mit seinem Urteil vom 16. März 2006 hat dasBundesverwaltungsgericht in Leipzig den Weg für denBau des Flughafens BBI in Schönefeld freigemacht.Dieser Bau ist ein Konjunkturmotor für die gesamte Re-gion Berlin-Brandenburg. Das Investitionsvolumen be-trägt rund 2 Milliarden Euro. 112 Millionen Euro davonträgt der Bund. Jetzt herrscht Planungssicherheit und dieGelder, die bisher über Verpflichtungsermächtigungengesperrt waren, können endlich freigegeben werden.Nach den Flughäfen in Frankfurt und München wirdSchönefeld der drittgrößte Flughafen werden. Die dreiBerliner Flughäfen zusammen haben jetzt schon ein grö-ßeres Passagieraufkommen als der Rhein-Ruhr-Flugha-fen in Düsseldorf.Zweitens. Das Leipziger BBI-Urteil ist aber auch un-ter dem Gesichtspunkt des Lärmschutzes bedeutsam.Wieder einmal hat ein Gericht Lärmschutzkriterien fest-gelegt. Das zeigt, wie notwendig die Novellierung desFluglärmgesetzes ist. Ich freue mich, dass wir da auf ei-nem guten Weg sind. Man muss aber immer wieder da-rauf hinweisen, dass die rot-grüne Vorgängerregierungdort viel Zeit vertan hat.
– Rot-Grün hat dieses Projekt sieben Jahre lang liegenlassen. Erst jetzt wird es aufgegriffen.
Drittens. Die Einschränkung der Lebensqualität durchVerkehrslärm trifft natürlich nicht nur Menschen in derNähe von Großflughäfen, sondern eine große Belastunggeht auch von dem Verkehrsträger Schiene aus; derKollege Uwe Beckmeyer hat das vorhin schon angespro-chen. Für den Neubau und den wesentlichen Ausbau vonSchienenstrecken sind Lärmschutzmaßnahmen vorge-schrieben, aber bei den bestehenden Schienenstreckenbesteht kein Rechtsanspruch auf Lärmschutz. Das trifft
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Norbert Königshofeninsbesondere die Ballungsgebiete wie das Ruhrgebiet,aus dem ich komme, oder das Rheintal, aber auch Groß-städte wie Berlin, Hamburg, Frankfurt, München undStuttgart.Seit 1999 gibt es das Programm zur Lärmsanierungbestehender Schienenstrecken. Dafür sind im Haushalt51 Millionen Euro eingestellt. Auch wir meinen, UweBeckmeyer, dass dieser Ansatz nicht ausreichend ist. DiePrioritätenliste ist ellenlang und wird ständig erweitert.Wenn man alles zusammennimmt, ist das ein Milliarden-programm. 51 Millionen Euro für ein Jahr reichen nichtaus. Der Haushaltsansatz könnte auf gut 100 MillionenEuro verdoppelt werden.
– Ich freue mich immer, wenn die Grünen klatschen,Herr Hermann.
Viertens. Haushaltswirksam sollen auch die anstehen-den Privatisierungen sein. Die Deutsche Bahn AG sollzumindest zur Hälfte privatisiert werden. Der Weg dahinwird kontrovers diskutiert; denn es gibt mehrere Privati-sierungsmodelle. Bisher gibt es keine Festlegung meinerFraktion, der Meinungsbildungsprozess ist dort in vol-lem Gange. Am 10. Mai wird zu diesem Thema eine An-hörung stattfinden. Dabei wird zu prüfen sein, ob der Er-lös aus dem Verkauf der Hälfte der Deutschen Bahn AG– dabei geht es um rund 9 Milliarden Euro – einschließ-lich des Schienennetzes dem Haushalt zufließen kannoder ob wir die 9 Milliarden Euro für die Tilgung einesTeils des riesigen Schuldenberges der Deutschen BahnAG brauchen. Nur bei einer Erhöhung der Eigenkapital-quote bleibt die Kreditfähigkeit nach einer Privatisierungerhalten und damit auch das A-Rating, das notwendigist, um an „fresh money“ zu kommen.Es wird zu prüfen sein, ob es richtig ist, zukünftig4 Milliarden Euro pro Jahr aus dem Haushalt in das Netzder DB fließen zu lassen, ohne dass Bundestag und Re-gierung wirklich Einfluss auf die Streckenplanung unddie Mittelverwendung haben. Es ist richtig, darübernachzudenken, ob wir Probleme wie in England undNeuseeland in Kauf nehmen. Dort musste nach einer Pri-vatisierung des Schienennetzes der Staat das Schienen-netz zu einem viel höheren Preis zurückkaufen, weil esdie privaten Investoren vernachlässigt hatten. Es konntenur dadurch wieder in Ordnung gebracht werden, dass esder Staat als sein Eigentum übernahm.
– Genau das muss geprüft werden, Herr Hermann; dennder Steuerzahler musste dort dafür geradestehen, dassdie Eigentümer das eigentliche Ziel – dieses Ziel ver-folgt auch die Deutsche Bahn AG, nämlich den Schie-nenverkehr in Deutschland zu sichern – aus dem Augeverloren haben. Es wird letzten Endes zu prüfen sein,wie das Ziel der Bahnreform, Wettbewerb auf dieSchiene zu bringen, erreicht werden kann. Dieses Zielhaben wir als Union und, wenn ich das richtig sehe, auchdie Mehrheit des Hauses seit Beginn der BahnreformAnfang der 90er-Jahre verfolgt.
Es sind also noch viele Fragen offen. Deshalb bin ichauf die Anhörung, die Stellungnahme der Experten unddie darauf folgende Diskussion gespannt.Ich komme zum letzten Punkt: der Kapitalprivatisie-rung der Deutschen Flugsicherung. Die Reform derFlugsicherung soll mit einer 74,9-prozentigen Kapital-privatisierung abgeschlossen werden. Ein jahreslangesRingen findet damit einen guten Abschluss.Das Gesetz sichert die hohe Qualität der Flugsiche-rung und bietet der DFS Entwicklungsmöglichkeiten.Zudem bringt es eine ansehnliche Summe in die Staats-kasse. Wir rechnen mit Beträgen zwischen 1 Milliardeund 1,5 Milliarden Euro.Wie schon verschiedene Vorredner betont haben, be-raten wir heute den größten Investitionshaushalt. Er istvon zentraler Bedeutung für die Stärkung von Innova-tion, Wachstum und Beschäftigung, die wir sicherstellenwollen. Ich hoffe, dass wir in den Beratungen gemein-sam mit unserem Partner unsere Vorstellungen durchset-zen können.
Zum Abschluss der Debatte über diesen Einzelplan
spricht Manfred Grund für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrMinister Tiefensee, ich will mich zum Abschluss der De-batte noch einmal der Situation in den neuen Bundeslän-dern zuwenden. Im Koalitionsvertrag heißt es unter derÜberschrift „Aufbau Ost voran bringen“:Die Bundesregierung wird den Aufbau Ost fortset-zen und dazu beitragen, in den neuen Ländern einwirtschaftlich selbst tragendes Wachstum zu errei-chen. Die Reduzierung der Arbeitslosigkeit ist daszentrale Ziel beim Aufbau Ost.Wenige Zeilen weiter wird aber auch klargestellt:Die Haushaltssituation des Bundes wird keine zu-sätzlichen Leistungen für die neuen Länder erlau-ben … Die Koalitionsparteien bekennen sich des-halb zur Einhaltung der Mittelzusagen des Bundes
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2396 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 29. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2006
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Manfred GrundDer Solidarpakt II ist bis 2019 festgeschrieben. Er gibtden neuen Ländern Planungssicherheit, aber er ist de-gressiv ausgestaltet. Der Mitteltransfer reduziert sichJahr für Jahr; 2019 ist dann Schluss damit.Auch die EU-Mittel im Rahmen der Strukturfondswerden ab 2007 im Zuge der Osterweiterung abge-schmolzen. Dies alles ist für die neuen Länder von be-sonderer, fast von existenzieller Bedeutung. Denn schonein Blick beispielsweise auf die Thüringer Steuerquotevon nur 45 Prozent zeigt, dass die neuen Länder noch ei-nen weiten Weg vor sich haben und der Solidarität desBundes und der leistungsstarken Länder bedürfen.Dabei sind die Solidarpaktmittel Hilfen zur Selbst-hilfe. Diese sind notwendig, weil die neuen Länder auch15 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer unterden teilungsbedingten Folgen von 40 Jahren realemSozialismus leiden. Man braucht sich nur an die Situa-tion 1989 zu erinnern: verfallene Häuser, verfallene Stra-ßenzüge, verfallene Städte, zerstörte Infrastruktur, zer-störte Umwelt.Noch schwerer wiegt vielleicht: Mit der Enteignungund Vertreibung von Handwerkern und kleinen und mitt-leren Unternehmen war auch dem Bürgertum, dem Mit-telstand, die Existenz entzogen. Wenn wir heute zuwenig selbstständige Existenzen, Unternehmer und bür-gerschaftliches Engagement in den neuen Ländern be-klagen, hat das auch in der geistigen Deindustrialisie-rung als Folge des Sozialismusversuches seine Ursache.
Davon ausgehend haben die neuen Länder alles in al-lem eine gute Entwicklung genommen. Dies ist am Zu-stand der Straßen, der Schienenwege, der Infrastrukturinsgesamt, aber auch am engmaschigen Netz aus leis-tungsfähigen Universitäten, Forschungseinrichtungenund Technologietransfereinrichtungen erkennbar.Es gibt weitere gute Indikatoren. Die Erwerbstätigen-quote Ost ist durchaus mit der in den alten Bundeslän-dern vergleichbar. Das verarbeitende Gewerbe wächstweitaus stärker als im Bundesdurchschnitt. Aber auchdie Defizite sind nicht zu übersehen: die relativ niedrigeProduktivität, die Strukturprobleme in der Bauwirt-schaft, die im Vergleich mit den alten Bundesländerndoppelt so hohe Arbeitslosigkeit und das zunehmendeProblem der Abwanderung gut qualifizierter Menschen.Dabei sind es vor allem junge Frauen, die weggehen.Für Thüringen, mein Heimatland, gilt wie für Ost-deutschland insgesamt: Es ist – das ist eine schmerzlicheBilanz – bisher nicht gelungen, eine selbsttragende Wirt-schaftsentwicklung zu erreichen. Herr MinisterTiefensee, unser zentrales Anliegen ist, in den nächstenJahren zu einer selbsttragenden Wirtschaftsentwicklungin Ostdeutschland zu kommen. Der hohe Bedarf anTransfer von West nach Ost vor allem zur Finanzierungder Leistungen der gesamtdeutschen Sozialsystemebringt dies ebenso zum Ausdruck wie die Tatsache, dassJahr für Jahr in den neuen Bundesländern ein Drittelmehr an Gütern verbraucht als hergestellt wird.Ich nenne zur Verdeutlichung nur ein Stichwort: dieAusgaben für die Sonder- und Zusatzversorgungssys-teme für ehemalige DDR-Staatsdienstmitarbeiter.Rund ein Drittel der Mittel für den Aufbau Ost muss in-zwischen für diese Aufgaben aufgewandt werden. Die-ses Geld ist für Investitionen verloren. Seit 1994 habensich diese Ausgaben, bedingt durch höchstrichterlicheUrteile, mehr als verdreifacht. Diese Entwicklung warerstens nicht vorhersehbar und zweitens ist eine solideFinanzplanung in den neuen Bundesländern auf dieserBasis kaum möglich.Damit komme ich zur Verwendungsbreite der Soli-darpaktmittel. Sie dienen natürlich der Überwindung derteilungsbedingten Nachteile, dem bedarfsgerechten Aus-bau der Infrastruktur. Doch diese Verengung wird dertatsächlichen Situation in den neuen Bundesländernnicht mehr gerecht; denn die Folge eines solchen engenInvestitionsbegriffs ist, dass das Asphaltieren von Wald-wegen und der Bau irgendwelcher Verwaltungsgebäudegenerell aufbaugerecht ist, dass aber die Ausstattung derHochschulen mit Professoren, die Zuschüsse an Exis-tenzgründer und die Zuschüsse an Forschungseinrich-tungen dieses Kriterium nicht erfüllen.
Wir brauchen eine wachstumsorientierte Neuausrich-tung des Solidarpaktes II und damit einen reformiertenVerwendungsnachweis.Des Weiteren ist mir beim Thema neue Bundesländerwichtig: Es mangelt nicht an Vorschlägen. Aber bisherhat sich kein Weg bzw. kein Instrument als optimal er-wiesen. Die ausschließliche Förderung von Leuchttür-men oder von Clustern greift aus meiner Sicht genausokurz wie das Prinzip „Gießkanne“. Grundsätzlich gilt:Welcher Unternehmer sich an welchem Standort letzt-lich niederlässt, bleibt dessen unternehmerische Ent-scheidung. So gibt es überall in der Fläche die Entwick-lung, dass sich Menschen in Rückbesinnung auftraditionelle Standorte und regionale Besonderheiteneine Zukunft erarbeiten, und es gibt Leuchttürme, diedeutlich in die umliegenden Regionen ausstrahlen.Mit Beginn dieser Legislaturperiode ist der Bundes-minister für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung, HerrTiefensee, für die verschiedenartigen Themenfelderbeim Aufbau Ost und damit für Grundsatzfragen und dasGesamtkonzept zuständig. Es wäre wünschenswert, dassspätestens bis zum Herbst dieses Jahres die für denKorb II relevanten Politikfelder abgestimmt werden,dass bezüglich der Solidarpaktmittel aus dem Korb IVerwendungskriterien definiert werden und dass die Zu-ordnung bei Bund und Ländern bezüglich der EU-Struk-turfondsmittel geklärt ist. Des Weiteren gibt es Irritatio-nen bezüglich der Gemeinschaftsaufgabe „RegionaleWirtschaftsförderung“. Es wäre wünschenswert – HerrMinister, Sie sind in Ihrer Rede kurz darauf eingegan-gen –, dass der Entwurf eines Investitionszulagengeset-zes 2007 – abgestimmt mit Brüssel – noch im Mai diesesJahres in den Bundestag eingebracht wird.Herr Minister Tiefensee, ich möchte noch etwas an-sprechen, was mir sehr am Herzen liegt. Wir brauchen
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Manfred GrundIhre aktive Unterstützung, wenn es darum geht, circa70 000 Opfern der SED-Diktatur eine Opferpension zugewähren.
Solidarpakt hin, Förderung her, ohne ein gesamtdeut-sches Wirtschaftswachstum wird der Aufbau Ost zueiner unendlichen Geschichte. Alles, was den Wirt-schaftsstandort Deutschland voranbringt, bringt uns derVergleichbarkeit der Lebensverhältnisse näher. Alles,was uns der Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse nä-her bringt, verhindert wiederum Abwanderung, gibtHoffnung und Perspektive. Deshalb ist die Stärkung desWirtschaftsstandortes Deutschland der beste AufbauOst. Was für Gesamtdeutschland gut ist, hilft den Men-schen in den neuen Bundesländern, dauerhaft auf eige-nen Füßen zu stehen. Wir können dabei durch eine ver-antwortungsbewusste Regierungspolitik oder durch einekonstruktive Oppositionsarbeit mithelfen. Die Menschenin den neuen Bundesländern haben es verdient.Herzlichen Dank.
Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Familie, Senioren, Frauen undJugend, Einzelplan 17. Das Wort hat die Bundesminis-terin Dr. Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend:Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren Abgeordnete! Wir alle wissen, dass in kaum ei-nem anderen Land der Welt so wenige Kinder geborenwerden wie bei uns. Ich brauche gerade Ihnen nicht zuschildern, welche dramatischen Auswirkungen dies aufdie Innovationskraft unseres Landes und auch auf densozialen Zusammenhalt unseres Landes hat. Diesen de-mographischen Wandel zu gestalten, seine Risiken zu er-kennen, aber auch die Chancen zu ergreifen, das ist ohneZweifel eine große Herausforderung.Der Haushalt 2006 ist dabei der erste Meilenstein aufdem Weg zu einer modernen Familienpolitik. Die Regie-rung setzt ein Zeichen; der Schwerpunkt ist die aktiveGestaltung des demographischen Wandels. Dazuzählt in erster Linie die Übernahme von Verantwortungfür die nächste Generation. Wir haben uns vorgenom-men, Deutschlands öffentliche Finanzen wieder auf so-lide Beine zu stellen. Deshalb haben wir uns bei der Auf-stellung des Einzelplans 17 gemeinsam mit demFinanzministerium stark an den Ist-Ergebnissen des Jah-res 2005 orientiert. Dadurch konnten wir einen beachtli-chen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten, ohnedie Planungssicherheit zu gefährden und ohne gesetzli-che Ansprüche einzuschränken.Konkret heißt das: Wir haben die Ansätze im Zivil-dienst um 109 Millionen Euro, beim Kinderzuschlag um67 Millionen Euro und beim Kindergeld um 7,2 Millio-nen Euro bedarfsgerecht absenken können. Der Haus-haltsansatz für den Zivildienst orientiert sich am Ist-Ergebnis 2005 und gewährleistet, dass auch 2006 inetwa gleich viele Zivildienstleistende wie im vergange-nen Jahr tätig im Dienst sind. Bei einer Einberufungs-quote von annähernd 100 Prozent besteht im ZivildienstEinberufungsgerechtigkeit. Alle Zivildienstpflichtigenwerden 2006 ihren Zivildienst leisten oder ein freiwilli-ges soziales Jahr oder ein freiwilliges ökologisches Jahrabsolvieren.Wir haben uns im Koalitionsvertrag auch vorgenom-men, gezielt dort zu investieren, wo die Weichen für dieZukunftsfähigkeit unseres Landes gestellt werden. Ichnenne Ihnen hier nur die drei wichtigsten Schwerpunkte,die mit neuen Vorhaben verbunden sind: Wir möchtenerstens, dass junge Menschen am Anfang gezielt Unter-stützung erhalten, wenn sie Mut zum Kind haben; dasStichwort heißt „Elterngeld“. Wir möchten uns zweitensbesser und von Anfang an um die Kinder kümmern, dieauf der Schattenseite des Lebens geboren werden; dasStichwort ist hier „frühe Hilfen“, bevor es zu Vernach-lässigung oder Verwahrlosung kommt. Wir möchtendrittens den Zusammenhalt der Generationen in einerneuen, modernen Form stärken; das Stichwort ist „Mehr-generationenhäuser“.Zum ersten Schwerpunkt. Mit dem Elterngeld signa-lisieren wir ganz klar: Es ist nicht gleichgültig, ob sichjunge Menschen für ein Kind entscheiden oder nicht.Das Elterngeld sichert Familienzeit in einer entscheiden-den Lebensphase finanziell ab, es nimmt die Angst vorökonomischen Schwierigkeiten unmittelbar nach derGeburt eines Kindes und wirkt auch Armutsrisiken ent-gegen. Das Elterngeld erkennt die Leistung von Fami-lien an und schafft mehr Gerechtigkeit für Eltern.
In der Finanzplanung für die Jahre 2007 bis 2009 wirdfür das Elterngeld ein jährlicher Zusatzbetrag von netto1 Milliarde Euro veranschlagt. Damit haben wir eine derwichtigsten familienpolitischen Vereinbarungen des Ko-alitionsvertrags in der Finanzplanung verankert.
– Es geht auch erst im Jahr 2007 los. Dann kann es imHaushaltsplan für das Jahr 2006 auch nicht enthaltensein. Wichtig ist die weitere Finanzplanung.Zum zweiten Schwerpunkt. Jedes Kind ist wichtig.
Wir möchten durch ein Frühwarnsystem Kinder früh-zeitig finden und schützen, die mit ihren Eltern in eineSituation der Erziehungsohnmacht, sozialen Isolationund innerfamiliären Aggression oder Verwahrlosung ge-raten. Für diese Kinder möchten wir ein enges Hilfenetzrund um die Familien knüpfen, ein Netz aus Hebammen,Familienhelfern, Kinderärztinnen und Geburtshelfernund der Kinder- und Jugendhilfe. Wir haben die Struktu-ren in Deutschland, aber wir müssen sie früher, gezielterund präventiv einsetzen.
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
Ich bin sehr froh, dass vorgesehen ist, dass für dieseswichtige Vorhaben in den nächsten fünf Jahren10 Millionen Euro bereitstehen. Auf der Grundlage vonErfahrungen aus Kommunen, aus Bundesländern undauch aus dem Ausland konzipieren wir Modellprojekteauf Bundesebene, die bereits im Herbst dieses Jahresstarten können. Im Herbst soll bereits außerdem ein Ser-vicebüro eingerichtet werden, das Aktivitäten in denLändern und an den Modellstandorten koordiniert.Zum dritten Schwerpunkt. Im demographischen Wan-del haben wir auch die Chance, das soziale Kapital derälteren Menschen zu mobilisieren. Noch nie in der Ge-schichte sind so viele Menschen so alt geworden. Aber,was noch wichtiger ist: Noch nie in der Geschichte gabes so viele und so ressourcenstarke ältere Menschen wieheute. Noch nie waren sie so gesund, so gebildet undhatten so viel Zeit wegen der längeren Lebenserwartung.Unser Ziel ist es, mit MehrgenerationenhäusernRäume zu schaffen, die den Kreislauf des Gebens undNehmens zwischen den Generationen nach dem Prinzipder Großfamilie, aber in einer modernen Form ermögli-chen. Wir wollen als Modell in jedem Landkreis und injeder kreisfreien Stadt in Deutschland ein Mehrgenera-tionenhaus schaffen. Dafür gibt es an vielen Orten schonpositive, aber sehr unterschiedliche Anknüpfungspunkte.Wir wollen uns deshalb nicht darauf beschränken, dieIdee des Mehrgenerationenhauses an wenigen Modell-standorten zu erproben, sondern wollen der modellhaf-ten Vielfalt eine Chance geben. Es geht darum, im Ne-beneinander, im Miteinander, aber auch im Wettbewerbder Mehrgenerationenhäuser Anstöße für eine neue In-frastruktur zu geben, die gerade in Zeiten ganz knapperKassen Bestehendes aufgreift, besser nutzt und damitneue Ressourcen für den Generationenzusammenhalt er-schließt.
Unser Konzept sieht vor, dass Mehrgenerationenhäu-ser mindestens drei Funktionen verbinden. Sie führenjung und alt zusammen und nutzen dabei ganz gezielt dieKompetenz älterer Menschen, sie bieten gezielt Dienst-leistungen und Beratungen an, die insbesondere Fami-lien entlasten, und sie gewinnen Menschen jeden Altersfür bürgerschaftliches Engagement. Gleich nach der Ver-abschiedung des Haushalts 2006 werden wir eineServicestelle für die Projektumsetzung einrichten. ImHerbst kann dann die Förderung in vielen Regionen be-ginnen. Deshalb sind für die Mehrgenerationenhäuserschon für dieses Jahr 6 Millionen Euro im Haushaltsent-wurf vorgesehen. Auch die Gesamtfinanzierung des Pro-jektes in Höhe von 98 Millionen Euro ist nach unserenPlanungen vollständig gewährleistet. Das gibt dem Pro-jekt gleich zum Start die notwendige Sicherheit.
Wenn wir Familien, ältere Menschen, Frauen, Väter,Mütter, Kinder und Jugendliche in den nächsten Jahrenwirkungsvoll – –
– Väter sind Männer, meines Erachtens.
Senioren sind Männer, meines Erachtens. Unter Jugend-lichen sind auch junge Männer, meines Erachtens, undunter Kindern sind Jungen.
Ich setze meinen unterbrochenen Satz fort: Wenn wirall die Menschen, die ich eben erwähnt habe, in ihrerspezifischen Rolle in dieser Gesellschaft wirkungsvollunterstützen wollen, dann brauchen wir eine gemein-same Kraftanstrengung, mehr Kinder in den Familienund mehr Familienwerte in der Gesellschaft. Das ist derSchlüssel für Innovation, für Wachstum, für Wohlstandund für sozialen Zusammenhalt im demographischenWandel.Ich danke Ihnen.
Ina Lenke spricht für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben einen neuen Haushaltsplan für 2006, aber keinenneuen Politikentwurf für eine liberale Bürgergesell-schaft, in der die Vielfalt von Familie, die Gleichstellungvon Frauen und Männern auf eine neue Grundlage ge-stellt wird. Über Frauenpolitik habe ich von Frau von derLeyen heute nichts gehört. Ich habe von ihr heute nur et-was über Familienpolitik gehört.
Wenn man sich den Einzelplan 17 anschaut, dann er-kennt man: Es handelt sich um neuen Wein in alten, rot-grünen Schläuchen. Die Ministerin propagiert die Ein-führung des Elterngeldes und fordert gebührenfreie Kin-dergartenplätze.
– Ja, Frau Griese. – Das Elterngeld ist nicht Bestandteildes Einzelplans 17, über den wir heute reden. Fakt sindderzeit Steuererhöhungen der großen Koalition, die Fa-milien ganz besonders zu spüren bekommen. Das Geld,das Sie den Familien über Familienförderung geben,ziehen Sie ihnen aus der anderen Tasche wieder heraus.
Ich will dafür nur zwei Beispiele nennen: Mit derErhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent
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Ina Lenkebelasten Sie gerade Familien mit Kindern. Die Einspa-rungen durch die Eigenheimzulage für Familien, die vonRegierung und Parlament gewollt sind, erfahren in demHaushaltsplan 2006 jedoch keinen Ersatz. Versprochenhaben Sie, bei der Riesterrente die Kinderförderung zuerhöhen. In diesem Jahr findet jedoch nichts dergleichenstatt.
Das soll auf das nächste Jahr verschoben werden. Unterdem Strich werden Familien in diesem Jahr weniger ge-fördert als vorher.Ich komme jetzt auf das Thema „kostenlose Kinder-gartenplätze“ zurück. Kostenlose Kindergartenplätzehaben der Fraktionsvorsitzende Peter Struck, der Finanz-minister Steinbrück und unsere Familienministerin ver-sprochen. Diese Versprechen sind Schall und Rauch.
Bereits bei der Finanzierung der Krippenplätze für Kin-der unter drei Jahren über die Zusammenlegung von Ar-beitslosen- und Sozialhilfe haben diese Gelder die Kom-munen so nicht erreicht. Die Bundeskanzlerin hat inihrer Regierungserklärung den Kommunen verspro-chen, dass sie das zugesagte Geld auch wirklich bekom-men. Außerdem hat sie gesagt, nach der Föderalismusre-form sei das alles noch wichtiger. Nach meinenRecherchen bei den Kommunen bekommen sie sehr vielweniger Geld, und zwar verbunden mit sehr vielen Un-terschieden. Die Bundeskanzlerin hat ihr Versprechenbisher also nicht eingelöst.Die große Koalition muss eine grundlegende Reformder Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländernvornehmen, damit die Kommunen, die für die Kinderbe-treuung gern Geld ausgeben, nicht die Gekniffenen sind.Deshalb will die FDP, dass das Konnexitätsprinzip imGrundgesetz verankert wird.
Die Ministerin ist auch für die Jugendpolitik zustän-dig.
– Hören Sie bitte genau zu! – Von Generationengerech-tigkeit kann man bei der Politik der großen Koalitionwirklich nicht reden. Frau von der Leyen, statt der ge-planten 22 Milliarden Euro Neuverschuldung des Bun-deshaushaltes geben Sie jetzt Ihre Zustimmung zu38,3 Milliarden Euro Neuverschuldung. Da bleiben dieInteressen unserer Kinder und Enkel auf der Strecke.
Für die FDP ist die Förderung von jungen Zuwan-derern besonders wichtig. Mit Aufmerksamkeit verfol-gen wir, dass SPD und CDU/CSU im Haushalt bei denMitteln für die Integration junger Zuwanderer und Zu-wanderinnen heftig kürzen. Ausreichende Sprachförde-rung ist ein zentraler Punkt von uns allen. Dass eshierbei um die Zukunftschancen von Kindern und Ju-gendlichen mit Migrationshintergrund geht, muss sichauch im Haushalt 2006 niederschlagen; denn: ohneSprachkenntnisse keine Integration.
Zum Zivildienst. In Sonntagsreden loben CDU/CSUund SPD die Arbeit der Zivis. Gleichzeitig ist das aberder Spartopf Ihrer Regierung, meine Damen und Herren.Das hat auch Frau von der Leyen sehr fröhlich und sehrbestimmt deutlich gemacht.
Seit Jahren wird in diesem Bereich gespart. Beim Ren-tenversicherungszuschuss, beim Entlassungsgeld, beimEssengeld, überall wird gekürzt. Bei Ihnen passen Worteund Taten nicht zueinander.Die FDP ist für Freiwilligendienste und für die Ab-schaffung von Pflichtdiensten. Die Ministerin willPflichtdienste beibehalten. Drei Gründe sprechen dafür,dass die Wehrpflicht und der Zivildienst abgeschafftwerden: Erstens. Sicherheitspolitisch ist die Wehrpflichtüberflüssig.
Zweitens. Es besteht eine eklatante Wehrungerechtig-keit. Nur noch jeder zweite junge Mann absolviert denPflichtdienst. Drittens. Immer mehr Einrichtungen wieKrankenhäuser und Alten- und Pflegeheime steigen ausdem Zivildienst aus und beschäftigen lieber 1-Euro-Job-ber.Meine Damen und Herren und liebe Frau Ministerin,in einer liberalen Bürgergesellschaft haben Zwangs-dienste keinen Platz mehr.
Aus Zeitgründen will ich zu Ihrer Idee, die Sie ausNiedersachsen mitgebracht haben, zu den Mehrgenera-tionenhäusern, nicht mehr viel sagen. Grundsätzlich be-grüßen wir von der FDP das. Die Förderung wird in die-sem Jahr nicht mehr beginnen, weil der Haushalt erstMitte des Jahres verabschiedet wird. Deshalb werden SieSchwierigkeiten haben, das zeitlich hinzubekommen.Zum Projekt Elterngeld. Heute haben Sie, Frau Mi-nisterin, in Ihrer Rede sehr umfänglich über das Eltern-geld gesprochen. Im Etat des Familienministeriums fin-det sich dazu aber kein Etatposten. Die FDP-Fraktion hatsich in einer Kleinen Anfrage nach den Details des El-terngeldes erkundigt. Die Antwort der Bundesregierungauf die Fragen 3 bis 7,10 bis 14, 16, 19, 20 und 22 lautet:Da der Entwurf dazu noch nicht fertig gestellt ist, kön-nen diese Fragen zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantwor-tet werden.Für die FDP-Bundestagsfraktion stelle ich hier fest:Eine Gesamtkonzeption zum Elterngeld existiert bei die-ser großen Koalition nicht. Das Problem der Anschluss-betreuung, meine Damen und Herren, haben Sie bishernicht gelöst. Wenn Sie da nichts machen, wird das Pro-jekt des Elterngelds ins Leere laufen.
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Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme jetzt zum Schluss.
Der Einzelplan 17, der Haushalt des Familienministe-
riums, zeigt nur kleine Trippelschritte der großen Koali-
tion.
Damit wird die Bundesregierung den Herausforderungen
einer modernen Gesellschaft in unserem Land nicht ge-
recht.
Für die SPD-Fraktion spricht die Kollegin Nicolette
Kressl.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Hinter den Zahlen eines Haushaltsplans stehenimmer die Ideen und die Vorstellungen der Politik, indiesem Fall der Politik für Familie, Frauen, Senioren undJugend. Frau Lenke, zu einer Haushaltsberatung gehörtimmer eine mittelfristige Finanzplanung. Darin wird dasElterngeld sehr wohl enthalten sein. Ich wundere mich,dass es Ihnen schon seit langer Zeit nicht gelingt, denBlick über ein Jahr hinaus zu richten. Vielleicht könnenSie es nicht lesen; ich weiß es nicht. Aber hören Sie auf,solche unhaltbaren Vorwürfe in den Raum zu stellen!
Wir sprechen heute über diesen Haushalt. Ich will aneinigen Beispielen zeigen, dass es für uns eine wichtigegedankliche Leitlinie gibt. Wir wollen mit diesem Haus-halt auch die Rahmenbedingungen für selbstbestimmtesLeben und freie Entscheidungen deutlich machen.
Ich will das zunächst am Beispiel der Familie be-schreiben. Für uns ist klar, dass es – in der Weiterent-wicklung dessen, was wir in den letzten Jahren gemachthaben – darum geht, die Vereinbarkeit von Familie undBeruf zu verbessern und damit zusammenhängend denAusbau der Kinderbetreuungsangebote voranzubringen.Lassen Sie mich all jene, die in der letzten Zeit – wieich finde, zu Recht – über die Frage der Entscheidungs-und Wahlfreiheit bei diesem Thema debattieren, aufFolgendes hinweisen: Wer glaubt, wir würden mit dem,was wir tun, Wahlfreiheiten einschränken – manchmalhöre ich das –, der vergisst, dass wir Wahlfreiheit nurdann einschränken könnten, wenn sie vorhanden wäre.Ich glaube aber, dass wir in der alltäglichen Praxis sehroft erleben, dass sie bisher bei weitem noch nicht in vol-lem Umfang gegeben ist. Solange ich von den Arbeits-gemeinschaften und Arbeitsagenturen noch höre, dass esAlleinerziehenden nicht gelingt, einen Job anzunehmen,weil keine Betreuungsmöglichkeiten vorhanden sind, solange können wir nicht von Wahlfreiheit sprechen.
Solange Väter sich wegen der finanziellen Einschrän-kung, die eine Familie hätte, wenn sie eine Zeit lang aufErwerbstätigkeit verzichten würden, nicht für Betreuungentscheiden können, so lange können wir nicht vonWahlfreiheit sprechen.
Deshalb bin ich der Meinung, dass auch eine Diskussionüber das Elterngeld die Möglichkeit der freien Entschei-dung beider Elternteile verbessert und nicht verschlech-tert. Dieses Thema möchte ich gerne diskutiert haben.Wir sollten offen miteinander darüber reden.
Solange es keine ausreichende frühe Förderung unse-rer Kinder gibt und damit ihre Chancen für die Zukunftnicht gesichert sind, so lange können wir auch von derenWahlfreiheit in Bezug auf Beruf und Zukunftsentwick-lung nicht reden. Deshalb ist es gut, dass es auch für die-sen Bereich Ansätze im Haushaltsplan gibt. Das gehörtfür mich zu einem selbstbestimmten Leben, das wir Kin-dern, Jugendlichen und Erwachsenen ermöglichen müs-sen. Das steckt hinter diesem Haushaltsplan.
Dazu gehört für mich, dass wir uns anschauen, wasüber die Jahre an Förderung und Unterstützung gewach-sen ist, und überprüfen, wie wir Mittel gezielter in dieInfrastruktur, den Betreuungsausbau – dazu gehört auchdie frühe Förderung von Kindern – fließen lassen kön-nen. Denn es ist wichtig, den jungen wie den älterenMenschen in aller Breite Chancen zu ermöglichen.
