Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe, be-
grüße ich Herrn Dr. Wolfgang Zeh, der hinter mir als
neuer Direktor beim Deutschen Bundestag Platz ge-
nommen hat. Ich wünsche ihm persönlich und im Namen
des Hauses viel Erfolg.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut-
scher Streitkräfte bei der Unterstützung der ge-
meinsamen Reaktion auf terroristische An-
griffe gegen die USA auf Grundlage des Art. 51
der Satzung der Vereinten Nationen und des
Art. 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Re-
solutionen 1368 und 1373 (2001) des Si-
cherheitsrats der Vereinten Nationen
– Drucksache 15/37 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes-
minister Peter Struck das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Deutschland ist Teil der weltweiten Antiterrorkoali-tion. Es nimmt seine Verantwortung wahr in internationa-ler Solidarität und im eigenen nationalen Interesse; dennder internationale Terrorismus bedroht uns ganz direkt,wie wir zum Beispiel in Djerba gesehen haben. Die deut-sche Beteiligung an der Operation Enduring Freedom mitmilitärischen Kräften ist Ausdruck dieser Verantwortungfür die globale Sicherheit und den Schutz der Werte allerdemokratischen Staaten.
Unser Ziel ist klar: Wir wollen dem terroristischenHandeln auf allen Ebenen die Grundlagen entziehen. DasÜbel des Terrorismus hat mehrdimensionale Wurzeln undkann nur mehrdimensional bekämpft werden:
auf den Finanzmärkten, beim internationalen Verkehr,beim illegalen Handel mit Waffen und Drogen, durch Lö-sung der regionalen Konflikte – wie im Nahen Osten – mitallen verfügbaren politischen, aber eben auch mit mi-litärischen Mitteln. Der Einsatz militärischer Mittel bleibtunverzichtbar, um eine Wiederholung von Anschlägenwie dem vom 11. September nach Möglichkeit zu ver-hindern.Deutsche Soldatinnen und Soldaten leisten hierzu ei-nen substanziellen Beitrag. Ihre Bilanz im Rahmen vonEnduring Freedom ist positiv.
Die Bundeswehr braucht keinen internationalen Ver-gleich zu scheuen. Sie hat durch ihre Leistungsfähigkeitund ihre Professionalität hohes Ansehen bei den Streit-kräften unserer Partner im Kampf gegen den Terrorismuserworben. Die Übergabe des Kommandos über die in-ternationale Task Force 150 am Horn von Afrika an diedeutsche Marine war ein deutlicher Beweis für das Ver-trauen, das allgemein in unsere Soldatinnen und Soldatengesetzt wird. Für diese großartigen Leistungen sprecheich allen Angehörigen der Bundeswehr, die zum Erfolgder Operation Enduring Freedom beigetragen haben, im
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Bundesminister Dr. Peter StruckNamen der Bundesregierung meinen Dank und meineAnerkennung aus.
Der Kampf gegen den Terror ist nicht in Tagen, Wo-chen oder Monaten zu gewinnen. Hier ist deshalb ein lan-ger Atem erforderlich. Die beachtlichen Erfolge, die wirbisher erzielt haben, dürfen nicht unseren Blick daraufverstellen, dass die Führungs- und Ausbildungseinrich-tungen der al-Qaida noch nicht zerschlagen und ihre Fi-nanzierungsquellen noch nicht ausgetrocknet sind. Dieweltweite terroristische Bedrohung ist noch nicht ge-bannt. Das mussten wir in Djerba am 11. April, in Karat-schi am 5. Mai und am 14. Juni, vor Aden am 5. Oktoberund in Denpasar am 13. Oktober schmerzlich erfahren.Sprecher der al-Qaida haben öffentlich mehrfach weitereAngriffe auf die USA und in Europa angekündigt unddazu aufgerufen.Auch wenn das deutsche Staatsgebiet bisher von An-schlägen verschont wurde, ist die Gefahr für uns real. Derinternationale Terrorismus bedroht auch unser Land, un-sere Lebensweise und das Fundament, auf dem unsere po-litische Kultur begründet wird. Wir werden daher unsermilitärisches Engagement gegen den Terror an der Seiteder USA und anderer Nationen im Rahmen von EnduringFreedom so lange fortsetzen, wie es erforderlich ist.Die Bundeswehr wird angesichts der aktuellen und ab-sehbaren Sicherheitslage in engem Schulterschluss mitunseren Verbündeten und Partnern für zunächst weiterezwölf Monate militärisch engagiert bleiben: mit den See-und Seeluftstreitkräften, die am Horn von Afrika den See-raum überwachen, Handelsschiffe schützen und darüberhinaus eine wichtige Rolle bei der Aufklärung der Akti-vitäten des internationalen Terrorismus spielen, mit Luft-transport- und Sanitätskräften, die unter anderem einenAirbus A310 zur notfallmedizinischen Evakuierung inDeutschland bereithalten, mit ABC-Abwehrkräften, die inKuwait den Nukleus einer Fähigkeit zur Reaktion auf ter-roristische Angriffe mit ABC-Waffen nicht nur auf unsereamerikanischen Verbündeten bilden, und mit Spezialkräf-ten, die unter größtmöglicher Geheimhaltung unmittelbargegen die al-Qaida eingesetzt werden.Unverändert bis zu 3 900 Soldaten und Soldatinnenleisten diesen gewichtigen Beitrag für die Sicherheit derinternationalen Gemeinschaft, der auch Leistungen zurhumanitären Hilfe und zur Sicherstellung des Lufttrans-ports einschließt.Die Streitkräfte wären völlig überfordert, wollte manihnen zumuten, allein des Terrorismus Herr zu werden.Wir sind daher mit unserem umfassenden Herangehen aufdem richtigen Weg. Auf nationaler Ebene haben wir einPaket von Sofortmaßnahmen zur Stärkung der innerenund äußeren Sicherheit auf den Weg gebracht. Auf euro-päischer Ebene wurde ein umfassender Aktionsplan zurBekämpfung des Terrorismus verabschiedet, der aufeine deutsche Initiative zurückgeht. Die NATO hat ihrer-seits über die Erklärung des Bündnisfalls hinaus am4. Oktober 2001 ebenfalls ein umfangreiches Bündel zi-viler und militärischer Maßnahmen geschnürt. Ein weite-res Maßnahmenpaket wird noch in diesem Monat auf demPrager Gipfel beschlossen werden. Und schließlich hatder Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der bereitsangesprochenen fundamentalen Weiterentwicklung desVölkerrechts den Rahmen für den Kampf gegen den Ter-rorismus auf allen Ebenen gesteckt.Damit haben wir eine solide Grundlage, um den Terro-risten und denen, die ihr unheilvolles Wirken mittel- oderunmittelbar unterstützen, Einhalt zu gebieten. Den Kampfgegen den Terrorismus zu gewinnen ist schwierig, aberunter Einsatz aller Kräfte nicht unmöglich. Unser Ziel,Frieden und Freiheit zu verteidigen und eine internatio-nale Ordnung zu erreichen, die auf der Herrschaft desRechts, der Demokratie und der Menschenrechte aufbaut,lässt uns keine andere Wahl.
Ich erteile das Wort Kollegen Friedbert Pflüger, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit einem Jahrführt eine Koalition aus etwa 90 Staaten einen Verteidi-gungskrieg gegen den internationalen Terrorismus.Deutschland hat sich daran beteiligt. Wir haben es er-möglicht, dass sich deutsche Soldaten in diese Koalitioneinreihen, und wir, die Union, werden der Verlängerungdieses Mandates, der Weiterführung des Kampfes gegenden internationalen Terrorismus, in der nächsten Wochezustimmen; denn der internationale Terrorismus ist diegroße Gefahr der Zukunft. Da kann niemand, ganz egalwo er parteipolitisch steht, Nein sagen. Es ist eine Auf-gabe für uns alle, diesen Kampf gegen den Terrorismus inden nächsten Jahren zu führen und uns nicht auszugren-zen, nicht alleine zu bleiben, uns nicht, Herr Bundeskanz-ler, zu isolieren und abzukoppeln.
Da wir in diesen Tagen über die Verlängerung von En-during Freedom entscheiden, sollten wir uns am Anfangdieser Debatte ein paar Minuten daran erinnern, wie es voreinem Jahr war, als sich große Teile Ihrer Koalition ver-weigern wollten und als Sie die Vertrauensfrage stellten,um eine Mehrheit zu bekommen. Damals gab es inDeutschland eine starke Bewegung „Stoppt diesenKrieg!“ linksgerichteter Intellektueller. Was wäre auf derWelt und in Afghanistan in den letzten Monaten passiert,wenn die Amerikaner diese Koalition nicht angeführt hät-ten und wenn wir damals nicht ernst gemacht und das Ta-libanregime in die Knie gezwungen hätten?All denjenigen, die sich damals verweigert haben,muss man heute sagen: Schaut nach Afghanistan! DieHilfsorganisationen können dort wieder arbeiten. Es gibtAufbauprogramme für Afghanistan. Die Frauen können
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wieder auf die Straße gehen, ohne die Burka mit den klei-nen Sehschlitzen tragen zu müssen. In den Sportstadienwird wieder Fußball gespielt, anstatt dass dort Menschenexekutiert werden. Man kann in Afghanistan wieder Mu-sik hören. Trotz allem, was noch zu tun ist, muss man alsosagen, dass es einen großen Fortschritt bei den Men-schenrechten gibt. Dieser Fortschritt ist nicht durch Frie-densappelle, sondern durch den Einsatz von Soldaten un-ter Beteiligung deutscher Soldaten erreicht worden. Dafürdanken wir allen, die sich daran beteiligt haben.
Die Kollegin Nickels von den Grünen hat es für richtiggehalten, in der „Welt“ heute in erster Linie daran zu er-innern, dass Menschenrechtsstandards beim Antiterror-kampf nicht gefährdet werden dürfen.
Diese Warnung ist richtig: Wenn man das Böse bekämpft,darf man in der Tat selbst nicht böse werden. Wer wolltedas bestreiten? Aber ist es nicht genauso wichtig, daran zuerinnern, dass es zunächst einmal der Terrorismus sowieder islamistische Extremismus und Totalitarismus sind,die die Menschenrechte, die Demokratie und unsere Zivi-lisation im Kern bedrohen? Sie sind die eigentliche Be-drohung für die Menschenrechte. Diese Tatsache muss inden Vordergrund unserer Debatte gerückt werden undnicht irgendwelche anderen Erwägungen.
Die Gefahr des Terrorismus ist nicht geringer gewor-den. Im Gegenteil: Wir haben nach dem 11. September an-dere Terrorakte von unvorstellbarer Brutalität erlebt. Ichnenne die Anschläge von Djerba, Bali und Moskau sowieden Anschlag auf den französischen Tanker Limburg.Es gab eine Reihe von versuchten Terrorakten, die geradenoch verhindert werden konnten und die wir fast schonaus unserem Bewusstsein verdrängt haben. Ich nenne bei-spielsweise den Anschlag auf die römische Wasserversor-gung.Wir wissen vom BKA und vom BND, dass es eineakute Bedrohung auch für uns in Deutschland gibt. Wirsind, wie das BKA sagt, vom Ruheraum zum Zielobjektgeworden. Der Terrorismus geht uns alle an. Er bedrohtnicht nur Amerika, sondern die gesamte Zivilisation.Wenn ich einmal versuche, das, was gegenwärtig pas-siert, historisch einzuordnen, dann zögere ich nicht, zu sa-gen, dass es sich um die dritte totalitäre Herausforderunghandelt, die die freiheitlichen Demokratien auf der Weltzu bestehen haben.Die erste totalitäre Herausforderung war der Marxis-mus-Leninismus, ein Gedankengebäude, das am Endeeine herrschaftsfreie Gesellschaft versprach, das aber be-wirkte, dass es nur eine Wahrheit gab und dass eine ganzegesellschaftliche Klasse umgebracht wurde. UnendlichesLeid ist durch den Marxismus-Leninismus und vor allenDingen durch den Stalinismus über die Welt gekommen.
Die zweite totalitäre Herausforderung war der Natio-nalsozialismus. Er gab nicht einer gesellschaftlichenKlasse, sondern einer Rasse die Schuld an allem Übel derWelt. Die Nationalsozialisten haben im Glauben an eineWeltordnung, in der andere Rassen versklavt oder ver-nichtet werden sollten, unzählige Menschen umgebracht.Jetzt haben wir eine dritte totalitäre Bewegung, diesich natürlich von den anderen unterscheidet. Denn sie isteine Bewegung, die die Erlösung im Paradies verspricht.Aber wieder haben wir ein Feindbild: Für alle Würdelo-sigkeit, für alle Probleme und für alle Ungerechtigkeitenauf der Welt wird der Westen, seine Zivilisation, unsereDemokratie verantwortlich gemacht. Dies ist eine funda-mentale Herausforderung. Es gibt wieder den Glauben:Für die höhere Wahrheit, dafür, höhere Ziele zu erreichen,darf ich morden, auch wenn es sich um Frauen, Kinderoder alte Menschen handelt.Das sind die Kennzeichen von unterschiedlichen, aberdann doch wieder gleichen totalitären Bewegungen. Ge-nauso wie wir die erste und die zweite Herausforderung,nämlich den Kommunismus und den Nationalsozialis-mus, mit großen Opfern besiegt haben, so müssen diewestlichen Demokratien auch diese dritte totalitäre He-rausforderung besiegen. Daran wollen wir uns als Deut-sche beteiligen.
Immer ist der Fehler gemacht worden, diese Bewegun-gen zunächst zu unterschätzen. Führen Sie sich vor Augen,wie anlässlich der Olympiade die ganze Welt an Hitler imOlympiastadion vorbeimarschiert ist! Erinnern Sie sich da-ran, wie oft der Kommunismus als eine Art bessere Befrei-ungsbewegung – von einigen offenbar bis in heutige Tagehinein – unterschätzt worden ist! Nichts ist gefährlicher, alssolche Bewegungen zu unterschätzen. Der Preis dafür, dassman nicht gleich alles Notwendige gegen sie unternimmt,ist ungeheuer hoch. Deswegen muss man aufpassen, zu-packen und diese Bewegungen unter Druck setzen – unddies nicht erst dann, wenn es zu spät ist und sie stark sind.Man muss den Anfängen wehren; darauf kommt es an.
Winston Churchill hat in seinem großen Buch „DerZweite Weltkrieg“ ausgeführt:Wenn man nicht kämpfen will, solange der Sieg ge-wiss und nicht zu kostspielig wäre, dann kann derAugenblick eintreten, dass man kämpfen muss,wenn alle Bedingungen ungünstig sind und nur ge-ringe Aussicht besteht, mit dem Leben davonzukom-men.
Ich finde, das ist ein sehr wichtiges Churchill-Zitat.Dr. Friedbert Pflüger
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Dr. Friedbert PflügerEs gibt viele, die sagen: Der Irak geht uns nichts an. –Der Außenminister hat letzte Woche festgestellt, das seinicht die richtige Priorität.
Es wird geäußert: Wir als Deutsche sollten uns, ganz egalwas die UNO, die NATO und die EU machen, abkoppelnund nicht mitmachen. – Der Bundeskanzler hat doch imWahlkampf gesagt: Mit uns nicht, ganz egal was die Welt-gemeinschaft macht! – Wer angesichts der Bedrohungdurch Massenvernichtungswaffen und einem Diktator,der diese Massenvernichtungswaffen bereits angewendethat, sagt, das habe für ihn keine Priorität, und feststellt:„Mit uns auf keinen Fall!“, der koppelt sich von dem in-ternationalen Kampf gegen den Terrorismus ab und derberaubt sich des Gewichtes und des Vertrauens, das diedeutsche Politik lange Zeit in der Welt und vor allen Din-gen in Amerika und bei den europäischen Partnern ge-nossen hat. Sie haben hier im Wahlkampf einen katastro-phalen Fehler begangen.
Man kann über sehr viel sprechen und diskutieren,Herr Kollege Büttner. Es gibt sehr gute Gründe dafür– das will ich zugestehen –, gegen einen Krieg gegen denIrak zu sein.
Was passiert hinterher? Welche Ordnung soll es im Iraknach einem Militärschlag geben?
Was passiert in den muslimischen Ländern?Für die gesamte Union stelle ich fest: Wir hoffen zu-tiefst, dass der Frieden erhalten werden kann. Aber diesgeschieht nur dann, wenn wir den Druck auf den Haupt-anstifter von Krieg aufrechterhalten. Saddam Husseinwird auf seine Massenvernichtungswaffen nicht aufgrundder freundlichen Appelle von Herrn Fischer verzichten,sondern nur dann, wenn es eine internationale Drohku-lisse gibt, die dazu führt, dass Waffeninspektoren wiederin dieses Land kommen. Darum geht es uns in der Union.Wir wollen Frieden, aber nicht um jeden Preis. Friedenund Saddam Husseins Waffen wegzubekommen, das istdas Entscheidende, worum es in den nächsten Wochen,Monaten und Jahren geht.
Saddam Hussein ist von Hans Magnus Enzensberger1991 als der genuine Nachfolger Hitlers bezeichnet wor-den. Es ist in der Tat wichtig, Druck auf ihn auszuüben,damit die Waffeninspekteure wieder in das Land gelas-sen werden; denn wir wissen von unseren Nachrichten-diensten – das ist nicht nur eine Behauptung –, dass er ander Herstellung von Massenvernichtungswaffen arbeitet.Vielleicht hat er sie auch schon. Unsere größte Heraus-forderung ist, dass die Terroristengruppen nicht in denBesitz solcher Waffen kommen. Wenn Terror und Mas-senvernichtungswaffen zusammenkämen, hätte dies kata-strophale Auswirkungen für uns alle. Dagegen müssenwir uns zur Wehr setzen, indem wir uns an EnduringFreedom beteiligen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,es ist absolut wichtig, dass wir Deutsche unsere Vorstel-lung von einer gerechten Ordnung in der Welt, von einerOrdnung, die dem Terrorismus den Nährboden entziehenkann, und auch von einer friedlichen Lösung des Tschet-schenienkonfliktes auch gegenüber den Amerikanern an-sprechen. Man kann diese Probleme nicht nur mit Hilfedes Militärs lösen. Wer wollte das bestreiten? Wir müssenversuchen, die großen Ungerechtigkeiten der Welt ge-meinsam zu beseitigen, und zwar durch Öffnung unsererMärkte, durch Entwicklungspolitik und durch Förderungder Demokratie. All dies ist notwendig. Das ist aber nurdie eine Seite der Medaille. Demokratieförderung undWeiterentwicklung der Regionen sind gut. Dies wird aberumso besser gelingen, je mehr dahinter der Wille steht,notfalls den „blutigen Rändern“ des Islam entgegenzutre-ten.
Der Islam ist eine große Weltreligion; er hat viel für dieWelt geleistet. Wir wollen einen Dialog mit dem Islam.Aber wer wollte verkennen, dass Osama Bin Laden undseine Leute heute viel Gefolgschaft haben, dass es viel-leicht Tausende oder Zehntausende junger Leute gibt, diehinter dieser Bewegung stehen? Wir sollten uns vor Au-gen führen, dass beides zusammengehört: die Befriedungvon Regionen und die Schaffung von mehr Gerechtigkeitauf der Welt mit friedlichen Mitteln auf der einen Seiteund die Bereitschaft, militärisch vorzugehen, wenn manbedroht wird, auf der anderen Seite.Herr Außenminister, ich möchte Ihnen deshalb für dennächsten NATO-Gipfel einen Vorschlag unterbreiten:Lassen Sie uns doch versuchen, eine gemeinsame Strate-gie gegen den Terrorismus zu entwickeln! Lassen Sie unsversuchen, beide Punkte gleichzeitig zu betonen! Dafürmüssen Sie von der bisherigen Totalverweigerung Ab-stand nehmen. Sie müssen Abschied nehmen von derPolitik: Mit uns auf keinen Fall! Damit berauben Sie sichnämlich jeglicher Möglichkeit, etwa gegenüber ameri-kanischen Gesprächspartnern Ihre Positionen durchzu-setzen.Sie geben gesinnungsethische Friedensbekenntnisse ab.
Das ist wunderbar. Aber verantwortungsethisch tun Sienichts; denn Sie bewirken nichts. Wie schön wäre es,wenn Deutschland jetzt zusammen mit Frankreich imSicherheitsrat der Vereinten Nationen für eine vernünf-tige, gemäßigte Resolution eintreten könnte!
Tatsache aber ist, dass wir in der Welt keine Rolle spielen.Keiner fragt uns mehr. Herr Putin und Herr Chirac, alle re-den miteinander; nur Deutschland spielt keine Rolle. Es
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ist absolut tragisch, dass Sie unser Land seines Gewichtsberaubt haben.
Das ist das eigentlich Schlimme Ihrer Politik, die Sie inZeiten des Wahlkampfes geführt haben.Herr Bundeskanzler, Sie lächeln jetzt so freundlich.Dennoch haben Sie keinen Gesprächstermin bei GeorgeBush bekommen.
Sie haben in der letzten Zeit nicht einmal mit ihm telefo-niert. Der Außenminister war in Washington und hat nureinen kurzen Termin mit Herrn Powell bekommen. Nie-mand im Weißen Haus wollte ihn sehen. Das war ein sehrkarger Besuch, eine diplomatische Ohrfeige. Das ist dochdie Lage, in der sich Rot-Grün momentan befindet. Siehaben kein Gewicht, kein Vertrauen in der Welt.
Herr Kollege Pflüger, Sie müssen zum Ende kommen.
Herr Außenminister, Sie haben in Washington in einem
Pressegespräch gesagt, Sie wollten keine Beteiligung,
jedenfalls keine aktive Beteiligung. Wir freuen uns über
die Formulierung „keine aktive Beteiligung“; denn das
könnte der Einstieg in eine echte Kehrtwende sein.
Wir wollen diese Kehrtwende. Wir als Union werden
Ihnen dabei helfen, die Kehrtwende zu vollziehen und Ihre
Abkoppelung zu beenden. Wir werden Ihnen dabei helfen,
Ihre Totalverweigerung aufzugeben. Aber Sie müssen
Ihren Leuten, SPD und Grünen, und den Wählern dann sa-
gen, dass Sie im Wahlkampf eine andere Sprache gespro-
chen haben. Der deutsche Weg, den der Kanzler propagiert
hat, von dem Sie gesagt haben: „Forget it“, ist die eigent-
liche Gefahr, wenn wir dem Terrorismus begegnen wollen.
Wir müssen es gemeinsam mit unseren europäischen Part-
nern und gemeinsam mit der NATO machen und dürfen es
nicht allein und isoliert als Deutsche tun. Es wäre eine
katastrophale Position, wenn wir es anders machten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile Bundesminister Joseph Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be-danke mich beim Sprecher der Unionsfraktion für dieAnkündigung, dass die Unionsfraktion dem Antrag derBundesregierung betreffend Verlängerung des Mandatsfür Enduring Freedom um ein Jahr zustimmen wird. Es istwichtig, dass wir eine breite Unterstützung für den ge-fahrvollen Einsatz unserer Soldaten – er ist aus Sicht derBundesregierung alternativlos – finden. Um allerdingsdas, was wir heute diskutieren und nächste Woche ent-scheiden werden, in einen Zusammenhang mit dem Be-griff der Totalverweigerung zu bringen, reicht meineSprachkompetenz im Deutschen schlicht und einfachnicht aus, Herr Kollege Pflüger.
Womit haben wir es zu tun? Jenseits der oberflächli-chen Polemik gibt es ganz offensichtlich, zumindest seitder gestrigen Ausschussdiskussion, ein hohes Maß anÜbereinstimmung in der Lageeinschätzung, auch wennich glaube, dass die platte Totalitarismusdefinition, wieSie sie wählen, eher schädlich als nützlich ist;
denn Sie lassen dabei einen entscheidenden Punkt außerAcht, nämlich die Frage, was wirklich die Ursachen fürdas Entstehen von Totalitarismen sind. Es sind – das kön-nen wir auch an der eigenen Nationalgeschichte sehen –in der Regel traumatische nationale oder regionale Kata-strophen oder gescheiterte Modernisierungsversuche wiebei uns die Revolution von 1848.
– Ich meinte: wie bei uns. Darauf kommt man, wenn manauf die Ursachen zurückgeht. – Aus blockierter Moderni-sierung entsteht dann ein Nährboden für Totalitarismen.Wenn man das so sieht, Kollege Pflüger, dann mussman meines Erachtens den umfassenden Sicherheitsbe-griff, den der Bundeskanzler in seiner Regierungser-klärung dargestellt hat, zur Grundlage des Kampfs gegenden Terror machen. Das ist die entscheidende Konse-quenz und da liegt meines Erachtens auch der Ansatz-punkt.
Nach diesem umfassenden Sicherheitsbegriff – daskann man am Beispiel Balkan, aber auch am BeispielAfghanistan sehen – geht es um den Einsatz auf allen Ebe-nen. Ich möchte den Zuhörerinnen und Zuhörern, aberauch den Menschen, die die heutige Debatte im Fernsehenmitverfolgen,
klar sagen: Es kommt nicht nur entscheidend darauf an,dass wir über Militäreinsätze abstimmen; dies müssen wiraus konstitutiven Gründen, aus verfassungsrechtlichenDr. Friedbert Pflüger
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Bundesminister Joseph FischerGründen tun. Die Einsätze auf dem Balkan, im Kosovo,in Mazedonien, in Bosnien, und auch in Afghanistan sindallerdings viel umfassender. Über die zivilen Teile müs-sen wir jedoch nicht abstimmen. Dazu bedarf es keinerkonstitutiven Beschlussfassung des Bundestages.Wenn wir im Kampf gegen den internationalen Terro-rismus über Enduring Freedom entscheiden, dann ent-scheiden wir auch darüber, Afghanistan eine Perspektivezum Wiederaufbau zu geben,
dann entscheiden wir über die Umsetzung dessen, was aufdem Petersberg beschlossen wurde. Es geht darum, dasswir mit der humanitären Hilfe Ernst machen. Wenn wirauf die Situation von vor einem Jahr zurückblicken, dannstellen wir fest, dass einer der wesentlichen Unterschiededarin besteht, dass die humanitäre Hilfe jetzt – bei allenSchwierigkeiten, die es gibt – im ganzen Land an dieMenschen herangebracht werden kann. Dies ist schlichtund einfach eine Frage des Überlebens.Hierbei sind wichtige Fortschritte erzielt worden. DieLage der Frauen und Mädchen, der Wiederaufbau des Bil-dungssystems – bei allen Problemen, die es nach wie vorgibt –, etwas mehr an Sicherheit, auch wenn diesbezüg-lich noch sehr, sehr große Defizite vorhanden sind, eineinternational kooperierende Regierung, deren Einflusszwar noch im Wesentlichen auf wenige Metropolen, vorallem Kabul, begrenzt ist, der Beginn des Wiederaufbausafghanischen Militärs und afghanischer Polizei – bei derPolizei engagiert sich die Bundesrepublik Deutschlandbesonders – und der Wiederaufbau des Gesundheitssys-tems, alles das sind wichtige Dinge, die man vor einemJahr noch nicht im Bereich des Möglichen gesehen hatund die jetzt erreicht wurden. Das entspricht der Umset-zung dessen, was wir unter einem umfassenden Sicher-heitsbegriff verstehen.
Vor diesem Hintergrund bedarf es allerdings einer rea-listischen Analyse. Wir müssen feststellen, dass die Ge-fahr des internationalen Terrorismus, insbesondere dieGefahr der Verknüpfung des Terrorismus mit Re-gionalkonflikten – Afghanistan stand immer in einem en-gen Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zwi-schen den beiden Nachbarn Indien und Pakistan umKaschmir –, mitnichten gebannt ist, und zwar weder in derRegion des südlichen und des nördlichen Kaukasus nochim Nahen Osten. Viele Länder haben große Modernisie-rungsprobleme. Es gibt nicht – demokratische Regierun-gen, Diktaturen und regionales Hegemonialstreben. Esgibt außerdem die Gefahr der Massenvernichtungsmittel.Aber, Kollege Pflüger, Sie müssen schon konsequent sein.Sie können das, was Sie vorgetragen haben, nicht nur aufeine Linie fokussieren. Sie müssen sich dann auch die Fra-gen stellen, wo gegenwärtig in dieser Region das ent-wickeltste Potenzial bei Trägersystemen liegt und werüber das entwickeltste Nuklearprogramm verfügt. Auchin anderen Regionen befinden sich solche Trägersystemeund Programme in diktatorischen Händen. Ist es dannsinnvoll, das internationale Kontrollregime herunterzu-fahren sowie die Beschlussfassung über Chemiewaffen-und Biowaffenprotokolle zu erschweren, wenn nicht so-gar unmöglich zu machen? Brauchten wir nicht vielmehrein wesentlich härteres, international wirksameres Kon-trollregime, um Proliferation zu verhindern? Das sinddoch die entscheidenden Fragen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang gar nicht an die80er-Jahre erinnern. Damals hat nicht Rot-Grün regiert,als bestimmte Entwicklungen stattgefunden haben.
Sie können uns heute aber nicht die Schuld an SaddamHussein und seinen Potenzialen an Massenvernichtungs-waffen geben. Das wird Ihnen nicht gelingen.Ich möchte Ihnen an dieser Stelle nur eines sagen:Wenn Sie sich die Region anschauen, dann müssen auchSie die Frage nach der Prioritätensetzung beantworten.Das können Sie doch nicht einfach nach Ihnen gegebenenVorgaben, sondern nur nach einer Bedrohungsanalysetun. Am Ende werden Sie sich sogar fragen lassen müs-sen, ob Sie nicht das Gegenteil von dem erreichen, wasSie eigentlich wollen. Denn wenn der erste Teil Ihrer Ana-lyse richtig ist, wenn also die erste Priorität ist – deshalbwollen wir heute die Fortsetzung von Enduring Freedombeschließen –, dass der Kampf gegen den internationalenTerrorismus geführt werden muss, weil wir unter diesemDamoklesschwert, mit den menschenverachtenden An-griffen auf so genannte – das ist ein perverser Begriff –weiche Ziele, also auf Menschen, die sich nicht vertei-digen können, wie zum Beispiel auf Zivilisten und Tou-risten egal welchen Alters, welchen Geschlechts und wel-cher Herkunft, nicht leben können – Bali ist das letzteschlimme Beispiel –, dann werden Sie zumindest dieFrage erlauben müssen – Sie werden sie auch beantwor-ten müssen – , ob eine Verschiebung der Prioritäten, dienicht unbedingt in Übereinklang mit dem zu bringen ist,was Kampf gegen den Terrorismus bedeutet, letztendlichnicht kontraproduktiv ist, Herr Kollege Pflüger. Das istdie entscheidende Differenz, mit der wir es hier zu tun ha-ben.
Wir wünschen uns seitens der Bundesregierung – wirhalten es auch für notwendig – eine möglichst breite Un-terstützung bei dem Beschluss über die Verlängerung desMandats in seinem ganzen Umfang, so wie wir es vor ei-nem Jahr beschlossen haben, und zwar sowohl hinsicht-lich des Umfangs der Streitkräfte als auch seines regiona-len Umfangs. Es ist in der Tat richtig, dass die Fortschrittein Afghanistan dazu geführt haben, dass dem Terrorismusseine direkte regionale Basis entzogen wurde. Es gibt keinanderes vergleichbares Land, das die frühere RolleAfghanistans bei der Unterstützung der Terrorismus-organisation al-Qaida und des internationalen Terroris-
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mus spielen würde. Dennoch besteht die Gefahr fort. Esgab regionale Verlagerungen vor allen Dingen hin zumNahen und Mittleren Osten. Ich erinnere mich in diesemZusammenhang daran, dass es noch vor einem Jahr Zwei-fel daran gab, ob der Einsatz der Marine wirklich not-wendig ist. Wir können heute, nach dem Terroranschlagauf die „USS Cole“, ein Kriegsschiff der Amerikaner, inAden, der vor dem 11. September stattgefunden hat, undauch nach dem Angriff auf den französischen Tanker„Limburg“ feststellen, dass dieser Einsatz sehr wohl not-wendig ist. Nach den vorliegenden Erkenntnissen über dieKommunikation zwischen der arabischen Halbinsel unddem östlichen Afrika ist das ein weiterer wichtiger Punkt.Es ist genauso richtig – auch das ist ein entscheidenderPunkt – , dass wir die zunehmenden Gefahren auf der ara-bischen Halbinsel ernst nehmen. Auch aus diesem Grundist die Aufstellung, wie wir sie vor einem Jahr beschlos-sen haben, notwendig, richtig und wichtig.Meine Damen und Herren, es gibt doch überhaupt kei-nen Zweifel: Die Bundesrepublik Deutschland hat vor ei-nem Jahr eine ohne jeden Zweifel schwere Entscheidungfällen müssen. An diesem Punkt kann ich Ihnen, KollegePflüger, nur sagen: Es ist eine schmerzhafte Auseinander-setzung gewesen, aber die Mehrheit war vorhanden, daswollen wir nicht vergessen. Wenn es in der Frage überKrieg und Frieden eine Auseinandersetzung gibt und sieimmer wieder hinterfragt wird, dann halte ich das nicht fürkritisierenswert; denn ich meine, dieser Auseinanderset-zung muss man sich stellen.
Sie führen die Diskussion gerade so, als ob die Be-gründungspflicht, die der Verfassungsgeber wollte, nichtexistieren würde und als ob die Mehrheit, und zwar so-wohl die alte wie die neue, nicht die Kraft dazu gehabthätte, die notwendigen Entscheidungen unter schwierigs-ten Bedingungen zu treffen und auch umzusetzen.Meine Damen und Herren; wir halten es für notwendig,dass der Kampf gegen den internationalen Terrorismusunverändert fortgeführt wird, wir halten es aber auch fürnotwendig, dass es hier nicht zu einer aus unserer Sichtriskanten, weil in ihren Konsequenzen nicht zu Ende ge-dachten und dadurch hoch kontraproduktiven Verschie-bung der Prioritäten kommt. Wir haben eine klare Haltungund Sie werden mit noch so viel Sophisterei und dem Ver-such, Textexegese zu betreiben, um politisch etwas ausei-nander zu dividieren, keinen Erfolg haben.Der Bundeskanzler hat das in seiner Regierungser-klärung in der letzten Woche wiederholt. Auch ich bin inmeiner Rede noch einmal darauf eingegangen: Wir wer-den uns an einer möglichen Irak-Aktion nicht beteiligen.Dabei bleibt es. Umso wichtiger ist es, dass wir in derFrage der klaren Prioritätensetzung, des Kampfs gegenden internationalen Terrorismus unseren Beitrag leisten.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Günther Nolting,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minis-ter Fischer, wenn Sie unsere Politik der 80er-Jahre hierheute kritisieren, muss es auch erlaubt sein zu fragen, wieIhre Politik Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahreaussah. Ich glaube, Sie haben hier eine Gedächtnislücke.
Meine Damen und Herren, die FDP-Bundestagsfrak-tion konnte im letzten Jahr dem Antrag der Bundesregie-rung zu Enduring Freedom nicht zustimmen, da der Bun-deskanzler an die Zustimmung die Vertrauensfragegekoppelt hatte. Verständlicherweise konnten wir demBundeskanzler unser Vertrauen nicht aussprechen undwerden dies auch heute nicht tun, übrigens auch in dernächsten Woche nicht.
Seit einem knappen Jahr erfüllen Tausende deutscherSoldaten im Rahmen von Enduring Freedom ihren Auf-trag in Afghanistan, in Kuwait und am Horn von Afrikamit Bravour. Wir bedanken uns bei unseren Soldatinnenund Soldaten für diese Arbeit.
Dabei sind die Bedingungen, die ihnen vonseiten der Bun-desregierung vorgegeben werden, nicht die besten, umnicht zu sagen, schlechter könnten sie eigentlich nichtsein.Herr Minister Struck, Herr Minister Fischer, Sie habenden Marineverband am Horn von Afrika angespro-chen. Sie haben aber vergessen zu erwähnen, dass unsereSoldatinnen und Soldaten mit unzulänglichem Materialausgestattet sind. Eine effektive Arbeit ist hier nur einge-schränkt möglich. Die Technik ist nicht mit der andererNationen kompatibel und hält den hohen Temperaturennicht stand. Die engen nationalen Einsatzrichtlinien ver-bieten den deutschen Marinesoldaten darüber hinaus einAn- bzw. Festhalten oder Durchsuchen verdächtigerSchiffe.Das ist aus unserer Sicht nicht zu begreifen. Durchreine Präsenz, ohne weitere Befugnisse und Eingreifmög-lichkeiten kann dem internationalen Terrorismus nichtEinhalt geboten werden.
Der Einsatz am Horn von Afrika scheint reines rot-grünesAlibi zu sein. Deutschland ist zwar dabei, aber eingreifendürfen die Soldaten nicht wirklich. Herr Minister Struck,das ist ein untragbarer Zustand. Dies haben unsere Solda-ten nicht verdient.
Bundesminister Joseph Fischer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Günther Friedrich NoltingIn einer ähnlichen Situation sind die 52 deutschenABC-Abwehrsoldaten in Kuwait. Sie machen nur20 Prozent des wichtigen Spezialverbandes aus. Der Restder Truppe ist in einer so genannten 96-Stunden-Bereit-schaft in Deutschland. Die sechs ABC-Spürpanzer sowiedie weiteren in Kuwait stationierten Fahrzeuge sind je-doch nur mit der gesamten Truppe einsatzfähig. So erfül-len 52 Soldaten in Kuwait mehr oder weniger lediglich ei-nen Wach- und Instandhaltungsauftrag; sie halten schlichtund ergreifend die Stellung – mehr dürfen sie nicht.Das Einsatzgebiet der ABC-Abwehrtruppe ist die ara-bische Halbinsel, ausgenommen Irak. Ich will jetzt aufden Irak nicht näher eingehen. Aber ich will schon sagen,dass auf diesem politischen Feld der Herr Bundeskanzlerund der Herr Außenminister längst alles verfügbare Por-zellan zerschlagen haben.
Betrachten wir also lediglich Kuwait. Sollten dort che-mische oder biologische Waffen von terroristischen Kräf-ten gegen militärische oder zivile Ziele eingesetzt werden,so bliebe den deutschen ABC-Abwehrsoldaten nur nochdas Zählen von Toten und Verwundeten, da der Großteildes Verbandes in Deutschland ist und erst nach drei bisvier Tagen vor Ort einsatzbereit wäre.
Das ist die Situation, die uns vor Ort vom zuständigen US-General im Camp Doha geschildert wurde. Er bat nichteinmal um die Aufstockung der deutschen Kräfte auf100 Prozent, aber er bat um die Stationierung der kom-pletten Besatzungen der sechs ABC-Spürpanzer und deszwingend dazugehörigen Personals in Kuwait.Aus unserer Sicht ist das schlichtweg ein Skandal.Auch hier nur rot-grüne Symbolpolitik! Da besitzen wirausnahmsweise das beste Gerät bezüglich des Aufspürensund Bekämpfens biologischer und chemischer Kampf-mittel und die alliierten Streitkräfte wären für eine Unter-stützung durch die deutschen Soldaten mehr als dankbar –die im Übrigen nur eine schützende bzw. eine helfende,also eine rein humanitäre, Funktion haben –, doch diedeutsche Regierung verdammt die Soldaten durch ihreVorgaben zur Untätigkeit. Nicht einmal humanitäre Hil-fen werden gewährt – und das offensichtlich nur, weilKuwait das Nachbarland des Irak ist.
Die Menschen in Deutschland erwarten eine verant-wortungsvolle Politik der Regierung. Sie verlangen auchvon der Opposition verantwortungsvolles Handeln. DieFDP wird sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Al-lerdings können wir unter den derzeitigen Einsatz- undRahmenbedingungen nicht leichtfertig und ohne ein-gehende Prüfung einer Verlängerung der Beteiligungdeutscher Streitkräfte an der Operation Enduring Free-dom zustimmen. Das gilt im Übrigen auch für die Finan-zierung. Herr Minister Struck, der Hinweis, dass Einzel-heiten im Haushalt 2003 festgelegt werden, reicht unsnicht. Dazu werden Sie uns in der nächsten Woche auchim Verteidigungsausschuss noch Auskunft geben müssen.Herr Minister Struck und Herr Minister Fischer, ichhätte es mir gewünscht, dass Sie heute auch ein Wort zuden Arbeitsbedingungen der Soldatinnen und Solda-ten gesagt hätten, dass Sie die Probleme – auch diepersönlichen Probleme – der Soldatinnen und Soldatenangesprochen hätten, zum Beispiel die unzulänglichenUnterbringungsmöglichkeiten und die viel zu langen Aus-landsaufenthalte mit einer Dauer von sechs Monaten.
Sie haben Gelegenheit, in der nächsten Woche auch hierzunoch einmal Stellung zu nehmen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gert Weisskirchen,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-ber Kollege Pflüger, wenn man sich Ihre Rede hier an-gehört hat – ich würde Ihnen empfehlen, sie selber nocheinmal nachzulesen –, dann war es jedenfalls für michschmerzhaft und offensichtlich, wie sehr wir den ehema-ligen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion für Außenpolitik,unseren verehrten Kollegen Karl Lamers, vermissen. Siehaben dazu einen Kontrapunkt gesetzt – und zwar keinenguten.
Ich will Ihnen das auch belegen. Sie haben in relativ ver-kürzter Form das Thema des Terrorismus angesprochen.Auch ich glaube, dass wir es hier – das gestehe ich Ihnendurchaus zu –, mit einer neuen Form des Totalitarismus zutun haben. Wir müssen hier aber genau differenzieren.Wenn es richtig ist, was Sie sagen, dass man die Gefolg-schaft, die Osama Bin Laden für sich gewinnen kann, zer-stören muss, dann geht das nicht dadurch, dass wir uns aufdem Pfad bewegen, den auch schon andere, wie zum Bei-spiel Samuel Huntington, analytisch beschrieben haben.Das, was Sie gesagt haben, hörte sich so an, als wenn wiruns in einem Clash of Civilisations, in einem Kampf derKulturen, befänden. Aber in Wahrheit findet innerhalb desIslams ein kultureller Kampf statt. In dieser Hinsicht müs-sen wir differenzieren. Wir müssen durch den Dialog derKulturen dafür sorgen, dass die gewaltbesetzte Form desIslamismus keine Chance hat. Diesem Aspekt haben Siein Ihrer Rede aber leider nicht Rechnung getragen.
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Herr Kollege Nolting, Sie sind meines Wissens dochMitglied des Verteidigungsausschusses. Ich glaube, Siehaben gestern genau über das debattiert, wozu Sie hiereben Fragen gestellt haben. Ich würde mir sehr wünschen,dass Sie das, was Ihnen der Verteidigungsminister gesterngesagt hat, wenigstens einmal zur Kenntnis nehmen undnicht genau die Fragen, die Sie gestern schon gestellt ha-ben, hier wiederholen. Das wäre intellektuell redlicher.
Lieber Kollege Pflüger, es reicht nicht aus, voller Emo-tionen zu reden. Man darf sich durch Emotionen nicht hin-reißen lassen, sondern muss ein wenig differenzieren, da-mit man das, was andere als Gefahr sehen, nicht nurwiederholt und bestätigt. Man muss vielmehr die Frageprüfen – das müssen wir in den nächsten Tagen in unse-ren Ausschüssen machen –, was eigentlich das Wichtigsteist, worauf wir eine Antwort finden müssen. Die wichtigs-te Frage ist nicht die Frage nach der völkerrechtlichenSubstanz. Die Grundlage des Beschlusses für EnduringFreedom hat sich nicht verändert. Dies sind Art. 51 derCharta der Vereinten Nationen sowie die beiden Resolu-tionen des Weltsicherheitsrats.Die wichtigste Frage lautet, warum der Kampf gegenden internationalen Terrorismus, wie er sich in seinerjüngsten Form zeigt, auch mit militärischen Mitteln fort-gesetzt werden muss. Ist nicht al-Qaida entscheidend ge-schwächt? Ist nicht die Diktatur der Taliban zerbrochen?Das ist geschehen. Die Diktatur der Taliban in Afghanis-tan in der Form, wie wir sie lange kannten, gibt es nichtmehr. Der hundertfache Tod auf Bali, die Anschläge, diewir auf Djerba erlebt haben, zeigen, dass sich der Terro-rismus neue Ziele sucht und dass er sich Touristen als Zielaussucht. Diese grausamen Terrorakte machen deutlich:Der Kampf ist längst nicht zu Ende. Er ist deshalb nichtzu Ende, weil der Terrorismus seine Ziele noch nicht auf-gegeben hat.Ich würde Ihnen, Herr Kollege Pflüger, empfehlen,einmal nachzulesen, was Sadik Jalal al-Azm, Professorfür Philosophie an der Universität in Damaskus, über dieneue Form des Terrorismus, soweit sie sich aus islamis-tischen Versatzstücken speist, sowie darüber, wie er denTerrorismus empfindet, schreibt. Die jüngste Form desTerrorismus habe bestimmte Methoden. Dieser Terroris-mus greife auch auf Formen zurück, die wir in Europakennen. Die Action directe werde als das einzig verblie-bene Mittel angesehen, die Menschheit aus dem Unglau-ben zu befreien. Der Westen verteidige den Unglauben, inEuropa habe er seine Wurzeln. Der wirkliche Kampf, derhier geführt werde, richte sich dagegen – so dieser Kriti-ker des Islams, der selber aus dem Islam stammt –, dassdie Moderne der arabischen Welt von außen aufgezwun-gen worden sei. Dagegen wehrt sich diese Form des Isla-mismus. Deswegen glaube ich, liebe Kolleginnen undKollegen, dass wir sehr viel differenzierter mit diesemProblem umgehen müssen und sehr viel klarer erkennenmüssen, welche Chancen es gibt, durch den Dialog derKulturen dafür zu sorgen, dass diese Differenzierung in-nerhalb des Islams vorangetrieben wird. Das ist genausowichtig, wenn nicht sogar viel wichtiger, als sich nur mi-litärisch mit dieser extremen, mit dieser terroristischenForm auseinander zu setzen.
Etwas anderes: Der Angriff ist auf die offene Gesell-schaft und auf die Freiheit, die wir leben, gerichtet. DieTouristen in Bali wollten ihre Form des Konsums und derFreiheit leben. Der Terrorismus hat sich dagegen gewehrtund meint, dass er die Form der Freiheit, die wir leben, an-greifen muss. Diese Auseinandersetzung steht uns wahr-scheinlich erst noch bevor. Dieser Auseinandersetzungrichtig zu begegnen hat nicht allein etwas mit dem Instru-ment des Militärs zu tun.Herr Nolting, lassen Sie mich an diesem Punkt noch ei-nes sagen: Wir haben der Regierung mit der Entscheidungzu Enduring Freedom im letzten Jahr die Möglichkeit ge-geben, ein Mandat auszufüllen. Ich sage ganz klar: Ichfinde es gut, wie die beiden VerteidigungsministerRudolf Scharping und Peter Struck mit diesem Mandatumgegangen sind. Sie sind den Ängsten, die wir vor ei-nem Jahr hier erlebt haben, begegnet. Dieses Mandat istin einer Form umgesetzt worden, dass der Rahmen nie-mals überschritten wurde. Die Angst, die hier zu hörenwar, es ginge um eine Militarisierung, hat sich nicht be-stätigt. Ich danke den Verteidigungsministern, die dafürgesorgt haben, dass dieses Mandat verantwortungsbe-wusst genutzt wurde.
Sie haben – das ist nicht zu vergessen – den Soldatin-nen und Soldaten die Möglichkeit gegeben, sich an einemmultilateralen Prozess zu beteiligen. Die Koalition gegenden internationalen Terrorismus aufzubauen ist in der Tateine wichtige Aufgabe unserer Zeit. Dafür brauchen wiraber auch die Fähigkeiten und das Können der Soldatin-nen und Soldaten. Ich bin dankbar, dass die Politik dafürgesorgt hat, dass die Soldatinnen und Soldaten ihre Fähig-keiten in einem Prozess, der zum Frieden führt, einsetzenkönnen. Es ist heute die Aufgabe des Militärs, dafür zusorgen, dass die Menschen eine Chance haben, innerhalbeines Rahmens der Sicherheit so zu leben, dass sie ihregewünschte Form der Freiheit in der Region, in der sie le-ben, auch wirklich verwirklichen können.
Die Soldatinnen und Soldaten haben innerhalb des Man-dats von Enduring Freedom das erreicht, worauf es an-kommt; dafür danken wir ihnen.Der Auftrag – das wissen wir alle – ist voller Gefahren.Die Soldaten beweisen, dass die Bundesrepublik Deutsch-land im Kampf gegen den Terrorismus ein Partner in derinternationalen Koalition ist. Liebe Kolleginnen undKollegen, auf diese Bundesrepublik Deutschland ist Ver-lass. Wir sind die Nation, die nach den USA das stärksteKontingent an Soldatinnen und Soldaten innerhalb derunterschiedlichen Mandate aufweist. Ich sage Ihnen: DieIsolierung, die Sie hier beschrieben haben, hat mit derGert Weisskirchen
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Gert Weisskirchen
Realität auf der Erde und mit der Realität der Mandate, diedie UNO vergibt, absolut nichts zu tun. Das, was Sie hierproduzieren, ist nichts anderes als Wahlkampfgetöse.
Von 3 900 möglichen Soldatinnen und Soldaten ist ge-genwärtig gerade einmal ein Drittel im Rahmen des Man-dats von Enduring Freedom tätig. Sie leisten etwas: Heutesehen wir, dass die territoriale Basis von al-Qaida in Af-ghanistan weitgehend zerschlagen werden konnte. Wiralle wissen, dass diese Basis noch nicht völlig zerstörtwurde. Teilkräfte haben auch in Afghanistan begonnen,sich neu zu gruppieren. Wir sehen, dass an den RändernAfghanistans – im Osten und im Süden – wieder neueNetze geknüpft werden. Dies ist nicht allein dort zu be-obachten. Die neue Form des Terrorismus fordert die in-ternationale Staatengemeinschaft auch weiterhin heraus.Sie muss Strategien gegen die Privatisierung von Gewaltund gegen die Privatisierung von Krieg entwickeln. En-during Freedom – eine militärische Operation – ist ein In-strument und nichts anderes.Gewiss, immer wird es Menschen geben, die hassenund töten, selbst wenn alle Ungerechtigkeiten beseitigtsein werden. Doch ist klar: Täter zu verhindern ist wich-tiger und wirkungsvoller, als Taten zu verhindern. In demMoment, in dem es keine Täter gibt, wird es hoffentlichauch keine Taten geben. Deswegen ist richtig: Präventionkann den Kampf gegen den Terrorismus nicht ersetzen.Der beste Kampf gegen den Terrorismus ist, ihn gar nichterst entstehen oder jedenfalls keinen neuen Terrorismusnachwachsen zu lassen.Man kann den Worten Kofi Annans zustimmen – ichzitiere –:Aber wenn die Welt beweisen kann, ... dass sie be-harrlich an der Schaffung einer stärkeren, gerechte-ren, gütigeren und noch internationaleren Gemein-schaft über alle Grenzen von Religion und Rassehinweg arbeitet, dann wird der Terrorismus sein Zielverfehlen.Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich regionaleKonflikte entschärfen, dass wir uns für mehr Gerechtig-keit einsetzen. Wer dafür streitet, dass sich für alle Men-schen Chancen eröffnen, dass sie ihre Form der Freiheitleben können, der hilft mit, dass Terroristen nicht mehrgehört werden. Deswegen ist es so wichtig, dass zum Bei-spiel das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung beim Bau von Schulen und Kranken-häusern mithilft.DerAufbau einer zivilen Gesellschaft in Afghanistanist nicht möglich, wenn Enduring Freedom nicht fortge-setzt wird. Aus diesem Grunde brauchen wir die Erneue-rung und Verlängerung des Mandats. Wir brauchen es, da-mit es eine Form der Sicherheit gibt, die durch Militärgewährleistet werden kann, damit die Menschen ihre Frei-heit in Afghanistan und in anderen Regionen dieses be-drohten Raumes wirklich durchsetzen können.
Wer einmal – darum möchte ich alle bitten, die sich mitdem Gedanken tragen, lieber Kollege Ströbele, mögli-cherweise mit Nein zu stimmen – mit Menschen aus Af-ghanistan spricht, der sollte ihnen genau in die Augenschauen. Er sollte sich überlegen, woher die Angstkommt, die aus diesen Menschen spricht. Es ist die Angstvon 22 Jahren Krieg, die sie erlitten haben, einer Kettevon Bürgerkriegen. 1979 war der Einmarsch der Sowjets.Es folgte Krieg auf Krieg. Zehntausende von Menschenwurden ermordet. Hunderttausende sind geflohen. EinFünftel der afghanischen Bevölkerung hat bis zum letztenJahr außerhalb Afghanistans leben müssen, weil es ausdieser Zone des Krieges und der Gewalt fliehen musste.Jetzt können die Menschen zurückkehren. Ist das nichtein Zeichen dafür, dass diese Form der äußeren Sicherheitgarantiert werden muss? Wenn sie von innen nicht ge-währleistet werden kann, dann muss die internationaleStaatengemeinschaft dafür sorgen, dass die Flüchtlingezurückkehren können. Das ist ein deutliches Zeichen desErfolges. Das muss man denen sagen, die sich noch dieFrage stellen, ob sie der Verlängerung des Mandats zu-stimmen werden.Mein letzter Punkt. Die Menschen in Afghanistan be-fürchten noch etwas. Ihre Angst ist: Werden wir dasnächste Mal vergessen, wenn die Scheinwerfer derWeltöffentlichkeit nicht mehr auf Afghanistan gerichtetsind? Dieser doppelten Angst – Rückkehr des Krieges unddie Furcht, vergessen zu werden, verlassen zu sein – be-gegnen wir, wenn wir Enduring Freedom zustimmen.
Ausweislich des Protokolls hat der Kollege Hans
Büttner während der Rede von Friedbert Pflüger dazwi-
schengerufen: „Sie sind ein Kriegshetzer!“ Lieber Kol-
lege Büttner, so etwas sollten wir uns bei aller Auseinan-
dersetzung in diesem Parlament nicht antun. Ich erteile
Ihnen einen Ordnungsruf.
Nun hat Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Soganz recht weiß ich nicht, was die aufgeregte Rede desKollegen Weisskirchen bewerkstelligen sollte. Offen-sichtlich richtete sie sich vor allem an die eigene Koali-tion.
Offensichtlich hat man gemerkt, dass nicht mehr wie voreinem Jahr die Substanz vorhanden ist, nach dem eigenenGewissen und der eigenen Gesinnung zu handeln und ei-nige zustimmen und einige ablehnen zu lassen, damit mansozusagen auf beiden Schultern Wasser tragen kann. Dies-mal müssen Sie schon alle mit an Bord nehmen.
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Ich möchte Sie an dieser Stelle darauf hinweisen, dassSie keine Carte blanche von uns bekommen. Sie müssensich Ihre Mehrheit schon selbst besorgen.