Diese Linie bezüglich der Entscheidungsfreiheit istnicht nur im Familienbereich zu finden. Die Tatsachebeispielsweise, dass wir wollen, dass junge Menschensich gesellschaftlich und politisch frei und ohne Druckengagieren können, ist daran festzumachen, dass wirweiterhin in gleicher Höhe Mittel für Programme gegenRechtsextremismus verankert haben. Dass wir jungeMenschen, die Opfer von Druck von rechtsradikalerSeite werden, unterstützen und ihnen helfen, sich zuwehren, gehört für mich zu der Linie einer freiheitlichenEntscheidung und eines selbstbestimmten Lebens. Dasgeht weit über die üblichen Diskussionen hinaus und istfür mich ein ganz wichtiger Bestandteil dieses Bereichs.
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Frau Kollegin, die Kollegin Ina Lenke würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Na klar.
Bitte schön.
Frau Kressl, ich kann vielem, was Sie sagen, zustim-
men. Aber wenn Sie von der Freiheit junger Menschen
sprechen, dann habe ich wirklich die ernsthafte Frage:
Was ist denn mit der Freiheit der Menschen in Bezug auf
den Pflichtdienst, auf Wehrpflicht und Zivildienst?
Ich habe Ihnen drei gute Gründe gegen diese Pflicht-
dienste genannt und würde Sie bitten, sich einmal zu der
Freiheit von jungen Männern zu äußern.
Sehr geehrte Frau Lenke, wir können gern ein biss-
chen miteinander philosophieren.
Zum Thema Freiheit gehört für mich immer auch die
Debatte über Verantwortung.
Sie wissen, dass es natürlich auch in meiner Fraktion
eine politische Debatte darüber gibt. Ich halte es für rich-
tig, dass sie geführt wird. Ich halte es aber für falsch,
dass Sie mit Ihrer Frage im Prinzip unterstellen, die Frei-
heit junger Männer sei ausschließlich dann gewährleis-
tet, wenn sie nicht einen Pflichtdienst leisten müssen,
ohne gleichzeitig die Frage zu berücksichtigen, mit wel-
chem Beitrag sie ihrer Verantwortung für die Gesell-
schaft gerecht werden können.
Ich bin bei der Debatte darüber für jedes Ergebnis of-
fen. Die Unterstellung, Ihre Sichtweise sei die einzig
richtige, halte ich für falsch.
Frau Kressl, möchten Sie eine Nachfrage zulassen?
Ja.
Bitte schön, Frau Lenke.
Frau Kressl, Sie unterstellen den jungen Männern, sie
würden wenig soziales Engagement zeigen.
Ist es nicht besser, statt des Pflichtdienstes die Freiwilli-
gendienste zu stärken? Der Pflichtdienst ist wirklich
überflüssig. Es gibt eine Wehrungerechtigkeit, weil nur
jeder zweite Mann zu einem Pflichtdienst einberufen
wird.
– Doch, das stimmt. – Frau Kressl, sollten wir uns nicht
besser gemeinsam mehr für Freiwilligendienste – für das
freiwillige soziale Jahr, für das freiwillige ökologische
Jahr –, nicht nur für junge, sondern für Menschen jeden
Alters, einsetzen? Der Pflichtdienst, von dem ich gespro-
chen habe, gehört nicht dazu.
Es wäre schön, Frau Lenke, Sie hätten eine Frage ge-stellt. Stattdessen haben Sie behauptet, ich würde denjungen Männern geringes Engagement unterstellen. Dashabe ich ausdrücklich nicht getan. Ich habe nur gesagt:Für mich gehört zur Debatte über Wehrdienst und Wehr-pflicht auch die Debatte darüber, ob und in welcherForm Verantwortung wahrgenommen werden muss odernicht. Es ist doch selbstverständlich, dass ich überhauptnicht infrage stelle, dass sich viele junge und ältere Män-ner und Frauen in ganz hervorragender Weise mit ehren-amtlichem Engagement in die Gesellschaft einbringen.Ich möchte Sie bitten, einen Blick in den Haushalts-plan zu werfen. Wenn Sie das getan hätten, dann hättenSie festgestellt, dass wir seit letztem Jahr im Bereich„Generationenübergreifende Freiwilligendienste“ beider Frage der Unterstützung des Engagements junger,aber auch älterer Menschen deutliche Zeichen setzen.
Die Linie, die wir verfolgen, halte ich für ganz wichtig:Wir wollen anerkennen, dass es bei der Frage des selbst-bestimmten Lebens der älteren Generationen nicht nurum Heime und um die Pflegeversicherung geht. UnserEinsatz für selbstbestimmtes Leben und die freiheitlicheEntscheidung für das eigene Leben finden darin Aus-druck, dass wir mit dem Titel „Generationenübergrei-fende Freiwilligendienste“ die Schaffung von Rahmen-bedingungen für das Einbringen der älteren Generationin die Gesellschaft deutlich unterstützen. Auch das istwichtig.
Ich möchte gern mit Ihnen allen über die Frage, wasuns im Bereich des selbstbestimmten Lebens und derfreiheitlichen Entscheidung wichtig ist, reden. Auchwenn wir uns zwischen den Fraktionen politisch nochnicht ganz geeinigt haben, gibt es ein deutliches Signal,dass wir eine Stelle einrichten wollen, die sich um dieGleichbehandlung von Menschen in dieser Gesellschaftkümmert. Wir wollen nämlich bei der Umsetzung der
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Nicolette KresslAntidiskriminierungsrichtlinie deutlich machen, dassdiese Stelle Unterstützung anbietet.Für mich ist es selbstverständlich, dass es für uns eineVerpflichtung ist, für den Fall, dass Behinderten bei-spielsweise immer noch nicht der Zutritt zu Hotels undRestaurants gewährt wird, ihre Freiheit nicht einzu-schränken, sondern sie zu garantieren. Manchmalbraucht es da gesetzliche Sicherungen.
Wenn wir sie dann nicht nutzen müssen, umso besser.Das Gleiche gilt im Übrigen – das ist nicht zu verglei-chen; aber es steht in einem gewissen Zusammenhang –für die Frage, in welchem Maße die Gleichbehandlungvon Frauen und Männern im Wirtschaftsleben, zumBeispiel bei der Entlohnung, dem Arbeitsrecht oderbeim Zugang zu Qualifikationen und bei Aufstiegsmög-lichkeiten,
– hören Sie erst einmal zu –: Die Menschen im Lande,Kinder-, Jugend-, Familien- und Seniorenverbände hat-ten im Herbst 2005 die Hoffnung auf eine verändertePolitik, die aus der Spirale der Armut und der ungenü-genden Bildung herausführt, Hoffnung auf eine Politik,die Wege aufzeigt, davon wegzukommen, die Aufgabenim Gemeinwesen – ob Kinderbetreuung oder Bildung,Gesundheit oder Kultur – stets auf den Kostenfaktor zureduzieren.Mit Spannung warten viele Menschen in dieser Wo-che auf Impulse, die das Land in seiner Entwicklungspürbar voranbringen sollen. Aber wieder geben Sie alsRegierung mit Ihrer Haushaltspolitik – da haben wir alsBeispiel den Einzelplan 17 – keine eindeutigen Antwor-ten. Die halbherzigen Aussagen des Finanzministers undder Kanzlerin sind ein Beleg dafür.Was Sie leugnen und nicht wahrhaben wollen: Siezerstören mit Ihrer derzeitigen Politik die Sozialsys-teme. Sie engen die Handlungsspielräume der Kommu-nen immer mehr ein und – das ist besonders verwerf-lich – Sie wollen sich als Bund aus der kommunalenVerantwortung zurückziehen.
Das ist und bleibt ein unhaltbarer Zustand und führt dieMenschen in diesem Land in die Irre. – Sie sagen, dassei richtig so. Wir wissen, wie Sie denken. – Sie bauenan einem Haus, bei dem die Mängelliste für das Funda-ment schon jetzt endlos ist.Wenn ich ehrlich sein soll: Seit meiner ersten Rede indiesem Haus zweifle ich zunehmend an der Glaubwür-digkeit Ihrer Versprechungen.
Ich bleibe dabei: Ich messe Sie an Ihren Taten. Wie inder gestrigen Debatte durch meine Fraktion deutlich ge-macht wurde – ich bekräftige das mit Nachdruck –: DieEntwicklung der Geburtenrate in Deutschland ist dieAntwort der Menschen auf Ihre Ehrlichkeit und Verläss-lichkeit in der Familienpolitik.
Wer trotz schöner Worte nach außen die Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik heimlich ausdünnt und abbaut, musssich am Ende nicht wundern, wie die Menschen daraufreagieren. Faszinierend an der Sache, aber aus unsererSicht leider auch falsch und verlogen ist Ihre Sprachge-wandtheit, mit der Sie die Menschen zu besänftigen ver-suchen. – So viel zu Ihrer Ehrlichkeit, Frau Merkel – lei-der ist sie heute nicht da – und Co.Zum Einzelplan 17. Auf den ersten Blick könnte manpositiv überrascht sein. Allerdings trauen wir diesemFrieden nicht, weil, wie von mir bereits erwähnt, klareAussagen zur Finanzierung der im Koalitionsvertragvorgesehenen Vorhaben fehlen. Die Wahrheit ist: ImGrunde geht quer durch den Einzelplan 17 der Rotstift.Frau von der Leyen, in den ersten 100 Tagen der Re-gierung habe ich Sie mehrfach erlebt, als Sie die Aufga-ben Ihres Ministeriums präsentierten. Sie haben immerwieder Wert darauf gelegt und betont, den Kindern, dienicht auf der Sonnenseite, sondern auf der Schattenseitedes Lebens geboren werden, eine besondere Hilfe zu-kommen lassen zu wollen.Leider vermisse ich bis heute Ihre Aussagen dazu,was Sie konkret bereit sind zu unternehmen, um die ge-sellschaftlichen Ursachen für die Probleme zu beseiti-
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Jörn Wunderlichgen, damit für alle Kinder wieder von Anbeginn dieSonne scheint und damit sich der Junge aus Dresdeneben nicht mehr morgens sein Pausenbrot von der Aus-gabestelle der Tafel holen muss. Konkret vermisse ichIhren Gestaltungswillen im Sinne einer interfraktionel-len und von Ihnen immer wieder betonten Querschnitts-aufgabe Ihres Ministeriums zur Verhinderung von Armutbei Kindern, bei Jugendlichen, in den Familien und beiSenioren. Keiner, auch kein Rentner, darf sein Einkom-men durch Sammeln von Leergut aus Mülltonnen auf-bessern müssen.
Geben Sie hier und heute Ihr Bekenntnis ab, alles zutun, damit in den nächsten Jahren keine Kürzungen imBereich des Gemeinwohls vorgenommen werden. Hierhaben Sie die Chance dazu. Tragen Sie im Gegenteildoch einmal Sorge dafür, dass das Zukunftsprogramm„Jugend und Innovation“ in seinem Finanzansatz ver-doppelt wird. Ein Haushalt, der Fragen der Zukunft auf-wirft, muss in der Gegenwart die dafür notwendigen Be-dingungen schaffen, und zwar rechtzeitig.
Dann – und nur dann – kann Vertrauen entstehen.Trotz der erfreulichen Aufstockung des Kinder- undJugendplans des Bundes frage ich mich, wie sich dieFörderschwerpunkte zukünftig gestalten werden. EinBeispiel: Die Bundesregierung baut die Freiwilligen-dienste aus und realisiert dies mit Umschichtungen imKinder- und Jugendplan. Für 2006 ist das noch relativunproblematisch, aber ab 2007 soll ein weiterer Ausbauerfolgen. Wie und wo soll dann noch umgeschichtet wer-den? Anders gefragt: Was steht schon jetzt auf derStreichliste?Wer gestern Frau Merkels Worte aufmerksam verfolgthat, wird nicht überhört haben, dass sie mehrfach an Ehr-lichkeit, Glaubwürdigkeit und Vertrauen appelliert hat.Da stellt sich natürlich die Frage: Wie wird denn der Ko-alitionsvertrag bezüglich der Weiterentwicklung desKinder- und Jugendplans nach den Kriterien Wirksam-keit, Effizienz und Nachhaltigkeit umgesetzt?Zur Familienpolitik. Wenn für Sie in der RegierungFamilienpolitik gleichzeitig auch Gleichstellungspolitikist, ist das anerkennenswert. Wenn ich aber beim Lesendes Einzelplans 17 feststellen muss, dass Gleichstellungvon Frauen und Männern Sie nur interessiert, wenn essich um Gleichstellung von Müttern und Vätern handelt,stimmt mich das schon sehr nachdenklich. Bezüglich derGleichstellungspolitik scheint Ihnen jegliche Fantasie zufehlen. Aus meiner Sicht findet die Gleichstellungspoli-tik für Sie vordergründig in Studien, Berichten und derProduktion vielen Papiers statt – von globalen Kürzun-gen einmal ganz abgesehen.Woher Sie die Zahlen zum Zivildienst nehmen, weißich nicht. Wenn man sich die prognostizierten Zahlen derWehrpflichtigen anschaut, dann stellt man fest, dass die-ser Haushaltstitel mit etwa 70 Millionen Euro überfrach-tet ist. Ist das die Art, Geld im Haushalt zu verstecken?So weit, Frau Merkel und Frau von der Leyen, zu Ih-rer Aussage – ich zitiere –:Unsere Politik muss beweisen, ob wir es ernst mei-nen.– Wer soll da noch Vertrauen haben?Um schlussendlich noch zum Glauben zu kommen:Schon Jakobus kannte offensichtlich die große Koali-tion. Ich darf aus dem Brief des Jakobus Kap. 2 Vers 17zitieren:So ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, totin sich selber.Die Hoffnung ist gestorben, Vertrauen kann nichtwachsen, der Glaube ist tot. Große Koalition, ich ver-neige mich vor dir.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Ministerin von der Leyen, wir alle wis-sen: Wir diskutieren hier einen Haushalt, der sich inner-halb engster finanzieller Spielräume bewegt. Daher giltes, mit den vorhandenen Mitteln auch die richtigen Prio-ritäten zu setzen.Der Einzelplan 17, also der Haushaltsplan, den wirheute beraten, stellt eine dieser Prioritäten im Gesamt-haushalt dar. Er enthält die entscheidenden Leistungen,die aus Deutschland ein kinderfreundliches und damitzukunftsfähiges Land machen können. Deshalb war ichauch erstaunt, wie kurz der Vortrag der Ministerin war.
Erst einmal freut es mich natürlich, dass in einigenBereichen an die erfolgreiche Arbeit der rot-grünen Re-gierung angeknüpft wird. Ich verweise auf Programmewie die Allianz für Familie und die Weiterführung derlokalen Bündnisse für Familie, die sich in vielen Kom-munen als Glücksfall für Familien erweisen, weil sie einfamilienfreundliches Umfeld schaffen. Gerade das ist es,was sich viele Familien von der Politik erhoffen und,wie ich finde, zu Recht von ihr erwarten.
Sie, meine Damen und Herren von der großen Koali-tion, geben schon jetzt – nach 130 Tagen – vor, diese Er-wartungen erfüllen zu können. In der Realität hat sichseit Ihrem Regierungsantritt für Familien und Kinderbislang allerdings nichts verändert.
Sie, Frau Ministerin, vermitteln zwar nach außen denEindruck, es solle jetzt so richtig viel für Familien mit
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Britta HaßelmannKindern passieren. Bislang herrscht allerdings, wasneue Akzente angeht, klar Funkstille.
– Regen Sie sich doch nicht so auf. – Verstehen Sie michnicht falsch, ich finde es gut, sogar wunderbar, dass Fa-milienpolitik derzeit in aller Munde ist. Das gefällt mir.
Trotz intensiver Arbeit der rot-grünen Regierung aufdiesem Feld, zum Beispiel beim Tagesbetreuungsaus-baugesetz oder beim Kinderzuschlag, ist Deutschlandleider immer noch kein kinderfreundliches Land.Wir beklagen vor dem Hintergrund der demographi-schen Entwicklung vor allem die niedrigen Geburten-raten.
– Jetzt kommen Sie mir nicht damit, dass Rot-Grün da-für verantwortlich ist. Die Geburtenrate geht seit 1970zurück. – An die Adresse der Herren, die sich gar nichtberuhigen können, sage ich: Durch altkluge Ratschläge,gerade an junge Frauen gerichtet, sich endlich für einLeben mit Kindern zu entscheiden, ändert sich in dieserGesellschaft gar nichts.
An einer verlässlichen Kindertagesbetreuung, am Voran-schreiten der Gleichstellung von Frauen und Männern,an einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf,und zwar für Frauen und Männer, sowie an der Tatsache,dass Kinder nicht mehr das Armutsrisiko Nummer einssein dürfen, müssen wir weiterhin arbeiten. Wir müssentragfähige Konzepte und Lösungen entwickeln, sonst än-dert sich langfristig nichts.
Sehen wir uns Ihre Kinderpolitik nach 130 Tagen Re-gierungsverantwortung doch einmal genauer an. Trotzder viel beschworenen Politik der kleinen Schritte sindSie bereits nach den ersten Metern ins Stolpern gekom-men. Sie machen den dritten Schritt vor dem ersten. Zu-nächst sah es so aus, als hätten Sie sich im Koalitions-vertrag auf ein halbwegs stringentes Konzept geeinigt.Als es in den Gesprächen dann konkreter wurde, warschnell klar, dass die Einigung nur Makulatur war. Wasam Ende herauskam, ist ein Modell der Absetzbarkeitvon Betreuungskosten, das kompliziert und ungerechtist – ungerecht, weil es zum Beispiel für ein Drittel allerFamilien in Deutschland, die aufgrund geringster Ein-kommen gar keine Steuern zahlen, überhaupt nichtsbringt.Für das Elterngeld – ich habe mich gewundert, dassSie so laut geklatscht haben – wird schon einmal1 Milliarde Euro, natürlich erst für 2007, eingestellt,ohne dass wir bisher ein schlüssiges Konzept gesehen,geschweige denn diskutiert hätten.
Mir ist klar, warum das so ist. Die Vorschläge von Frauvon der Leyen sind ja nicht einmal in den eigenen Rei-hen mehrheitsfähig, rütteln sie doch zu sehr am altherge-brachten Familienmodell der CDU/CSU.
Mein Kollege Rüttgers aus Nordrhein-Westfalen, IhrMinisterpräsident,
hat doch längst erklärt, dass er die dringend notwendigeVäterkomponente im Elterngeld ablehnt. Er hat damitgedroht – das sagt er auch gegenüber der Presse –, dasser einen Gesetzentwurf mit dieser Väterkomponente imBundesrat ablehnen und blockieren wird.
So sieht es aus. Da frage ich mich, wie viele Kolleginnenund Kollegen gerade aus der CDU insgeheim Beifallklatschen, weil Herr Rüttgers ihnen aus der Seelespricht.
Frau Ministerin, Sie versuchen im Moment dieseSchwierigkeiten zu überspielen, indem Sie uns Frauendauernd öffentlichkeitswirksam vorführen, wie frau esschaffen kann, Familie und Kinder unter einen Hut zubekommen.
Eine Familienpolitik, wie wir sie wollen, die das Kindin den Mittelpunkt aller Bemühungen stellt, brauchtkeine arbeitsmarktpolitischen Scheinlösungen mit Ab-setzbarkeitsmodellen und keine faulen Kompromisse,bei denen man an jeder Stelle das überholte Familienbilddurchschimmern lässt. Was Sie gerade skizzieren, istkeine moderne Familienpolitik.Was wir brauchen – das sollte der erste Schritt sein –,ist eine flächendeckende Kindertagesbetreuung auchfür Kinder unter drei Jahren. Darin liegt der Schlüsselfür die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Jetzt fragen Sie sich sicher: Woher das Geld nehmen?Wir machen einen Vorschlag: aus dem Ehegattensplit-ting. Das Abschmelzen bringt geschätzte 2,1 MilliardenEuro. Sie könnten wir prima einsetzen. Dieses Splittingdient doch nur einem einzigen Zweck, und zwar der För-
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Britta Haßelmannderung der Ein-Verdiener-Ehe nach dem Motto „Papageht arbeiten und Mama hütet das Heim.“
Ich frage Sie: Glauben Sie ernsthaft, dass dieses Famili-enmodell den heutigen Lebens- und Arbeitsverhältnissenjunger Frauen und Männer entspricht? Ich glaube, dasder meisten nicht.
Es ist richtig, gerade angesichts der demographischenEntwicklung über die Vereinbarkeit von Familie und Be-ruf zu sprechen. Aber es ist falsch, die Gleichstellungs-politik darauf zu reduzieren. Frau Ministerin, in IhrenAusführungen im Familienausschuss habe ich Sie überFrauen bisher nur im Kontext von Familie sprechen hö-ren.
Welchen Stellenwert die Gleichstellungspolitik für Siehat, haben Sie uns unlängst hier im Parlament gezeigt:Sie mussten offiziell herbeizitiert werden, als wir einenTag nach dem Internationalen Frauentag über die Diskri-minierung von Frauen im Erwerbsleben diskutiert ha-ben.
Das ist unangenehm, aber wahr.Da wir gerade beim Thema Diskriminierung sind:Kollegin Kressl, natürlich ist es schön, dass eine Antidis-kriminierungsstelle eingerichtet wird. Ich finde dasprima; ich begrüße das. Aber kommen Sie beim Antidis-kriminierungsgesetz doch erst einmal zwischen Unionund SPD zu einem Ergebnis.
Meine Damen und Herren von SPD und CDU/CSU,die in Ihrem Haushalt vorgeschlagene Reduzierung derAnsätze von Gleichstellungs- und Seniorenpolitik zu-gunsten des Ansatzes von Familienpolitik halte ich fürfalsch, und zwar nicht nur, weil wir einer engagiertenFrauenpolitik dadurch nicht gerecht werden, sondernauch älteren Menschen nicht. Wer ständig betont, wiewichtig die ältere Generation sei und wie wichtig es sei,sich die Frage zu stellen, wie Menschen länger im Ar-beitsleben bleiben können und wie wir ihren Erfahrungs-schatz sichern können, der oder die sollte nicht anfan-gen, diesen Etat zugunsten der Familienpolitik zukürzen.
Nun zu Ihrem Schlagwort „Mehrgenerationenhäu-ser“. Natürlich begrüße ich Beratungsstellen und Begeg-nungsstätten für Alt und Jung. Das alles ist wunderbar.Staatssekretär Kues hat uns neulich erklärt, bei denMehrgenerationenhäusern solle das Prinzip der Großfa-milie verankert werden. Ja wunderbar, aber was bedeutetdas? Wie wollen Sie ein solches Konzept mit den Kom-munen, mit den Städten und Gemeinden und mit denWohlfahrtsverbänden umsetzen? Ich finde, das ist einEinsatz von Geld ohne Konzept und ohne eine vorherigeDiskussion im Ausschuss.
Aber Ihr Haushalt spiegelt nicht nur Realitätsferne inKompromissen und Konzeptlosigkeit wider, sondern esgibt auch klare Fehlentscheidungen. An dieser Stellenenne ich den Zivildienst. Sie sehen 170 Millionen Eurofür Sold, Zulagen und Zuwendungen für Zivildienstleis-tende vor. Was hat das mit verbesserter Einberufungsge-rechtigkeit zu tun?
Über 88 000 Zivildienstleistende und 59 000 Wehr-pflichtige haben demnächst Dienst abzuleisten. Was alsohat das mit der Wehrgerechtigkeit zu tun, die Sie im Ko-alitionsvertrag versprechen?
Ich finde: rein gar nichts. Deshalb gewährleisten Siedoch wenigstens über den Haushaltsansatz die Gleichbe-handlung von Wehr- und Zivildienstleistenden. UnserZiel ist es nach wie vor, den Wehrdienst abzuschaffen.
Nun noch zu einem weiteren Punkt: das ThemaRechtsextremismus. Natürlich ist es wichtig, die Pro-gramme zur Bekämpfung des Rechtsextremismus fort-zuführen. Das ist angesichts der aktuellen Zahlen undangesichts der Verfassungsschutzberichte ganz entschei-dend. Ich finde es einfach unglaublich, dass an dieserStelle darüber diskutiert werden muss, ob wir die Pro-gramme demnächst nur noch als Programme gegen Ex-tremismus bezeichnen dürfen oder weiterhin als Pro-gramme gegen Rechtsextremismus.
Dabei erhoffe ich mir vonseiten der SPD ein bisschenUnterstützung, um ein klares Signal zu senden, um dieLänder und Kommunen sowie alle Menschen, die ganzengagiert an diesem Thema arbeiten, nicht auf der Stelletreten zu lassen und um das Thema Rechtsextremismusda zu behandeln, wo es hingehört, nämlich in der Mittedieses Parlamentes.
Das Thema Jugend behandeln Sie im Grunde genom-men überhaupt nicht. Es steht im Arbeitsprogramm derMinisterin ganz hinten an. Im Haushalt sind keine not-wendigen Initiativen für Bildung, Ausbildung, Chancen-und Lebensperspektiven zu erkennen. Dabei bedeutetJugend Zukunft. Also: Wo sind die Vorschläge der gro-ßen Koalition zum Thema Perspektiven für Jugendliche?Ich sehe keine. Ich fände es gut, wenn Sie mir welchenennen würden.
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Britta HaßelmannAm Ende kann ich nur sagen: Dieser Haushaltsent-wurf reduziert Ihre Politik auf nüchterne Zahlen undFakten und blendet freundliches Lächeln und großmü-tige Ankündigungen einfach aus.
Deshalb bleibt mir, festzustellen, dass Sie in einem sowichtigen und entscheidenden Zukunftsfeld faktischnoch nichts bewegen.Vielen Dank.
Frau Kollegin Haßelmann, das war – sozusagen unter
Realbedingungen – Ihre erste Rede im Deutschen Bun-
destag. Dazu gratulieren wir alle Ihnen ganz herzlich
und wünschen viel Erfolg.
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die große Koalition hat die Familienpolitikdorthin gerückt, wo sie hingehört: ins Zentrum der Poli-tik. Der Haushalt 2006 ist keine Ankündigungsschrift,sondern ein Kursbuch der Taten.
Der erste wichtige Beschluss dieser Koalition war, diesteuerliche Absetzbarkeit der Kosten für die Kinderbe-treuung deutlich zu verbessern. Nun mag zwar der eineoder andere sagen, das sei ein kleiner Schritt. Aber ichglaube, viele Familien würden sagen: lieber kleineSchritte als große Sprüche.
Ihnen, Frau Bundesministerin, gilt mein Dank. Sie ha-ben die Besserstellung von Familien und Kindern in deröffentlichen Wahrnehmung zum Toppthema gemachtund das ist gut so.
Eine Haushaltsdebatte gibt Anlass, über den Teller-rand hinaus zu schauen und perspektivisch auch dienächsten Jahre in den Blick zu nehmen. Wenn wir dastun, macht uns – das klingt in allen Reden durch – diedemographische Entwicklung Sorgen. Familienpolitikund Bevölkerungspolitik sind zwar nicht dasselbe. Aberdie Zahl der Kinder, die in unserem Land geboren wer-den, ist ein wichtiger Indikator dafür, ob sich die Fami-lien hier wohl fühlen oder nicht.Das, was sich hinter der demographischen Entwick-lung verbirgt und durch die Verwendung dieses Begriffsvielfach sogar noch verharmlosend schöngeredet wird,ist an Dramatik nicht zu überbieten. Die Zahl der Fami-lien in Deutschland geht immer weiter zurück. Wennnichts geschieht, sterben die Deutschen aus. FindigeWissenschaftler haben ausgerechnet, dass der letzteDeutsche angeblich um das Jahr 2150 geboren wird.Ob das zutreffen wird, wissen wir alle nicht. Aber ei-nes ist klar: Wenn sich nichts ändert, wird der Letzte dieTür offen lassen und das Licht nicht ausknipsen. Das istfür hoch entwickelte Industriestaaten allerdings kein Na-turgesetz. Denn ein Blick über unsere Grenzen zeigt,dass die Bevölkerungszahl zum Beispiel in Frankreich inden nächsten zehn Jahren nicht, wie es bei uns der Fallist, zurückgeht, sondern um 10 Prozent steigt. Das hatauch damit zu tun, dass die Bedingungen für Familiendort günstig sind.Was kann die Politik tun, um die zutiefst persönliche,private Entscheidung von Paaren, ob sie Kinder bekom-men wollen oder nicht, zu beeinflussen? Welche Mög-lichkeiten und Grenzen gibt es? Ich denke, das Wich-tigste und Schwierigste ist, dass wir einen Klimawechselund ein Umdenken herbeiführen müssen. Deutschlandist in vielen Bereichen ein kinderentwöhntes Land ge-worden. Einige meinen sogar, in Einzelfällen mit derSchaffung von kinderfreien Zonen in ThermalbädernWerbung machen zu können.Deshalb brauchen wir zuallererst eine breit gefächerteKampagne aller Gutwilligen in unserem Land. Deutsch-land soll ein Land der Kinderfreundlichkeit werden.Kinder gehören dazu. Wenn sich Deutschland in einergroß angelegten Imagekampagne wenige Wochen vorBeginn der Fußballweltmeisterschaft als ein Land derIdeen darstellt – das sicherlich nicht ohne Erfolg undohne Resonanz –, dann brauchen wir erst recht eineKampagne für mehr Kinderfreundlichkeit, um Deutsch-land als ein Land darzustellen, in dem Kinder erwünschtsind und dazugehören.Abgesehen von finanziellen Maßnahmen brauchenwir aber noch etwas: ein Klima des Optimismus. Je-mand, der der Überzeugung ist, dass die Zukunft risiko-reich bzw. schlechter als die Gegenwart ist, wird sichkaum für Kinder entscheiden. Wer dagegen meint, dasssich die Situation verbessert, und Vertrauen gewinnt,wird sich eher für Kinder entscheiden.
Durch lustvoll zelebrierte Dekadenz oder morbideUntergangssehnsucht lässt sich keine Atmosphäre derZuversicht schaffen, wohl aber durch eine Politik, dieanpackt und es schafft, Kräfte zu wecken.
Die Menschen in Deutschland haben in den letztenJahrzehnten gezeigt, dass sie in der Lage sind, auchschwierigste Situationen zu meistern. Der Wiederauf-bau, das Wirtschaftswunder, das Zusammenwachsen derbeiden Teile Deutschlands waren größte Herausforde-rungen. Das Ausland kann seine Bewunderung bei einer
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Johannes Singhammersolchen Bewältigung der Aufgaben nicht versagen. Wirbrauchen jetzt in Deutschland einen zweiten Marshall-plan zugunsten von mehr Kinderfreundlichkeit undneuer Zuversicht.Die Politik muss aber auch ihre Grenzen erkennenund darf keine falschen Versprechungen machen. Sie hatkaum Einflussmöglichkeiten auf die zutiefst persönlicheEntscheidung von Paaren, die mit der Bindungsfähig-keit zusammenhängt. Viele haben durch ständigen be-ruflich bedingten Ortswechsel sowie die Verpflichtung,praktisch universell in vielen Städten in Europa und rundum die Uhr verfügbar sein zu müssen, schlichtweg kaummehr die Möglichkeit, Partnerschaften zu gründen.
Wir müssen dafür sorgen, soweit das die Politik kann,dass Mobilität nicht zum Partnerschaftskiller wird.
Eine Bringschuld hat die Politik allerdings, wenn esdarum geht, die ökonomische Benachteiligung von El-tern abzubauen. Natürlich bedeuten Kinder zuallererstLebenssinn, Freude und Liebe.
Aber wenn in den Augen vieler Eltern Kinderlosigkeiteher wirtschaftliche Vorteile bringt, dann führt das zu ei-ner Resignation. Deshalb wollen wir die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf verbessern. Außerdem macht esSinn – damit nehme ich auf, was die Kollegin Kressl ge-sagt hat –, auf die rund 140 staatlichen Transferleistun-gen an die Familien einen genauen Blick zu werfen undsie dahin gehend zu überprüfen, welche davon wirklicheffizient sind, welche eine Wirkung haben und welcheanders und neu bewertet werden müssen.Nicht alle Kinder wachsen in intakten Verhältnissenauf. Diesen Kindern muss unsere besondere Aufmerk-samkeit zuteil werden. In den letzten Wochen sind zumTeil spektakuläre Fälle von schwerster Verwahrlosungvon Kindern bekannt geworden; die Ministerin hat dasangesprochen. Wir wollen keinen Generalverdacht ge-genüber den Eltern aussprechen; denn es sind wirklichnur wenige Fälle. Aber diese wenigen Fälle sind Grundgenug, um alles zu tun, damit sich so etwas nicht wieder-holt. Wir werden nicht nur Diskussionen darüber führen,sondern werden ein abgestimmtes Programm vorlegen,wie wir, soweit es geht, diese Problemfälle rechtzeitigerkennen und die Kinder schützen können.
Dazu zählt auch, ein besonderes Augenmerk daraufzu richten, dass den Seelen der Kinder keine Verletzun-gen und Verwundungen zugefügt werden. Ich denke ins-besondere an Medien, die die Kinder schon fast mit-erziehen, oder an so genannte Killerspiele. Es muss inunserem Land möglich sein – und es wird, soweit unsereMöglichkeiten in der Politik reichen, auch möglichwerden –, beispielsweise zu verhindern, dass Filme einezu niedrige Altersfreigabe erhalten. Es darf nicht passie-ren, dass Filme für Altersklassen freigegeben werden,für die sie nicht geeignet sind. Das ist nach meinem Ge-fühl noch viel zu oft der Fall. Durch solche Filme wer-den die Seelen der Kinder und Jugendlichen verletzt undverwundet. Die Verwundung ist dabei größer als derNutzen.Zur nachhaltigen Kinderfreundlichkeit gibt es keineAlternative.
Ein demographischer Schrumpfungsprozess durchimmer weniger Kinder begünstigt neue Konflikte undBruchlinien in unserem Land. Der DemographieexperteProfessor Birg beschreibt vier dieser Konfliktlinien.Erstens: wachsender Verteilungsstress zwischen den Ge-nerationen. Zweitens: die Spaltung unseres Landes inwachsende und schrumpfende Städte oder Bundesländer.Drittens: das Auseinanderdriften von zugewandertenPopulationen und alteingesessener Bevölkerung. Vier-tens: die Spaltung der Gesellschaft in Teilgesellschaftenmit und ohne Nachkommen.Der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Huber, hatvorgestern in einer Aufsehen erregenden Rede daraufhingewiesen, dass die Gefahr droht, dass eine, wie er esgenannt hat, „kindsvergessene Gesellschaft“ maßgebli-che Tugenden des Zusammenlebens wie Solidarität undRücksicht vergisst. Das können wir nicht zulassen. Des-halb wollen wir die Kinder und die Familien ins Zen-trum der Politik stellen. Das bedeutet keinesfalls eineVernachlässigung der älteren Generation. Der prognosti-zierte Krieg der Generationen ist kompletter Unsinn. Wirbrauchen keinen Krieg, wir brauchen eine Solidarität derGenerationen.
Ein wichtiges Vorhaben ist das Projekt Mehrgenera-tionenhäuser, das die Ministerin vorgestellt hat. Familieist kein Auslauf-, sondern ein Zukunftsmodell. Es gibtkeinen Menschen in Deutschland, der nicht in eine Fa-milie hineingeboren wurde. Es gibt niemanden, der sichnicht eine intakte Familie wünschen würde. Deshalbwerden wir alle Signale für die Zukunft der Familie aufGrün stellen.
Dies tun wir auch deshalb, weil ohne eine Zukunft mitKindern eine Zukunft im Alter irgendwann einmal im-mer schwieriger wird.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Otto Fricke.
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Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Liebe Frau Ministerin! Mit Interesse habe ichheute die Agenturmeldungen durchgesehen und festge-stellt, dass Sie auch heute wieder etwas zum Kinderkrie-gen gesagt haben, nämlich dass die Rolle der Männereine entscheidende Mitursache für die niedrige Gebur-tenrate ist.Ich gebe Ihnen Recht. Das bedeutet für eine Familien-ministerin dann aber doch, dass sie in dem neuen Haus-halt, der ja angeblich anders als der vorherige Haushaltsein soll, für diesen Bereich etwas tun muss.
Wir haben ein sehr gutes Berichterstattergespräch ge-führt, das durch den Kollegen Schmidt geleitet wurde.Ich frage mich, wo ich die Ansätze in Ihrem Haushaltfinde. Damit das nicht falsch verstanden wird: Ich findeProgramme über Programme zu allem möglichen Wich-tigen. Für die Frage, wie ich die Mentalität der Männerverändere, finde ich aber nur relativ wenig.
– Zum Elterngeld komme ich gleich.Es gibt ein Gutachten der Prognos AG mit dem Titel„Väterfreundliche Maßnahmen in Unternehmen“, dasvon Ihrer Vorgängerin in Auftrag gegeben wurde. Als ei-ner der Kernsätze steht dort, dass man eigentlich nur et-was tun kann, was insgesamt familienfreundlich ist. VonFrau Schmidt wurde damals wohl schon erkannt, dasshier ansonsten Trippelschritte notwendig wären. Im Üb-rigen ist es die Mentalität. Es stellt sich die Frage, wiewir in der Gesellschaft miteinander umgehen. Es gehtalso darum, wie Männer mit Frauen umgehen und wiesich Männer beim Thema Familie untereinander verhal-ten.Herr Singhammer, wirtschaftliche Gründe sind nichtmaßgeblich. Ich gebe Ihnen Recht, dass die grundle-gende Frage in unserer materialistischen Gesellschaftleider immer noch lautet, wie viel das kostet. Wir wollenaber doch erreichen, dass sich die Mentalität ändert unddass die Menschen nicht fragen, wie viel sie die Kinderkosten, sondern dass sie erkennen, wie viel die Kinderihnen bringen können. Das muss doch das Ziel sein.In einem Interview der „Stuttgarter Zeitung“ habenSie gesagt, Frau Ministerin: Ich gebe zu, dass es auchdaran liegt, dass die Frauen den Männern nicht zutrauen,eine gute Erziehungsleistung zu erbringen.
Ich muss eines sagen: Ich halte das für den komplett fal-schen Ansatz. Jungen Männern, die jetzt Familienverant-wortung übernehmen, wird in dieser Gesellschaft viel zuwenig zugetraut. Wir sind sehr viel weiter.
Als ich hier vor drei Jahren meine so genannte Jung-fernrede gehalten habe, waren im Plenum weit mehr,nämlich 80 bis 90 Prozent, Frauen anwesend. Die Kolle-gin Griese erinnert sich. Das hat sich geändert. Mankann das sehr genau sehen. Ich sehe in allen Fraktionen,wie sich junge Männer hier engagieren. Versuchen Siedoch einmal, mehr an dieser Stelle anzusetzen und denFrauen klar zu machen – da haben Sie im Moment ja ei-nen starken Zugang –, dass sie von Männern mehr for-dern können, weil man Männern auch mehr zutrauenkann.
Es gab hier eine Diskussion über den Haushalt undich werde es noch einmal sagen, wenn wir zum Eltern-geld kommen: Ich habe schon massenhaft Haushalts-pläne gesehen, in denen alles mögliche Tolle stand, wasman in den nächsten Jahren tun wollte. Maßgeblich sindimmer nur die konkreten Zahlen, die für das aktuelleJahr im Haushalt stehen.
Bevor diese Zahlen im nächsten Jahr nicht im Haushaltstehen, bin ich an dieser Stelle vorsichtig.Damit auch das nicht missverstanden wird: Ich wün-sche mir, dass wir beim Elterngeld etwas tun; denn esist ein wesentliches Kriterium, um die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf zu erreichen. Bezüglich der Lösungbin ich allerdings gespannt, wie diese beiden Blöcke zu-einander geführt werden können, ohne dass die Mitte zusehr zerquetscht wird.Schauen wir uns die andere Seite an. Es war MinisterSteinbrück, der die Debatte über eine Absenkung desKindergeldes zur Finanzierung von Kindergärten losge-treten hat. Ob das richtig ist, will ich einmal hintanstel-len. Aber eines ist wichtig: Es geht nicht um die Fragevon mehr oder weniger Kindergeld, sondern es geht umdie Frage von mehr oder weniger Geld für Kinder. Wirwollen mehr Geld für Kinder. Das muss das Ziel von Fa-milien- und Kinderpolitik sein.
Dass es dabei Probleme mit dem Steuerrecht gibt, willich gar nicht bestreiten. Aber ich will ganz ehrlich sagen:Wir sind der Bundestag und wir sind diejenigen, die dieGesetze machen. Wir sind diejenigen, die Anstrengun-gen unternehmen müssen, Lösungen dafür zu finden, umMenschen, die ihre Kinder nicht richtig versorgen, obmental oder emotional, zu unterstützen. Dabei müssenim Zweifel diejenigen, die mehr Geld haben, einen fi-nanziellen Beitrag leisten.
Ich will noch ein Grundsatzproblem ansprechen.Während der Haushaltsberatungen der letzten Tage – ichhabe hier wirklich viel Zeit verbracht – habe ich dasWort sparen nicht gehört. Auch heute habe ich diesesWort in keinem der Redebeiträge von der Koalition ver-nommen, sondern immer nur den Begriff der knappenKassen. Wenn es neben den Haushältern, die in fast allenFraktionen nicht besonders beliebt sind, eine Gruppegibt, die zum Sparen anhalten und sich für die Strei-
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Otto Frickechung von Subventionen einsetzen sollte, dann sind esdie Familienpolitiker; denn sie wissen, dass wir in30 Jahren in die Augen unserer Kinder und Enkelkindersehen und ihnen erklären müssen, warum wir ihnen sohohe Schulden hinterlassen haben.
Zum Thema Antidiskriminierungsstelle ist einigesgesagt worden. Frau Haßelmann, es wird letztlich nichtsanderes als eine neue Behörde sein, wenn sich CDU/CSU und SPD darauf einigen können, ob diese Stelle beider Justizministerin von der SPD oder der Familienmi-nisterin von der CDU angesiedelt wird. Ich sage Ihnenganz klar: Aus Sicht der FDP ist das völliger Mumpitz.Wir haben so viele Beauftragte und Behörden inDeutschland. Besser ist Folgendes: Welche Behörde,zum Beispiel das BAZ, hat weniger zu tun und kanndiese Aufgabe übernehmen? Eine andere Überlegung ist:Warum soll dieser Beauftragte zur Exekutive gehören?Wäre es nicht besser – Stichwort Wehrbeauftragter –,wenn dieser Beauftragte dem Bundestag zugeordnet ist?Dann hätten wir als Politiker eine bessere Kontrolle überdas, was dort geschieht.
Ich komme zum Schluss. Frau Ministerin, in meinerHeimatstadt Krefeld steht das Rathaus auf dem Von-der-Leyen-Platz.
Auf diesem Platz hofft man, Kinder zu sehen. Dort fin-den Sie Jugendliche und Erwachsene. Aber was Sie aufdiesem Platz nicht wahrnehmen, ist Kinderlärm. Dabeiwäre Kinderlärm die richtige Zukunftsmusik. Diese al-lerdings ist in Ihrem Haushaltsplan gegenwärtig nochnicht enthalten.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält die Bundesministerin Ursula von der
Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
wollte nur eine Kleinigkeit geraderücken. Sie haben
eben das Interview in der „Stuttgarter Zeitung“ ange-
sprochen. Ich habe es jetzt nicht vorliegen, aber ich habe
in diesem Interview schlicht und einfach eine Allens-
bach-Umfrage zum Thema Väter angeführt. Das Ergeb-
nis dieser Umfrage war, dass 55 Prozent der Frauen
Männer für grundsätzlich nicht fähig halten, Kinder zu
erziehen. In diesem Interview gebe ich auch wieder, was
ich davon halte, nämlich dass dies absurd ist.
Es ist eine Frage des Loslassens und des Zulassens,
dass der Partner gleichberechtigt Verantwortung über-
nimmt, und zwar nicht nur für das Einkommen, sondern
auch für die Erziehung der Kinder. Es geht also bei bei-
den Geschlechtern darum, Raum zu lassen.
Heute wissen wir, dass zwei Drittel der jungen Män-
ner im Vater eher den Erzieher als den Ernährer sehen.
Vor 20 Jahren lag diese Zahl noch bei 50 Prozent. Heute
erklärt ein überwiegender Teil der jungen Männer, dass
ihr eigener Vater für sie kein Vorbild ist. Nur 17 Prozent
geben an, dass der eigene Vater so, wie er mit ihnen um-
gegangen ist, auch als ein „ferner Vater“ ein Vorbild ist.
Dieses Thema ist also gesamtgesellschaftlich in der Dis-
kussion.
Ich wollte nur klarstellen, dass ich in diesem Inter-
view ein Umfrageergebnis wiedergegeben habe. Meine
Meinung als Ministerin und als Person habe ich dazu
eben dargelegt.
Danke.
Das Wort hat die Kollegin Helga Lopez, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! FrauMinisterin von der Leyen, die Familienpolitik hat deut-lich an öffentlicher Bedeutung gewonnen. Das ist sicher-lich auch gut. Ich vermute aber, dass der Grund für dieWiederentdeckung des Themas leider nicht nur in derFortführung und Erweiterung der ehemals rot-grünenPolitik
wie der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreu-ungskosten, dem künftigen Elterngeld, den frühen Hilfenfür Kinder und Eltern und den Mehrgenerationenhäusernzu finden ist. Angesichts der Schlagzeilen in den letztenWochen kann man vielmehr – leider, muss ich sagen –den Eindruck bekommen, dass hauptsächlich die Angstvor den finanziellen Folgen der zunehmenden Kinderlo-sigkeit das Thema gesellschaftlich relevant macht. Es istjetzt nicht mehr nur ein Frauenthema; denn die rückläu-fige Geburtenquote rüttelt inzwischen an den Grundfes-ten unseres gesamten Gemeinwohls.Ich will mich nicht an der allgemeinen Demographie-hysterie beteiligen. Aber wir kommen nicht an der Tatsa-che vorbei, dass die Geburtenrate in Deutschland sehrniedrig ist. Es gibt sicherlich viele Gründe, warum sichFamilien entscheiden, keine oder nur wenige Kinder zubekommen. Ich will nicht alle Gründe aufzählen, aber– das ist auch für die Ausgestaltung dessen, was wir aufden Weg bringen, von Bedeutung – es ist sicherlich ver-fehlt, Kinder nur unter einem ökonomischen Blickwin-kel, zum Beispiel als Absicherungsmaßnahme für unserRentensystem, zu betrachten.Nur die Einsicht, dass Kinder unser Leben und unsereGesellschaft ideell bereichern und sich sinnstiftend auf
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Helga Lopezunser Leben auswirken, kann die Geburtenrate nachhal-tig erhöhen. Das setzt voraus, dass die Rahmenbedin-gungen stimmen. Umgekehrt ausgedrückt wird eine Ge-sellschaft, die den Wert der Kinder erkennt, besteRahmenbedingungen für sie schaffen, damit jedes ein-zelne Kind, egal welcher Herkunft, zu einem freien undselbstbewussten Menschen heranwachsen kann.
Die rot-grüne Vorgängerregierung hat sehr viel aufden Weg gebracht, um gute Rahmenbedingungen zuschaffen. Ich nenne als Beispiele nur das Tagesbetreu-ungsausbaugesetz und das Ganztagsschulprogramm.Rot-Grün hat es geschafft, dass sich der Dreiklang Infra-struktur, Zeit und Geld als nachhaltige Familienpolitik inDeutschland etabliert hat, die die große Koalition jetztfortführt.
Die bereits vorhandenen Rahmenbedingungen werdenaber sehr unterschiedlich genutzt. Es gibt Regionen wiemeinen Wahlkreis Lahn-Dill, die sehr aktiv sind; andereRegionen unternehmen bis heute nur unzureichende An-strengungen.Neben dem notwendigen Ausbau der Betreuungsein-richtungen dürfen wir auch nicht die Qualität der Betreu-ung aus den Augen verlieren. In diesem Zusammenhangempfehle ich, den Blick auf die verschiedenen Länder-vorgaben für die Gruppenstärken und deren Mindestaus-stattung zu richten. Daraus lassen sich viele Schlüssehinsichtlich der großen Qualitätsunterschiede ziehen.Eine qualitativ hochwertige frühkindliche Bildunghalte ich für ein Muss; denn damit schaffen wir gute Be-dingungen für Kinder, die aufgrund ihrer Herkunft oderaus ihrem Lebenszusammenhang heraus weniger Bil-dungschancen haben. Nur so kann der Teufelskreislauf,dass Armut mit unzureichender Bildung einhergeht, wasspäter wieder zu Armut und Arbeitslosigkeit führt, un-terbrochen werden. Das ist angesichts der Tatsache, dassrund 1,5 Millionen Kinder auf oder unter Hartz-IV-Niveau leben, auch bitter notwendig.
In den letzten Wochen gab es immer wieder Diskus-sionen um kostenlose Kindergartenplätze. Dies isteine ureigene Forderung der SPD, die wir mittelfristigmit den Ländern umsetzen wollen.
Es darf uns aber nicht nur um reine Betreuungsangebote,sondern es muss uns auch um frühkindliche Bildungsan-gebote gehen; denn Bildung beginnt, wie schon gesagt,im Kindergarten und Bildung sollte in der Tat für alleMenschen kostenfrei sein.
Eine weitere Bemerkung dazu: Eine Kürzung desKindergeldes in diesem Zusammenhang lehne ich ab;denn sie wäre sozial unausgewogen. Sie ginge eindeutigzulasten von Familien mit niedrigerem Einkommen. Daskann doch nicht Ziel einer sozial gerechten Familienpo-litik sein. Wenn wir uns einig sind, dass wir mehr für Fa-milien mit Kindern tun wollen, dann kann es hier nichtum Umschichtungen, sondern nur um zusätzliche Mittelgehen. Als Stichwort will auch ich, Frau Haßelmann, dasEhegattensplitting nennen. Zugegeben, es ist für nichtwenige eine heilige Kuh. Aber wer oder was soll denneigentlich finanziell entlastet werden: die Ehe als Institu-tion oder die Familie mit Kindern, die eine deutliche fi-nanzielle Mehrbelastung zu tragen hat?
Ich bin sicher, dass die von Rot-Grün begonnene neueFamilienpolitik, die nun von der großen Koalition in ver-stärktem Maße fortgesetzt wird, in Deutschland sehrgute Rahmenbedingungen für Familien mit Kindernschafft. Dann klappt es vielleicht wieder mit dem Kin-derkriegen.
Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen
Hauses ganz herzlich.
Das Wort hat jetzt Diana Golze, Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! „Kinderkriegen mehr …!“ So lautet ein bekannter Slogan ausdem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauenund Jugend. Ich möchte hier überprüfen, ob dies mehrals nur einer der vielen schönen Sätze ist, die wir von un-serer Familienministerin regelmäßig hören. Aus Sichtder Linken müssten dann im Bundeshaushalt die zentra-len kinder- und jugendpolitischen Herausforderun-gen der Gegenwart aufgegriffen werden.
Ich nenne Ihnen hier nur drei. Erstens. Auch wenn eswirtshaftnahe Experten wegreden wollen, für viele Kin-der und Jugendliche bleibt Armut im Jahr 2006 bittereRealität. Wo wie in der Uckermark jedes dritte Kind aufSozialhilfeniveau lebt, sind die Fundamente unseres Ge-meinwesens in Gefahr.Zweitens. Die Defizite bei der öffentlichen Kinderbe-treuung in Deutschland sind mehr als einmal beklagtworden. Qualität und Quantität sind dringend verbesse-rungsbedürftig. Es mangelt nicht am Engagement vonEltern und Fachkräften. Es wird auch hier nicht ohne einverstärktes finanzielles Engagement von Bund, Ländernund Kommunen gehen.
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Diana Golze
Drittens. Die Kinder- und Jugendarbeit in Deutsch-land befindet sich in einer Krise. Auch hier mangelt esnicht am Engagement von Ehrenamtlichen und Freiwilli-gen. Es mangelt aber am Willen zur Förderung. Diese istnicht zuletzt im Kinder- und Jugendhilferecht verankert.Aber darüber, ob Sie solche bundesweiten Standardsüberhaupt noch wollen, verehrte Kolleginnen und Kolle-gen von der Koalition, haben Sie im Rahmen der Föde-ralismusreform zu entscheiden.
Fakt ist, dass seit dem Jahr 2000 die Mittel für Maß-nahmen in der Kinder- und Jugendarbeit um 17 Prozentgekürzt wurden. Außerdem fehlt die Perspektive. Nurmit Feuerwehrprogrammen ist keine gute Jugendarbeitzu machen.
Im Rahmen des Bundeshaushalts verfügt man über ei-nige Instrumente zur Bewältigung dieser Herausforde-rungen. Aber das kinder- und jugendpolitische Denkmo-dell der Koalition lässt sich auf den absurden Nennerbringen: Kinder kriegen mehr, aber sie sollen es selbstbezahlen.
Nicht anders ist es zu verstehen, wenn zum Beispiel zurFinanzierung von beitragsfreier Kinderbetreuung eineKürzung des Kindergeldes vorgeschlagen wird.
Der Kinder- und Jugendpolitik mangelt es nicht anguten Ideen, sondern an Geld zu deren Umsetzung. Ge-rade aus dieser Sicht lässt der Haushalt 2006 zu vieleFragen offen. Lassen Sie mich Folgendes beispielhaftaufzählen: Erstens. Den Kinderzuschlag wollten Sie,verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,laut Koalitionsvertrag mit Wirkung ab dem Jahr 2006weiterentwickeln, um die Kinderarmut zu reduzieren.Der Kreis der Anspruchsberechtigten sollte erhöht wer-den. Das ist ein begrüßenswertes Vorhaben, wenn esdenn richtig ausgeführt wird. Wir finden im Haushaltaber einen reduzierten Ansatz für den Kinderzuschlag.Nun werden Sie mir sicherlich sagen, das habe mit derZahl der bewilligten Anträge zu tun. Aber wäre es dannnicht sinnvoller gewesen, zuerst die Regelungen zu ver-bessern, deretwegen 80 bis 90 Prozent der Anträge abge-lehnt werden? Sie kürzen stattdessen erst einmal den An-satz.Die Kinderarmut ist nicht zuletzt durch Hartz IVdeutlich gestiegen. Die Vorstellung, dass Sie, wie bis-lang geplant, die Weiterentwicklung des Kinderzu-schlags im Rahmen des SGB-II-Optimierungsgesetzesregeln wollen, macht den Betroffenen und auch mirAngst. Laut Herrn Müntefering soll der Kinderzuschlagab 2008 die Riesterrente attraktiver machen. Ich bin ge-spannt, was Sie nun wirklich wollen.
– Dann fragen Sie Herrn Müntefering, warum er das indiesem Zusammenhang bringt.Die Kinderarmut steigt, der Kinderzuschlag sinkt.Das ist die schwarz-rote Haushaltslogik.
Verehrte Damen und Herren, wir unterstützen Ihr Vor-haben, den Kinderzuschlag weiterzuentwickeln und denKreis der Anspruchberechtigten auszuweiten, zum Bei-spiel auf Empfängerinnen und Empfänger von ALG II.Ich kündige Ihnen schon jetzt eine parlamentarische Ini-tiative dazu an. Ich hoffe, Sie stimmen dann nicht gegenIhren eigenen Koalitionsvertrag.
Zweitens. Die Abschaffung der Elternbeiträge fürKindertagesstätten steht zwar nicht im Koalitionsver-trag, dafür aber endlich auf der politischen Agenda.Während die Regierungskoalition sich ohne große Dis-kussionen entschieden hat, wohlhabenden Haushaltendurch die steuerliche Förderung von KinderbetreuungHunderte von Millionen Euro zu schenken, ist sie in die-ser Frage zögerlich: Nirgendwo im Haushaltsplan findetsich ein Ansatz zur Realisierung dieses ambitioniertenVorhabens. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich for-dere Sie auf: Setzen Sie ein Zeichen für Kinder! Gebüh-renfreie Kindergartenplätze sind wichtiger als das, wasdieses Land für Waffen ausgibt und was es sich an Steu-ernachlässen für Reiche leistet.
Drittens. Der Kinder- und Jugendplan des Bundesist dieses Jahr – informierte Beobachterinnen und Beob-achter reiben sich die Augen! – nicht nur vor Kürzungensicher, er wird sogar leicht, auf nunmehr 105 MillionenEuro, erhöht. Das sind – nur damit Sie sich daran erin-nern – zwar immer noch 15 Millionen Euro weniger alsim Jahr 2004. Aber es war Schlimmeres zu erwarten voneiner Regierung, deren Finanzminister die Koch/Steinbrück-Liste mit zu verantworten hat, auf der derKinder- und Jugendplan stand und gemäß der er nachdem Rasenmäherprinzip gekürzt werden sollte.
– Den brauchen Sie an dieser Stelle nicht anzurufen.
Hier erkennen die Akteure der Kinder- und Jugendar-beit genauso wie ich einen Fortschritt an. Hoffentlichnehmen sich Ihre Kolleginnen und Kollegen in den Län-dern daran ein Beispiel und sichern die Kinder- und Ju-gendarbeit als Investition in die Zukunft auch in Zeitenknapper Haushalte nachhaltig.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
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Wo wir gerade bei Nachhaltigkeit sind – –
Nein, Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist wirklich zu
Ende.
Der Kollege von meiner Fraktion hat eine Minute ein-
gespart; ich dachte, ich könnte diese Minute ausnutzen.
Ich bekomme Ihre Redezeit angezeigt. Sie ist deutlich
zu Ende. Sie müssen zum Ende kommen.
Dann sage ich nur noch einen Satz: Ich freue mich,
dass die Programme gegen Rechtextremismus in diesem
Jahr ungekürzt bleiben sollen. Für 2007 steht in der mit-
telfristigen Planung allerdings etwas anderes. Ich hoffe,
daran ändert sich noch etwas, Frau Ministerin.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ole Schröder, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Nur einen Satz zur PDS:
Es ist schon sehr unglaubwürdig, wenn Sie uns hier Vor-haltungen machen, was auf Bundesebene mehr für Kin-der und Jugendliche getan werden kann, wo wir dochheute hören, dass eine Schule in Berlin-Neukölln sichnicht mehr zu helfen weiß: In ihr sind die Zustände fürdie Schülerinnen und Schüler so unhaltbar, dass das Leh-rerkollegium den rot-roten Senat mit einem einstimmi-gen Beschluss aufgefordert hat, diese Schule zu schlie-ßen.
Diese Zustände werden vom rot-roten Senat geduldet!Ich glaube, Sie sollten zuerst dort Ihre Hausaufgabenmachen, bevor Sie hier solche Reden halten, Frau Kolle-gin!
Aber es ist positiv, dass wir auf Bundesebene unsereHausaufgaben machen: Noch nie stand die Familienpoli-tik so im Mittelpunkt der Diskussion wie bei dieser gro-ßen Koalition. Frau Ministerin von der Leyen, das ist IhrVerdienst, Sie haben es geschafft, die Familienpolitikvon einem randständigen Thema in den Mittelpunkt derDiskussion zu rücken, und Sie haben wichtige Impulsefür die Familienpolitik gesetzt: bei der Kinderbetreu-ung und beim Elterngeld.
Im Mittelpunkt der Familienpolitik steht die Heraus-forderung der demographischen Entwicklung. DieFamilienpolitik muss Rahmenbedingungen schaffen, dassPaare ihren Kinderwunsch in die Realität umsetzen kön-nen. Zweitens – das ist von entscheidender Bedeutung –müssen wir das Altern der Gesellschaft annehmen. Auchdafür muss die Politik Rahmenbedingungen setzen;
das kommt mir in der Diskussion viel zu kurz.Lassen Sie mich zunächst etwas zum ersten Punkt sa-gen, zur Familienpolitik. Wenn man die Höhe unsererAusgaben für die Familienpolitik mit der anderer Ländervergleicht, liegen wir international in der Spitzengruppe.Aber was erreichen wir damit? Bei der Geburtenrate ste-hen wir ganz weit unten, mit an letzter Stelle. Fast2 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland le-ben von Sozialhilfe. Immer mehr Fälle von häuslicherVerwahrlosung werden öffentlich bekannt und die Bil-dungschancen der Kinder hängen in Deutschland – dasmüssen wir zur Kenntnis nehmen – im Wesentlichen vonihrer sozialen Herkunft ab. Hier gilt es, gegenzusteuernund die Wirksamkeit der eingesetzten Mittel zu erhöhen.
Es reicht eben nicht aus, immer nur an Stellschrauben zudrehen.Angesichts der vielen familienpolitischen Maßnah-men blickt jedenfalls der Normalbürger nicht mehrdurch. Die normale Familie weiß nicht, was auf sie zu-kommt, wenn sie sich für Kinder entscheidet. Dadurchgeht der letzte finanzielle Anreiz, mehr Kinder in dieWelt zu setzen, verloren. Beim Jugendamt bekommt diejunge Familie Erziehungsgeld bzw. Elterngeld, bei derAgentur für Arbeit Kindergeld und den Kinderzuschlag.Vom Sozialamt bekommt man Sozialhilfe. Beim Finanz-amt kann man Kinderbetreuungskosten geltend machenund Steuerfreibeträge nutzen. Wenn man noch kinderbe-zogene Leistungen nach dem SGB II – siehe Unterhalts-vorschuss – bekommen will, landet man beim Jugend-amt usw. usw. Teilweise werden die Leistungen nochgegeneinander aufgerechnet. Unterschiedlichste Ein-kommensbegriffe und Einkommensgrenzen werden an-gewendet.
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Dr. Ole SchröderEs gibt eine Vielzahl von familienpolitischen Maßnah-men.
Als Mitglied des Haushaltsausschusses kommt es mirdarauf an, dass das Geld für diese Maßnahmen effizien-ter als bisher eingesetzt wird.
Wenn wir mehr Kinder in unserem Land haben wollen,dann muss dieses Geld den Eltern und den Kindern zu-gute kommen und nicht in der Bürokratie versickern.
Daher bringt es auch nichts, darüber zu diskutieren, obder Staat 1 Euro weniger Kindergeld zahlen soll, um somehr Geld für Kinderbetreuung ausgeben zu können.Nebenbei bemerkt: Dass ein Kindergartenplatz kos-tenlos ist, bedeutet nicht – so schön das auch ist –, dassauch nur ein einziger Kindergartenplatz zusätzlich ge-schaffen wird. Die Diskussion über kostenlose Kinder-gartenplätze sollten wir daher nachgelagert führen.Entscheidend ist, dass wir die Transferleistungen fürdie Familien organisatorisch bündeln. Das haben wirauch im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Ziel ist es,eine Familienkasse zu entwickeln, in der die familien-politischen Leistungen zusammengefasst sind.Ich möchte zum Ausgangspunkt zurückkommen.Selbst wenn wir es schaffen, dafür zu sorgen, dass– auch kurzfristig – mehr Kinder geboren werden, wirdsich das Ergebnis natürlich erst in ungefähr 25 Jahrenauf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machen. Lassen Sieuns daher auch die Herausforderungen der alternden Ge-sellschaft annehmen! Lassen Sie uns hierfür Rahmenbe-dingungen schaffen! Ich bin froh, dass Ministerin vonder Leyen diesen wichtigen Punkt offensiv angeht.
Bei den Beratungen werden wir noch über einigePunkte reden, insbesondere was die Personalausgaben,was die Auswanderungsberatung und was die Integra-tionskosten angeht. Das Volumen des Einzelplans „Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend“ konnte etwa aufdem Niveau des Vorjahres gehalten werden. Ich denke,das ist positiv. Einsparpotenziale konnten realisiert wer-den, um mehr für Familien und für Kinder zu tun.
Herr Kollege, auch Sie muss ich an die Zeit erinnern.
Von diesem Entwurf geht ganz klar das Signal aus,
Frau Präsidentin, dass wir in die Zukunft, dass wir in die
Familien investieren. Entscheidend ist jetzt, dass wir das
noch effizienter, noch zielgerichteter tun als bisher.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Spanier, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Einbringung des Haus-halts ist immer eine Gelegenheit, über den jeweiligenPolitikbereich grundsätzlich miteinander zu diskutieren.Das gilt auch für meine heutige Rede.Alle Redner haben zu Recht darauf hingewiesen, dasssich unsere Politik – das gilt nicht nur für unseren Be-reich, sondern für alle Ressorts – nach der demographi-schen Entwicklung ausrichten muss. Frau Kressl hatrichtigerweise gesagt: Es geht um die Rahmenbedingun-gen für alle Generationen. „Für alle Generationen“, dasist entscheidend.
Darüber wird nicht nur in unserem Bereich diskutiertund entschieden, sondern auch in anderen Ressorts. Dortgeschieht dies vielleicht noch nachhaltiger, noch nach-drücklicher als bei uns. Ich erinnere nur an die Proble-matik der materiellen Sicherung im Alter. Frau Minis-terin, das ist keine Aufgabe Ihres Hauses, sondern eineGesamtaufgabe des Parlaments. Die ministerielle Ver-antwortung dafür ist in einem anderen Ressorts veran-kert.Ich will den Fokus heute auf die Älteren richten.Nachdem wir gerade einiges über die Befindlichkeit jun-ger Väter gehört haben, erwarten Sie nun keine Enthül-lungen über die Grundbefindlichkeit eines 63-Jährigen.Es ist schon wichtig, dass sich in unserer Gesellschaftauch in diesem Bereich so etwas wie ein Paradigmen-wechsel vollzieht, dass Ältere nicht mehr nur, wie inmanchen oberflächlichen Diskussionen im Zusammen-hang mit der Rente, als eine Art Kostgänger betrachtetwerden. Mittlerweile ist verankert, dass der Beitrag derÄlteren für die Wirtschaft, für die Gesellschaft und fürdie Familie unverzichtbar ist.
Der Fünfte Altenbericht – in dem Zusammenhangwerden wir demnächst ausführlicher über diese Thema-tik miteinander sprechen können – hat den treffenden Ti-tel: „Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesell-schaft“. Diese Potenziale gilt es zu initiieren und zustärken. Das ist eine der Hauptaufgaben unseres Ministe-riums.Es geht darum, den Bereich Seniorenwirtschaft wei-terzuentwickeln und Erfahrungswissen wieder stärker indas Wirtschaftsleben einzubeziehen. Es geht zum Bei-spiel auch um das Programm unseres Bundesarbeitsmi-nisters Initiative „50 plus“. Das muss man in diesemZusammenhang sehen. Es ist natürlich ein Skandal, dass
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Wolfgang Spanier60 Prozent der Betriebe in Deutschland keine Mitarbei-terin und keinen Mitarbeiter über 50 Jahre haben.
Es geht auch um die Einbindung der Älteren in dasbürgerschaftliche Engagement. Hierbei ist die ältere Ge-neration schlicht und einfach unverzichtbar. Die Zahlendes letzten Freiwilligensurveys sind schon bemerkens-wert: 40 Prozent der 55- bis 64-Jährigen und 26 Prozentder über 60-Jährigen sind ehrenamtlich engagiert. In die-sen Altersgruppen ist die Steigerungsrate besondershoch. Es ist wichtig und richtig, dass wir die generatio-nenübergreifenden Freiwilligendienste hier besondersim Auge haben.
Weil uns die Qualität der Pflege und demnächst si-cherlich auch die finanzielle Absicherung der Pflege in-tensiv beschäftigen werden, ist es richtig, dass in IhremHaus, Frau Ministerin, nach wie vor wichtige Projekteim Zusammenhang mit der Altenpflegeausbildung undmit dem Umgang mit Demenz angestoßen werden. Aufein Projekt möchte ich besonders hinweisen: „Charta derRechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“. Das istzwar sprachlich ein Ungetüm – verzeihen Sie es demehemaligen Deutschlehrer! –, aber die Sache ist wichtig,gerade in einer Zeit, wo es aus Kostengründen nach wievor Zwangseinweisungen in Pflegeheime – gegen denWillen der Betroffenen – gibt, zum Beispiel in IhrerStadt, Frau Haßelmann; dafür sind Sie nicht verantwort-lich, aber es ist, denke ich, ein Skandal.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch einpaar offene Worte zum Thema Heimrecht sagen. Das ge-hört hier mit hinein. Ich würde mir sehr wünschen – ichweiß, dass viele von Ihnen genauso denken –, dass wirdie Bundeskompetenz beim Heimrecht erhalten.
Dafür gibt es auch rechtliche Argumente; die fachpoliti-sche Argumentation steht dabei nicht so sehr im Vorder-grund. Das SGB XI und das Heimgesetz sind miteinan-der verknüpft. Das sollte man nicht auseinander reißen,indem man unterschiedliche Zuständigkeiten begründet.Der Heimvertrag wird im Rahmen des bürgerlichenRechts, also im Rahmen der Bundeszuständigkeit, gere-gelt. Darüber, dass Verbraucherschutz – auch darumgeht es in diesem Zusammenhang – bundeseinheitlichgeregelt werden soll, sind wir uns, denke ich, einig. Daswird mit den Verfassungsrechtlern in allen Fraktionennicht so ganz einfach sein, aber ich bin froh, dass wir imRahmen der Anhörung ausführlich darüber reden wer-den.
Wir haben zwei neue Projekte. Ein Projekt ist dasMehrgenerationenhaus. Dazu ist hier schon eineMenge gesagt worden. In meinem Wahlkreis gibt es üb-rigens ein großes Interesse daran. Es geht allerdingsnicht darum, den Mythos der Großfamilie – sozialwis-senschaftlich betrachtet ist das nämlich nur ein Mythos –wieder zu beleben, sondern darum, den Kontakt der Ge-nerationen zu ermöglichen oder zu erleichtern. Dass da-für wieder Bewusstsein geschaffen wird, ist unbestrittenrichtig.
Das Thema „Wohnen im Alter“ ist natürlich von ent-scheidender Bedeutung. Deswegen finde ich es richtig,dass wir mit dem Programm „Neues Wohnen“ verän-derten Bedürfnissen in der Gesellschaft Rechnung tra-gen, nämlich dem Bedürfnis nach neuen Wohnformenim Alter, nach gemeinschaftlichen Wohnformen, nachgenerationenübergreifendem Wohnen. Dazu wollen wirHilfestellung und Anreize für Initiativen geben. Ich binfroh darüber, dass parallel im Ministerium für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung ein ähnliches Programm auf-gelegt ist: „Lebenswerte Stadtquartiere für Jung undAlt“.
Herr Kollege, schauen Sie bitte auf die Uhr!