Wenn Sie der Meinung sind, dass die Fortsetzung diesesMandats notwendig ist, klären Sie das bitte erst in Ihreneigenen Reihen ab, bevor Sie es als Antrag in das Plenumdes Deutschen Bundestags einbringen.
Um es noch einmal klarzustellen: Eine Carte blancheist nicht erteilt worden. Die grundsätzliche Zustimmung,die der Kollege Pflüger signalisiert hat, hat mit unserergrundsätzlichen Übereinstimmung hinsichtlich der Er-kenntnis zu tun, dass Terrorismus bekämpft werdenmuss. Die handwerkliche Arbeit muss von Ihnen durch-geführt werden. Dann werden wir konkret entscheiden,wie wir uns dazu verhalten. Das wird nächste Woche derFall sein.
Herr Kollege Weisskirchen, ich weiß, dass Professorendazu neigen, Zensuren zu erteilen und professoral zu re-den, aber ich schlage Ihnen vor, die Zensuren, die Sie denKollegen Pflüger und Nolting erteilt haben, wiederzurückzunehmen. Denn die Opposition hat nicht nur dasRecht, sondern auch die Pflicht, im Interesse unseres Lan-des und der Soldaten Fragen zu stellen. Die Fragen, dieder Kollege Nolting gestellt hat, sind durchaus noch zubeantworten. Dazu werden wir in den nächsten Tagennoch einiges hören wollen.Was das Problem betrifft, ob tatsächlich alle Fragen zurZukunft des KSK, des Einsatzspektrums und zum Ein-satzgebiet am Horn von Afrika bereits geklärt wordensind, so sind zwar erste Hinweise erfolgt, aber ich sehetrotzdem gespannt der nächsten Woche entgegen, wennder Verteidigungsminister, Herr Struck, nach Washingtonreisen wird – ich wünsche ihm eine gute Reise und guteGespräche mit Herrn Rumsfeld – und wenn wir dann er-fahren werden, welche Ergebnisse er mitbringt und obsich möglicherweise das eine oder andere in einem ande-ren Licht darstellen wird.Eines habe ich noch vergessen. Ich will Ihnen diese Ar-beit nicht abnehmen, Herr Verteidigungsminister, aber essind eine Dankesschuld und auch Glückwünsche fällig.Möglicherweise wird Herr Rumsfeld keinen großen Wertdarauf legen, dass Sie die besten Glückwünsche ausDeutschland zum Wahlsieg von Präsident Bush und sei-ner Partei bei den Zwischenwahlen ausrichten; deshalbgratuliere ich vorsichtshalber von dieser Stelle aus unse-ren Freunden in den USA.
Zu der sauberen handwerklichen Arbeit, über die wirzu sprechen haben, gehört auch, dass Sie, Herr Fischer,nicht den Eindruck erwecken, Sie würden die Außen- undSicherheitspolitik nach dem Aktenbocksystem betreiben.Ihnen als Chef einer großen Behörde ist ja bekannt, dasses dort Aktenboten gibt, die für den Posteingang und denPostausgang zuständig sind. Die Weiterleitung der Posterfolgt nach dem Motto „First in, first out“, und entspre-chend wird gehandelt. So kann die Außenpolitik abernicht funktionieren. Sie verbrämen Ihre Politik stets mitdem Begriff Prioritätensetzung nach dem Motto „Lasstuns zunächst die Operation Enduring Freedom zu Endeführen; dann schauen wir, was im Irak oder sonst ir-gendwo los ist“. Leider handelt es sich hierbei um Hy-dren, denen mehrere Köpfe wachsen. Das heißt, manmuss zwar das eine tun, darf aber das andere nicht lassen.Sie werden sich auch nicht mit der Erklärung „Ohnemich! Ich mache dabei nicht mit“ aus der internationalenEntwicklung verabschieden können. Das ist eine Übung,die seit den 50er-Jahren bzw. seit den Ostermärschen Tra-dition hat und die Sie in den 70er- und 80er-Jahren inFrankfurt auf der Zeil dokumentiert haben. Das mag zwarIhrem Verständnis von Außenpolitik entsprochen haben,geholfen hat es unserem Lande aber nicht.
Genauso wenig hilft es, diese „Ohne-mich-Haltung“ jetztfortzusetzen. Sie sind doch gefordert festzustellen, wel-che Konsequenzen eine mögliche Resolution des Si-cherheitsrates der Vereinten Nationen hat, weil derBundeskanzler, der offensichtlich bereits aus dieser De-batte geflüchtet ist, die große Chance vertan hat, die derKollege Pflüger unterstrichen hat, nämlich die Chance ei-ner Annäherung an die französische Position und der Ent-wicklung einer europäischen Position, um im Sinne derInteressen unseres Landes wieder ins Spiel zu kommen.Nachdem er die vertan hat, stehen Sie doch außen vor. Siewissen doch genauso gut wie wir, dass der zweite Teil vonEnduring Freedom eben nicht abgesetzt von anderen in-ternationalen politischen Entwicklungen gesehen werdenkann. Wenn sich im IrakEntwicklungen ergeben, was wirnicht anstreben, müssen doch folgende Fragen beantwor-tet werden: Was ist mit den Spürpanzern in Kuwait?
Ist das passiv oder nehmen wir aktiv teil?
Was ist, wenn Giftgas eingesetzt wird? Ich habe vorkurzem – der eine oder andere hat solche Bilder vielleichtauch schon einmal gesehen – mit dem Untersuchungsfüh-rer der Vereinten Nationen, einem Medizinprofessor ausGent, Bilder über die Giftgaseinsätze von SaddamHussein gegen den Iran gesehen, die einem den Appetitvergehen lassen. Da sind nüchterne Fragen gestellt, übri-gens bis hin zu der Frage, ob die Ausrüstung, auch dieNATO-Ausrüstung, ausreicht, damit sich die Soldaten ge-gen solche Dinge, von denen wir alle wissen, dass sie inden Arsenalen von Herrn Saddam Hussein vorhandensind, selber schützen können. Das gehört für mich zumHandwerk und das zähle ich zum Thema Aufrichtigkeitvor der Öffentlichkeit und vor uns selbst. Wenn Sie, HerrAußenminister, die Öffentlichkeit, die an den FernsehernChristian Schmidt
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Christian Schmidt
und sonst wo zuhört, schon ansprechen, dann müssen Sieauch diese Fragen beantworten.
Übrigens sind die wesentlichen Abrüstungsschritte der80er- und der 90er-Jahre von einer christlich-liberalenKoalition in diesem Lande mit nach vorne gebracht wor-den. Ich darf hier daran erinnern, dass sowohl das Atom-teststoppabkommen, das mit vielen Problemen behaftetwar und leider – vor der jetzigen Administration – inWashington gescheitert ist, als auch einige andere Dingevon den Regierungen Kohl/Genscher und Kohl/Kinkelbetrieben worden sind. Die Legenden, die Sie hier zu bil-den versucht haben, wollen wir gleich einmal zurückwei-sen und ablegen.Selbstverständlich geht es auch um die Sicherheit derSoldaten; das Thema muss fast an erster Stelle stehen.Der Verteidigungsminister hat, was ihm im Kabinett si-cherlich zur Ehre gereicht, diese Debatte eröffnet. Feder-führend ist allerdings der Außenminister. Ich habe ge-dacht, jetzt kommt jemand und sagt: Unsere Soldatenstehen unter diesen und jenen Gefährdungen, vielleichtunter mehr Gefährdungen als noch vor einem Jahr, unddeswegen möchten wir diese und jene Schritte tun. Darü-ber werden wir noch einmal reden müssen, angefangenbei den Stehzeiten der Soldaten. Das alles mag uns hier alsLappalie erscheinen, aber sechs Monate in Afghanistanoder sonst wo fern der Heimat, mit allen familiären Proble-men, veranlassen uns schon – ich glaube, zu Recht – zu sa-gen: in Zukunft flexibler und vier Monate als Grundregel.
Eine letzte Bitte: In der Tat ist es gut, wenn die Solda-ten bei ihrem Einsatz wissen, dass wir alle hinter ihnenstehen und unsere Fürsorgepflicht wahrnehmen. Abereine Bemerkung kann ich mir nun nicht verkneifen. HerrKollege Weisskirchen, Sie haben die Entwicklungspolitikzitiert. Der amerikanische Präsident hat, übrigens von die-sem Pult aus, noch vor einigen Monaten den Appell an unsalle gerichtet, auch die Entwicklungspolitik als Instru-ment von Friedenspolitik zu sehen. Er leistet in diesemBereich finanziell vielleicht mehr als diese Bundesregie-rung. Aber die Chefin des Entwicklungshilfeministeri-ums, Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, hat, wenn ich michrichtig erinnere – das genaue Zitat habe ich nicht mehr imKopf –, vor ziemlich genau einem Jahr, wie viele andereim rot-grünen Spektrum, noch vor Enduring Freedom, vormilitärischen Eingriffen in Afghanistan gewarnt. Es gabdas Wort von der drohenden humanitären Katastrophe.Heute hört sich das alles ganz anders an. Im besten Falle,Herr Weisskirchen, können Sie sagen: Ich, Weisskirchen,habe mit meinen Kollegen dazugelernt, ich bin schlauergeworden. Kein Mensch verhindert das, das passiert jedenTag. Arbeiten Sie weiter daran; Sie haben noch viel zu tun.
Ich erteile das Wort der fraktionslosen Abgeordneten
Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dievorangegangene Debatte über Bundeswehreinsätze inAfghanistan ist vielen in diesem Hause sicherlich noch inErinnerung. Der Bundeskanzler verknüpfte damals denMarschbefehl mit der Vertrauensfrage. Es war sehr vielvon Nötigung die Rede.Danach bemühten sich insbesondere die Fraktionsspit-zen vom Bündnis 90/Die Grünen, den Charakter desAfghanistan-Mandats umzudeuten. Fast mochte manglauben, der Einsatz erfolge auf Bitte des Weltfrauengip-fels und – ich betone dies – ausschließlich zum Wohletatsächlich unterdrückter Frauen in Afghanistan. Die zivi-len Opfer des Antiterroreinsatzes wurden bislang übri-gens nicht erwähnt. Auch daran sei hier erinnert: Eigent-lich sollte es darum gehen, jener Terroristen habhaft zuwerden, die für die Anschläge am 11. September in denUSA verantwortlich sind und in Afghanistan vermutetwurden.Einen Merksatz aus der Debatte im Dezember des ver-gangenen Jahres will ich nicht vergessen. Damals versi-cherte der Bundeskanzler ausdrücklich, deutsche Solda-ten würden auf keinen Fall an Kampfeinsätzenteilnehmen. Seit anderthalb Wochen lesen wir anderes, im„Spiegel“ ebenso wie in der „FAZ“: Es geht doch umKampfeinsätze; es geht um einen eigenständigen Beitragdeutscher KSK-Kräfte; es geht hier heute also um einKriegsmandat für mindestens ein Jahr.Gewiss, im heute vorliegenden Antrag liest sich dasnicht ganz so deutlich; es wird aber auch nicht ausge-schlossen. Also halte ich fest: Minister Struck hat – so leseich es in den zitierten Artikeln – die von mir genanntenPressemeldungen bestätigt. Ich stelle fest: Er hat auchheute kein glaubwürdiges Widerwort dazu gefunden. DerBundestag entscheidet also keineswegs über die bloßeVerlängerung eines ablaufenden Mandats. Es geht umeine neue Qualität: Es geht um Kriegseinsätze.Auch einen weiteren Verdacht schaffen Sie mit diesemAntrag und der heutigen Debatte nicht aus dem Raum:Die rot-grüne Regierung setzt auf Vernunft und verwei-gert sich bisher einem Krieg gegen den Irak – so weit, sogut. Offenbar geschieht das sehr zum Verdruss der Oppo-sition zur Rechten. Nun klemmt es aber seit dem Neinzum Irak-Krieg im Verhältnis zwischen den USA und derBundesrepublik. Das Ganze, was jetzt abläuft, riecht ganzübel nach einem Deal: Deutschland entlastet die USAmi-litärisch in Afghanistan und anderswo, damit diese sichweiter auf den Irak einschießen können. Sie wissen, dassdie „PDS im Bundestag“ dem nicht zustimmen wird.
Vor Jahresfrist war viel von der Not der Menschen inAfghanistan, vom drohenden Winter und von den Minen-opfern die Rede. Auch heute droht der Winter, auch heuteherrscht bittere Not und auch heute werden MenschenOpfer von Minen. Wir beide, die Vertreterinnen der PDS,können keine Debatte zu diesem Thema hier im Bundes-tag beantragen. Aber ich finde, es wird höchste Zeit, dasssich der Bundestag auch damit beschäftigt. Vielleicht fin-
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den sich Kolleginnen und Kollegen beim Bündnis 90/DieGrünen oder bei der SPD, die bereit sind, auch diese Fra-gen auf die Tagesordnung zu setzen.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/37 an die in der Tagesordnung aufgeführ-ten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes für mo-derne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt– Drucksache 15/25 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-schaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zungAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes fürmoderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt– Drucksache 15/26 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-schaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zungAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOc) Erste Beratung des von der Fraktion derCDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Aktivierung kleiner Jobs
– Drucksache 15/23 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
InnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-schaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zungAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOd) Erste Beratung des von den Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, WolfgangBörnsen , weiteren Abgeordneten undder Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zum optimalen Fördernund Fordern in Vermittlungsagenturen(OFFENSIV-Gesetz)– Drucksache 15/24 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
SportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-schaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zungAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOe) Beratung des Antrags der Abgeordneten RainerBrüderle, Dirk Niebel, Gudrun Kopp, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPHandeln für mehrArbeit– Drucksache 15/32 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-schaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesmi-nister Wolfgang Clement das Wort.
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kol-legen! Wir eröffnen heute die Debatte über einen Gesetz-Petra Pau
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Bundesminister Wolfgang Clemententwurf zur Förderung moderner Dienstleistungen aufdem Arbeitsmarkt. Das ist das erste große Gesetzespaket,das zur tiefgreifendsten Strukturänderung des Arbeits-marktes in Deutschland hinführen soll.Was wir vorlegen, stützt sich, wie Sie alle wissen, aufdie Ergebnisse der Hartz-Kommission. Ich möchte zuBeginn dieser Debatte gern darauf hinweisen, dass es derKommission gelungen ist, das bisherige Lagerdenken zuüberwinden und einen Konsens zwischen den gesell-schaftlichen Gruppen über zu ziehende Konsequenzen zuentwickeln. Meine Vorstellung und Hoffnung ist, dass unsein solcher Konsens bei diesem überragend wichtigen ar-beitsmarktpolitischen Thema des Kampfes gegen die Ar-beitslosigkeit ebenfalls gelingt.
Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist esüberaus wichtig, dass wir uns vornehmen, möglichstgleich zu Anfang Missverständnisse, die es offensichtlichgibt, auszuräumen, keine Scheingefechte oder Gefechte,die keine tief greifenden Auseinandersetzungen zulassen,zu führen und, wenn nur irgendwie möglich, zu gemein-samen Lösungen zu kommen. Das eilt, wie wir alle wis-sen. Die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland duldet kei-nen Aufschub unserer Aktivitäten.Einige Schritte sind bereits im Sinne dessen, was die sogenannte Hartz-Kommission, also die Kommission unterLeitung von Peter Hartz, uns empfohlen hat, getan. Derneue Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit ist dabei, dieArbeit der Anstalt effektiver und effizienter zu gestalten.Die Kreditanstalt für Wiederaufbau bietet bereits, wie Siewissen, das Modell eines Jobfloaters an. Das Programmmit dem Namen „Kapital für Arbeit“ gibt ja insbeson-dere mittelständischen Unternehmen zusätzliche Anreize,Arbeitslose einzustellen. Weil es daran sowohl in den De-batten hier als auch öffentlich Kritik gegeben hat, weiseich darauf hin, dass bei der Kreditanstalt für Wiederauf-bau inzwischen Hunderte von Anfragen zur Teilnahme andem Programm „Kapital für Arbeit“ vorliegen. Deshalbscheint mir die Hoffnung, dieses Programm könne erfolg-reich sein und für an die 50 000 zusätzliche Arbeitsplätzein Deutschland sorgen, nicht unbegründet.
Heute geht es darum, einen weiteren, einen sehr großenSchritt voranzugehen. Es liegen die Gesetzentwürfe derKoalitionsfraktionen vor, mit denen der erste große Bau-stein des Konzepts der Kommission „Moderne Dienstleis-tungen am Arbeitsmarkt“ umgesetzt werden soll. DiesemSchritt werden weitere folgen: Als Nächstes werden diegesetzlichen Rahmenbedingungen für eine weitere Mo-dernisierung der Bundesanstalt für Arbeit geschaffen.Wir wollen dann die Selbstverwaltung auch auf örtlicherEbene reformieren und bei der Bundesanstalt weg von ei-ner monetären Steuerung hin zu einer effektiven Ziel-steuerung mit einem starken Controlling kommen. Außer-dem wollen wir weg von dem starren Amtsapparat derArbeitsverwaltung hin zu einem kundenorientierten Han-deln.Der dritte große Schritt wurde auch bereits angekün-digt: Bis Anfang 2004 müssen wir das Nebeneinander vonArbeitslosen- und Sozialhilfe überwunden und beides ineinem neuen Arbeitslosengeld II,wie der technische Be-griff im Konzept der Hartz-Kommission lautet, zusam-mengefasst haben. Es ist sinnvoll, die Arbeitslosenhilfeund die Sozialhilfe, jedenfalls soweit sie arbeitsfähigenSozialhilfeempfängern zukommt, in einer Leistungzusammenzufassen. Es ist auch klar, dass wir uns vorge-nommen haben, dieses Arbeitslosengeld II oberhalb desbisherigen Satzes der Sozialhilfe zu positionieren, undzwar auch materiell und finanziell. Vorbereitende Maß-nahmen für diese Zusammenführung enthalten schon diejetzt vorliegenden Gesetzentwürfe. Weil wir aber die fi-nanziellen Folgen insgesamt berücksichtigen müssen, istes im Hinblick auf eine generelle Lösung sinnvoll, die Er-gebnisse der Kommission zur Gemeindefinanzreformabzuwarten und die endgültige Zusammenführung vonArbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Bereich der Ar-beitsfähigkeit erst zum 1. Januar 2004 wirksam werden zulassen.Heute geht es um eine grundlegende Erneuerung derRahmenbedingungen für eine rasche und nachhaltige Ver-mittlung von Arbeitslosen in Arbeit, also um eine neueBeschäftigungspolitik. Zugleich geht es auch um die Kon-solidierung der Haushalte der Bundesanstalt und des Bun-des. Der Umfang dieser Konsolidierungsbemühungenliegt, wie von mir schon mehrfach öffentlich bestätigt, beirund 6 Milliarden Euro. Dabei sollen Arbeitnehmer undArbeitgeber trotz aller Sparnotwendigkeiten erstklassigeDienstleistungen erhalten. Um das zu erreichen, verbes-sern wir den Service und die Vermittlungsarbeit der Ar-beitsämter. Angebot und Nachfrage sollen also schnellerund besser befriedigt werden.
Es kann und sollte auch zukünftig nicht sein, dass Ar-beitslose durchschnittlich mehr als 33 Wochen ohne Jobbleiben. Deshalb muss die Vermittlungsgeschwindigkeitdeutlich erhöht werden.
Jede Woche, die wir Arbeitslose früher vermitteln, bedeu-tet – aufs Ganze gerechnet – 115 000 Arbeitslose wenigerund entspricht einer Einsparung von etwa 1 MilliardeEuro. Deshalb müssen wir auf ein höheres Tempo, einenfrüheren Beginn der Vermittlungsarbeit drängen.Wir nutzen zudem die Beschäftigungspotenziale derZeit- und Leiharbeit, um Arbeitslosen den Wiedereinstiegins Arbeitsleben zu erleichtern. Gleichzeitig wollen wirmit diesem Gesetzespaket sozial abgesicherte Wege in dieSelbstständigkeit und die Dienstleistung in privatenHaushalten fördern. Dass die Bekämpfung der Schwarz-arbeit dabei ein wesentliches Anliegen ist, liegt auf derHand.Die Gesetzentwürfe zur Umsetzung der Hartz-Vor-schläge, die wir heute beraten, bringen einen wesentli-chen Impuls für eine neue Beschäftigungspolitik inDeutschland. Es geht um mehr Arbeitsplätze, um neueArbeitsplätze, um ein größeres Wachstum. Das ist ein we-sentlicher Teil unserer Politik.
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Konkret heißt das:Wir wollen flächendeckend Jobcenter einrichten.Diese Jobcenter sollen künftig die erste Adresse auf demArbeitsmarkt sein. Das wird zum Nutzen all derer sein,die arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Siewerden künftig einen einzigen Ansprechpartner haben,der die Integration in den Arbeitsmarkt in die Handnimmt. Es sollen also schon jetzt – bereits vor der Zu-sammenführung von Arbeitslosenhilfe und SozialhilfeAnfang 2004 – einheitliche Anlaufstellen geschaffen wer-den. In vielen Ländern, Städten und Gemeinden geschiehtdas bereits.Wir haben mit der Einführung dieser Methode bereitsgute Erfahrungen gemacht. Verschiedene Projekte imRahmen der Modellvorhaben zur Verbesserung der Zu-sammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozial-hilfe zeigen, dass so eine bessere Betreuung arbeitsloserMenschen möglich wird. Wir wollen dafür sorgen, dass esab sofort mehr solcher Stellen gibt.
Ein wesentliches Hindernis dabei ist – das haben dieProjekte gezeigt – die Begrenztheit des Datenaustauscheszwischen den Behörden. Deshalb haben wir jetzt in denGesetzentwürfen vorgesehen, dass dieser Datenaustauschuneingeschränkt möglich wird. Es liegt auf der Hand, dassdies wichtig ist.Die Vermittlungsgeschwindigkeit – ich habe es bereitsgesagt – muss erhöht werden. Gekündigte Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer gehen, wie wir wissen, oft nichtsofort zum Arbeitsamt. Ich kann das verstehen; wer gehtschon gerne zum Arbeitsamt? Dieser unangenehme undvielen Menschen fremde Gang wird nicht selten auf denersten Tag der Arbeitslosigkeit verschoben. Aber so gehtwertvolle Zeit verloren, die sinnvoll genutzt werdenmuss. Der Vermittlungsprozess muss sofort nach derKündigung einsetzen und mögliche Vermittlungshemm-nisse müssen sofort erkannt werden. Das heißt, bereits dieZeit zwischen Kündigung und Beendigung der Arbeitmuss aktiv genutzt werden.
Nur so kann es gelingen zu erreichen, dass Arbeitslosig-keit erst gar nicht entsteht.Wir wollen deshalb, dass sich Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer unverzüglich beim Arbeitsamt melden.Nach Eingehen der Kündigung – das ist unsere gesetzli-che Aufforderung – müssen sie diese in Zukunft beim Ar-beitsamt melden, möglichst schon – so schwer das fallenmag – an dem Tag, an dem sie ihre Kündigung erhalten.Um dies zu erreichen, müssen wir einen gewissen Druckausüben: Eine verspätete Meldung wird in Zukunft, so-bald der Gesetzentwurf Gesetzeskraft erreicht hat, Ein-bußen beim Arbeitslosengeld zur Folge haben.Aber auch die Arbeitgeber, die kündigen, müssen ihrerVerantwortung gerecht werden.
Wir erwarten von den Arbeitgebern, dass sie gekündigteMitarbeiterinnen und Mitarbeiter in zumutbaren Grenzenzur Stellensuche und zur Teilnahme an Maßnahmen desArbeitsamtes freistellen.Darüber hinaus müssen Arbeitslose verstärkt in diePflicht genommen werden. Wir müssen stärker auf dieEigenbemühungen von Menschen drängen, die von Ar-beitslosigkeit betroffen sind. Deshalb verlangen wir mitdiesem Gesetzentwurf eine größere Bereitschaft zur Mo-bilität, die wir auch fördern. Mobilität wird besondersdann erwartet, wenn die familiäre Situation einen Wech-sel des Wohnortes über den üblichen Pendlerbereich hi-naus zulässt. Das gilt vor allen Dingen für ledige, jüngereMenschen, denen dies abverlangt werden kann.Zudem muss künftig ein Arbeitsloser bzw. eine Ar-beitslose nachweisen, warum er oder sie ein Arbeitsange-bot für unzumutbar hält. Die Beweislast für die Zumut-barkeit der Arbeit liegt nicht mehr beim Arbeitsamt,jedenfalls dann nicht, wenn die Gründe für die Verweige-rung einer Arbeitsaufnahme in der Sphäre des Arbeitslo-sen bzw. der Arbeitslosen liegen. Dies ist ebenfalls einewesentliche Veränderung, deren logische Konsequenz ist,dass wir die starren Sperrzeitregelungen in Form von ab-gestuften Sanktionen flexibler handhaben werden, sodassangemessen auf eine mangelnde Kooperationsbereit-schaft von betroffenen Menschen reagiert werden kann.Das heißt, wir drängen auf eine enge Kooperation zwi-schen dem Arbeitslosen und der Arbeitsverwaltung. Esmuss klar werden, dass die Hauptaufgabe der Arbeitsver-waltung die Arbeitsvermittlung und nicht die Finanzie-rung von Arbeitslosigkeit ist.
Deswegen brauchen wir die Kooperationsbereitschaftaller, auch und vor allen Dingen der Betroffenen.Auch Zeitarbeit und Leiharbeit sind grundsätzlichzumutbar. In Zeitarbeit und Leiharbeit liegt ein erhebli-ches Beschäftigungspotenzial in Deutschland. Wir habendieses Potenzial lange nicht ausgenutzt, wie die Beispielein vielen hoch entwickelten Volkswirtschaften um unsherum zeigen:
in Frankreich, in den Niederlanden und in vielen anderenStaaten.
– Hören Sie erst einmal zu! Dann können wir uns viel-leicht in unseren Vorstellungen annähern. Das ist auf die-sem Feld besonders wichtig.
In jedem Arbeitsamtsbezirk soll nach dem Gesetzent-wurf in Zukunft eine PSA, eine Personal-Service-Agen-tur, eingerichtet werden. Wir verfolgen mit diesen Agen-turen mehrere Ziele:Erstens. Wir verstehen vermittlungsorientierte Zeitar-beit als eine Einstiegschance für Arbeitslose in neue Be-Bundesminister Wolfgang Clement
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Bundesminister Wolfgang Clementschäftigung und durchaus auch als eine Einstiegschancein dauerhafte Beschäftigung. Es gibt diese Chance, wiealle Erfahrungen zeigen.Zweitens. Wir erschließen mit den Personal-Service-Agenturen zusätzliche Möglichkeiten zur betriebsnahenQualifizierung, entweder in der Entleihphase beim Ent-leiherbetrieb oder aber auch in den entleihfreien Zeiten,die in den Zeitarbeitsunternehmen, in denen der Arbeits-lose beschäftigt sein wird, sinnvoll für Qualifizierung ge-nutzt werden können.Drittens. Wir wollen die prinzipielle Orientierung aufEqual Pay – das ist der entscheidende Punkt, den wir sehrernsthaft erörtern müssen –, wie sie in den acht Staaten umuns herum, in denen es Zeit- und Leiharbeit gibt, geregeltist und wie sie eine Richtlinie vorsehen wird, die dieEuropäische Kommission vorbereitet.
Wir wollen mit prinzipiell gleicher Bezahlung für Leih-und Zeitarbeit wie für die Stammbelegschaften der Un-ternehmen und mit der Orientierung auf Tarifverträge dieArbeitsbedingungen in diesem Bereich für ganz Deutsch-land grundlegend regeln. Wir wollen eine Regelung zumNutzen aller.Mithilfe des Abschlusses von Tarifverträgen und derOrientierung auf Equal Pay kann von den Begrenzungendes Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes weitestgehendabgewichen werden. Wenn wir diesen Weg gehen – mirliegt daran, dass dies erkannt wird –, können wir die bis-herigen grundlegenden Begrenzungen der Zeit- und Leih-arbeit in Deutschland aufheben – ich nenne beispielsweiseSynchronisationsverbot, Befristungsverbot, Wiederein-stellungsverbot, Befristung der Dauer der Leih- und Zeit-arbeit – und können einen Deregulierungsprozess inGang setzen, der aber verantwortbar ist und der für die be-troffenen Menschen einen vernünftigen Weg in die Zu-kunft darstellt.Es ist der Aufbruch nach Europa. So hat es beispiels-weise der Gründer von Adecco, dem in Deutschlandzweitgrößten und weltweit größten Zeitarbeitsunterneh-men, gesagt. Er hat davon gesprochen, dass es der Auf-bruch in die richtige Richtung sei. Diese Richtung heißtEuropa. Wir stehen unmittelbar vor einer europäischenRegelung, die die gerade von mir angesprochenen Punkteebenfalls vorsehen wird.
Die Zeit- und Leiharbeit gehört zu den Hauptthemen.Es hat in der Zwischenzeit viele Äußerungen dazu undviel Kritik an diesem Weg gegeben. Ich möchte ein paarKritikpunkte aufgreifen.Um es klar zu sagen: Die Arbeitsämter sollen grundsätz-lich – das ist die Regel – auf private Zeitarbeitsunterneh-men zurückgreifen. Im Bonner „General-Anzeiger“ – wieSie wissen, wohne ich in Bonn – habe ich ein Interviewmit unserer Kollegin Frau Dr. Merkel gelesen, in dem siesagt, dass unser Weg über die PSA falsch sei. Sie sagt,dass sie es für richtig hielte, dass die Vermittlung von Leih-arbeitskräften von bestehenden privaten Firmen über-nommen wird.
Ich muss schon fragen: Wo liegt da der Gegensatz? Sie be-haupten, dass wir mit dem Vorhaben von Rot-Grün in eineVerstaatlichung der Beschäftigung geraten und dass dieLeiharbeit Mittel zum Zweck der Bereinigung der Ar-beitslosenstatistik wird.
Nachdem Sie sich beruhigt haben, möchte ich Sie fra-gen: Was meinen Sie damit? Die Personal-Service-Agen-turen, so steht es in dem Gesetzentwurf, werden in der Re-gel private Zeitarbeitsunternehmen sein.
Frau Kollegin Merkel, meine Bitte ist, dass wir diesenwichtigen Punkt in Ruhe besprechen können. Nur wennes vor Ort kein Zeitarbeitsunternehmen gibt, das dieseAufgabe übernehmen kann, wird die Arbeitsverwaltungzunächst einmal versuchen, Kooperationen mit Zeitar-beitsunternehmen einzugehen. Nur wenn auch das nichtgelingt, wird es eine Initiative der Arbeitsverwaltunggeben, damit vor Ort eine Vermittlung in Zeit- und Leih-arbeit stattfindet. Ich bitte, das wirklich ernst zu nehmen.Der vorliegende Gesetzentwurf ist in dieser Hinsicht je-denfalls aus meiner Sicht klar und eindeutig.
Zum Zweiten sagten Sie auf die Frage „Was halten Sievon der Forderung ‚Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘?“– ich nehme das einmal auf, damit wir zu einer vernünf-tigen Debatte kommen –:Die Leiharbeit soll Langzeitarbeitslosen den Einstiegin eine reguläre Beschäftigung erleichtern.Hier besteht ein grundlegender Irrtum. Leiharbeit undZeitarbeit sind natürlich für alle Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer, die ansonsten nicht in Arbeit gebracht wer-den können, gedacht und keineswegs nur für Langzeit-arbeitslose. Deshalb ist es, wenn ich über die Vermittlungvon Arbeitnehmern spreche, auch richtig, prinzipiell eineOrientierung auf Equal Pay, auf gleichen Lohn, vorzu-nehmen und dafür zu sorgen, dass es keine Unterschiedezwischen den entliehenen Arbeitnehmern und der Stamm-belegschaft gibt.Allerdings werden im Gesetzentwurf – dies bitte ichzu beachten; Herr Schleyer hat dies kritisiert; ich werdeihn heute Abend sehen und mit ihm darüber sprechen –zwei Ausnahmen von dieser Regel gemacht. Wir habendie Orientierung an der Stammbelegschaft vorgesehen;das ist die Regel. Jetzt kommt die erste Ausnahme. Sielautet: In den ersten sechs Wochen kann vonseiten des ent-
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leihenden Zeitarbeitsunternehmens auf einen Lohn inHöhe von mindestens des Arbeitslosengeldes hinunterge-gangen werden. Die zweite Ausnahme in diesem Gesetz-entwurf ist: Von diesen Regeln kann, und zwar gerade imInteresse von Langzeitarbeitslosen und anderen, abgewi-chen werden, allerdings auf der Basis von Tarifverträgenbzw. durch eine tarifvertragliche Regelung.Wer das nicht will, der muss sagen, ob er diesen Be-reich generell ungeregelt – auch tarifvertraglich ungere-gelt – organisieren will. Denn die Realität heute ist ja: Wirhaben an die 1 000 Zeitarbeitsunternehmen und bei etwa30 gibt es Tarifverträge. Das kann nicht im Sinne des Er-finders sein, Herr Kollege Laumann. Wir brauchen hiervielmehr die Entwicklung zu mehr Tarifverträgen.
Meine Bitte ist, dass Sie dies ernst nehmen und denWeg, den wir gehen wollen, beachten. Wir orientieren unsgrundsätzlich an Equal Pay. Wir würden uns außerhalbder gesamten europäischen und internationalen Orientie-rung bewegen, wenn wir da etwas anderes vorsehen wür-den. Deshalb haben wir diese zwei Stufen vorgesehen:zum einen die Probezeit zu Anfang – so wird sie wahr-scheinlich auch in der europäischen Richtlinie, die in die-sem Zusammenhang entwickelt wird, enthalten sein – undzum anderen die Möglichkeit, im Rahmen von Tarifver-trägen davon abzuweichen.Sie können nicht davon ausgehen, dass dies von denGewerkschaften – von welcher auch immer – prinzipiellnicht genutzt würde. Sie sollten ernst nehmen, was bei-spielsweise der Vorsitzende der IG BCE, Herr Schmoldt,erklärt hat, nämlich dass die Gewerkschaften selbstver-ständlich bereit sind, für bestimmte schwer vermittelbareGruppen, etwa für Langzeitarbeitslose, im Rahmen vonTarifverträgen Löhne festzulegen, die unterhalb des Ni-veaus der Löhne der Stammbelegschaft liegen. Er hat aus-drücklich darauf hingewiesen – das sollten Sie zur Kennt-nis nehmen; denn ansonsten kommen wir nicht weiter; eshat doch keinen Zweck, immer die gleichen Klischeesauszutauschen –:
Wir sind bereit, dies zu tun. – Sie können Herrn Schmoldtbeim Wort nehmen. Er hat auch in verschiedenen anderenBereichen seine Zustimmung für solche tariflichen Be-wegungen nicht nur signalisiert. Schon heute wird das vonder IG BCE praktiziert.Deshalb liegt mir überaus daran, hier nicht eine Dis-kussion aufkommen zu lassen, die nicht zuträglich ist.Klar ist, dass ein Unternehmen wie Adecco, das weltweitgrößte Zeitarbeitsunternehmen, den Weg, den wir vorge-schlagen haben, begrüßt. Klar ist, dass das UnternehmenRandstad diesen Weg mitgeht. Klar ist – das wussten wirvorher; jeder Experte, Herr Kollege Laumann, hat dasvorher gesagt –, dass die Zeitarbeitsunternehmen, dieheute völlig tarifvertragsfrei arbeiten, versuchen werden,gegen diesen Weg zu opponieren.Meine Bitte ist, dass wir als zivilisierte Menschen miteiner entsprechend entwickelten Tarifkultur in Deutsch-land nicht sagen: Wir bewegen uns völlig ohne Tarifver-träge. – Das ist ein Weg, den keiner von uns verantwortenkann. Den können auch Sie von der Opposition nicht ver-antworten.
Wir werden vermutlich heute noch darüber streiten;das ist in Ordnung. Ich werde kein Gesprächsangebot aus-lassen, insbesondere nicht ein Gespräch mit HerrnSchleyer, der unser Vorhaben kritisiert.
Nach meinem Verständnis ist das, was wir hier vorlegen,mehr als das, was die Hartz-Kommission vorgeschlagenhat. Wir machen nämlich erstens den Weg in die Zeit- undLeiharbeit für den gesamten Bereich und nicht nur imRahmen der PSA frei. Wir heben die bisher auf diesemSektor bestehenden Einschränkungen der Arbeitnehmer-überlassung komplett auf. Das geht über den Vorschlagder Hartz-Kommission hinaus. Wir orientieren uns zwei-tens an Equal Pay – das tut übrigens auch die Hartz-Kom-mission nach einem Jahr –, aber wir geben gleichzeitig dieMöglichkeit, durch Tarifverträge nach oben und nach un-ten davon abzuweichen. Wir alle wissen, dass es um dieSchwervermittelbaren geht, für die dann Sondertarifver-träge geschlossen werden müssen.
Das muss ich von einem Zeitarbeitsunternehmen inDeutschland verlangen können.
Darüber müssen wir mit denjenigen, die das nicht wollen,ernsthaft diskutieren. Ich bin dazu bereit. Das werden wirauch tun.Aber bitte machen wir uns nichts vor: Die Zeitarbeits-unternehmen, die bereit sind, in die Vermittlungsarbeiteinzusteigen, Adecco, Randstad und andere – ich kann Ih-nen die nordrhein-westfälischen gleich dazu nennen –,werden in diesem Prozess mitarbeiten. Es ist wichtig, dassdas geschieht. Auf diesem Feld gewinnen wir keine par-teipolitischen Schlachten. Lassen Sie uns lieber versu-chen, hier zu wirklichen Fortschritten zu kommen unddarüber miteinander in einer vernünftigen Weise zu spre-chen!
Meine Damen und Herren, oftmals hilft die Möglich-keit einer solchen Vermittlung nicht weiter. Oftmals gehtes darum, Defizite in der beruflichen Bildung auszuglei-chen, einen Berufsabschluss nachzuholen oder sich neueQualifikationen anzueignen, wenn ein einmal erzielterBerufsabschluss keine Verwendung mehr findet. Deshalbgeht es auch um die Förderung der beruflichen Weiter-bildung Arbeitsloser. Gerade diese Weiterbildungsmaß-Bundesminister Wolfgang Clement
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Bundesminister Wolfgang Clementnahmen durch die Bundesanstalt für Arbeit sind aber, wieSie aufgrund des letzten Berichts des Bundesrechnungs-hofes wissen, in massive Kritik geraten. Die Maßnahmengelten als uneffektiv; es ist sogar von Korruptionsgefähr-dung die Rede.Deshalb werden wir das Recht der Weiterbildung deut-lich vereinfachen. Unnötiger Verwaltungsaufwand sollvermieden werden. Wir fördern den Wettbewerb zwi-schen den Bildungsträgern, schaffen Gestaltungsspiel-räume für die Arbeitsämter vor Ort und führen Bildungs-gutscheine für Arbeitslose ein; sie sollen sich freizwischen zugelassenen Maßnahmen entscheiden können.Wir verzichten auf detaillierte Regelungen, richten aller-dings unabhängige Zertifizierungsagenturen ein, um demWildwuchs, den es im Bereich der Weiterbildung gibt,entgegenzuwirken. Im Vordergrund stehen für uns die Ei-genverantwortung und die Wahlfreiheit. Den betroffenenMenschen soll bei der Weiterbildung ein größerer Spiel-raum eingeräumt werden.Im Gegenzug müssen wir von den Arbeitslosen aberauch Zugeständnisse erwarten können. Wir erwarten, dasssie sich so früh wie möglich um eine rasche Weiterquali-fizierung oder Neuqualifizierung bemühen. Deshalb siehtder Gesetzentwurf vor – natürlich auch aus Gründen derHaushaltskonsolidierung –, dass das bisher gezahlte An-schlussunterhaltsgeld in dieser Form entfällt und das Un-terhaltsgeld teilweise auf das bisherige Arbeitslosengeldangerechnet wird. Wir wollen und müssen aus unsererSicht Abschied davon nehmen, dass Arbeitslosen- undUnterhaltsgeld schlicht addiert werden. Es muss zu einerAnrechnung kommen, auch damit sich die betroffenenMenschen früher und mit der gebotenen Ergebnisorien-tiertheit auf eine Weiterqualifizierung einlassen.Ich komme damit zu einer weiteren Herausforderung,die sich uns stellt, und zwar zu der Gruppe der älterenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die, wenn sievon Arbeitslosigkeit betroffen sind, besondere Problemehaben. Hier müssen wir etwas tun, auch wenn trotz derProbleme am Arbeitsmarkt – die aktuellen Zahlen liegenja vor – die Zahl der älteren Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer und der behinderten Menschen, die arbeitslossind, deutlich zurückgegangen ist. Das Ziel der Bundes-regierung, die Zahl der arbeitslosen Schwerbehindertenim Vergleich zum Oktober 1999 um 25 Prozent zu verrin-gern, ist faktisch erreicht. Die Zahl derer hat bereits um24 Prozent abgenommen. Das ist ein großer Fortschritt.
Auch die Zahl der älteren arbeitslosen Arbeitnehmer undArbeitnehmerinnen ist heute um 98 000 niedriger als imvergangenen Jahr.
Das reicht natürlich nicht. Deshalb müssen wir dieStrategien zur Förderung der Beschäftigung Älterer kom-plettieren. Aus diesem Grund werden wir nach dem Vor-schlag der Hartz-Kommission für Menschen ab dem55. Lebensjahr eine Entgeltsicherung einführen. Diesbeinhaltet faktisch eine Ersetzung des Arbeitslosengeldesdurch eine Aufstockung des Lohns bei Aufnahme einergeringer bezahlten Beschäftigung. Wer also bereit ist, einesolche Beschäftigung aufzunehmen, findet Unterstützungdurch Zahlung eines Zuschusses in der Höhe, die denLohnausfall zur Hälfte auffängt.Wir wollen aber auch Arbeitgeber, die ältere Menscheneinstellen, unterstützen. Wer Menschen über 55 Jahre ein-stellt, soll daher für diese Beschäftigten vom Arbeitgeber-anteil des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung befreitwerden.Viele Arbeitgeber scheuen generell die Einstellung äl-terer Menschen; die Motive kann ich jetzt nicht erörtern.Hier müssen wir einen Ausweg finden. Die Hartz-Kom-mission hat vorgeschlagen, die befristete Beschäftigungdeutlich auszuweiten und die Altersgrenze für die Zuläs-sigkeit unbegrenzt zeitlicher Befristungen von Arbeits-verhältnissen auf 50 Jahre zu senken.
Das ist ein sehr weit reichender Schritt, über den wir inRuhe diskutieren werden. Wir müssen erörtern, inwieweitdies zu tiefer Unsicherheit bei älteren Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern führen kann.Besonders kritisiert wird das so genannte Bridge-Sys-tem; das hat Frau Merkel in dem Interview, das ich vorhinzitiert habe, meines Erachtens zu Recht angemerkt. Es be-inhaltet die Möglichkeit, für ab dem 55. Lebensjahr ar-beitslos gewordene Menschen, die sich einen Rückzugaus dem Arbeitsmarkt leisten können, einen Zuschuss zurRente zu zahlen. Mit einem solchen Brückengeld, das ma-ximal fünf Jahre gezahlt wird, soll den Menschen der Wegvon der Arbeitslosigkeit in die vorzeitige Verrentungeröffnet werden. Voraussetzung ist natürlich, dass je-mand, der dies in Anspruch nimmt, dem Arbeitsmarktnicht zur Verfügung steht.Weil wir auch die Bedenken sehen, die es auf diesemFeld gibt, und weil wir nicht in massenhafter Weise einenneuen Weg in den Vorruhestand eröffnen wollen, sehen wirin dem Gesetzentwurf Folgendes vor: Erstens wollen wirnur für einen begrenzten Zeitraum, nämlich für zwei Jah-re, individuelle und flexible Möglichkeiten für einen sol-chen Ausstieg aus dem Erwerbsleben ermöglichen. Zwei-tens haben wir die Höhe des Brückengeldes so bemessen,dass es nur genau halb so hoch ist wie der jeweilige An-spruch auf das Arbeitslosengeld, sodass die Attraktivitätdieses Weges, nämlich des Beschreitens der Brücke,außerordentlich niedrig ist. Es ist jedenfalls, anders alsfrüher, kein Weg für Unternehmen – ich habe selbst daranmitgewirkt, um das so zu gestalten; ich sage dies der Klar-heit halber –, in größerer Zahl Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer auf Gemeinschaftskosten in den Vorruhe-stand zu schicken. Diesen Weg wollen wir und werden wirnicht mehr eröffnen.
Ein weiteres Ziel ist, die Selbstständigkeit besonderszu fördern. Jeder Selbstständige schafft, wie wir alle wis-sen, früher oder später neue Jobs, neue Ausbildungs- und
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Arbeitsplätze und leistet damit einen Beitrag zum Abbauder Arbeitslosigkeit. Das wollen wir nach dem Vorschlagder Hartz-Kommission verstärkt fördern. Neben demÜberbrückungsgeld schaffen wir mit der Ich-AG und derFamilien-AG ein neues Instrument zur Förderung vonExistenzgründungen. Wir wollen Arbeitslosen einen so-zial abgesicherten Start in die Selbstständigkeit ermög-lichen, ohne dass sie den sozialen Schutz, den Beschäf-tigte genießen, opfern müssen. Sie bleiben also zugünstigeren Bedingungen renten- und krankenversichert,und zwar mit Unterstützung der Arbeitsverwaltung; fürdrei Jahre erhalten sie einen im Laufe der Zeit abneh-menden Zuschuss durch die Arbeitsverwaltung.Die neue Ich-AG wird darüber hinaus von einer güns-tigen steuerlichen Behandlung profitieren. Was wir unsgemeinsam mit dem Finanzminister – mit dem diskutie-ren wir über diese Frage noch, weil es hierbei gewisser-maßen darum geht, ein neues Steuerrecht für das Kleinst-gewerbe zu schaffen – vorstellen, ist die Zugrundelegungeines geringen Pauschbetrages. Die steuerliche Behand-lung soll so günstig – auch so bürokratiefern – wie mög-lich sein, um solche Unternehmen auf den Weg zu brin-gen und zu fördern. Diese Ich-AGs wollen wir so bis zueinem Einkommen von 25 000 Euro pro Jahr positiv be-gleiten.Ich habe schon in unserer letzten Debatte darauf hin-gewiesen, dass die Einführung dieser Ich-AGs auch Ein-fluss auf das Handwerksrecht haben wird, was nicht zuunterschätzen sein wird. Mir ist klar, dass dies von ver-schiedenen Seiten kritisch gesehen wird. Auch hierzu darfich – und zwar im positiven Sinne – Herrn Schleyer in An-spruch nehmen, der in der Hartz-Kommission diesen Wegebenfalls mitgetragen hat. Es soll so sein, dass man kei-nen Meister braucht, wenn man mit der Ich-AG ins Hand-werk oder in einen handwerksähnlichen Bereich kommt.
Es geht darum, hier allererste Schritte zur Verwaltungs-vereinfachung zu machen. Es wird faktisch unterstellt – soist es im Gesetzentwurf angelegt –, dass für eine solcheTätigkeit eine Genehmigung nach dem Handwerksrechtvorliegt. Dies ist ein erster Schritt, um das auf den Weg zubringen.
Als jemand, der in den Jahren, in denen er in der Poli-tik mit Wirtschaft zu tun hatte, die Handwerkskammernund die Industrie- und Handelskammern als Institutionenimmer verteidigt und gerechtfertigt hat – ich halte sie imHinblick auf den wirtschaftspolitischen Dialog für wich-tig –, appelliere ich von hier aus an das Handwerk, diesnicht als einen Pauschalangriff anzusehen, sondern alsAufforderung, auch im eigenen Sektor zu deregulieren,die Aufforderung zur Deregulierung also nicht nur an an-dere zu schicken, sondern auch im eigenen Sektor für De-regulierung und für mehr Flexibilität zu sorgen.
Herr Minister, ich darf eine Zwischenbemerkung ma-
chen. Sie reden schon sehr lange und verbrauchen – ich
will Sie nur darauf hinweisen – die Redezeit der Ihnen
nachfolgenden Redner der SPD-Fraktion.
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Herr Präsident, ich danke Ihnen für diesen Hinweis. –
Ich bitte um Entschuldigung; ich will natürlich niemandes
Redezeit aufessen. Mein Anliegen war es, Ihnen das so
rasch wie möglich darzustellen.
Sie wissen, dass wir gleichzeitig den Einstieg in die
Minijobs in Privathaushalten fördern wollen. Es ist be-
reits hinlänglich öffentlich diskutiert worden, dass wir
500-Euro-Jobs auch in Privathaushalten ermöglichen
wollen.
Dafür sind ebenfalls ganz sanfte Beiträge zur Sozialversi-
cherung vorgesehen. Auch das erörtern wir noch und wer-
den in den nächsten Tagen einen Vorschlag zur besseren
steuerlichen Behandlung, zur steuerlichen Absetzbarkeit
solcher Ausgaben – das müssen wir vorsehen – vorlegen.
Es ist mir jetzt nicht möglich, in vollem Umfang das
aufzuzeigen, was der vorliegende Gesetzentwurf enthält.
Mein Anliegen ist es – ich hoffe, dass ich Ihnen dies aus-
reichend deutlich gemacht habe –, mich um einen Konsens
auf diesem Gebiet zu bemühen, überflüssige Streitigkeiten
zu überwinden und Missverständnisse auszuräumen, da-
mit wir so rasch wie möglich zu einem Ergebnis kommen.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Karl-Josef
Laumann, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister Clement, Sie haben uns in Ihrer Rede mehr-fach angeboten, in schwierigen Fragen der Arbeitsmarkt-politik gemeinsam nach richtigen Lösungen zu suchen.Deshalb verstehe ich nicht, warum Sie auch gesagt haben,dass man in den nächsten Tagen noch mit vielen darüberreden müsse, wie das zu machen sei. Ich möchte Sie nurdarauf hinweisen, welchen Zeitplan Ihre Fraktion vorge-geben hat:
Bundesminister Wolfgang Clement
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Karl-Josef Laumannam Dienstag Anhörung, am Mittwoch oder DonnerstagAbschluss und am Freitag dritte Lesung. Dieser Zeitplanist so angelegt, dass er das Angebot ernsthafter Mitbera-tung und Gespräche über Lösungen, die sinnvoll und rich-tig sind und die vielleicht von vielen mitgetragen werden,an die Opposition als Worthülse erscheinen lässt.
Als ich begann, den Gesetzentwurf zu lesen, der amDienstagabend gegen 19.30 Uhr in meinem Büro eintraf,wichen meine Hoffnungen, die ich mit der Umsetzung desHartz-Konzeptes verbunden hatte, teilweise Erstaunen,Kopfschütteln und leider auch blankem Entsetzen.Ein erster Punkt: Es ist zwar richtig, dass wir das Ar-beitnehmerüberlassungsgesetz – im Volksmund heißt esZeitarbeitsgesetz – liberalisieren wollen. Die Union hat inden 80er- und 90er-Jahren die Verantwortung für diesesGesetz gehabt. Damals befand sich die Zeitarbeit noch inden Anfängen und die Strukturen waren sehr schwierig.Deshalb waren wir der Meinung, dass wir dem normalenArbeitsrecht ein Arbeitsrecht speziell für diesen Bereichüberstülpen müssen. Da sich die Zeitarbeit inzwischenetabliert hat und vernünftige Strukturen vorhanden sind,könnten wir dieses spezielle Arbeitsrecht – dieser Mei-nung sind wir schon lange – logischerweise ein Stück weitzurücknehmen. Ihre Fraktion hat sich bislang sehr schwergetan, dies zu tun. Was war das noch für ein Kampf, bisvor einem Dreivierteljahr die Verleihdauer von zwölf Mo-nate auf 24 Monate verlängert wurde!Sie wollen nun – das finde ich in Ordnung – diese Re-gelungen liberalisieren. Aber gleichzeitig wollen Sie auchdie denkbar stärkste Restriktion gesetzlich festlegen:nämlich dass sich die Entlohnung der Zeitarbeitnehmer ander betriebsüblichen Entgeltstruktur – dazu gehört beiAudi unter Umständen auch das Jahreswagenprivileg –orientiert. Wenn man liberalisiert, dann muss man natür-lich auch über die Frage sprechen, ab wann tarifähnlicheStrukturen im Entleihbetrieb gelten müssen; denn sonstkann Lohndumping entstehen. Auch ich kenne die Sorgender Stammbelegschaften. Aber ich glaube, dass aufgrundder von Ihnen angestrebten restriktiven Lösung die Zeit-arbeitsjobs gerade im Segment der Helfer wegbrechenwerden, also nicht dort, wo sehr qualifizierte Arbeitneh-mer benötigt werden, sondern dort, wo es um die Ver-mittlung von Langzeitarbeitslosen geht. Schließlich hatjeder zweite Langzeitarbeitslose keine abgeschlosseneBerufsausbildung. Diese Einschätzung wird – das weißich auch aus Pressemitteilungen – vom BundesverbandZeitarbeit geteilt.Wir, die CDU/CSU-Fraktion, werden in der kommen-den Woche im Ausschuss und in der dritten Lesung imBundestag einen eigenen Entwurf zum AÜG einbringen.Wir werden uns bei der Erarbeitung unseres Gesetzent-wurfs von der Frage leiten lassen, inwieweit dieses Gesetzaufgelöst werden kann. Wir werden zwar daran festhalten,dass diejenigen, die bei Zeitarbeitsfirmen beschäftigt sindund die vom Entleihbetrieb übernommen werden können,relativ schnell von Zeitarbeit in reguläre Beschäftigungkommen, damit die Brückenfunktion der Zeitarbeit erhal-ten bleibt. Aber wir sind nicht der Meinung, dass vom ers-ten Tag an die gleichen Tarif- und Entlohnungsstrukturengelten sollen.Wir werden wahrscheinlich die Zwölfmonatsfrist inden Gesetzentwurf hineinschreiben. Dies ist eine vernünf-tige Zeitspanne und schließlich hat auch Rot-Grün dies voreinem Dreivierteljahr noch so beschlossen. Natürlich soll-ten wir die mit den Leuten, die Erfahrung mit der Zeitar-beit haben, vernünftig über die richtige Frist reden. Ichbiete Ihnen die Diskussion dazu ausdrücklich an.Aber wir sollten die Zeitarbeit nicht überschätzen. Solange wir so wenige Jobs und eine so schlechte Konjunk-turlage haben, in der es nichts zu vermitteln gibt, wirdauch die Zeitarbeit keine Jobs vermitteln, das ist wahr.