Verehrte Frau Präsidentin, mein letzter Satz. – Es gibt
diesen Dreiklang, diesen Zusammenhang von Stadtent-
wicklung, Wohnen und Pflege. Den müssen wir im Auge
behalten.
Es mag an der einen oder anderen Stelle im Haushalt
Kürzungen geben, aber die konkreten Impulse, die hier
gesetzt worden sind, –
Jetzt reden Sie auf Kosten der Zeit Ihrer Kollegin.
– weisen, glaube ich, in die richtige Richtung.
Das Wort hat die Kollegin Christel Humme, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-nen! Nach der heutigen Debatte kann ich sagen: Mit demHaushaltsplan zur Familienpolitik bin ich sehr zufrieden.Frau Haßelmann, ich kann Ihre Meinung überhaupt nichtteilen, dass unser Haushalt konzeptionslos sei; denn daswürde bedeuten, dass die Familienpolitik, die Rot-Grüngemeinsam eingeleitet hat, schon in der letzten Legisla-turperiode konzeptionslos war. Ich glaube, das würdenSie nicht behaupten wollen.
Nach wie vor stehen – das haben wir heute schon inmehreren Reden gehört – zwei Schwerpunkte im Zen-trum unserer Politik: Chancengleichheit in der Bildungvon Anfang an und die Vereinbarkeit von Familie und
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Christel HummeBeruf. Ich bin sehr froh, dass wir diese Zukunftsthemen,die wir bereits 1998 auf den Weg gebracht haben, weiter-führen, auch jetzt in der großen Koalition. Dafür dankeich Ihnen ganz besonders, Frau von der Leyen;
wissen wir doch, dass wir damit der heute jungen Gene-ration die richtigen Zukunftsperspektiven geben. Wir ge-hen diesen Weg trotz angespannter Haushaltslage.In einem Zeitungsinterview haben sich in der letztenWoche fünf Berliner zu ihren Lebenswünschen geäußert.Die beiden befragten Mädchen wollten – wen wundertes – natürlich Familie und Beruf, wie 88 Prozent allerjungen Männer und Frauen. Um ihnen das später zu er-möglichen, schichten wir jetzt Haushaltsmittel um undschaffen neue Rahmenbedingungen mit Investitionen indie Zukunft.Frau Lenke, dazu gehört nach wie vor unser Tagesbe-treuungsausbaugesetz.
Sie wissen ganz genau: Die Kommunen – das ist aner-kannt – werden um 2,5 Milliarden Euro entlastet. Dasweiß jeder. 1,5 Milliarden Euro stehen für die Betreuungder unter Dreijährigen und 4 Milliarden Euro für denAusbau der Ganztagsschulen zur Verfügung. Ich denke,das ist ein wichtiger Erfolg.
Aber ich sage an dieser Stelle auch: Ich würde es sehrbedauern, wenn eine solche sinnvolle Unterstützungdurch den Bund nach der Föderalismusreform nichtmehr möglich sein sollte. Es war gut, dass wir uns hiereingebracht haben; denn ohne den Impuls aus dem Bundhätte sich in den Kommunen und Ländern in punctomehr Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder so-wohl qualitativ als auch quantitativ nicht sehr viel be-wegt. Das ist Fakt und wir sind stolz auf die Entwick-lung.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lenke?
Ich kenne die Frage zwar schon, aber sie soll sie noch
einmal stellen.
Sehr verehrte Kollegin, ich frage Sie, ob Sie die Pas-
sage der Regierungserklärung Ihrer Bundeskanzlerin
vom 30. November letzten Jahres kennen, in der es
heißt:
Bis 2010 sollen 230 000 zusätzliche Betreuungs-
plätze vor allem für Kleinkinder entstehen.
Jetzt kommt es:
Die zugesagten Mittel allerdings – das betone ich –
müssen den Kommunen real zur Verfügung gestellt
werden, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
Nach der Föderalismusreform wird das noch wich-
tiger.
Ich frage Sie, ob Sie jetzt immer noch mit dem Tages-
betreuungsausbaugesetz kommen
oder ob Sie das Versprechen der Bundeskanzlerin auch
als SPD-Bundestagsabgeordnete einhalten wollen.
Genau darum geht es, Frau Lenke. Das, was dort ge-sagt wurde, ist im letzten Jahr realisiert worden, als zu-gesichert wurde, dass den Kommunen 2,5 Milliar-den Euro zur Verfügung gestellt werden durch die Ent-lastung durch Hartz IV.
Das ist Fakt. Das können Sie anzweifeln, soviel Sie wol-len. Aber Sie müssen auch einmal Realitäten zur Kennt-nis nehmen und dürfen nicht immer nur Ihre Gedankenzum Leitbild der Welt machen.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, neben den Rah-menbedingungen – wir haben in verschiedenen Redengehört, wie wichtig sie sind – bleibt es natürlich auch da-bei, dass Familien finanzielle Unterstützung brauchen.Es ist bekannt, dass wir seit der Steuerreform 200138 Prozent mehr Kindergeld als zuvor zahlen, Geld, dasvor allem – das war uns seinerzeit wichtig – Eltern mitgeringem und mittlerem Einkommen zur Verfügungsteht. Ich sage in die linke Richtung: Wir wollen keineKürzung des Kindergeldes, Frau Golze. Das ist sicher-lich eine Fehlinterpretation.
Aber die aktuelle Debatte über weniger Kindergeldfür Gebührenfreiheit der Kinderbetreuung trägt leiderzur Verwirrung bei. Das gebe ich zu. Aber richtig daranist: Frühkindliche Bildung muss gebührenfrei sein. Dasist unser langfristiges Ziel; daran geht kein Weg vorbei.
Richtig ist auch: Wir gehören im internationalen Ver-gleich zu den Spitzenreitern bei der Zahlung von Fami-lienleistungen. Wir müssen genauer hinschauen, ob das
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Christel Hummeviele Geld gut angelegt ist. Darum geht es letztlich. Wirmüssen uns fragen, ob dieses Geld so angelegt ist, dasswir damit tatsächlich die Chancengleichheit in der Bil-dung verbessern, und ob dieses Geld Männern undFrauen wirksam hilft, Familie und Beruf besser verein-baren zu können.
Das zu hinterfragen, ist nicht nur legitim, sondern unbe-dingt notwendig, und zwar über die heutige Haushalts-debatte hinaus. Wir wollen nämlich den Standard unse-rer europäischen Nachbarn erreichen. Das heißt, wirwollen alle Kinder von Anfang an optimal fördern. Dasist – Herr Wunderlich, Sie haben das Stichwort ge-nannt – wahre Armutsbekämpfung. Wir wollen einehohe Erwerbsbeteiligung bei den Frauen und mehr Kin-der.Gerade bei diesem Thema hilft es, einen Blick überunseren eigenen Tellerrand zu werfen. So erkennt man,dass die demographische Entwicklung kein rein deut-sches Problem ist und dass andere Länder den demogra-phischen Wandel besser bewältigen. Sie schaffen es bes-ser, weil sie den Familien bessere Rahmenbedingungenbieten. Unsere europäischen Nachbarn – da beißt dieMaus keinen Faden ab – sind uns nach wie vor 30 Jahrevoraus.Wir müssen – daran geht kein Weg vorbei – bei derVerbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruffür Männer und Frauen Tempo machen. Herr Fricke, dasElterngeld ist ein weiterer Baustein, der dazu beiträgt,dieses Ziel zu erreichen.
Diese Lohnersatzleistung wird das Familieneinkommensichern.Mit der Regelung zu den zwei Partnermonaten beimElterngeld fordern wir die Väter heraus. Wir stellen sienicht in eine Ecke und behaupten, sie seien nicht fähig,zu erziehen. Im Gegenteil: Wir fordern sie heraus, ihrenWunsch, Familienarbeit zu leisten, im Betrieb zu artiku-lieren. Auch darum sollte es gehen. Herr Fricke, seienSie demnächst mutig. Sagen Sie, dass Sie die Elternzeitin Anspruch nehmen wollen, oder ermutigen Sie dieMännerwelt dazu. So bewegen wir etwas in der Männer-welt, aber auch hinsichtlich gleicher Chancen in Bewer-bungsgesprächen.Frauen werden dadurch in Zukunft nicht mehr zu-rückgesetzt. Vielmehr ist dann die Elternzeit für Männerund Frauen ein Thema. Ich glaube – ich finde das voll-kommen richtig –, dadurch wird eine neue Entwicklungbei Bewerbungsgesprächen in den Betrieben ausgelöst.Gleichzeitig findet die Debatte über mehr Zeit für dieFamilie Eingang in die Arbeitswelt. Es ist höchste Zeit,dass es dazu kommt. Es wäre wünschenswert, wenn wiruns dabei einig wären und die FDP mitziehen würde.
Die Einführung einer neuen Teilzeitregelung in dervorletzten Legislaturperiode war eine wichtige Weichen-stellung. Wir brauchen ein Recht auf Teilzeit und eineflexible Elternzeit. Beides hat dazu geführt, dass sich derAnteil der Väter, die die Elternzeit in Anspruch nehmen,verdreifacht hat. Dass der Anteil der Männer nur5 Prozent beträgt, ist jedoch bei weitem nicht zufrieden-stellend. Das Elterngeld wird sicherlich zu Veränderun-gen führen. Zusätzlich brauchen wir aber – davon bin ichfest überzeugt – ein verändertes Rollendenken sowohl inder Gesellschaft als auch in der Wirtschaft.Bischof Huber brachte es vorgestern in seiner Redeauf den Punkt. Er sprach von mehr Verantwortung fürVäter, mehr Freiheit für Mütter. Die Freiheit für die Müt-ter bedeutet jedoch nichts, wenn damit nicht gleichzeitigdie Gleichstellung von Männern und Frauen am Arbeits-platz verbunden ist.Es ist zu begrüßen, dass wir im Haushalt Mittel füreine Antidiskriminierungsstelle bzw. Gleichstellungs-stelle vorgesehen haben. Auch die große Koalition mussdas Ziel haben, sich auf ein Antidiskriminierungsgesetz– ein Gesetz, das vor allem von den Frauen erwartetwird – zu einigen. Es darf nicht daran scheitern, dass ei-nige meinen, bestimmte Gruppen seien mehr, andere we-niger schützenswert. Ich bleibe dabei: Ein Antidiskrimi-nierungsgesetz, das diskriminiert, darf es nicht geben.Danke schön.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Justiz, Einzelplan 07, einschließlich
des Bundesverfassungsgerichts, Einzelplan 19.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Gesprä-
che außerhalb des Saals fortzusetzen bzw. ihren Platz
einzunehmen.
Das Wort hat die Bundesministerin für Justiz, Brigitte
Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie jedesJahr bei der Einbringung des Haushalts des Bundesmi-nisteriums der Justiz nutze ich auch dieses Mal gern dieGelegenheit, um zu verdeutlichen, wie wichtig die Rolleder Justiz für unseren Rechtsstaat ist. Freiheit, Sicherheitund gesellschaftlicher Wohlstand brauchen nun einmalverlässliche Regeln und Institutionen, die für die Einhal-tung dieser Regeln sorgen.Dass die Leistungsfähigkeit unseres Rechtssystemssehr hoch ist, ist inzwischen allgemein anerkannt. Ichhabe Ihnen letztes Jahr von dieser Stelle aus gesagt, dassich mich gefreut habe, dass die Industrie- und Handels-kammer, die IHK, als Jahresthema das Thema „Stand-ortvorteil Recht“ gewählt hat. Wir haben diese Chancegenutzt und im letzten Jahr auf zahlreichen Veranstaltun-gen deutlich gemacht, welche Bedeutung das Recht alsStandortvorteil hat.
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Bundesministerin Brigitte ZypriesWir haben die Situation im Rechtsbereich insgesamtverbessert. Wir haben es in Deutschland geschafft, mitweniger Geld besser zu arbeiten. Im internationalen Ver-gleich steht Deutschland ohnehin sehr gut da.
Unser Rechtsstaat ist also nicht nur ein Garant der Bür-gerrechte und ein Stück Lebensqualität, sondern auchein echter Wettbewerbsvorteil für unser Land. DenkenSie nur an die Unterschiede, die im Zivilrecht zwischenDeutschland und Amerika bestehen. Um diesen Stand-ortvorteil zu sichern, müssen wir uns auch in Zukunftanstrengen.Die Bedeutung und die Leistungsfähigkeit der Justizstehen in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zuihren Kosten.
– Vielen Dank, Herr Vorsitzender des Haushaltsaus-schusses. – Denn unsere Justiz ist nicht nur wichtig undgut, sondern auch preisgünstig. Der Justizetat macht nur0,13 Prozent des gesamten Bundeshaushaltes aus. – HerrGehb, auch Sie können jetzt noch etwas lernen. –
Selbst bei den Ländern, die die Hauptlast im Justizbe-reich tragen, macht der Anteil an den Länderhaushaltenim Durchschnitt noch nicht einmal 4 Prozent aus. Nunwissen wir alle nicht nur aus dem Tierreich, sondernauch von der Börse, dass derjenige, der klein ist, manch-mal Gefahr läuft, von den Großen geschluckt zu werden.Das gilt auch bei der Haushaltsaufstellung; hier ist einkleiner Haushalt ein Problem. Gegen einen solchenEtatdarwinismus helfen nur engagierte Rechtspolitike-rinnen und Rechtspolitiker
und verständnisvolle Berichterstatter im Haushaltsaus-schuss. Deshalb auch an dieser Stelle mein ganz herzli-cher Dank an die Berichterstatter für die Unterstützungbei der Einbringung des Haushaltes!Der Justizetat trägt einen gerechten Anteil an derKonsolidierung des Bundeshaushaltes, aber er taugtnicht für Sparexzesse; das ist von Ihnen allen dankens-werterweise anerkannt worden.
Wir werden bei einem Gesamtvolumen von 339 Millio-nen Euro Einsparungen in Höhe von 13 Millionen Euroerbringen, was, betrachtet man die Ausgangssumme, imGrunde viel ist. Wir werden sehen, dass wir diese Ein-sparungen so erbringen, dass die Qualität der Leistungennicht leidet.Der Schwerpunkt unserer Aufgaben liegt auch weiter-hin beim Deutschen Patent- und Markenamt. Dort istes uns gelungen, die Befristung der Personalstellen zuverlängern und zusätzliche Mittel für die Informa-tionstechnik einzuwerben. Das wird uns garantieren,dass Deutschland auch in Zukunft bei den Patentanmel-dungen an der Weltspitze bleibt.
Nun brauchen wir eine ordentliche Finanzausstattungfür die Justiz nicht nur beim Bund. Wir müssen auch se-hen, dass die Länder das Ihre dazu tun; denn die Ländertragen bereits jetzt eine große Verantwortung für dieAufrechterhaltung der Justiz und sie schicken sich imZuge der Föderalismusreform an, weitere Verantwor-tung und Zuständigkeiten zu übernehmen.
Viele Ansätze zur Modernisierung der Justiz, die derDeutsche Bundestag beschlossen hat, hängen davon ab,wie die Länder sie umsetzen. Der Bund kann zwar diegesetzlichen Voraussetzungen dafür schaffen – er hatdies auch getan –, dass die Justiz online geht. Aber fürdie technische Ausstattung der Gerichte und der Staats-anwaltschaften müssen die Länder sorgen.Klar muss auch sein: Wer sich in der Föderalismus-kommission dafür einsetzt, die Kompetenz für denStrafvollzug zu bekommen, muss sich auch auf einenWettbewerb um einen guten Strafvollzug einlassen unddarf sich nicht schon jetzt in vorauseilendem Gehorsamgegenüber einem imaginären oder auch realen Finanz-minister vor der Standardreduzierung ducken und es aufdiese Art und Weise versäumen, einen ordentlichenStrafvollzug zu garantieren.
Die Länder müssen sich bei der Zunahme ihrer Kompe-tenzen darüber im Klaren sein, dass sie etwas Positivestun müssen. Die Sorge, die wir haben, dass die Ländernur den Standard nach unten senken werden, ist hoffent-lich nicht berechtigt. Wir müssen die Länder auffordern,sich in einen positiven Wettbewerb zu begeben und ei-nen Strafvollzug zu ermöglichen, der den Menschen einLeben jenseits von Kriminalität ermöglicht.
– Es geht ja gerade darum, Herr Kollege Wieland, denLändern zu sagen: Das ist es, was ihr nicht tun dürft,weil ihr dann die Verantwortung, die euch übertragenwird, nicht sachgerecht wahrnehmt.
Meine Damen und Herren, Rechtspolitik ist immerauch Gesellschaftspolitik. Sie muss deshalb auf verän-derte Lebenswirklichkeiten reagieren. Ein Thema, das inder Diskussion über den Haushalt der Kollegin von derLeyen behandelt wurde, ist die Frage: Wie reagiert diese
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Bundesministerin Brigitte ZypriesGesellschaft auf den demografischen Wandel, also aufeine immer älter werdende Gesellschaft, und die Tatsa-che, dass es mehr Kinder geben muss? Wir müssen auchdarauf reagieren, dass immer mehr Ehen geschiedenwerden und dass immer öfter Zweitfamilien gegründetwerden. Unsere Aufgabe ist es, die Sorge für die Kinderund die Förderung des Kindeswohls durch die Setzungrechtlicher Rahmenbedingungen zu ermutigen.Ich habe die verschiedenen Projekte, die wir derzeitseitens unseres Ministeriums verfolgen, um das Kindes-wohl zu fördern, einmal zusammengeschrieben; dennich glaube, dass es sinnvoll ist, deutlich zu machen, dassdie Justiz durch die Setzung dieser Rahmenbedingungenganz erheblich dazu beiträgt, sich der Veränderung in derGesellschaft anzupassen.Der erste Punkt – darüber haben wir hier neulich dis-kutiert – ist die Reform des Unterhaltsrechts. Kinder sol-len künftig den ersten Rang erhalten; das Kindeswohlhat Priorität.Der zweite Punkt ist die Veränderung der gemeinsa-men Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern. Siewissen, das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgetra-gen, uns mit diesem Thema zu beschäftigen. Wir mei-nen: Kinder brauchen sowohl Vater als auch Mutter.Deshalb wollen wir eine Veränderung vorschlagen,durch die den Vätern mehr Rechte gegeben werden.Der dritte Punkt ist eine Regelung zur Vermeidungheimlicher Vaterschaftstests. Wir meinen, dass wir dieRechte der Kinder in ihrem Anspruch auf genetische Da-ten stärken müssen.Der vierte Punkt ist die Anfechtung missbräuchlicherVaterschaftsanerkennung. Eine gezielte Missbrauchsbe-kämpfung – die Betonung liegt auf „gezielte“ – wirkt derDiskreditierung der von uns geförderten sozialen Vater-schaft entgegen und wird, so meine ich, im konkretenFall dem Kindeswohl dienen.Wir haben eine Arbeitsgruppe zu § 1666 BGB einge-setzt. Wir wollen gerne erreichen, dass bei Gefährdun-gen des Kindeswohls möglichst frühzeitig eingegriffenwird
und dass die Sorge – die wir aufgrund ganz konkreterFälle in letzter Zeit leider viel zu oft haben mussten –,dass es doch erhebliche Probleme in der Erziehungsfä-higkeit einiger Eltern gibt, durch frühes staatliches Ein-greifen aufgegriffen werden kann.Zur Veränderung der Lebenswirklichkeiten gehörtauch, dass immer mehr Kinder in gleichgeschlechtlichenBeziehungen groß werden. Deshalb werden wir ein For-schungsvorhaben in Auftrag geben, das die Situationvon Kindern in gleichgeschlechtlichen Beziehungen be-leuchtet. Wir möchten wissenschaftlich fundiertes Mate-rial, das eine Antwort darauf gibt, ob es tatsächlich soist, wie einige behaupten, dass solche Kinder einer grö-ßeren sozialen Stigmatisierung ausgesetzt sind, oder obwir davon ausgehen können, dass das nicht der Fall ist.
– Das dient übrigens nicht der Beruhigung des Koali-tionspartners, sondern geht auf einen ausdrücklichenWunsch des Bundesverbandes der Lesben und Schwulenin Deutschland zurück. Insofern brauchen Sie keineSorge zu haben, dass hier irgendjemand befriedet wer-den muss. Es geht schlicht und ergreifend um Daten-material.Ich möchte noch etwas dazu sagen, wie wir die recht-lichen Rahmenbedingungen ändern, um auf die verän-derte Gesellschaft zu reagieren. Dabei geht es um dieStärkung der Solidarität innerhalb der klassischen Fami-lie, auch bei ihrer Trennung, und anderer Verantwor-tungsgemeinschaften.Erstens: Versorgungsausgleich. Durch das Prinzipder möglichst weit gehenden Realteilung wollen wir zumehr Gerechtigkeit kommen und vor allen Dingen dasVermögen erhalten. Nach der jetzigen Bargeldverord-nung verschwindet nämlich ziemlich viel Geld und wirdnicht zugunsten des ausgleichsberechtigten Ehegattenausgegeben.Zweitens: Unterhaltsreform. Wir wollen lang andau-ernde Ehen, verabredete Verantwortungsgemeinschaf-ten, die über viele Jahre bestanden haben, schützen.Drittens: Ergänzung des Lebenspartnerschafts-gesetzes. Wir meinen, dass in allen Beziehungen, in de-nen Verantwortung füreinander übernommen wird, indenen Pflichten übernommen werden, in denen man fi-nanziell füreinander einsteht, auch dieselben Rechte vor-handen sein müssen.Viertens: Reform des Pflichtteilrechts. Wir werdendarüber diskutieren, ob eine veränderte gesellschaftlicheWirklichkeit nicht auch hier zu einer Veränderung füh-ren muss.Fünftens: Reform des Zugewinnausgleichs. Sie wis-sen, dass es einige Defizite gibt, die vonseiten der Praxisschon lange beklagt werden. Diese wollen wir jetzt end-lich in Angriff nehmen. Ich nenne als Stichwort das ne-gative Anfangsvermögen.
Für die Justiz gibt es eine Menge zu tun. Es geht zumeinen darum, die veränderte gesellschaftliche Wirklich-keit nachzuvollziehen, und zum anderen darum,zukunftsweisend zu handeln, indem wir andere Lebens-wirklichkeiten anerkennen und unterstützen. Wir mei-nen, dadurch der Gleichbehandlung zu dienen.
Am Ende meiner Rede darf ich mich für die Bereit-schaft der Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker so-wie der zuständigen Berichterstatter dafür bedanken, denHaushalt mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet zuhaben und dazu beigetragen zu haben, dass diese Politikgelingen kann.
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Bundesministerin Brigitte Zypries
Ich erteile das Wort Kollegin Mechthild Dyckmans,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heuti-
gen Beratungen des Justizhaushaltes bieten Anlass, zu-
rückzublicken auf das, was war, und nach vorne zu
schauen, auf die Herausforderungen, denen wir uns in
der Rechtspolitik zu stellen haben.
Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag
zahlreiche Initiativen im Bereich der Rechtspolitik ange-
kündigt. Die Bilanz nach nunmehr über 130 Tagen ist
aus Sicht der FDP eher ernüchternd. Zwar haben Sie,
Frau Ministerin, in den letzten Wochen einige Eckpunkte
und Initiativen vorgestellt – auch heute haben Sie gesagt,
was Sie zur Förderung des Kindeswohls und im Bereich
des Familienrechts tun wollen –, aber in vielen anderen
wichtigen Bereichen ist bislang nichts geschehen.
Nennen möchte ich zum Beispiel die Reform der
Telekommunikationsüberwachung. Jahrelangen An-
kündigungen sind keine Taten gefolgt, obwohl in Ihrem
Ministerium eigentlich umfangreiche Vorarbeiten geleis-
tet worden sein müssten. Erste Ergebnisse sind für die
zweite Jahreshälfte angekündigt. Wir sind gespannt, wie
ernst gemeint Ihre Versprechungen diesmal sind.
Hinzu kommt, dass das Urteil des Bundesverfassungsge-
richts zur akustischen Wohnraumüberwachung als Auf-
trag verstanden werden muss, grundsätzlich alle staatli-
chen Überwachungsmaßnahmen auf den Prüfstand zu
stellen. Wir verlangen von der Bundesregierung ein Ge-
samtkonzept. Wir brauchen eine Rechtspolitik aus einem
Guss.
Bei einer solchen Reform, Frau Ministerin, wird die
FDP-Bundestagsfraktion konstruktiv mitarbeiten.
Ich freue mich auch auf die angekündigte Unterstüt-
zung bei der Beratung unseres Entwurfs eines Gesetzes
zur Pressefreiheit, der insbesondere rechtsstaatliche Ge-
sichtspunkte stärker berücksichtigt und dadurch einen
besseren Schutz der Presse garantiert.
Enttäuscht hat uns allerdings der von Ihnen vorge-
legte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zoll-
fahndungsdienstgesetzes. Obwohl Sie wissen, dass der
Gesetzentwurf in keiner Weise die Vorgaben des Bun-
desverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüber-
wachung berücksichtigt, haben Sie die Geltung bis Mitte
2007 verlängert und damit einen verfassungsrechtlich
bedenklichen Zustand verfestigt.
Die erste Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ge-
gen dieses Gesetz ist bereits anhängig. Ich bedaure sehr,
dass Sie schon zu Beginn der Wahlperiode die notwen-
dige Sensibilität für eine an den Grundrechten unserer
Verfassung ausgerichtete Rechtspolitik vermissen las-
sen.
Lange überfällig und von der FDP immer wieder an-
gemahnt sind die im Koalitionsvertrag angekündigten
Gesetzentwürfe zur Untersuchungshaft und zum Straf-
vollzug. Die Umsetzung ist wohl fraglich geworden,
wenn man die Vorschläge zur Föderalismusreform sieht.
Zwar haben alle Experten in den vergangenen Monaten
immer wieder auf die Gefahr der Verlagerung der Kom-
petenz für den Strafvollzug auf die Länder hingewiesen,
aber Sie, Frau Ministerin – so haben wir es gerade
gehört –, haben sich offensichtlich schon mit einer Über-
tragung abgefunden. Das finden wir nicht gut.
Wir, die FDP-Fraktion, haben uns in unseren Forderun-
gen nach einem Jugendstrafvollzugsgesetz im Bundestag
klar für die Beibehaltung der Gesetzgebungskompetenz
für den Strafvollzug beim Bund ausgesprochen. Ich
hoffe sehr, dass wir bei der Anhörung zur Föderalismus-
reform gemeinsam eine vernünftige Lösung finden wer-
den.
Die Bundeskanzlerin hat ihre Regierungserklärung
unter das Motto „Mehr Freiheit wagen“ gestellt. Die Bi-
lanz der Bundesregierung im Bereich der Rechtspolitik
wird diesem Motto, wie ich meine, nicht gerecht. Statt
gestärkter Bürgerrechte sind weitere Eingriffe in ge-
schützte Rechtspositionen zu befürchten; ich erinnere
nur an die Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den
Europäischen Haftbefehl. Auch in der Gesellschaftspoli-
tik verweigert die Bundesregierung wichtige Reformen,
die es den Menschen in unserem Land ermöglichen, ih-
ren individuellen Lebensentwurf in Freiheit und Selbst-
bestimmung zu leben.
Aus Sicht der FDP sind die ersten Schritte der Bun-
desregierung im Bereich der Rechtspolitik weder von
Mut noch von Freiheit geprägt. Ich erwarte, dass die
Bundesregierung die kommenden Jahre nutzt, um eine
Rechtspolitik anzugehen, die den Rechtsstaat und die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger stärkt und verteidigt.
Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegen Jürgen Gehb, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! VerehrteMinisterin, wenn Sie zu Beginn Ihrer Rede den Eindruckhatten, dass Sie für einen Augenblick nicht meine unge-teilte Aufmerksamkeit hatten, dann bitte ich, dies zu ent-schuldigen. Es scheint aber auch die Vorstellungskrafteiniger zu überschreiten, dass es Menschen gibt, die mit
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Dr. Jürgen Gehbder Begabung gesegnet sind, zwei Sachen auf einmalmachen zu können, selbst wenn sie nicht immer zuhören.
Nicht nur wenn es um die Erzeugung von Gütern undWaren oder um die Erbringung von Dienstleistungengeht, sondern auch und gerade auf dem Felde derRechtspolitik gilt es, auf die Herausforderungen einerveränderten Zeit und einer veränderten Welt möglichstrasch überzeugende und pragmatische Antworten zu ge-ben. Unser Land und unsere einheimische, kontinental-europäisch geprägte Rechtsordnung sollen stark und at-traktiv bleiben oder, soweit sie es heute noch nicht sind,werden.
Kollege Gehb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kampeter?
Das ist selbstredend.
Herr Kollege Gehb, sind Sie der Auffassung, dass die
Frau Abgeordnete, die zweitberuflich Justizministerin ist
und sich gerade lange mit einem Kollegen der SPD-
Fraktion unterhält, nichts von Ihnen lernen kann? Sie hat
Ihnen ja gerade vorgeworfen, Sie hätten Ihr nicht auf-
merksam genug gelauscht und Lernchancen versäumt.
Herr Kollege Kampeter, sicherlich ist das Maß anmangelnder Aufmerksamkeit bei der Frau Ministerinnoch stärker ausgeprägt als bei mir vorhin, aber mögli-cherweise ist ihre Begabung, mehreres auf einmal zumachen, so gut ausgeprägt wie bei einem Simultan-schachspieler.
Meine Damen und Herren, der Aufgabe, auch aufdem Gebiet der Rechtsordnung rasche Antworten auf dieveränderte Welt zu geben, stellt sich die CDU/CSU-Bun-destagsfraktion zusammen mit ihrem Koalitionspartner,den Sozialdemokraten. Die Aufwärmphase ist nun auchunter uns Rechtspolitikern – jedenfalls denen der großenKoalition – abgeschlossen. Wir wechseln also – gestat-ten Sie mir diese Metapher – wie beim Autofahren vomersten in den zweiten Gang. Dazu brauchen wir nicht dieAnschubhilfe der Opposition, die uns in den letzten Wo-chen und Monaten mit Schaufensteranträgen meinte zumJagen tragen zu müssen.
Heute stand zwar in der Zeitung, wir sollten deutschreden. Aber, Herr Montag, Sie haben neulich die Rede-wendung „cum grano salis“ gebraucht. Da kann ich nursagen: Insofern ist die Bundesregierung und sind die bei-den Koalitionsfraktionen ein „omnimodo facturus“,
für die Oberrealschüler: ein ohnehin Tatgeneigter.
Lassen Sie mich Ihnen jetzt nicht, quasi nach demKlipp-Klapp-Schema, die Agenda aller Gesetzesvorla-gen herunterleiern.
Ich will nur ein paar Streiflichter erwähnen.
Das Kabinett hat in der vergangenen Woche eineNovelle zum Urheberrecht beschlossen, die demnächstauch parlamentarisch beraten wird. Gerade die geistigenund kreativen Leistungen werden in Zukunft für unsereVolkswirtschaft eine immer größere Rolle spielen, so-dass eine vernünftige wirtschaftliche Verwertung sicher-gestellt werden muss.
Daher wollen wir ganz bewusst die Rechte der Urheberstärken.
Ebenfalls auf dem Weg ist die Einführung der Euro-päischen Genossenschaft. Auch die Änderungen desGenossenschaftsrechts stehen nicht für sich allein, son-dern spiegeln unseren Grundansatz wider, den StandortDeutschland zu stärken, indem wir eine bewährteRechtsform zeitgemäß erneuern.
Unser Ziel ist es selbstverständlich auch, dass eine neugegründete Europäische Genossenschaft ihren Sitz inDeutschland nimmt. Daher wollen wir ganz bewusst inunser deutsches Recht Anreize einbauen, die notwendigsind, um mit unserem Angebot gegenüber der europäi-schen Konkurrenz bestehen zu können.Gerade die Konkurrenz der Rechtsordnungen istein Phänomen, dessen Dynamik und Wichtigkeit mei-nem Eindruck nach noch immer unterschätzt wird. Si-cherlich – das haben Sie gesagt, Frau Ministerin – kön-nen wir auf unsere Rechtsordnung und unsereRechtspraxis stolz sein. Wie Sie hat auch der Präsidentdes Deutschen Industrie- und Handelskammertages,Ludwig Georg Braun, gesagt, dass unsere Justiz ein po-sitiv besetzter Standortfaktor in Deutschland ist. Den-noch wäre es völlig falsch, sich entspannt, vielleicht so-gar selbstgerecht und zufrieden zurückzulehnen. Ganz
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Dr. Jürgen Gehbim Gegenteil: Wir müssen uns noch viel intensiver alsbisher fragen, ob wir ausreichend gut aufgestellt sind,um in der Konkurrenz der Rechtsordnungen erfolgreichbestehen zu können.
Denken Sie nur an das Gesellschaftsrecht. Langelebten wir in Deutschland fast abgeschottet in einer ArtParadies. Nun ist alles viel europäischer, letztlich sogarviel globaler geworden. Vor diesem Hintergrund ist dienotwendige GmbH-Reform wichtig, richtig und viel be-deutungsvoller, als manche im ersten Augenblick mei-nen.
In der letzten Debatte, die wir zum Thema Gesellschafts-recht geführt haben, habe ich gesagt – darauf weise ichnoch einmal hin –, dass inzwischen jedes fünfte Unter-nehmen in der Rechtsform einer so genannten engli-schen Limited gegründet wird. Dabei handelt es sich bisjetzt um nahezu 30 000 Unternehmen. Dagegen müssenwir etwas tun.
Aber wir haben es nicht nur innerhalb Europas mit ei-nem Wettbewerb der Rechtsordnungen zu tun. Vor weni-gen Tagen haben die Justizministerin, der KollegeMontag, die Kollegin Dyckmans und ich an einer Veran-staltung der IHK in Frankfurt teilgenommen, die denaufschlussreichen und leicht provozierenden Titel„European and German Law goes Hollywood“ trug.
Warum hat man uns zu einer Podiumsdiskussion mit ei-nem solch schmissigen Titel nach Frankfurt eingeladen?Der Grund ist ganz einfach:
Ob es um Antidiskriminierungsrichtlinien oder die Of-fenlegung von Managergehältern geht, ob es um die Ein-führung von Sammelklagen oder eine Diskussion überErfolgshonorare geht, ob es um die Frage geht, Elementedes Strafrechts in das Schadenersatzrecht aufzunehmen– Stichwort: Punitive Damages –, eines haben all dieseThemen gemeinsam: Der Einfluss des angloamerikani-schen Rechts auf unsere Gesetzgebung ist unübersehbarund wächst.
Doch glauben Sie ja nicht, dass deutsche Unternehmenüber diese schleichende Amerikanisierung des deutschenRechts glücklich sind. Ich habe sogar den Eindruck, siesind es ganz und gar nicht.
Auch ich bin der Überzeugung, dass wir mehr als bis-her darauf achten müssen, dass unser Rechtssystem nichtdurch eine punktuelle und systemwidrige Übernahmefremder Rechtsinstrumente aus dem Gleichgewicht ge-bracht wird.
– Alfred, ich weiß, dass du aus Hofgeismar kommst undeher das Kasseler Landrecht beherrschst. Aber das hierist die Bundesliga. Allzu schnell können sonst gewach-sene systematische Zusammenhänge zerstört werden.
Wir sollten deswegen ausgesprochen vorsichtig und zu-rückhaltend mit der Einführung ausländischer Rechts-instrumente in unsere Rechtsordnung sein.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir an dieserStelle, an der es um die Unterschiedlichkeit von Rechts-ordnungen geht, auch wenige Worte zum Fall AbdulRahman zu sagen. So glücklich wir alle sicherlich sind,dass Herr Rahman inzwischen freigelassen worden ist,so sehr sollten uns die Geschehnisse der vergangenenTage dafür sensibilisiert haben, wie gefährdet die Reli-gionsfreiheit an vielen Orten dieser Erde ist und wiewichtig und notwendig daher – das richte ich vor alleman die Rechtspolitiker, aber auch an die anderen Kolle-gen und die Zuhörer – der tagtägliche Einsatz für dieMenschenrechte und die Religionsfreiheit ist.
Wir Christdemokraten – und ich glaube, da stehen wirnicht alleine – sind stolz auf Art. 4 unseres Grundgeset-zes. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit gehört für unszu den Eckpfeilern unserer – ich sage ganz bewusst: ei-gentlich nicht nur unserer – Rechtsordnung. Der welt-weite Einsatz hierfür ist aller Mühe wert. Ich danke derBundesregierung, namentlich unserer BundeskanzlerinAngela Merkel, im konkreten Fall für ihren Einsatz undihre Anstrengungen.
Ich erlaube mir allerdings, an dieser Stelle darauf hinzu-weisen, dass ich froh wäre, wenn nicht nur, wie es inDeutschland der Fall ist, der Bau von Moscheen mit Mi-naretten und der Ruf des Muezzins erlaubt wäre, sondernwenn umgekehrt in muslimischen Ländern das Glocken-geläut christlicher Kirchen zu hören wäre.
Zu den Artikeln unserer Verfassung, die sicherlichnicht geändert werden, gehört Art. 4. Viele andere Arti-kel unseres Grundgesetzes werden allerdings infolge derFöderalismusreform geändert werden. Zu Beginn die-ses Monats haben wir in einer ersten großen Debatte
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Dr. Jürgen Gehbüber die Föderalismusreform gesprochen. In der Gene-raldebatte des gestrigen Tages haben die Bundeskanzle-rin, aber auch viele andere Rednerinnen und Redner inihren Ausführungen die Notwendigkeit und Wichtigkeitdieser Reform nochmals betont.
Kollege Gehb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Keskin von der Linksfraktion?
Ich kenne ihn zwar nicht, gestatte aber natürlich seine
Zwischenfrage.
Herr Kollege, mir ist in Deutschland keine Moschee
bekannt, von deren Minarett aus ein Muezzin zum Gebet
ruft. Das ist in Deutschland noch nicht erlaubt.
Ist Ihnen bekannt, dass es eine Reihe von islamischen
Ländern gibt, in denen die Kirchen durchaus existieren
können und in denen gemäß ihrem Glauben gebetet wer-
den kann?
Der erste Teil Ihrer Frage war keine richtige Frage,sodass ich darauf keine Antwort geben kann. Zum zwei-ten Teil: Wenn in einigen muslimischen Ländern die Re-ligionsausübung in homöopathischen Dosen erlaubt ist,freut mich das sehr. Ich würde mich aber noch mehrfreuen, wenn das andere Ausmaße annähme.
Meine Damen und Herren, nun ist der Rechtsaus-schuss federführend mit der parlamentarischen Behand-lung der Föderalismusreform betraut worden. Ich haltedies für eine angemessene und richtige Entscheidung;denn es ist die originäre, ja geradezu genuine Aufgabedes Rechtsausschusses, sich mit den vielen einschnei-denden Veränderungen in unserem Grundgesetz zu be-schäftigen.
Die organisatorischen Vorbereitungen zu all den umfas-senden Anhörungen hierzu im Rechtsausschuss befindensich inzwischen in der Schlussphase. Ich habe mehr undmehr den Eindruck, dass sich inzwischen alle Seiten die-ses Hauses – auch unsere Kollegen in den anderen Fach-ausschüssen – mit dem nun gewählten Verfahren der par-lamentarischen Beratung haben anfreunden können. Fürall die notwendige Vorarbeit möchte ich an dieser Stelleallen Obleuten des Rechtsausschusses und an prominen-tester Stelle seinem Vorsitzenden, Andreas Schmidt,ganz herzlich danken.
Sie werden von mir hier und heute keine Aussagenzur Föderalismusreform in der Sache hören, auch nichtzu den Punkten, die den Bereich Justiz betreffen. UnsereFraktion wird sich intensiv mit den Pro- und Kontraargu-menten zum vorliegenden Entwurf beschäftigen. Ange-sichts dessen, dass unlängst behauptet worden ist, wirwollten die Sache nur durchwinken, kann ich nur sagen:Eine Anhörung über sieben volle Tage ist einmalig in derGeschichte des Deutschen Bundestags.
Allerdings müssen wir auch darauf achten, dass in bei-den Häusern eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Inzeitlicher Nähe zu den Beratungen rund um die Födera-lismusreform werden wir uns auch mit der Frage derAufnahme neuer Staatsziele in unser Grundgesetz be-schäftigen.
Vor wenigen Tagen haben wir in diesem Haus eineerste Debatte zum Staatsziel Kultur geführt. Wenn Siedie heutigen Zeitungen aufgeschlagen haben, dann wer-den Sie darin die Forderung des Berufsverbandes derKinder- und Jugendärzte in Deutschland gelesen haben,in unserer Verfassung ein Grundrecht für Kinder auf kör-perliche und seelische Unversehrtheit zu verankern.Ich greife beide Forderungen deshalb in der heutigenDebatte auf, weil mich eine wirklich ernste Sorge um-treibt, und zwar die Sorge, dass sich im Empfinden derMenschen – aber auch im Empfinden vieler unserer par-lamentarischen Kollegen in diesem Hause – mehr undmehr der Eindruck festsetzt, dass ein politisches Zieloder ein Recht nur noch dann angemessen verortet ist,wenn es seinen Platz im Grundgesetz gefunden hat. Al-les andere wird scheinbar nur noch als zweit- oder dritt-rangig wahrgenommen.Für mich ist das eine geradezu dramatische Fehlent-wicklung. Beschreiten wir diesen Weg weiter, dann habeich ernsthaft die Befürchtung, dass damit unser Grund-gesetz überdehnt und inflationiert und ihm letztlich ge-schadet wird.
Ich werbe somit dafür, unsere Verfassung so auszuge-stalten, dass sie erfüllbare Rechte und Pflichten enthält.Nicht ohne Not haben wir das Grundrecht auf Arbeitnicht im Grundgesetz verankert. Die vorhandene Kapa-zität korrespondiert nämlich nicht mit einem solchenRecht und in Nichterfüllungsfällen würde man bei ent-täuschten Bürgern nur für Frust und Enttäuschung sor-gen.
Dieser Frust und diese Enttäuschung würden der Akzep-tanz unserer Verfassung letztlich eher schaden.Damit keine Missverständnisse aufkommen: Vielepolitische Ziele sind mehr als ehren- und auch allerMühe wert, so auch das Recht der Kinder auf Unver-sehrtheit. Mir fiele vieles ein, was mir noch wünschens-wert erscheint. Damit sollten wir aber unsere Verfassungnicht überfrachten.
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Dr. Jürgen Gehb
Unser Grundgesetz ist kein politischer Wünsch-dir-was-Katalog.Herr Präsident, ehe Sie mich auffordern, aufzuhören,sage ich zum Abschluss: Der Charme unseres Grundge-setzes besteht gerade in seiner Kargheit, seiner Schlicht-heit und seiner Schlankheit.
Damit das so bleibt, sollten wir Rechtspolitiker alle un-ser Auge darauf haben.Herzlichen Dank.
Ich erteile Kollegen Wolfgang Nešković, Fraktion
Die Linke, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Sehr verehrte Frau Zypries, ichmuss es Ihnen so deutlich sagen: Die Justiz- und Rechts-politik ist bei Ihnen in schlechten Händen.
– Ich freue mich, dass sich die Claqueure wieder richtigeinstimmen. Ich weiß ja, dass ich derjenige bin, der denBlutdruck des Parlaments immer in besonderer Weisehochtreibt.
Eine rechtspolitische Handschrift – insbesondere einesozialdemokratische – ist bei Ihnen nicht ersichtlich. Daswar bei Ihrer Vorgängerin noch ganz anders.
Ihre Politik ist fragmentarisch. Frau Dyckmans hat esvöllig zu Recht gesagt: Es ist keine Politik aus einemGuss. – Vor allem sind keine Schwerpunkte ersichtlich,denen man entnehmen könnte, welche rechtspolitischenThemen Ihnen eine Herzensangelegenheit sind. Themen,die bei Ihnen sogar eine politische Leidenschaft entfa-chen könnten, sind nicht erkennbar. Technokratisch ar-beiten Sie das ab, was Ihnen durch das Sammelsuriumdes Koalitionsvertrages aufgegeben wurde. Sie erweisensich nicht als engagierte Verfechterin des sozialenRechtsstaates. Sie stärken die Unabhängigkeit der Rich-terinnen und Richter nicht und Sie sorgen sich auch nichtum eine schleichende Auszehrung der Judikative. Insbe-sondere treten Sie einer unerträglichen Ökonomisie-rung der Justiz
nicht entgegen, die vor allem die Schwachen in unsererGesellschaft trifft.Unter Ihrem Einfluss soll nicht die Suche nach Wahr-heit und Gerechtigkeit, sondern die schnelle und mög-lichst kostengünstige Herstellung eines Rechtspre-chungsproduktes die Aufgabe der Justiz sein. UnterIhrem Einfluss denkt man laut darüber nach, die Pro-zesskostenhilfe zusammenzusparen.
Dabei wird übersehen, dass damit die friedensstiftendeFunktion des Rechts gleich mit eingespart wird.Sie müssen sich einmal die Folgen dieses Vorhabensbewusst machen: Mit jedem Menschen, den wir aus demBezug der Gewährungen dieser Gesellschaft herausdrän-gen, riskieren wir es, einen Befürworter dieses Staatesund seiner Werteordnung zu verlieren.
Bei der so genannten großen Justizreform geht es umdie Abschaffung ganzer Instanzenzüge.
Auch dadurch wird den Bürgern ihr Anspruch auf einegerechte und fundierte Streitentscheidung genommen.Das kann ich als Richter, der in diesem Beruf 27 Jahretätig gewesen ist, sagen.
Frau Zypries, es ist auf Ihren Einfluss zurückzufüh-ren, dass nunmehr den Ländern der Strafvollzug überge-ben werden soll; dazu haben Sie einiges ausgeführt. Siegeben damit den grundgesetzlichen Resozialisierungs-auftrag aus Ihren Händen, wohl wissend um die Finanz-not der Länder. Die Folge ist – das haben Sozialdemo-kraten zu verantworten –, dass es nach Sozial- undLohndumping nunmehr auch ein Strafvollzugsdumpinggeben wird. Das ist Ihre Politik.
Sie riskieren – das wissen Sie sehr wohl, die ganzeFachwelt bestätigt es Ihnen – einen Wettlauf um die kos-tengünstigste Verwahranstalt, der nur neue Straffälligkei-ten und neue Prozesse auslösen wird. Das Strafvollzugs-gesetz war einmal ein Herzstück sozialdemokratischerPolitik und ein Markenzeichen Jochen Vogels. Selbstwenn das Gesetz bis heute weitgehend nicht umgesetztwurde, hat es doch deutlich gemacht, zu welch großenWürfen sozialdemokratische Rechtspolitik fähig ist.
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Wolfgang NeškoviæWolfgang NeškovićMit der nunmehr neuen Politik lassen Sie den Sozial-und Rechtsstaat im Stich, und zwar – Sie haben es selbstgesagt – ohne finanzielle Not. Das Justizressort ist wederbesonders kostenträchtig noch aufgebläht. Der Anteildes Justizhaushalts – Sie haben es gesagt – beträgt ledig-lich 0,13 Prozent. Aus dem Verhältnis von Einnahmenund Ausgaben ergibt sich eine Deckungsquote von circa97 Prozent. Diese Quote kann kein anderes Ressort auf-weisen. Dieses Ressort finanziert sich aus eigener Kraft.Anstatt nun Gesetze zu schaffen, die den Menschentatsächlich nützen, werden unter Ihrer Mitwirkung Ge-setze gemacht, die kurz darauf vor dem Bundesverfas-sungsgericht qualvoll verenden.
Denken Sie nur an das gescheiterte Luftsicherheitsge-setz! Dabei wäre es Ihre Pflicht gewesen, Herrn Schilydie Verfassungswidrigkeit seines Vorhabens klar zu ma-chen.
Oder denken Sie an das Europäische Haftbefehlsgesetz,bei dem Ihr Haus federführend versagte. Sie produzierenMurksgesetze. Sie widersprechen nicht im Kabinett,wenn Ihre Kollegen Murks fabrizieren, obwohl dieserWiderspruch Ihre Ressortpflicht wäre.Beim Zollfahndungsdienstgesetz haben wir leidervergeblich versucht, der Mehrheit in diesem Hauseschon vor Jahreswechsel klar zu machen, dass das Ge-setz – befristet oder nicht, Herr Kauder – die Vorgabendes Bundesverfassungsgerichts ignoriert, weil es nochimmer keine Regelungen zum Schutz des Kernbereichsprivater Lebensgestaltung enthält.
Lag es nun daran, dass der Rat von uns kam oder dassSie sich von der Verfassung generell nicht ärgern lassen?Sie haben sich damals wieder einmal entschlossen, einGesetz auf den Weg zu bringen, das Sie sehr bald mitgroßem Aufwand werden novellieren müssen, weil esverfassungswidrig ist.
– Ja, wir werden sehen.Frau Ministerin Zypries, Sie haben im „Tagesspiegel“vom 20. Januar 2006 gesagt:Unsere Freiheit lässt sich nur mit Hilfe des Rechts-staates sichern, niemals durch seine Preisgabe.Das war schön gesagt. Frau Zypries, Sie sind die Chefindes „Rechtsstaatsministeriums“ und haben es damitselbst in der Hand, die schleichende Preisgabe desRechtsstaats aufzuhalten.Damit bin ich bei einem weiteren Murksgesetz, dasbei Ihnen in der Schublade liegt, das so genannte Untä-tigkeitsbeschwerdengesetz; ein furchtbares Wort, aberes entspricht dem Inhalt dieses Gesetzes.
Mit diesem Gesetz wollen Sie überlange Gerichtsverfah-ren verhindern. In erster Linie verhindern Sie aber dieUnabhängigkeit der Richter, weil Sie ihnen das nehmen,was sie für ihre Entscheidungsfindung unentbehrlich be-nötigen, nämlich Zeit. Sie gewinnen dabei keinen Pfif-ferling für den Rechtssuchenden. Statt eines Ersatzan-spruches in Geld für ein verzögertes Verfahren geben Sieihm ein zusätzliches Verfahren an die Hand, mit dem erdann Verzögerungen rügen darf. Für diese Art von Hilfewird er sich bedanken. Das ist so, als würden Sie einemErtrinkenden ein Glas Wasser reichen.Noch nicht einmal aus dem Blickwinkel der Ausga-benseite macht diese Initiative Sinn. Sicherlich könnenSie anführen, das Instrument der Untätigkeitsbe-schwerde nehme sich gegenüber einem echten Ersatzan-spruch in Geld recht kostengünstig aus. „Billig“ wäredas richtige Wort und die Logik dieses Gedankengangesist es auch.Denn wenn sich die Gerichte neben ihrer regelmäßi-gen Arbeit mit der Bearbeitung von Verzögerungsbe-schwerden befassen, statt dem Bürger einen finanziellenErsatzanspruch zu bieten, dann bedeutet das eine zusätz-liche Belastung der Gerichte. Das bedeutet einen erhöh-ten finanziellen Aufwand und eine weitere Verzögerungder Bearbeitungsdauer der Verfahren, gegen die die Bür-ger dann wiederum Beschwerde einlegen können. Herz-lichen Glückwunsch zu dieser Idee!Die Neue Richtervereinigung hat das Untätigkeitsbe-schwerdengesetz deshalb auch jüngst als einen Schild-bürgerstreich bezeichnet, der geeignet ist, den deutschenJustizapparat nahezu lahm zu legen.
Ich mache Ihnen einen besseren Vorschlag: Sorgen Siezumindest in Ihrem Zuständigkeitsbereich für eine aus-reichende sachliche und personelle Ausstattung der Jus-tiz und machen Sie im Übrigen Ihren politischen Ein-fluss auf Länderebene geltend! Dann wird sich dasProblem der langen Verfahrensdauer von allein erledi-gen.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin noch bei meinem letzten Satz. – Ich gebe zumAbschluss noch einen grundsätzlichen Rat:
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Wolfgang NeškoviæWolfgang NeškovićReißen Sie nicht die rechtsstaatlichen und sozialen Er-rungenschaften aus Jahrzehnten nieder, weil Sie meinen,sich Sparzwängen fügen zu müssen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin beim letzten Satz.
Das haben Sie schon einmal gesagt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe einen Punkt übersehen. – Sie werden sonst
erleben müssen, dass Sie in einer Phase der möglichen
wirtschaftlichen Konsolidierung plötzlich ohne einen
modernen und sozialen Rechtsstaat dastehen.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Jerzy Montag, Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Nešković, Rechtspolitik wurde in diesem Hause– ich gehöre dem Parlament jetzt im vierten Jahr an –zwar in der Sache kritisch, aber doch differenziert disku-tiert. Ihre pauschale Kritik hat mich aber fast so weit ge-bracht, die Ministerin in Schutz zu nehmen. Lassen Siees bitte nicht so weit kommen.
Ich halte heute meine vierte Haushaltsrede. Die Haus-haltsdaten, die wir heute zu diesem Einzelplan diskutie-ren, sind solide und praktisch identisch mit denen, die inden Vorjahren vorgelegt worden sind. Deswegen gibt esdazu, meine ich, nicht sehr viel zu sagen.Ich will mir aber eine Anmerkung nicht verkneifen.Die Ausgaben für das Bundesverfassungsgericht sindvon 17,5 Millionen auf 16,5 Millionen Euro gekürztworden. Damit nähern sich die Ausgaben, die wir uns fürdas gesamte höchste deutsche Gericht leisten, dem Ge-halt des Vorstandsvorsitzenden einer deutschen Groß-bank. Ich finde das nicht angemessen und richtig. Viel-leicht war Ihre heutige Formulierung, Frau Zypries, dieQualität der deutschen Justiz stehe im umgekehrt pro-portionalen Verhältnis zu den Ausgaben für diese, etwasmissverständlich. Dieser Befund ist zwar vielleicht nichtganz falsch, aber tendenziell können wir nicht damitfortfahren, der Justiz immer weniger zu geben, damit sieimmer besser wird. Irgendwann schlägt das Pendel soweit aus, dass das nicht mehr funktioniert.Jeder und jede Deutsche zahlen weniger als 30 Centim Jahr für den Haushalt der Bundesjustiz.
Auch in den Ländern sind es weniger als 5 Euro im Jahr.Ich glaube, dass die Justiz und der Rechtsstaat inDeutschland es verdienen würden, dass, bei aller Not-wendigkeit sparsamer Haushalte, in diesem Bereichnicht weiter gespart wird.
Der Rechtsstaat ist nicht käuflich, aber er kostet. Des-wegen kann es für den Bereich der Justiz und der Recht-sprechung keine Politik nach Kassenlage geben,
ganz im Gegenteil: Wir wollen mehr Rechtsstaatlichkeitund mehr Einsatz für die Bürgerrechte. Das bedeutet inder konkreten Situation in den Bundesländern und auchbeim Bund mehr Geld für Personal und eine moderneAusstattung der Justiz. Aber hier vermisse ich sowohlhinsichtlich des Haushaltsansatzes als auch in der Koali-tionsvereinbarung nach vorne weisende Vorschläge, diedazu dienen, die Justiz in Deutschland zu stärken.Ich will noch einige Worte zur Rechtspolitik der gro-ßen Koalition sagen. Meine Damen und Herren von derCDU/CSU, Sie haben uns, als wir regierten, ständig vor-geworfen, dass wir uns – zum Beispiel bei der Umset-zung der Antidiskriminierungsrichtlinie – so viel Zeitließen. Nun, da Sie an der Regierung sind, legen Sie unserst gar keinen Gesetzentwurf vor.
Wir hingegen haben schon längst – auch in dieser Legis-laturperiode – einen Gesetzentwurf vorgelegt. Aber Siesetzen seine Behandlung im Rechtsausschuss aus forma-len Gründen von der Tagesordnung ab, weil Sie sichnicht in der Lage sehen, einen eigenen Gesetzentwurfvorzulegen. Ich finde, das ist ziemlich schwach.
Ich will noch einige Worte zu den rechtspolitischenAspekten der Föderalismusreformdebatte sagen. InDeutschland gilt für alle Deutschen das Grundrecht, sichohne Anmeldung und Erlaubnis friedlich und ohne Waf-fen zu versammeln. Es sollte Aufgabe des Bundes blei-ben, über das Versammlungsrecht zu wachen. Wir sindabsolut dagegen, dass Sie – aus nicht nachvollziehbarenGründen – das Versammlungsrecht in die Hände derBundesländer legen.
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2426 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 29. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2006
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Jerzy MontagDenn die Bundesländer werden dieses Recht ausschließ-lich unter polizeirechtlichen Gesichtspunkten behandeln.Darunter wird das Grundrecht auf Versammlungsfreiheitin Deutschland leiden.
Das Bundesverfassungsgericht hat in drei Aufsehenerregenden Entscheidungen vom September und No-vember letzten Jahres sowie vom März dieses Jahres dreiMenschen – einen bereits nach acht Jahren – aus der Un-tersuchungshaft entlassen, weil sich die Justiz sowohl imrichterlichen als auch im nicht richterlichen Bereichnicht in der Lage gesehen hat, ihre Aufgaben gemäß derVerfassung und des Beschleunigungsgebots zu erfüllen.Folgende Passage aus einer der drei Entscheidungen willich Ihnen nicht ersparen:Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verant-wortungsbereich der staatlich verfassten Gemein-schaft. Der Staat kann sich dem Beschuldigten ge-genüber nicht darauf berufen, dass er seine Gerichtenicht so ausstattet, wie es erforderlich ist, um dieanstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzöge-rung abzuschließen.Weiter heißt es:Hilft der Staat der Überlastung der Gerichte nichtab, so muss er es hinnehmen und gegebenenfallsauch seinen Bürgerinnen und Bürgern erklären,dass mutmaßliche Straftäter auf freien Fuß kom-men, sich der Strafverfolgung und Aburteilung ent-ziehen und erneut Straftaten von erheblichem Ge-wicht begehen.Angesichts dessen hätte es eines Zusammengehensvon Bund und Ländern auf der Justizebene bedurft. Manhätte über die dramatische Situation in den Justizhaus-halten der Länder diskutieren müssen. Aber nichts istpassiert. Wer in dieser Situation die Zuständigkeit fürden Strafvollzug für Erwachsene, den Strafvollzug fürJugendliche und auch noch die Untersuchungshaft in dieHände der Bundesländer legt, der macht den Bock zumGärtner. Sie werden auf unseren erbitterten Widerstandtreffen, wenn Sie das alles in die Hoheit der Länder ge-ben wollen.
Ich finde, eine Rechtspolitik, die dies und noch eini-ges mehr durch einen Kuhhandel im Rahmen der Föde-ralismusreform aus der Hand gibt, ist ein Desaster. Wirwerden in der Diskussion über die Föderalismusreformder Öffentlichkeit diese Punkte in allen Einzelheiten dar-legen und versuchen, die Phalanx der Vorentscheidungdurch Sachargumente zu durchbrechen.
Zum Schluss möchte ich auf Ihre Rede eingehen, FrauZypries, die Sie anlässlich des Neujahrsempfangs gehal-ten haben.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende. Sie können
nicht auf ein neues Thema eingehen.
Der letzte Satz. – In dieser Rede haben Sie davon ge-
sprochen, Frau Zypries, dass Sie die Rechte der Bürger
in der Bundesrepublik Deutschland wahren und schützen
wollen. Ich würde mir wünschen, dass diese Rede keine
Sonntagsrede bleibt und dass Sie in Ihrer praktischen Ar-
beit als Justizministerin beweisen, dass Sie das auch in
die Tat umsetzen.
Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegen Joachim Stünker, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Montagund Herr Nešković, die Rechtspolitik der großen Koali-tion steht in der Kontinuität der Rechtspolitik der letztensieben Jahre,
der Rechtspolitik von Herta Däubler-Gmelin bis zuBrigitte Zypries.
Von dieser Rechtspolitik, Herr Kollege Nešković – IhreRede gibt Anlass, das noch einmal zu sagen –, habenauch Sie einmal profitiert; da standen Sie noch auf deranderen Seite.
Von daher sollten Sie sich in Ihren Reden und bei denVorwürfen, die Sie hier erheben, im Ton ein bisschen zu-rücknehmen, Herr Kollege!
Wir sind es in der Rechtspolitik bisher nicht gewohnt ge-wesen, dass der Wortwechsel in solch einer persönlichenSchärfe erfolgt. Ich hoffe, dass das nicht der Stil ist, indem in den Senaten des BGH mittlerweile beraten wird –dann müssten wir bei den nächsten Besetzungen ein bis-schen genauer hinsehen.
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Joachim Stünker
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass das Jus-tizministerium prozentual gemessen mit einem geringenAnteil am Gesamthaushalt auskommen muss. Ich meine,dass es in den zurückliegenden Jahren hervorragendeArbeit geleistet hat. Dafür herzlichen Dank, Frau Minis-terin, auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Ih-rem Hause, die in den letzten Jahren wirklich Großes ge-leistet haben!
All denen, die im Augenblick so ungeduldig sind unduns fragen, wann die große Koalition den Rechtsaus-schuss endlich mit Vorlagen befassen will, sage ich: Wirwerden noch in diesem Jahr umfangreiche Entwürfe vor-legen.
– Wissen Sie, Herr Fricke: Wir haben erst im Dezemberdes vorigen Jahres mit der Regierungsbildung begonnenund brauchen natürlich ein paar Monate, um sorgfältigund gründlich an guten Entwürfen zu arbeiten; genau dasmachen wir im Augenblick.
Wir werden Ihnen in absehbarer Zeit einen Entwurf zurangemahnten Neuregelung der Telekommunikations-überwachung vorlegen.
Die Regelung der Vorratsdatenspeicherung, die neueKronzeugenregelung, die Normierung der Vereinbarungim Strafprozess, die uns abgefordert wird, die nachträgli-che Sicherungsverwahrung von Jugendlichen, die Neu-regelung der Führungsaufsicht, der Maßregelvollzug,Probleme des Stalkings, Probleme der Zwangsheirat undder Zwangsprostitution – überall haben wir Entwürfe inder Bearbeitung, über die wir zu reden haben und die wirIhnen demnächst vorlegen werden.
Nicht zuletzt für uns alle ein wichtiges Thema ist, wiedie Abgeordnetenbestechung künftig zu regeln seinwird; auch das werden wir noch in diesem Jahr sorgfältigzu beraten haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ferner sind zu nennen der zweite Korb beim Urheber-recht in der Informationsgesellschaft, die Richtlinien desForderungssicherungsgesetzes, das Insolvenzrecht, dieFGG-Novellierung – ein umfangreicher Katalog vonNovellierungen, die notwendig sind und die wir mit Ih-nen gemeinsam diskutieren werden. Ihre Ungeduld wer-den Sie noch verlieren; Sie werden genügend Arbeit be-kommen.
Ich sage heute auch deutlich – man sollte vor seinerVergangenheit nicht weglaufen –: Seit 1998 fristet dieRechtspolitik in diesem Hause kein Mauerblümchenda-sein mehr, sondern steht immer häufiger im Mittelpunktdes gesellschaftlichen Diskurses, mal kritisch, mal weni-ger kritisch.Ich habe in meinem Resümee zum Haushalt bisher soviele positive Dinge gesagt, da muss ich auch eine Nega-tiventwicklung erwähnen, auch vor dem Hintergrund derDiskussion um die Föderalismusreform. Diejenigen vonIhnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die mich längerkennen, wissen, dass ich seit 1998/99 in jeder Debattehier zu denen gehört habe, die eine Modernisierung derJustiz eingefordert haben. In der Haushaltsdebatte vom7. September 2004 – ich habe es noch einmal nachgele-sen – habe ich optimistisch verkündet, „dass die seit lan-gem überfällige Reformdebatte in der Justiz jetzt endlichauch in einem breiteren Feld und mit einem breiten Kon-sens eröffnet worden“ sei. Sie erinnern sich vielleicht anden damaligen Aufschlag der „Jumiko“. Die auflagen-stärkste deutsche Tageszeitung machte damals mit derÜberschrift „Die größte Justizreform seit 1873“ auf,wenn ich mich richtig erinnere.Die Entwicklung seitdem, gerade in den letzten Wo-chen und Monaten, hat mich allerdings erneut etwas an-deres gelehrt. Der Konsens, den ich eingefordert hatte,muss zwischen dem Bund und den Ländern gefundenwerden; das ist klar. Aber die Entwicklung zeigt im Au-genblick, dass die Länder den Konsens gar nicht führenkönnen, weil sie selber ein Länderinteresse nicht definie-ren können. So wird das sehr problematisch. BeimThema „große Justizreform“ wird jetzt ein Schreckens-bild an die Wand gemalt. Frau Ministerin, einen gemein-samen Lösungsansatz sehe ich im Augenblick nicht, umes ganz deutlich zu sagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle wissen,dass ich ein energischer Verfechter der Notwendigkeiteiner bzw. der Föderalismusreform bin. Reform des Fö-deralismus heißt für mich, die historisch erfolgreiche fö-derale Struktur der Bundesrepublik Deutschland in ei-nem sich erweiternden Europa und unter dem Druck dermassiven globalen Herausforderungen zukunftsfähig zumachen.
Reform des Föderalismus bedeutet aber nicht einenRückfall in die deutsche Kleinstaaterei des 18. und19. Jahrhunderts.
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In dem uns so sehr berührenden Bereich der Justiz habeich gegenwärtig den Eindruck, dass einige oder diemeisten Länder auf dem Weg zurück in diese historisch,wie ich denke, überholte Kleinstaaterei sind.Herr Kollege Montag, Herr Kollege Nešković, FrauKollegin – – Nein, Sie haben das nicht angesprochen,glaube ich.
Die Punkte in dem Gesamtpaket, die die Justiz angehen– Strafvollzug, Notarordnung, alle diese Dinge –, wer-den wir in der Anhörung mit Ihnen gemeinsam sorgfältigansehen. Wie Herr Gehb gesagt hat, wird da nichtsdurchgewunken. Da wird wirklich in der Sache gründ-lich gearbeitet.
Ich hoffe, wir alle werden das in einem weniger aufge-regten Ton tun können, als er teilweise zu Beginn dieserDebatte geherrscht hat. Die Themen, die wir zu bearbei-ten haben, sind es wert, weniger ideologisch, sondernmehr sachlich gesehen zu werden.Schönen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Otto Fricke, FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Wenn wir ganz ehrlich sind
– ich versuche es jetzt einmal mit Konsens –, dann müs-sen wir eingestehen, dass wir alle Befürchtungen haben,was die Frage angeht, ob sich unser Land in einer globa-lisierten Welt, in der sich alles schneller entwickelt, wei-terhin die Qualität der Justiz und des Rechtsstaates leis-ten kann, die alle in diesem Hause wollen.Das Justizministerium hat von allen Ministerien denkleinsten Haushalt.
– Herr Kollege, warten Sie es ab, ganz ruhig, ganz läs-sig!
Reden Sie mit Herrn Hartenbach! Dann können Sie nochmehr lernen. Ich will einfach versuchen, das klarzustel-len.Dieser Haushalt ist von den Einnahmen, hauptsäch-lich aus dem Deutschen Patent- und Markenamt, abhän-gig. Das ist gut und richtig. Wir alle müssen aber sehen,dass Druck entsteht, wenn von dort keine Einnahmenmehr kommen. Dann wird das Finanzministerium Druckausüben und sagen: Das wollen wir nicht.Für diesen Fall bitte ich Sie aus einem ganz bestimm-ten Grund, Vorkehrungen zu treffen. Die Bugwelle, diewir beim Patent- und Markenamt haben, wird – das darfich als Haushälter einmal sagen – nämlich zum Glückendlich abgebaut. Wir haben den Break-even-Point ir-gendwann Anfang des Jahres erreicht.Das heißt im Zweifel aber auch: Wenn die Anzahl derAnträge nicht steigt, dann werden die Einnahmen immergeringer. Diese Befürchtung existiert. Ich hoffe nicht,dass es so kommt. Als Haushälter, der den Rechtsstaatverteidigen will, sehe ich es als eine dringende Notwen-digkeit an, an dieser Stelle zu mahnen.Herr Kollege Montag, als Haushälter darf ich einekleine Korrektur anmahnen: Es sind nicht 30 Cent, son-dern 13 Cent, die der Haushalt vorsieht. Beim letztenMal waren es noch 20 Cent. Das alles liegt nicht daran,dass die Justiz so gut arbeitet, sondern daran, dass dasPatent- und Markenamt so gut arbeitet. Die Ausgabensteigen nämlich erstmals seit fünf Jahren. Das hat seineGründe. Dazu will ich auch nichts sagen. Nochmals: Wirsind davon abhängig, dass Einnahmen und Ausgaben andieser Stelle stimmen. Als Rechtspolitiker, als Bürger,die den Rechtsstaat verteidigen, müssen wir aufpassen,dass man da nicht über einen Umweg herangeht.Ich komme zum Bundesamt für Justiz, Frau Minis-terin. Es spricht sich herum, dass das eine ganz tolle Sa-che sei. In der „BZ“ steht, dass dort 80 neue Stellen ge-schaffen werden
und dass das 400 000 Euro kostet. Ich denke, dass das al-les noch klargestellt werden wird. Ich bin gespannt, wasdie Haushaltszahlen hierzu ergeben werden.Ich will aber eines deutlich machen: Das Schaffen ei-ner neuen Behörde allein bedeutet nichts. Es muss einVorteil für den Bürger dabei herausspringen und es darfnicht nur um die Sicherung des Standortes Bonn gehen.So vorzugehen, ist jedenfalls keine Lösung.
Ich will auf die Antidiskriminierungsstelle zu spre-chen kommen. Ich verweise auf das, was ich eben zumEinzelplan 17 – Familie – gesagt habe. Die große Koali-tion war bisher nur groß im Ankündigen, Herr Stünker.Sie haben wiederum keinen Zeitpunkt genannt. Sie ha-ben wieder nur gesagt: Wir machen das dieses Jahr.