Es gibt einige Leute in der Zeitarbeitsbranche, die sa-gen: Selbst wenn ihr alles ändern und uns jeden Wunscherfüllen würdet, könnten wir euch zurzeit im Jahr viel-leicht 30 000 bis 50 000 zusätzliche Arbeitsplätze zusa-gen. Das macht uns schon besorgt und meine Vorsitzendehat mit dem, was sie in einem Interview mit dem Bonner„General-Anzeiger“ gesagt hat, schon Recht: Wenn wirdie Zahlen der Hartz-Kommission sehen, haben wir dieAngst, dass Menschen, die heute in der Arbeitslosenstatis-tik geführt werden, auch in Zukunft in Wahrheit gar nichtin Arbeit sind, sondern nur – Simsalabim – aus der Ar-beitslosenstatistik fallen, weil sie zu den PSA gehen unddort Umschulungen, Qualifizierungs- und Fortbildungs-maßnahmen, wie zum Beispiel das Üben von Bewer-bungsgesprächen, erhalten.
Das wird uns aber nichts nützen und es wird auch denHerrn Minister Clement einholen; denn am Ende werdenwir daran gemessen, wie viele Menschen wir aus denstaatlichen Transferleistungssystemen – es ist egal, wiedie Systeme heißen und in welcher Statistik wir die Men-schen führen – in Arbeit bringen, damit sie selber, ohneden Staat zu belasten, einen großen Teil – oder bessernoch: den gesamten Lebensunterhalt – verdienen können.Denn ansonsten bekommen wir die Entlastungen, die wiralle gemeinsam anstreben, nicht hin.Ich will einen zweiten Punkt nennen, der mich vomKopfschütteln zum Entsetzen gebracht hat. Ich hatte michdurchaus gefreut, als Sie während des Wahlkampfs – dieHartz-Vorschläge waren gerade vorgelegt – gesagt haben:Wir müssen uns auch den Minijobs zuwenden. – Wir hat-ten damals einen Gesetzentwurf zur Förderung niedrigentlohnter Tätigkeiten eingebracht. Wir wollten zu einerRegelung kommen, die mehr Flexibilität bei Zusatzver-diensten – ich meine damit die alten 630-Mark-Jobs –schafft. Noch wenige Wochen zuvor wurde mir von denLeuten, die hier sitzen, gesagt: Das ist alles Quatsch, wasihr vorschlagt.
Ich hatte also große Hoffnungen, als die Hartz-Kommis-sion von Minijobs sprach.
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Ich war deshalb erstaunt, warum Sie diese Jobs auf denHaushalt begrenzen wollen. Warum sollen Minijobs nichtauch in anderen Branchen zulässig sein?
Ist denn der Minijob im Haushalt schlechter, besser, an-ders als anderswo in der Gesellschaft?
Jetzt erwägen Sie, diese Jobs in „haushaltsnahenDienstleistungen“ zuzulassen. Ich wette, dass wir baldden ersten Prozess in Deutschland über die Frage „Was isteine haushaltsnahe Dienstleistung?“ haben werden. Dannwerden sich Menschen, die viel mehr verdienen, als manje mit Minijobs verdienen könnte, mit der schönen Fragebeschäftigen: Ist das Streichen einer Haustür haushalts-nah? – Wollen Sie vielleicht, dass das Gericht dann sagt:Das Streichen einer Haustür von innen ist haushaltsnah;aber wenn die Außenseite gestrichen wird, ist es haus-haltsfern? Solche Gesetze passen nicht in die Landschaft,wenn Sie Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wollen.
Ich komme aus dem Münsterland und kenne die Fami-lienbetriebe in der Gastronomie. Wie wollen Sie kontrol-lieren, ob eine Frau, die bei einer Gastwirtsfamilie arbei-tet, im Haushalt das Frühstück für den Gastwirt odervorne in der Kneipe das Frühstück für den Urlauber rich-tet? Wie wollen Sie das kontrollieren?Wir haben unsere Vorschläge zum Niedriglohnsektorin dieser Lesung eingebracht und werden dies auch in denAusschüssen tun. Ich glaube, dass unsere Überlegungenhierzu richtig sind. Von seinerzeit 630 DM wollen wir dieGrenze auf 400 Euro erhöhen. Damit die Sozialversiche-rung nicht darunter leidet, wollen wir ihr im Gegensatz zufrüher die Pauschalversteuerung zur Verfügung stellen.Das würde die Sozialversicherung im Übrigen nicht sobelasten wie das, was Sie separat für den Haushaltsbe-reich vorsehen.Viel wichtiger ist es aber, dass der CDU/CSU-Gesetz-entwurf – es ist ja nicht alles verkehrt, nur weil CDU/CSUdarauf steht – eine Antwort, nach der wir lange gesuchthaben, gefunden hat. Die Frage war doch: Wie können wirdie so genannte 630-Mark-Falle überwinden? Sie arbeitenfür 325 Euro und verdienen ein wenig mehr, weil mehr zutun ist, aber bekommen am Ende weniger ausbezahlt, alswenn Sie unter der Grenze geblieben wären. Das ist dochidiotisch. Es kann doch nicht sein, dass ein Mensch, dermehr gearbeitet und mehr brutto hat, netto weniger be-kommt, weil sofort 20 Prozent Sozialversicherungs-beiträge fällig werden. Wer das einmal im Leben gemachthat, ist kuriert – oder er macht das „BAT“, was in diesemFall aber „bar auf die Tatze“ heißt.Wir haben gesagt, wir wollen bei einem Verdienst inHöhe von 400 Euro langsam mit Sozialversicherungs-beiträgen beginnen und schleichend bei einem Verdienstvon 800 Euro – die FDP nimmt 1 000 Euro als Grenze –auf 20 Prozent kommen.Ich glaube, dass das wirklich eine Lösung wäre, wieman in einem ersten Schritt für diejenigen, die es am meis-ten brauchen – die nämlich leider eine Arbeit verrichtenmüssen, bei der man wenig verdient –, Brutto- und Netto-verdienst in ein vernünftiges Verhältnis bringen könnte.Ich würde es gerade jenen gönnen, die für 6 oder 7 Euroin der Stunde arbeiten müssen. Das ist soziale Politik.
Wenn Sie mit uns darüber reden wollen, was für denArbeitsmarkt gut ist, Herr Clement, dann frage ich: SindSie bereit, mit Repräsentanten der CDU und CSU überunseren Gesetzentwurf zu den kleinen Jobs zu reden undmit ihnen zu überlegen, wie man das im Rahmen der Ge-samtkonzeption, die Sie heute dem Hohen Haus vorstel-len, umsetzen kann? Ich kann Ihnen nur sagen: Ich bin si-cher, dass die Repräsentanten meiner Fraktion zu jederTages- und Nachtzeit bereit sind, das zu tun, weil unsnämlich die Interessen der kleinen Leute sehr am Herzenliegen.
Ich will einen dritten Punkt nennen, bei dem meine Re-aktion Entsetzen und Kopfschütteln war. Ich meine IhrenVorschlag zur Abschmelzung der Vermögensfreigrenzenfür Arbeitslosenhilfebezieher in Ihrem Gesetzentwurf. Ichmache es mir nicht so einfach, wie das früher in diesemHause bei der Opposition war, als wir noch regiert haben.Jede Veränderung im Sozialsystem galt ja damals als so-zialpolitischer Kahlschlag; Sie können sich sicher an dieAuseinandersetzungen bis 1998 erinnern. Ich bin schonder Meinung, dass wir, wenn wir die beiden Systeme zu-sammenführen wollen, auch darüber reden sollten. Daskann dann aber nicht auf dem Niveau der Arbeitslosen-hilfe geschehen. Das würde ich mittragen, auch wenn esnicht populär ist. Aber es sollte nicht so fantasielos ge-macht werden, dass man die Beträge einfach halbiert.
Sie behandeln den Maurer, der mit 14 in die Lehre gegan-gen ist und mit 52 arbeitslos geworden ist, in Bezug aufdie Vermögensfreigrenze genauso wie denjenigen, der mit14 in die Lehre gegangen ist und dann bis zum Alter von52 arbeitslos war. Ihre Art der Anrechnung berücksichtigtnicht eine Philosophie von Lebensleistungen und dieMöglichkeiten, dass sich jemand etwas aufgebaut hat.
Ich frage: Wo ist eigentlich Ihre Philosophie, wenn es da-rum geht, dass das, was Menschen sich in einem langenLeben erarbeitet haben, geschützt wird?Ich komme jetzt zu meinem letzten Punkt; meine Re-dezeit geht langsam zu Ende. Wenn das ganze Haus derMeinung ist, dass wir dem solidarischen, gesetzlichen Si-cherungssystem Rente eine private, kapitalgedeckte Säulehinzufügen müssen – das ist ja vernünftig; es ist imGrundsatz ebenfalls vernünftig, es für kleine Einkommenzu fördern, wie es in der Riester-Rente geschehen soll; al-lerdings ist es in der Durchführung dadurch, dass es sokompliziert ist, unvernünftig –, dann müssen wir doch fürdenjenigen, der in seinem Leben viele Jahrzehnte gear-beitet hat und sich in diesen Systemen etwas geschaffenKarl-Josef Laumann
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Karl-Josef Laumannhat, eine andere Freigrenze gelten lassen als für denjeni-gen, der genauso alt ist, aber nie etwas geleistet hat.
Sie haben meiner Meinung nach in diesem Bereich einenwunden Punkt. Ich wäre auch bereit, mit Ihnen, HerrClement, darüber zu reden, damit wir eine Lösung finden,die es ermöglicht, dass diese Frage im Gesamtkonzept kos-tenneutral geregelt werden kann. Ich verstehe ja, dass Siein der jetzigen Situation Einsparungen brauchen. Ich wäredazu bereit und fordere Sie auf: Überlegen Sie, ob auch Siebereit wären, einen solchen Weg mit uns zu gehen.Ich habe einige sehr konkrete Vorschläge genannt. Ichwerde es in den nächsten Tagen und Wochen
ja erleben, ob Ihre Bereitschaft, mit uns darüber zu reden,was für den Arbeitsmarkt das Richtige ist, politische Rhe-torik oder ein ernst gemeintes Herzensanliegen ist.
Sie können sicher sein, dass das, was ich gesagt habe,ernst und auch ehrlich gemeint ist. Ich würde es toll fin-den, wenn die politische Klasse in Deutschland in derLage wäre, etwas zu tun, von dem die Menschen in eini-gen Jahren sagen könnten: Die im Bundestag haben dasgetan, was Wohlstand, Arbeit, Zuverlässigkeit für unsereFamilien und mehr Beschäftigung ermöglicht hat. Wir rei-chen Ihnen die Hand dazu. Ich bin gespannt, ob Sie indiese Hand einschlagen oder ob das Ganze nur Rhetorikwar. Wenn Sie das wollen, müssten Sie das Beratungsver-fahren, wie es jetzt angedacht ist, aufhalten. Denn in fünfTagen wird man das nicht leisten können.Schönen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Thea Dückert, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrLaumann, Ihr Beitrag hat gezeigt, in welchem Dilemmasich die Union befindet;
denn das, was Sie an Kritik am Hartz-Konzept und an sei-ner Umsetzung hier vorgetragen haben, ist doch eher einePhantomdebatte als eine ernsthafte inhaltliche Kritik.
Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Daseine Beispiel hat der Minister schon genannt. Sie redenhier darüber, dass es zum Beispiel keine Einstiegstarifebei der Arbeitnehmerüberlassung und bei der Zeitarbeitgeben werde. Das ist definitiv falsch und steht anders imGesetzentwurf.Sie reden hier davon, dass es ernsthafte Probleme beiden Minijobs, mit denen wir gegen Schwarzarbeit vorge-hen wollen, gibt, und führen als Beispiel den Streit an, obdie Tür außen nicht zum Haushalt gehört und ob die Türinnen zum Haushalt gehört. An diesem Beispiel wird dieganze Lächerlichkeit dieser Kritik an dem Ansatz deut-lich,
der im Grundsatz darauf gerichtet ist, die Menschen ausder Schwarzarbeit zu führen. Nein, Sie machen es sich zueinfach, so mit dem Hartz-Konzept umzugehen.Wir verkaufen das Hartz-Konzept nicht als eine Wun-derwaffe im Kampf um die Arbeitslosigkeit. Wir wissen,dass es das nicht ist. Jedem und jeder hier ist bekannt, dassdie wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine zentraleRolle spielen. Richtig ist aber, dass es die Hartz-Kom-mission geschafft hat, aus einer großen Krise am Arbeits-markt, nämlich aus der Krise der Bundesanstalt für Arbeit,eine Chance zu machen. Ich sage Ihnen: Wir werden dieseChance nutzen. Ich hoffe sehr, dass Sie angesichts dieserMinimalkritik, die Sie hier vorgetragen haben, mitmachenkönnen.
Meine Damen und Herren, es geht darum, Gerechtig-keit beim Zugang zum Arbeitsmarkt für diejenigen herzu-stellen, die daran bisher nicht teilhaben. Ihnen müssen wireine Perspektive geben. Wir müssen uns für diejenigenstark machen, die es schwer haben, in den Arbeitsmarkthineinzukommen.Deswegen ist die vergangene „Sündenbockdebatte“gerade bei der Union und bei der FDP fehl am Platz. Esmuss darum gehen, dass den Arbeitslosen von uns, vomStaat, von den Unternehmen und von der Arbeitsvermitt-lung etwas geboten wird, um sie von dem Tropf der Äm-ter zu lösen und aus den Fluren der Ämter hinaus zu be-kommen. Sie müssen die Chance bekommen, wieder amArbeitsmarkt teilzunehmen. Das ist übrigens auch einGrund dafür, warum wir ihnen in den Jobcentern Hilfe auseiner Hand anbieten werden.Arbeitsmarktpolitik ist sehr viel mehr als Sozialpoli-tik. Wir müssen endlich dieses Kästchendenken überwin-den: die einen mit ihren neoliberalen Ansätzen, was letz-ten Endes nur zu Working Poor führt, und die anderen mitstrukturkonservativen Ansätzen, was die Starrheit am Ar-beitsmarkt zementiert. Deswegen haben wir als Grüne vorzwei Jahren den Ansatz der „Flexicurity“ entwickelt. Dasheißt: Wir wollen Flexibilität am Arbeitsmarkt und so-ziale Sicherheit für die Menschen, die von Arbeitslosig-keit betroffen sind, verbinden. Genau das ist der Kern.Es geht hier um mehr, nämlich darum, ein neues Den-ken in der Arbeitsmarktpolitik einzuführen. Hartz ist ge-nau das in seiner Kommission gelungen, nämlich wider-streitende Interessen, die auf der einen Seite aus derneoliberalen Schule kommen und auf der anderen Seiteeher strukturkonservativ sind, zu einem Ansatz zusam-
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menzuführen. Darin liegen zusammen mit den vielenneuen Elementen, die in den Konzepten verbunden sind,die Chancen.Sie haben im Wahlkampf immer wieder gesagt, das sei„Hartz-Gequatsche“. Das zeigt, dass Sie überhaupt nichtverstanden haben, worum es geht.
Vielleicht glauben Sie Lyndon B. Johnson eher, der schonin den 60er-Jahren die soziale Frage als eine Frage des„new border“, als ein neues Grenzgebiet beschrieben hat,was nichts anderes bedeutet, als dass man auch in diesemBereich neue Ideen, Pioniergeist sowie Mut zur Verände-rung braucht und dass Innovationen angegangen werdenmüssen.Es geht eben um Bewegung und nicht um die Pflege vonAnspruchsdenken.Fördern und Fordern – das ist ein zentrales Elementin diesem neuen Konzept. Wir meinen damit alle undnicht nur die Arbeitslosen und die Arbeitsuchenden – dieFDP konzentriert sich mit ihrer Sündenbocktheorie im-mer wieder nur auf diese Klientel –, also auch die Arbeit-geber, die beispielsweise eine Beschäftigungsbilanz zu er-stellen haben, weil sie Rechenschaft darüber abzulegenhaben, wie sie mit ihren Belegschaften umgehen und obsie eine Beschäftigungsverantwortung übernehmen.Diese müssen ihre Beschäftigten freistellen, wenn sie ih-nen die Kündigung ins Haus schicken, sodass hier prä-ventiv gehandelt, also vorgesorgt werden kann. Mit demFordern meinen wir insbesondere auch die Arbeitsver-waltung selbst, die vollständig umstrukturiert wird undsich an den Kunden, also den Arbeitslosen und auch denUnternehmen, ausrichten muss.Deswegen geht es um neue Instrumente rundum unddarum, Bürokratien abzubauen. Es geht, weil die Dauerder Arbeitslosigkeit viel zu hoch ist, eben nicht nur umeine schnelle Vermittlung, sondern auch darum, die Eigen-aktivität der Menschen zu stärken, damit sie selbstständigwieder aus der Arbeitslosigkeit herauskommen können.Herr Laumann, ich muss Ihnen sagen, dass ich mir dieAugen gerieben habe, als ich mir in den letzten Tagen diePresse angeschaut habe. Die Menschen erhalten mit derIch-AG eine Chance, aus der Arbeitslosigkeit und gleich-zeitig auch aus der Schwarzarbeit herauszukommen. Mitdieser Diskussion spielen Sie die Arbeitslosen und dasHandwerk gegeneinander aus. Damit zerstören Sie diePerspektiven für diese Menschen; Sie reden sie klein.
Meine Damen und Herren von der Union, Sie führenden Bürokratieabbau im Munde und machen sich mitZähnen und Klauen auf, gerade in diesem Bereich denMeisterbrief zu verteidigen. Sie müssen sich beispiels-weise jemanden vorstellen, der am Morgen selbstständigBüros putzen will. Viele Frauen wollen dies tun. Diesemüssen den Meister in der Gebäudereinigung gemachthaben. Stellen Sie sich jemanden vor, der seinen Bekann-ten oder den Menschen im Umfeld seines Wohnbereichsdie Haare schneiden will. Dieser braucht den Friseur-Meisterbrief. Stellen Sie sich auch andere vor, die Fahr-räder oder Autos reparieren wollen. Diese werden syste-matisch daran gehindert.Ich denke, dass es gut ist, dass wir mit der Ich-AG end-lich einen Ansatz gefunden haben, wenigstens in einemkleinen Bereich, in dem sich aber viele Menschen aufhal-ten, dieses mittelalterliche Zunftdenken zu überwinden.
Mit der Ich-AG und den Minijobs holen wir die Arbeit ausder gesellschaftlichen Grauzone heraus in eine individu-elle Gewinnzone.
Mit den Minijobs geben wir den Schwarzarbeiterinnenund Schwarzarbeitern in den Haushalten eine Perspek-tive, und zwar ohne Bürokratie. Das wird nur – darüberwerden wir in den nächsten Tagen noch zu streiten ha-ben – mit Steuererleichterungen – die Haushalte brauchennämlich einen Anreiz dafür, Menschen legal ein-zustellen – und mit Zuschüssen für die Dienstleistungs-agenturen funktionieren.
Das große M, Merz und Merkel, geht davon aus – HerrLaumann übrigens auch –, dass die Zeitarbeit, die unbe-stritten eine große Chance hat, als Brücke in den Arbeits-markt zu fungieren, zu einem staatlichen Monster ver-kommt. Ich habe eingangs schon gesagt, dass Sie wirklichnicht wissen, worüber Sie reden. Lesen Sie es einfachnach!
Wir werden es ja auch noch diskutieren. Es geht darum,dass in erster Linie private Zeitarbeitsfirmen auf der Ba-sis von Tarifverträgen die Chance erhalten, Menschen inArbeit zu vermitteln.Die Chance und die Attraktivität, Herr Laumann – daswissen Sie ganz genau –, liegen für die entleihenden Un-ternehmen weniger in der niedrigeren Bezahlung, sondernihnen wird die Möglichkeit gegeben, in schwierigen Si-tuationen, in denen normalerweise Überstunden anfallen,jemanden einzustellen, um diese Situation zu überwin-den. Dieser neue Angestellte, der durch die Personal-Ser-vice-Agentur vermittelt wurde, erhält den vollen Kündi-gungsschutz. Das ist praktisch umgesetzte „Flexicurity“:Menschen, die entliehen werden, genießen vollen Kündi-gungsschutz, diejenigen, die sie entleihen, können flexi-bel vorgehen. Darum geht es.In diesem Zusammenhang wurde der MarktführerAdecco genannt. Dieses „equal pay“, das wir zugrunde le-gen, hat ihn nicht daran gehindert, europaweit eine markt-führende Position zu erreichen. Ich weiß nicht, was Sie füreinen Popanz im Umgang mit der Arbeitnehmerüberlas-sung aufbauen. Wir werden diese Chance nutzen.
Dr. Thea Dückert
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Dr. Thea DückertLeider bekomme ich allmählich Schwierigkeiten mitmeiner Redezeit. Das Gesetzeswerk mit seinen neuen An-sätzen ist eben sehr umfassend.Abschließend möchte ich zwei Bemerkungen machen.Mehr Markt für den Arbeitsmarkt – das gilt auch für dieWeiterbildung. Diese Möglichkeit müssen wir nutzen.Dabei geht es nicht darum, Arbeitslose in Warteschleifenoder arbeitsmarktpolitischen Parkhäusern unterzubrin-gen. Die neuen Strukturen machen eine Selbstbedienungmöglich. Deswegen werden wir einen freien Marktzu-gang eröffnen und Bildungsgutscheine einführen, damitdie betroffenen Menschen mit den Füßen darüber ab-stimmen können, wo sie eine ordentliche Ausbildung er-halten.
Den Paradigmenwechsel, den wir mit dem Job-AQTIV-Gesetz angefangen haben, führen wir weiter.Dazu gehört auch – das schreibe ich uns als Koalition insStammbuch – das Gender Mainstreaming. Dies mussauch für die Hartz-Konzeption, die PSA und alle anderenneuen Angebote gelten. Das Gender Mainstreaming mussüberall Berücksichtigung finden.
Frau Kollegin Dückert, Ihre Redezeit ist in der Tat fast
zu Ende.
Ich komme zum Schluss. Wir werden mit dieser Per-
spektive das Ziel von mehr Flexibilität und Sicherheit
bald erreichen. Zu diesem Ziel gehört für uns auch – das
sage ich hier noch einmal ausdrücklich –, die Lohnneben-
kosten in der Zukunft zu senken. Dafür werden wir Kon-
zepte entwickeln, weil die Senkung der Lohnnebenkosten
gerade in kleinen und mittleren Betrieben zu mehr
Beschäftigung führt.
Das Wort hat der Kollege Rainer Brüderle, FDP-Frak-
tion.
Ihre Erwartungen sind berechtigt.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich be-ginne mit zwei Zitaten aus dem Herbstgutachten der For-schungsinstitute für die Bundesregierung.Erster Satz: Die Hoffnung der Hartz-Kommission,durch Umsetzung ihrer Vorschläge in den nächsten dreiJahren zwei Millionen Arbeitslose in Lohn und Brot zubringen, erscheint illusorisch. Grund dafür sind Mit-nahme- und Verdrängungseffekte usw.Zweiter Satz: Die Probleme des deutschen Arbeits-marktes resultieren nur in geringem Maße aus einer in-effizienten Arbeitsvermittlung und unzureichenden In-strumenten. In der Tat sind die Strukturprobleme ent-scheidend. Es ist bezeichnend, dass der Gesetzentwurfvon Grün-Rot mit „Aufgrund seiner exportorientiertenWirtschaft ...“ mit einem Lamento über die Exportorien-tierung beginnt. Man sträubt sich immer noch, zu erken-nen, dass der Kern der Probleme die Strukturverwerfun-gen am deutschen Arbeitsmarkt sind. Darum geht es.
Auch ist bezeichnend, dass eine externe Kommission dieArbeit für die Regierungsfraktionen erledigen musste, umdie Denkblockaden von Funktionären zu überwinden undneue Ansätze auf den Weg zu bringen.Aber es kommt noch schlimmer. Im ursprünglichenHartz-Konzept standen viele Vorschläge, die die FDP-Fraktion in diesen Bundestag eingebracht hat.
Sie wurden von Grün-Rot regelmäßig niedergestimmt.
Dazu gehört die Deregulierung der Zeitarbeit, die Aus-weitung der Minijobs, die Beweislastumkehr. Auch dieEinrichtung von Jobcentern wurde von Grün-Rot abge-lehnt. Sie haben also noch viele Probleme und müssenwahrscheinlich auch weiterhin auf externen Rat zurück-greifen,
weil Sie – insbesondere der Zwischenrufer – selbst nichtsEigenständiges hinbekommen.Sie haben inzwischen ein weich gespültes Hartz-Kon-zept vorgelegt. Vieles entspricht nicht mehr der ursprüng-lichen Arbeit der Kommission. In diesem Zusammenhanghat ein unverdächtiges Kommissionsmitglied, der Perso-nalvorstand der Deutschen Bahn AG, Norbert Bensel, ges-tern gegenüber der „FAZ“ festgestellt: „Wenn es so kommt,geht das in die verkehrte Richtung.“
Der Kollege Niebel wird das noch im Einzelnen darlegen.Der Kernpunkt ist: Sie gehen im Krebsgang an die not-wendigen Veränderungen im Arbeitsmarkt heran.
Die Hartz-Kommission dient Ihnen ein Stück weit alsAlibi zur Kostümierung der wahren Probleme. Sie gehennicht an die Reform des Tarifvertragswesens heran.Warum lassen Sie nicht zu, dass 75 Prozent der Beleg-schaft eines Betriebs unabhängig von den übergeordneten
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Regelungen des Flächentarifvertrags in geheimer Abstim-mung eigene Regeln setzen können?
Im Osten Deutschlands stehen 70 Prozent aller Ar-beitsverhältnisse außerhalb des geltenden Tarifvertrags-rechts. Kein Mensch, keine Gewerkschaft und kein Zwi-schenrufer rühren daran, weil sich die Arbeitslosigkeitsofort verdoppeln oder verdreifachen würde. Geben Sieden Betrieben doch ein Stück Freiheit!
Herr Clement, reden Sie doch einmal mit Ihrem neuenStaatssekretär Rezzo Schlauch! Er hat in der vergangenenLegislaturperiode exakt das Gleiche gesagt. Er hat dafürfürchterliche Prügel von seiner grünen Fraktion, insbe-sondere von dem Kommunikationswissenschaftler undArbeitsmarktexperten Kuhn, bekommen. Aber HerrSchlauch hatte Recht. Wenn die linke Seite des Hausesheute etwas beschließt, das sie in der letzten Legislatur-periode noch abgelehnt hat, sind Sie vielleicht auch soweit, Rezzo Schlauch heute zuzustimmen. Dann kämenwir ein Stückchen weiter.
Das Herz von Hartz ist die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen. Damit bewirken Sie eines: Sie um-gehen die Tatsache, dass Sie den Kündigungsschutz ver-schärft und so gestaltet haben, dass Sie bei kleinenBetrieben eine hohe Einstellungshürde errichtet haben,indem Sie den Kündigungsschutz quasi verstaatlichenund sozialisieren. Der Betrieb, der Leiharbeiter einstellt,hat damit nichts zu tun; er bezahlt sie nach geleisteten Ar-beitsstunden. Mit Ihrer Personal-Service-Agentur wirddas, was noch an „Verharzung“ vorhanden ist, quasi so-zialisiert und beim Staat abgeliefert.
Machen Sie es doch gleich richtig und führen Sie einevernünftige Reform durch! Sie stehen sozusagen vor derrichtigen Tür, kriechen aber durch den Schornstein in dasHaus hinein. Es geht einfacher: Machen Sie die Tür auf!
Erhöhen Sie hinsichtlich der Kündigungsschutzrege-lungen die Betriebsgröße auf 20 Mitarbeiter, machen Siedas Kriterium von zwei Jahren Beschäftigung zur Voraus-setzung und gestalten Sie Alternativen über Abfindungs-vereinbarungen oder arbeitgeberfinanzierte Weiterbil-dungsmaßnahmen! Nehmen Sie die Vorschläge von HerrnGerster ernst! Er hat schließlich viele Vorschläge ge-macht, wie die Effizienz der Bundesanstalt für Arbeit mitihren 90 000 Beschäftigten – bei einem Aufkommen von110 Milliarden DM für die Sozialversicherungen – ge-steigert werden könnte.Bemerkenswert erschien mir, was Sie zum Kartell derWeiterbildung ausgeführt haben.
Wenn das ernst gemeint war, fordere ich Sie auf, diesenVorschlag umzusetzen.
Es ist doch merkwürdig, dass fast alle Weiterbildungs-maßnahmen rein zufällig bei den Arbeitgeberverbändenund den Gewerkschaften landen. Führen Sie doch endlichden Wettbewerb ein und lassen Sie die Betroffenen ent-scheiden!
Führen Sie endlich die Gutscheine ein und brechen Siedas Kartell wenigstens ein Stück auf! Damit können Sieden Ansatz liefern, mit dem Sie die Beiträge zur Arbeits-losenversicherung senken, und zwar, indem Sie die Ver-mittlung und Beratung von den Versicherungsleistungentrennen. Die Landesarbeitsämter können Sie abschaffen.Gehen Sie an die Reformansätze heran, damit Sie damitendlich dem Mittelstand Luft verschaffen, sodass dieserseine Leistungen entfalten kann! Seien Sie konsequent!Sie gehen aber nur kostümiert und halbherzig an die Lö-sungen heran.Heute Morgen um elf Uhr haben wir die aktuellen Ar-beitslosenzahlen bekommen. Es sind 204 000 Arbeits-lose mehr als im Vorjahr. Es ist eine dramatische weitereVerschlechterung der Arbeitsmarktsituation und eine Ver-stärkung der damit verbundenen Belastungen erfolgt. Siemüssen mehr Reformmut aufbringen und konsequenterherangehen. Ihr Vorhaben ist ein Fortschritt, aber es istweicher gespült als das Ursprungskonzept. Sie habennicht den Mut, an Kernpunkte wie das Tarifvertragswesenund das Übertreiben des Kündigungsschutzes bei denkleinen Betrieben heranzugehen. Dabei können Schutz-rechte zu einer Diskriminierung pervertieren, weil die Be-troffenen keine Chancen mehr bekommen und Sie damitdas Gegenteil von dem auslösen, was Sie ursprünglich ge-plant haben.
Wenn Ihr Vorschlag ernst gemeint ist, mit den anderenFraktionen offen in einen Dialog zu treten und ein ver-nünftiges Vorhaben umzusetzen, dann tun Sie das auch,statt Vorschläge nur deshalb zu verteufeln, weil sie vonanderen Fraktionen stammen. In der vergangenen Legis-laturperiode wurde ein Vorschlag von uns als „Dienst-mädchenprivileg“ beschimpft. Als wir Minijobs im Haus-halt, die Sie jetzt einführen wollen, gefordert haben, wares ein „Dienstmädchenprivileg“, aber wenn die Forde-rung jetzt von Gewerkschaftsfunktionären kommt, ist eskein Neofeudalismus, sondern eine Großtat. Machen Siees vernünftiger!
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Brandner, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Bei aller Lautstärke, meine Damen undHerren von der Opposition, haben Sie sich zwar Gehörverschafft, aber konstruktive Vorschläge, die die Situationverbessern, haben Sie nicht gemacht.
Rainer Brüderle
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Klaus BrandnerSie haben bei Ihren Vorschlägen insbesondere nicht zurKenntnis genommen, dass sich die Arbeitsmarktlage zwi-schenzeitlich stabilisiert hat.
Es gibt sogar erste Zeichen der Besserung. Die Zeitreihender Arbeitslosigkeit und der Erwerbstätigkeit weisen da-rauf hin, dass der Höhepunkt der Flaute erreicht ist undwir keine weitere Verschlechterung bekommen werden.Reden Sie die Situation deshalb nicht schlecht! Sie habengesagt, Sie wollen konstruktiv mitarbeiten. Sagen Sie,dass sich die Situation gebessert hat, und sorgen Sie so mitdafür, dass die Arbeitslosen und die Wirtschaft auch einZeichen der Hoffnung bekommen und damit eine bessereSituation in diesem Lande eintritt!
Deutschland liegt nämlich nach wie vor im europäischenMittelfeld. Das ist keine Entwarnung, aber die Menschenin Deutschland sollen auch wissen, dass es vermehrteHoffnungen gibt. Die heute zu veröffentlichendenArbeitslosenzahlen werden das zeigen.Das Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeits-markt kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, um weite-ren Drive in die Arbeitsmarktpolitik zu bringen. Es mussso schnell wie möglich in Kraft treten. Ich nehme gernezur Kenntnis, dass sich die Opposition einem schnellenVerfahren nicht entzieht, und hoffe sehr, dass Sie auch imBundesrat dafür sorgen, dass dieses Gesetz schnell inKraft treten kann. An uns liegt es nämlich nicht. Für eineBeratung steht ausreichend Zeit zur Verfügung, sowohl inder Anhörung als auch im Ausschuss. Wir wollen diesesGesetz nicht durchpeitschen, sondern wir geben Ihnen dieGelegenheit zur Beratung. Wir haben Ihnen eine Aus-schusssitzung am Freitag angeboten, Ihr Wunsch war eineSitzung am heutigen Abend. Wir können die Anhörungverlängern, wir können in der nächsten Woche weiter ta-gen. Wir gehen auf Ihre Wünsche ein, wenn Sie Fragenhaben und wenn Sie konstruktiv mitarbeiten wollen. Bittetun Sie das. Es ist ein Angebot, dem Sie sich nicht entzie-hen sollten.
Insgesamt gesehen haben wir die große Chance für ei-nen nachhaltigen Aufbruch der verkrusteten Strukturen.Wir haben eine Chance für eine Arbeitsmarktreform auseinem Guss. Wir haben eine Chance für eine Arbeits-marktreform, die der Wirtschaft hilft und die neue Stellenschafft.
Die Bedingungen dafür lassen es nicht zu, in einer Ku-schelecke zu bleiben. Uns geht es darum, auf der einenSeite den sozialen Schutz der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer voll zu wahren und auf der anderen SeiteFlexibilisierungsansprüche der Wirtschaft zu gewährleis-ten.
Es geht um die Bekämpfung der strukturellen Arbeits-losigkeit. Aufgrund der langen Tradition stehen inDeutschland die passiven Lohnersatzleistungen immernoch eher im Vordergrund als aktive Arbeitsmarktpolitik.Das wollen und das werden wir ändern. Wir wollen eineumfassende Aktivierung, die nachhaltiges Wachstum unddamit die Bedingungen für neue Arbeitsplätze schafft.Aber es geht auch darum, das Wachstum beschäftigungs-intensiver zu machen. Bisher entstehen neue Arbeits-plätze erst, wenn die Wirtschaft um mindestens 1,2 bis2 Prozent wächst. Unsere Gesetze werden dazu führen,dass die Beschäftigungsschwelle sinkt. Wachstum kanndann schneller und nachhaltiger greifen.Eine umfassende Aktivierung der Arbeitslosen, dienicht immer schmerzfrei verlaufen wird, braucht gesell-schaftliche Akzeptanz. Ich möchte noch einmal daran er-innern, dass die Kommission unter Leitung des VW-Vor-standsmitglieds Peter Hartz ihre Vorschläge einstimmigbeschlossen hat. Das allein ist angesichts dieses Perso-nenkreises eine ganz herausragende Leistung.
Wir dürfen den Konsens nicht zerreden. Wer nur einzelneElemente für sich herauspickt, verfolgt eben gerade nichtdas Ziel einer umfassenden Reform. Die CDU/CSU for-dert in ihrem Antrag in vielen Punkten nur populistischenSozialabbau. Druck auf Sozialhilfeempfänger allein ist je-doch keine Reform. Und die FDP möchte wieder die Ta-rifautonomie unterhöhlen. Dabei ist doch nicht die Tarif-autonomie für die hohe Arbeitslosigkeit in diesem Landeverantwortlich. Machen Sie doch nicht den Bock zumGärtner! Helfen Sie mit, die verkrusteten Strukturen auf-zubrechen, aber nicht auf Kosten der Arbeitnehmer!
Dabei sind die Hartz-Vorschläge auch Vorschläge, diedieTarifautonomie stärken. Wir wollen durch die Umset-zung der Hartz-Vorschläge Arbeit und Kapital versöhnen.Das ist die Grundbotschaft, die Hartz ausgesendet hat.
Herr Kollege Brandner, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Dreßen?
Bitte.
Herr Brandner, Sie haben gerade vom CDU-Konzeptgesprochen. Können Sie einmal erklären, welche Auswir-kungen es auf die Sozialversicherung hätte, wenn wir dieSchaffung von Minijobs verstärkt förderten? Wir haben inder Vergangenheit erlebt, wie der Arbeitsmarkt durch diePolitik der Union in Unordnung gebracht worden ist, wes-wegen in der Sozialversicherung Beträge in Milliarden-höhe gefehlt haben. Können Sie sich vorstellen, dass essogar zum Kollaps der Sozialversicherung führen wird,wenn wir die Schaffung von Minijobs verstärkt fördern?
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Selbstverständlich führt es zum Zusammenbruch derSozialversicherung, wenn immer mehr Beschäftigungs-verhältnisse sozialversicherungsfrei sind und damit dieZukunft breiter Bevölkerungsschichten nicht gesichertist. Das kann kein Weg sein, der in die Zukunft führt. Wirmüssen die Strukturen verändern, indem die Lohnneben-kosten gesenkt und neue, sozialversicherungspflichtigeArbeitsplätze geschaffen werden. Dieses Konzept verfol-gen wir.
Die von uns vorgelegten Entwürfe für Gesetze für mo-derne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt sind kein Stroh-feuer – Sie wissen das –, sondern Teil einer nachhaltigenbeschäftigungspolitischen Strategie. Die Bundesanstaltfür Arbeit wird zu einem modernen Dienstleister umge-baut werden. Davon profitiert insbesondere der Mittel-stand; denn die schwerfälligen Arbeitsmarktverwal-tungsstrukturen haben insbesondere die kleineren undmittleren Betriebe belastet. Die großen Betriebe mit kom-petenten Personalabteilungen und Personalentwicklungs-plänen könnten sich und konnten sich letztlich selbst hel-fen. Dabei wollen sich viele Beschäftigte in denArbeitsämtern engagieren. Wir sorgen für Bewegung,ohne dass Angst entstehen muss. Wir wissen, dass dasganze System als solches nicht mehr zeitgemäß ist, unddeshalb muss es dringend reformiert werden.In diesem Zusammenhang komme ich auf die zu grün-denden Personal-Service-Agenturen zu sprechen. Siesollen für viele eine Brücke in den Arbeitsmarkt bauen.Sie helfen den Arbeitgebern, die sich nicht oder noch nichtfest binden wollen. Sie bauen Einstellungsbarrieren ab.Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist dabei ein wichtigesGrundprinzip, das auch für Zeitarbeitnehmerinnen undZeitarbeitnehmer gelten muss; sonst kommt es zu Wett-bewerbsverzerrung und -verdrängung. Anscheinend willdie Opposition das billigend in Kauf nehmen und genaudas wollen wir nicht.
Es gilt nämlich der Grundsatz: Wenn Qualifikation undErfahrung eines Zeitarbeitnehmers denjenigen eines Mit-arbeiters der Stammbelegschaft entsprechen, dann musser einen Anspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeithaben.Um das zu organisieren, brauchen wir Tarifverträge.Der Gesetzgeber kann den Grundsatz festlegen; die Aus-nahmen und die Feinjustierungen bleiben den Tarifver-tragsparteien überlassen. So steht es übrigens ausdrück-lich im Hartz-Konzept. Die Umsetzung erfolgt also imVerhältnis eins zu eins, Herr Brüderle. Durch Hartz istnicht das Aufweichen, sondern das Stärken der Tarifauto-nomie angesagt.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, handelnSie hier nicht einseitig und unredlich, wenn Sie denGrundsatz kritisieren, die Tariföffnungsklauseln aber ver-schweigen!Natürlich geht es dabei um Abweichungen auch nachunten. Das ist aber im wohlverstandenen Interesse von Ar-beitslosen. Sie müssen schließlich vermittelbar sein. Nachunserem Verständnis ist Zeitarbeit nämlich vermittlungs-orientierte Arbeitnehmerüberlassung. Ziel der Perso-nal-Service-Agenturen ist es, zusätzliche Arbeitsplätze zuschaffen und aus Zeitarbeitnehmern fest angestellte Ar-beitnehmer zu machen.Die Kritik aus den Oppositionsreihen verschweigtauch, dass wir die einschränkenden Bestimmungen desbisherigen Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes weitge-hend aufheben. Es gibt dann nämlich kein Synchronisa-tionsprinzip, kein Befristungsverbot und kein Wiederein-stellungsverbot mehr. Weitere Vorschriften werdengenauso gestrichen werden. Wir verbinden damit dielangjährige Forderung aus dem Arbeitgeberlager nachDeregulierung mit der langjährigen Forderung der Ge-werkschaften nach Nichtdiskriminierung. Die CDU, HerrLaumann, kommt mit ihrem angekündigten Gesetzent-wurf zu spät. Die Arbeit könnten Sie sich sparen. Die De-regulierungsmaßnahmen, die in unserem Gesetzentwurfim Zusammenhang mit der Zeitarbeit enthalten sind, wer-den Sie ja jetzt erst zusammenschreiben. Erkennen Sie an,dass die Koalition bei der Umsetzung des Hartz-Konzep-tes schnell arbeitet. Die Zeitarbeitsunternehmen könnensich nur zu einer anerkannten und wachsenden Brancheentwickeln,
wenn sie den Nichtdiskriminierungsgrundsatz anerken-nen und dazu stehen.
Die ersten Interessenten stehen, wie Sie wissen, ja schonin den Startlöchern.Übrigens entspricht unsere Regelung im Wesentlichendem erfolgreichen niederländischen Vorbild. Deshalb ver-stehe ich die Logik der Arbeitgeberverbände nicht, die dasniederländische Modell in der Vergangenheit als vorbild-lich gepriesen haben, unseren Gesetzentwurf jetzt aberkritisieren.
Herr Laumann hat hier ja heute sehr deutlich gesagt,dass ihn zwei Dinge befallen: zum einen Kopfschütteln,zum anderen blankes Entsetzen. Ich würde ihn bitten, eineKlärung mit dem Generalsekretär der CSU herbeizu-führen, der noch vor kurzem gesagt hat, dass die Union fürden Niedriglohnsektor ein Alternativkonzept anbiete,das ohne die von der Hartz-Kommission vorgeschlagene„Versklavung von Leiharbeitnehmern“ auskomme. Miteiner solchen Formulierung macht man sich bei den Zeit-arbeitsunternehmen mit Sicherheit nicht beliebt. Sie ha-ben sich ja eben als Lobbyist dieser Gruppe aufgespielt.Ich will Ihnen nur sagen, wie sich Ihre Parteifreunde zudiesem Thema äußern, nämlich dass ein Niedriglohnsek-tor ohne Versklavung von Leiharbeitnehmern auskommen
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Klaus Brandnermüsse. Genau das aber wollen Sie: Sie wollen den Lohndrücken; Sie wollen keine fairen Arbeitsbedingungen.
Dazu sollten Sie auch offen stehen.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein weite-res Thema ansprechen, das für mich von zentraler Bedeu-tung ist, nämlich: Wie kommen wir zur Stärkung derWachstumskräfte in Deutschland? Unter anderem durchAbbau von Bürokratie.Wir haben im Koalitionsvertrageindeutig festgelegt, dass wir den Kurs des Bürokratieab-baus fortsetzen wollen.
Das ist gerade für kleinere und mittlere Unternehmen be-sonders wichtig. Wir werden einen Masterplan vorlegen,mit dem Hemmnisse schnell und wirksam abgebaut wer-den. Bei der Bundesanstalt für Arbeit – das will ich deut-lich sagen – machen wir dabei den Anfang.Das Beispiel Zeitarbeit wurde genannt. Außerdem wirdes eine radikale Vereinfachung von Vorschriften zur be-ruflichen Weiterbildung geben. Das Meldeverfahren unddie Vorschriften zur Erstellung von Statistiken zu Mini-jobs sind denkbar einfach. Im Übrigen passt auch dasnicht zu dem gerade eben wieder von Ihnen gefordertenÜberwachungsinstrument, mit dem festgestellt werdensoll, ob es sich wirklich um einen Minijob handelt odernicht. Wir werden die Unternehmen auch sonst von über-flüssigen Statistiken entlasten. Wir werden den Kontaktzur Wirtschaft und zur Verwaltung weiterhin intensivie-ren, um gemeinsam das Ziel Bürokratieabbau zu realisie-ren.Die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen istdas wichtigste Vorhaben, das wir jetzt zur Schaffungneuer Arbeitsplätze auf den Weg bringen. Wir werden– insgesamt gesehen, nicht nur mit diesen Maßnahmen –den Haushalt konsolidieren, wie Sie wissen. Dabei liegtmir noch eine Botschaft ganz besonders am Herzen: Wirwerden natürlich im Rahmen der Zusammenführung vonArbeitslosen- und Sozialhilfe finanzielle Einsparungenvornehmen müssen. In diesem Zusammenhang werden,um es klar zu sagen, auch Vermögenseinkünfte stärker an-gerechnet, als es in der Vergangenheit der Fall war. Indemdie CDU/CSU aber gegen diese Regelung polemisiert undin der Öffentlichkeit sagt, dass auch die Ansprüche durchdie Riester-Rente und die Beiträge zur Altersvorsorge vondiesen Anrechnungsvorschriften betroffen sind, geben Siebewusst eine falsche Orientierung und verunsichern Siedie Menschen in diesem Land.
Herr Kollege Brandner, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Damit sorgen Sie dafür, dass eine Verunsicherung ent-
steht, die nicht richtig und nicht notwendig ist. Wir wer-
den genau diesen Bereich nicht angehen, sondern dafür
sorgen, dass bei einer Verschärfung der Anrechnungsvor-
schriften diejenigen, die für die Altersversorgung Vorleis-
tungen treffen, geschont werden und ihnen ihre Leistun-
gen ungeschmälert zukommen.
Insofern gibt es in diesem Bereich Sicherheit und keine
Unsicherheit. Ich bitte Sie deshalb, bei den anstehenden
Vorhaben konstruktiv mitzuarbeiten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar – dieseMaxime von Ingeborg Bachmann, die Sie bestimmt ken-nen, sollte gerade in Krisenzeiten Leitbild der politischVerantwortlichen sein. Man muss den Menschen reinenWein einschenken, denn nur so wird die Notwendigkeitvon Reformen verstanden und nur so werden vor allenDingen diese auch von ihnen mitgetragen werden.Aber wie sieht die Wahrheit aus? Wie sieht die Wahr-heit aus, der Herr Schröder, der Sie, Herr Clement undHerr Eichel, nicht ins Gesicht schauen wollen? Fast 4 Mil-lionen Menschen sind arbeitslos in Deutschland, zusätz-lich 1,7 Millionen werden vor der statistischen Arbeitslo-sigkeit versteckt, das heißt mit arbeitsmarktpolitischenBeruhigungspillen vertröstet. 40 000 Insolvenzanträgesind dieses Jahr zu erwarten. Dabei sprechen wir nur vonAnträgen. Man darf bei der Interpretation dieser Zahlnicht vergessen, dass es sich dabei nur um die Anträgehandelt, die statistisch erfasst sind. Die vielen kleinen Be-triebe, die still und leise ihre Türen zuschließen, ohne inStatistiken zu erscheinen, sind hier gar nicht aufgeführt.
Und was sagen Sie zu den 300 000 Arbeitslosen in die-sem Bereich, die wir schon im ersten halben Jahr hatten?Im ersten Halbjahr hatten wir ein Wirtschaftswachstumunter 0; für das gesamte Jahr rechnen Sie mit einem Wirt-schaftswachstum von 0,75 Prozent, für nächstes Jahrrechnen Sie mit einer Zunahme um 1,5 Prozent. Aber beieiner Beschäftigungsschwelle von 2 Prozent, die wir inDeutschland haben, ist das nichts anderes als eine Kapi-tulation vor der Massenarbeitslosigkeit.
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Wir wissen alle: Wir sind in einer schwierigen Phase.Aber anstatt hier Anreize für mehr Dynamik, mehrWachstum und Optimismus zu schaffen, bringen Sie einKostenexplosionsprogramm auf den Weg, das Konsu-menten und Unternehmer gleichermaßen vor den Kopfstößt. Was haben wir denn jetzt? – Jetzt haben wir stei-gende Rentenversicherungsbeiträge, steigende Kranken-versicherungsbeiträge, eine höhere Ökosteuer und vor al-lem ein Aussetzen der Steuerreform gerade für diePersonengesellschaften bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.Ich möchte nicht wissen, was nach den Landtagswahlennoch alles auf uns zukommt.Warum haben Sie die Aussagen Ihrer führenden Wirt-schaftsexperten nicht zur Kenntnis genommen? Diese ha-ben gesagt, dass Ihre Beschlüsse erstens das Wachstum,zweitens den Aufbau von Beschäftigung und drittens einedynamische Wirtschaftsentwicklung behindern. Sie kön-nen doch über solche Aussagen nicht einfach hinwegge-hen!Ihre Bundessozialministerin sagt zu der Anhebung derRentenversicherungsbeiträge auf 19,5 Prozent: Da ha-ben wir erst einmal Ruhe. Was ist denn das für eine Aus-sage? Was ist denn mit den 20 Milliarden Euro Ökosteuer,die zukünftig, auch durch die nächste Erhöhung am 1. Ja-nuar, eingenommen werden, wodurch die Rentenversi-cherungsbeiträge eigentlich gesenkt werden sollten, wieSie versprochen haben? Jetzt wird gesagt: Da haben wirerst einmal Ruhe. – Ja, Ruhe haben wir schon, aber wodenn? Wir haben Ruhe in den Betrieben, weil Arbeit undProduktion noch teurer werden, wir haben Ruhe im Ein-zelhandel, weil noch mehr Kaufzurückhaltung geübt wer-den wird, und wir haben Ruhe bei den Reformanstren-gungen. Das ist der falsche Weg.
Es darf hier nicht um Ruhe gehen, sondern es muss umDynamik und wirtschaftlichen Aufschwung gehen.Es darf nicht sein, dass eine Zeitung wie die „FinancialTimes Deutschland“ am vergangenen Dienstag titelt:„Exodus des Mittelstandes“ und „Tschüs, Deutschland!“.Wenn man dann sieht, dass nach einer Berechnung derBoston Consulting Group die Verlagerung eines Betriebesaus Deutschland heraus heute nur noch – nehmen wir einBeispiel aus dem Elektronikbereich – sechs Monate dau-ert und sie sich für einen Betrieb heute schon nach ein biszwei Jahren rechnet – das waren früher viel längereZeiträume –, dann wird klar, dass wir gefordert sind, dasswir handeln müssen, dass uns die Zeit davonrennt.Aber Sie hören das alles nicht, Sie nehmen das nichtzur Kenntnis. Sie haben nur eine Zauberformel, die ausfünf Buchstaben besteht: Hartz.Damit, glauben Sie, wür-den alle Probleme der Zukunft gelöst.Eigentlich hat sich der Zauber jedoch schon längst ver-flüchtigt. Was ist denn mit der Vorgabe der Eins-zu-eins-Umsetzung, die der Kanzler gemacht hat? Was heute alsGesetzestext vorliegt, ist doch nicht die Eins-zu-eins-Um-setzung der Hartz-Vorschläge, sondern unterscheidet sichmassiv von ihnen.Lassen wir einmal beiseite, dass durch die Personal-Service-Agenturen wahrscheinlich eine gigantische Be-schäftigungsgesellschaft geschaffen wird, dass wir ver-mutlich den Weg in einen dritten Arbeitsmarkt gehen unddass die Arbeitslosenzahlen zwar sinken werden, aber nurauf dem Papier, nämlich in den Statistiken. Ein viel drän-genderes Problem wird nicht erkannt, nämlich dass Hartzam Kern der Ursachen für die katastrophale Lage am Ar-beitsmarkt vorbeigeht. Das ist das Hauptproblem.
Man muss bedenken, dass den über 4 Millionen Ar-beitslosen 1 Million offene Stellen gegenüberstehen. In-zwischen machen nur noch ein Drittel der mittelständi-schen Betriebe Gewinn. Vor dem Hintergrund dieserZahlen kann man den Reformeifer doch nicht darauf be-schränken, nur zu einer schnelleren und besseren Arbeits-vermittlung zu kommen. Wir brauchen etwas ganz ande-res. Wir brauchen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze, dieohne staatliche Unterstützung auskommen. Wir braucheneinen Mittelstand, der wieder erfolgreich am Markt be-stehen kann.
Wir brauchen außerdem eine Aufbruchstimmung. Wo istdenn diese Aufbruchstimmung? Ich kann draußen imLande nichts davon spüren – im Gegenteil. Ich glaube,dass es Ihnen genauso geht.Was bis vor kurzem noch als Jobfloater bezeichnetwurde, heißt jetzt Kapital für Arbeit. Wenn ein Unter-nehmer zukünftig einen Arbeitslosen einstellt, dann hat erdie Möglichkeit, einen zinsgünstigen Kredit von bis zu100 000 Euro mit einem Effektivzins von 5,5 Prozent zubekommen. Dieser Kredit wird aber nur dann gewährt,wenn man ein zukunftsfähiges Unternehmen hat; dennman bekommt das Geld nicht automatisch, wenn man ei-nen Arbeitslosen einstellt, sondern erst dann, wenn manpositiv geratet wurde.Wenn man Zinsen in Höhe der Bundesbankzinsen von6,37 Prozent zugrunde legt, dann erkennt man, dass dieFörderung bei unter 100 Euro im Monat liegt. Dafür sollein Unternehmer einen Arbeitslosen einstellen? GlaubenSie wirklich, dass dadurch auch nur ein einziger zusätzli-cher Arbeitsplatz geschaffen wird, der auch ohne staatli-che Förderung nicht geschaffen würde? Die KfW gibt peranno 5 Milliarden Euro aus. Mit dem, was Sie hier auf denWeg bringen, betreiben Sie eine versteckte Staatsver-schuldung und nichts anderes.
Es handelt sich um ein großes Mitnahmeprojekt fürdiejenigen Unternehmen, die sowieso schon ausreichendliquide und finanzstark sind. Es ist aber kein Projekt fürdie Existenzgründer, für den finanzschwachen Mittel-stand und vor allen Dingen für die Arbeitslosen; denn derUnternehmer muss den Arbeitslosen, den er eingestellthat, nicht behalten. Er kann ihn jederzeit entlassen.