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Otto Fricke– Ja, das höre ich andauernd. Herr Benneter hat dasebenfalls gesagt. Auch er hat eine Zusage im BereichGmbH gemacht. Ich bin gespannt, was da passiert.Auch diese Koalition hat wie viele andere vor ihr ge-sagt: Wir machen das dieses Jahr. „Dieses Jahr“ hieß esdann, dass Ende Dezember ein Referentenentwurf an dieLänder verteilt wird. Das geht nicht. Dafür haben wir zuviele Baustellen. Im Übrigen sind diese Baustellen selbstverschuldet, Frau Ministerin – ich spreche jetzt von derrot-grünen Koalition –, wie uns das Bundesverfassungs-gericht wiederholt mitgeteilt hat.Die Antidiskriminierungsstelle entweder bei einemSPD-geführten oder bei einem CDU-geführten Ministe-rium anzusiedeln, das kann nicht die Lösung des Pro-blems sein. Ich bitte Sie darum, sich einmal ein bisschenanzustrengen und zu überlegen, wie man diese Stelleeinsparen kann, wie man verhindern kann, dass eineneue Behörde geschaffen wird, welche Möglichkeitenbestehen, die entsprechenden Aufgaben auf Beauftragtezu verteilen.Noch etwas: Muss denn jede neue Institution bei derExekutive angesiedelt sein? Wäre es nicht viel besser,sie beim Bundestag anzusiedeln?
Ich zum Beispiel bin immer noch der Meinung, dass derDatenschutzbeauftragte eher zum Parlament als zum In-nenministerium gehört. Die Ansiedlung beim Innenmi-nisterium ist für mich nämlich ein Widerspruch.
Mein letztes Wort gilt dem Bundesverfassungs-gericht, über das wir heute ebenfalls reden. Für die Spe-zialisten unter uns ist in letzter Zeit viel über die Richter-wahl geschrieben worden. Ich will hier eines klarstellen:Keiner Partei stehen irgendwelche Richterstellen beimBundesverfassungsgericht zu. Ebenso stehen aber auchkeiner Koalition irgendwelche Stellen beim Bundesver-fassungsgericht zu. Ich warne die große Koalition hierausdrücklich, die Besetzung der in der nächsten Zeit freiwerdenden Stellen – ich erinnere an die aktuell zu wäh-lenden Richter – an parteipolitischen Kriterien auszu-richten. Ich hoffe, Sie tun das nicht; denn das wäre einSchaden für den Rechtsstaat und ein Schaden für denStandort.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegin Daniela Raab, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Zugegeben, die Rechtspolitik steht, auchwas die Debattenzeitpunkte angeht – das sehen wir auchheute wieder –, nicht immer im Fokus der öffentlichenWahrnehmung. Das mag auch daran liegen, dass Rechts-politik bis auf wenige Ausnahmen immer von Sachlich-keit geprägt war und sich frei von jeglichem Klamaukpräsentierte, Herr Nešković.
Gott sei Dank!Doch hat sich – da muss ich Herrn Stünker leider et-was widersprechen – mit der großen Koalition etwasverändert, und zwar sicherlich zum Positiven: Rechtspo-litik wird nun nicht mehr allzu sehr dazu missbraucht,gesellschaftliche Veränderungen per Gesetz herbeizu-führen,
was oftmals gerade Ziel der Grünen war, Herr Montag.Wir orientieren uns nun fern jeglicher Ideologie an denBedürfnissen, die sich aus der täglichen Justizpraxis undaus dem täglichen Leben ergeben und die an uns heran-getragen werden.
– Ich komme noch darauf, Herr Montag. – So hat es dieUnion in den letzten Jahren stets getan bzw. so hätte siees bevorzugt.Wir orientieren uns – das findet sich auch im Koali-tionsvertrag wieder – an dem Wunsch nach Sicherheitund Freiheit gleichermaßen, ohne dabei deplatziertesund auch völlig unnötiges Weltverbesserertum zu betrei-ben; denn klar ist: ohne Sicherheit auch keine Freiheit.Die Union hat es deshalb sehr begrüßt, Frau Ministe-rin – sie ist jetzt gerade leider weg; wo ist sie? –,
dass nun zum Beispiel auch die nachträgliche Siche-rungsverwahrung möglich sein soll, wenn die beson-dere Gefährlichkeit eines Straftäters erst nach dem Urteilund während der Haft festgestellt wird. Lange haben wirvonseiten der Union dies vergebens gefordert, aber Siewissen ja: Was lange währt, wird endlich gut, Frau Mi-nisterin. Wir freuen uns sehr darüber.
Aus diesem Grunde haben wir heute auch mit Freudesowohl von Ihnen, Frau Ministerin, als auch von HerrnStünker vernommen, dass ebenfalls ein Gesetzentwurfzur Sicherungsverwahrung von Straftätern zu erwartenist, die nach dem Jugendstrafrecht verurteilt wordensind.
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Daniela Raab
– Gott sei Dank, Herr Montag; da bin ich sehr froh. –Auch das ist überfällig. Ich habe Ihnen am Anfang ge-sagt, dass sich etwas zum Positiven verändert hat. Dasgehört sicherlich dazu.
– Aber er hat es gemerkt. Das ist schön. Das zeigt mir:Wir sind auf dem richtigen Weg.Durch aktuelle, immer dramatischere Vorfälle nimmtauch das Thema Stalking noch mehr an Brisanz zu. Erstletzte Woche wurde wieder eine Frau von ihrem Ex-mann, der sie über Monate hinweg verfolgt und drangsa-liert hatte, auf offener Straße erstochen – trotz Kontakt-verbots.Uns liegen zu diesem Thema – auch hierzu haben wirvielleicht noch eine kleine Meinungsverschiedenheit; ichbin aber sicher, dass wir sie beseitigen können – zweiGesetzentwürfe vor, einer aus dem Bundesjustizministe-rium und einer aus dem Bundesrat, unter Federführungvon Hessen und Bayern. Diese beiden Gesetzentwürfeunterscheiden sich im Wesentlichen in zwei Punkten, dieich durchaus für bemerkenswert halte. Der Bundesratnormiert einen deutlich weiter gehenden Tatbestand desStalking. Außerdem sieht er die so genannte Deeskala-tionshaft vor. Der Gesetzentwurf aus dem Bundesjustiz-ministerium verzichtet auf beides.Ich muss hier ausdrücklich sagen, dass ich in diesemFall die Bundesratsvariante unterstütze, denn ich bin derMeinung, dass es ein Fehler wäre, schon jetzt, wo wirbeim Thema Stalking noch ganz am Anfang stehen, wowir die Motivationen erst erleben, einen endgültigen Tat-bestand zu normieren, ohne sozusagen noch Ausweich-möglichkeiten vorzusehen. Wir wissen alle: Gerade Stal-ker sind von ihrer Persönlichkeitsstruktur her sehrintelligente Täter, die sich immer wieder neue Möglich-keiten ausdenken, ihr Opfer zu drangsalieren und zu ver-folgen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir uns eini-gen könnten, Frau Ministerin; denn der Bedarf für eineRegelung ist völlig unbestritten. Darum bin ich auchsehr positiv gestimmt und denke, dass wir da einen Wegfinden werden.Auch was die Strafbarkeit von Freiern angeht, müssenwir dringend handeln. Zwangsprostitution und Zwangs-heirat sind ebenfalls Themen, mit denen wir uns unbe-dingt befassen müssen.Fraktionsübergreifend einig sind wir uns in der Fest-stellung, dass wir als deutsche Parlamentarier nicht mehrnur ergebene Vollstrecker von europäischen Vorgabensein wollen. Hier ist unser aller Selbstbewusstsein ge-fragt. Hier ist insbesondere die Sensibilität der Rechts-politiker gefragt, aber natürlich auch unser aller Einsatz,der oft schwierig genug ist. Wir müssen uns früh genugin solche Entscheidungsprozesse einbringen, die ausBrüssel und aus Straßburg auf uns zukommen. Wir allewissen – darüber sind wir uns tatsächlich einig –: Wasman jetzt flott durchwinkt, kann oftmals wie ein Bume-rang zurückkommen. Wir sollten aus den Fehlern derVergangenheit lernen und zusammenarbeiten. Auf dieseWeise können wir für den deutschen selbstständigen Par-lamentarismus wirklich einiges bewirken.
Das Thema Antidiskriminierungsgesetz kann ichaufgrund der knappen Redezeit nur noch kurz anspre-chen: Ich bin nicht ganz so traurig darüber, dass wirbeim Antidiskriminierungsgesetz noch nicht so weitsind, wie es die Grünen gern hätten. Ich verhehle nicht,dass gerade wir als Union unsere Probleme nicht nur mitIhrem Gesetzentwurf, sondern insbesondere natürlichmit den Richtlinien haben, die uns von Rot-Grün über-lassen worden sind.
– Ja, es hilft leider wirklich nichts. Wir müssen ran. Aberdann reicht es tatsächlich, wenn wir eins zu eins umset-zen. Wir brauchen nicht wieder über das Ziel hinauszu-schießen. Unser deutsches Rechtssystem verfügt über di-verse Schutzmechanismen gegen Diskriminierungen.Wir müssen nicht unnötigerweise immer noch mehrdraufsatteln. Ich denke, da haben wir noch einiges voruns. Aber auch da werden wir uns sicherlich einigen.Das bedarf selbstverständlich der notwendigen Sensibili-tät beider Koalitionspartner; denn jeder weiß natürlich,wie wichtig dem jeweils anderen einzelne Themen sind.Wir werden aber konstruktiv zusammenarbeiten.Ich denke, der Umschwung von Rot-Grün zur großenKoalition ist uns erfolgreich gelungen. Ich blicke positivin die Zukunft und hoffe auch auf eine konstruktive Zu-sammenarbeit mit der FDP, die das angeboten hat. Indiesem Sinne danke ich Ihnen und freue mich auf daskommende Jahr.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Wir kommen damit zu dem Geschäftsbereich desBundesministeriums des Innern, Einzelplan 06, ein-schließlich Versorgung, Einzelplan 33. Ich erteile dasWort dem Bundesminister des Innern, WolfgangSchäuble.Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Der Hauptteil des Einzelplans 06 umfasst die Aus-gaben für den Sicherheitsbereich. Von den rund4 Milliarden Euro im Entwurf des Haushaltsplans sindrund 2,9 Milliarden Euro, also etwa 73 Prozent, für den
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Bundesminister Dr. Wolfgang SchäubleSicherheitsbereich vorgesehen. Das spiegelt denSchwerpunkt der Aufgaben im Geschäftsbereich desBundesministers des Innern wider.Angesichts der wachsenden Herausforderungen durchorganisierte Kriminalität und internationalen Terroris-mus haben wir einen steigenden Sicherheitsbedarf. DerAufwuchs in den Ausgaben für den Sicherheitsbereich ineiner Größenordnung von 127 Millionen Euro, also etwa4,5 Prozent, im Entwurf des Haushaltsplans ist im We-sentlichen zurückzuführen auf zwingende steigendeAusgaben für die Beauftragung privater Unternehmenbei der Bundespolizei zur Durchführung der Luftsicher-heitskontrollen – damit reagieren wir auf das gestiegeneFluggastaufkommen – und die dringend notwendigeEinführung des Digitalfunks bei den Behörden der öf-fentlichen Sicherheit. Wir haben gerade nach den Kata-strophenschutzübungen wieder Klagen gehört, dass dieentsprechenden Dienste und Einrichtungen noch immernicht über hinreichende Funkverbindungen verfügen. Esist dringend notwendig, dass wir die Einführung be-schleunigen. Ich bin fest entschlossen, alles zu tun, umdieses langwierige Verfahren bald zum Abschluss zubringen.
Ich glaube, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dasswir uns, ohne im Rahmen dieser Haushaltsdebatte aus-führlich darüber diskutieren zu können, immer wiederklar machen müssen, dass wir eine völlig veränderte Be-drohungslage haben und dass wir durch die weltweiteVernetzung der Entwicklungen vor ganz neuen Heraus-forderungen stehen. Die organisierte Kriminalität bzw.überhaupt irgendwie professionell geplante Kriminalitätist inzwischen immer grenzüberschreitend, europäischund international. Das ist eine völlig neue Dimension, imÜbrigen auch, was meine Erfahrung angeht. Bei mir gibtes ja einen gewissen Erinnerungseffekt in Bezug auf Zei-ten vor 15 Jahren. Als auch damals für die innere Sicher-heit unseres Landes verantwortliches Mitglied der Re-gierung sehe ich, dass die europäische und internationaleDimension der Arbeit ungeheuer viel intensiver gewor-den ist. Das spiegelt die weltweiten Entwicklungen wi-der.Wir haben heute und morgen eine Konferenz, auf derwir in Vorbereitung auf die Fußballweltmeisterschaftmit den für die Sicherheit Verantwortlichen in Bund undLändern und allen anderen 31 Teilnehmerstaaten durch-checken, ob wir bei allen Vorbereitungen das Menschen-mögliche getan haben. Ich glaube, wir sind auf einemguten Weg. Aber das macht deutlich, dass diese Mittelangesichts der weltweiten Entwicklungen dringend be-nötigt werden.Ich füge die Bemerkung hinzu: Eine solche Haus-haltsdebatte ist auch Anlass, den Polizeibeamtinnen undPolizeibeamten von Bund und Ländern einmal Dank zusagen für die Arbeit, die sie im Interesse der Sicherheitunseres Landes und aller seiner Bürgerinnen und Bürgerleisten.
Dies gilt auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiteraller anderen Sicherheitsbehörden. Ich habe in einem an-deren Zusammenhang darauf hingewiesen, dass wir beider Gefahrenabwehr auf die Funktionsfähigkeit und Ar-beitsfähigkeit von Nachrichtendiensten dringend ange-wiesen sind. Ohne funktionsfähige, zur internationalenZusammenarbeit fähige Nachrichtendienste wäre die Si-cherheitslage unseres Landes dramatisch schlechter. Ichbitte das Hohe Haus, bei allen anstehenden Verfahren imZusammenhang mit Institutionen und dergleichen– selbstverständlich unter Wahrnehmung aller parlamen-tarischen Rechte – darauf zu achten, dass wir unsererVerantwortung gerecht werden.
Ich möchte, weil im Haushaltsentwurf für diesen Be-reich ein Mittelaufwuchs veranschlagt ist, die Anmer-kung machen, dass es zur Gewährleistung der innerenSicherheit in einem starken Maße erforderlich ist, die Si-cherheit bei der Nutzung der Informations- und Kom-munikationstechnologien zu verbessern, einmal, wasdie Sicherheit der Informationstechnik selbst betrifft,mehr aber noch, was die modernen Informations- undIdentifizierungstechnologien, deren Nutzung einen Si-cherheitsgewinn für unser Land bedeuten kann, angeht.Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, insgesamt20 Millionen Euro aus dem Zukunftsfonds der Bundes-regierung für den Geschäftsbereich des Einzelplans 06zu gewinnen, weil wir in der Forschung im Bereich derinneren Sicherheit erhebliche Anstrengungen leisten unddabei auf einem guten Weg sind.Ich füge, weil hier so viel über die Föderalismusre-form debattiert worden ist, hinzu, dass wir uns in denkommenden Wochen auch mit der zweiten Stufe der Fö-deralismusreform zu beschäftigen haben werden. Daswollen wir auch; so haben wir es besprochen, Herr Kol-lege Burgbacher.
Es geht dabei um die Bund-Länder-Finanzbeziehungen.Meine Überzeugung ist, dass wir dabei nur dann Erfolghaben werden, wenn es nicht zu einem Nullsummenspielkommt. Ein Nullsummenspiel bei den Bund-Länder-Fi-nanzbeziehungen verläuft so: Die Länder beschließen,dass keinem Land weniger Mittel zur Verfügung stehendürfen als zuvor; der Bund sagt, es dürfe aber nicht mehrkosten. Dann kommt am Ende zu wenig Bewegung.Wir werden uns der Anstrengung unterziehen müssen,zu überlegen, wie wir nicht durch Grundgesetzänderun-gen im Bereich der Zuständigkeiten, sondern bei der Zu-sammenarbeit von Bund und Ländern zusätzliche Syner-gieeffekte mobilisieren können, damit die Neugestaltungder Bund-Länder-Finanzbeziehungen eben nicht zu ei-nem Nullsummenspiel wird.Der Bereich E-Governance, also die Nutzung moder-ner Informationstechnologien für Verwaltungszwecke,
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäubleist ein Bereich, in dem wir durch eine Intensivierung derZusammenarbeit und der Arbeitsteilung von Bund, Län-dern und Gemeinden insgesamt – für die Gemeinschaft,für den öffentlichen Gesamthaushalt, für die Steuerzah-ler – Effizienzgewinne erzielen können. Ich arbeite sehrintensiv daran, das Menschenmögliche zu tun.Ich habe die Sicherheitsvorkehrungen für die Fuß-ballweltmeisterschaft angesprochen. Wir haben vorkurzem im Sportausschuss eine Debatte darüber geführt.Ein Kollege hat mir gesagt: Nun freuen Sie sich doch aufdie Fußballweltmeisterschaft; reden Sie nicht immer nurvon Sicherheitsproblemen!
– Herr Kollege Wieland, damit wir alle uns auf die Fuß-ballweltmeisterschaft freuen können, ist es notwendig,das Menschenmögliche dafür zu tun, dass bei der Fuß-ballweltmeisterschaft Sicherheit gewährleistet ist, dasssich die Millionen Besucher, die in unser Land kommenwerden, wirklich bei Freunden zu Gast fühlen.Wir haben alles getan, damit es eine fröhliche, freund-liche, weltoffene Fußballweltmeisterschaft wird. Dazugehört, dass die Sicherheit gewährleistet ist. Das musssein!
– Herr Kollege Wiefelspütz, ich wollte gerade daraufhinweisen, dass sich die Zuständigkeit des Bundesinnen-ministers für den Sport nicht auf die Frage der Sicherheitbei der Fußballweltmeisterschaft beschränkt, sondernauch die Sportförderung auf nationaler Ebene umfasst.Für diesen Bereich sieht der Haushaltsentwurf Mittel aufdem hohen Niveau der Vorjahre vor. Dabei steht fürmich im Vordergrund, dass wir die Freiheit der Sportor-ganisationen wahren, bis hinzu der Frage, wer im Tor derdeutschen Fußballmannschaft stehen wird. Es tut mirLeid: Als Bundesinnenminister bin ich dafür nicht zu-ständig.
– Nein, keine Fachaufsicht.Aber nun im Ernst: Es ist wichtig, dass auch im Jahrder Fußballweltmeisterschaft in der BundesrepublikDeutschland eine intensive Sportförderung erfolgt. Diesist eine sehr vielfältige Aufgabe. Diese wird auch imJahr der Fußballweltmeisterschaft mit großer Intensitätwahrgenommen.
Wir können auch ein bisschen stolz darauf sein, dassdie Sportler der Bundesrepublik Deutschland bei denOlympischen Winterspielen in Turin in der wie immerfragwürdigen Nationenwertung Platz eins errungen ha-ben. Aber da wir nun schon Platz eins errungen haben,können wir auch sagen: Insofern nehmen wir die Natio-nenwertung ausnahmsweise einmal ernst.
Wir werden übrigens bei der Fortführung der Sport-förderung große Anstrengungen unternehmen – um esnun im Ernst zu sagen; ich bin entschlossen, mich dafürsehr stark zu engagieren –, die Wettbewerbsfähigkeit un-serer deutschen Spitzensportler – denken Sie an dieOlympischen Sommerspiele in zwei Jahren – auch inZukunft gewährleisten zu können.Ich füge hinzu: Auch bei den Paralympischen Winter-spielen in Turin haben die Sportlerinnen und Sportler derBundesrepublik Deutschland mit großartigen LeistungenPlatz zwei in der Nationenwertung erzielt.
Es waren wunderbar spannende Wettkämpfe. Ich nutzedie Gelegenheit gern, dem Herrn Bundespräsidenten fürsein ganz außergewöhnliches, großartiges persönlichesEngagement, das er gerade den behinderten Sportlernbei den Paralympics in Turin entgegengebracht hat, mei-nen Dank auszusprechen
Es waren ja einige der Kolleginnen und Kollegen dan-kenswerterweise anwesend.Wir werden aus diesem Erfolg Konsequenzen ziehenmüssen, um auch unseren behinderten Spitzensportlernfür kommende internationale Wettbewerbe gleicheChancen gewährleisten zu können. Da werden wir neueMaßnahmen treffen. Ich prüfe zusammen mit dem Bun-desverteidigungsminister, ob wir in der Vorbereitung aufinternationale Wettbewerbe ähnliche Möglichkeiten derHilfe wie für Spitzensportler auch im Behindertenbe-reich anbieten können.
Dies muss gar nicht von der Bundeswehr oder der Bun-despolizei ausgehen; das kann man auch im Bereich derzivilen Verwaltung machen. Wir sind dabei und werdenIhnen entsprechende Lösungsvorschläge unterbreiten.Das bringt mich zu der Bemerkung, dass der Sport na-türlich ein besonders geeignetes Feld ist, um vielfältigeIntegrationsprobleme in unserer Gesellschaft erfolg-reich zu bewältigen.
Wir sollten bei dieser Gelegenheit den Sportorganisatio-nen, den Vereinen und Verbänden, für ihren Beitrag dazudanken.Auch folgender Punkt in aller Eile: Natürlich ist dieSteuerung und Begrenzung der Migration bzw. der Zu-wanderung und die Verbesserung der Integration derjeni-
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäublegen, die zu uns gekommen sind und zu uns kommen,eine der Hauptaufgaben im Geschäftsbereich des Bun-desministeriums des Innern. Wir arbeiten daran. Wir hat-ten heute die große Arbeitstagung zur Evaluierung desZuwanderungsgesetzes, wie wir sie in der Koalitions-vereinbarung verabredet hatten. Ich hoffe zuversichtlich,dass wir auf der Grundlage dieses Erfahrungsaustau-sches in der Lage sein werden, zu Beginn der zweitenJahreshälfte mit den Ländern insgesamt zu einvernehm-lichen Regelungen zu kommen, auch was Kettenduldun-gen und Altfälle anbetrifft.
Wir sollten im Übrigen auch zu bundeseinheitlichen Re-gelungen kommen, wie das Staatsangehörigkeitsrechtexekutiert werden könnte. Natürlich brauchen wir amEnde bundeseinheitliche Regelungen, weil alles andereuns in die Irre führt. Einbürgerungstourismus kannDeutschland nicht nützen.
– Herr Kollege Ströbele, wenn Sie eine einheitliche Re-gelung aller Bundesländer befürworten und als Bundes-innenminister einen Beitrag dazu leisten wollen, dannsind Sie klug beraten, wenn Sie öffentlich dazu keineVorgaben machen, sondern zunächst einmal auf eine Ei-nigung der 16 zuständigen Kolleginnen und Kollegenhinwirken. Das ist mein Verständnis. Ich hoffe, wirschaffen es miteinander und gemeinsam.
Denn am Ende hilft uns bei der Bewältigung der Inte-grationsaufgaben der öffentliche Streit über diese Fragennicht wirklich. Je eher wir eine zwischen Bund und Län-dern einvernehmliche und einheitliche Regelung zu-stande bringen, umso besser sind die Chancen, dass wirdie in der Integration bestehenden Defizite, die wir ganzunbestreitbar haben – übrigens nicht nur in Deutschland;das ist in anderen europäischen Ländern, die seit Jahr-zehnten mit Zuwanderung konfrontiert werden, ganz ge-nauso; Frankreich hat ähnliche Probleme –, bewältigen.Ohne in lange Schuldzuweisungsdebatten einzutreten,müssen wir uns darauf konzentrieren, dass die Situationbesser wird; denn es ist höchste Zeit, dass wir die Inte-gration verbessern.Weil ich damit begonnen habe, will ich noch folgendeBemerkung machen: Ein Schwerpunkt der Arbeit desBundesinnenministeriums in den kommenden Monatenwird sein müssen – im Verantwortungsbereich des Bun-desinnenministers –, die deutsche Präsidentschaft in derEuropäischen Union vorzubereiten. Mir liegt sehr da-ran, dass wir im Bereich der Justiz- und Innenpolitik inEuropa effizienter werden und dass wir klar machen: Eu-ropäische Einigung bedroht die Menschen nicht, sondernist ein Sicherheitsgewinn. Europa ist in der Lage, für unsalle das Leben sicherer zu machen. Dazu müssen wirzwischen erster und dritter Säule in den europäischenVerträgen – und im Übrigen auch nach dem Mechanis-mus des Prüm-Vertrages – vorankommen, indem wir dieLänderzusammenarbeit dort, wo die Länder dazu bereitsind, pragmatisch vereinbaren.Je mehr wir für die Sicherheit der Bürgerinnen undBürger in Europa zusammenarbeiten, umso mehr stärkenwir auch die Akzeptanz der europäischen Einigung. Indiesem Sinne bitte ich um Ihre Begleitung bei den viel-fältigen Arbeiten.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Gisela Piltz, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieKoalitionsvereinbarungen waren für uns Liberale im Be-reich der Innenpolitik schon eine herbe Enttäuschung.
Außer einigen Ankündigungen und einigen Prüfaufträ-gen steht da, ehrlich gesagt, nicht viel drin.Aber auch in den letzten vier Monaten können wirnicht so recht den roten Faden in der Innenpolitik erken-nen, Herr Minister.
– Von mir aus auch ein rot-schwarzer Faden, aber manmuss nicht alles parteipolitisch interpretieren.
Von daher sollten wir es einmal bei dem roten Faden be-lassen.Sie haben natürlich Recht, dass wir bei der Fußball-WM alles Menschenmögliche unternehmen müssen, da-mit das ein sicheres Ereignis zwar nicht für Düsseldorf– für Düsseldorf leider nicht, da wir kein Spiel bekom-men haben; Sie merken, das ärgert einen als Düsseldor-ferin –, aber für Deutschland wird.
Man muss aber nicht alles verfassungsrechtlich Unmög-liche dafür fordern. Das haben Sie getan. Sie haben im-mer wieder die Forderung nach dem Einsatz der Bundes-wehr im Innern auf den Tisch des Hauses gebracht;insbesondere haben Sie nach dem Bundesverfassungsge-richtsurteil Maßnahmen gefordert, die definitiv mit demGrundgesetz nicht in Einklang zu bringen sind. So habeich mir den Einsatz eines Verfassungsministers für un-sere Verfassung nicht vorgestellt.
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Gisela PiltzIch finde, Sie hätten das Urteil akzeptieren müssen. Dieheutigen Äußerungen aus der CDU und CSU waren bil-lige Wahlkampfpolemik, hatten aber nichts mit der ei-gentlichen Sicherheit zu tun.Wo bleibt also der rote Faden in dem Thema? Ihr Ko-alitionspartner war gegen den Einsatz der Bundeswehr– wir können im Innenausschuss ja jedes Mal die Fort-setzung der Koalitionsverhandlungen erleben – und auchIhr eigener Ministerkollege war dagegen. Von daher hatuns schon sehr gewundert, dass Sie das wieder auf denTisch gebracht haben. Wir hoffen, dass jetzt mit diesemThema wirklich Schluss ist. Wenn man in diesem Landetwas für Sicherheit tun will, dann muss man das Mögli-che tun, anstatt darüber zu reden, wovon man gerneträumt und wie man gerne die Verfassung ändernmöchte, selbst wenn man es nicht kann.Wenn Sie wirklich alles für die Sicherheit tun möch-ten, dann hätten wir auch schon längst den BOS-Digital-funk haben müssen.
Ich kann mich erinnern, dass wir Seite an Seite mit derCDU Ihren Amtsvorgänger immer wieder aufgeforderthaben, dieses Vorhaben endlich in die Tat umzusetzen.Das einzige, was Rot-Grün damals einfiel, war, einneues Amt zu schaffen – das ist doch immer Klasse. Da-nach haben Sie sich überlegt, dieses Projekt auszuschrei-ben. Wir erwarten von Ihnen, Herr Minister, ganz kon-kret eine europarechtlich korrekte Ausschreibung. Vorallen Dingen erwarten wir, dass Sie sich dabei für diebeste Technik für unsere Sicherheitskräfte entscheiden.Es kann nicht sein, dass wir uns aus irgendwelchenGründen für eine Technik entscheiden, die nicht dasBeste und Modernste ist, bloß weil irgendwelche Ab-sprachen gelaufen sind.
Wie gesagt, mit Sicherheit hat das alles leider nichts zutun.Wenn man überlegt, dass dieses Verfahren insgesamt15 Jahre lang gedauert hat,
dann muss man sich doch fragen: In welcher Republikleben wir hier eigentlich? Wenn ich höre, dass einigeLänder jetzt noch dreistellige Millionenbeträge in dasalte Analogsystem stecken müssen, damit es überhauptfunktioniert, dann muss ich feststellen, dass das rausge-schmissenes Geld ist – und zwar rausgeschmissenesGeld aller Steuerzahler, nicht nur der Länder. Das hättewirklich vermieden werden können.
Wir können die beste Ausstattung für unsere Streit-kräfte erwarten. Sich darum zu kümmern, wie die Solda-tinnen und Soldaten aussehen, ob sie Ohrringe tragenoder der Lippenstift vielleicht zu rot ist und ob die Uni-form grün oder blau sein soll, ist allerdings kleinkariert.Das ist nicht gerade Beleg für einen roten Faden in derSicherheitspolitik. Das macht uns nicht zufrieden.Es hieß ja immer, für den BOS-Digitalfunk hätten wirkein Geld. Für andere Dinge haben wir aber Geld, zumBeispiel für die biometrischen Ausweispapiere. Aufeinmal wird ganz Deutschland mit einem riesigen Mo-dellversuch überzogen. Reisepässe mit einem RFID-Chip auszustatten, ist bisher nirgendwo in Deutschlandin der Praxis ausprobiert worden. Niemand weiß, ob siesicher sind. Niederländische Hacker haben sie geradegeknackt.Im Entwurf des Bundeshaushalts für das Jahr 2006sind auch nur 7 Millionen Euro dafür eingestellt worden,vorwiegend für teure Gutachten. Die hätte man sich spa-ren können, wenn man erst einmal einen Versuch gestar-tet hätte. Das wollten Sie aber nicht. Sie mussten jaRücksicht auf die Bundesdruckerei nehmen.
Das Geld, das jetzt noch übrig ist, reicht gerade ein-mal für die Ausstattung mit Lesegeräten an den Grenzen.Da muss ich Sie fragen: Wie wollen Sie eigentlich dieAusstattung, die notwendig ist, um die Daten aus derEntfernung auslesen zu können – Sie haben ausdrücklichgesagt, dass Sie das wollen –, finanzieren? Das könnenSie nicht finanzieren.Darüber hinaus leisten wir uns in Frankfurt ein teuresPilotprojekt, das sich mit der Iriserkennung beschäftigt,obwohl Ihr Vorgänger festgelegt hat, dass die einzigenMerkmale im Pass Fingerabdruck und Gesichtserken-nung sein sollen.
Warum machen wir ein teures Pilotprojekt für biometri-sche Daten, wenn wir sie gar nicht mehr brauchen? –Nur weil im Wahlkreis Ihres Vorgängers ein Unterneh-men ansässig ist, das sich damit beschäftigt?
Ich fordere Sie auf: Hören Sie mit diesem Unsinn auf!Das brauchen wir nicht. Wir müssen uns auf das konzen-trieren, was wir für die Sicherheit brauchen. Dieses Pro-jekt bringt uns jedenfalls – ehrlich gesagt – nicht mehrweiter.
Seit dem 1. Januar 2006 gibt es das neue Informa-tionsfreiheitsgesetz – Gott sei Dank!
Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz ist jetzt auchdafür zuständig. Der Datenschutz spielt bei Ihnen ja oh-nehin eine untergeordnete Rolle. Wenn der Datenschutz-beauftragte jetzt aber auch noch dafür zuständig seinsoll, frage ich mich: Warum, um Himmels willen, kürzen
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Gisela PiltzSie ihm seinen Etat? Wenn Sie in diesem Bereich einenroten Faden suchen, dann rate ich Ihnen, endlich dasBundesdatenschutzgesetz zu novellieren. Alle Verbrau-cherinnen und Verbraucher warten darauf.
Auch bei der Integrationsförderung fehlt uns ein ro-ter Faden. Lang und breit wird darüber diskutiert, wel-chen Einbürgerungstest wir demnächst stellen. Wir sindnicht in einer Quizshow, wo man bei der Frage nach dreideutschen Mittelgebirgen einen Ministerjoker ausspielenkann. Warum finden Sprachkurse statt, wenn Sprachenicht abgefragt wird? Der Kollege Grindel von der CDU– er ist heute leider nicht da – hat uns in der letzten Sit-zung des Innenausschusses eindrucksvoll geschildert,dass Sprachkurse in dieser Form nicht funktionieren.Aber warum kürzen Sie die Mittel deshalb gleich, anstattdiesen Bereich zu überprüfen und den Mittelansatz zu-nächst gleich zu lassen? Das ist der falsche Weg. DieEinbürgerung, ein Test oder ein Gespräch kann nur amEnde des Integrationsprozesses stehen. Wir müssen denProzess unterstützen und nicht den Test am Ende. Bittehören Sie auf mit diesen unsäglichen Tests!
In diesem Zusammenhang noch ein Appell: FindenSie endlich eine Regelung, nach der langjährigen Flücht-lingen ein Bleiberecht eingeräumt wird! Herr Minister,Sie haben das zwischen den Zeilen angekündigt. Ichwürde mich sehr freuen, wenn wir für die integriertenMenschen endlich eine Lösung finden würden. Ich habegemerkt, dass Ihre eigene Fraktion dabei nicht geklatschthat.
– Nur sehr wenige.Liberale haben einen roten Faden.
Wir können in Zeiten bedrohter Sicherheit alles tun, umdie Sicherheit unser Bürgerinnen und Bürger zu wahren.Zugleich können wir aber auch den freiheitlichen Gehaltdes Grundgesetzes und die klassische Rechtstaatlichkeitwahren. Unser liberaler Innenminister in Nordrhein-Westfalen beweist zum Beispiel jeden Tag, dass beidesgeht. Aus unserer Sicht müssen Maßnahmen, die in dieBürgerrechte jedes einzelnen Bürgers einschneiden, im-mer geeignet, erforderlich und angemessen sein. Diesenjuristischen Dreiklang vermisse ich sehr häufig in derDiskussion, allgemein in der Innenpolitik und gerade beiden Themen der inneren Sicherheit. Ich appelliere an Siealle, dass wir dahin zurückkommen.
Aus unserer Sicht bleibt nicht viel Gutes über dieerste Zeit zu sagen. Sie haben vieles nicht zurückgenom-men, was Ihre Vorgänger umgesetzt hatten. Es brauchteLiberale vor dem Bundesverfassungsgericht, um dasLuftsicherheitsgesetz zu kippen; rechtswidriger als die-ses Gesetz ging es wohl nicht. Wir hoffen, dass Sie einenroten Faden finden werden. Wenn Sie den finden undFreiheit und Sicherheit in geeigneter Weise zusammen-bringen, dann sind wir gern an Ihrer Seite.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Fritz Rudolf Körper,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Mi-nister Schäuble, in Ihrer Rede hat der Sport einen relativgroßen Teil eingenommen.
Ich denke, es war gut, dass der Sport eine große Rollegespielt hat.
Ich will auf ein Thema hinweisen, das mir ein biss-chen Sorge macht, nämlich das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts vom 29. März dieses Jahres zum ThemaSportwetten.