Trotzdem läuft der Kredit zehn Jahre lang weiter.DagmarWöhrl
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DagmarWöhrlIch wollte mit diesem Beispiel zeigen, dass Ihnen,meine Damen und Herren von Rot-Grün, der Blick für dasGanze fehlt. Ihnen fehlt der Blick für wirtschaftliche Zu-sammenhänge. Darin liegt Ihr Problem. Lesen Sie einmaldie Düsseldorfer Leitsätze zur sozialen Marktwirt-schaft aus dem Jahr 1949, die wir oft zitieren. Darin fin-det man die Maxime Ludwig Erhards, die überhauptnichts an Aktualität eingebüßt hat:Die beste Sozialpolitik nützt nichts, wenn sich nichtWirtschafts- und Sozialordnung wechselseitig ergän-zen und fördern.Genau das ist der Punkt: Bei uns ergänzen sie sich nichtmehr. Die Räder greifen nicht mehr ineinander, sondernsie blockieren sich. Deswegen brauchen wir wieder eineWirtschaftspolitik aus einem Guss. Wir brauchen wiederden Gleichklang von sozialen Belangen auf der einenSeite sowie Markt und Wirtschaft auf der anderen Seite.Wir brauchen wieder Eigenverantwortung und unterneh-merisches Engagement. Das sind Begriffe, die wieder po-sitiv besetzt werden müssen. Dazu gehört auch der Leis-tungsgedanke.
Nicht zuletzt muss die Kostenbelastung der Betriebe undHaushalte abgebaut werden.Der Bundeswirtschaftsminister hat letzte Woche Ein-sparmöglichkeiten von 6 Milliarden Euro vorgerechnet.Warum wird dieses Geld nicht dazu verwandt, die Ar-beitslosenversicherungsbeiträge zu senken? Schon dieSenkung der Sozialversicherungsbeiträge um 1 Prozent-punkt schafft 50 000 bis 100 000 Arbeitsplätze. Das wäreder richtige Weg.
Warum spricht keiner von dem riesigen Etat der Bun-desanstalt für Arbeit in Höhe von 54 Milliarden Euro?Warum spricht keiner von den 21 Milliarden Euro, die fürdie aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben werden? Ichbin mir sicher, dass hier immense Spielräume vorhandenwären, wenn man kreativ sparen wollte.Herr Brandner hat einen weiteren Bereich angespro-chen: die Bürokratie. 90 Prozent der von der Bürokratieverursachten Kosten tragen die kleinen und mittleren Be-triebe. 2 000 Bundesvorschriften und 85 000 Verordnun-gen, die zu beachten sind, um überhaupt wirtschaften zukönnen, machen den kleinen Betrieben das Leben schwer.Das muss zurückgeführt werden.Warum haben Sie unseren Vorschlag einer Entbürokra-tisierungstaskforce mit klaren Zielvorgaben und vor allemeindeutigen Zeitvorgaben nicht aufgenommen? In Ihremersten Entwurf einer Koalitionsvereinbarung hatten Siediesen Gedanken doch. Warum ist er jetzt nicht mehr ent-halten? Sie sprechen jetzt von einem Masterplan. Was istein Masterplan?Viel wichtiger ist, endlich konkrete Einzelmaßnahmenanzugehen und anzupacken. Wir müssen zu einer umfas-senden Entriegelung des Niedriglohnsektors kommen.In diesem Bereich der geringen Qualifikation gibt es mehrals 2 Millionen Menschen ohne Arbeit. Diese brauchenwirkliche Perspektiven auf dem ersten Arbeitsmarkt undnicht nur im Hinblick auf haushaltsnahe Beschäftigungen.
Unsere Anträge und Forderungen liegen nicht erst seitheute, sondern schon seit Wochen auf dem Tisch: die For-derung nach einem modernen Kündigungsschutzrecht ge-rade für Problemgruppen, nach einer Steuerentlastung,nach flexiblen Bündnissen für Arbeit in den Betrieben undnach einer Änderung des Günstigkeitsprinzips.Es ist ja nicht so, dass nur wir dies fordern. Alle Ex-perten schreiben Ihnen dies ins Stammbuch. Die vonIhren Fachleuten besetzte Benchmarkinggruppe hat Ihnenvor einem Jahr eine wunderbare Reformagenda an dieHand gegeben, wonach Sie eigentlich nur hätten handelnmüssen. Aber was haben Sie getan? – Sie haben nichts ge-tan.
Frau Kollegin Wöhrl, denken Sie bitte an Ihre Rede-
zeit.
Ja.
Ich glaube – auch Sie spüren das –, dass es in unserer
Gesellschaft eine Reformbereitschaft gibt. Die Men-
schen sind zu Veränderungen bereit. Aber die Menschen
wollen auch, dass man ihnen die Wahrheit sagt. Sie haben
nicht das Gefühl, dass Sie ihnen die Wahrheit sagen.
Hören Sie endlich auf den Expertenrat der Wirtschaftsin-
stitute! Setzen Sie sich mit den Vorschlägen Ihrer eigenen
Fachleute auseinander und werden Sie endlich der großen
Verantwortung, die Sie als Regierungspartei in unserem
Land haben, gerecht! Es wird Zeit.
Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Werner Schulz, Bünd-nis 90/Die Grünen.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauWöhrl, in einer Sache gebe ich Ihnen Recht: Man solltedie Vorschläge der Hartz-Kommission nicht überschät-zen.
Man sollte sie allerdings auch nicht unterschätzen.
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In beiden Betrachtungsweisen liegt eine gewisse Tücke.Wenn Sie etwas kleinreden, was überhaupt noch nicht be-gonnen hat und noch nicht ausprobiert wurde, dann nenneich das Kleinmut.
Sie sollten sich einmal die flammende Aufmunte-rungsschrift von Graf Lambsdorff – Sie haben uns ja ge-rade Literaturhinweise gegeben – anschauen, in der erüber Mut statt Missmut schrieb. Was wir brauchen, istMut zur Veränderung.
Die Vorschläge der Hartz-Kommission führen zu Verän-derungen auf dem Arbeitsmarkt.
Sie haben eine Debatte, die parteipolitisch festgefahrenbzw. blockiert war, wieder in Bewegung gebracht. Dasswir heute über die Frage sprechen, was Flexibilisierungauf dem Arbeitsmarkt bedeutet, ist durch die Hartz-Kom-mission zustande gekommen.Wir verlangen doch den Arbeitslosen eine ganzeMenge ab, wenn wir das Prinzip „Fördern und For-dern“ umsetzen, wenn wir Arbeitslose mit einer Maß-nahmenbalance aus Sanktionsmöglichkeiten und positi-ven Anreizen aktivieren. Das versuchen wir umzusetzen,
um wieder zusätzliche Beschäftigung zu bekommen.Die Vorschläge, die im Bericht der Hartz-Kommissionenthalten sind, die wir mit einem ersten Gesetzentwurfumsetzen und die im Einzelnen die Schaffung von Perso-nal-Service-Agenturen, Minijobs, Ich-AGs und derglei-chen umfassen, bieten Möglichkeiten, um zu mehrBeschäftigung zu kommen. Die Aussage, dass das Hartz-Konzept nur eine bessere Vermittlung bringt und keine zu-sätzliche Arbeit schafft, stimmt so nicht. Es werden zu-sätzliche Arbeitsanreize geschaffen und für Arbeitslosedie Möglichkeiten erhöht, Arbeit anzunehmen.Schauen Sie sich die Personal-Service-Agenturen an:Hier versuchen wir, die Defizite im Bereich der Dienst-leistungen, die wir in Deutschland noch haben, zu über-winden. Ein Imageproblem besteht beispielsweise darin,dass die Zeit- und Leiharbeit mit einem gewissen Min-derwertigkeitskomplex versehen ist. Wir müssen der Leih-arbeit durch vernünftige und vor allem annehmbare Be-dingungen der Entlohnung und Arbeitszeit zur Akzeptanzin der Gesellschaft verhelfen.Das geht natürlich mit einem Abbau von Bürokratieeinher. Insofern greift Ihre Kritik ins Leere. Schauen Siesich nur einmal das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz an!Wir tragen an verschiedenen Stellen zum Bürokratie-abbau bei, beispielsweise durch Abschaffung des Syn-chronisationsverbots, des Befristungsverbots, des Wie-dereinstellungsverbots und des Abwerbeverbots. Diesalles sind doch Schritte in die Richtung Deregulierung.Wenn wir Anpassungsleistungen von den Arbeitslosenverlangen, dann sind wir selber aufgefordert, in Vorleis-tung zu gehen und auf der administrativen Seite ebenfallsFlexibilität zu zeigen. Das tun wir hiermit.Wir sollten die Wirkung der von der Hartz-Kommis-sion vorgeschlagenen Maßnahmen nicht überschätzen.Sie müssen natürlich in eine innovative Wirtschaftspolitikeingebettet sein. Daher bemühen wir uns – Sie haben esverfolgt und das letzte Wort in Sachen Lohnnebenkostenist noch nicht gesprochen –, den FaktorArbeit zu entlas-ten. Zudem müssen wir mutige Schritte im Bereich derRente unternehmen und zur Effizienzsteigerung im Ge-sundheitswesen beitragen.
Das alles sind Herausforderungen, die von uns in Angriffgenommen werden. Wir stehen doch erst am Beginn die-ser Legislaturperiode.Genauso ist es mit der Politik der innovativen Techno-logien, der Clusterbildung, die wir mit dem Inno-Regio-Programm planen. Dies alles werden wir vertieft angehen.Das bezieht – das muss ich ganz klar sagen – die ökologi-sche Steuerreform mit ein. In diesem Rahmen ist es uns inder letzten Legislaturperiode erstmalig gelungen, denFaktor Arbeit ernsthaft zu entlasten
und den Faktor Umweltverbrauch stärker in den Mittel-punkt zu rücken.
Das mag Ihnen nicht gefallen, aber das war bisher erfolg-reich. Daran werden wir festhalten, nicht nur weil es einUmsteuern bedeutet, sondern auch weil dadurch neueArbeitsplätze entstanden sind.Wenn Sie fragen, wo neue Arbeitsplätze entstandensind, kann ich Sie auf diesen Bereich verweisen: 150 000neue Arbeitsplätze sind allein im Bereich der regenerati-ven Energien und der Umweltschutztechnologien ent-standen. Hier sind wir Exportweltmeister.
Diese Position werden wir halten.Zusammengenommen mit den im Rahmen der Hartz-Kommission vorgesehenen Maßnahmen haben wir einKonzept, wie wir die Arbeitslosigkeit senken werden. IhreKritik greift also zu kurz.
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel,FDP-Fraktion.Werner Schulz
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Kollege Schulz hat gerade zu Recht das Pa-pier zu Mut zur Veränderung von Otto Graf Lambsdorffgelobt. Ich kann Ihnen versichern, dass wir auf der Grund-lage der Theorien von Otto Graf Lambsdorff sehr gernebereit sind, mit Ihnen in den nächsten vier Jahren die Ar-beitsmarktpolitik zu gestalten. Das Problem ist nur, dassaus dem „Hartz“, der jetzt vorliegt, niemals ein Bernsteinwerden kann. Das, was Sie jetzt umsetzen wollen, hatnämlich mit dem Hartz der Kommission nur noch herzlichwenig zu tun. Es kommt nicht zu einer Eins-zu-eins-Um-setzung,
sondern zu einer Eins-zu-null-Umsetzung zugunsten vonFrau Engelen-Kefer und zulasten der Arbeit suchendenMenschen in diesem Land.
Es gibt einige richtige Ansätze, Herr Minister Clement:Sie führen Jobcenter ein, die den Arbeitssuchenden einumfassendes Angebot aus einer Hand bieten sollen. Siehaben angeregt, die Beweislast umzukehren, weil Solida-rität keine Einbahnstraße sein kann. Derjenige, der einezumutbare Beschäftigung nicht annimmt, muss verpflich-tet werden, nachzuweisen, dass er dafür einen wichtigenGrund hat. Das ist heute nicht der Fall. All das ist richtig.Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als wir dies bean-tragt haben. Damals haben Sie dies in diesem Hause un-ter Absingen schmutziger Lieder abgelehnt. „NeoliberalerTurbokapitalismus“ lautete der Vorwurf von Ihrer Seite.Ich freue mich, dass Sie in der Realität angekommen sind.Auf diesem Weg müssen Sie weitergehen, denn nur durchFördern und Fordern können wir die Arbeitsmarktpro-bleme tatsächlich in den Griff bekommen.Dennoch wird aus diesem Hartz kein Bernstein werdenkönnen. Hartz hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dassIhre gesetzgeberischen Initiativen der letzten Legislaturpe-riode fehlgeschlagen sind. Die Einführung von 500-Euro-Jobs im haushaltsnahen Dienstleistungsbereich ist nichtsanderes als der Beweis dafür, dass Ihre 325-Euro-Rege-lung, die alte 630-DM-Regelung, einfach nicht gegriffenhat. Sie haben damit Schwarzarbeit gefördert.
Sie haben Arbeitskräfte in die Illegalität getrieben, diesich durch ihrer eigenen Hände Arbeit etwas dazuverdie-nen wollten. Das sind die Leistungsbereiten in diesemLand.Jetzt frage ich mich: Warum bleiben Sie auf halbemWeg stehen? Warum diskriminieren Sie wieder einmalArbeitsplätze, nämlich in privaten Haushalten, die regulärbesetzt werden könnten, indem Sie eben nicht den ganzenWeg gehen, das heißt die privaten Haushalte, die sozial-versicherungspflichtige Arbeitsplätze anbieten, so behan-deln wie andere Arbeitgeber auch, bei denen reguläreArbeitsplätze steuerlich entsprechend zu berücksichtigensind – als Betriebsausgaben bei Selbstständigen oder Wer-bungskosten bei abhängig Beschäftigten?
Warum gehen Sie den Weg nicht weiter, auch in derFrage des Niedriglohnsektors? Warum sagen Sie inIhrem Gesetzentwurf, dass ein 500-Euro-Job im haus-haltsnahen Bereich unschädlich ist, wenn er zusammenmit einem 325-Euro-Job irgendwo anders ausgeübt wird?Warum ist es nicht unschädlich, wenn er neben einem sogenannten regulären Arbeitsverhältnis ausgeübt wird,
und zwar deshalb, weil sich jemand noch etwas dazuver-dienen will, weil er das Häuschen abbezahlen will, weil ersich einen zusätzlichen Urlaub leisten will?
Wodurch Hartz Ihnen auch ganz klar sagt, dass Sie ge-scheitert sind, ist die so genannte Ich-AG. Wenn SieSelbstständigkeit fördern wollen, dann schaffen Sie dasGesetz zur Förderung der Scheinselbstständigkeit ab!
„Ich-AG“ bedeutet doch nichts anderes, als dass einKleingewerbetreibender, der arbeitslos ist, subventioniertund in den Sozialversicherungssystemen abgesichertwird, wahrscheinlich auch noch durch einen niedrigenpauschalen Steuersatz gefördert wird, sodass jeder andereKleingewerbetreibende, der nicht auf arbeitslos und nichtauf Ich-AG macht, doch geradezu bescheuert sein muss.
Sie schaffen hiermit einen weiteren Subventionstatbe-stand, der dazu führt, dass die Menschen den Umweg überdie Arbeitslosigkeit suchen, um in die Selbstständigkeitzu gehen. Das ist der falsche Ansatz.Ein weiterer Grund dafür, dass aus diesem Hartz keinBernstein werden kann, ist die PSA, die Personal-Ser-vice-Agentur. Die Personal-Service-Agentur soll nachIhrem Verständnis dafür sorgen, dass die Möglichkeitender Zeitarbeit intensiver genutzt werden. Sie wird aber derTodesstoß für die privaten Zeitarbeitsfirmen sein,
jedenfalls der kleinen und mittleren, vielleicht nicht derganz großen. Die mittelständischen Zeitarbeitsbetriebekönnen unter diesen Wettbewerbsbedingungen überhauptnicht mehr mithalten. Keine Chance!Sie schaffen vor allem eines nicht: Sie schaffen dieBekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht. „Bekämpfung derArbeitslosigkeit“ heißt, dafür zu sorgen, dass Arbeits-plätze geschaffen werden könnnen und Leute ohne Sub-ventionen beschäftigt werden. „Bekämpfung der Arbeits-losigkeit“ heißt aber nicht, 2 Millionen Arbeitslose beim
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Staat anzustellen, um sie aus der Statistik zu bekommen.Nur das aber werden Sie mit Ihrer Personal-Service-Agentur schaffen.
Sie gehen den Weg auch nicht weit genug, was dieStrukturveränderung bei der Bundesanstalt für Arbeitanbetrifft. Herr Clement hat gerade den Rechnungshofbe-richt über die Qualifizierung angesprochen.
Ein konsequenter Schritt wäre, sich über die StrukturenGedanken zu machen. Die Strukturen und zum Teil sogardie handelnden Personen sind bei den Selbstverwaltungs-organen der Bundesanstalt und den Führungsetagen dergrößten Bildungsträger in der Bundesrepublik Deutsch-land deckungsgleich. Es ist schon hochinteressant festzu-stellen, wer diese Bildungsträger sind. Das bfw des DGBauf der einen Seite und die Bildungswerke der Wirtschaftin den jeweiligen Ländern auf der anderen Seite sind dieHauptträger der beruflichen Qualifizierung in diesemLand. Das sind auch die gleichen, die sich in den Verwal-tungsstrukturen der Bundesanstalt wiederfinden.
Vielleicht wäre es hilfreich, wenn man hier zu mehrWettbewerb und zu mehr Entzerrung käme, wenn dieBundesanstalt für Arbeit in eine Versicherungsanstalt um-gewandelt würde und wenn die arbeitsmarktpolitischenInstrumentarien, zum Beispiel auch das Gutscheinsystem,wie Sie es vorschlagen, interessanter gestaltet würden fürdiejenigen, die sie nutzen sollen, nämlich die Arbeitssu-chenden. Aber gestalten Sie das Gutscheinsystem bitte so,dass es auch funktioniert und nicht so wie bei den Ver-mittlungsgutscheinen! Dass die Vermittlungsgutscheinejetzt floppen – es sind gerade einmal 7 000 wirklich ver-mittelte Bewerberinnen und Bewerber –, liegt nicht daran,dass Gutscheine die falsche Idee sind, sondern daran, dassSie die Gutscheine nicht marktgerecht ausgestaltet haben,dass Sie die Qualifikationen der Bewerberinnen und Be-werber nicht berücksichtigt haben und dass Sie daraufverzichtet haben, einen wirklichen Wettbewerb dadurcheinzuführen, dass man die Gutscheine auch beim staat-lichen Vermittler einreichen kann, der sich dann natürlichdurch den Erfolg refinanzieren müsste.Deswegen gilt: 1 : 1 ist das mit Sicherheit nicht. Es ist1 : 0 für Engelen-Kefer. Wir warten mit großem Interesseab, wie die Beratungen vorangehen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Singhammer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Sechs Wochen nach der Bundestagswahl wach-sen der rot-grünen Bundesregierung die wirtschaftspoliti-schen Probleme buchstäblich über den Kopf. Die Sozial-versicherungssysteme entgleiten Ihnen. Man muss sichnur die heute veröffentlichten Arbeitsmarktzahlen an-schauen. Inzwischen gibt es neue Höchststände bei derArbeitslosigkeit im Fünfjahresrhythmus.
Die Menschen in Deutschland weichen in Schwarzarbeitaus oder verfallen in Depression.Herr Minister, in dieser Situation preist Ihre RegierungdasHartz-Konzept als letzten Rettungsanker und als poli-tisches Allheilmittel an. Die Finanzlöcher von Herrn Eichelsollen damit saniert, die Rentenversicherung und das Ge-sundheitssystem vor der Pleite bewahrt, die Beiträge zurArbeitslosenversicherung gesenkt, das Wirtschaftswachs-tum angekurbelt und für die Kommunen eine neue, nichtversiegende Geldquelle zum Sprudeln gebracht werden.Aber das Hartz-Konzept ist keine Wunderdroge, kein Anti-depressivum gegen die miese Stimmung in unserem Land;denn alle Vorschläge der Hartz-Kommission sorgen nur füreine Umverteilung der Arbeitslosigkeit und schaffen kei-nen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz.
Der Kernauftrag der Hartz-Kommission war ja schließ-lich, die Vermittlung von Arbeitslosen zu verbessern unddadurch auch Kosten sparen zu helfen. Aber selbst wennIhnen das optimal gelingen würde, wenn Sie einen Ver-mittlungsturbo zünden würden und jedem Arbeitslosenversprechen könnten, innerhalb von 24 Stunden erfolg-reich vermittelt zu werden, nutzt das alles nichts, wenn dieArbeitsplätze fehlen. Das Modell, das Sie uns heute prä-sentiert haben, entspricht im Wesentlichen einem riesigenDrehtürmodell: Millionen von Arbeitslosen werden durchTausende von Bürokraten in ständiger Bewegung gehaltenwerden. Sie werden aber keinen Einstieg in eine neue Be-schäftigung finden.
Das ist der entscheidende Fehler in Ihrem Konzept.
Die Tätigkeit der jetzigen Bundesregierung steht unterkeinem guten Stern; denn der größte Wahlbetrug in derGeschichte der Bundesrepublik hängt wie ein großerSchatten über Ihnen.
Dieser wird sich auch nicht vertreiben lassen.
Beim Hartz-Konzept setzen Sie Ihre Unseriosität fort.Der Kanzler selbst hat noch am 20. Oktober dieses Jah-res – das ist eine seiner vielen Äußerungen – auf demSPD-Parteitag verkündet, dass das Hartz-Konzept 1 : 1Dirk Niebel
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Johannes Singhammerumgesetzt werde. Das sei festgeschrieben. Wer daranzweifle, bekomme es mit ihm zu tun. Natürlich wird esnicht 1 : 1, sondern nur bruchstückhaft umgesetzt werden.Wie negativ das selbst von denen bewertet wird, die ihreArbeitskraft bei der Erarbeitung des Hartz-Konzeptes ein-gebracht haben, können Sie heute in den Zeitungen nach-lesen. Der Generalsekretär des ZDH, Herr Schleyer,spricht von Vertrauensbruch. Tatsache ist, dass die jetzigeBundesregierung die Mitglieder der Hartz-Kommissiongetäuscht und missbraucht hat. Das kommt jetzt heraus.
Ich möchte Ihnen als Beispiel die hier schon öfter auf-geführten Personal-Service-Agenturen nennen. Ur-sprünglich war geplant, Zeitarbeitnehmer unterhalb star-rer Tariflöhne zu entlohnen und sie so für Arbeitgeberattraktiv zu machen. Doch jetzt soll das nicht mehr mög-lich sein. Das betriebsübliche Arbeitsentgelt und diefesten Tarifverträge sollen – zunächst nur mit wenigenAusnahmen – für alle gelten. Damit wird klar, wie das Er-gebnis aussehen wird: Außen steht als Etikett Personal-Service-Agentur, PSA, drauf. Innen ist aber nichts ande-res als die uralte AB-Maßnahme drin.
Die erfolgreiche Tätigkeit der Zeitarbeitsfirmen – HerrKollege Niebel, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen –wird dadurch massiv erschwert; denn wenn die PSA-Zeit-arbeitnehmer subventioniert und privilegiert werden, diemittelständischen Firmen aber bestraft werden, dann führtdas natürlich dazu, dass besonders bei diesen FirmenArbeitsplätze frei werden, dass also das genaue Gegenteilvon dem eintritt, was Sie versprechen.
Hinzu kommt das so genannte Bridge-System. Siewählen ja bewusst einen englischen Ausdruck, um zu ver-schleiern, was sich dahinter verbirgt. Mithilfe diesesBrückensystems sollen arbeitslose Arbeitnehmer ab55 Jahre ein so genanntes Brückengeld bis zum Eintritt indie Rente erhalten. Tatsächlich wird damit aber eine neuegefährliche Lawine der Frühverrentung in Gang gesetzt.Der Bundeskanzler hat noch vor wenigen Tagen zu Rechterklärt, man müsse langsam auf das gesetzliche Ren-teneintrittsalter von 65 Jahren kommen und könne nichtbei einem durchschnittlichen Renteneintrittsalter von un-ter 60 Jahren verweilen. Vor diesem Hintergrund wird dasBrückensystem glatt zum Gegenteil führen.Sie haben jetzt beklagt, dass die Rentenversicherungs-beiträge auf 19,5 Prozent ansteigen und bald 20 Prozenterreichen werden. Das Brückenmodell wird dazu beitra-gen, dass die 20 Prozent noch sehr viel schneller erreichtwerden.
Bei all diesen Maßnahmen sind Sie in einer Sache kon-sequent: Die Schicksalszahlen der Nation, die Erfolgszif-fern einer Bundesregierung – das sind die Arbeitslosen-zahlen –, werden durch Ihre Maßnahmen frisiert. Mitdem Brückensystem können Sie bis zu 500 000 Arbeits-lose, eine halbe Million, aus der Statistik entfernen. Mitden Personal-Service-Agenturen werden bis zu 780 000Arbeitslose staatlich geparkt. Wenn Sie dann noch – wievon Ihnen angekündigt – die internationale Statistik fürArbeitslosigkeit, die ILO-Statistik, einführen, werdenweitere 1,2 Millionen Arbeitslose aus der Statistik ver-schwinden.Herr Bundesminister, Sie können so weitermachen, Siekönnen uns auch in den nächsten Monaten vorrechnen,dass es in Deutschland überhaupt keine Arbeitslosigkeitgibt, Sie können sich selbst täuschen, aber die Menschenin Deutschland niemals.
Hinzu kommt die völlig ungeklärte und unseriöseFinanzierung, mit der Sie diese Maßnahmen gestaltenwollen. Herr Wirtschaftsminister, Sie sagen, Sie wollenund müssen 6 Milliarden Euro einsparen. Wie denn?Glauben Sie denn wirklich, dass unter den jetzigen Be-dingungen 500 000 zusätzliche Arbeitsplätze in der Zeit-arbeit entstehen können? Glauben Sie das ernsthaft?
Wovon soll die Subventionierung der haushaltsnahen500-Euro-Jobs der Ich-AGs bezahlt werden? Wie soll dasBonussystem für einstellende Betriebe bezahlt werden?Woraus wird die Einführung des JUMP-plus-Programmsfinanziert? Wer zahlt denn allein in diesem Jahr das Defi-zit der Bundesanstalt von 4,5 bis 4,8 Milliarden Euro, wiees ihr Chef Gerster vor kurzem gemeldet hat?Dazu passt es, dass Sie gleichzeitig ankündigen, dasProjekt Arbeitslosengeld II wolle man ebenso anpacken.
Das kostet als Unterstützung für arbeitsfähige Sozialhil-feempfänger ab 2004 im Rahmen des Hartz-Konzeptes6 Milliarden Euro zusätzlich.Meine Damen und Herren, das Gesamtbild zeigt, dassdie Finanzierung unseriös ist und Sie die selbst gesteck-ten Ziele, vor allem Ihr Hauptziel, mehr Arbeitsplätze zuschaffen, mit Ihren Plänen niemals erreichen werden.
Als Opposition wird uns gelegentlich vorgeworfen:Wo sind eure eigenen Vorstellungen? Wie sehen eurePläne aus?
Wir haben sie vorgelegt. Wir haben sie exakt ausgearbei-tet und überzeugend formuliert. Sie sind in ihrer Konse-quenz ein Segen für Deutschland.
Unser Dreistufenprogramm würde als Konjunktur-spritze wirken. Die erste Stufe: Minijobs bis zu 400 Eurobrutto gleich netto, das heißt ohne Abzüge.
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Mehrere Hunderttausend Jobs würden allein im Einzel-handel und im Bereich der Gastronomie gesichert werden.Warum? Wenn ein Arbeitnehmer, der einen 400-Euro-Minijob hat, sein Geld ohne irgendwelche Bürokratiebrutto gleich netto erhält, wird er es auch rasch für denKonsum ausgeben. Das Geld würde dahin fließen, wo esnotwendig gebraucht wird, um Arbeitsplätze sicherer zumachen, beispielsweise in den Einzelhandel.Deshalb ist die Umsetzung der ersten Stufe, die wir ganzschnell bewerkstelligen könnten, konsequenter, besser undweiterführender als das, was Sie mit Ihrem 500-Euro-Pro-gramm nur für den schwer abgrenzbaren Haushaltsbereichvorschlagen.
Es muss dann natürlich auch eine zweite Stufe geben;Sie können nicht bei der ersten stehen bleiben. Denn Ar-beit in regulären Beschäftigungsverhältnissen muss sichwieder lohnen. Deshalb haben wir dieses Einschleifmo-dell entwickelt. Das heißt, Arbeit in regulären Beschäfti-gungsverhältnissen soll sich auch bei einem Betrag ab400 Euro lohnen; es sollte nicht so sein, dass man erst ab750 Euro mehr Geld netto in der Tasche hat. Deshalb ha-ben wir die zweite Stufe dieses Modells entwickelt.Zunächst wird der Sozialversicherungsbeitrag für den Ar-beitnehmer bei 1 Prozent festgelegt. Das heißt, auch dann,wenn jemand über 400 Euro verdient, bleibt ihm mehr inder Tasche. Es macht wieder Freude zu arbeiten; es lohntsich wieder. Damit wird der Leistungsanreiz, den wirdringend brauchen, entsprechend verstärkt.In der dritten Stufe geht es dann um mehr Anreize zurArbeitsaufnahme.Verehrte Kollegen von der Regierung, es ist Ihnen vonunserer Seite, gerade auch vom Kollegen Laumann, dieernsthafte Mitarbeit angeboten worden. Uns liegt Deutsch-land am Herzen. Wir werden uns nicht verweigern. Siewerden mit diesem Konzept, wenn Sie es unverändert ver-wirklichen, Deutschland nicht voranbringen, sondern wei-ter in den Abgrund führen. Dabei werden wir nicht mit-machen.
Das Wort hat die Kollegin Karin Roth, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Vor der Bundestagswahl haben wir den Men-schen in diesem Land versprochen, die Vorschläge derHartz-Kommission vollständig und zügig umzusetzen.
Heute, nur sieben Wochen später, lösen wir dieses Ver-sprechen ein. Ich verstehe, dass sich die Opposition da-rüber ärgert.
Aber es geht nicht um die Befindlichkeit der Opposition;es geht um das Schicksal der Menschen in unserem Land.Darum kümmern wir uns.
Durch die konsequente Durchsetzung des Prinzips„Fördern und Fordern“ im Arbeitsmarkt geben wir derArbeitsvermittlung eine neue Dynamik, eine Dynamik,Herr Laumann,
die den Arbeitslosen und der Wirtschaft gleichermaßennutzen wird. Das haben Sie eingeklagt und das tun wir, in-dem wir diesen Gedanken des Förderns und Forderns inden Gesetzentwurf aufgenommen haben.
Mit unserem Gesetzesvorschlag schaffen wir eine bes-sere Verzahnung von Wirtschafts- und Arbeitsmarktpoli-tik. Wir denken nämlich tatsächlich im Ganzen; auch FrauWöhrl könnte das beherzigen. Von dieser Arbeitsmarkt-politik profitieren die Arbeitslosen und die Wirtschaft.Das ist dadurch möglich, dass wir mehr Flexibilität inden Arbeitsmarkt hineinbringen. Das mag der FDP zu we-nig sein, aber es ist uns genug. Wir wollen die Menschennämlich auch sozial absichern, weil wir wissen, dass Frei-heit nur durch soziale Sicherheit möglich ist.
– Herr Laumann, ich werde noch auf Sie zurückkommen.Ich nenne hier nur wenige Punkte. Erstens: die schnel-lere und passgenaue Vermittlung in Arbeit. Wir sorgendafür, dass sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerunverzüglich mit dem Aussprechen der Kündigung beimArbeitsamt melden, das heißt in einen Vermittlungspro-zess eintreten.
Das bedeutet eine schnellere Geschwindigkeit für diesenProzess. Das heißt natürlich auch – das ist wichtig –: DieBetroffenen tragen Verantwortung dafür, dass sie sich so-fort im Anschluss an die Kündigung melden. Wir erwar-ten vonseiten der Betroffenen Eigeninitiative und Ver-bindlichkeit.Zweitens. Wir werden die Zeitarbeit aufwerten.
Auch hier habe ich den Eindruck: Das passt Ihnen ir-gendwie nicht, weil Sie das eigentlich nicht wollen, ob-wohl doch klar ist, dass wir in Deutschland noch einJohannes Singhammer
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Karin Roth
großes Potenzial in diesem Bereich haben und diese Bran-che weiter entwickeln können.
Die Zahl der Zeitarbeiter betrug im vergangenen Jahr360 000. Die Zahl der Arbeitnehmer in diesem Bereich istin den vergangenen zehn Jahren verdreifacht worden.Aber im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ha-ben wir hier noch ein großes Wachstumspotenzial.
Aber die Frage ist: Wie erreichen wir dieses Wachstums-potenzial? Wir erreichen es nur, wenn wir die Zeitarbeit,wie es Minister Clement gesagt hat, aus der Schmuddel-ecke herausholen, indem wir in diesem Bereich reguläreArbeitsplätze schaffen. Dann können wir mit diesen Zeit-arbeitsverhältnissen auch offensiver arbeiten.
Mit den neuen Bestimmungen holen wir die Zeitarbeitaus dem Abseits und platzieren sie im Arbeitsmarkt.
Wichtige Voraussetzung dafür ist, dass für diesen Sektorverbindliche soziale Standards entwickelt und faire Be-dingungen hergestellt werden, um die Akzeptanz diesesSektors zu erreichen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit istfür uns eine wesentliche Devise. Diesen Grundsatz habenwir im Gesetz verankert. Das machen uns die europä-ischen Nachbarn vor.Herr Laumann, ich komme jetzt auf Sie zu sprechen.Sie haben sich eben im Zusammenhang mit den Minijobszum Wächter der kleinen Leute aufgespielt.
Gleichzeitig haben Sie aber mit Blick auf den Bereich derZeitarbeit gesagt, wir bräuchten einen Billiglohnsektor.Das ist eine Doppelmoral. Die Menschen in diesem Landwerden erkennen, dass Sie auf zwei verschiedenen Ebe-nen argumentieren. Sie werden nicht akzeptieren, dass Siebehaupten, wir würden bei den Minijobs deregulieren undbei den Personal-Service-Agenturen nicht. Wir sind stolzdarauf, dass wir eine Regelung getroffen haben, die Flexi-bilität schafft. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Mit uns wirdes keine Arbeitnehmer erster und zweiter Klasse geben.Dafür garantieren wir.
Mit der flächendeckenden Einrichtung der Personal-Service-Agenturen, dem Herzstück der Hartz-Kommis-sion, wird die Vermittlung beschleunigt. Gleichzeitigbauen wir eine neue Brücke in den Arbeitsmarkt; dennjeder Vierte, der ein Zeitarbeitsverhältnis hat, wird früheroder später von der Leiharbeitsfirma übernommen. Daskönnte beschleunigt und noch besser werden.
Mit dem Gesetzespaket zur Umsetzung der Hartz-Vor-schläge werden wir den Arbeitsmarkt in Deutschland um-gestalten und auf die Anforderungen der Zukunft vorbe-reiten. Jetzt stellen Sie sich, meine Damen und Herren vonder Opposition, hierhin und sagen, das sei für die Kon-junktur schädlich und werde überhaupt nichts bringen. Ichsage Ihnen: Sie haben einfach keine Ahnung von ökono-mischen Zusammenhängen. Ihnen fehlt einfach der Blickfürs Ganze.
Für die Bundesregierung ist und bleibt die Bekämp-fung der Arbeitslosigkeit die zentrale Aufgabe. Die Ar-beitsmarktpolitik der rot-grünen Bundesregierung akti-viert alle, Arbeitslose und Arbeitgeber.
Wir erwarten, dass sich die Menschen, die Arbeit suchenund die während der Zeit der Arbeitslosigkeit Lohn-ersatzleistungen beziehen, aktiv an der Qualifizierungund am Vermittlungsprozess beteiligen. Wir erwarten vonallen, an der Umsetzung mitzuhelfen.Sie sehen, die Bundesregierung ist bereit und ent-schlossen, tatkräftig voranzugehen. Allein kann es dieBundesregierung allerdings nicht packen. Wir braucheneine große gemeinsame Kraftanstrengung. Peter Hartzwürde es so formulieren: Jetzt sind die Profis der Nationaufgefordert, zu zeigen, was sie können. Die Arbeitgeberkönnen zeigen, wo und in welchen Branchen die so oftgenannten 1,5Millionen Arbeitsplätze sind, und diese denArbeitsämtern melden. Sie können die im Bündnis für Ar-beit gegebene Zusage, die etwa 1,9 Milliarden Überstun-den abzubauen, endlich einlösen; sie könnten dies denPersonal-Service-Agenturen melden und diese in An-spruch nehmen.
Von den Gewerkschaften erwarte ich Unterstützungbeim Ausbau der Zeitarbeit. Die Arbeitsverwaltung mussihre Neuorganisation auch weiterhin vorantreiben, umkundenfreundlicher zu sein. Sie muss effizienter und in-novativer werden.Was erwarte ich von der Opposition? Von Ihnen er-warte ich, dass Sie aus Ihren parteitaktischen Schützen-gräben herauskommen und bei der Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit Verantwortung übernehmen. Aber nachdem, was ich heute zum ersten Mal gehört habe, habe ich
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im Moment große Zweifel. Ihr ständiges Lamentierenüber den radikalen Abbau von Arbeitnehmerrechten undüber Deregulierung um jeden Preis, Herr Laumann, istkein Allheilmittel.
Ich fordere Sie einfach auf: Meckern und mosern Sienicht! Machen Sie mit! Verstehen Sie sich endlich alsProfi der Nation und machen Sie mit, damit in Deutsch-land endlich mehr Arbeitsplätze entstehen!
Frau Kollegin Roth, ich gratuliere Ihnen im Namen des
ganzen Hauses sehr herzlich zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen für Ihre politi-
sche Zukunft alles Gute.
Nächster Redner in der Debatte ist Robert Hochbaum,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Da mich außer Herrn Schwanitz nicht viele vonder SPD-Fraktion kennen, stelle ich mich kurz vor: Ichkomme aus Sachsen, genau genommen aus dem Vogt-land.
– Danke schön.Meinen Wählerinnen und Wählern, den Bürgerinnenund Bürgern dort habe ich versprochen, dass ich mich indiesem Hohen Hause ganz besonders für die Problemedes Ostens einsetzen werde.
– Klatschen Sie nicht zu früh! – Darum freue ich michganz besonders darüber, dass ich schon heute, nachdemich Ihre Gesetzesvorlagen lesen durfte, die Gelegenheitdazu bekomme.Seit vorgestern liegt das Machwerk also vor. Die bei-den Gesetzentwürfe für moderne Dienstleistungen am Ar-beitsmarkt wurden, wie ich gehört habe, ohne Rücksichtauf Verluste in wenigen Tagen und Nächten durchge-peitscht. Ich spreche dabei nicht von den Verlusten an Per-sonal, sondern von den Verlusten an Substanz; die fehlt inIhren Gesetzesvorlagen nämlich.
Vielleicht hätten Sie sich ein paar Tage mehr Zeit nehmensollen; denn Schnellschüsse waren noch nie der Garantfür Qualität. Das sieht man auch bei diesen Gesetzent-würfen.
– Das tue ich gerne; extra für Sie.
Meine Damen und Herren von der SPD und den Grü-nen, wenn man sich die Gesetzesvorlagen aufmerksamdurchliest, wird man wieder das feststellen, was bereits inden letzten vier Jahren festzustellen war: Der Osten fin-det nicht statt.
Sie haben ihn wie immer schlichtweg vergessen.
Ich kann nur sagen: Da Sie dem Osten schon seit vier Jah-ren den Rücken zukehren, sollten Sie ihn wenigstenshuckepack nehmen und mittragen.
In welcher Welt leben Sie eigentlich?
– Ost und West ist das Thema. – Haben Sie noch nicht ge-merkt, dass es in Deutschland zwei vollkommen unter-schiedliche Arbeitsmärkte und zwei vollkommen unter-schiedliche Wirtschaftsstrukturen gibt? Das haben Sieanscheinend nicht gemerkt; denn das kann man in IhrenGesetzentwürfen nicht wiederfinden.
– Ganz besonders freut es mich heute, dass mir bei mei-ner ersten Rede gerade auch von der Koalition so viel Auf-merksamkeit und Wachheit geschenkt wird. Danke schön,meine Damen und Herren.
Sie haben den Osten doch schon immer vergessen. Wiewar es denn beim letzten Mal nach Ihrer Regierungsüber-nahme?
Damals, Sie waren kaum an der Regierung, haben Sie dieeinzige Förderung der Ostwirtschaft, die LKZOfW, umdie Hälfte gekürzt. Das Ergebnis war, dass dieses sehrsinnvolle Instrument für den Osten ziemlich weit nach un-ten gefahren wurde und heute kaum mehr wahrgenommenwird. Das war vor vier Jahren Ihre Arbeit. So haben Siesich um den Osten gekümmert.
Karin Roth
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Robert HochbaumIch kann mich auch noch ganz gut daran erinnern, dasshier im Hohen Hause irgendjemand davon gesprochenhat, der Osten stehe auf der Kippe. Meine Damen undHerren von der Regierung, von der SPD und von den Grü-nen, ich kann Sie beruhigen: Nach den ersten vier Jahren,die Sie an der Regierung sind, steht der Osten nicht mehrauf der Kippe – er befindet sich im freien Fall nach unten.Das haben Sie in den vier Jahren geschafft.
Bleiben wir ganz kurz bei Ihren arbeitsmarktpoli-tischen „Glanzleistungen“. In der Einführung zu IhrenGesetzentwürfen erläutern Sie, dass die Rahmenbedin-gungen für mehr Wachstum und Beschäftigung unter an-derem durch das Job-AQTIV-Gesetz nachhaltig verbes-sert worden seien. Als Beweis – das steht in Ihrer jetzigenKonzeption; lesen Sie das einmal nach – geben Sie dieSteigerung der Erwerbstätigenzahl an. Dabei haben Sieden Trick angewandt, dass Sie über Nacht ein paar ge-ringfügig Beschäftigte in die Statistik der Sozialversiche-rung aufgenommen haben.
Damals war zumindest im Bereich der sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigten plötzlich ein Zuwachs zu verzeich-nen. Aber Sie haben Recht: Die Zahl der Erwerbstätigen von1998 bis zum Jahr 2001 ist in Deutschland gestiegen.
Schauen Sie sich diese Zahlen einmal genau an. Es gibtUnterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. ImWesten hat dieses Spielchen funktioniert. In diesen Jahrenwar eine Steigerung zu vermerken. Aber im Osten standdem ein stetiger Rückgang entgegen. Mir kommt es so vor,als ob Sie auf einem Auge, nämlich dem Ostauge, nicht sorichtig sehen können; sonst hätten Sie das festgestellt.
Etwas versöhnlicher, aber keinesfalls beruhigend istfür mich, dass Sie es dieses Jahr geschafft haben, dassbeide Zahlen ins Negative tendieren. Dazu kann ich Ihnennur gratulieren.
Glauben Sie allen Ernstes an die Mär, die Masse un-serer ostdeutschen Arbeitslosen sei arbeitsunwillig? Sokommt es mir nämlich vor, wenn ich den Gesetzestextlese. Darin ist nämlich sehr viel von Mobilität die Rede.Das heißt für mich Abwanderung. Hat es Ihnen noch nichtgenügt, dass Sie Jugendlichen im Osten „Abwanderungs-prämien“ gezahlt haben? Sind denn nicht schon genuggegangen?
– Sie ist dann schlecht, wenn sie dazu führt, dass der Ostenausblutet, meine Dame. Das ist nicht in Ordnung, liebeKollegin.Leider glänzt der Bundeskanzler gerade durch Abwe-senheit. Aber ich wäre ja schon froh, wenn zum Beispielder „Ostminister“ anwesend wäre.
– Entschuldigung, es ist also ein Vertreter des Hauses da.
Aber der Minister ist nicht in persona anwesend, um sicheinmal um Wirtschaft und Arbeit zu kümmern.Weil so viel von Mobilität gesprochen wird, hätte ichdem Bundeskanzler geraten, er solle sich einmal Sonn-tagabend oder Montagmorgen auf eine der Autobahn-brücken bei Hof stellen. Dann würde er sehen, wo seinVolk hinfährt. Es fährt nämlich Woche für Woche Rich-tung Westen, ein Auto hinter dem anderen, eine nicht en-den wollende Schlange. So sieht das aus. Nach Ihrem Ge-setzentwurf sollen es noch mehr werden. Dann müssenSie erst einmal eine zweite Autobahn bauen, damit dasGanze Richtung Westen besser abfließt.
– Nein, ich rede darüber, wie Sie in Ihrem Gesetzentwurfauf Themen wie Mobilität eingehen.Kommen wir zu weiteren Bestandteilen Ihrer Geset-zesvorlagen.
Darin gibt es etliche Aussagen zum Thema Vollzugsauf-wand.
– Sie müssen jetzt gut zuhören. – Vollzugsaufwand ist dieUmschreibung für Bürokratie und Verwaltung. EinigeAussagen kommen mir bekannt vor. Sie erinnern an Ihrberühmtes Job-AQTIV-Gesetz.
Auch damals haben Sie zugegeben, dass ein erhöhterVollzugsaufwand, sprich Bürokratie und Verwaltung, aufdie Behörden zukommt, Sie dies aber durch einen deut-lichen Abbau der Arbeitslosigkeit kompensieren wollen.Wo ist denn dieser deutliche Abbau von Arbeitslosigkeit?Schauen Sie sich die heutigen Zahlen an. Was heißt denndas? Bürokratie ist geblieben, mehr Verwaltung ist hinzu-gekommen und die Arbeitslosenzahlen sind unverändert.Das ist das Ergebnis Ihres Job-AQTIV-Programmes.
Dasselbe steht auch heute im Gesetzentwurf. Sie habenalso nichts dazugelernt. Es könnte natürlich auch sein,dass Sie einen Teil aus dem alten Gesetz schlichtweg ab-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002 417
geschrieben haben. Ich kann dazu nur sagen: Öfter mal et-was Neues!Lassen Sie mich kurz die grandiosen Einsparideen zumThema Vollzugsaufwand ansprechen: Wegfall der Hinter-legung der Sozialversicherungsausweise, Anpassung desArbeitslosengeldes – die wieder insbesondere die Bürgerim Osten treffen wird –, Verzicht der Prüfung auf Eigen-leistungsfähigkeit und die „tolle“ Pauschalisierung derÜbergangsbeihilfe von bisher 80 Prozent des Nettoein-kommens auf 1 000 Euro. Jedem Insider ist bekannt, dassdiese Tätigkeiten nur einen relativ kleinen Teil der ver-waltungstechnischen Belastung in der Vermittlung aus-machen, sodass diese durch die von Ihnen vorgesehenenMaßnahmen kaum entlastet wird. Vielmehr ergibt sichdurch die Vielzahl der Neuerungen ein zusätzlicher Ver-waltungsaufwand, der zu einer Zunahme der Bürokratie,aber nicht zu einer Zunahme bei den Vermittlungen führenwird.Meine Damen und Herren von der Koalition, ich habemir fest vorgenommen, mit meiner Redezeit auszukom-men. Deswegen möchte ich nur kurz die Einleitung IhrerGesetzentwürfe ansprechen, in der festgestellt wird, dassdie Herstellung einer neuen Ordnung auf dem Arbeits-markt nur gelingen kann, wenn neue Wege und Lösungs-ansätze verfolgt werden. – Das hört sich nicht schlecht an.
Ich kann Ihnen aber eines garantieren – wir können in einoder zwei Jahren wieder über das Thema sprechen –: Dievon Ihnen vorgelegten Gesetzentwürfe werden den Pro-blemen der unterschiedlichen Arbeitsmärkte, vor allemden Problemen im Osten, genauso wenig gerecht wie dasgefloppte Job-AQTIV-Gesetz und sie werden diese Pro-bleme nicht beseitigen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Hochbaum, ich gratuliere Ihnen ebenfalls
im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen viel Durchset-
zungskraft für Ihre politischen Ziele.
Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch, fraktionslos.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für dieZuschauerinnen und Zuschauer möchte ich vorweg-schicken: Ich bin Abgeordnete der PDS. – Gegen Kom-missionen ist eigentlich nichts einzuwenden, wenn nicht,wie in diesem Fall, der Eindruck entstehen würde, dassdie Kommissionen den Bundestag ersetzen sollen. An-ders ist das Verfahren nicht zu verstehen: Wir bekommeneinen Tag vor der ersten Beratung dicke Gesetzespaketeauf den Tisch gelegt. Ich möchte bezweifeln, liebe Vor-rednerinnen und Vorredner, dass jeder Gelegenheit hatte,die Gesetzentwürfe im Detail zu studieren.Diese Regierung hat hektisch die Koalitionsvereinba-rung erarbeitet und schon wieder nachbessern müssen.Jetzt versuchen die Regierungsfraktionen, diese unpro-duktive Hektik in den Bundestag zu tragen. Herr MinisterClement hat zwar mehrmals davon gesprochen, dass dasin aller Ruhe diskutiert werden solle; aber das Verfahrenzeugt keineswegs von Ruhe. Wenn die Rolle des Parla-ments nur noch auf die Abstimmung von Kommissions-berichten reduziert werden soll, dann ist wahrscheinlichunsere zweiköpfige PDS-Gruppe für die Bundesregierungin Zukunft die Wunschgröße für alle Fraktionen.
Das würde zwar den Steuerzahlern viel Geld ersparen;aber ich hoffe, dass das nicht dem Selbstverständnis dervom Volk gewählten Abgeordneten entspricht.Meine Damen und Herren, das Hartz-Konzept hatmehrere schwere Geburtsfehler. Alle sollen sich mehr be-wegen; alle sollen auf der Suche nach Arbeitsplätzen mo-biler werden. Bloß geht aus dem Konzept nicht hervor, wodie Arbeitsplätze herkommen sollen. Das Gesetz siehtvor, dass die, die bei der Jagd auf einen Arbeitsplatz aufder Strecke bleiben, mit Leistungskürzungen rechnenmüssen. Insbesondere die Verbindung von Sozial- undArbeitslosenhilfe ist mit deutlichen Leistungsver-schlechterungen verbunden.In der Koalitionsvereinbarung werden die 1,7 Millio-nen Arbeitslosenhilfeempfänger schon auf den neuenKurs eingestimmt. Ich darf mit Genehmigung der Präsi-dentin aus der Koalitionsvereinbarung zitieren:In einem ersten Schritt zur Umsetzung des Hartz-Konzepts für die Zusammenführung von Arbeits-losenhilfe und Sozialhilfe werden wir– also die Regierung –bei den Leistungen der Arbeitslosenhilfe Einkom-men und Vermögen stärker berücksichtigen.Statt zum Beispiel durch die Kappung des Ehegattensplit-tings oder die Wiedereinführung der Vermögensteuer sollein Sparvolumen von 2,3 Milliarden Euro durch die Sen-kung des Einkommens von arbeitslosen Ehegatten er-bracht werden. Hier ist der Ost-Beauftragte der Bundes-regierung, Herr Stolpe, der leider zurzeit nicht im Saal ist,gefragt; denn fast die Hälfte der Arbeitslosenhilfeemp-fänger lebt in Ostdeutschland. Das heißt also: Diese so-zialen Kürzungen treffen in erster Linie die Menschen imOsten.Meine Damen und Herren, wer nicht so flink ist wie einWiesel, hat persönlich Pech gehabt. Es wird der Eindruckvermittelt, dass die Arbeitslosen schon Jobs bekommenkönnten, wenn sie nur wollten. Doch gerade in den Re-gionen mit einer Arbeitslosigkeit von 20 Prozent undmehr wird diese Strategie von den Menschen als zynischempfunden. Die Mobilmachung der Arbeitslosen und So-zialhilfeempfänger ist besonders hart für allein erziehendeMütter und Väter, für alte und für kranke Menschen. Wassoll denn mit denen geschehen, die beim besten Willennicht mehr fit zu machen sind? Fallen der Regierung dawirklich nur Leistungskürzungen ein?Zum zweiten Geburtsfehler, auf den mein Vorrednerausführlich eingegangen ist: Das Hartz-Konzept hat denRobert Hochbaum
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Dr. Gesine LötzschOsten bereits abgeschrieben. Höhere Mobilität heißt indiesem Fall doch, dass vor allem junge Menschen, die imOsten keine Arbeit finden, in den Westen gehen. Schonjetzt klagen potenzielle Investoren, die sich in Ostdeutsch-land niederlassen wollen, dass es in Ostdeutschland kaumnoch junge Fachkräfte gibt, weil sie schon ausgewandertoder zwangsausgewandert sind.Meine Damen und Herren, die Orientierung des Hartz-Konzeptes auf den ersten Arbeitsmarkt ist ein dritterschwerer Geburtsfehler. Gerade in Anbetracht derSchwäche des ersten Arbeitsmarktes ist der zweite Ar-beitsmarkt leider unverzichtbar. Die Verkürzung von Ar-beitsbeschaffungsmaßnahmen würde wieder besondersdie strukturschwachen Regionen hart treffen. Man musseinfach zur Kenntnis nehmen, dass ein großer Teil der so-zialen Infrastruktur im Osten über AB-Maßnahmen fi-nanziert wird. Viele Jugendprojekte basieren auf demzweiten Arbeitsmarkt. Es ist einfach so, dass diese Berei-che keinen Profit abwerfen. Sie sind für den ersten Ar-beitsmarkt deshalb uninteressant.Meine Damen und Herren, das Hartz-Konzept hat einehorizontale und eine vertikale Schieflage. Es trifft beson-ders die Menschen, die schon arm sind und die durch dasKonzept noch ärmer werden, und es ist ein Konzept, dasden Osten nicht aus der Krise führt, sondern die Problemenoch verschärft, anstatt sie zu lösen. Das kann nicht derrichtige Weg sein.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e. Inter-
fraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 15/25, 15/26, 15/23, 15/24 und 15/32 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wie mir von den Fraktionen mitgeteilt wurde, soll die
Sitzung jetzt für circa eine Stunde unterbrochen werden.
Der Wiederbeginn wird rechtzeitig durch Klingelsignal
angekündigt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Erhöhung derAnzahl von Ausschussmitgliedern
– Drucksache 15/22 –
Zur Information: Es handelt sich um den Haushalts-
ausschuss. Es soll einvernehmlich je ein weiteres Mitglied
vonseiten der SPD und der CDU/CSU gestellt werden.
Da keine Aussprache vorgesehen ist, kommen wir
gleich zur Abstimmung. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der An-
trag einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Haltung der Bundesregierung zur Eigenheim-
zulage
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Joachim
Günther, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die FDP-Fraktion hat diese Aktuelle Stunde beantragt,weil aufgrund der Ankündigungen der Regierungskoali-tion in Bezug auf die Eigenheimzulage und damit auch inBezug auf den ganzen Baubereich und sein Umfeld dra-matische Entwicklungen hervorgerufen wurden.
Betriebe stehen Kopf und demonstrieren. Zukunftspla-nungen von Familien werden durcheinander gebracht.Die rot-grüne Regierung scheint nach dem Grundsatz„Was interessiert mich mein Gerede vor der Wahl?“ zuhandeln. Sie hat nicht nur im Wahlkampf im Prinzip dieUnwahrheit gesagt. Inzwischen wird auch jedes aufkom-mende Fachthema neu ausgerichtet und zuungunsten derBürger gestaltet.
Sie haben in Ihren plaudernden Koalitionsrunden Be-schlüsse gefasst, über deren Auswirkungen Sie meines Er-achtens gar nicht nachgedacht haben.
Sie sind verheerend für unsere Volkswirtschaft und für un-sere Arbeitsplätze.Die Giftliste Ihrer Streichungen zum Bereich Woh-nungswirtschaft hört sich an wie die Liste von einem an-deren Stern: Abschaffung der degressiven Gebäudeab-schreibung, Zusammenstreichung der Eigenheimzulage,Begrenzung des Verlustabzugs usw. Ganz nebenbei wirddie Anhebung des Steuersatzes auf Erdgas angekündigt,damit auch endlich einmal die zur Kasse gebeten werden,die sich gemäß Ihren Vorstellungen umweltgerecht mitEnergie versorgen wollen.
Zur Eigenheimzulage. Im Oktober 1995 wurde die Ei-genheimzulage fraktionsübergreifend und mit großer Zu-stimmung der SPD beschlossen. Ich will zwei Sätze zitie-ren, die damals gefallen sind:
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002 419
Heute erleben wir ein kleines Wunder: ... Die starkeBenachteiligung der Menschen in den neuen Bun-desländern ist ab heute beendet; denn die einkom-mensunabhängige Förderung wird dazu führen, dassviele Menschen, die von Eigentum bisher nur träu-men konnten, diesen Traum verwirklichen können.Das sagte damals Achim Großmann, der jetzige Staats-sekretär im Bauministerium.
Aber jetzt verfliegen diese Träume wieder.
Heute wird die Einschränkung der Eigenheimzulagevon allen Seiten kritisiert. Vor dem Brandenburger Torfindet zurzeit eine große Demonstration statt. Ich bin si-cher, dass es nicht die letzte bleiben wird. Hier sieht maneine nicht alltägliche Situation: Verbände und Gewerk-schaften ziehen bei diesem Thema an einem Strang bzw.gehen sogar in die gleiche Richtung. Alle haben erkannt,dass dieser Einschnitt 200 000 Arbeitsplätze in der Bau-wirtschaft und in den angrenzenden Bereichen – wennman den Demonstranten glauben darf, sind es sogar400 000 – kosten wird.
Betroffen sind vor allem wieder die Klein- und Hand-werksbetriebe. Aber die scheinen Sie ja noch nie interes-siert zu haben.
Selbst die Grundrechenarten scheinen bei Ihnen keineRolle zu spielen.
Laut Koalition sollen durch die Kürzung der Eigenheim-zulage Einsparungen in Höhe von 210 Millionen im Jahre2003 bis 2,27 Milliarden Euro im Jahre 2006 erfolgen.Wenn diese Absichten zutreffen und umgesetzt wer-den, dann sind nicht nur kinderlose Paare ungerechtfertigtvon der Förderung ausgeschlossen; diese Pläne sind viel-mehr selbst für eine kinderorientierte Förderung nachtei-lig. Denn viele Paare wollen erst Eigentum erwerben, be-vor sie die zusätzliche Belastung durch ein Kind unddamit eventuell den Wegfall eines zweiten Einkommensin Kauf nehmen wollen. Aber auch Familien trifft es hart.Die vorgesehene Einschränkung bedeutet zum Beispiel,dass eine Familie mit einem Kind statt bisher 3 320 Europro Jahr nur noch eine Förderung von 1 200 Euro pro Jahrfür den Neubau eines Einfamilienhauses erhält.Hans Eichel freut sich. Ob er sich noch freut, wenn erdie Steuerausfälle und das zusätzlich zu zahlende Ar-beitslosengeld gegenrechnet, darüber bin ich mir nicht imKlaren. Wenn man auf der Basis der Zahl der Baugeneh-migungen für 2001 rechnet, kommt man auf rund 12 Mil-liarden Euro, die der Staatskasse durch weniger Einnah-men aus der Umsatzsteuer und der Grunderwerbsteuersowie durch zusätzliche Ausgaben aufgrund einer höhe-ren Arbeitslosigkeit verloren gehen. In dieser Politik istkeinerlei Logik mehr zu erkennen.
Wer mittelfristig eine negative Entwicklung im Woh-nungsbereich herbeiführt, der wird eines Tages ein bösesErwachen haben. Wir brauchen einen funktionierendenWohnungsmarkt, einen Wohnungsmarkt, in den weiter in-vestiert wird, und zwar in den Neubau und vor allem auchin den Bestand. Wenn in diesem Bereich Investoren ein-mal verunsichert sind und Eigentümer aufgrund finanzi-eller Rahmenbedingungen nicht mehr in die Werterhal-tung der Gebäude investieren,
dann kommen wir wieder zu der alten DDR-Methode:Ruinen schaffen ohne Waffen! Dagegen werden wir unsmit allen Mitteln wehren.
Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie diese Kürzungspläneumgehend zurück! Unsere Fraktion wird dazu einen An-trag einbringen.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Parlamentarische Staatssekre-
tärin Barbara Hendricks.
D
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Die Lage der öffentlichen Haushaltelässt sich nur durch eine nachhaltige Haushaltskonsoli-dierung verbessern.
Das ist nur mit einem umfassenden und durchgreifendenAbbau von Subventionen erreichbar. Das gilt für Finanz-hilfen und Steuervergünstigungen gleichermaßen. Ob derBund zu viel Geld ausgibt oder zu wenig Geld einnimmt,beides muss in gleicher Weise betrachtet werden.Ungerechtfertigte und ökonomisch fragwürdige Steu-ersubventionen und Steuervergünstigungen müssen dahergezielt abgebaut werden. Davon nehmen wir grundsätz-lich keine Wirtschaftssektoren und Branchen und keinesozioökonomischen Gruppen aus.
Darin liegt der erste und gegenwärtig vorrangige Grunddafür, warum die Eigenheimzulage auf den Prüfstand zustellen ist.Joachim Günther
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara HendricksDies wird erst recht deutlich, wenn wir uns vor Augenführen, welche Beträge wir bisher für die Eigenheimför-derung bereitgestellt haben. Seit dem Bestehen des Ei-genheimzulagengesetzes belief sich in den Jahren von1996 bis 2001 die Förderung auf rund 25,9 MilliardenEuro. Diesen Betrag haben wir ausschließlich für die Ei-genheimzulage aufgebracht. Noch auslaufende Altförde-rungen nach § 10 e EstG oder davor § 7 b EstG sind darinnicht enthalten. Allein im Jahr 2002 ist nach dem Ergeb-nis der Steuerschätzung von Mai 2002 mit Ausgaben fürdie Eigenheimzulage von rund 8 Milliarden Euro zu rech-nen, während wir im Bundeshaushalt für die 20 größtenFinanzhilfen in diesem Jahr zusammen nur mit Ausgabenvon rund 7,8 Milliarden Euro zu rechnen haben.
Diese Zahlen belegen eindrucksvoll, dass es sich bei derEigenheimzulage um die größte Subvention handelt, diewir finanzieren.Da die FDP diese Aktuelle Stunde beantragt hat, er-laube ich mir, aus dem FDP-Wahlprogramm zu zitieren.Dort heißt es unter anderem:Subventionen führen zur Fehlleitung von Ressour-cen zulasten der Steuerzahler und Verbraucher...
Unvertretbar sind Dauersubventionen.Bezieht man weitere Maßnahmen in die Betrachtungein, beispielsweise die degressive Abschreibung und diedirekte Förderung des sozialen Wohnungsbaus, erkenntman deutlich, dass die Wohnungswirtschaft insgesamt dergrößte Subventionsempfänger dieser Republik ist. Daranist nicht zu deuteln. Deswegen können wir die Woh-nungswirtschaft nicht außen vor lassen. Wer ernsthaftkonsolidieren will, darf davor nicht Halt machen. DasSankt-Florians-Prinzip kann hier nicht angewandt wer-den; dies zu fordern kann man sich nur in der Oppositionerlauben.Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Lage des Woh-nungsmarkts in Deutschland. Zwar hat die räumliche Dif-ferenzierung des Wohnungsmarkts ein hohes Maß er-reicht. Leerstände auf unterschiedlichen Teilmärkten,verstärkt in Ostdeutschland, aber auch Wohnungsknapp-heit in einzelnen Ballungsräumen kennzeichnen die Si-tuation. Gleichwohl ist die Wohnungsversorgung inDeutschland im statistischen Durchschnitt gut, gegenwär-tig so gut wie nie zuvor. Überdies steigen die Bevölke-rungszahlen nicht mehr. Von dieser Tatsache haben wiruns auch bei der Schaffung des Altersvermögensgesetzesund der Rentenreform leiten lassen.Angesichts des erreichten Niveaus der Wohnungsver-sorgung und der sich abzeichnenden Bevölkerungsent-wicklung war es deshalb notwendig, zu prüfen, ob dieWohneigentumsförderung wie bisher weitergeführt wer-den soll oder ob eine Fokussierung auf einen engerenKreis von Begünstigten angezeigt ist. Dies ist der Fall.
Zu diesem Zweck haben wir gestern Abend mit Fach-politikern des Bundes und der Länder die Förderkonditio-nen in einer Arbeitsgruppe gemeinsam erörtert. Hierbeihaben wir insbesondere die Anregungen des niedersächsi-schen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel aufgenommen.
Die Eigenheimzulage wird in Zukunft auf Alleinste-hende mit Kindern bzw. Familien mit Kindern konzen-triert. Es wird eine einheitliche Förderung bei Neubautenund Bestandserwerb für einen Förderzeitraum von achtJahren geben. Zukünftig wird ein Familiengrundbetragvon jährlich 1 000 Euro und eine Kinderzulage von jähr-lich 800 Euro je haushaltszugehöriges Kind gewährt.
– Frau Lenke, regen Sie sich nicht auf! Wir haben dies inunserer Koalitionsvereinbarung beschlossen und sind da-bei, das entsprechende Gesetzgebungsverfahren vorzube-reiten.
Selbstverständlich ist es möglich, im Gesetzgebungsver-fahren innerhalb der gesteckten Grenzen die Vorschlägeneu auszutarieren. Das tun wir hier, ebenso wie an ande-rer Stelle.
Die Förderung ist kinderbezogen gestaltet und beginnt,soweit zum Zeitpunkt des Bezugs des Eigenheims nochkeine Kinder geboren sind, mit der Geburt des ersten Kin-des. Dies gilt, wenn das erste Kind innerhalb von vier Jah-ren nach Einzug in die Immobilie geboren wird.
Weitere Kinder, die innerhalb des Förderzeitraums vonacht Jahren geboren werden, erhalten die Kinderzulagewie bisher bis zum Ende des verbleibenden Förderzeit-raums.
Die Einkunftsgrenze für den maßgeblichen Zweijah-reszeitraum wird auf 70 000 Euro für Alleinerziehendeund 140 000 Euro für zusammenveranlagte Ehepaare ge-senkt. Für jedes Kind erhöht sich diese Grenze für denZweijahreszeitraum um 20 000 Euro. Darüber hinauswird der Einkommensbegriff so modifiziert, dass künftigdie Summe der positiven Einkünfte berücksichtigt wird.Dies verhindert Steuertricksereien, wie sie in der Vergan-
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genheit der Fall waren. Soweit Anspruch auf die Förde-rung besteht, bleibt auch die ökologische Zusatzförderungin angepasster Form erhalten.Ich möchte wegen der in den vergangenen Wochen ent-standenen Unruhe auf Folgendes hinweisen:In den Fällen, in denen bereits Eigenheimzulage ge-währt wird, tritt durch die beabsichtigte neue Gesetzge-bung keine Änderung ein. Wer die Förderung schon jetztaufgrund eines Zulagenbescheids erhält, dem bleibt sieentsprechend dem geltenden Recht bis zum Ende des För-derzeitraums erhalten. Dies ist eigentlich selbstverständ-lich.
Da es gleichwohl Beunruhigung gegeben hat, möchte ichsie hiermit zerstreuen.
– Wenn Sie daran interessiert sind, dass die Bürgerinnenund Bürger in ihrem eigenen Interesse hören, um was esgeht, sollten Sie etwas ruhiger sein.
Wer noch in diesem Jahr für einen Neubau einen Bau-antrag oder, bei genehmigungsfreien Objekten, die Bau-unterlagen, zum Beispiel eine Bauanzeige, einreicht, hatdamit die Eintrittskarte zur Eigenheimzulage bereits er-halten. Sobald er in den Neubau einzieht, bekommt er dieEigenheimzulage nach geltendem Recht, soweit auch dieanderen Voraussetzungen, zum Beispiel das Nichtüber-schreiten der Einkunftsgrenzen, erfüllt sind.Wer eine Gebrauchtimmobilie oder bei einem Investoreine Immobilie erwirbt und den dafür erforderlichen No-tarvertrag noch in diesem Jahr abschließt, bekommt dieEigenheimzulage nach geltendem Recht für den vollenFörderzeitraum. Zieht er erst im kommenden Jahr ein, giltdies nur, wenn der Übergang von Nutzen und Lasten desGrundstücks oder der Eigentumswohnung erst für daskommende Jahr vereinbart ist.Das geltende Recht bleibt also für alle Erwerbsvor-gänge bestehen, die – so sage ich jetzt einmal etwas ver-einfacht – bis zum Ende des Jahres stattfinden. Auch beiBauanträgen, die bis zum Ende des Jahres eingereichtwerden, bleibt das geltende Recht bestehen. Es wird inZukunft weiterhin eine Familiengrundförderung und eineKinderförderung geben. Diese Förderung kann auch vierJahre nach Bezug des Objekts einsetzen, wenn bis dahinerstmals ein Kind geboren wird. So wie das im Schwäbi-schen üblich ist: erst das Nest bauen und dann die Eier le-gen.
Vier Jahre dürften dafür reichen.Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Eduard Oswald, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit der Eigenheimzulage treibt die rot-grüne Koalitionein böses Spiel.
Zu nennen sind die Widersprüchlichkeiten und die Un-kalkulierbarkeit rot-grüner Bau- und Wohnungspolitik.
Frau Staatssekretärin, wer sich selbst das politische Zielsetzt, alles zu tun, um Konjunktur und Wirtschaft zu stär-ken, und wer die Arbeitslosigkeit abbauen will, darf dieWohnungs- und Bauwirtschaft als wichtigsten binnen-wirtschaftlichen Impulsgeber mit ihrer wirtschaftlichenLeistungsfähigkeit nicht kaputtsparen.
Glauben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dassdas, was die Staatssekretärin heute gesagt hat, in der Ko-alition und in der Regierung das letzte Wort ist?
Ich nicht.
Heute sagt man dies, morgen sagt man das. Heute be-schließt man dies, morgen korrigiert man jenes. Einesaber ist klar: Was Sie nach Ihrer Koalitionsvereinbarungalles getan haben, Schritt für Schritt, hat nur kosmetischenCharakter und soll die Öffentlichkeit beruhigen.
Ihre Aussagen vor der Wahl stehen in einem eklatantenWiderspruch zu dem, was Sie nun vorhaben. Sie täuschendamit die Menschen in unserem Land. Einmal enttäu-schen Sie die Menschen, die ihren Traum von den eigenenvier Wänden zerplatzen sehen. Der Wunsch nach Wohnei-gentum steht in unserem Land immer noch obenan unddas ist gut so, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen.
Zum anderen geht es um das Baugewerbe, das in einen be-drohlichen Sog gerät. Als Folge der massiven Einschnittebei der Eigenheimzulage stehen rund 200 000 Arbeits-plätze in der Bauwirtschaft und bei ihren Zulieferern aufdem Spiel. Es geht nicht nur darum, Bauwilligen leichterzu Wohneigentum zu verhelfen; es geht auch darum – dasist ein ganz wichtiger Punkt –, eine ganze Branche nichtkaputtzusparen.
Bereits in den ersten sieben Monaten dieses Jahres istder Umsatz im Wohnungsbau um 9,5 Prozent zurück-gegangen. Der Auftragseingang ist um 17,1 ProzentParl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
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Eduard Oswaldgesunken. Erneut hat auch die Zahl der Genehmigungenim Wohnungsbau abgenommen, nämlich um 9,4 Prozent,nachdem schon im vergangenen Jahr ein Rückgang um16,5 Prozent und im Jahr zuvor um mehr als 20 Prozent zuverzeichnen war. Das sind doch Warnsignale, die nicht außerAcht gelassen werden dürfen. Der Bau von 10 000 Woh-nungen in Ein- und Zweifamilienhäusern – hören Sie zu! –schafft fast 44 000 Arbeitsplätze, im Mehrfamilienhaus-bau immerhin noch 25 000 Arbeitsplätze. Das heißt, eineErhöhung des Bauvolumens um 500 Millionen Euro imWohnungsbau erhöht die gesamtwirtschaftliche Nach-frage um etwa 1,17 Milliarden Euro. Durch eine Eigen-heimzulage von beispielsweise 26 000 Euro wird – manhöre und staune – ein durchschnittliches Investitionsvolu-men von 160 000 Euro ausgelöst. Das rechnet sich also fürden Staat. Man muss diese Rechnung nur aufmachen.
Nutzen Sie die Eigenheimzulage doch als Konjunk-turmotor. Das Baugewerbe hat es Ihnen doch vorgerech-net: Wenn die rot-grünen Kürzungspläne, so wie sie ver-einbart worden sind, umgesetzt werden, dann schrumpftdas Volumen der Bauinvestitionen um jährlich 28 Milliar-den Euro. Dann verliert der Finanzminister durch dieKürzung 10,4 Milliarden Euro, spart aber nur 5,8 Milliar-den Euro. Das muss man doch einmal zur Kenntnis neh-men. Sie können doch nicht nur vom Sparen reden. Siemüssen doch das Gesamte im Auge haben.
Sie müssen Farbe bekennen. Schluss mit dem Hin undHer! Sie müssen klar sagen, was gilt und welche Ziele Sieverfolgen. Ich sage Ihnen: Ihre Politik führt zu Woh-nungsknappheit und diese wiederum zu Mietsteigerun-gen. Auch das müssen Sie dann verantworten.Ich frage Sie auch: Wie stehen Sie eigentlich zumThema Eigentum? Wollen Sie, dass auch künftig einegroße Zahl von Menschen Wohneigentum hat? Es istdoch eine Tatsache: Wer im Alter belastungsfrei in den ei-genen vier Wänden leben kann, hat die beste Altersvor-sorge.
Welche gesellschaftspolitischen Ziele stecken also hinterIhren Kürzungsvorschlägen? Das müssen Sie uns erläu-tern. Es kann doch nicht sein, dass Sie angesichts der vor-liegenden Zahlen die Mittel streichen wollen. Sie verfol-gen offenbar irgendeine Ideologie. Beenden Sie dasHerumexperimentieren an der Eigenheimzulage. Wir ap-pellieren an Sie: Erstens. Schaffen Sie bessere Vorausset-zungen zur Stärkung des Wohnungseigentums in Neubauund Bestand. Zweitens. Gestalten Sie die Eigenheimför-derung familienfreundlicher. Drittens. Sorgen Sie dafür,dass auch Arbeitnehmerfamilien die Chance haben,Wohneigentum zu bilden. Viertens. Binden Sie dasWohneigentum wirksam in die Förderung der privaten Al-tersvorsorge ein.Handeln Sie, bevor es zu spät ist. Handeln Sie aberrichtig!
Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig,Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Oswald, wir handeln richtig und verant-wortlich. Das muss man deutlich sagen.
Es stimmt zwar, dass SPD und Grüne vor der Wahl gehoffthaben, dass die Konjunktur und die Beiträge zur Sozial-versicherung stabil bleiben und dass die Steuereinnahmenhöher sind. Wir wollen gar nicht leugnen, dass es hier Pro-bleme gibt. Aber diesen müssen wir uns stellen und diesemüssen wir lösen. Eigentlich müsste eine verantwortlicheOpposition sagen, welche Antworten sie auf die aktuellenProbleme hat.
Ich habe den Eindruck, dass Sie gar keine haben. Sie be-haupten einfach, man könne die Staatsausgaben weiternach oben fahren, und tun dabei so, als gäbe es keineMaastricht-Kriterien und keine Verantwortung für einenachhaltige Konsolidierung des Haushalts und für einenverantwortlichen, sparsamen Umgang mit den uns anver-trauten Steuergeldern.Besonders pikant ist – das muss ich schon sagen –, dassdie heutige Aktuelle Stunde von der FDP-Fraktion bean-tragt worden ist. Die plaudernden Oppositionsrunden beiIhnen müssen sehr interessant sein. Aber Sie redenschlicht und einfach mit gespaltener Zunge, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion. Sie habenvor der Wahl versprochen, die Steuersätze auf 15, 25 bzw.30 Prozent zu senken.
– Klatschen Sie ruhig. – Das würde Mindereinnahmen inHöhe von 77 Milliarden Euro bedeuten. Woher wollen Siedieses Geld nehmen? Sie sollten nicht nur sagen, wie Siedie Probleme mit Ihren Parteikassen lösen wollen, son-dern auch aufzeigen, wie Sie mit der Staatskasse verant-wortlich umgehen wollen. Die Antwort auf die letzteFrage sind Sie uns bis heute schuldig geblieben.
Sie haben des Weiteren erklärt, Sie würden die öffent-lichen Ausgaben um mindestens 278 Milliarden Euro undso die Staatsquote auf 35 Prozent – das ist ja ein berühm-tes Ziel – senken. Woher nehmen Sie das Geld? Wo wol-len Sie kürzen? Wie kommen Sie dazu zu sagen, bei derEigenheimzulage darf kein Millimeter gekürzt werden?Es passt doch nicht zusammen: Sie versprechen den Bür-gern die Senkung der Steuern und der Staatsquote und
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002 423
wollen dabei die Subventionen auf maximaler Höhe las-sen. Das stimmt doch vorn und hinten nicht.
– Kollege Gerhardt, ich habe gerade sehr wohl gesagt,dass wir vor der Wahl einige Punkte optimistischer einge-schätzt haben, als sie jetzt, wo wir konkret handeln müs-sen, wirklich sind. Das sagen wir dem Bürger aber auch.
Wir lügen uns nichts in die Tasche, während Sie weiterhinso tun, als könnten Sie den Bürgern alle Wohltaten, alleSubventionen belassen und gleichzeitig Steuern undStaatsquote senken. Das ist von vorn bis hinten falschePolitik und einfach verlogen. Den Bürgern gegenübermuss man aufrecht und ehrlich sein.
Wir arbeiten momentan mit einer ausgewogenen Mi-schung, indem wir die Nettoneuverschuldung nur einStück weit erhöhen, weil wir sonst in die Gefahr kämen,die Konjunktur abzuwürgen, aber auch all jene steuer-lichen Subventionen streichen, deren Abbau verantwort-bar ist.Bei der Eigenheimzulage ist es verantwortbar und daswill ich Ihnen konkret sagen: Es gibt im Großen undGanzen eine angemessene Wohnversorgung. Engpässe inMünchen, Frankfurt und Stuttgart – wir haben oft genugdarüber gesprochen – sind uns sehr wohl bewusst, aberwir meinen durchaus, dass die zuständigen Länder – essind nicht die ärmsten – ihrerseits, sei es auch aus Mittelndes sozialen Wohnungsbaus, kofinanzieren können.
Sagen Sie nicht, dass hier keine Handlungsverantwortungseitens der Länder besteht.Wir gehen an diese Sache gerade nicht ideologischheran, sondern angesichts des demographischen Wandels,angesichts des Wandels in der Wohnversorgung und an-gesichts der Verantwortung für nachhaltige Haushalts-sicherung, gehen wir momentan die Steuersubventionendurch und agieren entsprechend. Insofern ist das, was wirmachen, nämlich Konzentration auf Familien mit Kindern
und auf den Bestand sowie Stabilisierung des öffentlichenHaushalts, sehr sinnvoll.
Ein letzter Satz zur Lage der Bauwirtschaft. Hier wer-den nach dem Prinzip „Wer bietet mehr?“ abenteuerlicheZahlen geboten. Der Verband der Bauindustrie sagt, esgeht um 100 000 Arbeitsplätze, während die FDP von400 000 Arbeitsplätzen spricht. Was stimmt denn? Hierwird doch offenbar nach dem Prinzip „Es kommt über-haupt nicht darauf an, Hauptsache, wir machen großeSprüche“ gehandelt und dabei ist es egal, was der Bevöl-kerung an Wahrheit und Klarheit vermittelt wird.
Wir werden die Probleme der Bauwirtschaft, die wirsehr ernst nehmen, ganz konkret lösen. Die Maßnahmenmöchte ich nennen. Dazu gehört die Stärkung der Kom-munalfinanzen,
denn die wichtigsten Aufgaben der Bauwirtschaft liegenin der kommunalen Infrastruktur und den kommunalenInvestitionen. Ebenso gehört das Programm zur Förde-rung des Baus von Ganztagsschulen dazu. Das ist ein In-vestivprogramm, das die Bauwirtschaft stärkt. Es geht da-bei um jährlich 1 Milliarde Euro.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich bin sofort fertig.
Unsere Verkehrs- und Bauinvestitionen sind so hoch
wie noch nie. Daneben haben wir die Altbausanierung
nicht nur in der letzten Legislaturperiode beschlossen,
sondern wir werden die Mittel dafür noch einmal um
150 Millionen Euro pro Jahr erhöhen. Nachhaltige Haus-
haltspolitik und nachhaltige Bauwirtschaft vertragen sich
also durchaus miteinander, aber es ist gefährlich, sich
Illusionen zu machen.
Nächster Redner ist der Kollege Peter Götz, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!Am Beispiel der Eigenheimzulage wird einmal mehrdeutlich: Flickschusterei auf der ganzen Ebene,
von der Rente über die Kommunalfinanzen, Frau Kol-legin Eichstädt-Bohlig, bis zum Wohnungsbau. Stünd-lich gibt es neue Wasserstandsmeldungen, frei nach derFranziska Eichstädt-Bohlig
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Peter GötzDevise: Nichts Genaues weiß man nicht. Das, was gesternnoch richtig und wichtig erschien, ist heute überholt unddas von heute wird morgen wieder eingesammelt.Wirtschaft und Arbeitsmarkt brechen ein, die Kommu-nen stehen am Rand des finanziellen Ruins. Täglich gibtes neue Pleitemeldungen vom Bau. Das sind die Blutspu-ren rot-grüner Politik.Jetzt wird der einzige noch einigermaßen funktionie-rende Baubereich, nämlich das eigengenutzte Wohnei-gentum, auch noch zertrampelt. Offensichtlich ver-schmerzt es diese rot-grüne Regierung nicht, wenn esirgendetwas in diesem Staat gibt, was noch einigermaßenfunktioniert und noch nicht von ihr zerstört ist.
Sie nehmen den Familien die Eigenheimzulage weg
und verkaufen das Ganze draußen noch lauthals als fami-lienpolitische Leistungen.
Das ist eine Frechheit. Ob der Generalsekretär der SPDdamit die Lufthoheit über Kinderbetten gewinnt, daswage ich erheblich zu bezweifeln. Jetzt wird begonnen,teilweise zurückzurudern.
Die Menschen werden ein weiteres Mal belogen. Ihnenglaubt keiner mehr.
Ehegattensplitting, Wohnungsbauprämie, Eigenheimzu-lage – am Schluss wird alles auf die Zeit nach dem 3. Fe-bruar, auf die Zeit nach den Landtagswahlen in Nieder-sachsen und Hessen geschoben. Es ist unverantwortlich,so mit den Menschen umzugehen, die eine Familie grün-den und Wohneigentum bilden wollen. Wohneigentumkauft man nicht wie ein Paar Socken. Die Menschen brau-chen Sicherheit für ihre Lebensplanung und sie wird hiersystematisch zerstört.
Noch haben wir ein gutes Gesetz, das auch der Vor-sorge im Alter dient, ein Gesetz, das sozial, familien- undkinderfreundlich ist, ein Gesetz, Frau Kollegin von derRegierung, das einfach zu verstehen ist. Jetzt basteln Sieschon wieder an irgendeinem bürokratischen Monster.Der von Rot-Grün geplante Kahlschlag ist nicht nur so-zial-, familien- und wohnungspolitisch falsch; er ist auchein ökonomischer Irrweg. Denn Wohneigentumsförde-rung ist auch Mittelstandsförderung. Die geplanten Ein-schnitte führen zum Wegfall zahlreicher Arbeitsplätze imBaugewerbe, im Handwerk und damit beim Mittelstand.Der Kollege Oswald hat die Zahlen genannt; sie sind rich-tig. Heute schreibt das „Handelsblatt“ – ich zitiere –:Die Bauwirtschaft hat nach den Steuerplänen der rot-grünen Bundesregierung kaum noch eine Chance,aus der Rezession zu kommen.In der „Welt“ konnten wir vor wenigen Tagen lesen, dasssich der Superminister für Verkehr, Bau-, Wohnungswe-sen und Aufbau Ost, Manfred Stolpe, über Nacht mit Nie-dersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel an dieSpitze derer stellt, die gegen die geplanten Änderungenbei der Eigenheimzulage protestieren. Der SPD-Oberbür-germeister Ude aus München ruft zum Widerstand auf.Draußen, vor dem Brandenburger Tor, wird protestiert.Mehrere Tausend Leute vom Bau demonstrieren heute ge-gen die geplante Abschaffung und Reduzierung der Ei-genheimzulage. Ich gehe davon aus, dass der Bauministergerade draußen ist, um mit den Menschen gegen die rot-grüne Bundesregierung zu wettern.
Anstatt die Eigenheimzulage zu kürzen, hätten Sie bes-ser die Förderung für den Erwerb von sanierungswürdi-gem Altbaubestand ausgedehnt. Das wäre ökologisch,Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, und ökonomisch sinn-voll.
Es würde zu einer Stärkung der Innenstädte führen und eswäre eine Chance, vor allem für die Kommunen in denneuen Ländern, sanierungswürdigen Altbaubestand auskommunalem Vermögen verkauft zu bekommen,
sodass sie ihre desolaten Haushalte – das haben Sie zuverantworten – entlasten könnten.
Manchmal hat man das Gefühl, dass diese Regierungbei ihrer Finanz- und Steuerpolitik rein kameralistisch, inMillimeterpapier und in Spaltenvordrucken, denkt, ohnedie gesellschaftspolitischen und volkswirtschaftlichenAuswirkungen zu sehen, geschweige denn zu berücksich-tigen. Was Sie machen, ist ein konzeptionsloses Gewurs-tel und keine gute Politik für die Menschen in unseremLand. Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie die Hände weg vonder Eigenheimzulage!Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Horst Schild, SPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002 425
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darf
das Haus vielleicht darauf aufmerksam machen, dass der
Bundesbauminister auf der Trauerfeier in Luxemburg ist.
Wenn man ein Fazit aus den bisherigen Redebeiträgen
der Opposition, die wortgewaltig waren, die gleichzeitig
aber von Ideologien – das ist etwas, was Sie uns immer vor-
werfen – und bisweilen wenig von der Sache geprägt wa-
ren – Herr Götz, das war sehr deutlich –, ziehen will, wird
man sagen müssen: Sie wollen alles beim Alten lassen und
noch ein bisschen Geld obendrauf legen. Der Wähler hat
recht getan, dass er Sie dort gelassen hat, wo Sie jetzt sind.
Ich darf in Erinnerung rufen: 1995, als wir in den Aus-
schüssen und im Plenum des Deutschen Bundestages über
diese Materie debattierten, hatten wir die Situation, dass
die Fördertatbestände in § 7 b, § 10 c usw. im Einkom-
mensteuergesetz vor allen Dingen Familien und Bezieher
von hohem Einkommen begünstigten.
Einkommensschwache Familien hatten zum damaligen
Zeitpunkt keinen finanziellen Anreiz, Eigentum zu erwer-
ben.
Wir alle haben damals die neue Regelung sehr begrüßt.
Aber der Vorschlag, dieses Eigenheimzulagengesetz zu
verabschieden, kam nicht von der damaligen Regierungs-
fraktion.
Ich kann mich noch sehr gut erinnern: Sie haben sich da-
mit sehr schwer getan, bis zum letzten Tag wurde gepo-
kert, weil durch diese Umstellung, wie uns allen bewusst
war, eine Verlagerung von den Gutverdienenden auf die
Schwellenhaushalte stattfinden würde. Sie haben aber
exorbitant hohe Einkommensgrenzen angesetzt, sodass
– das kam aus dem Hause des damaligen Bundesfinanz-
ministers, Herrn Waigel – rund 95 Prozent aller Haushalte
in die Förderung gelangten. Uns war klar: Das Ziel, die-
ses neue Förderinstrument auf Schwellenhaushalte zu
konzentrieren, auf die Haushalte, die ohne staatliche Hilfe
nicht in der Lage sein würden, Eigentum zu bilden, war
von Anfang an nicht zu erreichen. Das war bereits 1995
der Sündenfall. Das muss man einfach einmal zur Kenntnis
nehmen. Sie können doch nicht einfach sagen, man solle al-
les beim Alten lassen. Sie hätten wahrscheinlich auch da-
rüber nachdenken müssen. Es passt nicht zusammen, dass
auf der einen Seite alles beim Alten bleiben soll, aber auf
der anderen Seite die Steuersätze abgesenkt werden sollen.
Die Zulage hat heute für viele Familien nichts mehr mit
Hilfe zur Selbsthilfe zu tun. Hören Sie sich einmal an, was
Ökonomen zum Thema Subventionen im Bausektor sa-
gen. Diese haben natürlich Konsequenzen: Baufirmen ha-
ben einen größeren Preisspielraum. Die Förderung landet
wegen höherer Preise letztlich zum Teil auch bei den Bau-
firmen. Das muss man einmal zur Kenntnis nehmen.
Wir werden – das hat die Staatssekretärin eben gesagt –
die Einkommensgrenzen absenken, aber verhältnismäßig
moderat. Das Ziel ist für uns die Konzentration auf die
Schwellenhaushalte, die ohne staatliche Hilfe kein
Wohneigentum bilden können.
Es ist unstrittig – das haben auch Sie in Ihrem Pro-
gramm gesagt –, dass Subventionen abgebaut werden
müssen, um die Konsolidierung der Staatsfinanzen zu er-
reichen. Das ist im Interesse unserer Kinder und der nach-
folgenden Generationen. Sie waren es doch, die uns die-
sen Schuldenberg hinterlassen haben;
sonst brauchten wir uns heute nicht in dieser Ausführlich-
keit darüber zu unterhalten. Wenn wir Ihre ihm Wahl-
kampf immer wieder vorgetragenen steuerpolitischen
Vorschläge realisiert hätten oder wenn Sie sie hätten rea-
lisieren können, dann wären die Schulden noch höher.
Die finanzpolitische Vernunft gebietet es, die finanziellen
Auswirkungen der Förderung zu überdenken. Das muss
unstrittig sein. Eine Reform können sich nur diejenigen
verkneifen, die keine politische Verantwortung tragen.
Wir haben vorhin einige Ausführungen über die Höhe
des Fördervolumens gehört. Wir müssen eines bedenken:
Nach dem Verteilungsschlüssel der Einkommensteuer
– die Förderung verteilt sich letztlich nach dem Schlüssel
der Einkommensteuer – tragen Bund und Länder jeweils
42,5 Prozent und die Kommunen 15 Prozent. Mit einer
Fokussierung der Förderung, so wie es die Staatssekretärin
eben vorgetragen hat, eröffnen sich auf allen staatlichen
Ebenen Finanzierungsspielräume. Die Kommunen – das ist
hier immer wieder beklagt worden – hatten über lange Zeit
hinweg nicht den Spielraum, um zu investieren und den
Unterhaltungsaufwand zu finanzieren. Die Kommunen
brauchen Mittel, um in Infrastrukturmaßnahmen investie-
ren zu können. Es wird auch der Bauindustrie helfen, wenn
sie von den Kommunen, die dann die Kosten für die not-
wendigen Bauinvestitionen aufbringen können, Aufträge
erhält, um Schulen und Kindergärten instand zu halten.
Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es zeigt sich erneut, dass Ihnen für Ihre Wirt-schafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik jede ordnungs-politische Leitschnur fehlt.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Dr. Hermann Otto SolmsWas Sie in der Wohnungsbauförderung allerdings jetzthier liefern, schlägt dem Fass den Boden aus.
Das wird zu unvorhersehbaren Auswirkungen auf demMarkt führen.Zunächst einmal haben Sie auch noch die Unver-schämtheit, uns diese Maßnahme als familienpolitischesKonzept anzubieten. Meine Damen und Herren, das kön-nen Sie nun wirklich niemandem mehr verkaufen. Nachden alten Kriterien hätte das dazu geführt, dass bei einemNeubau nur Familien ab sechs Kindern ein Mehr an För-derung erhalten hätten.
Nach dem, was Frau Hendricks eben vorgetragen hat – ichgehe davon aus, dass das nur noch für wenige Stundengilt –, konnten wir gerade errechnen, dass sich bei einemAltbau das Mehr an Förderung auf Familien ab neun Kin-dern und bei einem Neubau vermutlich auf Familien ab15 Kindern konzentrieren wird.
– Sie können das ja nachrechnen. – Das können Sie ver-gessen.
Welches Familienbild versteckt sich eigentlich hinter die-sen Maßnahmen? Es ist wirklich eine Dreistigkeit
– rechnen Sie es doch bitte nach; es ist sehr einfach aus-zurechnen –, das als familienpolitische Maßnahme zu ver-kaufen.Wenn man das einmal etwas umfassender betrachtetund sich fragt, was durch diese Regierung im Bereich desWohnungsbaus geschieht, dann erkennt man, dass IhreMaßnahmen dazu führen, dass der Wohnungsbau inDeutschland total zum Erliegen kommt. Die Bauwirt-schaft liegt ohnehin schon auf den Knien; Sie geben ihrjetzt den Rest.
Selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung,das uns nicht nahe steht, sagt voraus, dass Ihre Woh-nungsbauförderung dazu führt, dass der Wohnungsbau-markt in den nächsten Jahren um etwa 20 Prozent einbre-chen wird.Meine Damen und Herren, Sie dürfen diese Einschrän-kungen bei der Eigenheimförderung doch nicht isoliertsehen
– Frau Hendricks, im Moment habe ich das Wort –, son-dern Sie müssen auch die vielen anderen Maßnahmen se-hen, die Sie gleichzeitig durchführen.
– Gehen Sie doch bitte auf die Regierungsbank, Sie störenmich beim Reden.
Sie wollen eine Wertzuwachssteuer für Immobilieneinführen,
Sie wollen die degressive AfA abschaffen und die ande-ren Abschreibungssätze auf 2 Prozent vereinheitlichen,Sie wollen eine Mindestbesteuerung einführen und Siewollen eine zusätzliche Begrenzung des Verlustvortragesauf sieben Jahre bei einer Begrenzung der Verlustver-rechnung auf 50 Prozent einführen. Die Bauwirtschaftsagt, dass das dazu führen wird, dass große Bauobjektenicht mehr abgewickelt werden können, weil man sienicht mehr finanzieren kann.
Hinzu kommen die Maßnahmen, die Sie bereits in derletzten Legislaturperiode getroffen haben. Ich erinnereSie an die Einführung der Begrenzung der Verlustver-rechnung nach § 2 Abs. 3 – das war die Mindestbesteue-rung à la Lafontaine –, an die Abschaffung des Vorkos-tenabzugs bei Eigenheimen und an die Begrenzung desVerlustrücktrages auf ein Jahr, die mit einer Einschrän-kung im Volumen verbunden wurde. All das wirkt ja zu-sammen.
Hinzu kommt auch noch die Ökosteuer auf Erdgas undErdöl, was die Heizkosten verteuern wird. Schließlichdroht – der SPD-Spitzenkandidat Bökel in Hessen fordertdas ja – die Wiedereinführung der Vermögensteuer undeine erhebliche Erhöhung der Erbschaftsteuer. FrauHendricks, auch das betrifft die Immobilien; das wissenSie doch genauso gut wie ich.
Franz-Christoph Zeitler – Mitglied des Vorstandes derBundesbank und früherer Staatssekretär; Frau Hendricks,er versteht von der Sache mindestens so viel wie Sie –schreibt heute in der „FAZ“, dass all diese Maßnahmen
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002 427
zusammengenommen dazu führen werden, dass die Im-mobilienwerte – also das Preisniveau für Immobilien – inDeutschland drastisch nach unten gehen werden. So wer-den Sie zwangsläufig einen deflatorischen Prozess auslö-sen. Japan lässt grüßen.
Sie tun dies offenen Auges, obwohl Ihnen alle Expertensagen, welche Folgen das haben wird.
Sie werden einen Einbruch in der Bauwirtschaft erle-ben, was zu 100 000 zusätzlichen Arbeitslosen führenwird. Es wird dazu kommen, dass sich Familien jedwederEinkommensgruppe – außer den ganz Reichen – ein Eigen-heim nicht mehr leisten können.
Schließlich und endlich wird die ganze Volkswirtschaft ineine sehr große und schwere Existenzkrise geraten. Über-legen Sie sich, was Sie da tun!Ein letztes Wort, Frau Hendricks. Wir haben in unse-rem Wahlprogramm die Abschaffung von Subventionengefordert. Auch wir haben vorgeschlagen, die Ab-schreibungsbedingungen beim Wohnungsbau auf 2 Pro-zent zu vereinheitlichen. Wir haben das aber in den Zu-sammenhang mit einer deutlichen und drastischenSteuerentlastungs- und Vereinfachungsreform gestellt.Das fehlt bei Ihnen.
Im Übrigen steht in unserem Wahlprogramm dezidiert,dass wir die Eigenheimförderung so lassen wollten, wiesie war. Das war richtig und gut überlegt. Wir haben da-rüber lange diskutiert.Meine Damen und Herren, kommen Sie bitte zur Be-sinnung. Es ist höchste Zeit; denn die wirtschaftliche Si-tuation lässt keine weitere Belastung zu. Wir brauchenwieder marktwirtschaftliche Orientierung,
keine höheren Steuern und keine höheren Abgaben.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Loske,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eswar mehrfach vom Rechnen die Rede. Seitens der FDPkam die Aufforderung, die Grundrechenarten zu berück-sichtigen. Ich will dazu sagen: Diese Forderung seitensder FDP entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie.
Weil diese Aufforderung gerade gekommen ist, möchteich sie gerne auf mich selbst anwenden. Während ich Ih-nen zugehört habe, habe ich meine eigenen Angelegen-heiten vor meinem geistigen Auge Revue passieren las-sen. 1999 habe ich als Vater zweier Kinder einen Altbauerworben. Dafür bekam ich 2 500 DM Grundförderungund zweimal 1 500 DM pro Kind. Das waren 5 500 DM,also gut 2 700 Euro.Wenn ich im Jahre 2003 als Vater zweier Kinder dasGleiche tun und einen Altbau erwerben würde, so würdeich eine Grundförderung von 1 000 Euro und zweimal800 Euro pro Kind bekommen. Das wären 1 600 Euro.Das macht alles zusammen 2 600 Euro. Diesen Konsoli-dierungsbetrag – es war von den Grundrechenarten dieRede – von 100 Euro bin ich gerne bereit zu erbringen.
In diesem Fall gibt es praktisch keinen Unterschied zwi-schen vorher und nachher. Übertreiben Sie nicht so maß-los. Das glaubt Ihnen sowieso kein Mensch.Ich will etwas zu den Kriterien sagen, mit denen wirGrünen uns an diese Reform der Eigenheimzulage heran-gemacht haben. Es sind drei Kriterien: Erstens. Es mussökologisch vernünftig sein. Zweitens. Es muss kinder-freundlich sein. Drittens. Es muss einen nennenswertenBeitrag zur Haushaltskonsolidierung bringen.
Zum ersten Kriterium, dass es ökologisch vernünftigsein muss. Der große Sprung nach vorne bei dieser Re-form – das ist für uns ganz wichtig – ist, dass Altbau undNeubau gleichgestellt werden.
Damit machen wir das Gleiche, was Sie bei der Entfer-nungspauschale – Sie haben das damals Kilometerpau-schale genannt – auch schon gemacht haben. Wir habendie damalige Ungleichbehandlung von Verkehrsträgern,auf der einen Seite das Auto, auf der anderen Seite die an-deren Verkehrsträger, aufgehoben und alle gleichgestellt.Es geht also um das Prinzip der Gleichbehandlung. Das istökologisch höchst vernünftig.
Es geht auch um das Thema Flächenversiegelung. Wirversiegeln in Deutschland heute pro Tag durch Siedlungs-Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Dr. Reinhard Loskeund Verkehrsflächen eine Fläche von 130 Hektar. Das istganz einfach zu viel.
Wir wollen – das hat sich die Bundesregierung vorge-nommen – gemäß den Vorschlägen des nationalen Nach-haltigkeitsrates diese Flächenversiegelung von 130 Hek-tar pro Tag auf 30 Hektar pro Tag zurückführen. Das hatals zwingende Voraussetzung, dass wir im Bereich derWohnungsbaupolitik mehr und mehr zur Bestands-orientierung übergehen. Das ist ökologisch höchst ver-nünftig.
Im Übrigen ist es so, dass wir im Bereich der Baupoli-tik viele ökologisch ergänzende Maßnahmen ergriffen ha-ben. Sie kennen sie alle, aber Sie benennen sie nicht. Wirhaben das Altbausanierungsprogramm aufgelegt. Das sto-cken wir jetzt von zurzeit 200 Millionen Euro auf350 Millionen Euro auf. Das haben wir vorletzte Nachtbeschlossen. Wir haben das Marktanreizprogramm für er-neuerbare Energien entwickelt. Wir haben das 100 000-Dächer-Programm ins Leben gerufen. Summa summarumkomme ich zu dem Ergebnis: Diese Reform ist ökologischhöchst vernünftig.
Ich komme zum zweiten Kriterium. Die Reform istkinderfreundlich. Dazu habe ich das Notwendige gesagt.Familien mit Kindern werden jetzt in besonderer Weisegefördert.
Zum dritten Kriterium: Die Reform ist ein wichtigerBeitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte,und zwar nicht nur – Sie werden sich noch umgucken –zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes, sondern auchzur Konsolidierung der Länder- und Gemeindehaushalte.Das bringt enorme Einsparungen.
Wenn ich das alles zusammenfasse, dann komme ich zudem Ergebnis, dass das eine vernünftige Reform ist,
die wir mittragen können.Jetzt noch kurz zur FDP: Herr Kollege Solms, ich er-innere mich daran, wie Sie damals Benzin für 50 Pfennigan die Leute verschenkt haben. Sie sind ein sehr großzü-giger Mann – das ist sicherlich eine sehr positive persön-liche Eigenschaft –, aber wenn Sie einerseits als Mitgliedeiner Partei auftreten, die allen Subventionen an den Kra-gen will, aber andererseits eine Rede halten wie ein Sub-ventionsritter, dann passt das nicht zusammen.
Herr Kollege Günther, lassen Sie mich noch einmal aufIhre Zahlen – die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig hates bereits angesprochen – und die maßlosen Übertreibun-gen bezüglich der Beschäftigungsverluste zu sprechenkommen. Herr Günther sprach von 400 000 Arbeitsplätzen,die verloren gingen; Herr Oswald sprach von 200 000; dieBauwirtschaft selber spricht von 100 000. Auch das isteine maßlose Übertreibung; denn gerade die Altbausanie-rung bringt enorme Beschäftigungseffekte; das darf nichtvergessen werden.
Wenn ich diese Zahlen miteinander vergleiche, dann ent-spricht Ihre Übertreibung ziemlich genau dem Faktor vier,so, wie Sie mit Ihren 18 Prozent beim Wahlergebnisum den Faktor vier übertrieben haben. 18 geteilt durch 4ist 4,5. So soll es kommen!
Der nächste Redner ist der Kollege Klaus-Peter
Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Der grüne Abgeordnete hat wenigstens die Wahr-heit gesagt. Er hat in etwa gesagt: „Wir brauchen keinenNeubau von Wohnungen mehr. Was in diesem Bereichpassiert, ist mir letztendlich egal, insbesondere was dieFörderung der Familien im Neubau angeht.“
Aber in der Eigenheimförderung, in der nachhaltig großeErfolge erzielt wurden, zerstören Sie den Lieblingstraumder Deutschen nach einer eigenen Wohnung oder nach ei-nem eigenen Haus. Hierbei hätten Sie aber Nachhaltigkeitbeweisen können.
Sie wissen offensichtlich nicht, dass die Zukunftspla-nung von mehr als 70 Prozent unserer Bürgerinnen undBürger auf die eigene Immobilie ausgerichtet ist, dass sichdie Menschen krumm legen und mit Leidenschaft und mitKraft dafür einsetzen. Denn eine eigene Immobilie bietetnach wie vor einen sicheren Ort für die Familie und einesichere Basis für das Alter. Die Förderung stellte immerein Stück Vermögensbildung in breiten Schichten der Be-völkerung dar. Was Sie betreiben, ist ein sozialpolitischer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002 429
Kahlschlag, den Ihnen die Bürgerinnen und Bürger ent-sprechend verübeln werden.
Mit Ihren neuen Beschlüssen testen Sie nicht nur dieBelastbarkeit der Wirtschaft, sondern auch die der Bürge-rinnen und Bürger. Steuererhöhungen, Erhöhungen derSozialbeiträge und nun die Kürzung in der Vermögensbil-dung – das ist der rot-grüne Aufbruch in ein neues Jahr-zehnt.
Seit heute haben Sie also ein Konzept für die nächstenJahre. Es ist schon erstaunlich: Sie verkünden die Ände-rungen bei der Eigenheimzulage und merken erst nachden Protesten der Opposition und der Verbände, dass sich– so bis vor kurzem – eine Familie mit zwei Kindern beieinem Neubau um 13 500 Euro verschlechtert. Sie mer-ken offensichtlich jetzt auch, dass das Ganze auch etwasmit der Baukonjunktur und mit den Arbeitsplätzen zu tunhat.
Wie wir gerade gehört haben, gibt es nun also eineGrundförderung von 1 000 Euro und 800 Euro als Kin-derzulage. Egal, welche Variante Sie wählen, meine Da-men und Herren, den Familien geht es auf jeden Fallschlechter als vorher.
Eine Familie mit einem Kind erhält bei einem Neubau46 Prozent weniger Förderung, eine mit zwei Kindern37 Prozent und eine mit drei Kindern 30 Prozent. Das alteNiveau wird – weil in der Kinderzulage nur noch eineDifferenz von 38 Euro besteht – bei einem Neubau erstmit dem einundvierzigsten Kind erreicht. Das ist einegrandiose familienpolitische Leistung. Sie sollten sichdafür schämen.
Sie sollten einmal ernsthaft erläutern, warum die Kin-derzulage nur dann gewährt werden soll, wenn sich dieKinder innerhalb von vier Jahren nach der Eheschließungeinstellen. Offensichtlich merken Sie nicht, welchenDruck Sie auf junge Familien ausüben, wenn, wie der„Focus“ diese Woche schreibt, die Frau nicht schnell ge-nug schwanger wird.
Das Ganze ist ein untauglicher Versuch, sich familien-freundlich zu geben, und entpuppt sich als riesengroßeTäuschung der Wähler.
Sie werden auch die Einkommensgrenze senken. Esgeht bekanntlich um den Gesamtbetrag der Einkünfte.Auch damit treffen Sie wieder die Leistungsträger in die-ser Gesellschaft, die sich hochgearbeitet haben. Das istdie neue Mitte, auf die Sie noch 1998 gesetzt haben. Aberjetzt haben Sie sich selbst auf die neue Mitte gesetzt.
Wenn Ihre Beschlüsse greifen, wird der Bau von Eigen-heimen in Ballungszentren überhaupt nur noch für die ab-soluten Hochverdiener möglich sein.
Mit Ihren Vorstellungen müssen viele ihren Traum vomEigenheim an den Nagel hängen.Der Finanzminister träumt von 210 Millionen EuroEinsparungen und vergisst dabei erstens den Steuerausfalldurch die nicht realisierten Bauvorhaben und zweitens dieBelastung durch die steigende Arbeitslosigkeit. Warumsind die Menschen heute hier in Berlin auf der Straße?Weil sie merken, dass es immer weiter abwärts geht unddiese Regierung die absolut falschen Beschlüsse her-beiführt. Die Menschen draußen haben unsere absoluteSolidarität, meine Damen und Herren.
Das Eigenheim oder auch die selbstgenutzte Wohnungwaren von allen Parteien gesellschaftspolitisch und sozi-alpolitisch immer gewünscht; denn sie waren immer auchein Stück Stabilisator der Konjunktur und versprachenden Bauarbeitern sichere Arbeitsplätze. Das DIW kalku-liert heute mit einem Rückgang im Bauvolumen von4,7 Prozent im nächsten Jahr und von über 10 Prozent imJahr 2004.
Sie können übrigens die Einschränkungen bei der Ei-genheimzulage auch nicht von anderen steuerpolitischenBeschlüssen im Wohnungsbau trennen. 80 Prozent derWohnungsbauinvestitionen werden durch Private finan-ziert und stützen sich auf drei Säulen: auf die Miete, aufdie vom Staat gewollten Steuervorteile, damit Geld in denWohnungsbau fließt, und auf die Wertsteigerung. Sieschlagen zwei Säulen kaputt: die Steuervorteile und dieWertsteigerung.Es wird Zeit, dass wir über die Inhalte reden und nichtmehr über die Verpackungen. Wenn Sie Nachhaltigkeitwollen, können Sie das jetzt beweisen. Was ist die FolgeIhrer Beschlüsse? Weniger Wohnungen, weniger Eigen-heime, mehr Druck auf die Mieter, Mietsteigerungen,Wohnungsknappheit.
Schon schließt sich der Kreis und wir werden in absehba-rer Zeit wieder über Wohnungsnot und die notwendigenFördermaßnahmen diskutieren. Lassen Sie die Finger vonder Eigenheimzulage und ziehen Sie Ihre verheerendenwohnungspolitischen Beschlüsse zurück, meine Damenund Herren.
Klaus-Peter Flosbach
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Herr Kollege Flosbach, ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag und wünsche Ihnen für Ihre politischen Ziele
alles Gute.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Subven-tionsabbau war eines der beiden zentralen Themen dervergangenen Wochen, und zwar parteiübergreifend, nichtnur bei uns. Das andere Thema war Familie. Beide The-men nehmen wir auch nach dem Wahltermin überausernst. Das ist in einigen Teilen dieses Hohen Hauses underst recht bei den Interessenvertretungen leider nicht so.Viel mehr Bedeutung hat in der Zwischenzeit das Wört-chen „aber“ bekommen. Subventionsabbau ja, aber nichthier. Sparen ja, aber doch nicht da. Kürzungen selbstver-ständlich, aber nicht auf diesem und nicht auf jenem undüberhaupt auf keinem Feld und schon gar nicht bei mir.
Aber so, liebe Kolleginnen und Kollegen, funktioniertdiese Aufgabe nicht.