In der Urteilsbegründung steht unter anderem, dass eineeffektive Bekämpfung der Spielsucht als Voraussetzungdes Monopols nicht gewährleistet sei. Das Verfassungs-gericht schlägt eine zeitliche Frist vor, zu deren Ablaufdies geregelt sein muss. Ich weiß, dass bei den Regelun-gen, die dabei ins Auge zu fassen sind, zuerst die Ländergefordert sind. Aber wir wissen auch, dass bei einer Län-derregelung viele Staatsverträge geschlossen werdenmüssten. Die Frist bis zum 31. Dezember 2007 ist des-halb recht knapp bemessen. Ich verweise darauf, weil ichder Auffassung bin, dass der Sport, der deutsche Spit-zensport und insbesondere der deutsche Breitensport,auf das Geld aus diesem Bereich nicht verzichten kön-nen. Deswegen sind Regelungen dringend notwendig.
Wenn ich schon bei diesem Thema bin, will ich denBlick auf einen damit in Zusammenhang stehenden Be-reich lenken: Wir freuen uns sehr darüber, dass Groß-ereignisse wie beispielsweise die Fußballweltmeister-schaft bei uns stattfinden werden. Angesichts derTatsache aber, dass im Jahr 2007 zehn internationaleMeisterschaften in Deutschland stattfinden werden– worüber wir uns natürlich alle sehr freuen –, scheintmir der entsprechende Mittelansatz in der mittelfristigenFinanzplanung nicht ausreichend zu sein. Deswegen binich der Auffassung, dass wir das noch einmal gemein-sam überarbeiten müssten, damit insbesondere die Fach-verbände, die diese Wettbewerbe organisieren und
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Fritz Rudolf Körperdurchführen, die Planungssicherheit bekommen, die siebrauchen. Ich denke, das ist wichtig.Diese Beträge, über die wir reden, stellen mit Sicher-heit nicht den größten Batzen dar. Der Haushalt beträgt– das wurde vorhin gesagt – 4 Milliarden Euro; davonsind 2,9 Milliarden Euro für den Sicherheitsbereichvorgesehen. Ich bin der Auffassung, dass diese 2,9 Mil-liarden Euro gut angelegtes Geld sind.
Deutschland ist ein sicheres Land. Das können wir mitFug und Recht behaupten. Deutschland ist eines der si-chersten Länder in dieser Welt.
– Das hat einmal jemand anderes gesagt, lieber HerrStadler. Deswegen möchte ich das nicht wiederholenoder unterstreichen.Warum sage ich, dass Deutschland ein sicheres Landist, und stelle das voraus? Ich glaube, dass die hervorra-gende Sicherheitslage in Deutschland auch ein ganzwichtiger Standortfaktor für die Wirtschaft in unseremLand ist. Deswegen sollten wir positiv darüber sprechen.
Viele sind dafür verantwortlich und tragen dafürSorge, dass Deutschland ein sicheres, aber auch einfreies Land ist. Ich denke, Freiheit und Sicherheit bedin-gen sich einander.
Beide Elemente sind für unser Handeln in der Innenpoli-tik ganz entscheidende Richtschnüre.
Deswegen ist es sehr gut, wenn wir uns bewusst ma-chen, dass, um Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten,mehr denn je Zusammenarbeit vonnöten ist: zwischender Bundes- und der Länderebene, aber auch auf euro-päischer Ebene. Ich bin dankbar, dass die Anregung zumPrümer Vertrag aus Deutschland kam: Die zuständigenMinister verschiedener Mitgliedstaaten haben sich da-rauf verständigt, die polizeiliche Zusammenarbeit aufeuropäischer Ebene gemeinsam zu gestalten und auszu-bauen. Das ist der richtige Weg.
Es ist ebenfalls richtig, dass wir eine moderneSicherheitsarchitektur entwickeln, in deren Rahmenauch neue Technologien zum Einsatz kommen. Eine An-titerrordatei wäre überhaupt nicht denkbar, wenn mansich der neuen Technologien nicht bedienen würde. Ichbin mir sicher, dass wir hier zu einer guten Lösung kom-men werden.
Ich möchte betonen: Auch unter Beachtung des Tren-nungsgebotes können wir ein wirksames Instrument zurVerfolgung terroristischer Straftäter schaffen.
Auch im Zuge der Föderalismusdebatte sollten wiruns mit der Frage beschäftigen, in welchen Bereichendie Sicherheitsarchitektur – ich habe es bereits angespro-chen – weiterentwickelt werden kann. Ich bin sehr froh,dass im jetzt vorgeschlagenen Paket vorgesehen ist, diePräventivkompetenzen zur Bekämpfung des internatio-nalen Terrorismus dem Bundeskriminalamt zu übertra-gen. Ich denke, das ist die richtige Antwort auf die He-rausforderungen des internationalen Terrorismus.
Ich würde mich freuen, wenn tatsächlich Einsicht umsich greifen und so entschieden würde.Da, wie ich betont habe, ein Zusammenhang zwi-schen der Sicherheitsarchitektur und modernen Techno-logien besteht, muss man bei diesem Thema auch auf dieEinführung des Digitalfunks zu sprechen kommen.
Lange Zeit habe ich gesagt, das sei eine nicht enden wol-lende Geschichte.
– Aber, liebe Frau Stokar, es scheint tatsächlich so zusein, dass nicht nur Licht am Ende des Tunnels erkenn-bar ist, sondern wir mit diesem Projekt noch in diesemJahr beginnen können, sofern die Verfahren – die imÜbrigen sehr sachbezogen und objektiv durchgeführtwerden; hier wird es keine Mauscheleien geben – ent-sprechend abgewickelt worden sind. Ich halte die An-sätze, die wir im Haushalt 2006 veranschlagt haben, da-her für völlig richtig: 104 Millionen Euro in diesem Jahrund Verpflichtungsermächtigungen in einer Größenord-nung von 1 Milliarde Euro zur Fortführung dieses Pro-jekts für die Dauer von zehn Jahren. Das ist der richtigeWeg. Ich sage: Den Digitalfunk brauchen wir im Inte-resse der Sicherheit in unserem Land.
Ein gutes Beispiel für das, was die Koalition indiesem Bereich bisher geleistet hat, ist das Terrorismus-bekämpfungsgesetz, das evaluiert wurde. Die Koali-tionsfraktionen sind gegenwärtig dabei, die Konsequen-
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Fritz Rudolf Körperzen aus den Ergebnissen dieser Evaluierung zu ziehen.Wir können davon ausgehen, dass alle notwendigen Ent-scheidungen, beispielsweise zur Frage der Entfristung,bis zum Sommer dieses Jahres getroffen worden sind.Auch hier sind wir auf einem guten Weg.Zum Thema Fußballweltmeisterschaft will ich keinegroßen Worte verlieren. Nur so viel: Ich bin fest davonüberzeugt, dass das Sicherheitskonzept, das Bund undLänder gemeinsam – das betone ich ausdrücklich – erar-beitet haben, nicht nur auf dem Papier gut ist, sondernsich in der Praxis bewähren wird
und wir eine Fußballweltmeisterschaft bekommen, dieihrem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ gerechtwerden wird. Dieses Motto sollten wir nicht vergessen,wenn wir an der Vorbereitung dieses Ereignisses arbei-ten.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Wir dürfenim Kampf gegen Extremismus und Rechtsextremismusnicht nachlassen.
Wir dürfen uns nicht dadurch blenden lassen, dass Extre-misten und Rechtsextremisten bei den letzten Landtags-wahlen – zum Glück – keine guten Ergebnisse erzielt ha-ben. Ich bin der Auffassung, dass Projekte gegenRechtsextremismus, die sich bewährt haben, weiter fort-gesetzt werden sollten. Die haushaltsrechtliche Situationsollte kein Hindernis sein, um erfolgreiche und bewährteProjekte fortzusetzen.
Es gibt einen Punkt, mit dem ich Schwierigkeitenhabe; das gebe ich gerne zu. Die Bundeszentrale für po-litische Bildung hat auch zum Thema Kampf gegen Ex-tremismus hervorragende Arbeit geleistet, entspre-chende Projekte durchgeführt und Broschüren aufgelegt.Ich bin der Auffassung, dass wir über die vorgeseheneKürzung des Haushaltsansatzes im Zuge der Haushalts-beratungen noch einmal nachdenken sollten. Vielleichtkönnten wir so verfahren wie im Jahr 2005. Ich bin näm-lich der Auffassung, dass es die Bundeszentrale für poli-tische Bildung bei dieser guten Arbeit verdient hätte,dass ihr die Mittel nicht gekürzt werden, sondern zumin-dest die gleiche Höhe wie im Jahr 2005 veranschlagtwird.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundestag mitdeutlichen Worten ins Stammbuch geschrieben, dass derGesetzgeber Grundrechte massiv verletzt hat, zum Bei-spiel durch das Luftsicherheitsgesetz, den EuropäischenHaftbefehl und den großen Lauschangriff.Dennoch setzt diese Regierung ihre verfehlte Politikdes Abbaus von Bürgerrechten konsequent fort. Daszeigt sich auch im Haushaltsentwurf des Innenministeri-ums: 70 Prozent der Gelder sind für Maßnahmen im Be-reich der Sicherheit. Das bedeutet eindeutig eine weitereStärkung des Repressionsapparates. Als zentrale Be-gründung dafür dient die Bekämpfung des Terrorismus,wie wir auch heute wieder gehört haben.In Wahrheit wird nicht mit realen Gefährdungslagenoperiert, sondern Hysterie geschürt.
Nehmen wir die heute stattfindende Konferenz zur Si-cherheit bei der Fußballweltmeisterschaft: Statt denMenschen die Vorfreude auf dieses Großereignis zu ver-mitteln – Herr Schäuble, Ihre Einlassungen dazu habenmich auch heute nicht überzeugt –, erwecken Sie mit Ih-rer ständigen Forderung nach einem Einsatz der Bundes-wehr und dem beispiellosen Aufwand für Sicherheits-überprüfungen eines jeden Würstchenverkäufers denEindruck, als sei der Ausnahmezustand auszurufen. Dasist typisch für die deutsche Innenpolitik. Alles wird alsgefährlich und bedrohlich bezeichnet. Als Lösung wirddann die Einschränkung der Grundrechte gefordert.Diesem Argumentationsmuster ist der Vizepräsidentdes Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, amletzten Wochenende in einer Grundsatzrede auf demStrafverteidigertag entgegengetreten. Er kritisierte, dassSie zuerst die Furcht vor einem Verbrechen schüren, umsie dann zu bedienen. Somit bleibe die Verhältnismäßig-keit der Mittel auf der Strecke und Freiheitsrechte hättenkeine Chance. – Damit hat der Verfassungsrichter diePolitik der alten und der neuen Regierung präzise cha-rakterisiert. Es ist eine Angstpolitik auf Kosten derGrundrechte. Dies lehnen wir entschieden ab.
Werte Kolleginnen und Kollegen, die so genanntenAntiterrormaßnahmen der letzten Jahre stellen selbsteine massive Gefährdung der rechtsstaatlichen Ordnungdar. Sie von der Koalition haben bisher nicht den ge-ringsten Schritt unternommen, um dies zu ändern. Ichwill das an einigen Beispielen erläutern:In Berlin wird das Gemeinsame Terrorabwehrzen-trum aufgebaut.
Verschiedene Behörden – Polizei, Geheimdienste undsogar das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – ar-beiten dort Hand in Hand zusammen und tauschen Datenaus.
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Ulla Jelpke
Herr Minister, kennen Sie eigentlich das Trennungs-gebot unserer Verfassung? Aufgrund der Erfahrungenunserer Geschichte haben sich die Verfasser des Grund-gesetzes für die strikte Trennung von Geheimdienstenund Polizei entschieden.
Heute finden die CDU/CSU und sage und schreibe auchdie SPD nichts mehr dabei, dieses bewährte Prinzip zumissachten.
Es ist noch schlimmer: Der Innenminister wollte dieklare Trennung zwischen Polizei und Militär aufheben.Herr Schäuble, ich habe heute natürlich zur Kenntnis ge-nommen, dass Sie diese Forderung in der „FrankfurterRundschau“ zurückgezogen haben. Ich erinnere dasHaus aber daran, dass Herr Schäuble schon vor ein paarJahren die Militarisierung nach innen gefordert hat.
Für mich stellt sich die Frage, wann Sie den nächstenAnlass finden, um diese Fragen erneut auf die Tagesord-nung zu setzen.Werte Kollegen und Kolleginnen, für den Inlandsge-heimdienst sind Mittel im Haushalt eingestellt, aber manerfährt nicht, wofür genau. Damit wird in erster Linieeine Sicherheit vor der parlamentarischen Kontrolle ge-schaffen.
Bei der inneren Sicherheit hat der Verfassungsschutzeindeutig versagt, wie sich beispielsweise bei der Ausei-nandersetzung mit der NPD gezeigt hat. Nicht einmaldas Verfassungsgericht konnte zum Schluss noch unter-scheiden, ob in manchen NPD-Gremien mehr echte Par-teimitglieder oder mehr Verfassungsschützer saßen. Des-halb ist das NPD-Verbotsverfahren kläglich gescheitert.Auf Verfassungsschutzmitarbeiter, die selber eine neofa-schistische Politik betreiben, können wir gut verzichten.
Das Beste wäre im Übrigen eh, die Behörde aufzulösenund die Gelder sinnvoller zu investieren.
Ich will Ihnen auch sagen, wo man tatsächlich zumSchutz der Verfassung beitragen könnte.
Herr Körper, allein im vergangenen Jahr hat das Bun-deskriminalamt 10 000 rechtsextremistische Straftatengezählt. Jeden Tag schlagen Neonazis Andersdenkende,Andersaussehende und Homosexuelle zusammen undschaffen vielerorts ein Klima der Angst und Bedrohung.Es geht bis hin zu Tötungsdelikten. Gegenüber diesenrealen Gefahren bleibt die Bundesregierung unverständ-licherweise passiv.
Dass Sie jetzt sogar noch Anstalten machen, die Bundes-programme zur Bekämpfung des Rechtsextremismus zukürzen, ist einfach nur noch absurd und zynisch. Das Ge-genteil wäre richtig.
Die Regierung will nun aber lieber dem so genanntenLinksextremismus den Kampf ansagen. Bei Ihnen imKabinett geht offenbar ein Gespenst um und Ihre Geis-terjäger vom Verfassungsschutz haben jetzt nichts Bes-seres zu tun, als Mitglieder der Linksfraktion auf ihreschwarzen Listen zu setzen. Indem es seinen langjähri-gen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine überwachenlässt,
macht sich das Saarland lächerlich.
Peinlich ist auch, wie seit Jahren diejenigen diffamiertwerden, die sich gegen Neofaschismus wenden, zumBeispiel die Vereinigung der Verfolgten des Nazire-gimes.Stattdessen sollten Sie die politische Bildungsarbeitintensivieren. Wir wenden uns daher gegen Kürzungender Mittel für die Bundeszentrale für politische Bildung.Deren Programme können dann nichts bewirken, wenndie Bundesregierung selbst keine grundrechtsorientiertePolitik praktiziert, wenn Abgeordnete über deutscheLeitkultur schwadronieren, wenn Sie Einwanderer undFlüchtlinge generell zur Bedrohung erklären und damitder Fremdenfeindlichkeit Vorschub leisten.Minister Schäuble hat letzte Woche in Heiligendammmit EU-Kollegen über die Flüchtlingsdramen im Mittel-meer gesprochen. Dort ertrinken jedes Jahr bis zu Tau-send Flüchtlinge.
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Ende.
Diese Menschen riskieren ihr Leben, weil ihnen aufihrer Flucht vor Elend und Verfolgung jeder legale Wegabgeschnitten wird. Die EU-Festung soll noch besser ge-schützt werden. Ihre Abschottungspolitik machen wirnicht mit. Diese Art von Sicherheitspolitik wird fürFlüchtlinge weiterhin tödliche Folgen haben. Anstatt
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Ulla JelpkeMittel für Grenzsicherung und Abschottung in denHaushalt einzustellen, sollten Sie, wie gesagt, lieber Bil-dung finanzieren.Ich danke.
Ich erteile das Wort Kollegin Silke Stokar.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt re-den wir wieder über reale Innenpolitik.
Herr Bundesinnenminister, ich habe während IhrerRede genau zugehört. Ich finde, dass Sie heute erstaun-lich wenig über Ihr Lieblingsthema geredet haben. Des-wegen möchte ich Sie noch einmal daran erinnern, wasSie erst vor kurzem auf einer Wahlveranstaltung derCDU in Rheinland-Pfalz gesagt haben – ich zitiere wört-lich –:Ich kann nicht verstehen, dass die Bundeswehr un-sere Sicherheit überall verteidigen darf, nur nicht inDeutschland.Für einen Innenminister, der für die Verfassung zustän-dig ist, ist das schon ein sehr bemerkenswerter Satz. Ichkann dazu nur sagen, Herr Schäuble: Wenn Sie dieGrundwerte unserer Verfassung nicht verstehen, dannempfehle ich Ihnen, sich bei einem Integrationskurs an-zumelden; denn da werden sie Ihnen vermittelt.
Ich finde es auch bemerkenswert, dass der Bundesin-nenminister ein Rechtsgutachten braucht, um die Frageklären zu lassen, ob Bundeswehrsoldaten an die Bundes-polizei abgeordnet werden müssen. Auch hier hätte eineinfacher Blick in die Verfassung gereicht. Ich hoffe,dass die große Koalition nun, da der Wahlkampf in dendrei Bundesländern vorüber ist, in der Lage ist, dieseGeisterdebatte über den Einsatz der Bundeswehr imInnern zu beerdigen. Das wäre gut für die Sicherheit imLand und auch für das Klima zur Fußballweltmeister-schaft.
– Das ist gut, Herr Edathy. Eigentlich ist es ganz einfach:Die Verteidigung bei der Fußballweltmeisterschaft über-nehmen die Nationalspieler auf dem Rasen
und für die Sicherheit ist die Polizei zuständig.Ich sehe allerdings im Zusammenhang mit dem Haus-halt die zahlreichen Anforderungen der Länder zumtechnischen Einsatz der Bundeswehr, also im Rahmender von der Verfassung gedeckten Amtshilfe, mittler-weile sehr kritisch. Die über hundert Anforderungen lö-sen in mir den Verdacht aus, dass die Länder versuchen,die Bundeswehr als Lückenbüßer einzusetzen, weil diesein den letzten Jahren bei der Polizei gespart haben.
Im Rahmen einer Anforderung beispielsweise, diemir bekannt geworden ist, sollte die Bundeswehr150 000 Mahlzeiten zubereiten. Dazu kann ich nur sa-gen: Die Bundeswehr ist nicht dafür da, für die PolizeiButterstullen zu schmieren.
Die Bundeswehr ist für andere Aufgaben qualifiziert.
Der Hintergrund ist, dass die Länder in den vergangenenJahren nicht nur 7 000 Polizeidienststellen abgebaut,sondern auch die Mittel für die Infrastruktur der Polizeiganz erheblich gekürzt haben. Ich werde in diesem Zu-sammenhang sehr genau darauf achten, dass diejenigen,die Amtshilfe anfordern, dafür kostendeckend an denBund bezahlen. Wir werden den Haushalt auf dieseRechnung prüfen.Wir werden uns den Haushalt auch im Hinblick aufden AWACS-Einsatz genau ansehen, zu dem ich eineFrage an den Innenminister habe. Aus Sicherheitsgrün-den will ich an dieser Stelle keine Kritik üben. Mir istnur aufgefallen, dass weder im Haushalt des Innenminis-teriums noch in dem des Verteidigungsministeriums diemit der AWACS-Überwachung verbundenen Kosten inHöhe von etwa 2,5 Millionen Euro ausgewiesen sind.Ich habe ein ganz gutes Gedächtnis. Als es um dieAWACS-Überwachung während der OlympischenSpiele in Griechenland ging, hat die Bundesregierungdie Rechtsauffassung vertreten, dass die Kosten dafürnicht von der NATO, sondern vom Gastgeberland zu tra-gen wären. Daraus schließe ich, dass die Mittel irgendwoim Haushalt veranschlagt sein müssen.Lassen Sie mich eine weitere Bemerkung machen. Ichfinde den Streit um die Kosten für die Fußball-WM mittler-weile ziemlich peinlich für die föderale Ordnung inDeutschland. Der Streit in den Austragungsorten fülltmittlerweile die Schlagzeilen. In Niedersachsen streitensich die Stadt Hannover und das Land über die Kostenim Bereich des Katastrophenschutzes.
Innenminister Schünemann meint, das Land sei erstdann zuständig, wenn eine Katastrophe eingetreten ist.Wenn das bundesweite Sicherheitskonzept so aussieht,
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Silke Stokar von Neuforndann habe ich tatsächlich Bedenken und Befürchtungenhinsichtlich der Sicherheit.Ich komme zum Thema Datenschutz. Wir Grünefreuen uns, dass der Bundesdatenschutzbeauftragte jetztauch Beauftragter für Informationsfreiheit ist. Im Haus-halt spiegelt sich das nicht wider. Herr Körper, wir habendamals im Zusammenhang mit dem Informationsfrei-heitsgesetz vereinbart, sechs zusätzliche Stellen für denBereich der Informationsfreiheit einzurichten. Sie aberstreichen Mittel für den Datenschutz und von den Stellenist weit und breit nichts zu sehen. Ich gehe davon aus,dass sich die große Koalition offensichtlich darauf ver-ständigt hat, die Umsetzung des Informationsfreiheitsge-setzes zu blockieren und zu behindern. Nach den Straf-gebühren beim Informationsfreiheitsgesetz, die Sie mitzu verantworten haben, wird jetzt das Personal für dieBearbeitung verweigert.Was den modernen Ansatz der Informationsfreiheitangeht, den es in allen großen OECD-Staaten und in al-len europäischen Ländern gibt, ist Deutschland Schluss-licht. Das ist keine grüne Marotte. Inzwischen haben alleIndustriestaaten begriffen, dass die moderne Wissensge-sellschaft von Informationsfreiheit lebt. Sie gestaltennicht die Zukunft; Sie machen vielmehr eine rückstän-dige Politik.
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zum ThemaDatenschutz. Manchmal ist es witzig, Zeitung zu lesen.Bundeskanzlerin Merkel weiß jetzt aus eigenem Erle-ben, dass die Persönlichkeitsrechte geschützt werdenmüssen. Das kommt davon: Wer sich für flächende-ckende Videoüberwachung einsetzt, muss tatsächlich da-mit rechnen, dass das eigene Wohnzimmer in den Blick-winkel der Überwachungskameras gerät.
Frau Bundeskanzlerin Merkel ist jetzt beim Thema Da-tenschutz scharf im Bild. Ich hoffe, dass sie das für die-ses Thema sensibilisiert.Ich nehme den Hinweis der SPD ernst, die Streichungder Mittel für politische Bildung – für die Einsetzungsind zunächst einmal Sie verantwortlich; Sie sind in derRegierung – zurücknehmen zu wollen. Wir sind dabeiauf Ihrer Seite. Wir können nicht die niedrige Wahlbetei-ligung und den in erschreckendem Maße zunehmendenRechtsextremismus in unserem Land beklagen undgleichzeitig die Mittel für politische Bildung streichen.Ich sage deutlich: Wir brauchen nicht weniger, sondernmehr politische Bildung. Die Kürzung der Civitas-Mittelin der mittelfristigen Finanzplanung ist ein falsches Si-gnal an die Initiativen. Solche Kürzungen sollten rück-gängig gemacht werden.
– Das hat etwas damit zu tun, dass der großen Koalitionin der Haushaltsberatung unendlich viel Redezeit zurVerfügung steht, während wir von den Oppositionsfrak-tionen die Themen in einem Stakkato abhandeln müssen.
Das ist ein Demokratiedefizit im Parlament. Ich bitte je-denfalls um Entschuldigung, dass wir nach den unend-lich vielen Reden der Abgeordneten von SPD und CDU/CSU – das wird sich noch fortsetzen – die Themen in ei-nem Schnelldurchlauf anreißen müssen.Ich möchte noch etwas zu Ihrem Integrationskon-zept sagen. Es reicht nicht aus, eine Integrationsbeauf-tragte im Kanzleramt anzusiedeln. Wir, die wir mit die-sem Ansinnen damals an der SPD gescheitert sind,begrüßen das. Aber Sie müssen auch auf die Staatsmi-nisterin Böhmer hören. Sie hat in ihren Ausführungensehr deutlich gesagt, den Integrationskursen mangle esan Qualität, zudem sei die Nachfrage größer als das An-gebot und die Honorierung der Lehrkräfte stimme nicht.Was machen Sie? Sie kürzen die Mittel für die Integra-tionskurse um 67 Millionen Euro. Ihre Sonntagsredenzur Integration können Sie sich sparen, wenn Sie nichtendlich kapieren, dass das die große Zukunftsaufgabeist. Integration gibt es nun einmal nicht für wenigerGeld.
Ich möchte noch ein paar Worte zum öffentlichenDienst sagen. Der öffentliche Dienst hat in den vergan-genen Jahren einen fairen Beitrag zur Haushaltskonsoli-dierung geleistet. Die Beschäftigten im öffentlichenDienst erwarten die Anerkennung ihrer Leistung undeine verlässliche Perspektive. Die Haushaltslöcher durchdas Streichen des Weihnachtsgeldes zu stopfen, hat aller-dings wenig mit nachhaltiger Politik zu tun. Wir, die rot-grüne Regierung, haben damals zumindest den Entwurfeines Strukturreformgesetzes vorgelegt und damit ein in-haltliches Angebot gemacht. Lassen Sie mich aber auchsagen: Dort, wo Kürzungen unumgänglich sind, erwar-ten wir eine soziale Staffelung.Herr Bundesinnenminister, Sie könnten einen Teil desVertrauens bei den Bediensteten des öffentlichen Diens-tes zurückgewinnen, wenn Sie die verbliebenen Sonder-zahlungen in die Grundgehälter einbeziehen sowie einenverlässlichen Zeitplan für die Umsetzung des Eckpunk-tepapiers zur Strukturreform im öffentlichen Dienst vor-legen.
Ich überstrapaziere schon die Geduld des Präsidenten.
Denn meine Redezeit ist zu Ende.
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Silke Stokar von NeufornIch danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans-Peter Uhl,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren!Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, VolkerKauder, hat unlängst einen nationalen Integrationsplangefordert. Er hat Recht. Es reicht nicht mehr aus, überden schillernden Begriff der Integration nur zu reden.Vielmehr müssen wir die Integration in konkretes Ver-waltungshandeln umsetzen, und zwar mit Rechten undPflichten, mit Angeboten und Verboten. Die Integrationwird damit messbar, haushaltswirksam und kostenträch-tig. Die Integration wird sehr, sehr teuer werden. BeimThema Zuwanderung und Integration müssen wir vonder großen Koalition uns gemeinsam der Realität stellen.Das heißt, alle grüne Multikultiseligkeit ist nicht mehrangebracht.
Es ist nämlich so – wir wissen es doch längst –: Men-schen, die in den großen Wohnblöcken unserer Groß-städte leben,
empfinden nicht alles Fremde per se als Bereicherung,sie empfinden es bisweilen als störend, manchmal sogarals bedrohlich.Wir müssen die wachsende Selbstabschottung vonZuwanderern aufbrechen.
Menschen, die auf Dauer bei uns leben wollen, müssensich mit unseren Grundüberzeugungen, mit unserenWerten auseinander setzen. Nur so können wir Konflikteentschärfen und den sozialen Frieden sichern. Mit Be-sorgnis stellen wir fest: In Deutschland sind derzeit700 000 Ausländer arbeitslos; das entspricht einer Ar-beitslosenquote von sage und schreibe 26 Prozent. Im-mer mehr Ausländer leben von Sozialleistungen. In derKriminalitätsstatistik dieser Stadt Berlin ist der Anteilder Tatverdächtigen bei den jugendlichen und heran-wachsenden Nichtdeutschen auf circa 30 Prozent ange-stiegen. Im Verlaufe der nächsten Jahre werden vieleGroßstädte kippen: Die Zugewanderten und ihre Nach-kommen werden bereits in wenigen Jahren die Mehrheitder unter 40-Jährigen stellen.
Der Ausländeranteil in einigen Stadtteilen deutscherGroßstädte, beispielsweise München, Frankfurt, Berlin,beträgt schon heute über 40 Prozent.
In vielen Stadtvierteln haben sich Parallelgesellschaf-ten entwickelt, die keinen Kontakt zu Deutschen wollen,schlimmer noch: die auch gar keinen Kontakt zu Deut-schen brauchen. Sie leben in diesen Gesellschaften weitgehend autonom in ihrem eigenen Kulturkreis. Geprägtvom Recht der Scharia gibt es alles: Zwangsehen, arran-gierte Ehen, häusliche Sklaverei, vereinzelt sogar Ehren-morde.
Hier werden – das muss angeprangert werden –
unsere fundamentalen Menschenrechte – die Menschen-würde, das Recht auf Leben, die Gleichberechtigung vonMann und Frau, die Religionsfreiheit – mit Füßen getre-ten. Heute, Herr Winkler, haben Sie im „Tagesspiegel“den unglaublichen Notruf einer Berliner Hauptschule le-sen können: Die Schulleitung hat um Auflösung ihrerSchule gebeten,
weil sie die Lage nicht mehr unter Kontrolle bekommt.Türen werden eingetreten, Knallkörper gezündet, Lehrerattackiert, Mitschüler zusammengeschlagen.Was lernen wir aus solch erschütternden Ereignissen?Es ist wirklich fünf vor zwölf, wir müssen das sehen!Wer die Rechte und Sozialleistungen unseres freiheitli-chen Rechtsstaates in Anspruch nehmen will, mussauch bereit sein, die Pflichten zu übernehmen.
Im Klartext heißt das: Wer als Neuwanderer
– Neuzuwanderer; im Gegensatz zu denen, die schonhier sind – nicht Deutsch lernen will, darf nicht aufDauer in Deutschland bleiben.
Wer vom deutschen Staat Leistungen empfängt, abernicht bereit ist, Deutsch zu lernen, muss mit empfindli-chen Kürzungen rechnen. Wer deutscher Staatsbürgerwerden will, muss nachweisen, dass er die deutsche
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Dr. Hans-Peter UhlSprache beherrscht und dass er unser Wertesystem alsverbindlich anerkennt.Lassen Sie mich noch einen Satz zu der Scheindebatte– so muss man es nennen – über den richtigen Haus-haltsansatz für Integrationsmaßnahmen sagen, FrauStokar. Stellen Sie sich vor: Wir bieten für Millionen In-tegrationskurse an, und keiner geht hin.
– Das sagen Sie.
Deswegen werden wir den Dingen in der nächstenWoche in einer Anhörung auf den Grund gehen. Wirwollen wissen, wie viele Ausländer zu Deutschkursenverpflichtet wurden, wir wollen wissen, wie viele Aus-länder daran teilgenommen haben,
wir wollen wissen, wie viele davon eine Abschlussprü-fung gemacht haben, und vor allem wollen wir wissen,in wie vielen Fällen die Verwaltung Integrationsverwei-gerer mit den gesetzlich vorgeschriebenen Sanktionenbelegt hat. Wir haben nämlich entsprechende Paragrafengeschaffen. Ich fürchte nur, sie werden von den Behör-den nicht angewandt. Selbstverständlich müssen amSchluss, nach dieser Debatte, ausreichende Mittel für In-tegrationskurse bereitgestellt werden. Denn wenn wirdas nicht tun, wird es später umso teurer.
Da gibt es überhaupt keinen Dissens zwischen uns.Die Eindämmung des internationalen, insbesonderedes islamistischen Terrorismus ist eine wichtige He-rausforderung der deutschen Sicherheitspolitik. Die Ko-alition ist derzeit dabei, eine gründliche Evaluationdurchzuführen, und wird sich demnächst auf eine ver-besserte gesetzliche Grundlage zur wirksamen Bekämp-fung des Terrorismus einigen.Zur wirksamen Bekämpfung gehört auch die Nut-zung moderner Informationstechnologie. Das Anti-Terror-Datei-Gesetz muss endlich auf den Weg gebrachtwerden. Ich höre aus dem Innenministerium, dass mandabei ist.Ein wichtiger Schritt zur weiteren Verbesserung derpraktischen Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden istdas gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum in Ber-lin-Treptow. Davon war schon die Rede. Ich halte es fürgut und einen Ausbau für möglich und notwendig. Die-ser ganzheitliche Ansatz muss auch bei der Bekämpfungdes Menschenhandels und der Schleuserkriminalität zurAnwendung kommen. Alle Behörden beim Bund undbei den Ländern, die hierfür zuständig sind, müssen zu-sammenarbeiten.In Zukunft muss die Zollverwaltung, die für das Bun-desfinanzministerium Schwarzarbeitskontrollen durch-führt, den Sicherheitsbehörden, die diesen modernenSklavenhandel, den wir derzeit beobachten, bekämpfen,die Nationalität der Schwarzarbeiter mitteilen. Das tutsie bisher nicht. Es kann nicht sein, dass die eine Be-hörde der Bundesregierung daran arbeitet, den organi-sierten Menschenhandel aufzudecken, und eine andereBehörde nicht bereit ist, ihr die Nationalität der festge-stellten ausländischen Schwarzarbeiter mitzuteilen. Die-ser Kampf muss konsequenter geführt werden; denn derMenschenhandel bedroht nicht nur die innere Sicherheit,sondern auch unsere Sozialsysteme und eigentlich diegesamte Volkswirtschaft.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, wir wollen bitte gemeinsam unsere Rechtsord-nung, unsere Zivilgesellschaft verteidigen und damit fürein friedliches Zusammenleben aller in Deutschland Le-benden, der Deutschen und auch der Ausländer, sorgen.Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegen Detlef Parr, FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fußballbestimmt die Schlagzeilen. Die WM rückt näher und nä-her. Ich möchte zunächst der Bundesregierung Dank fürdie uneingeschränkte Unterstützung sagen, vor allemwas die der FIFA und dem OK zugesagten Garantien an-geht. Als Mitglied des Aufsichtsrates der DFB-Kultur-stiftung möchte ich die Förderung des Kunst- und Kul-turprogramms 2006 mit 11 Millionen Euro besondersherausstellen. Die 48 Veranstaltungen können sich sehenund hören lassen. Sie alle, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, können daran noch teilhaben.Fußball ist aber nicht alles. Unsere Großstadien sindzwar in einem Topzustand; die Sportstättenlandschaftinsgesamt lässt aber viele Wünsche offen. Mit den be-reitgestellten Mitteln von 22,7 Millionen Euro lässt sich,wie die Regierung selbst zugibt, der Antragsstau nurzum Teil abbauen. 70 000 Sportanlagen warten nach An-gaben des DSB auf eine Sanierung. Mit dem hochtraben-den so genannten Goldenen Plan Ost lässt sich auch keinStaat machen. Mit 3 Millionen Euro dotiert, ist er nichtmehr als ein symbolischer Akt, der nur in Einzelfällenund regional begrenzt Wirkung entfalten kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen mehr.Wir brauchen eine gesamtdeutsche Sportstätteninitiative,wollen wir dem Sport den notwendigen Rahmen sowohlfür Hochleistungen als auch für Gesundheitsförderungsichern.