Was ist denn Subventionsabbau? Die Definitionen sindunterschiedlich. Nach dem Duden ist das der Abbau vonzweckgebundenen finanziellen Unterstützungen oderstaatlichen Zuschüssen. Populistisch und zur Verunglimp-fung nach Oppositionsart viel besser geeignet wird darausschlicht und ergreifend Steuererhöhung. Da tut es gut zusehen, dass die Fachliteratur das anders sieht, natürlichnicht die Boulevardpresse, allen voran die „Bild-Zei-tung“, das neue Kampfblatt der CDU/CSU.
Am Wochenende habe ich in meiner Kanzlei die Fachli-teratur durchgesehen. Ich gebe zu, dass mich der Teil, dersich mit dem Koalitionsvertrag befasste, am meisten in-teressierte.
In der Fachliteratur steht nichts von Steuererhöhungen,sondern es wird über den Abbau von Steuersubventionenund Vergünstigungen geschrieben. Es zeigt sich: DieFachleute fallen nicht auf die platten Parolen derer herein,
die morgens eine radikale Vereinfachung des Steuersys-tems fordern und abends im Wahlkreis die Abschaffungvon Sonderregelungen schlichtweg ablehnen.Wir machen mit dem Abbau von Subventionen Ernst.Dabei müssen alle Tatbestände auf den Prüfstand. Einerdieser Tatbestände ist die Eigenheimzulage. Wir müssenuns doch heute, wo wir nicht mehr mit dem Füllhorndurchs Land ziehen und Wohltaten verteilen können, fol-gende Fragen stellen: Würden wir heute eine solche För-derung einführen? Wenn ja, wie würde sie aussehen?Würden wir den Bau oder den Erwerb von Eigentum för-dern oder die Kinder, die darin wohnen und aufwachsensollen? Wenn Sie es mit Ihrem Bekenntnis zur Familieehrlich meinen, dann müssen Sie unserem Vorhaben zu-stimmen, die Förderung nur noch Familien mit Kindernzukommen zu lassen.
Familie ist, wo Kinder sind. Diesem Grundsatz trägt dieseVeränderung Rechnung.Warum die gleiche Förderung für Alt- und Neubau? Siewissen genauso gut wie ich, dass der Städtebund, allenvoran Frau Roth, CDU-Mitglied und Oberbürgermeiste-rin von Frankfurt, und ähnliche Organisationen wegen derStadtflucht und der Zersiedelung Klage führen. Die Leer-standskommission im Osten spricht doch eine ganz deut-liche Sprache. Wir müssen gegensteuern. Viele Häuser inBaugebieten aus den 50er- und 60er-Jahren stehen heutezum Verkauf an. Wir können doch nicht zulassen, dasssich diese Stadtteile zu Geisterstadtteilen entwickeln unddass auf der anderen Seite, hundert Meter weiter, einneues Baugebiet im wahrsten Sinne des Wortes aus demAcker gestampft wird.
Das hat auch etwas mit Nachhaltigkeit zu tun. Wirmüssen uns überlegen, was wir unseren Kindern hinter-lassen. Eine intakte Umwelt ist ein Gut, auf das auch diekommenden Generationen einen Anspruch haben. Wirwerden niemanden hindern, ein Häuschen im Grünen zubauen; aber der Anreiz, ein neues Haus zu bauen, statteines zu kaufen, weil die Förderung dafür höher ist, ent-fällt.
Es wird für den Bau eines Hauses künftig eine Förderungin derselben Höhe wie für den Erwerb eines Hauses ge-ben. Die Rechenbeispiele, um das zu erläutern, lasse icheinmal weg.
– Wollen Sie die Rechenbeispiele hören? Okay, bitte!Mein Vorredner hat gesagt, eine Familie müsste heute41 Kinder haben, um genügend Fördermittel zur Deckungder Kosten für den Erwerb eines Neubaus zu bekommen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002 431
Er hat leider das Komma übersehen. Bisher waren es4 900 Euro für einen Neubau und es werden bei einer Fa-milie mit vier Kindern – –
– Nein, 4 200 Euro, junger Mann. Lernen Sie Rechnen,bevor Sie hierhin kommen!
Die Einkommensgrenze bei einer Familie mit zweiKindern wurde für zwei Jahre auf 180 000 Euro reduziert.
– Nein, die nehme ich nicht zurück. Grundförderung:1 000 Euro. Dazu kommen viermal 800 Euro. Na, wissenSie, was dabei herauskommt? Insgesamt sind das4 200 Euro.
Lassen Sie Ihren Worten im Wahlkampf Taten folgen!Wir sind zum Subventionsabbau bereit. Seien Sie es auch!
Auch Ihnen, liebe Kollegin Frechen, vom ganzen Haus
herzliche Glückwünsche zu Ihrer engagierten ersten Rede
hier im Deutschen Bundestag! Ich wünsche auch Ihnen
persönlich alles Gute.
Nächster Redner ist der Kollege Willi Zylajew,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Frechen, da wir uns aus dem Wahlkreiskennen,
muss ich zunächst einmal darauf hinweisen, dass Sie voreinigen Jahren behauptet haben, Ihre Regierung habe denAltbestand endlich schlechter gestellt als den Neubau,weil sie den Vorkostenabzug abgeschafft habe.
Das muss man einmal sagen. Sie haben vor drei odervier Jahren im Erftkreis propagiert, dass die SPD für steu-erliche Gerechtigkeit sorgt. Heute haben Sie in Ihrer ers-ten Rede hier erklärt, dass Sie jetzt durch die Gleichstel-lung des Altbestandes etwas Tolles tun. Es kann dochnicht richtig sein, dass Flickschusterei weiterhin Hand-lungsmaxime dieser Regierung ist.
Ich will, liebe Kolleginnen und Kollegen, darauf hin-weisen, dass für viele Menschen in unserem Land ein an-genehmes Lebensgefühl und Wohlbefinden einfach mitWohneigentum zusammenhängen. Das ist in allen sozio-logischen Schichten unserer Bevölkerung so. Das ist inden Ballungszonen der Fall, in den Ballungsrandzonen,aber auch im ländlichen Bereich. Rund zwei Drittel unse-rer Bevölkerung haben – Klaus-Peter Flosbach hat dasangesprochen – ihre Lebensplanung darauf fixiert, sichWohneigentum zu schaffen. Dies haben alle Regierungen,aber auch wirklich alle, in der Nachkriegszeit in entspre-chendem Maße gefördert.
– Das ist aktuell, Herr Kollege. – Sie brechen mit dieservernünftigen Praxis, die zumindest aus unserer Sicht einewesentliche Säule einer guten Familien- und Sozialpolitikdarstellte.
Die Gründe, warum Menschen Wohneigentum wün-schen, liegen doch auf der Hand. Da hat sich nichts geän-dert, auch nicht nach dem 22. September. Wohneigentumschafft eine Grundsicherung. Woanders legen Sie aufGrundsicherung so einen großen Wert und belasten dieKommunen mit enormen Kosten. Wohneigentum ist wert-beständig und nicht so extrem problematisch wie andereAnlageformen. Wohneigentum bietet die Chance zur Um-feldgestaltung und dazu, für Kinder Entfaltungsräume zuschaffen; die sind Ihnen doch angeblich so wichtig. AlleWissenschaftler und alle Fachleute mit praktischen Er-fahrungen in diesem Bereich sagen uns: Für die Entwick-lung von Kindern und jungen Menschen ist Wohneigen-tum ein ganz ganz wichtiger Faktor.
Sie brechen diese wichtige Stütze der deutschen Sozial-und Familienpolitik weg.Hier wird – Frau Frechen, Sie kennen das – geschrö-dert, das heißt, etwas anderes getan, als man gestern er-klärt hat.
Die Zahlen brauche ich nicht zu wiederholen; diesen Pas-sus aus dem Manuskript kann ich mir sparen, denn dieKollegen haben sie genannt. Aber auch wenn Sie jetztflickschustern und ein bisschen nachbessern, ändert dasnichts daran, dass Sie gestern etwas anderes erzählt undversprochen haben, als Sie heute tun. Das ist ein schänd-liches Verhalten.
In meiner Heimat – ich erlebe das hautnah – gibt esviele junge Paare, deren Lebensplanung so ausschaut,dass sie sich erst Wohneigentum schaffen und dann denKinderwunsch realisieren. Ich frage mich: Warum scha-den wir denen?
Gabriele Frechen
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Willi ZylajewDie haben das nicht verdient. Das sind die jungen Men-schen, Frau Kollegin, die Leistungsträger unserer Gesell-schaft.
Liebe Kollegin, wir beide in unserem Alter hoffen auf sie.
Diese werden jetzt durch Ihr Handeln ganz negativ er-wischt. Sie verschlechtern sehenden Auges die Chancender Alterssicherung von Männern und Frauen.Die Wohneigentumsförderung der vorherigen Regie-rungen war doch letztendlich wie eine Riester-Rente mit100-prozentigem Wirkungsgrad. Die Menschen habeneine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation im Al-ter erzielt, weil sie Wohneigentum hatten und etwa einDrittel des Einkommens, das sonst an Miete wegging,sparen konnten.Allein erziehenden Müttern und Vätern, denen Sie an-geblich helfen wollen – ich weiß nicht, ob das bis in jedeEcke der Regierung schon durchgedrungen ist –, raubenSie schlechthin Lebensräume. Ich denke an Zuwanderer,die Ihnen doch angeblich so sehr am Herzen liegen. Zu-wanderer
sind sehr an Wohneigentum interessiert. Aber Sie nehmenmit dieser Gesetzesänderung denen fast alle Chancen, die-ses Ziel zu erreichen. Ich denke auch an junge Leute.Abschließend möchte ich sagen, weil die Zeit drückt:Sie strangulieren die mittelständische Bauwirtschaft, ver-nichten Hunderttausende von Arbeitsplätzen, reduzierendie Chancen auf Alterssicherung, engen Selbstverwirk-lichungsspielräume ein, kappen Zukunftsperspektiven fürJunge und Alte und dämpfen damit die Lebensqualität vonMenschen.Ich hoffe sehr, dass Sie den Rest an Vernunft, den manbei Ihnen vielleicht noch erwarten kann, aufwenden, umzu einer vernünftigen Politik zurückzukommen.Danke.
Auch Ihnen, Herr Kollege Zylajew, unsere herzlichen
Glückwünsche zu Ihrer ersten Rede hier im Deutschen
Bundestag und persönlich alles Gute.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Spanier,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ichhabe Ihnen sehr genau zugehört.
Substanziell war da wirklich nichts.
Es war viel künstliche Erregung, viel Pathos; ich erinnerenur an „Blutspuren“ und „Lufthoheit über Kinderbetten“.Es war schon sehr interessant, welche sprachlichen SpieleSie da getrieben haben; aber substanziell war nichts, bisauf folgende Forderungen: Erstens, es soll alles so blei-ben, und zweitens, es soll kräftig draufgepackt werden.
Schauen wir uns den Wohnungsmarkt einmal in der ge-botenen Ruhe und Sachlichkeit an. Wir haben nun einmalin weiten Teilen einen gesättigten Wohnungsmarkt. DasSpiel von Angebot und Nachfrage sollten Sie als Letztesaußer Kraft setzen. Wir hatten schon in den letzten Jahreneinen Rückgang der Nachfrage auch nach Eigenheimen.Das ist ein Faktum. Was das Anfachen des Wohnungsbausmit künstlichen Anreizen angeht, haben wir mit der Son-derabschreibung in den neuen Bundesländern Erfahrun-gen gemacht. Den Fehler, den Sie damals gemacht haben,werden wir auf keinen Fall wiederholen.
Zur realistischen Betrachtungsweise des Wohnungs-markts gehören auch folgende Zahlen des Zeitraums 1999bis 2001: jährlich durchschnittlich lediglich plus 1 Pro-zent bei den Nettokaltmieten, 1,8 Prozent Steigerung derNebenkosten, Baupreisindex stabil, sogar mit leichtemMinus versehen, durchschnittlicher Zinssatz von 6 Pro-zent. In einem einzigen Punkt haben wir allerdings einedeutliche Steigerung, und zwar beim baureifen Land. Hiersind die Kosten in diesem Dreijahreszeitraum um 10 Pro-zent gestiegen.Wir haben also sehr ausgeglichene Bedingungen aufdem Wohnungsmarkt.Zum Eigenheimzulagengesetz. Zwei Ziele sind 1995mit diesem Gesetz verfolgt worden: erstens eine kräf-tige Belebung der Eigentumsbildung. Das ist gelungen:50 Prozent Bestandserwerb, 44 Prozent Neubau, 6 Pro-zent Ausbau und Erweiterung. Das zweite war ein sozial-politisches Ziel, nämlich die Förderung von Familien mitKindern. Auch dies ist in hohem Maße erreicht worden.Diese Förderung war sozial treffsicher.Aber die Wirkungsanalyse der Bauministerkonferenz,die ich gerade zitiert habe, stellt fest, dass die Wirkungräumlich sehr unterschiedlich war und sehr stark von denörtlichen Bedingungen abhängt. Günstige Bodenpreisesind dabei ein ganz entscheidender Faktor. Wir brauchen
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002 433
also ein ausreichendes und nachgefragtes Angebot undnicht künstliche Anreize.Es gibt zwei Schlüsselfaktoren: die Eigenheimzulageund die Bodenpreise. Beide sind maßgeblich für den Er-folg der Eigentumsförderung.Zum finanzpolitischen Aspekt. Es ist richtig: Die Ei-gentumsförderung ist der bedeutendste Brocken der Sub-ventionen. 1996 sind wir von einem Volumen von rund17 Milliarden DM ausgegangen. Das höchste Finanzvo-lumen werden wir 2003 haben. Es liegt noch höher, als diev
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir liegen bei Aufwendungen von insge-
samt etwa 10 Milliarden Euro, weil wir noch Steuer-
schleppen aus den vergangenen Jahren haben.
Die Ausgaben sind also trotz Rückgangs der Anträge in
den letzten Jahren fortlaufend gestiegen. Wir kommen um
folgende Tatsache nicht herum: Es gibt sehr enge finanz-
politische Rahmenbedingungen. Wir alle gemeinsam –
also Regierungskoalition, Opposition, Bund, Länder und
Kommunen – haben den Auftrag, den Haushalt zu konso-
lidieren. Diese Notwendigkeit kann man nicht wegdisku-
tieren; denn Bund und Länder müssen finanziell entlastet
werden.
Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden: Der
Schrei nach Subventionsabbau, den ich in den letzten
Monaten – auch in meinem Wahlkreis – so oft hören
musste, ist auf einmal völlig verstummt. Er wird sogar ins
Gegenteil verkehrt, indem nach mehr und höheren Sub-
ventionen geschrien wird.
Dass die Wohnungsförderung bei der Konsolidierung
nicht außen vor bleiben kann, muss auch ich als enga-
gierter Wohnungsbaupolitiker akzeptieren. Im Übrigen
sehen die Länder das genauso.
Ich greife einmal ein Land heraus: nicht Baden-Würt-
temberg, sondern Bayern, das mir besonders am Herzen
liegt. Was tut Bayern im Haushaltsentwurf für das Jahr
2003? – Bayern kürzt die Wohnförderung auf einen
Schlag um 30 Prozent von 286 Millionen Euro auf
200 Millionen Euro –
aus genau den gleichen Gründen, denen auch wir Rech-
nung tragen müssen. Der Pathos und die Erregung, mit de-
nen Sie Ihre Standpunkte vorgetragen haben, sind nicht
mehr nachvollziehbar, wenn man die Finanzsituation
nüchtern betrachtet.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Es ist blanke Polemik, wenn in der Öffentlichkeit ge-
sagt wird, die Eigenheimzulage werde auf null gebracht.
Wir werden im Jahre 2006 immerhin noch 75 Prozent des
jetzigen Finanzvolumens ausgeben. Wir werden im Jahre
2010 bei knapp der Hälfte des gegenwärtigen Volumens
sein. Von Auf-null-Bringen kann also überhaupt keine
Rede sein.
Ich hoffe, dass Sie in den Beratungen im Parlament und
auch im Bundesrat Ihren Beitrag dazu leisten werden, eine
sozial ausgewogene Eigentumsförderung mit der drin-
gend notwendigen Haushaltskonsolidierung auf allen
staatlichen Ebenen zu verknüpfen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Müller von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! FrauStaatssekretärin, wenn man Ihre Ausführungen und auchdie Reden vonseiten der Regierungsfraktionen hört, kannman den Eindruck gewinnen, es handele sich bei derEigenheimzulage lediglich um ein Steuerschlupfloch amRande der Legalität, das sich irgendein findiger Steuerbe-rater ausgedacht hat.
Auch hier hat Sie der Sinn für die Realität verlassen.Ich möchte Sie daran erinnern: Die Eigenheimzulage sollBürgerinnen und Bürgern den Bau oder den Erwerb vonWohneigentum finanziell erleichtern und damit letztlichauch den Vermögensaufbau und die Altersvorsorge för-dern. Ich meine, die Eigenheimzulage in der bisherigenForm hat sich bewährt und entspricht den Anforderungen,die man seinerzeit, als man sie beschlossen hat, in sie ge-setzt hat.
Vor allem den Durchschnittsverdienern wird es da-durch ermöglicht, Eigentum zu erwerben. Durch die Ei-genheimzulage wurde erreicht, vor allem Familien mitKindern bei der Eigentumsbildung zu unterstützen. Diesbestätigt im Übrigen auch eine Studie des Bundesamtesfür Bauwesen und Raumordnung. Das Fazit dieser Studielautet: Für eine Reform der Eigenheimzulage gibt es keinesachlichen Gründe.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, das habenSie bis vor einiger Zeit genauso gesehen; denn im Juni be-tonten SPD und Grüne in einem gemeinsamen Antrag:Wolfgang Spanier
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Stefan Müller
Die Förderung des selbst genutzten Wohneigentumshat gesellschaftspolitisch einen hohen Stellenwert.Wir messen der Eigenheimzulage einen hohen Stel-lenwert zu.Herr Kollege Spanier, im April betonten Sie:Aus wohnungspolitischer Sicht halten wir auch diederzeitige Höhe des Fördervolumens für sinnvoll.
Sie haben diese Aussage in einer Debatte im Juni mit dendeutlichen Worten ergänzt:Die Eigentumsförderung bleibt selbstverständlicherhalten.
Im Koalitionsvertrag heißt es lediglich:Die Eigenheimzulage werden wir auf diejenigenkonzentrieren, die sie wirklich brauchen: Familienmit Kindern.Nach Ihrem ersten Vorschlag hätte eine Familie mit zweiKindern 1 600 Euro im Jahr weniger bekommen. Das istoffensichtlich Ihr Verständnis von sozialer Gerechtigkeit.
Der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabrielhat angekündigt, er werde auf keinen Fall zustimmen,wenn die Grundförderung gestrichen werden sollte. Jetzthaben Sie das Ganze noch einmal überarbeitet und wiedereinmal – wie schon so oft – ein bürokratisches Monstervorgestellt. Ich frage Sie heute: Ist das das letzte Wort? Ichpersönlich glaube dies nicht.
Meine Damen und Herren, es ist ein Stochern im Ne-bel. Bei Ihnen weiß die linke Hand nicht, was die rechtetut. Die Bürger werden stattdessen jeden Tag mit neuenMeldungen weiter verunsichert. Es ist an der Zeit, dassSie endlich für Klarheit sorgen.Dabei sollten Sie sich vor Augen führen, was die Kür-zung der Eigenheimzulage für die Betroffenen bedeutet.Die Eigenheimzulage ist ein wesentlicher Baustein bei ei-ner privaten Baufinanzierung, auch und gerade für jungeFamilien, also für die Personengruppe, die Sie, wie Sievorgeben, fördern wollen.Wenn ein Bauwilliger heute bei einer Bank um einDarlehen nachsucht, muss er zum einen Eigenkapital mit-bringen und zum anderen imstande sein, den entspre-chenden Kapitaldienst zu leisten. Die Eigenheimzulageist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Kapitaldienst-fähigkeit einer Familie. Es ist für Familien ohnehinschwierig genug, den verbleibenden Kapitaldienst zu be-wältigen.Wenn es bei dem, was Sie vorgeschlagen haben, bleibt,wird der Bau und der Erwerb von privatem Wohnungsei-gentum noch mehr zurückgehen. Wenn Sie die Eigen-heimzulage kürzen, werden in diesem Land noch wenigerMenschen mit einem durchschnittlichen Einkommen einEigenheim erwerben können – und das, obwohl wir inDeutschland ohnehin schon eine unterdurchschnittlicheWohneigentumsquote haben.Führen Sie sich bitte vor Augen: Der Erwerb vonWohneigentum ist in unserem Land von ganz wesentli-cher Bedeutung für die Altersvorsorge und die Vermö-gensbildung. Die Eigenheimzulage ist ein sinnvolles In-strument, die Bemühungen zur privaten Vorsorge undVermögensbildung zu unterstützen.Lassen Sie mich zum Schluss noch auf etwas hinwei-sen: Gebetsmühlenartig machen Sie uns immer wiederdarauf aufmerksam, dass wir die Wahl nicht gewonnenhätten. Sie haben die Wahl nicht verloren, weil Sie dieWähler getäuscht haben. Wortbruch und Wählertäu-schung sind zum Markenzeichen Ihrer Politik geworden.Die Eigenheimzulage ist dabei nur eines von vielen Bei-spielen.
Herr Kollege Müller, im Namen des Hauses gratuliere
ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerBundeskanzler meinte nach der Wahl, eine Mehrheit habefür den Erhalt des Sozialstaates gestimmt und damit ge-gen eine Regierung von CDU/CSU. Das mag so sein; aberdas, was Sie in den letzten drei Wochen hier abgelieferthaben, das sind klaftertiefe Einschnitte in den Sozialstaat.Das hat mit der sozialdemokratischen Epoche, die derBundeskanzler auch nach dieser Wahl wieder ausgerufenhat, nichts zu tun.
Damit wir uns nicht falsch verstehen, Frau Staats-sekretärin: Auch ich meine, dass in der BundesrepublikSubventionen abgebaut werden können. Aber Subventionist nicht gleich Subvention. Man muss sehr genau hin-schauen, wo etwas gestrichen wird.Ich denke, Ihre Reihenfolge ist schlicht falsch. Erfor-derlich ist zuallererst einmal die Verbesserung der Situa-tion in den Ballungszentren. Diese Situation treibt vieleFamilien nicht nur aus den Städten, sondern in die einzigbestehende Alternative. Wenn Sie schnell die Altschul-denfrage zugunsten von Wohnungsgenossenschaften undden verbliebenen Wohnungsgesellschaften lösen, dannkönnen Sie auch an die Überprüfung der Subventionendes Eigenheimbaues gehen,
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und zwar nicht im Sinne von ersatzloser Streichung, son-dern im Sinne der Förderung sowohl des privat und selbstgenutzten Wohneigentums als auch des genossenschaft-lichen Wohnungserwerbs bzw. Wohnungsbaus.In der Koalitionsvereinbarung ist nicht zu ersehen, wasSie mit den eingesparten Mitteln durch den Wegfall derGrundförderung tun wollen. Wollen Sie den sozialenWohnungsbau dort, wo noch notwendig, stärken? WollenSie einen attraktiveren Stadtumbau Ost bewerkstelligen,um die Flucht aus den Städten im Osten zu verhindern, in-dem Sie den Menschen dort eine lebenswerte Perspektivegeben? Oder sollen diese Gelder dem mittelständischenBausektor zugute kommen, zum Beispiel durch die Stadt-erneuerung und die Schaffung rechtsklarer Verhältnisse?Selbst in dieser Stadt müssen für einige Straßenzügezunächst klare Rechtsverhältnisse geschaffen werden, be-vor entsprechend investiert werden kann.Ich habe noch einen Vorschlag, wie die Regierung spa-ren könnte,
nämlich durch die Abschaffung der steuerlichen Begüns-tigung nicht selbstgenutzten privaten Wohneigentums.Sie könnten Abschreibungsmöglichkeiten streichen unddie dadurch eingesparten Gelder für die Verbesserung desLebens in den Stadtzentren einsetzen.Danke schön.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung
der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenver-
sicherung und in der gesetzlichen Rentenversiche-
rung
– Drucksache 15/28 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Zwölften Gesetzes zur
Änderung des Fünften Buches Sozialgesetz-
– Drucksache 15/27 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das
Wort die Kollegin Helga Kühn-Mengel von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Opposition spricht nurallzu gerne von einer hausgemachten wirtschaftlichenKrise. Sie irrt auch in diesem Punkt.
Die Ökonomen sind sich einig: Wir haben es mit einerglobalen Konjunkturabkühlung zu tun.
Der weltwirtschaftliche Abschwung hat Spuren hinterlas-sen, sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch bei den sozia-len Sicherungssystemen. In der gesetzlichen Krankenver-sicherung haben wir ein Einnahmeproblem. Zudem sinddie Ausgaben deutlich zu hoch; dies gilt insbesondere fürden Arzneimittelbereich. Auch die Einnahmen in der Ren-tenversicherung sind wegen der schwachen Konjunkturunter dem erwarteten Niveau geblieben.In ihrem Frühjahrsgutachten 2002 hatten die Wirt-schaftsweisen für den Herbst eine wirtschaftliche Bele-bung prognostiziert. Wir durften deshalb mit Fug undRecht hoffen, dass die aufgelaufenen Defizite in Höhevon etwa 2,5 Milliarden Euro im zweiten Halbjahr weit-gehend abgebaut werden können. Die weltweite Kon-junkturabkühlung hat auch starke Auswirkungen auf diedeutsche Wirtschaft. Hier musste die Prognose ebenfallsnach unten korrigiert werden. Deshalb, liebe Kolleginnenund Kollegen, müssen wir feststellen, dass das Einnah-medefizit in der gesetzlichen Krankenversicherung zumJahresende 2002 etwa 1,5 Milliarden Euro betragen wird.Aber wir handeln,
und zwar sowohl im Bereich der GKV als auch im Be-reich der Rentenversicherung.
Ich möchte daran erinnern, dass uns die heutige Oppo-sition einen Beitragssatz in der Rentenversicherung von20,3 Prozent hinterlassen hat.
– Den Überschuss, von dem Sie reden, haben Sie auf demRücken der Patientinnen und Patienten durch Zuzahlungen,Petra Pau
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Helga Kühn-Mengeldie Benachteiligung chronisch Kranker, Krankenhaus-notopfer und andere Maßnahmen erwirtschaftet.
Wir haben inzwischen dafür gesorgt, dass die Rente fürältere Menschen sicher ist und dass sie auch für die jün-geren bezahlbar bleibt.
Wir fördern die private Altersvorsorge mit fast 13 Mil-liarden Euro. Das hat noch nie eine Regierung getan.Bitte erinnern Sie sich: Wir haben die Patientinnen undPatienten von Zuzahlungen befreit,
die Arzneimittelzuzahlungen reduziert, chronisch Krankeentlastet, die Zuzahlungen für Psychotherapie abgeschafftund das Krankenhausnotopfer rückgängig gemacht. Wirhaben die Prävention, die Sie abgeschafft haben, wiedereingeführt.
Wir haben vor allem die Qualität in der Behandlung
endlich erhöht und eine bessere Versorgung auf den Weggebracht.
Das Gebot in der Gesundheits- und Sozialpolitik lautetim Moment: Beitragssatzsteigerungen nach Möglich-keit vermeiden. Jetzt steht die Politik
vor einer schwierigen und verantwortungsvollen Ent-scheidung. Sie kann, wie Sie es gemacht haben, die Händein den Schoß legen und Beitragssatzerhöhungen in Kaufnehmen – oder sie gestaltet und ergreift kurzfristig Maß-nahmen zur Gegensteuerung.
Für den letzteren Weg haben wir uns entschieden.Die anstehenden Reformen entsprechend den Vor-schlägen der Hartz-Kommission werden mittelfristigdazu beitragen, die wirtschaftliche Situation und damitauch die Situation auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.Sie werden die Einnahmebasis der Kranken- und Renten-versicherung verbreitern und verstärken. Steigende Lohn-nebenkosten erschweren natürlich die Belebung des Ar-beitsmarkts. In der Ära Seehofer ist die schwarz-gelbeKoalition in derselben Situation auf den Dreh verfallen,den Patientinnen und Patienten tiefer in die Tasche zugreifen und Leistungen auszugrenzen. Das haben Sie ge-macht! Diesen unsozialen Fehler wollen wir vermeiden.
Wir setzen weiter auf Qualität, auf Transparenz undauf Solidarität. Unser Kostendämpfungskonzept
sieht vor, allen Hauptakteuren im Gesundheitswesen fi-nanzielle Opfer abzuverlangen,
und wir meinen, dass dies gerechtfertigt ist. Sie sollenihren Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen der Kran-kenkassen beisteuern.
Die Belastungen fallen unterschiedlich aus. Den größ-ten Konsolidierungsbeitrag fordern wir denjenigen ab, diein den letzten Jahren von den Ausgabensteigerungen dergesetzlichen, solidarisch finanzierten Krankenversiche-rung am meisten profitiert haben: pharmazeutische Indus-trie, Pharmagroßhandel und Apotheken.
In der Wertschöpfungskette Arzneimittel wollen wir imJahr 2003 über Großkundenrabatte 1,4 Milliarden Euroeinsparen.Neben der Einführung von Rabatten auf der Hersteller-und Verteilebene wollen wir auch das Problem derArzneimittel angehen, bei denen das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht stimmt. Hier unternehmen wir einen wei-teren Schritt zur Kosten-Nutzen-Analyse von Medika-menten. Die Positivliste wird folgen.Bei der Vergütung von Ärzten und Zahnärzten wird esim Jahr 2003 keine Steigerung geben, es sei denn, wir fin-den Unterstützung in unserem Bemühen, mehr Qualitätund Effizienz ins System zu bringen.
Ich will in diesem Zusammenhang die strukturierten Be-handlungsprogramme erwähnen, die wir auf den Weg ge-bracht haben und die endlich einmal den Patienten, die Pa-tientin in den Mittelpunkt stellen, Transparenz schaffen,Leitlinien geben, das System besser vernetzen und durch-sichtiger machen. Das ist ganz entscheidend und soll be-lohnt werden.
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Ärzte und Zahnärzte erleiden gegenüber dem Jahr2002 also keine finanziellen Einbußen; Vertragsärztemüssen lediglich auf eine Vergütungssteigerung von imDurchschnitt 158 Euro im Monat verzichten.
Wir meinen: Das ist zumutbar.Auch die Krankenhäuser werden im Jahr 2003 haus-halten und mit den Budgets des Jahres 2002 auskommenmüssen.
Aber es gibt eine Reihe von Ausnahmen für die Kliniken.Damit wollen wir diejenigen ermutigen und belohnen, dieStrukturveränderungen vorantreiben, eine mutige Reform-politik unterstützen sowie Qualität und Wirtschaftlichkeitstärken. Erste Ausnahmen gibt es für diejenigen, die dasFallpauschalensystem für das Jahr 2003 eingeführt haben.Sie werden also unterstützt. Sie können Budgets verein-baren, bei denen die Steigerungsrate der Grundlohn-summe bis zur Obergrenze von 0,81 Prozent im Westenund 2,09 Prozent im Osten ausgeschöpft wird.Wir öffnen noch einen weiteren Korridor: Wir gebenden Krankenhäusern, die sich bisher noch nicht entschei-den konnten, dieses Entgeltsystem einzuführen, die Mög-lichkeit, bis zum Jahresende ihre Entscheidung zu über-denken, zu korrigieren und dieses neue System zuunterstützen. Auch sie werden also belohnt werden.
Es sind inzwischen – auch dies soll einmal Erwähnungfinden; schließlich ist das wichtig – 470 von rund 2 000Krankenhäusern, die sich für dieses System entschiedenhaben.Eine weitere Ausnahme sind Arbeitszeitmodelle, die– genauso wie Rationalisierungsmaßnahmen – von unsunterstützt werden. Nach geltendem Recht können auchKrankenhäuser überbudgetäre Zahlungen von den Kran-kenkassen erhalten, wenn sie nicht in der Lage sind, BAT-Steigerungen aus ihrem Budget zu finanzieren.Das alles zeigt, dass wir uns um diesen Bereich küm-mern. Wir stärken diejenigen, die den Reformweg mitge-hen, und halten es daher für völlig kontraindiziert, wenndie Deutsche Krankenhausgesellschaft mit Plakaten undin großen Anzeigen gegen unsere Politik vorgeht. Dasdafür verwendete Geld hätte sie besser gespart.
Die Höchstpreise für Zahnersatzwerden um 5 Prozentgesenkt. Dadurch sparen die Krankenkassen Ausgaben inHöhe von 100 Millionen Euro. Wir haben uns des Weite-ren auch an ein schwieriges Thema herangewagt: DasSterbegeld wird halbiert. Es ist nicht einfach, diesen Wegzu gehen. Aber ich darf Sie daran erinnern, dass viele dasSterbegeld für eine so genannte versicherungsfremdeLeistung halten. Wir erhalten immerhin noch die Hälftedieser Leistung.Den Konflikt mit der privaten Krankenversicherungum die Versicherungspflichtgrenze entschärfen wir. Wirbelassen es bei der jetzigen Gesetzesmechanik, wonachdie Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichenKrankenversicherung 75 Prozent der Beitragsbemes-sungsgrenze der Rentenversicherung beträgt. Nach derErhöhung der Beitragsbemessungsgrenze auf 5 100 Euroliegt die Versicherungspflichtgrenze demnach bei 3 825Euro. Sie gilt nicht mehr nur für Berufsanfänger, sondernfür alle Mitglieder der Krankenkassen. Wir erreichen mitder Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze, dass auchjunge, gut verdienende Arbeitnehmer mehr und länger alsbisher ihren solidarischen Beitrag leisten. Diesen brau-chen wir, damit wir den Rücken freihaben und ohne Kos-ten- und Zeitdruck über eine Strukturreform – diese be-reiten wir vor – diskutieren können. Wir wollen eineReformpolitik machen, die die Qualität weiter stärkt, dieTransparenz im Gesundheitswesen herstellt und die eineoptimale Versorgung für jeden Mann und für jede Fraumöglich macht.
Unterstützen Sie uns auf diesem Weg;
denn dieser ist gut für die Patientinnen und Patienten inDeutschland.
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Storm von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Heren! Frau Kolle-gin Kühn-Mengel, das, was Sie uns gerade erzählthaben, war in Anbetracht der Uhrzeit – es ist erst15:23 Uhr – eine vorgezogene Märchenstunde.
Ihre Rede zeugte davon, dass Sie unter einem er-schreckenden Realitätsverlust leiden. Alles erfolgt nachdem Motto: Schuld sind die anderen.Es ist ja eigentlich ein Unding, dass wir heute über-haupt eine solche Debatte führen müssen. Frau MinisterinSchmidt, Sie haben doch im Sommer gesagt: Bei derRente bekommen wir das in den Griff; es wird keine Bei-tragserhöhungen geben! Sie haben auch noch Anfang Au-gust in einer Debatte erklärt, zwar drohten bei den priva-ten Krankenversicherern steigende Beiträge, aber bei denHelga Kühn-Mengel
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Andreas Stormgesetzlichen Krankenkassen habe man alles im Griff. Diegesetzlichen Krankenkassen wiesen in diesem Jahr keinDefizit auf, niemand brauche sich Sorgen über möglicheBeitragssteigerungen zu machen.Nun, wenige Wochen nach der Bundestagswahl, stehenSie vor einem Scherbenhaufen. Die Behauptung, zwi-schen Anfang August und Anfang November sei die Welt-konjunktur zusammengebrochen und deshalb müsse derBeitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherungangehoben werden, ist eine Lachnummer. Sie dient nurdazu, die Menschen an der Nase herumzuführen.
Nun versucht Rot-Grün in heilloser Panik einen massi-ven Beitragsanstieg durch ein Vorschaltgesetz, das einverkapptes Notstandsgesetz ist, in letzter Minute zu stop-pen.
Sie sind als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelan-det.
Was ist denn aus den großen Sprüchen geworden? Wo istdenn die Beitragsstabilität? Der Anstieg auf 19,5 Prozentist massiv. Was ist mit der Generationengerechtigkeit?Was ist mit der Nachhaltigkeit?Sie erklären nicht nur, dass die Beiträge massiv stei-gen, sondern gleichzeitig erhöhen Sie die Beitragsbe-messungsgrenze von 4 500 auf 5 100 Euro. Das ist soziemlich die verrückteste Maßnahme, die man im Hin-blick auf Generationengerechtigkeit machen kann;
denn die Konsequenz einer solchen Politik
ist doch, dass Sie zwar im nächsten Jahr ein bisschen mehreinnehmen, in 20 Jahren aber, wenn die Probleme bei derAlterssicherung kaum noch in den Griff zu bekommensind, höhere Ansprüche bestehen.Ein ganz entscheidender Punkt: Sie zwingen ausge-rechnet die Besserverdienenden – das sind oft die Fachar-beiter, die Leistungsträger unserer Gesellschaft –, einenhöheren Teil ihres Einkommens für die gesetzliche Renteaufzuwenden.
Damit versetzen Sie der ohnehin kaum angelaufenenRiester-Rente den Todesstoß. Es macht keinen Sinn, einesolche Politik zu betreiben.
Meine Damen und Herren, das Ganze wird mit demVorhaben, die Rücklagen der Rentenversicherung wei-ter abzuschmelzen, auf die Spitze getrieben. Es war be-reits ein Unding, dass Sie im vergangenen Jahr dieSchwankungsreserve auf 80 Prozent reduziert haben;denn diesen Notgroschen brauchen die Rentenversiche-rer, damit sie auch dann, wenn die Einnahmen nicht recht-zeitig eingehen, in der Lage sind, die Renten aus eigenerKraft zu finanzieren.Die 80-Prozent-Marke werden wir in diesem Jahr weitunterschreiten. Es ist sogar fraglich, ob noch 60 Prozenterreicht werden. Sie aber reduzieren weiter und sagen:Die Rentenversicherer brauchen nur noch 50 Prozent ei-ner Monatsausgabe vorzuhalten. Damit ist völlig klar,dass die Rentenversicherer spätestens in den Spätsom-mermonaten des Jahres 2003 die Renten nicht mehr auseigener Kraft bezahlen können.Das bedeutet nicht, dass deswegen die Renten nicht ge-zahlt werden, es bedeutet aber, dass die Rentenversiche-rer dann Geld vom Finanzminister brauchen. Wenn derFinanzminister seine Finger in den Kassen der Renten-versicherung hat, ist eines vorprogrammiert: Rente nachKassenlage. Deswegen ist dieses Vorhaben falsch undschändlich.
Sie behaupten nun, die Probleme der Rentenfinanzie-rung mit einem Beitragssatz in Höhe von 19,5 Prozent imGriff zu haben. Auch das ist ein Ammenmärchen. Der
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Chef der Rentenversicherungsträger in Frankfurt amMain, Professor Ruland, hat gestern in einem Interviewdeutlich gemacht: Die Rentenfinanzen sind auch bei ei-nem Beitragssatz von 19,5 Prozent, trotz all dieser Maß-nahmen, „auf Kante genäht“. Das bedeutet: Auch die19,5 Prozent werden wohl nicht ausreichen, um im nächs-ten Jahr eine ordentliche Finanzierung der Rente sicher-zustellen. Damit sind auch die Beschwichtigungsversu-che von Ihnen, Frau Schmidt, auf Sand gebaut. Sie habengestern wieder in Interviews erklärt: Der Beitragssatzwird vielleicht schon 2004 auf 19,4 Prozent sinken und2005 würde er weiter sinken. Wer sich dermaßen ver-schätzt hat wie Rot-Grün in den letzten 18 Monaten unddann noch behauptet, der Beitragssatz würde im kom-menden Jahr wieder heruntergehen, der legt eine Formvon Dreistigkeit an den Tag, die sich gewaschen hat.
Man braucht kein großer Prophet zu sein,
um vorauszusagen: Im Jahre 2004 werden die Beiträge fürdie gesetzliche Rentenversicherung die 20-Prozent-Marke übersteigen.Nicht nur die finanzielle Situation in der Rentenversi-cherung ist katastrophal. Sie müssen ein totales Scheiternauch in der Gesundheitspolitik konstatieren. Die Kolle-gin Kühn-Mengel hat den Versuch unternommen – nachdem Motto: Schuld sind die anderen –, ein sozusagenehernes Naturgesetz zu formulieren, das besagt: Wir ma-chen alles richtig; nur die Umwelt funktioniert nicht so,wie sie soll. Das geht an den eigentlichen Ursachen derProbleme der Sozialversicherung vorbei. ProfessorSchwartz, der frühere Vorsitzende des Sachverständigen-rates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen,hat Ihnen dieser Tage ins Stammbuch geschrieben, dasswir es nicht in erster Linie mit einem Ausgabenproblem,mit einem Kostenproblem zu tun haben, vielmehr handeltes sich um ein selbst gemachtes Einnahmenproblem.
Die Beitragsbasis der sozialen Sicherungssystemeschmilzt dahin wie Eis in der Sonne. Das hat vor allenDingen drei Gründe. Der erste Grund ist die verfehlteWirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Über 4 MillionenArbeitslose auch in diesem Monat – heute kamen die neu-esten Zahlen; es gibt wiederum eine Verschlechterung –,über 40 000 Firmenpleiten, eine herabgesetzte Einschät-zung der Wachstumsentwicklung – das alles entzieht denSozialversicherungsträgern Jahr für Jahr Milliardensum-men. Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben es bereitserrechnet: Allein der Beitragssatzanstieg in der gesetzli-chen Rentenversicherung im kommenden Jahr vernichtetweitere 60 000 Arbeitsplätze. Das ist die Politik von Rot-Grün!
Es gibt aber einen weiteren Punkt, der zeigt, warum Siedie Probleme selbst mit verursachen: Ich meine die Ver-schiebebahnhöfe zulasten der Sozialkassen.
Sie machen ein Paket für das Gesundheitswesen, über dasSie sagen: Damit werden die Kassen um etwa 3,5 Milli-arden Euro entlastet. Gleichzeitig wird die Sozialversi-cherung durch Ihre Maßnahmen im nächsten Jahr ummehr als 2Milliarden Euro geschröpft. Diese 2MilliardenEuro ergeben sich insbesondere als Konsequenz aus derGesetzgebung im Zusammenhang mit den Hartz-Vor-schlägen. Der Bund zahlt dann weniger Beiträge für dieEmpfänger von Arbeitslosenhilfe; sie sehen Maßnahmenbei der Entgeltumwandlung vor, die den SozialkassenGeld entziehen. Das verrückteste Beispiel finden wirbeim Zahnersatz. Da werden die Leistungserbringer ge-zwungen, ihre Kosten zu reduzieren; gleichzeitig wird dieMehrwertsteuer in diesem Bereich vom reduzierten aufden vollen Satz erhöht. Absurder kann man eine solchePolitik nicht machen: Mit der einen Hand wird genom-men, mit der anderen Hand wird zugunsten des Finanz-ministers gegeben.
Auch an anderer Stelle ist dieses Sparpaket in weitenTeilen der pure Irrsinn. Ärzten und Krankenhäusernverordnen Sie eine Nullrunde. Aber Sie übersehen dabei,dass sich die laufenden Kosten nicht an staatlich verord-nete Nullrunden halten. Krankenhäuser und Arztpraxenwerden Personal entlassen müssen; notwendige Operatio-nen und Behandlungen werden verschoben werden müs-sen. In vielen Fällen wird wahrscheinlich sogar beideseintreten. Das bedeutet: Rot-Grün geht nicht nur zulastender Versicherten, sondern auch und vor allen Dingen zu-lasten der Patienten. Darüber hinaus geht Rot-Grün zulas-ten der Beschäftigten im Gesundheitswesen.Der nächste Punkt bezieht sich auf die dirigistischenEingriffe in die Arzneimittelpreisbildung. Sie sind einMusterbeispiel dafür, was ein Kanzlerwort heute nochwert ist.Noch vor einem Jahr hatte die Bundesregierung die Zu-sage gegeben, bis Ende 2003 auf gesetzliche Preisregu-lierungen zu verzichten. Man muss sich fragen, was da-von übrig geblieben ist.
All diese Maßnahmen werden nicht nur die Versorgungder Patienten verschlechtern, sondern sie werden auchArbeitsplätze im Gesundheitswesen vernichten. Alleindie Apotheken sind durch die Maßnahmen aus diesemSparpaket in letzter Konsequenz in einer Größenordnungvon 1 Milliarde Euro betroffen. Damit sind bis zu20 000 Stellen bei den Apotheken gefährdet. Abgesehenvom Verlust an Arbeitsplätzen, den dies hervorruft, abge-sehen von den Problemen, die bei der Versorgung der Be-völkerung mit Apotheken auftreten werden, trägt dies vorallen Dingen auch zu weiteren Ausfällen an SozialbeiträgenAndreas Storm
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Andreas Stormund Einkommensteuer bei. Durch diese Politik ist die Ab-wärtsspirale vorprogrammiert.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt einen weite-ren Punkt in diesem Paket, den ich ansprechen möchte.Die Verwaltungskosten sollen im nächsten Jahr nicht er-höht werden. Auf den ersten Blick erscheint das als einevernünftige Maßnahme. Aber die Frage ist doch: Warumsind die Verwaltungskosten überdurchschnittlich gestie-gen? Der Grund dafür liegt ganz eindeutig darin, dass Rot-Grün den Kassen immer wieder neue Verwaltungsaufga-ben übertragen hat. Ich nenne nur wenige Stichworte:Disease-Management-Programme sollen eingeführt wer-den; in den Krankenhäusern erfolgt eine Umstellung desAbrechnungssystems auf Fallpauschalen; nehmen Sie dieAut-idem-Regelung. All dies hat dazu geführt, dass dieVerwaltungskosten in diesem Jahr überdurchschnittlichansteigen mussten. Man braucht sich nicht zu wundern,dass in den letzten vier Jahren Rot-Grün die Verwaltungs-kosten insgesamt um 15 Prozent gestiegen sind. Dannaber zu erklären, die Verwaltungskosten würden pauschaleingefroren, ist mit Sicherheit ein untaugliches Instru-ment.
Dass Sie, meine Damen und Herren, an den Erfolg Ih-rer Einsparmaßnahmen selbst nicht glauben, wird darandeutlich, dass Sie den Kassen vorschreiben wollen, siedürften die Beiträge nicht erhöhen. Wenn Sie wirklichglaubten, die 3,5 Milliarden Euro kämen rein, dannbräuchten Sie eine solche Maßnahme nicht in das Gesetzzu schreiben.
Es ist klar: Die Verschiebebahnhöfe und die massivenProbleme, die die Kassen haben, werden dazu führen,dass die Beiträge auf breiter Front steigen. Für dieses Jahrzeichnet sich ein Defizit ab, das wohl mindestens in einerGrößenordnung von 3 Milliarden Euro liegen wird. Des-wegen ist absehbar, dass der durchschnittliche Beitrags-satz in der gesetzlichen Krankenversicherung im nächstenJahr eher bei 14,5 Prozent denn bei 14,3 Prozent liegenwird.Um die eigene Unfähigkeit zu vertuschen, gehen Sienun hin und setzen Kommissionen ein. Das ist für dieRentenreform des vergangenen Jahres natürlich eine Be-erdigung erster Klasse, da man gesagt hat, man habe imletzten Jahr eine Jahrhundertreform gemacht. Man fragtsich, ob die nächste rot-grüne Rentenreform vielleichteine Jahrtausendreform werden soll! Die ganze Zeit vorder Wahl haben Sie behauptet, Sie hätten das Rentenpro-blem im Griff. Jetzt kommt eine Kommission und allesbeginnt wieder von vorne. Was soll das bedeuten? Im Ge-sundheitswesen ist es das Gleiche.Im Grunde können Sie sich die Arbeit dieser Kommis-sionen sparen, wenn Sie dieses Vorschaltgesetz durch denDeutschen Bundestag peitschen sollten. Denn es ver-schärft die Finanzprobleme sowohl der Rentenversiche-rung als auch der Krankenversicherung, anstatt sie zu entlas-ten. Mit einer solchen verkappten Notstandsgesetzgebungfahren Sie die Sozialversicherung vollends gegen dieWand. Deshalb, meine Damen und Herren: Kehren Sieum! Nehmen Sie diesen Gesetzentwurf zurück! Sonstwerden wir im nächsten Jahr über einen weiteren saftigenAnstieg der Sozialbeiträge und über das Ende der Sozial-versicherung in der Form, wie wir sie seit Jahrzehntenkennen, diskutieren müssen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Das tue ich immer. – Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Herr Kollege Storm, ich kann Ihnen versi-chern: Wir fahren die Sozialversicherungssysteme nichtgegen die Wand. Die aktuelle Gesetzgebung dient dazu,das zu verhindern.Was die Rentenversicherung angeht, so werden die ge-troffenen Maßnahmen im kommenden Jahr die Finanzie-rung der Renten sicherstellen und einen Beitragsanstiegauf 19,9 Prozent verhindern, nicht mehr und nicht weni-ger.Wenn Sie dann von der Rente nach Kassenlage spre-chen, kann ich nur sagen: Selbstverständlich kommt dieRente aus einer Kasse. Die Frage ist doch nur, wie die Zu-und Abflüsse in diese und aus dieser geregelt werden. Ge-nau darüber diskutieren wir heute.Sie kritisieren hier, die Schwankungsreserve werde zustark abgesenkt, wodurch die Renten in Gefahr seien.Deswegen kann ich Ihnen nur empfehlen: TelefonierenSie doch einmal mit Norbert Blüm! Unter seiner Regent-schaft lag die Schwankungsreserve schon mal bei 0,5. Da-mals wurden die Renten auch gezahlt.
Ich will nicht verhehlen, dass die getroffenen Maßnah-men nicht direkt dem Handbuch grüner Reformtugendenentstammen.
Wir wissen nämlich sehr wohl, dass steigende Beiträgeeine Belastung des Faktors Arbeit bedeuten,
unter der insbesondere Klein- und Mittelbetriebe zu lei-den haben. Wir wissen auch, dass steigende Beiträge inder Rentenversicherung eine einseitige Belastung der jün-geren Generation bedeutet. Deswegen sagen wir Grünen,dass das auf Dauer nicht so bleiben kann.
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Meine Damen und Herren von der Opposition, dieHäme ist trotzdem fehl am Platz; denn es gibt eine Ver-ständigung zwischen Rot und Grün, dass wir Ende desJahres eine weitere Rentenreform einleiten werden.
Den Weg dazu wird in der Tat eine Kommission ebnen.Wir werden sehen, ob Sie dann immer noch lachen; denndie Arbeit dieser Kommission wird sich am Leitwert derGenerationengerechtigkeit und am Ziel, die Beiträge zusenken, orientieren.
Sie wird ihre Arbeit im Herbst beenden; wir haben einenambitionierten Zeitplan.
Dann ist das Parlament am Zug. Liebe Kolleginnen undKollegen von der Opposition, dann werden wir mal sehen,wer hier die Kraft zu Reformen aufbringt.
Die CDU/CSU will immer alles gleichzeitig. Die Un-logik ihrer Argumente kann man besonders gut anhand dergetroffenen Maßnahmen in der Gesundheitsversorgung,beim Sparpaket Gesundheit, erkennen. Erst geht die Sozial-ministerin Bayerns hin und sagt: Wunderschön, liebe Kas-sen, wenn ihr die Beiträge erhöhen wollt, kommt zu mir, ichgenehmige sie sofort. Sie lädt sie also geradezu dazu ein.Dann stellt sich der Kollege hier hin und sagt: Oh Gott, esgibt Beitragserhöhungen; das ist völlig unakzeptabel.
Dies hält er uns dann noch vor.
Ich frage Sie, Herr Kollege Zöller, ob das nicht ein Wi-derspruch in Ihrer Logik ist und wie Sie den erklären.
Im Übrigen habe ich heute Morgen Herrn Seehofer imRadio gehört.
Er hat gesagt: Was Rot-Grün da macht, gefährdet die Ver-sorgung. Ich sage Ihnen: Wenn die Beiträge erhöht wer-den, dann nur, damit die Versorgung nicht gefährdet wird.So wird ein Schuh daraus.
Sie werden sich entscheiden müssen, ob Sie nun fürBeitragsstabilität oder ob Sie ein Sprachrohr für die Lob-byisten sind.
Man kann nicht gleichzeitig die Begrenztheit der Mittelanerkennen und Everybodys Darling sein wollen; dasgeht nicht. Ihre Rede vom Aufschwung betet keinen Auf-schwung herbei. Was für den Arbeitsmarkt getan wird, tunwir.
Die Arbeitsteilung heißt zurzeit: Die Opposition jammertund die Regierung handelt.
Zum Gesundheitswesen gibt es klare Verabredungenim Koalitionsvertrag; die werden umgesetzt.
Jetzt ergreifen wir Notmaßnahmen, um kurzfristige Bei-tragssteigerungen zu verhindern. Die Liste ist Ihnen be-kannt. Die Kollegin Kühn-Mengel hat die Maßnahmen jagenannt. Darauf will ich verweisen.
Wenn wir Einschränkungen für die Pharmaindustrie,den Großhandel und die Apotheken vorsehen, dann ist zuberücksichtigen, dass es im letzten Jahr eine Steigerungder Arzneimittelausgaben um 30 Prozent gab, sodassaufgrund dieser hohen Umsatzsteigerung Einbußen ver-kraftbar sein müssen, und dass es eine Steigerung der Arz-neimittelausgaben pro Mitglied um 15 Prozent gab, wasmedizinisch wohl kaum zu begründen ist.Im Übrigen will ich auf einen Punkt hinweisen: Wennetwa ein Demenzmittel, das auf dem deutschen Marktzunächst für 66,48 Euro verkauft wird, nach der EU-Zu-lassung und einer Namensänderung ohne Änderung derWirkstoffzusammensetzung für 109,64 Euro verkauftwird, dann bezweifle ich, dass preisliche Regulierungenden Forschungsstandort Deutschland gefährden.
Vielleicht sollten wir einmal über die Überlegungenreden, die wir nicht realisiert haben. Wir erlegen denZahntechnikern nicht so viel auf, wie ursprünglich ge-plant.