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Detlef ParrDie Bundesregierung verweist zu Recht auf die Bedeu-tung in diesem Bereich getätigter Investitionen, die zu-gleich Arbeitsplätze sichern und neue schaffen können.Das würde vorzüglich in das 25-Milliarden-Euro-Wachstumspaket der Bundesregierung passen.Die Förderung der olympischen Sportarten bleibtauf hohem Niveau. Beim Rückblick auf die Winterspielein Turin erkennen wir, dass an der richtigen Stelle inves-tiert wird. Nach den gelungenen World Games in Duis-burg dürfen wir aber die Unterstützung der nicht olym-pischen Disziplinen nicht vernachlässigen.
Wenn zum Beispiel der Rugby-Verband ein National-team nach Kürzungen auflösen muss, ist das ein Alarm-zeichen zur Überprüfung der Förderrichtlinien.Auch für die Paralympics müssen auslaufende Maß-nahmen wie die bewährte Top-Team-Förderung unbe-dingt fortgeführt werden können. Erfolge nach dem Zu-fallsprinzip müssen der Vergangenheit angehören. DieFörderung des Behindertensports bedarf – Herr Minister,Sie haben darauf dankenswerterweise hingewiesen – derVerstetigung, auch unter dem Aspekt dringend gebotenerNachwuchsarbeit.
Doping ist die Geißel des Sports. Da sind wir uns alleeinig. Umso verwunderlicher ist es, dass die Bundesre-gierung zwar den Ansatz der Dopinganalytik beibehält,aber bei der Prävention 100 000 Euro kürzt. Wenn auchnach effektiveren Präventionsmaßnahmen gesucht wer-den muss: Die Arbeit der NADA darf hier nicht er-schwert werden. Am 20. Mai dieses Jahres schlägt inFrankfurt mit der Fusion von DSB und NOK eine histo-rische Stunde des deutschen Sports. Der Bundestagsollte mit einer Anschubfinanzierung dem neuen Deut-schen Olympischen Sportbund die ersten Schritte er-leichtern. Vorher muss aber glasklar sein, wohin dieseMittel fließen. Blankoschecks sollten wir hier nicht aus-stellen.Ich komme zum Schluss. Eine neue Ära des Sportsbeginnt. Der Bundestag muss und wird ein verlässlicherPartner der Volksbewegung Sport bleiben. Ich wünscheuns allen als parteiübergreifender Sportfraktion dabei eingutes Gelingen.Danke.
Ich erteile das Wort Kollegen Sebastian Edathy, SPD-
Fraktion.
Guten Abend, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben es gerade gehört: Der Bundesin-nenminister hat unter anderem die wirklich schöne Auf-gabe, Sportminister zu sein. Er ist der Verfassungsminis-ter, er ist der Sicherheitsminister und er ist letztendlichauch – das erkennt man, wenn man sich den Bereich derpolitischen Bildung und der Integration anschaut – De-mokratieminister. Eines ist klar: Nur eine aktive Gesell-schaft bewusster Demokratinnen und Demokraten kanndie Grundlage für ein wirklich sicheres und freies Landbilden.
Deswegen will ich etwas zu diesem Bereich ausführen.Ich bin sehr dankbar, dass ich nicht der erste Rednerbin, der darauf hinweist, dass wir, was den Haushaltsent-wurf anbelangt, parlamentarischen Handlungsbedarfbeim Bereich der Bundeszentrale für politische Bil-dung sehen. Wir als neue Koalition haben – ich finde:völlig zu Recht – in unser Arbeitsprogramm, in den Ko-alitionsvertrag, wörtlich hineingeschrieben: „Wir wer-den deshalb die politische Bildung stärken.“ Wir solltenuns ein halbes Jahr nach Verabschiedung dieses Koali-tionsvertrages nicht selber dementieren, indem wir dieMittel, die der Bundeszentrale für politische Bildung zurVerfügung gestellt werden, um annähernd 30 Prozentkürzen. Das geht nicht an. Jeder, der sich über geringeWahlbeteiligungen an Landtagswahlen oder über zu we-nig Aufklärung über politischen Extremismus beklagt,der muss die Bundeszentrale für politische Bildung alswichtige demokratische Agentur in diesem Land in dieLage versetzen, Angebote zu machen.
Umso weniger verständlich ist es für mich, dass imHaushaltsentwurf zur Erläuterung steht: „Weniger we-gen Umsetzung Koalitionsvereinbarung“. Ich habe dieKoalitionsvereinbarung anders verstanden und gehe da-von aus, dass bis zur zweiten und dritten Lesung eineAufstockung der Mittel erfolgt, dass jedenfalls dieseKürzung nicht in Kraft tritt.Damit wir eine ähnliche Debatte nicht jedes Jahr er-neut führen müssen, rate ich übrigens, die mittelfristigeFinanzplanung zu überprüfen, was die Arbeit der Bun-deszentrale für politische Bildung anbelangt.
Ich glaube, dass die Sätze, die dort für die nächsten Jahrevorgesehen sind, im Einvernehmen mit dem Bundes-finanzminister – ich denke, er hat für diese Thematikviel Verständnis – erhöht werden sollten.
Lassen Sie mich einige Anmerkungen zur Frage derIntegrationskurse machen. Die Sprach- und die damitverbundenen gesellschaftlichen Orientierungskurse sindnach meinem Dafürhalten das Herzstück des im Jahre2005 in Kraft getretenen Integrations- und Zuwande-rungsgesetzes. Wir können zwar feststellen – das istrichtig –, dass die Mittel im Jahre 2005 nicht in der zu-vor prognostizierten Höhe abgerufen worden sind; aberich glaube sehr wohl – dazu wird hoffentlich auch eineSitzung des Innenausschusses am 5. April dieses Jahresbeitragen –, dass wir uns auf Fachebene noch einmal in-tensiv darüber informieren lassen müssen, was die
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Sebastian EdathyKonstruktion der Kurse betrifft und was Anspruchsbe-rechtigte anbelangt, die im letzten Jahr nicht zum Zugegekommen sind. Wir müssen sicherstellen, dass wir amEnde der Haushaltsberatungen sagen können: Integrati-onsmaßnahmen richten sich nicht nach den Haushaltsan-sätzen, sondern umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wirtun das, was für Integration nötig ist, und danach wirdder Haushaltsansatz berechnet.
Es ist schon auffällig, wenn man bei den Integrations-kursen feststellt – ich darf noch einen Augenblick beidiesem Thema bleiben –, dass 30 Prozent der Teilneh-mer die abschließende Prüfung nicht erfolgreich bewälti-gen. Wir werden darüber zu reden haben: Reichen die630 Stunden oder muss es eine Aufstockung geben?Sind die Kurse hinreichend differenziert, zum Beispielwas spezielle Kurse für jugendliche Sprachkursteilneh-mer anbelangt? Wir werden auch darüber zu reden ha-ben, ob die Vergütung angemessen ist. Bei einer Vergü-tung von 2,05 Euro pro Teilnehmer – so sind dieRückmeldungen aus der Praxis – haben Integrations-kurse selten weniger als 25 Teilnehmer.
Aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen derer,die an den Kursen teilnehmen, habe ich große Bedenken,ob derartig große Kurse überhaupt einen positiven Ab-schluss versprechen können.
Unser Ziel muss sein, dass am Ende eines Integrations-kurses auch tatsächlich Sprachkenntnisse vermittelt wor-den sind, die Menschen ein Erfolgserlebnis haben undnicht mit der Nachricht nach Hause gehen: Ihr habt nichtgenug gelernt; vielleicht lag das daran, dass ihr nicht ge-nug lernen konntet; aber die gesetzlichen Voraussetzun-gen sind so. – Wir müssen darüber reden, ob wir da et-was verändern wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Debatte über In-tegrationsfragen gehört sicherlich auch die öffentlicheDiskussion, die in den letzten Wochen zum Thema Ein-bürgerung geführt worden ist; sie ist auch vom Kolle-gen Uhl angesprochen worden. Als Mitglied der Koali-tion freue ich mich immer, wenn ich Gelegenheit habe,den Koalitionspartner zu loben. Ich lobe ausdrücklichden Integrationsminister des Landes Nordrhein-Westfa-len. Ich finde es übrigens gut, dass es dort ein Integrati-onsministerium gibt. Das ist vielleicht etwas, über dasauch in anderen Bundesländern nachgedacht werdenkönnte.
Ich finde gut, was der NRW-Integrationsminister undfrühere Bundestagskollege der CDU, Armin Laschet,heute in einem „Stern“-Interview gesagt hat.
Er hat wörtlich ausgeführt:Aber die Fragebogendebatte ist falsch, weil sie denEindruck erweckt, wir hätten zu viele Einbürgerun-gen. Das Problem ist: Wir haben zu wenig.
Wir haben zu wenig Einbürgerungen, meine Damen undHerren!Vielleicht könnten wir aus sportpolitischer deutscherSicht mit ein bisschen mehr Zuversicht auf die Fußball-weltmeisterschaft blicken, wenn es uns gelungen wäre,auch junge, in Deutschland geborene, aber ausländischeFußballspieler zu gewinnen, zum Beispiel Nuri Sahin.
Er ist ein Riesentalent, in Deutschland geboren, türki-scher Staatsbürger. Er spielt bei Borussia Dortmund. Erist jetzt auf dem Weg in die Türkei, um dort sein erstesSpiel für die Nationalmannschaft der Türkei zu bestrei-ten. Warum haben wir den eigentlich nicht für uns ge-wonnen? Warum ist es diesem Land nicht gelungen,mehr Menschen anzusprechen, nicht nur Staatsbewoh-ner, sondern auch Staatsbürger zu sein? Das ist übrigensetwas, das nicht allein im Interesse derer ist, die da ein-gebürgert werden. Da ist ein wirklicher Knackpunkt undist eine Schieflage in der Debatte.Wenn Einbürgerungen vorgenommen werden, so ent-spricht das nicht einem Gnadenakt.
Vielmehr erfolgen Einbürgerungen im Interesse der auf-nehmenden Gesellschaft, weil es für eine funktionie-rende Demokratie auf Dauer nicht gut ist, wenn sich dielangfristig im Inland ansässige Wohnbevölkerung in dieGruppe der Staatsbürger und die Gruppe derer aufteilt,die Gästestatus haben.
Wir brauchen da eine Politik der ausgestreckten Handund nicht eine Politik der geballten Faust.
Selbstverständlich gilt, dass für die EinbürgerungenVoraussetzungen zu erfüllen sind. Die haben wir unterrot-grüner Regierungsverantwortung übrigens ein Stückweit erhöht, was etwa den Nachweis von Sprachkennt-nissen anbelangt. Wenn man sich anschaut, wie hoch dieHürden bereits sind, dann muss man sagen: Die Tatsa-che, dass die Einbürgerungszahlen im Gegensatz zu
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Sebastian Edathydem, was landläufig unterstellt wird, rückläufig sind, hatauch etwas damit zu tun, dass die Ausgestaltung desStaatsbürgerschaftsrechts tatsächlich so ist, dass denen,die sich einbürgern lassen wollen, einiges abverlangtwird.Was wir nach meinem Dafürhalten aber nicht abver-langen können, ist ein Gesinnungstest, der zudem vonder Anlage her noch diskriminierend ist. Was in Baden-Württemberg vorgelegt worden ist, ist problematisch,weil zur Überprüfung von Verfassungstreue gegen denGeist der Verfassung Fragen gestellt werden sollten. Wirbrauchen auch nicht die Annahme, dass man in Deutsch-land Abitur haben muss, um deutscher Staatsbürger wer-den zu können.
Eine türkische Bürgerin, die sich lange in Deutschlandaufhält, sich um ihre Familie kümmert, einer Berufstä-tigkeit nachgeht, die deutsche Sprache beherrscht undsich nicht strafbar gemacht hat, muss uns in Deutschlandauch dann als Mitbürgerin herzlich willkommen sein,wenn sie nicht drei deutsche Philosophen mit Namenkennt.
Ich bin jedenfalls der Überzeugung, dass das so ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen keineMisstrauenskultur gegenüber Ausländerinnen und Aus-ländern, sondern eine Politik, die aufgeschlossen ist un-ter der Definition von gemeinsamen Grundlagen. HerrKollege Uhl sagte, manche Großstädte seien davor, zukippen, weil der Anteil von Bürgerinnen und Bürgernmit Migrationshintergrund dort sehr groß werde. Das isteine Debatte, die in den USA niemand führen würde,weil man in den USA vor Augen hat, dass ein Zuwande-rer ein potenzieller Mitbürger ist.
Wenn wir nach über 30, 40 Jahren immer noch davonausgehen, dass Zugewanderte eigentlich Fremde geblie-ben sind, und sie in der Abgrenzung, die es hier oderdort noch gibt, vielleicht sogar noch bestätigen und be-stärken, dann machen wir einen Fehler. Aber, Herr Kol-lege Uhl, wir sind ja noch jung in der Koalition. Lebens-langes Lernen ist ein wichtiges Politikziel. Ich glaube,dass wir da noch einen langen Weg vor uns haben.
Viele Punkte sind angesprochen worden: Wir brau-chen eine humanitäre Bleiberechtsregelung und einwirksames Antidiskriminierungsgesetz. Ich will mit ei-nem Zitat aus dem Koalitionsvertrag schließen, dasRichtlinie für uns alle hier im Parlament sein könnte. Esheißt im Koalitionsvertrag:Die Förderung von Toleranz, die Achtung derRechte von Minderheiten und die Selbstbestim-mung der Menschen sind Leitziele unserer Politik.Wir gestalten Einwanderung, schützen Flüchtlingeund fördern Integration.
Es ist viel zu tun.
Ich erteile das Wort Kollegin Sevim Dagdelen, Frak-
tion Die Linke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitgroßen Worten hatte die schwarz-rote Koalition ange-kündigt, in der Integrationspolitik ganz neue Akzentesetzen zu wollen. Bei ihrer Regierungserklärung am30. November letzten Jahres sagte die Frau Bundeskanz-lerin – ich zitiere –:Deshalb ist Integration eine Schlüsselaufgabe unse-rer Zeit. Mit der Ansiedelung der Beauftragten fürMigration, Flüchtlinge und Integration im Kanzler-amt habe ich sehr bewusst ein Signal gesetzt, dassdies eine gesamtpolitische Aufgabe ist, der wirgroße Beachtung schenken wollen.Auch die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge undIntegration, Frau Maria Böhmer, sprach bei ihrem Amts-antritt von einem Paradigmenwechsel von der Migra-tions- zur Integrationspolitik. Was das bedeutet, konntenwir in den letzten Wochen, gar Monaten sehr genau ver-folgen: Da überboten sich Politiker schon fast hysterischmit Vorschlägen, einbürgerungswilligen Migranten mitWissenstests, Wertetests, Staatsbürgerkursen und Ein-bürgerungsgesprächen zu Leibe zu rücken und sie dahingehend zu überprüfen, ob sie auch ja eine rechtschaffeneGesinnung besitzen.Oft überschritten die Argumente dabei nicht dasNiveau von Stammtischparolen. Sätze wie „Wir ent-scheiden, wer Deutscher ist, und wir lassen nicht jedenhinein“ oder „Staatsbürgerschaft zu Ramschpreisen“oder gar „im Vorbeigehen“ – laut Kanzlerin – sind uner-träglich und noch dazu völlig realitätsfern.
Sie ignorieren, dass bereits strikte Voraussetzungen er-füllt werden müssen, um überhaupt eingebürgert werdenzu können. Wir alle kennen diese Voraussetzungen.
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Sevim DagdelenDie große Koalition tönte von Anfang an, ihrenSchwerpunkt in der Integrationspolitik auf die Sprach-förderung zu legen. Der Haushaltsplanentwurf dagegenentspricht diesem Ansatz keinesfalls. Trotz der enormgroßen Nachfrage sind im Haushalt Kürzungen bei denIntegrationskursen um 67 Millionen Euro geplant. Da-mit entzieht man der Integration ein Stück mehr die ma-terielle Basis. Man kann nicht Integration fordern unddie Voraussetzungen dafür verhindern.
Das Argument, dass bereitgestellte Mittel von knapp120 Millionen Euro nicht abgerufen wurden – das sagteHerr Kollege Uhl noch einmal –, geht an der Realität derSprachförderungen mit ihren massiven Defiziten vorbei.Die Fallzahlen, die für die Veranschlagung der Mittel für2006 zugrunde liegen, unterschlagen die reale Nachfragevon Migranten nach Sprachförderung.Selbst Ihre Kollegin Frau Maria Böhmer sah es in ei-nem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ bereitsam 8. Dezember 2005 so. Sie sagte – ich zitiere –:Wir können schon heute feststellen, dass viele, ins-besondere Frauen, ganz freiwillig diese Kursange-bote wahrnehmen
und die zur Verfügung stehenden Plätze die Nach-frage nicht decken.
Die Veranschlagung der Mittel für die verschiedenenZielgruppen für das Jahr 2006 ist wiederum von einerVernachlässigung geprägt: Anstatt die Mittel für bereitslänger in Deutschland lebende Migranten zu erhöhen,wird in der Berechnung der Kosten für das Jahr 2006 dieNachfrage vonseiten der Bestandsausländer lediglich ineinem sehr geringen Umfang berücksichtigt.Die Bundestagsfraktion Die Linke fordert deshalb,auch den Migranten, die bereits länger in Deutschlandleben, ein Recht auf Teilnahme an einem Sprachkurs zugewähren und die notwendigen finanziellen Mittel zurVerfügung zu stellen.
Die Fraktion Die Linke fordert, nicht nur den Ansatzvon jährlich circa 208 Millionen Euro bei diesem Titelbeizubehalten, sondern auch die Qualität der Sprach-kurse zu verbessern und die genannten Defizite konse-quent abzubauen.
Die Probleme liegen schon seit längerem auf dem Tisch.Seit über einem Jahr weisen die Volkshochschulen, dieVerbände, die Migrantenorganisationen und die Sprach-schulen darauf hin, woran es mangelt.Die Beseitigung dieser Probleme allein reicht abernicht aus. Wir haben schon immer darauf hingewiesen,dass Integrationspolitik viel mehr als nur Sprachförde-rung ist; im Zuwanderungsgesetz wird sie jedoch daraufreduziert. Die Integrationspolitik muss gleiche Bil-dungschancen eröffnen und die gleichberechtigte Teil-habe am Arbeitsmarkt ermöglichen. Die Tatsache, dassein Viertel aller Migranten arbeitslos ist, dass ihre Bil-dungschancen so schlecht sind, dass Experten schon voneinem ethnisch segmentierten Bildungssystem inDeutschland sprechen, findet nicht die nötige Beach-tung; die große Koalition sieht hier keinen Handlungsbe-darf.Ich möchte mit folgendem Satz schließen: Wir sindnicht das, was wir sagen, sondern das, was wir tun. Dasheißt, wenn wir etwas fordern, dann müssen wir auchfördern.Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Luther, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gestatten Sie mir, dass ich als Haushälter an-lässlich der ersten Lesung des Bundeshaushaltes 2006 andieser Stelle ein paar Bemerkungen mache.Der Gesamthaushalt des Einzelplans für den BereichInneres umfasst gut 4 Milliarden Euro. Das heißt, er hatin etwa denselben Umfang wie 2005. Das wiederum be-deutet, dass Mehrausgaben im Bereich der Sicherheitoder aufgrund der Einführung des neuen Digitalfunks– davon ist heute hier gesprochen worden – nur durchEinsparungen an anderer Stelle im Haushalt ermöglichtwerden können. Hinzu kommen Einsparungen, die ausglobalen Minderausgaben folgen oder auf Vereinbarun-gen im Koalitionsvertrag zurückgehen. 51 Prozent desHaushaltes umfassen Personalausgaben. In diesem Be-reich ist es nicht ganz einfach, zu Einsparungen zu kom-men.Mit den Mitteln dieses Ansatzes müssen die Ausga-ben sowohl des Ministeriums als auch der 18 Geschäfts-bereiche des Innenministeriums finanziert werden. DieAufstellung, die ich soeben vorgetragen habe, zeigt in al-ler Kürze, welche Probleme sich bei der Aufstellung desEinzelplans ergeben.Eines der wichtigsten Vorhaben des Einzelplans istder Aufbau eines bundesweiten digitalen Sprechfunknet-zes für Behörden und Organisationen mit Sicherheitsauf-gaben, die so genannten BOS. Der Einzelplan sieht dafürMittel in Höhe von rund 100 Millionen Euro und Ver-pflichtungsermächtigungen in Höhe von fast 1 Milliar-de Euro vor. Ich glaube, es wird wirklich Zeit, dass sichder Deutsche Bundestag mit diesem Thema beschäftigt.
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Dr. Michael Luther
Der Analogfunk ist veraltet. Unsere Nachbarländer ha-ben alle, teilweise seit Jahren, Digitalfunk. Auch deshalbsollten wir ihn in Deutschland einführen.Ich weiß, dass der Abstimmungsprozess schwierigwar. Auch die vorige Regierung hat sich bemüht, kam al-lerdings leider nicht zu einem Ergebnis. Ich danke aus-drücklich Wolfgang Schäuble dafür, dass es ihm offen-sichtlich gelungen ist, die Forderungen allerBundesländer unter einen Hut zu bringen, sodass wirhierbei vorankommen.
Für den Bereich der Bundespolizei – ich begrüße dassehr – wurden die Mittel aufgestockt. Durch die seit2001 global veränderte Sicherheitslage hat sich das Auf-gabenspektrum der Bundespolizei nicht nur gewandelt,sondern auch stark erweitert. Zusätzliche Aufgaben wiedie verstärkte Bestreifung der Flughäfen, der Schutzdeutscher Auslandsvertretungen und der Personenschutzsind nach meiner Meinung nur mit einer entsprechendenAufstockung des Personals zu gewährleisten. Deshalb isthier eine Aufstockung der Mittel, die übrigens durcheine interne Umschichtung erbracht werden muss, ge-rechtfertigt.In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinwei-sen – das ist heute schon ein Thema gewesen –, dass dieBundespolizei bei der Bewältigung der Sicherheitsauf-gaben anlässlich der Fußballweltmeisterschaft einewichtige Rolle spielt. Auf sie kommen neue Belastungenzu. Diese muss sie letztendlich ohne zusätzliche Mittelbewältigen.Zum THW ist heute noch nicht viel gesagt worden;gestatten Sie mir deswegen ein paar Bemerkungen dazu.Das Technische Hilfswerk ist eine international aner-kannte Institution. Sie leistet einen großen Beitrag zumKatastrophenschutz.
Wie wichtig ein funktionierendes und gut ausgestattetesTHW ist, haben wir 2002 beim Hochwasser in Sachsen,Anfang des vergangenen Jahres in Südostasien, letztenSommer in New Orleans oder auch bei zahlreichen klei-neren Einsätzen – siehe letzten Winter in Deutschland –gesehen.
Das THW wird auch bei der Fußball-WM präsent sein.Deshalb ist es gerechtfertigt, dass das THW von Spar-maßnahmen weitestgehend ausgenommen wurde.Allerdings lohnt es sich, genauer in das entsprechendeKapitel zu schauen. Das THW ist durch seine nationalenund internationalen Einsätze und die damit vorhandenepositive Medienpräsenz für junge Leute attraktiv. Dasdrückt sich in einer wachsenden Zahl ehrenamtlich Täti-ger aus. Deshalb werde ich im Haushalt prüfen, ob eineSenkung der Mittel für die Aus- und Weiterbildung undfür die Ortsverbände wirklich sinnvoll ist oder ob besseran einer anderen Stelle dieses Kapitels gespart werdensollte.
Für mich gilt: Wir brauchen schlanke Strukturen in derFührungsebene, die ein effektives Arbeiten an der Basisermöglichen sollen.Auch zur Bundeszentrale für politische Bildungwill ich eine Bemerkung machen. Politische Bildung istfür die Menschen in unserem Land sehr notwendig. Bil-dung ist – das ist eine Tatsache – vor allem Länderauf-gabe. Aber es gibt auch Aufgaben der politischen Bil-dung, die einer besonderen bundesstaatlichenUnterstützung bedürfen. Das – und nur das – rechtfertigtim Übrigen die Existenz der Bundeszentrale für politi-sche Bildung.Hier ist in den letzten Jahren viel passiert und viel ge-macht worden. Aber dies reicht konzeptionell aus mei-ner Sicht nicht aus. Eine konzeptionelle Schwer-punktausrichtung auf aus bundespolitischer Sichtwichtige Themen ist geboten. Dafür müssen dann auchausreichend Mittel zur Verfügung stehen – aber nur da-für.
– Das können wir anlässlich der Haushaltsberatungengerne miteinander besprechen. Lassen Sie das einmal soim Raum stehen, wie ich das an dieser Stelle gesagthabe.Es gibt noch eine Reihe weiterer Themen. Das BSI,also das Bundesamt für Sicherheit in der Informa-tionstechnik, und das Bundeskriminalamt sind heuteschon angesprochen worden. Dort werden sehr wichtigeAufgaben erfüllt.Wenn der Präsident es mir gestattet, will ich noch et-was zum Thema Integration aus haushaltspolitischerSicht sagen. Integration hat etwas mit Sprachkompetenzzu tun; darüber sind wir uns einig. Es ist traurig, dassvon denjenigen, die einen Sprachkurs in Anspruch neh-men könnten, nur 53,4 Prozent dies auch tun. Wir müs-sen darüber reden, warum das so ist. Aber es macht kei-nen Sinn, einen Haushaltsansatz vorzusehen, dessenMittel offensichtlich nicht gebraucht werden. Ich sageganz klar: Wenn diese Mittel gebraucht werden, dannmüssen sie auch im Haushalt zur Verfügung gestellt wer-den. Für mich gilt an dieser Stelle: Das Geld folgt derAufgabe – und nicht umgekehrt.Das Bundesinnenministerium hat eine vielfältige Pa-lette von Aufgaben zu erfüllen. Deshalb lohnt es sich,diesen Haushalt an vielen Stellen genauer zu betrachten.Ich glaube, es wird eine spannende Haushaltsberatungwerden. Ich bitte um Ihre Unterstützung.Recht herzlichen Dank.
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Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael
Hartmann, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Es ist gar nicht so einfach, diese alles in allem recht
harmonisch verlaufende Debatte nun abzuschließen.
Seien Sie deshalb versichert: Ich werde mich auf ganz
wenige Punkte konzentrieren und nur die Dinge anspre-
chen, die mir zu dieser späten Stunde tatsächlich rele-
vant zu sein scheinen.
Herr Bundesinnenminister, Sie haben in Ihren Aus-
führungen mit Recht darauf hingewiesen, dass der Haus-
halt Ihres Ministeriums mit 4 Milliarden Euro Gesamt-
volumen im Wesentlichen durch das gedeckt wird, was
wir für die innere Sicherheit ausgeben. Die innere Si-
cherheit befindet sich in der Tat in einer historisch ein-
maligen Situation, die nicht zuletzt durch die Anschläge
des 11. September offenkundig geworden ist.
Frau Jelpke, ich habe Ihnen sehr genau zugehört.
Man muss ja nicht immer einen Dissens suchen, wo kei-
ner vorhanden ist; aber so zu tun, als würden wir unsere
Sicherheitsanstrengungen deshalb unternehmen, um ei-
nen Repressionsapparat aufzubauen, hat wirklich nichts
mit bundesdeutscher Realität zu tun.
Lassen Sie mich unabhängig davon auf eines hinwei-
sen – vielleicht passt das auch in die Abendstunde, in der
wir uns jetzt befinden –: Wenn wir – ich sage das be-
wusst auch in die Richtung unseres ehemaligen Koali-
tionspartners – über innere Sicherheit reden, die eben
rund 70 Prozent des Haushalts des Bundesministers des
Innern ausmacht, so reden wir über einen Bereich, der
im Gesamtvolumen des Bundeshaushalts zwar lediglich
1,5 Prozent ausmacht, für den wir aber eine große Ver-
antwortung tragen und in dem wichtige Fragestellungen
behandelt werden. Deshalb fand und finde ich es gut,
dass wir als Innenpolitiker zumindest dann, wenn es um
innere Sicherheit geht, immer eine Art Commonsense
bewahren.
– Liebe Silke Stokar, das ist in der Zeit, in der wir zu-
sammengearbeitet haben, gelungen. Erinnern Sie sich
beispielsweise an die Beschlüsse, die wir gemeinschaft-
lich – sicherlich nach einigen Diskussionen – nach dem
11. September gefasst haben. – Es gelingt auch jetzt,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, bei-
spielsweise wenn es darum geht, das Terrorismusbe-
kämpfungsgesetz fortzuschreiben. Ich glaube, dass wir
diesen Commonsense bei allen Unterschieden, die es ge-
ben muss, und bei aller Kritik, die aus der einen oder an-
deren Richtung kommen mag, in der inneren Sicherheit
auch zukünftig wahren dürfen.
Deshalb freue ich mich auf die kritische Zwischenfrage
des Kollegen Stadler umso mehr.
Bitte schön, Kollege Stadler.
Lieber Herr Kollege, da Sie von einem Commonsense
in der Sicherheitspolitik bzw. in der Innenpolitik spre-
chen: Es trifft natürlich zu, dass es ein allgemeines An-
liegen ist, dass wir alles für die innere Sicherheit tun.
Stimmen Sie mir aber auch zu, dass der Commonsense,
den Sie beschrieben haben, vom Bundesverfassungsge-
richt anscheinend mehrfach gestört worden ist, indem es
mit deutlichsten Worten gesagt hat, es habe sich gewis-
sermaßen gar nicht vorstellen können, welche Gesetzge-
bung teilweise von der Mehrheit in diesem Haus be-
schlossen worden ist?
Sehr geehrter, geschätzter Herr Kollege Dr. Stadler
– was wahr ist, darf man aussprechen, hat meine Omaimmer gesagt –,
es ist ja eine Sache, ob man in Serie Opposition ist undaus der Sicht bürgerrechtlicher Freiheit den Finger aufdie Wunde legt – einverstanden.
Es ist aber eine ganz andere Sache, wenn man in mühsa-men Abwägungsprozessen – wie zum Beispiel beimLuftsicherheitsgesetz – über eine Ultima Ratio entschei-den muss, von der man hofft, dass sie niemals eintritt.Beim Luftsicherheitsgesetz hat uns das Verfassungsge-richt klar gesagt: Der Subjektcharakter der Person darfnicht verletzt werden; es darf keine Abwägung Men-schenleben gegen Menschenleben geben. Dazu sage ich:Das oberste Gericht ist ja dafür da, uns in bestimmtenFällen genau auf die Finger zu schauen.Ich sage aber auch dazu – und zwar mit mindestens soviel Respekt vor dem Verfassungsgericht wie Ihnen ge-genüber, Herr Kollege Dr. Stadler –: Das Verfassungsge-richt lässt uns als Innenpolitiker da und dort aber auchalleine. Was machen wir denn beispielsweise im Rene-gade-Fall, wenn sich eine von Terroristen gekaperte Ma-schine – was Gott und unsere Sicherheitsvorkehrungenverhüten mögen – auf ein voll besetztes Stadion stürzen
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Michael Hartmann
würde? Wir sind als Innenpolitiker immer in der schwie-rigen Abwägung konkreter Entscheidungen. Ich gebe zu,dabei kann man schuldig werden. Aber niemand in die-sem Hohen Hause handelt in der Absicht, Grundrechtezu verletzen oder gegen die Menschenwürde zu agieren.Das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen.
Meine Damen und Herren, wenn wir von Kontinuitätsprechen, dann sei in dieser sehr schnelllebigen Zeit, inder heute jemand noch etwas wert ist, der morgen ver-gessen ist, an eines erinnert: Diese Kontinuität – davonkönnen wir in der Tat sprechen – ist in der großen Koali-tion deshalb so groß, weil wir auf den Schultern einesanerkannten Innenministers stehen. Ich glaube, es istnicht verkehrt, am heutigen Tage noch einmal OttoSchily für seinen großen Einsatz für die Innenpolitik unddie innere Sicherheit unseres Landes zu danken.
– Mich wundert ein bisschen, dass die Grünen nicht klat-schen und kein Lächeln auf die Lippen der Unionsabge-ordneten gezaubert wurde; denn Sie, Herr Bundesinnen-minister Schäuble, setzen in vielen Bereichenkonsequent das fort, was Otto Schily richtigerweise be-gonnen hat. Das betonen Sie ja auch da und dort.
Liebe Silke, ich gebe zu, wir hatten es nicht immereinfach mit Otto Schily. Wir werden es aber auch mitWolfgang Schäuble nicht immer einfach haben.
Es gibt selbstbewusste Innenminister auf der einen Seiteund ein selbstbewusstes Parlament auf der anderen. Ausdem Zusammenspiel von beiden entsteht gute Innenpoli-tik für Deutschland.
Sehr geehrter Herr Kollege Luther, lassen Sie michein Thema aufnehmen, das Sie in Ihrer Rede angeschnit-ten haben – ich teile Ihre Auffassung, halte es ebenfallsfür wichtig –: Das Technische Hilfswerk bildet im Ka-non aller Einrichtungen, Institutionen und Behörden, diesich um die innere Sicherheit kümmern, ein wichtiges,ein zentrales Element. Das THW ist ebenso wie unsereBundeswehr immer häufiger in Auslandseinsätzen. DieAnerkennung für diese Einsätze ist in der Tat so groß,wie Sie es gesagt haben.Ich bin der Meinung – Herr Bundesminister, lassenSie uns hierüber in Kontakt bleiben –, dass bei allen not-wendigen Sparbemühungen, die das Haus erbringt, nocheinmal darüber nachgedacht werden muss, ob eine Kür-zung der Fort- und Weiterbildungsmittel um 40 Prozenttatsächlich gerechtfertigt ist. Lassen Sie uns bitte darumringen, ob das notwendig ist. Lassen Sie uns miteinanderüber andere Lösungen diskutieren, die einen genausogroßen Einspareffekt erbringen. Das THW ist ein Aus-hängeschild für unser Land, für unsere Friedenspolitikund für unsere Sicherheitspolitik.
Zum Schluss der Debatte und aufgrund einzelnerAusführungen der Oppositionsparteien darf ich nocheinmal darauf hinweisen, dass, wer Innenpolitik betreibt,im Bereich der inneren Sicherheit fast täglich dieschwierige Abwägung vorzunehmen hat, wie weit Frei-heit geht und wie weit Sicherheit reichen muss, damitdiese Freiheit gewährleistet bleibt. Wir haben in der al-ten Koalition versucht, diese Abwägung klug und im In-teresse des Gesamtstaates vorzunehmen. So versuchenwir es auch jetzt.Ich glaube, es ist nicht gut, wenn einzelne Fraktionendes Hauses versuchen, die bürgerlichen Freiheitsrechtefür sich allein in Anspruch zu nehmen. Wir sollten ge-meinsam darum ringen und uns nicht wechselseitig denguten Willen absprechen.
Ich bin mir sicher, dass die große Koalition genauso vor-sichtig zwischen Freiheit und Sicherheit abwägen wird.
In diesem Sinne hoffe ich, dass wir auch während derkommenden Jahre diesen Konsens wahren werden;
auch wenn manche von uns – einverstanden –, wenn esum Ausländerpolitik geht, tatsächlich noch das eine oderandere lernen müssen.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 31. März 2006, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen
freundlichen Abend und eine gute Nacht.