Auch haben wir darauf verzichtet, den Krankenkassenlängere Zahlungsfristen einzuräumen, weil wir wohl wis-sen, wie sehr gerade Menschen im handwerklichen Be-reich auf pünktliche Zahlungen angewiesen sind.Es wird auch bei den Verwaltungskosten der Kran-kenkassen eine Nullrunde geben. Mich interessiert, ob dieCDU-Länder bei der Abstimmung im Bundesrat dagegensein werden und was Sie sich als Begründung einfallenBirgitt Bender
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Birgitt Benderlassen werden. Ich bin wirklich neugierig, ob Sie die Ver-antwortung übernehmen werden, wenn Sie das verhin-dern.Auch bei der Nullrunde für Ärzte und Zahnärzte den-ken wir, dass sie im Gesamtpaket verkraftbar ist. Bei denKrankenhäusern ist es uns besonders wichtig, dass geradeeingeleitete und bevorstehende Strukturreformen wie dieEinführung der Fallpauschalen und der Chronikerpro-gramme nicht gefährdet werden. Das ist natürlich aucheine Frage der Motivation der Beschäftigten in den Kran-kenhäusern. Deswegen haben wir hier eine sehr weiteÖffnungsklausel vorgesehen, von der wir glauben, dasssie berechtigt ist.Auf der anderen Seite machen wir starke Einschrän-kungen beim Sterbegeld, das wir auf die Hälfte reduzie-ren. Ich weise darauf hin, dass das eine Leistung ist, dievon jüngeren Versicherten mitbezahlt wird, obwohl siedarauf ohnehin keinen Anspruch mehr haben. Angesichtsall dessen ist es durchaus angemessen, dass die Versiche-rungspflichtgrenze moderat angehoben wird. Ich erinneredaran, dass im letzten Jahr netto 210 000 Versicherte in dieprivate Krankenversicherung abgewandert sind.
Das sind meistens die Jungen und Gesunden, die so ge-nannten guten Risiken.
Von den Besserverdienenden für die gesetzliche Kran-kenversicherung einen Solidarbeitrag einzufordern istaußerordentlich berechtigt.Kurz und gut: Was wir insgesamt tun, ist kein Ersatz fürReformen. Das wird es nicht sein. Es ist eine Art Winter-festmachung
für ein Haus, das, so verspreche ich Ihnen, im Frühjahrgrundlegend umgebaut wird.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Dieter Thomae von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Rot-Grün hat vier Jahre regiert. Die erste entschei-dende Handlung war, ein Notprogramm im Gesundheits-wesen aufzulegen. Das war hoch kreativ. Man musssagen: Was jetzt auf dem Tisch liegt, ist ein Rationie-rungspaket.
Das Erstaunliche ist: Die Einnahmenseite wird massivzurückgefahren. Die Kosten für die Arbeitslosenversiche-rung schätzt man auf 700 Millionen Euro. Experten spre-chen aber schon von 900 Millionen Euro. Das Brücken-geld, das eingeführt wird, vermindert ebenfalls massiv dieMöglichkeiten, eine vernünftige finanzielle Grundlage zubekommen. Hier hat die Gesundheitsministerin in der po-litischen Auseinandersetzung massiv verloren,
aber zulasten der Patienten. Das ist das Problem.
Ich muss sagen: Die Krankenkassen werden in Zukunftnicht die Beiträge erhöhen, sondern sie werden das Leis-tungspaket einschränken. Sie werden mit den Leistungs-erbringern schlechtere Vereinbarungen zulasten der Pati-enten treffen. So läuft das ab.
Wenn Sie großzügig über Zahlungsziele sprechen,frage ich Sie: Ist Ihnen das Verhalten der Krankenkassenin der Praxis bekannt? Wissen Sie, wie lange die Zahlun-gen der Krankenkassen an die Krankenhäuser ausstehen?Wie läuft das denn? Wenn ein Patient abgerechnet wird,kommen in der Regel viele Nachfragen. Es dauert dochjetzt schon bis zu einem Jahr, bis die Rechnungen derKrankenhäuser bezahlt werden.
Sie behaupten, die Nullrunde in den Krankenhäusernsei nicht so gravierend, und bieten Ausstiegsmöglichkei-ten. Schauen Sie sich doch einmal an, wie es vor Ort aus-sieht! Vor Ort werden sich die Krankenkassen anders ver-halten; das gilt auch für den ambulanten ärztlichenBereich. Sie meinen, für die niedergelassenen Ärztebringe es keine finanziellen Probleme, eine Nullrunde zuakzeptieren. Aber allein für Brandenburg, wo eigentlicheine Steigerung von etwas mehr als 2 Prozent erfolgensoll, bedeutet eine Nullrunde für die ambulante medizini-sche Versorgung einen Rückgang in Höhe von 12 Mil-lionen Euro.
– Doch, das ist so. Schauen Sie sich das genau an!Brandenburg hat schon genug Probleme bei der ambu-lanten Versorgung. Viele Praxen können nicht mehr be-setzt werden. Die Verantwortlichen in Brandenburg hattengeglaubt, sie könnten Anreizsysteme schaffen, um diefreiberufliche ambulante ärztliche Versorgung zu stärken.Aber das geschieht jetzt nicht. Sie wollen bekanntlich diePolikliniken, ich aber halte das für den falschen Weg dermedizinischen Versorgung.
Krankenhäuser werden Wartezeiten in Kauf nehmenmüssen. Patienten werden sich in der ambulanten Versor-gung ebenfalls verstärkt auf Wartezeiten einstellen müs-sen. Vonseiten der Zahnärzte und vor allem der Zahntech-niker wurde schon mehrmals festgestellt, wie schizophrenIhre Lösung ist.
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Sie gehen davon aus, dass es vielleicht teilweise po-pulär wäre, auch im Arzneimittelbereich zuzuschlagen.Ich versichere Ihnen aber, dass auch das zulasten der Pa-tienten und der Arbeitsplätze in der BundesrepublikDeutschland gehen würde.Gestern hat der Vorstandsvorsitzende einer großendeutschen Pharmafirma deutlich zum Ausdruck gebracht,dass, wenn dieses Gesetz auf den Weg gebracht wird, dieForschung die Bundesrepublik Deutschland verlassenwird. Forschung im Pharmabereich wird in Deutschlandso gut wie nicht mehr stattfinden. Das bedeutet, dass hochinnovative Arbeitsplätze vernichtet werden. Aber dasscheint Sie nicht zu interessieren.
Sie wollen nur eines: Sie wollen alles gleichmachen.Sie wollen den Patienten in Deutschland zwar verspre-chen, dass es bei der Selbstbeteiligung bleibt, aber es isteine 100-prozentige Selbstbeteiligung, die der Patient inKauf nehmen muss, da er die Leistungen sonst nicht mehrbekommt.
Wenn er diese Leistungen bekommen will, muss er eineprivate Krankenversicherung abschließen.
Das ist ein Betrug am deutschen Volke und an den deut-schen Patienten! Sie werden das bald feststellen. Im Früh-jahr werden die Patienten erkennen, dass Ihre Politik rei-ner Betrug ist.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Lotz von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer-ter Herr Kollege Thomae, mit einem haben Sie Recht:Rot-Grün hat vier Jahre regiert und wird auch weiterregieren.
Sie haben aber 16 Jahre mit regiert und was war dasErgebnis?
Ein Berg von Schulden für unser Land und ein Berg vonZuzahlungen für die Patientinnen und Patienten. Wir abergehen einen anderen Weg.
Herr Storm hat 16 Minuten geredet, kritisiert undgemäkelt, aber keine Sekunde lang auch nur eine einzigeAlternative genannt. Das aber ist zu wenig, Herr Storm.
Deshalb sind Sie 1998 abgewählt und 2002 nicht wieder-gewählt worden.
Wenn Sie den Begriff Notstandgesetzgebung in denMund nehmen, lieber Herr Storm, dann empfehle ich Ih-nen, nachzulesen, was dies bedeutet.
Dann stellen Sie vielleicht nicht mehr solche Vergleichean.
Wir, die Koalitionsfraktionen, unternehmen große An-strengungen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Heutehaben wir die Umsetzung des Hartz-Konzeptes auf dieSchiene gesetzt und mit dem Gesetz zur Sicherung derBeitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherungund in der gesetzlichen Rentenversicherung werden wirdieses flankieren und die Lohnnebenkosten stabilisieren.Die Rentenversicherung ist auf der Einnahmenseitenun einmal von der Weltwirtschaft und von der Konjunk-tur betroffen.
Schauen Sie doch einmal in die USA, schauen Sie nachJapan und sehen Sie sich in Europa um!
Deutschland als ein stark exportorientiertes Land ist nuneinmal von der weltwirtschaftlichen Situation abhängig.Deshalb sind auch die Beitragseinnahmen niedriger, alsnoch zur Jahresmitte angenommen werden konnte. VieleUnternehmen haben übertarifliche Lohn- und Gehaltsbe-standteile auf Tariferhöhungen angerechnet. Es gab nuneinmal Entlassungen im Bankenbereich. Der Neue Marktist auch nicht das, was viele sich davon versprochen ha-ben. Die Kirch-Pleite und der Konkurs der Maxhütte seienebenfalls als Beispiele genannt. Es trifft die Menschen,die arbeitslos werden, und die Sozialsysteme, denn Lohn-ersatzleistungen müssen gezahlt werden, aber Beitrags-zahler fehlen.Wenn wir jetzt eine maßvolle Steigerung des Beitragszur Rentenversicherung für Arbeitnehmer und Arbeitge-ber beschließen wollen, dann ist das nun einmal der wirt-schaftlichen Lage geschuldet. Gleichzeitig flankieren wirdamit aber die Anstrengungen des Wirtschafts- und Ar-beitsministers. Wir setzen darauf, dass zukünftig wiedermehr Menschen erwerbstätig sein können. Dann werdenauch wieder mehr Menschen Beiträge für Rentenver-Dr. Dieter Thomae
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Erika Lotzsicherung und Krankenversicherung bezahlen und auchdie Steuereinnahmen werden höher sein.
Das Beitragssicherungsgesetz legt den Beitragssatz auf19,5 Prozent fest. Damit begeben wir uns auf einen soli-den, sicheren Weg
und tun alles, um einen höheren Anstieg zu verhindern. Wirerreichen das mit einer maßvollen Anhebung der Beitrags-bemessungsgrenze von 4 500 Euro auf 5 100 Euro proMonat in den alten Bundesländern sowie von 3 750 Euroauf 4 250 Euro in den neuen Bundesländern. Ich weiß,dass wir damit den Beschäftigten mit einem höheren Ein-kommen Teile ihres Einkommens belasten, welche bisherbeitragsfrei waren. Das löst bei den Betroffenen keinenJubel aus. Wer zahlt schon gerne mehr?
Ich bitte aber zu bedenken, dass die Anhebung der Bei-tragsbemessungsgrenze auch höhere Rentenanwartschaf-ten bedeutet. Man bekommt etwas dafür.
Auf der Grundlage der heutigen Beitragsbemessungs-grenze erwerben diese Arbeitnehmer 1,8 Entgeltpunktepro Jahr, zukünftig werden es 2 Entgeltpunkte sein. Wirsetzen damit auch auf die Solidarität in unserer Gesell-schaft. Solidarität endet nicht bei 4 500 Euro
und es ist richtig, dass stärkere Schultern mehr tragen. Ichbin der Meinung, dass dieser Weg auch konjunkturpoli-tisch richtig ist.
Nun noch ein Wort zur Schwankungsreserve.Wir ver-zichten darauf, die Schwankungsreserve auf 80 Prozenteiner Monatsausgabe aufzufüllen und vermeiden dadurcheinen noch höheren Beitragssatz. Es ist aber immer nocheine ausreichende Schwankungsreserve vorhanden. Auchbei dem niedrigeren Zielkorridor von 50 bis 70 Prozentmuss kein Rentner und keine Rentnerin befürchten, dassdie Rente nicht pünktlich gezahlt wird. Die Rente ist um-lagefinanziert. An den Ansprüchen heutiger und zukünfti-ger Rentner ändert sich dadurch nichts.
Es gibt nun einmal ausreichende Erfahrungen aus der Ver-gangenheit, Herr Storm; das haben Sie vergessen in IhremVortrag zu sagen. Unter dem früheren CDU-Arbeitsminis-ter Blüm ist die vorgesehene Schwankungsreserve häufigunterschritten worden und die Renten wurden trotzdempünktlich gezahlt. Der Bund garantiert die Liquidität derRentenversicherung. Rentnerinnen und Rentner könnenalso sicher sein, dass die Rente pünktlich auf dem Kontoist.
Nun hat Herr Laumann heute Morgen in der Debattezum Arbeitsmarkt die Forderung nach einem Kleine-Jobs-Gesetz erhoben. Dieses Gesetz soll vorsehen, dassbei Einkommen bis 400 Euro keine Sozialversicherungs-pflicht besteht. Für Einkommen zwischen 400 Euro und800 Euro soll es einen verminderten Beitrag geben, der,was immer das heißt, „eingeschliffen“ werden soll.Für das Jahr 2002 erwarten wir Beitragseinnahmen ausArbeitsverhältnissen geringfügig Beschäftigter in Höhevon 3,6 Milliarden Euro. Wenn wir Ihren Vorschlag um-setzten, dann bedeutete das weitere Einnahmeverluste derRentenversicherung und der Krankenversicherungen inMilliardenhöhe.
Das hätte höhere Beiträge, Leistungskürzungen odermehr private Vorsorge zur Folge. Aber das sagen Sienicht; diese Antwort bleiben Sie schuldig.
Was Sie vorschlagen, ist keine Lösung für unser heutigesProblem.Sie geben keine Antwort darauf, woher die Menschendie Mittel für ihre Altersvorsorge nehmen sollen.
Da setzen Sie offensichtlich auf die von Ihnen bekämpfteund von uns durchgesetzte soziale Grundsicherung.In Matthäus 7 Vers 15 heißt es:Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafs-kleidern zu euch kommen, inwendig aber sind siereißende Wölfe.
Ihr Vorschlag bedeutet Schwächung und Entsolidarisie-rung. Er ist ganz einfach populistisch. Ich habe heute we-der von Ihnen, Herr Storm, noch von Ihnen, Herr Thomae,auch nur eine einzige Alternative gehört.
Unser dreiteiliges Paket ist insgesamt eine sozial aus-gewogene Lösung für schwierige Probleme. Mit dem,was wir heute vorlesen – –
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– Ach, du lieber Himmel! Herr Storm, Sie haben dochebenfalls vorgelesen. Tun Sie doch nicht so! – Mit dem,was wir heute vorlegen, verteilen wir die Lasten auf mög-lichst viele Schultern. Uns geht es darum, das Renten-system stabil zu halten und gleichzeitig dafür zu sorgen,dass die verfügbaren Einkommen so hoch wie möglichsind. Wir bedenken auch bei diesem Gesetz, dass dieKaufkraft gestärkt werden muss. Ich denke, die Menschenwerden das verstehen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Zöller von der
CDU/CSU-Fraktion.
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! LiebeKollegen! Zunächst: Ich weiß nicht, in welcher Veranstal-tung ich bin. Auf der Tagesordnung steht: Beratung dervon den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/DieGrünen eingebrachten Gesetzentwürfe. Dennoch wun-dern Sie sich, dass wir nicht über etwas anderes reden. Essind doch Ihre Vorlagen, über die wir hier so bescheuertdiskutieren müssen!
Ich stelle mir schon die Frage, was eine Ministerin ei-gentlich dazu bewegte, kurz vor der Wahl festzustellen,das Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung werdesich gegen Ende des Jahres ausgleichen, und zwar bei sta-bilen Beiträgen. Die warnenden Hinweise der Oppositionwurden als Panikmache hingestellt. Die gleiche Ministe-rin holte unmittelbar nach der Wahl ein so genanntes Not-programm aus der Schublade, das drastische Kürzungender Leistungen für die Patienten und für die Leistungs-erbringer im Gesundheitssystem vorsieht.
Ich frage mich schon: War die Welt eine Woche vor derWahl anders als eine Woche nach der Bundestagswahl?
Wenn dem nicht so war, dann muss ich mir die Frage stel-len: Hatten Sie Wahrnehmungsstörungen? Diese Fragemuss man verneinen. Sie hatten nämlich ein Notprogrammschon vorbereitet; also können Sie keine Wahrnehmungs-störungen gehabt haben. Es bleibt nur der Schluss übrig:Sie haben bewusst Falschinformationen gegeben. Mankönnte auch sagen: Es waren Lügen, die Sie den Leutenvor der Wahl bewusst aufgetischt haben.
Der knappe Wahlsieg ist auf Lügen aufgebaut. Sie wür-den jetzt am liebsten zur Tagesordnung übergehen; aber esgebietet die politische Kultur, dass man dies nicht schwei-gend zur Kenntnis nimmt. Nichts hat Rot-Grün mehr zufürchten als die Wahrheit. Die Art und Weise, wie Rot-Grün mit der Opposition und mit den Verbänden umgeht,kann man nur mit den Worten „Machtarroganz kontraSachargumente“ überschreiben. Wer, wenn es um die Ge-sundheit der Menschen geht, mit der Wahrheit so schlam-pig umgeht, der verspielt sehr viel an Glaubwürdigkeit.
Da stellt sich ein Bundeskanzler hin und spricht vom„Gejammere der Verbände“. Meine sehr geehrten Damenund Herren, es geht hier nicht primär um Verbände, son-dern um Arbeitsplätze. Es geht um Existenzen ganzer Be-triebe. Es geht um Existenzen von ganzen Familien. Diesebeschweren sich nicht, dass die Konjunktur schlecht istund sie Einnahmeverluste zu verzeichnen haben. Nein, siebeschweren sich zu Recht darüber, dass Rot-Grün die Ein-nahmeseite der gesetzlichen Krankenversicherung dra-matisch verschlechtert,
indem sie mit Beitragsgeldern andere Haushaltslöchersubventioniert und den daraus entstehenden Fehlbetragbei Patienten und Leistungserbringern abkassiert.
Deshalb muss man es als schäbig bezeichnen, wenn derBundeskanzler mit der Formulierung „jammernde Ver-bände“ von den berechtigten Sorgen vieler einzelner Be-troffener, ob Krankenschwester, Zahntechniker oder Pati-ent, einfach ablenken will. Wenn Sie schon die Sorgenvon Zahntechnikern, Patientenverbänden und Apothekernnicht ernst nehmen, sollten Sie doch wenigstens die Ar-gumente von Verdi ernst nehmen. Dort spricht man vonder Gefährdung von 36 000 Arbeitsplätzen in den Kran-kenhäusern.Eine besonders widersinnige Regelung ist im Bereichdes Zahnersatzes von Ihnen vorgeschlagen worden.Eichel und Rot-Grün beschließen eine Mehrwertsteuer-erhöhung bei Zahnersatz von 7 auf 16 Prozent.
Auf der einen Seite soll bei zahntechnischen Leistungengespart werden, auf der anderen Seite bürdet man denKassen mit dieser Regelung Mehrbelastungen in Höhevon über 200 Millionen Euro auf. Jetzt kommt die idealeLösung von Rot-Grün. Nachdem man den Kassen eineMehrbelastung in Höhe von 200Millionen Euro durch dieMehrwertsteuererhöhung aufgebürdet hat, macht man ei-nen Vorschlag zur Gegenfinanzierung: Die Vergütung fürzahntechnische Leistungen wird zunächst um 10 bzw.– das ist jetzt die neueste Version – um 5 Prozent gekürzt,obwohl bei den Ausgaben für Zahnersatz und besondersfür zahntechnische Leistungen in den letzten Jahren einbeispielhafter Beitrag zur Stabilisierung der Ausgaben ge-leistet worden ist. Warum ausgerechnet dieser Sektor einErika Lotz
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Wolfgang ZöllerSonderopfer bringen soll, müssen Sie einmal jemandemerklären. Ich finde bestimmt keinen, der das versteht.
Dieser Eingriff ist völlig überzogen und trifft mit denZahntechnikern eine besonders schwache Gruppierungim Gesundheitswesen. Die ursächlich auf Eichel zurück-gehenden Mehrausgaben der gesetzlichen Krankenversi-cherungen durch eine Preisabsenkung bei Zahnersatz aufdem Rücken der zahntechnischen Betriebe und deren Mit-arbeiter auszugleichen halte ich schlicht und ergreifendfür eine Unverschämtheit, die fachlich durch nichts zu be-gründen ist. Im Übrigen ist vor dem Hintergrund der EU-Umsatzsteuerrichtlinie, nach der Lieferungen von Zahn-ersatz nicht der Umsatzbesteuerung unterliegen sollen,diese Maßnahme mehr als fragwürdig.
Noch ein Wort zu den Grünen. Sie haben sich ja oft alsPartei der Nachhaltigkeit ausgegeben.
Das einzig Nachhaltige, das ich momentan bei Grün er-kenne, ist, dass sie täglich ihre Meinung ändern.
Ihre Fraktionsvorsitzende Frau Sager
lehnt beispielsweise den geplanten Beitragsstopp in dergesetzlichen Krankenversicherung ab, da es das falscheSignal sei. Gleichzeitig lehnt sie die Erhöhung der Ren-tenbeiträge von 19,1 auf 19,5 Prozent ab. Falls es aberdoch dazu komme, dürfe nicht gleichzeitig die Beitrags-bemessungsgrenze angehoben werden, denn es dürfekeine Zweifachbelastung geben und die Lasten dürftennicht auf künftige Generationen verschoben werden. DieBegründungen waren alle richtig. Nur: Keine einzigewurde umgesetzt.
Getreu dem Motto eines Kabarettisten, der in dieserWoche im Fernsehen gesagt hat: Die Grünen haben denRoten die Zähne gezeigt. Was kam dabei heraus? – Nichts,denn die Roten haben den Grünen ihr Gebiss nichtzurückgegeben.
Daran ist leider sehr viel Wahres.Jetzt frage ich mich natürlich: Warum bringt Rot-Grünmomentan so viel Unruhe in unser Gesundheitswesen? Inder gestrigen Ausschusssitzung wurden die Maßnahmen,die Sie heute hier einbringen, erstens mit Defizit undzweitens mit Beitragssatzstabilität in der gesetzlichenKrankenversicherung begründet. Wer allerdings die Zah-len richtig registriert hat, muss zu dem Ergebnis kommen,
dass die Bürger schon wieder hinters Licht geführt wer-den. Die Staatssekretärin spricht von einem Defizit von1 bis 1,5 Milliarden Euro.
Das heißt, hätte Rot-Grün nicht über 1 Milliarde Euro inandere Haushalte verschoben und hätte nicht die Ministe-rin durch ihre unsinnige und unzeitige Ankündigung, dieVersicherungspflichtgrenze anzuheben, eine weitere Ein-nahmeverschiebung von 1 Milliarde Euro zu verantwor-ten, hätten die gesetzlichen Krankenversicherungen indiesem Jahr einen Überschuss. Ausschließlich rot-grüneFehler sind also die Ursache des Defizits, das die Kran-kenkassen diesmal zu verzeichnen haben.
– Für Sie mag das Blödsinn sein; aber das sind einfacheRechnungen, die man nachvollziehen kann.Aber es kommt noch dicker. Nach Ihrem Vorschlag sol-len nämlich nicht nur 1 Milliarde Euro, sondern 3 bis3,5Milliarden Euro abkassiert werden, da durch die zu er-wartende Umsetzung der Hartz-Vorschläge noch weitereQuersubventionen erforderlich seien.Das ist der eigentliche Skandal bei Ihren Vorschlägen:Kranke und Leistungserbringer finanzieren die Verschie-bebahnhöfe von Rot-Grün.
Die derzeitigen GKV-Probleme sind das Ergebnisfalscher rot-grüner Politik. Mit diesem Notprogramm ver-stärken Sie die Probleme, statt sie zu lösen. Deshalb kannihm kein vernünftiger Mensch zustimmen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Horst Schmidbauer von
der SPD-Fraktion.
Wir sind auf der Suche.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchtees noch einmal auf den Punkt bringen, um es auch nachaußen deutlich zu machen: Wir langen den Kranken auchin dieser Situation nicht in die Tasche.
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Wir führen keine Strafabgabe für Patienten ein. Wir wer-den das Solidarsystem sichern. Wir fordern von den Pati-entinnen und Patienten auch nichts zurück, zum Beispielim Arzneimittelbereich, sondern wir belassen es bei derFreistellung, sodass heute nur jede zweite Patientin bzw.nur jeder zweite Patient in der Apotheke zuzahlen muss.Es wird nichts zurückgenommen.
Wir fordern aber umgekehrt von den Anbietern einenSolidarbeitrag, der ausgewogen ist und niemanden über-fordert. Das müsste mir erst jemand nachweisen, dass eineArztpraxis mit 158 Euro Belastung im Monat überfordertwäre und daraus vielleicht sogar Konsequenzen in Formvon Personalentlassungen ziehen müsste.Trotz allem schaffen wir ein Sparvolumen von bis zu3Milliarden Euro. Das belegt einen zentralen Punkt, näm-lich dass Gesundheitspolitik wie Rudern gegen den Stromist: Wenn man aufhört, treibt man zurück. Im Gegensatzzu Ihnen haben wir nie aufgehört, sondern uns immerkräftig ins Zeug gelegt. Das hat Früchte getragen. Wir rea-lisieren ein Einsparvolumen von bis zu 3 Milliarden Euro,ohne die Patientinnen und Patienten zu belasten.Wenn man einmal in die Gesundheitsgeschichte zurück-geht und sich die Reformen blümscher und seehoferscherNatur ansieht, dann fallen einem zwei Aspekte auf:
erstens die Kurzatmigkeit bei der Nachhaltigkeit undzweitens die Tatsache, dass die Patienten bei Ihren Refor-men immer den Kürzeren gezogen haben. Wenn Sie sichalso hier hinstellen und von Qualität oder gar der Sicher-stellung der Qualität reden, ist das sehr anmaßend, um daseinmal vorsichtig auszudrücken,
ganz zu schweigen davon, dass Sie in Bezug auf Alter-nativkonzepte eine Fehlanzeige zu verbuchen haben.Ich habe das entsprechende Seehofer-Zitat aus der De-batte zum Beitragsentlastungsgesetz im Jahr 1996 he-rausgesucht:Wir werden morgen das Beitragsentlastungsgesetzverabschieden und damit erstmals seit langer Zeit inder gesetzlichen Krankenversicherung ab 1. Januar– gemeint ist der 1. Januar 1997 –die Beiträge um 0,4 Beitragspunkte senken. Das ent-lastet die Beitragszahler um 7,5 Milliarden DM.
Aber schon 1998 mussten Sie den Offenbarungseidleisten; denn trotz des so genannten Überschusses, den derKollege Zöller angeführt hat, waren die Beitragssätze inder Amtszeit von Herrn Seehofer seit 1991
von 12,3 auf 13,6 Prozent gestiegen. Dass Sie das Er-folgsrezept in der Tasche haben, mögen Sie erzählen,wenn Sie lustig sind. Die Konsequenz war klar: Sie wur-den abgewählt,
weil sich gezeigt hat, dass Ihre Reformen kurzatmig wa-ren und letztendlich immer mit einem Kahlschlag in Rich-tung Patienten verbunden waren. Sie haben Ihr Ziel ver-fehlt.
Woran liegt es, dass Sie Ihr Ziel verfehlt haben? VieleExperten sind der Meinung, dass Sie erstens die Einspar-potenziale im Arzneimittelbereich nicht genutzt habenund dass Sie zweitens die Qualitäts-, Wirtschaftlichkeits-und Steuerungsdefizite nicht beseitigt haben. Wir lernenaus Ihren Fehlern und ziehen daraus die richtigen Konse-quenzen.
Wir werden einen anderen Weg gehen, um die Reformenvoranzubringen.Auch Ihr Ruf nach mehr Geld im System ist nicht hilf-reich. Sie wissen sehr wohl, dass dies der kleinste ge-meinsame Nenner ist, den Sie mit den Anbietern findenkönnen. Wir sagen: Solange das deutsche Gesundheits-wesen im internationalen Wettbewerb nicht wieder seinehohe Effizienz erlangt hat, das heißt, solange für das vieleGeld keine angemessene Gegenleistung und keine ange-messene Qualität geliefert wird, dürfen wir weder den Pa-tienten noch den Beitragszahlern in die Tasche greifen.
Sie haben immer einen großen Bogen der Opportunitätum den heißen Brei der Arzneimittel gemacht. Wir schaf-fen mit unserem Gesetz endlich Fakten, weil die vorhan-denen Probleme nach Lösungen rufen.
Der Arzneiverordnungsreport 2002 spricht von einemEinsparvolumen von 4,2Milliarden Euro. Wir müssen an-fangen, diese Einsparungen zu realisieren.Auch die Mehrausgaben im Arzneimittelbereich imJahre 2001 in Höhe von 2 Milliarden Euro waren alar-mierend. Aber noch alarmierender ist, dass die Fachleuteder Meinung sind, dass 1 Milliarde Euro dieser Ausgabenmedizinisch nicht begründbar ist. Deshalb wollen wir vonden Herstellern einen Rabatt von 0,4 Milliarden Euro fürHorst Schmidbauer
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Horst Schmidbauer
die große Versichertengemeinschaft bekommen. Deshalbwird der Großhandel ein Drittel seiner Naturalrabatte ineinen Rabatt von 0,6 Milliarden Euro umwandeln. Wirsind nämlich der Auffassung, dass die Naturalrabatte indie Tasche der Versicherten und ihrer Krankenkassen undnicht in die Taschen des Großhandels gehören.
Deshalb werden sich die Apotheken mit einem Rabattvon 0,35Milliarden Euro beteiligen, um für Patienten undVersicherte einen angemessenen Anteil durch die Kap-pung der Höchstpreise zu realisieren. Deshalb werden wirdie Positivliste per Gesetz einführen. Sie soll nicht nocheinmal geschreddert werden und als Geburtstagsgeschenkan den Geschäftsführer eines Pharmaverbandes gehen.
Mit der Positivliste werden wir Transparenz schaffen undQualität sichern, aber auch Einsparungen erreichen, waswichtig ist für die Deckung der Kosten, die sich aus wei-teren Aufgabenstellungen ergeben.Deshalb werden wir die hochpreisigen Analogpräpa-rate in die Festbetragsregelung einbeziehen. Diese Arz-neimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, die nur ei-nen geringen Zusatznutzen aufweisen, sollen wie vor1996 in die Festbetragsregelung kommen. Damit habenwir die Chance, dass die wirklichen therapeutischen In-novationen davon unberührt bleiben. Das sind die rich-tigen Signale an die forschende Arzneimittelindustrie;denn falsche Signale führen zu falschen Entwicklungen indiesem Bereich.
Unser Ziel ist also nicht Kostendämpfung zulasten derPatienten und schon gar nicht Kostendämpfung als Ersatzfür Reformen. Mit dem Vorschaltgesetz stärken wir dieReformkräfte. Wir sagen: Wer sich als Facharzt, alsHausarzt oder im Krankenhaus an den Chronikerpro-grammen, den Disease-Management-Programmen, be-teiligt, erfüllt bei der Nullrunde einen Ausnahmetat-bestand. Wir sagen: Wer in den Krankenhäusern ab dem1. Januar 2003 das neue Fallpauschalengesetz anwendetund damit erreicht, dass nach Leistung abgerechnet wirdund nicht mehr nach der Zahl der belegten Betten, erfüllteinen Ausnahmetatbestand. Wir sagen: Wer eine mit demBetriebsrat abgeschlossene Vereinbarung zur Einhaltungdes Arbeitszeitrechts vorweisen kann, erfüllt einen Aus-nahmetatbestand.Nur so können wir die notwendigen Reformen durch-führen und bekommen die Geschwindigkeiten, die wirbrauchen, um die in einem großen Umfang bestehendeÜber- und Unterversorgung rasch abzubauen.Zum Schluss hoffe ich, dass, wenn nicht mein Appell,vielleicht der der heutigen Ausgabe der „Zeit“ hilft. Dortsteht:
Die Interessenvertreter zu bezwingen wird nicht ein-fach sein, ebenso wenig wie die Überzeugungsarbeitbei den Patienten und der Opposition. Jahrelang hatdie Union sich vor Einschnitten gedrückt, jetzt sollsie wenigstens die Reformen ihrer Nachfolger unter-stützen. Die Zeit drängt.Ich hoffe, dieser Appell fruchtet.
Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, im Koali-tionsvertrag die Worte „Generationengerechtigkeit“ und„Nachhaltigkeit“ nachzuzählen.
Das Ergebnis war, dass das Wort „Generationengerech-tigkeit“ sechsmal und das Wort „Nachhaltigkeit“ sogar19-mal im Koalitionsvertrag stand. Schöne Worte erset-zen aber keine Taten. Der erste Lackmustest zeigt, dassdie Forderung nach Generationengerechtigkeit nur einLippenbekenntnis ist.
Allein der Titel des vorliegenden Gesetzes ist einHohn. Beitragssatzsicherungsgesetz heißt es. Viel treffen-der wäre: Beitragserhöhungsgesetz. Denn anstatt dieBeiträge in der Rentenversicherung zu sichern, werdensie schamlos erhöht.
Vor der Wahl haben Sie vollmundig stabile Beiträge ver-sprochen, um nach der Wahl voll zuzulangen.Der Kollege Poß von der SPD spricht von einer sozialgerechten Beteiligung aller Gruppen. Von wegen! DasLoch in der Rentenkasse wird allein zulasten der Bei-tragszahler
und damit allein zulasten der jungen Generation gestopft.
Das einzig Nachhaltige an dieser Politik ist, dass Sienachhaltig Wahlversprechen brechen.
Im Interesse der Generationengerechtigkeit, FrauKollegin, sind die notwendigen Anpassungslasten so zu
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verteilen, dass die Erwerbstätigen sie eben nicht alleinschultern. Auch die heutigen Rentner müssen einen Bei-trag leisten. Mit den Anpassungsschritten muss deshalbjetzt begonnen werden. Denn je schwächer die Anpassun-gen heute ausfallen, desto größer wird die Last für dieRentner des Jahres 2030 sein.
Rot-Grün spricht davon, mit einem Rentenbeitragvon 19,5 Prozent sei man auf der sicheren Seite.
Frau Ministerin Schmidt, Sie sagen, dass die Beiträge bis2006 nicht mehr steigen würden, 2005 sogar wieder sin-ken könnten. Ich sehe es schon kommen: Spätestens in ei-nem Jahr werden wir hier erneut über steigende Beitrags-sätze beraten.
Denn das ist nichts Neues. Vor fast genau einem Jahr, am9. November 2001, hat die damalige ParlamentarischeStaatssekretärin Frau Mascher hier im Bundestag erklärt– ich zitiere wörtlich –:Deswegen halten wir den Beitragssatz zur gesetz-lichen Rentenversicherung für stabil. Wir werdenden Rentenversicherungsbeitrag auch im kommen-den Jahr bei 19,1 Prozent halten.
– Genau, am 9. November 2001.Allein dieses Beispiel zeigt: Sie wollten und wollenden wahren Reformbedarf nicht sehen.Frau Ministerin Schmidt, schon Ihr Vorgänger als Ren-tenminister, Herr Blüm, hat den Reformbedarf nichtwahrhaben wollen. Bei Blüm hieß es immer: „Die Renteist sicher.“ Bei Ihnen, Frau Schmidt, heißt es anscheinendnun: Der Beitragssatz ist sicher. – Die Formulierungen än-dern sich; das Prinzip bleibt das gleiche. Frau MinisterinSchmidt, machen Sie nicht den gleichen Fehler! DokternSie nicht an den Symptomen herum, sondern gehen Sie andie Ursachen und legen Sie endlich eine nachhaltige Ren-tenstrukturreform vor. Das ist nötig.
Die Probleme, die steigende Beiträge mit sich bringen,sind doch bekannt. Nach Berechnungen des Kieler Insti-tuts für Weltwirtschaft kostet allein die Erhöhung desRentenbeitragssatzes auf 19,5 Prozent – in diesen Be-rechnungen ist noch nicht die Erhöhung der Beitrags-bemessungsgrenze enthalten – 60 000 Arbeitsplätze.
Wann erkennt die Bundesregierung endlich den Teu-felskreis: Jede Steigerung des Beitragssatzes kostetArbeitsplätze, da die Unternehmen die steigenden Lohn-nebenkosten durch Rationalisierungen und Entlassungenauffangen? Jeder zusätzliche Arbeitslose aber reißt neueLöcher in die Kassen der Sozialversicherungssysteme.Die Folge ist schon heute erkennbar: weitere Steigerun-gen der Beitragssätze und noch mehr Arbeitslosigkeit.Diese Politik verdient nur das Etikett „Arbeitsplatzver-nichtungsprogramm“.
Zu den Grünen. Die Grünen haben in dieser Debattedie Klappe ganz schön weit aufgemacht und haben da-nach keine Zähne mehr gehabt; die SPD weiß auch nicht,wo sie geblieben sind.
Frau Kollegin Bender hat eben festgestellt: Die Rentekommt sehr wohl aus der Kasse. Das ist eine Einsicht wiedie, dass der Strom aus der Steckdose komme.
Die Grünen hatten sich die Generationengerechtigkeit aufdie Fahnen geschrieben – sehr löblich. In ihrem Grund-satzprogramm – wenn ich das einmal zitieren darf – heißtes: „Wir treten ein für Generationengerechtigkeit.“ Wiedie Grünen die Erhöhung auf 19,5 Prozent dann aber alsKompromiss verkaufen können, ist mir vollkommenschleierhaft.
Das ist kein Kompromiss, liebe Grüne, das ist eine Nie-derlage auf der ganzen Linie.
Frau Kollegin Bender, ich habe den Eindruck, die Grü-nen klammern sich jetzt an den Strohhalm der Kommis-sion. Jetzt soll eine Kommission für die Wunder zustän-dig sein, die zu vollbringen die Regierung nicht imstandewar. Das Problem ist, dass wir dabei Zeit verlieren. Wannwird die Kommission denn die Ergebnisse vorlegen? Daswird doch erst im Jahre 2003 sein. Die Umsetzung dieserErgebnisse, Frau Kollegin, wird dann erst im Jahre 2004stattfinden. Das heißt, Sie sagen allen – vor allem der jun-gen Generation –, sie müssen noch zwei Jahre länger war-ten. Das wird die junge Generation und das werden wir alsOpposition nicht hinnehmen.
Meine Damen und Herren, warum brauchen wir über-haupt eine neue Kommission? Wir hatten doch genügendKommissionen und Arbeitsgruppen, die Konzepte vorge-legt haben. Allein in diesem Jahr wurde das Ergebnis derKommission „Demographischer Wandel“ vorgelegt. TunSie nicht so, als ob darin keine Vorschläge enthalten wa-ren; darin waren viele sehr gute Vorschläge enthalten. Eskommt darauf an, diese Vorschläge umzusetzen, anstattalles immer nur auf die lange Bank zu schieben.
Durch die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenzewerden 1,5 Millionen Betroffene noch zusätzlich, alsoDaniel Bahr
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Daniel Bahr
doppelt belastet. Der Vorschlag trifft keine Millionäre,sondern Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in demEinkommensbereich, in dem Steuerprogression und Er-höhung der Bemessungsgrenze in der Summe Gehalts-erhöhungen vollständig aufzehren. Rot-Grün spricht voneiner maßvollen Anhebung der Beitragsbemessungs-grenze. Frau Kollegin Lotz hat auch noch gesagt: Dafürbekommen sie ja auch etwas. – Natürlich bekommen sieetwas dafür, nämlich Rentenansprüche. Genau das ver-schärft das Problem noch, weil Sie damit den Verschiebe-bahnhof weiter fortsetzen. Das werden wir als FDP-Frak-tion nicht mitmachen.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Bahr, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede hier im Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen
alles Gute für die Zukunft.
Als nächster Redner spricht für die Bundesregierung
der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes.
F
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Es tut weh, wenn man nicht das Ziel erreicht hat, dasman sich für den 22. September gewünscht hat; das mer-ken wir. Wir werden nicht davon ablassen – da können Sienoch so viel Kritik äußern –, Sozialpolitik hier in diesemHaus gerecht, innovativ, effizient und auch transparent zugestalten. Das bleibt Leitbild unserer Politik in diesemLand.
Wir haben die längst fälligen Reformen angepackt, dieSie liegen gelassen haben, als Sie abgewählt worden sind.Die Bürgerinnen und Bürger haben uns dafür am 22. Sep-tember erneut das Mandat gegeben. Dass das in schwie-rigen Zeiten passiert ist, in Zeiten großer globaler Ver-änderung und wirtschaftlicher Herausforderung, zeigteigentlich doppelt, dass wir hier auf dem richtigen Wegsind. Sie können davon ausgehen, dass Solidität undSolidarität auch in Zukunft die Grundpfeiler unserer so-zialen Sicherungssysteme bleiben werden.Wir sorgen für Stabilität und Generationengerech-tigkeit. Deswegen möchte ich kurz auf den Beitrag mei-nes Vorredners antworten, was die Generationengerech-tigkeit angeht. Wir wissen, dass unser Rentensystem einUmlagesystem ist, bei dem immer die jetzige Generationfür die Generation einzahlt, die gestern eingezahlt hat,und für die jüngere Generation, die nachwächst. Wennman das Niveau betrachtet, auf dem die heutige junge Ge-neration arbeitet und lebt, dann kann man mit ganz großerSicherheit sagen, dass es einer jungen Generation in derGeschichte Deutschlands noch nie so gut gegangen ist wieheute. Das haben sie den Älteren zu verdanken, die diesesLand aufgebaut haben.
Die ältere Generation ist auch an der Generationen-gerechtigkeit im Rahmen der Rentenreform, die wir ge-macht haben, beteiligt. Wenn jetzt die private Altersvor-sorge aufgebaut wird, ist sie mit daran beteiligt, weil derAnteil, der dafür aufgewendet wird, auch bei ihrer Ren-tenberechnung eine Rolle spielt und weil damit ihre Ren-ten auch langsamer ansteigen werden. Also fangen Sienicht an, hier einen Krieg zwischen den Generationen an-zuzetteln; denn das schadet diesem Land.
Das sollte man schon gar nicht dann tun, wenn man so-zusagen eine große Baustelle hinterlassen hat.
Die Modernisierung der Alterssicherung war längst über-fällig. Ihre Rentenpolitik bestand am Ende in Kürzungen,Kappungen und Niveauabsenkungen, ohne den Men-schen die Gelegenheit zu geben, als Ausgleich für dasAlter privat vorzusorgen.Die jüngere Generation haben Sie mit ständig steigen-den Beiträgen belastet.
Allein in den letzten fünf Jahren Ihrer Regierungszeit sinddie Beiträge von 17,5 Prozent auf 20,3 Prozent gestiegen.Wenn Sie nicht Ende des Jahres 1997 die Mehrwertsteuernoch um einen Prozentpunkt angehoben hätten, dannwären wir bei 21,3 Prozent gelandet. Das war die Aus-gangslage, als wir die Regierung übernommen haben.
Bei Ihnen lag der Beitragssatz bereits 1985 bei19,2 Prozent. Dann haben Sie ein bisschen verschobenund das im Zusammenhang mit der deutschen Einheit ver-braucht. 1994 ist der Satz von 17,5 Prozent auf 19,2 Pro-zent gestiegen, also um 1,7 Prozentpunkte. Also werfenSie uns heute an der Stelle nicht Schamlosigkeit vor,meine Damen und Herren!
Ihre Politik hat nichts mit Generationengerechtigkeitund schon gar nichts mit einer gewinnbringenden Wirt-schafts- und Arbeitsmarktpolitik zu tun gehabt.
Von den Folgen hat sich dieses Land bis heute noch nichterholt. Wir arbeiten daran, das in Ordnung zu bringen.
Wir haben in den letzten vier Jahren die Beiträge von20,3 Prozent auf 19,3 Prozent und 19,1 Prozent gesenkt.
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Die Lohnnebenkosten sind von 42,5 Prozent um 1,3 Pro-zentpunkte gesenkt worden. In Ihrer letzten Amtsperiodesind sie um 3,4 Prozentpunkte gestiegen. Da, auf der rech-ten Seite, sitzt die Koalition der Lohnnebenkostener-höhungen. Da, auf der linken Seite, sitzt die Koalition derLohnnebenkostensenkungen. Nehmen Sie das einmal zurKenntnis!
Mit dem größten Aufbauprogramm in Deutschland för-dern wir jetzt auch die private Altersvorsorge mit gut13 Milliarden Euro bis zum Jahr 2008. Wir bringen auchTransparenz hinein, sodass die Menschen jetzt sehen,welche Ansprüche sie im Alter an die Rentenversicherunghaben. Seit Mitte dieses Jahres erhalten die Bürgerinnenund Bürger sukzessive Bescheinigungen, die ihnen zei-gen, was sie künftig erwarten können. Dann kann jederdeutlich erkennen, wie er vorsorgen muss und wie er dasam besten anstellt.Die aktuelle wirtschaftliche Schwächephase ist keinProblem, das Deutschland allein trifft.
Es handelt sich – das müssen auch Ihre Ökonomen zurKenntnis nehmen – um einen weltweiten Konjunkturein-bruch,
der sich auf die Staatsfinanzen auswirkt und der sichnatürlich auch auf die Sozialhaushalte auswirkt. DerSachverständigenrat ist bei seinen Prognosen auf der Ba-sis dessen, was im Juni zu berücksichtigen war, und vordem Hintergrund der zu erwartenden Tarifabschlüsse bishin zu der Lohnentwicklung im Jahr 2003 davon ausge-gangen, dass wir bei den Pflichtbeiträgen eine Einnah-meerhöhung von gut 2,5 Prozent haben werden. Biseinschließlich September waren in der Rentenversiche-rung aber nur 0,36 Prozent zu verzeichnen.
Wenn Sie an der Regierung wären, würden Sie sich auchauf die vorliegenden Zahlen der Sachverständigen beru-fen und Ihre Planungen darauf aufbauen.Der vorliegende Gesetzentwurf dient dazu, die Eng-pässe in den Sozialkassen zu beheben
und auch sozial ausgewogen – ich erinnere an die in-tensiven Anstrengungen, die zur Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit gemacht werden – zu beheben. Die an-fallenden Mehrbelastungen wollen wir nicht nur ir-gendwem aufbürden, sondern wir versuchen, sie denenaufzubürden,
die etwas stärkere Schultern haben, und sie auf alle Be-teiligten sozial gerecht zu verteilen.
Das Schiff Rentenversicherung haben wir von Ihnenals Reparaturfall übernommen.
Wir haben es für die Zukunft gerüstet.
Jetzt gilt es eigentlich nur, bei schwerer See die Stabilisa-toren rechtzeitig und kombiniert zu nutzen, damit dasSchiff auch gut durch diese schwere See kommt.
Schwere See ist eine Herausforderung für jedes Schiff.Wir haben aber keinen Grund, an der Seetüchtigkeit desSchiffs – um das einmal ganz deutlich zu sagen – und da-mit an der Reform zu zweifeln.
Ein Stabilisator ist die Beitragsbemessungsgrenze, diewir behutsam anheben. An der Stelle muss man ganz deut-lich sagen: Sie müssten schon einmal erklären, warum dieEinforderung von Solidarität bei den Menschen aufhörensoll, die doppelt so viel verdienen wie ein Durchschnitts-verdiener.Ein weiterer Stabilisator ist die Schwankungsreserve.Vorgesehen ist, vorübergehend auf das Wiederauffüllenauf den bisherigen Wert von 80 Prozent zu verzichten. Wirwollen eine Senkung der Schwankungsreserve auf einenKorridor von 50 bis 70 Prozent einer Monatsausgabe. Da-mit reagieren wir flexibel auf die konjunkturelle Situa-tion. Die Rentenversicherung ist dadurch nicht gefährdet.Herr Storm, machen Sie den Menschen von diesemRednerpult aus nicht unnötig Angst!
Schauen Sie sich Ihre eigene Regierungszeit an. DieErfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass der vorge-schriebene Zielwert in der Praxis über Jahrzehnte nichterforderlich war. Die finanziellen Reserven der Renten-versicherung lagen in den letzten drei Jahren Ihrer Regie-rungszeit bei 60 bzw. 70 Prozent. Dadurch war die Zah-lungsfähigkeit der Rentenversicherungsträger nichtgefährdet. Faktisch ist die Rentenversicherung inDeutschland immer umlagefinanziert gewesen. Das heißt,die Schwankungsreserve ist dazu da, konjunkturelleSchwankungen auszugleichen. Wenn wir also vorüberge-hend den Zielwert der Schwankungsreserve senken, danntun wir damit niemandem weh. Wir sorgen vielmehrdafür, dass die jüngere Generation nicht mit überdimen-sionierten Beitragserhöhungen belastet wird.Sie wollen die Schwankungsreserve in vollem Umfangerhalten, obwohl Sie wissen, dass es darüber hinaus dieParl. Staatssekretär Franz Thönnes
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Parl. Staatssekretär Franz ThönnesMöglichkeit gibt, den Bundeszuschuss vorzuziehen, unddass am Ende auch noch eine Bundesgarantie für die Ren-ten steht.
Sie kommen mir vor wie ein älterer Herr in einer etwasausgelatschten Hose, der Gummizug, Hosenträger undGürtel zu gleicher Zeit haben will. Wer so viel Sicherheithaben will, dem trauen die Menschen nicht. Dafür habenSie bei der Bundestagswahl die Quittung bekommen.
Der Beitragssatz lässt sich durch die Maßnahmen, diewir jetzt eingeleitet haben, bei 19,5 Prozentpunkten stabi-lisieren. Damit liegen wir noch immer unterhalb des vonIhnen übernommenen Beitragssatzes von 20,3 Prozent-punkten. Herr Kollege Storm, Sie sollten Herrn Ruland inGänze zitieren. Er hat nämlich in der gestrigen Ausgabeder „Neuen Osnabrücker Zeitung“ auch deutlich gemacht,dass es bei der momentanen Konstellation der Stabilisa-toren keine Alternative zur Festsetzung des Beitragssatzesauf 19,5 Prozentpunkte gibt.Ich möchte abschließend noch etwas zu der geplantenKommission zur nachhaltigen Finanzierung der sozia-len Sicherungssysteme sagen. Der Kollege Seehofer hatgesagt: Wenn jemand ein Ministeramt übernimmt, sollteer sein Handwerk so beherrschen, dass er in der Lage ist,für Deutschland ein Problem zu lösen. Anschließend kri-tisiert er die Einrichtung der Kommission.
Vorsicht, Herr Kollege Seehofer! Kennen Sie noch dieKommission zur Pflegeversicherung? Die fiel in IhreAmtszeit. Kennen Sie noch die Kommission zu den Tier-versuchen? Die fiel in Ihre Amtszeit. Kennen Sie noch dieKommission zur Krankenhaushygiene? Auch die fiel inIhre Amtszeit. Kennen Sie noch die blümsche Kommis-sion zur Rentenreform? – Auch die fiel in Ihre Amtszeit.Und was ist aus den Vorschlägen dieser Kommissionengeworden? Der Unterschied zu heute ist, dass aus all die-sen Vorschlägen nicht allzu viel geworden ist.
– Die haben wir ja gemeinsam auf den Weg gebracht.
Jetzt liegt ein Paket mit Vorschlägen der Hartz-Kom-mission auf dem Tisch, das mit aller Konsequenz durchge-setzt werden wird. Die Kommission – bitte hören Sie zu –,die zur nachhaltigen Finanzierung der sozialen Siche-rungssysteme eingesetzt werden soll, wird Vorschläge zurPflegeversicherung, zur Krankenversicherung und zurRentenversicherung erarbeiten. Ich bin sicher, dass siegute Ergebnisse zeitigen wird.Sie können davon ausgehen: Unser Reformwille wirdauch bei der Umsetzung der Ergebnisse dieser Kommis-sion grenzenlos sein. Wir werden die Ergebnisse konse-quent umsetzen; denn uns liegt sehr viel daran, dass unserLand in der Form modernisiert wird, dass die soziale Ge-rechtigkeit bewahrt wird, dass Arbeitsplätze geschaffenwerden und dass auch wirtschaftliches Wachstum mög-lich ist.Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch,
fraktionslos.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat imAugenblick den Eindruck, dass die Regierungskoalitionglaubt, in Anbetracht der desolaten FDP das Erbe derLiberalen antreten zu müssen. Egal ob es um die Hartz-Kommission, um die Eigenheimzulage oder um dasGesundheitssystem geht, überall wird der Rückzug desStaates propagiert, obwohl der Kanzler vor der Bundes-tagswahl erklärt hat, dass sich nur die Reichen einenschwachen Staat leisten könnten.Die PDS will vor allem einen sozialen Staat, der nichtdie Krankenkassen aussaugt und nicht die Gesundheitslas-ten auf die Patientinnen und Patienten sowie auf die Be-schäftigten des Gesundheitswesens abwälzt. Hier gibt eseine Menge sinnvoller Vorschläge. So kann zum Beispieldie Mehrwertsteuer auf Arzneimittel gesenkt bzw. aufge-hoben werden. Allein das beließe 2 Milliarden bis 3 Mil-liarden Euro an Versicherungsbeiträgen bei den Kranken-kassen, die sich bisher der Fiskus aneignet. Wichtigesozialpolitische Leistungen wie das Mutterschaftsgeldoder die Zahlungen bei Erkrankung von Kindern müssenendlich durch einen Bundeszuschuss an die gesetzlicheKrankenversicherung finanziert werden. Das würde wei-tere 1 Milliarde bis 2 Milliarden Euro ausmachen.Stattdessen schwächt Rot-Grün die Finanzkraft der ge-setzlichen Krankenversicherung sogar weiter. Durch dievorgesehenen Senkungen – darüber haben wir heute Mor-gen diskutiert – bei Arbeitslosengeld und Arbeitslosen-hilfe stehen auch den Kassen weniger Beiträge zur Verfü-gung. Damit treiben Sie die Kassen in das nächsteFinanzloch.Richtig ist es – nicht all Ihre Vorschläge sind von unsnegativ zu bewerten –, die Arzneimittelausgaben zu ver-ringern, indem überhöhte Medikamentenpreise gesenktund die Gewinne der Pharmaindustrie zumindest etwasbeschnitten werden. Auch eine Positivliste für Arzneimit-tel und das Einfrieren der Verwaltungsausgaben der Kas-sen sind seit langem überfällige und durchaus gerechtfer-tigte Maßnahmen.Wir übersehen auch nicht, dass Rot-Grün das Solidar-system erhalten und die Defizite der gesetzlichen Kran-kenversicherung nicht vordergründig durch höhere Zu-zahlungen und Selbstbeteiligungen der Patienten oderdurch eine Einführung von Regel- und Wahlleistungen
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beheben will. Natürlich ist auch die Anhebung der Versi-cherungspflichtgrenze, die die Schwelle für den Über-gang in eine private Krankenversicherung erhöht, einSchritt in die richtige Richtung. Aber das ist nur die eineSeite der Medaille.Für völlig falsch und unangemessen halten wir dage-gen die für 2003 vorgesehene Nullrunde bei der Finan-zierung der ambulanten und der stationären Versorgung.Das wird sich in jedem Fall negativ auf die Behandlungkranker Menschen auswirken, auch wenn von den Vertre-tern der rot-grünen Koalition hartnäckig versucht wurde,dies zu leugnen.Man muss es klar sagen: Auch dieser neue Spareingriffgeht sowohl zulasten der Patientinnen und Patienten alsauch der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Sie wissendoch, dass vor allen Dingen in den Krankenhäusern fürÄrzte und Schwestern teilweise schon heute unerträglicheArbeitsbelastungen herrschen und Personalabbau, Ar-beitsverdichtung und Tarifdruck weiter zunehmen. Dasgilt auch für die Krankenhäuser, die im Jahr 2003 nochnicht zur Kalkulation nach Fallpauschalen übergehen unddenen eine Nullrunde ausdrücklich zugemutet werdensoll.Sie, meine Damen und Herren von der rot-grünen Re-gierung, werden den Druck auf Ärztinnen und Ärzte,Schwestern und damit natürlich auch auf die Patientinnenund Patienten verstärken – und das ist nicht in Ordnung.Besonders bei jenen Ärzten, die – so ist das in Ost-deutschland häufiger der Fall – seit längerem kein ange-messenes Einkommen mehr erzielen, wird die Frustrationweiter wachsen. Die ohnehin bedrohlich gesunkene Mo-tivation des medizinischen Nachwuchses, unter solchenBedingungen ärztlich tätig zu werden, wird sich weiterverringern. Das ist nicht gut für unser Gesundheitssystem.Mit Ihren Maßnahmen, meine Damen und Herren vonder rot-grünen Regierung, werden Versorgungsdefizitevorprogrammiert. Das wollen wir nicht, das ist nicht gutfür unser Gesundheitssystem und das muss wieder verän-dert werden.Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans Georg Faust
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren von Rot-Grün,Verschleiern und Schönreden, gebrochene Versprechen,vollkommen unangemessene Hektik und ein heillosesDurcheinander sind inzwischen die Markenzeichen IhrerGesundheitspolitik.Herr Staatssekretär, Sie haben mit Blick auf denSicherheitsgedanken unsere Hose als Gummizughose mitHosenträgern und Gürtel beschrieben. Sie brauchen dieseHilfsmittel natürlich nicht mehr; denn Sie stehen inzwi-schen bezüglich der Gesundheits- und Rentenpolitik voll-kommen ohne Hose da.
Selten hat sich die Wahrnehmung so geändert wie inden letzten sechs Wochen. Vor der Wahl war alles in Ord-nung, alle Bedenken waren Panikmache und es hieß: DieKrankenversicherung wird am Ende des Jahres einen aus-geglichenen Haushalt haben. Heute befindet sich die deut-sche Krankenversicherung – ich sage es medizinisch – imReanimationsstadium: schnelle Beatmung und Herzmas-sage, sonst stirbt der Patient. Das deutsche Parlament wirdzum Emergency Room.
Sie von Rot-Grün hoffen, den Patienten Krankenversi-cherung mit Ihren verzweifelten Notfallmaßnahmen solange am Leben erhalten zu können, bis er die eigentlicheTherapie – die immer wieder versprochene, aber nie ein-getretene Gesundheitsreform – noch erlebt. Winterfestmachen habe ich dazu eben gehört.Aber den Kollegen, insbesondere den ärztlichen Kol-legen in der Regierungsfraktion ist klar, dass die Göttervor die Therapie die Diagnose gesetzt haben. Die Dia-gnose, die dem deutschen Gesundheitssystem die kata-strophale Situation beschert, sind die demographischeEntwicklung und der medizinisch-technische Fortschritt.Beides haben Sie bei Ihren Therapieüberlegungen voll-kommen ausgeblendet.Nun zu dem so genannten Vorschaltgesetz. Wennschon die rot-grüne Politik der Vergangenheit mit Ein-führung eines neuen Preissystems in den Krankenhäu-sern, mit Einführung von integrierten Versorgungssyste-men, mit Überlegungen zu Leitlinien gestützter Medizinund Krankheitsfallmanagement richtig gewesen sein soll,wenn weitere Reformschritte auf diesem Weg Elementeeiner modernen Gesundheitspolitik sein sollen, dann istdieses Gesetz geradezu der Todesstoß für diese moderneEntwicklung.
In einer Zeit, in der Leistungserbringer, Ärzte undKrankenhäuser, die Arzneimittelindustrie, Patienten-selbsthilfegruppen und Krankenkassen auf Veränderun-gen warten, müssten Sie, wenn Sie Ihre eigenen bisheri-gen Vorschläge ernst nehmen, Geld in die Hand nehmen,damit über Investitionen die zukunftsweisenden Verände-rungen durchgeführt werden können. Was tun Sie? – Siewürgen mit Nullrunden jede Veränderung ab und ver-schlechtern für alle, insbesondere für die Patienten, dieBedingungen.
Beispiel: Im letzten Moment, Frau Ministerin Schmidt,fällt Ihnen ein, dass Sie mit den Nullrunden für Kranken-häuser die DRG-Optionen für 2003 torpedieren. Erst alsdie Krankenkassen – wie ich es im eigenen Haus erlebtDr. Gesine Lötzsch
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Dr. Hans Georg Fausthabe – die Budgetverhandlungen für 2003 beim StichwortNullrunde sofort abbrechen, wird Ihnen der deutlicheNachbesserungsbedarf an einem hektisch gemachten Ge-setz klar.
Im letzten Moment werden die umsteigewilligen – in-zwischen sind es 437 – Krankenhäuser mit einer Steige-rung von sage und schreibe 0,81 Prozent auf die Leimrutegeführt, wodurch sich natürlich der ja so notwendigeEinsparungsbetrag des Vorschaltgesetzes weiter redu-ziert. Das, Frau Ministerin Schmidt, ist keine solide Ge-sundheitspolitik. Das ist unkontrolliertes und panikartigesHandeln in einer Notfallsituation, was nicht hätte seinmüssen, wenn die deutsche Öffentlichkeit vor der Wahlnicht so schamlos in die Irre geführt worden wäre.
Gestern im Ausschuss: Irreführung oder neuer Streit-punkt zwischen Rot-Grün auch bei der Frage einer Nach-frist für die vom Köder 0,81 Prozent angelockten Kran-kenhäuser. Gestern erklärte uns die Kollegin Bender vonden Grünen im Ausschuss, dass eine Nachfrist vereinbartsei.
Die SPD, Frau Kühn-Mengel, spricht dagegen von Ab-sichtserklärungen, die im weiteren Gesetzgebungsverfah-ren umgesetzt werden können. Was ist denn nun Sachehier?
Dieses Gesetzgebungsverfahren dauert gerade nocheine Woche; das ist hektisch. Eine Anhörung sowie diezweite und dritte Lesung finden nächste Woche statt.
Wann erhalten wir Klarheit über die letzten Chancen fürdie Krankenhäuser, insbesondere für die vielen kleinenKrankenhäuser, die sich mit der zusätzlichen Umstel-lungsbürokratie auf das neue Preissystem einstellen müs-sen? Geben Sie den Krankenhäusern Klarheit, Frau Mi-nisterin! 40 000 Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.Katastrophale Auswirkungen gibt es nicht nur imKrankenhausbereich. Es gibt sie ebenso für die niederge-lassenen Ärzte, die nach Jahren der Budgetierung, nachJahren der Regressangst und der existenziellen Nöte fürihre Praxen und Mitarbeiter, insbesondere auch in denneuen Bundesländern, eine weitere Belastung in Form ei-ner so genannten Nullrunde erfahren. Denn diese Null-runde führt in Wahrheit zu einer 8-prozentigen Minderungdes verfügbaren Nettoeinkommens. Die Personal- undSachkosten in den ärztlichen Praxen steigen ja weiter.Sie, Frau Ministerin, und Sie, Frau Kühn-Mengel, hal-ten das für zumutbar. Wir sagen Ihnen: Das ist nicht zu-mutbar. Denn damit sind Sie auf dem besten Weg, die am-bulante Versorgung der Bevölkerung zu gefährden. Auchdas werden wir der Öffentlichkeit klar sagen.
Da hilft es wenig – wie auch gestern geschehen –, auf dieVerpflichtung von Krankenhäusern und Ärzten hinzuwei-sen, dass kein Patient abgewiesen werden und dass kei-nem Patienten die notwendige Behandlung vorenthaltenwerden darf. Die Wirklichkeit ist anders und das wissenSie auch ganz genau.Noch ein Wort zu einer weiteren Nullrunde: eine Null-runde für die Krankenkassenbeiträge, aber auch für dieVerwaltungsausgaben der Krankenkassen. Ich weiß, dassehen die Leistungserbringer, die Ärzte und Krankenhäu-ser, gern. Ich denke aber, wer um die immense Bürokra-tie, wer um die Verbesserung der EDV-Ausstattung undum die Schulung von Mitarbeitern im Rahmen der Ein-führung von Fallpauschalen weiß – in den Krankenhäu-sern, aber auch bei den Krankenkassen –, der muss auchden Krankenkassen in solchen Umstellungszeiten den fi-nanziellen Spielraum geben, den sie für die Bewältigungder von Ihnen gestellten Aufgaben benötigen. PauschaleKürzungen nach der Methode Rasenmäher werden einerverantwortungsvollen Gesundheitspolitik nicht gerecht.
Nicht zuletzt aus diesem Grund und angesichts der insge-samt verzweifelten Finanzlage erhöhen Dutzende vonKrankenkassen panikartig in letzter Minute ihre Beiträge.Nun zur Arzneimittelversorgung. Die Apothekerwerden, da sie ein Drittel der Gesamtlast tragen müssen,zu den Hauptleidtragenden des Gesetzes. Durch die Er-höhung der GKV-Rabatte und die Abwälzung derGroßhandelsrabatte allein wäre die Situation schon deso-lat. Aber die teuren Inkassodienste am Ende der Kettewerden viele Apotheker ruinieren. Der Weg zur nächstenApotheke wird für viele Bürger in Zukunft weit, sehr weit.
Wir haben damals den Ablasshandel der Regierung mitden Pharmaunternehmen zur Vermeidung einer gesetzlichverordneten Preisregulierung für festbetragsfreie ver-schreibungspflichtige Arzneimittel aus ordnungspoliti-schen Gründen kritisiert. Festzuhalten aber bleibt, dassausweislich einer Pressemitteilung der Bundesregierungaus dem Jahr 2001 die Bundesregierung versprochen hat,für die Jahre 2002 und 2003 auf Preisregulierungen zuverzichten.
Dieses Wort, gegeben von Bundeskanzler GerhardSchröder und der Bundesministerin für Gesundheit, UllaSchmidt, ist nach weniger als einem Jahr gebrochen. Auchhier zeigt sich: Noch nie hat eine Regierung die Wähle-rinnen und Wähler, die Krankenhäuser, die niedergelasse-nen Ärzte, die Patienten, die Versicherten, die privatenund gesetzlichen Krankenkassen, die Apotheker und dieArzneimittelhersteller so hinters Licht geführt und damit
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innerhalb kürzester Zeit das Vertrauen von allen im Ge-sundheitswesen missbraucht wie diese neue rot-grüneBundesregierung.
Würde ich als Arzt einen Patienten so behandeln wieSie unser Gesundheitssystem, ein Prozess wegen Auf-klärungsmängeln und Kunstfehlern wäre mir so sicherwie das Amen in der Kirche.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 15/27 und 15/28 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortent-
wicklung der ökologischen Steuerreform
– Drucksache 15/21 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
Bundesfinanzminister Hans Eichel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Nachhaltigkeit ist einer unserer zentralen Grund-werte. Nachhaltigkeit bedeutet, dass wir die ökologischenGrundlagen unseres Gemeinwesens stärken. Aus finanz-politischer Sicht bedeutet Nachhaltigkeit, dass wir ange-sichts großer konjunktureller Herausforderungen auf demWeg der Konsolidierung des Staatshaushalts bleiben.Beide Aspekte ergänzen sich. Beide vergrößern, wennwir sie erfüllen, die Handlungsspielräume für die nach-folgenden Generationen. Einfacher ausgedrückt heißtdas: Wir dürfen nicht auf Kosten unserer Kinder und En-kel leben.
Der vorliegende Gesetzentwurf wird genau diesemAnspruch gerecht. Mit ihm wird die ökologische Zielge-nauigkeit erhöht, indem Subventionstatbestände abgebautwerden.
Gleichzeitig werden die Spielräume für den Haushalt er-höht. Dabei greifen wir auch Kritikpunkte der Umwelt-verbände und der Opposition gegenüber der bisherigenAusgestaltung auf. Aber ich befürchte, die Oppositionwird sich auch in dieser Frage nicht an ihre früheren Po-sitionen erinnern – es ist gut, dass Sie sich umdrehen FrauMerkel; ich werde Sie gleich zitieren –, sondern in einerunverantwortlichen Verweigerungshaltung verharren.
Das ist bisher auch in der gesamten Diskussion zur Öko-steuer so gewesen.Dazu nun ein Zitat:Energie ist heute zu billig. Es müssen aus meinerSicht die Steuern auf Energie angehoben werden, seies für Mineralöl, Heizgas oder Strom. Der ge-wünschte Lerneffekt tritt freilich nur dann ein, wennklar ist, dass die Steuersätze über Jahre allmählichangehoben werden.Diese Originalaussage stammt nicht von Vertretern vonRot-Grün, sondern von Frau Merkel. Sie steht in der„Frankfurter Rundschau“ vom 17. Juni 1997.
Für die Union ist das alles inzwischen Schnee von ges-tern.
– Sie müssen vorsichtig sein, sonst zitiere ich auch nochHerrn Töpfer; lassen Sie das lieber.
Die Regierung Schröder hat mit der ökologischenSteuerreform den auch von der Union als richtig aner-kannten Ansatz umgesetzt. Wir haben im Interesse unse-rer Kinder und Enkel für die Nachhaltigkeit gehandelt.Die Union hat sich gegen ihre bessere Einsicht von ges-tern in die Neinsageecke zurückgezogen.
Das ist gegenwärtig Ihre Gesamtlinie: Mäkeln, aber kei-nen eigenen Vorschlag unterbreiten.
Dr. Hans Georg Faust
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Bundesminister Hans EichelBereits die bisherige Ökosteuer hat zu einem effizien-teren Umgang mit Energie geführt. Mit Blick auf das Kli-maschutziel ist Deutschland verglichen mit anderen Staa-ten auf einem sehr guten Weg. Nach vier Jahren ist nunaber die Zeit da, bestehende Lücken Schritt für Schritt zuschließen; so steigern wir die ökologische Effizienz desSteuersystems. Die Besteuerung von Heizstoffen wirddeshalb stärker als bisher an dem Energiegehalt ausge-richtet. Die Besteuerung von Erdgas wird entsprechendangepasst. Mögliche Verzerrungen auf den Energiemärk-ten werden so abgebaut.
Ein zweiter wichtiger Bereich ist der Abbau der er-mäßigten Ökosteuersätze für die Landwirtschaft und fürdas produzierende Gewerbe.
Sie betragen in Zukunft 60 Prozent der Regelsätze. Ich binmir sicher, dass die Unternehmen nach einer Anpassungs-zeit von vier Jahren in der Lage sind, diese Abschmelzungzu vertragen, ohne dass ihre internationale Wettbewerbs-fähigkeit leidet;
denn den Ökosteuerausgaben stehen ja – auch wenn dasim Moment ein sehr schwieriges Kapitel ist – nach wievor niedrigere Lohnnebenkosten im Vergleich zu 1998 ge-genüber. Der Spitzenausgleich für besonders energiein-tensive Betriebe wird beibehalten, aber so modifiziert,dass ein Anreiz zu einem effektiven Energieeinsatz füralle erhalten bleibt. Das ist ökonomisch verträglich undökologisch sinnvoll.
Auch der Abbau der Subvention von Nachtspeicher-heizungen ist geboten. Hier wird eine ökologisch beson-ders bedenkliche Heizform aus sozial berechtigten Grün-den bisher noch gefördert. Es muss aber einen weiterenModernisierungsschub geben. Deshalb wird diese Ver-günstigung schrittweise abgebaut und gleichzeitig einProgramm zum Umbau dieser Heizung aufgelegt.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzent-wurf ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr ökologischerNachhaltigkeit. Auch die Mehreinnahmen dienen derNachhaltigkeit; denn wir müssen auf dem Weg einer soli-den Finanzpolitik bleiben.
Hierzu trägt einerseits der konsequente Kurs der Ausga-benbegrenzung bei.
Genauso wichtig ist es aber, andererseits zu überprüfen,ob die Ausnahmen, die die steuerlichen Bemessungs-grundlagen wie einen Schweizer Käse durchlöchern, nochzeitgemäß sind. Damit brechen wir auch den Trend zuhöheren Steuersubventionen, nachdem die Bundesregie-rung bei den Finanzhilfen – auf der Ausgabeseite – schondeutliche Erfolge erzielt hat.
Wir haben den Kampf gegen die Subventionen nicht erstim Oktober 2002 begonnen. Er prägte die Regierungspo-litik bereits in der vergangenen Legislaturperiode. Hierwerden wir weiter voranschreiten.
Es gilt aber auch, dass wir nicht ohne Sinn und Ver-stand kürzen werden. Dies fordern ja viele, die generelleKürzungen aller Subventionen um einen bestimmten Pro-zentsatz verlangen, ohne das Ergebnis dieser Pseudolö-sung zu bedenken. Dies hätte zum Beispiel deutliche Ein-schnitte beim Aufbau Ost zur Folge, was wiederum einVerstoß gegen die innerdeutsche Solidarität und zudemvolkswirtschaftlich langfristig sehr teuer wäre.Wir gehen den schwierigeren Weg und schauen ganzgenau, was notwendig und was nicht mehr zeitgemäß ist.Deshalb werden wir auch eine Vielzahl einzelner Maß-nahmen treffen, die insgesamt aber einem gemeinsamenZweck dienen: weniger Subventionen, mehr finanziellerHandlungsspielraum für eine solide Finanzpolitik undweniger Schulden.Meine Damen und Herren, dieser Ansatz ist nicht ein-fach umzusetzen. Das zeigen die Attacken der betroffenenInteressengruppen und Lobbyisten, die den Widerstandorganisieren.
Unser Ansatz wird aber erfolgreich umgesetzt werden unddazu beitragen, dass Deutschland mit moderneren undnachhaltigeren Strukturen aus der augenblicklichen wirt-schaftlichen Herausforderung hervorgeht.
Die Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform istein wichtiger Schritt in diese Richtung.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Heinz Seiffert, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Auch ich will mit ein paar Zitaten beginnen, abermeine sind neuer, Herr Finanzminister:
„Es wird keine Steuererhöhungen geben. Die Steuerbelas-tung wird nicht steigen, sondern sinken.“ Dies sagte Fi-nanzminister Eichel am 14. April 2002. „Wir reduzieren2003 und 2005 die Steuern. Wir planen keine Erhöhungen.“So erklärte derselbe am 19. Juni 2002. „Steuererhöhun-gen sind in der jetzigen konjunkturellen Situation ökono-misch unsinnig und deswegen ziehen wir sie auch nichtin Betracht“, Zitat von Bundeskanzler Schröder am26. Juli 2002.
„Wir haben keine Steuererhöhungen geplant, keine ange-kündigt und wir werden auch keine machen“, so Ihr Über-gangsvorsitzender Stiegler am 28. September 2002. „Ichführe keine Debatte über Steuererhöhungen“, Finanz-minister Eichel am 30. September 2002.
„Es wird keine Steuererhöhungen geben“, Münteferingam 1. Oktober 2002. Herr Finanzminister, das Einzige,was bei Ihnen wirklich nachhaltig ist, sind die gebroche-nen Versprechen.
Ebenso nachhaltig ist der Anstieg der Arbeitslosigkeit.Gerade einmal acht Tage nach der Regierungsübernahmelegen Sie einen Gesetzentwurf zur massiven Erhöhung derso genannten Ökosteuer vor. Dies ist nur ein Teil einessteuerpolitischen Amoklaufs, der am Tag nach der Wahlbegonnen hat und dessen Ende noch nicht absehbar ist.
Bereits beschlossen sind die fünfte Stufe der Öko-steuer, die Erhöhung der Tabaksteuer und die Verschie-bung der Steuerreformstufe zum 1. Januar 2003. Hinzukommen jetzt Erhöhungen bei der Umsatzsteuer, eineMindeststeuer für Unternehmen, eine Aktiensteuer, eineImmobilienspekulationsteuer und eine höhere Dienstwa-gensteuer. Nicht vergessen werden sollten die Erhöhungder Renten- und Krankenversicherungsbeiträge und dasständige Gerede über eine Modifizierung des Ehegatten-splittings, eine neue Vermögensteuer und die Erhöhungder Erbschaftsteuer. Aber darüber reden wir dann nachdem 3. Februar des nächsten Jahres.
Meine Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, wasglauben Sie Ihren so genannten Führungspersönlichkeiteneigentlich noch?
Fühlen Sie sich noch wohl, wenn Sie eine solche Politikvertreten und diesen Amoklauf letztendlich mitmachenmüssen? Spüren Sie nicht, dass sich die Menschen inDeutschland – zumindest die wenigen, die noch zugeben,dass sie Sie gewählt haben –
betrogen und getäuscht fühlen? Daran ändert auch nichts,wenn Sie diesen Steuergesetzen wohlklingende Über-schriften verpassen. Diese Fortentwicklung oder Konso-lidierung der ökologischen Steuerreform ist nichts ande-res als die Fortsetzung eines Abkassiermodells, mit demSie den Menschen und Betrieben unter dem Vorwand, et-was für die Ökologie zu tun, weitere 2 Milliarden Euroaus der Tasche ziehen.
Das ist übrigens die sechste Stufe der Ökosteuer, von derder Bundeskanzler immer gesagt hat, dass es sie nie ge-ben wird – wieder ein gebrochenes Versprechen.Trotz des Abkassierens bei der Ökosteuer, trotz der Er-höhung der Bemessungsgrundlage, trotz Plünderung derReservekasse steigen die Beiträge in der Rentenversi-cherungweiter. Sie werden wohl bald bei über 20 Prozentliegen.Nichts Neues bei Rot-Grün ist, dass die Reformen imSchweinsgalopp durchgejagt werden. Schnelligkeit gehtwieder vor Sorgfalt. Der Zeitplan für Ihre Gesetze ist eineZumutung für das Parlament. Er ist eine Zumutung für dieSachverständigen, deren Ratschläge Sie offenbar garnicht hören und schon gar nicht berücksichtigen wollen.Er ist auch eine absolute Zumutung für alle, die das be-zahlen müssen, die Betroffenen.
Sie wollen diese Grausamkeiten ganz schnell durchziehenin der Hoffnung, dass die betroffenen Steuerzahler undUnternehmen das gar nicht so richtig mitbekommen. Aberdas wird ein Irrtum sein.Steuererhöhungen sind in unserer konjunkturellen Si-tuation Gift. Sie sind, wie der Bundeskanzler richtig sagte,„unsinnig“. Sie entziehen den Menschen durch Ihre Poli-tik der Steuer- und Abgabenerhöhungen immer mehrKaufkraft. Sie verunsichern die Bürger und zerstören denletzten Rest an Vertrauen, den sie vielleicht noch in diePolitik haben.Ich halte es für ziemlich dreist, Herr Eichel, wenn Sie,wie es im Gesetzentwurf heißt – Sie haben es jetzt auchwieder gesagt –, die Steuererhöhungen auf die Energie-träger als Bestätigung Ihres Konsolidierungskurses he-ranziehen. Sie erhöhen die Steuern und die Schulden, be-kommen von der EU einen blauen Brief und reden dannnoch von Konsolidierung. Für wie dumm halten Sie denndie Menschen?
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Heinz SeiffertSie bringen energieintensive Unternehmen in Exis-tenznot und schreiben in der Einleitung des Gesetzent-wurfs – auch das haben Sie wiederholt –:Nach einer fast vierjährigen Anpassungszeit könnendiese Steuerbegünstigungen in weiten Bereichen ab-geschmolzen werden, ohne die internationale Wett-bewerbssituation der Unternehmen zu gefährden ...
Ich halte das für zynisch. Sie belasten den Wirtschafts-standort Deutschland. Zumindest aus diesem Grunde hätteich eigentlich von dem neuen Superminister Clement einWort dagegen erwartet.
– Zu der Auffassung komme ich auch.
Mir sind Unternehmen bekannt, deren Produktionskos-ten allein durch diese Ökosteuererhöhung um mehr als10 Prozent steigen. Ein solcher Kostenschub kann aberweder durch Rationalisierung noch durch effizientereEnergienutzung aufgefangen werden. Wenn am Markthöhere Preise nicht durchzusetzen sind, führt dies unwei-gerlich zum Abbau von Arbeitsplätzen und zu mehr Ar-beitslosigkeit. Was sollen denn die Unternehmen in ihrerNot sonst machen?Nicht die international schwache Konjunktur, sonderneine seit gut vier Jahren falsche Politik, die Sie jetzt lustigfortsetzen, ist daran schuld, dass diesen Winter mehr als4Millionen Menschen keine Arbeit haben. Ihr ehemaligerBundeskanzler Helmut Schmidt hat völlig Recht: DieseEntwicklung ist in erster Linie hausgemacht und daranmüssen Sie sich messen lassen.
Meine Damen und Herren, dass Ihnen Nachtspeicher-heizungen ideologisch ein Dorn im Auge sind und SieMenschen, die auf diese Weise heizen, durch höhere Steu-ern abstrafen, ist schon schlimm genug. Die Ideologie istIhnen eben wichtiger als der Mensch.
Dass Sie aber den Menschen, die umweltfreundlich mitGas heizen, jährlich über 1 Milliarde Euro mehr Steuernabknöpfen wollen, ist schlicht unglaublich.
Da werden die Menschen jahrelang aufgefordert und fi-nanziell angereizt, etwas für die Umwelt zu tun und mitGas zu heizen – 70 Prozent der Haushalte in den neuenBundesländern tun dies –, und dann werden sie auf un-flätige Weise abkassiert.
Besonders viele Familien gerade in den neuen Bun-desländern sind von diesem rücksichtslosen Kurswechsel,den die Grünen offenbar ohne Widerspruch hingenom-men haben, betroffen. Andernfalls würde ich jetzt sicher-lich von Ihnen etwas zu diesem Kurswechsel hören, HerrLoske.
Wo war denn der Minister Trittin bei dieser Kabinettsent-scheidung? Sie schwächen doch auf diese Weise die öko-logische Rolle im Energiemix. Ist Ihnen das gleichgültig?Dass Sie damit in erster Linie Familien, ältere und sozialschwache Menschen belasten, scheint Sie auch nicht zuinteressieren.Finanzminister Eichel arbeitet nach dem Motto „DerZweck heiligt alle Mittel“. Für mehr Geld in seiner Kasseist er offenbar bereit, alle Grundsätze über Bord zu werfen.
Sie aber, meine Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün,machen das alles mit. Wenn Sie die Kraft gehabt hätten,rechtzeitig die dringend notwendigen Reformen bei derRente, im Gesundheitswesen und am Arbeitsmarkt durch-zuführen, wenn Sie nicht den Kapitalgesellschaften durchIhre misslungene Steuerreform in den vergangenen zweiJahren 40 Milliarden Euro geschenkt hätten und wenn Sieendlich mehr Wirtschaftswachstum ermöglichen würden,dann wären die Ökosteuer und diese neuerliche Erhöhungüberhaupt nicht notwendig.
Sie setzen mit diesen Steuererhöhungen eine falsche,für Deutschland und für die Menschen schädliche Politikfort. Deshalb lehnt die CDU/CSU-Fraktion diese Steuer-erhöhungen entschieden ab.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Reinhard Loske,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Thiele, Sie reden doch gleich. Warten Sie noch ei-nen Moment!Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das,was Sie vorgetragen haben, Herr Kollege Seiffert, war
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nicht wirklich neu. Das habe ich alles schon einmalgehört.
– Beruhigen Sie sich! Sie müssen sich schon für eine Ar-gumentation entscheiden, Herr Seiffert. – Wo ist er denn?Er sitzt ganz hinten, sozusagen als Hinterbänkler. Dabeihielt ich ihn für einen Vorkämpfer gegen die Ökosteuer.
Herr Seiffert, Sie haben ausgeführt, die energieintensi-ven Unternehmen würden durch uns in ihrer Existenz be-droht. Ich erinnere mich noch sehr gut an Debatten in die-sem Hohen Hause, in denen Sie mahnend den Fingergehoben und uns vorgeworfen haben, ausgerechnet dieenergieintensiven Industrien zu bevorzugen. Was ist dennnun richtig? Beides geht nicht.
Ich möchte – als Ökologe steht mir das vielleicht zu –einmal die ökologische Wirkung dieser Reform in denVordergrund stellen.
Herr Kollege Loske, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich würde zwar gerne meine Rede fortsetzen, aber weil
der Kollege Seiffert so nett ist, gestatte ich seine Zwi-
schenfrage.
Herr Kollege Loske, würden Sie zur Kenntnis nehmen,
dass wir nicht in erster Linie gegen die Ausnahmerege-
lungen waren, sondern insgesamt gegen die Ökosteuer?
Ich nehme zur Kenntnis, dass Ihre früheren und Ihreheutigen Aussagen wie eh und je weit auseinander klaf-fen. Das ist wirklich sehr dramatisch.
Erster Punkt. Die Sonderregelungen für das produzie-rende Gewerbe sind Subventionen – sie finden sich imSubventionsbericht der Bundesregierung –; diese werdenjetzt abgebaut. Der Steuersatz wird von 20 Prozent auf60 Prozent erhöht und beim Spitzenausgleich werdeneben nicht mehr wie in der Vergangenheit 100 Prozent,sondern nur 95 Prozent zurückgegeben. Das ist vernünf-tig; damit bleibt ein Anreiz zum sparsamen Umgang mitEnergie, gerade auch im produzierenden Gewerbe.Zweiter Punkt. Wir verwenden einen Teil des Aufkom-mens in Höhe von 150Millionen Euro für ein Altbausanie-rungsprogramm, indem wir den bisherigen Ansatz von200 Millionen Euro auf 350 Millionen Euro aufstocken.Ich glaube, das ist sehr vernünftig. Aber ich gehe davonaus, dass Sie, so wie Sie gegen das EEG, gegen das Alt-bausanierungsprogramm oder gegen das 100 000-Dächer-Programm gestimmt haben, auch gegen diese Erhöhungstimmen werden,
weil Ihnen die Ökologie eben nichts bedeutet; das ist dasProblem. Hier liegt der Unterschied zu uns.
Zu den Nachtspeicherheizungen. Das ist ein weitesFeld, aber es gibt ein berühmtes Zitat, das ungefähr so lau-tet: Mit Strom zu heizen ist so, als würde man die Buttermit der Motorsäge durchschneiden. Das kann doch nichtvernünftig sein. Eine so edle Energie wie Strom zum Hei-zen einzusetzen hat keinen Sinn. Auf Dauer dürfen wir dasnicht zulassen. Deswegen reduzieren wir dies maßvoll undschrittweise bis zum Jahr 2006 und schaffen es 2007 ganzab. Wir werden ein Umstellungsprogramm beschließenund Umstellungsbeihilfen zur Verfügung stellen. Das istsozialpolitisch und ökologisch vernünftig.
Zum Erdgas. Es ist bekannt, dass wir dazu eine andereMeinung hatten. Wir sind der Meinung, dass Erdgas zwarnur eine Übergangsenergie ist, denn wir müssen perspek-tivisch ganz aus den fossilen Energien heraus,
aber dass es spezifische Vorzüge hat. Wir lassen die Steuernun etwas moderater ansteigen als vorgesehen. Aber es istvollkommen richtig, dass wir eine geringere Erhöhungbeim Gas und eine etwas stärkere Erhöhung beim leich-ten Heizöl angemessen gefunden hätten.
– Kohle wird im Heizungsbereich ja kaum noch einge-setzt.Ich fasse die Wirkung der ökologischen Steuerreform– die Zahlen liegen vor, sie wurden vom Minister schongenannt – wie folgt zusammen: Das Umweltbundesamtsagt als Folge der Ökosteuer in ihrer jetzigen Form einenRückgang der CO2-Emissionen bis zum Jahr 2006 um9 Millionen Tonnen CO2 voraus. Das DIW sagt die Ver-Dr. Reinhard Loske
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Dr. Reinhard Loskemeidung von 20 bis 25 Millionen Tonnen CO2 bis zumJahr 2010 voraus. Wir sind aber nicht auf irgendwelchePrognosen angewiesen, sondern können auf ganz kon-krete Zahlen verweisen: Beim Benzinverbrauch hattenwir 2000 ein Minus von 4,8 Prozent und 2001 ein Minusvon 3 Prozent. Die Prognose des Mineralölwirtschafts-verbands für 2002 geht von einem Minus von 2,7 Prozentaus. Die Zahlen sind also ganz eindeutig: Die ökologischeSteuerreform wirkt, auch wenn Sie etwas anderes sagen.
Ich will noch etwas zur Verwendungsseite sagen, damitdie Proportionen deutlich werden. Es ist klar und ich gebeohne weiteres zu, dass wir haushaltsbedingt kurzfristigvom Pfad der Tugend der Aufkommensneutralität ab-weichen.
Aber man muss sich die Zahlen genau vor Augen führen:Mit der Ökosteuer erzielen wir im Jahr 2003 Einnahmenvon insgesamt 18,3 Milliarden Euro. Davon wird „nur“1 Milliarde Euro für die Haushaltskonsolidierung einge-setzt, 17 Milliarden fließen in die Rentenkasse, in die Alt-bausanierung und in die erneuerbaren Energien. Mehr als90 Prozent werden also für die Ökologie und für die Sta-bilisierung des Beitragssatzes der Rentenversicherungverwendet. Ich will Sie daran erinnern, dass der Beitrags-satz bei 20,3 Prozent lag, als wir an die Regierung kamen.Wir haben die Beiträge schrittweise auf 19,5, 19,3 und19,1 Prozent gesenkt. Jetzt müssen sie bedauerlicher-weise ansteigen.
Das zeigt in der Tat Reformbedarf an. Es gibt aber einenUnterschied: Nach Ihrem Konzept lägen wir jetzt bei über21 Prozent, nach unserem Konzept liegen wir bei19,5 Prozent. Wir müssen ihn weiter senken. Aber klar ist:Es besteht ein gewaltiger Unterschied.Danke schön.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Carl-Ludwig
Thiele für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Der heute in erster Lesung zu debat-tierende Gesetzentwurf zur Fortentwicklung der ökologi-schen Steuerreform ist der erste Teil eines gigantischenSteuererhöhungspakets und gleichzeitig Beitragserhö-hungsprogramms der rot-grünen Koalition.
Gleichzeitig ist er das Eingestehen des Scheiterns der vorvier Jahren mit großem medialen Tamtam gestartetenökologischen Steuerreform, die der Kollege Metzger das„Herzstück grüner Finanzpolitik“ genannt hat.In seiner Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998hat Rot-Grün erklärt, dass die Sozialversicherungsbei-träge von damals 42,3 Prozent des Bruttolohns durch dieEinnahmen aus der ökologischen Steuerreform auf unter40 Prozent gesenkt werden.
Der falsche Ansatz von Rot-Grün, dass die Rentenversi-cherung ausschließlich ein Einnahmeproblem und keinAusgabeproblem hat, hat verheerende Folgen für unserLand. Trotz der gesamten Ökosteuereinnahmen, die sichinzwischen auf 126 Milliarden DM belaufen, ist es nichtgelungen, die Rentenversicherungsbeiträge entsprechendzu senken. Das ist nicht nur Ihr finanzpolitischer, sondernauch Ihr sozialpolitischer Offenbarungseid.In schamloser Art und Weise belügen und betrügen Siedie Bürger mit Ihrer ökologischen Steuerreform.
Seit Jahren predigen Sie den Leuten, dass höhere Steuernauf Benzin, Heizöl, Erdgas und Strom dazu genutzt wer-den, die Lohnnebenkosten zu senken.
Gleichzeitig sinken die Rentenversicherungsbeiträge nichtetwa, sie steigen im nächsten Jahr vielmehr um 0,4 Pro-zentpunkte. Die Krankenkassenbeiträge steigen um0,7 Prozentpunkte. Dies bedeutet, dass die Lohnneben-kosten trotz der ökologischen Steuerreform von 41,3 Pro-zent in diesem Jahr auf 42,4 Prozent im nächsten Jahrsteigen werden. Das allein bedeutet einen Anstieg derLohnnebenkosten um 10 Milliarden Euro im nächstenJahr. Ich betone: Es geht dabei nur um den Faktor Arbeit,der von Rot-Grün zusätzlich belastet wird.
Damit ist die Belastung – das muss einmal gesagt wer-den – sogar höher als die, die Sie 1998 von der von Ihnenviel geschmähten Regierung übernommen haben,
und das trotz der angeblich tollen ökologischen Steuer-reform. Arbeit sollte eigentlich billiger werden. Das Ge-genteil ist unter Rot-Grün der Fall.
Herr Loske, ich zitiere aus Ihrer Rede vom3. März 1999 – vielleicht ist das auch für Sie ganz in-teressant –:Sie wissen, im ersten Schritt sollen die Beiträge um0,8 Prozentpunkte gesenkt werden, in der zweitenund dritten Stufe um weitere 0,8 Prozentpunkte.
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Damit wollen wir erreichen, dass die Sozialversiche-rungsbeiträge um 2,5 Prozentpunkte gesenkt werdenkönnen.Ende des Zitats dieses famosen, sachkundigen Steuer-,Ökologie- und Rentenexperten Loske. Damit ist dasScheitern der gesamten Konzeption der ökologischenSteuerreform der Grünen bewiesen.
Das Gegenteil von dem, was die Grünen wollten, istder Fall: Die Ökosteuer ist insgesamt um mehr als100 Milliarden DM gestiegen, die Lohnnebenkosten sind2003 höher als 1998. Die ökologische Steuerreform istdas Eingestehen eines Scheiterns grüner Politik. Dass mitdiesem Gesetzentwurf die gescheiterte Politik noch fort-entwickelt werden soll, ist nun wirklich das Letzte, wasSie uns hier zumuten; denn das können wir tatsächlichnicht gebrauchen.
Gleichzeitig belasten Sie die Bürger über höhere Ar-beitskosten, über höhere Energiekosten und über die Ver-schiebung der Steuerreform um 7Milliarden Euro. Ein wei-teres Steuererhöhungspaket liegt bereits auf dem Tisch.Sie wissen allerdings noch nicht genau, was Sie än-dern wollen: die Eigenheimzulage, die Spekulationsfrist,Dienstwagenregelungen. Es geht in der Diskussion munterhin und her. Sie versuchen Ihre Pläne auf die Zeit nach denLandtagswahlen in Hessen und Niedersachsen zu verschie-ben, um nicht sagen zu müssen, was Sie konkret wollen.Entgegen jeder finanzpolitischen Vernunft entziehenSie dem deutschen Volk Kaufkraft in Höhe von 30 Milli-arden Euro, und das bei einem Bruttoinlandsprodukt von2 000 Milliarden Euro. Das ist abenteuerlich; das ist einAnschlag auf die Arbeitsplätze; das ist ein Anschlag aufdie Wirtschaft in unserem Lande. Damit wird keine Auf-bruchstimmung geschaffen. Das Gegenteil ist der Fall.Wenn man ein Abbruchunternehmen führen wollte, dannmüsste man so handeln wie Rot-Grün, insbesondere mitdiesem Gesetz.
Das wollen wir aber nicht. Wir wollen, dass es mit unse-rem Land aufwärts geht.Abgesehen davon, dass Sie Ihre Wähler in dreisterWeise belügen, geben Sie eine Bankrotterklärung für dasgesamte ökologische Projekt ab, welches – das sage ichnach wie vor – nie ökologisch und nie logisch war. Dieökologische Steuerreform ist und bleibt nichts als ein Ab-kassiermodell unter dem Deckmantel der Ökologie. Da-mit sind Sie auf breiter Front gescheitert.Wie können Sie eigentlich erklären, dass eine Er-höhung der Steuer auf Erdgas um 60 Prozent ökologischsinnvoll ist, das Verbrennen von Kohle aber überhauptnicht besteuert wird?
Werden hiermit Umweltpolitik, Steuerpolitik oder wirdhiermit auch von den Grünen ausschließlich Klientelpoli-tik für die deutsche Kohlewirtschaft betrieben?
Ich frage mich das. Ökologisch ist daran wirklich nichts.Rot-Grün macht eigentlich nur eins, nämlich unter demDeckmantel „Öko“ die Bürger abzuzocken. Aufgrunddieser falschen rot-grünen Politik steigt die Zahl der Ar-beitslosen, steigt die Neuverschuldung und steigen dieLohnnebenkosten. Statt diese angeblich ökologischeSteuerreform fortzuentwickeln, gestehen Sie sich dochehrlicherweise ein: Das Konzept der Ökosteuer ist aufganzer Linie gescheitert. Wir verabschieden uns davonund versuchen es jetzt einmal mit der Wahrheit. – Damithaben Sie es aber nicht.Deshalb bedauere ich, dass Sie hier weitermachen; dasmacht mir Sorgen. Wir werden Ihnen das jedenfalls indieser Form nicht durchgehen lassen. Wir werden das mitden Bürgern diskutieren.
Auch wenn Sie aufgrund ganz anderer Themen die Wahlgewonnen haben, wird der Bürger sich merken, dass ervon Ihnen getäuscht und belogen worden ist. Wir werdenIhnen das in jeder Debatte hier im Deutschen Bundestagwieder unter die Nase reiben. Den Hauch von Kompetenz,den Sie im Bereich ökologische Steuerreform vielleichteinmal hatten, haben Sie spätestens mit diesem Gesetz-entwurf vom Tisch gewischt.
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ein klein wenig weniger Energieverbrauch,Herr Kollege Thiele und Herr Kollege Seiffert, würde derSache gut tun und wäre dem Thema angemessen. Ich ver-stehe ja sehr gut, dass Herr Thiele die ganzen Probleme,die Möllemann und andere der FDP bereiten, durch Laut-stärke auszugleichen versucht.
Sie haben hier versucht, durch ein akustisches Ablen-kungsmanöver Ihre eigenen Probleme zu übertönen.
Ich will ja gar nicht bestreiten, dass die Ökosteuer dasSchicksal aller anderen Steuern teilt: Die NotwendigkeitCarl-Ludwig Thiele
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Reinhard Schultz
wird im Grundsatz anerkannt, geliebt wird sie nur von we-nigen. Das ist nun einmal so.
Trotzdem muss man
den Blick auf die Frage richten, ob sie erfolgreich waroder nicht.Wir haben durch die schrittweise Anhebung der Steu-ern auf Kraftstoffe und Strom – die verstromte Kohle wirdgenauso wie das verbrauchte Erdgas mitbesteuert und isthiervon ja nicht ausgenommen; so viel dazu – dazu bei-getragen, dass Energie gespart wurde,
Erfolge beim Klimaschutz erreicht wurden
und die Nachfrage nach Energie sparenden Autos undenergieeffizienterer Technik angestiegen ist.
Auch im produzierenden Gewerbe ist seit dem Jahr2000 die Nachfrage nach Energiespartechnik deutlich an-gestiegen.
Das war ja auch der Sinn. Wir haben das angeregt, indemwir gesagt haben: Liebe Freunde, ihr erhaltet einen er-mäßigten Steuersatz. Nutzt die Zeit zur Umstellung, dennwir können auf Dauer nicht verantworten, dass im Ge-gensatz zu den Verbrauchern für euch immer nur Sonder-tatbestände gelten und ihr ökologische Subventionen er-haltet! Stellt euch um! – Das ist schon bei den erstenEinbringungsreden so gesagt worden. Viele haben dieChance tatsächlich genutzt. Vor diesem Hintergrund ist esnatürlich verantwortbar, die Steuerermäßigungen etwaszurückzunehmen. Wir sind ja immer noch nicht bei denSteuern angelangt, die der private Haushalt zu zahlen hat;da gibt es immer noch einen deutlichen Abstand.Für die vielen Unternehmen, die im internationalenWettbewerb stehen und energieintensiv produzieren,Energie brauchen, um Stoffe umzuwandeln, haben wirden Spitzenausgleich voll erhalten. Er wird jetzt anderserrechnet,
bleibt aber im Prinzip genauso erhalten. Es wird also imWesentlichen keine nennenswert oder gar unzumutbarhöhere Belastung für Zementwerke, für die Aluminium-industrie, für Glashütten, für die Braunkohleindustrieoder für andere Betroffene geben.
Wir mussten hart darum ringen, aber das haben wir er-reicht. Die Standorte dieser standortgebundenen, grund-stoffbezogenen Industrien werden nicht gefährdet. Ichdenke, das ist trotz aller Umstellungen, die wir hier vor-genommen haben, eine ganz wichtige Botschaft.Wir haben beim Vorbereitungsprozess dieses Gesetzesdafür gesorgt, dass der Selbstbehalt, also der Betrag, umden die Rückerstattung von Öko- und Mineralölsteuer re-duziert wird, für kleine Unternehmen, die jede Belastungspüren, bei 511 Euro bleibt und nicht, wie einmal geplant,heraufgesetzt wird.Man muss die Belastungen der energieintensiven In-dustrien auch im Zusammenhang mit anderen Belastun-gen sehen. Das tun wir. Neben der Ökosteuer werden auchdie Kosten für erneuerbare Energien und KWK über-gewälzt. Dies muss bei der Diskussion über den CO2-Zer-tifikatehandel berücksichtigt werden. Man muss sich einBild davon machen, was insgesamt erträglich ist, damitdie Grundstoffindustrien nicht aus dem Land gejagt oderzur Aufgabe gezwungen werden. Das wird eine wichtigeAufgabe der kommenden Monate sein.
Wir werden uns ebenso darüber unterhalten müssen,was auf die Dauer mit den anderen aus ökologischenGründen erfolgenden Subventionen geschieht. Wenn esuns durch die Mineralölsteuerbefreiung für alle biogenenKraftstoffe gelingt, dafür zu sorgen, dass diese natür-lichen Kraftstoffe künftig flächendeckend in großemMaße zur Verfügung stehen, und dafür auch die notwen-digen Aggregate angeboten werden, dann werden wir unsin den nächsten Jahren darüber Gedanken machen müs-sen, ob die Einrichtung des Agrardiesels, für die ich michpersönlich eingesetzt habe, noch sinnvoll ist und auf-rechterhalten werden sollte.
Denn ich denke, die Erzeuger biogener Kraftstoffe solltendiese auch als Erste nutzen.
Wir haben die Lenkungswirkung der ökologischenSteuerreform mit dem Gesetz, das wir heute diskutieren,eher verstärkt. Den Beitrag der privaten Haushalte wollenwir künftig fördern, indem wir ein zinsgünstiges Darle-hensprogramm auflegen, aus dem zum Beispiel die Um-setzung der Energieeinsparverordnung im Altbaubestandmitfinanziert werden soll. Mit 150 Millionen Euro proJahr mobilisieren wir etwa 2 Milliarden Euro Investi-tionsvolumen, wodurch wir im Altbaubestand dazu bei-tragen, dass Klimaschutz für die Mieter bzw. Eigentümerbezahlbar wird.
Das trifft sich mit unseren Überlegungen, mehr in denBestand als ständig neu auf der grünen Wiese zu investie-ren. Hier greifen Siedlungspolitik und Klimaschutz sehrgut ineinander.Auch das Thema Unterglasgartenbau haben wirim Auge. Solange die Unterglaswettbewerber in denNiederlanden besonders günstige Gasbezugspreise ha-
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ben, so lange können wir unsere Unterglasbetriebe nichtso belasten, wie wir es eigentlich müssten. Deswegen ha-ben wir neben dem Spitzenausgleich das Programm zurFörderung der Umstellung der Heizsysteme dieser Be-triebe verlängert. Das ist vernünftig und wird ihnen hel-fen. Es wird von diesen Betrieben auch honoriert, wie sieuns bereits erklärt haben.
Die Nachtspeicherheizung ist kein ideologischesThema. Das Problem bei diesem Heizsystem ist, dass über80 Prozent der eingesetzten Energie verloren geht, bevores überhaupt warm wird. Wir haben die Mieter, vorallen Dingen im Ruhrgebiet, über mehrere Jahre geschontund aus sozialen Gründen nicht so stark belastet wie an-dere Haushalte.
Aber das muss jetzt ein Ende haben. Wir bieten allenWohnungsbaugesellschaften und Vermietern an, diesesHeizungssystem mit unserer Hilfe und einem eigenenProgramm innerhalb der nächsten sechs Jahre durch mo-derne Heizungssysteme zu ersetzen. Das ist sozialpoli-tisch und ökologisch vernünftig.
Insofern ist die Zielgenauigkeit der ökologischen Steuer-reform deutlich verbessert.Ich komme zurück zum Zusammenhang zwischenRente und Ökosteuer. Ohne die ökologische Steuer-reform hätten wir – das ist hier bereits vorgetragen wor-den – schon im Jahr 2000 deutlich höhere Rentenversi-cherungsbeiträge gehabt, nämlich um 1 Prozentpunkt. ImJahr 2002 hätten sie um 1,5 Prozentpunkte höher gelegenund im Jahr 2003 lägen sie statt bei 19,5 bei 21,2 Prozent.Es ist nicht so, dass sich der Bund selber etwas in dieTasche stecken würde. Der Bundeszuschuss zur Renten-versicherung macht inzwischen über ein Drittel der ge-samten Rentenfinanzierung aus. Davon werden im Jahre2003 etwa 25 Prozent aus den Einnahmen der Ökosteueraufgebracht. Wer davon redet, dass – mit Ausnahme derökologischen Investitionsmaßnahmen, die ich genannthabe – irgendwo irgendetwas verschmiert werde, der sagtnicht die Wahrheit.
Wir haben einen vernünftigen Finanzierungsmix ausallgemeinen Steuern, Ökosteuer und aus Beiträgen hinbe-kommen, was gerade in dieser schwierigen Zeit Genera-tionengerechtigkeit vermittelt. Dass wir noch einenFeinschliff brauchen, ist keine Frage. Aber wer das als un-gerecht bezeichnet, der ist nicht von dieser Welt.Vielen Dank.
Nun erteile ich dem Kollegen Stefan Müller das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen,ich möchte Ihnen zunächst einmal ein Lob aussprechen:
Im Erfinden von besonders wohlklingenden Bezeichnun-gen für Ihre Gesetze sind Sie bislang wirklich unübertrof-fen.
Wir beraten heute das Gesetz zur Fortentwicklung derökologischen Steuerreform. Mit dieser Bezeichnung ver-schleiern Sie genau das, um was es eigentlich geht, näm-lich um die Einführung einer weiteren Stufe der Öko-steuer.
Damit brechen Sie Ihre im Wahlkampf landauf, landab ab-gegebenen Versprechen, bei der Ökosteuer bleibe es beider bereits beschlossenen Erhöhung zum 1. Januar 2003und sonst nichts. Mit dem nun vorliegenden Gesetzent-wurf haben Sie also erneut Wortbruch begangen. BeiIhnen gilt eben nicht das gesprochene, sondern das ge-brochene Wort.
Man fragt sich schon: Sind Sie sich der KonsequenzenIhres Handelns überhaupt bewusst? Beim Abbau derSteuererleichterungen für die Unternehmen des produzie-renden Gewerbes werden sich die Energiepreise für diebetroffenen Unternehmen drastisch erhöhen. Die Er-höhung der Steuersätze von 20 auf 60 Prozent und dieEinführung eines Selbstbehaltes von 5 Prozent werden dieIndustrie voraussichtlich mit 400 Millionen Euro zusätz-lich belasten. Für besonders energieintensive Branchenwie die Chemiebranche könnte das existenzbedrohendsein.
Die Folgen dieser Mehrbelastungen liegen auf derHand. Bei den betroffenen Unternehmen wird es zu wei-teren Rationalisierungen und zum Abbau von Arbeitsplät-zen kommen.
Die mittelständische Wirtschaft wird davon besonders be-troffen sein. Die Anhebung des Steuersatzes für Erdgastrifft gerade die Unternehmen, die in den letzten JahrenReinhard Schultz
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Stefan Müller
verstärkt auf Erdgas umgestellt haben. Dabei handelt essich genau um die Unternehmen, denen Sie immer wiedergepredigt haben, auf umweltfreundliches Erdgas umzu-steigen.
Es macht wirklich keinen Sinn, die Energie höher zu be-lasten, die die wenigsten Emissionen hervorruft.Diese Steuererhöhung ist auch deswegen problema-tisch, weil es europaweit nach wie vor keine Harmonisie-rung gibt. Länder wie Belgien, Frankreich, Spanien undIrland erheben nun einmal keine Erdgassteuer. Sie ver-schlechtern damit wieder einmal die Wettbewerbsfähig-keit der deutschen Unternehmen.
Es gibt keinen klimapolitischen Grund, die Ökosteuerfür die Industrie zu erhöhen. Die Ziele der Klimavorsor-gevereinbarungen werden von den betroffenen Branchenerfüllt. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Unterneh-men ihrer umweltpolitischen Verantwortung sehr wohlbewusst sind. Ihnen geht es lediglich darum, bei den Men-schen in diesem Land abzukassieren. Diese Steuererhö-hung ist rein fiskalisch begründet,
weil Sie hinten und vorne nicht mit dem Geld auskom-men.Die von Ihnen im Alleingang durchgesetzte Ökosteuerhat keine wirtschaftliche und ökologische Berechtigungmehr. Ihr Ziel, die Lohnnebenkosten damit zu senken, ha-ben Sie nicht erreicht. Sie haben eben verkündet, dass derRentenversicherungsbeitrag auf 19,5 Prozent erhöht wer-den soll. Wenn man die Zuschüsse aus der Ökosteuer, diein die Rentenversicherung fließen, abziehen würde, dannläge der Rentenversicherungsbeitrag bei 21,8 Prozent.
Geben Sie endlich zu, dass Sie mit Ihrer Rentenpolitik ge-scheitert sind, und nehmen Sie endlich überfällige Struk-turreformen in Angriff!
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verteuern sich ineiner konjunkturell ohnehin schon sehr schwierigen Wirt-schaftslage sowohl der Faktor Arbeit als auch der FaktorEnergie für die Unternehmen im Vergleich zum vergan-genen Jahr insgesamt um das Dreifache.Sie gefährden damit den WirtschaftsstandortDeutschland, und das, obwohl in Ihrem Koalitionsver-trag steht – ich zitiere –:Unser Land braucht eine Offensive für Wachstumund Beschäftigung. Mehr Wohlstand für alle ist nurdurch nachhaltiges Wirtschaftswachstum erreichbar.Da sind wir wieder bei dem Lob: Sie haben Recht. Nur,wie Sie mit einer solch wirtschaftsfeindlichen Politikneue Arbeitsplätze schaffen wollen, das bleibt Ihr Ge-heimnis. Wie heißt es schon so treffend bei Hamlet: „Esist schon Wahnsinn, aber es hat doch Methode.“
Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Margareta Wolf, Bündnis 90/Die Grünen.
M
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Müller, bitte hören Sie mir einmal kurz zu.Während Sie sprachen, habe ich mich daran erinnert,dass Ihre Fraktion zusammen mit Herrn Stoiber imWahlkampf über Nacht versucht hat – wir waren damalsmit dem Hochwasser konfrontiert –, zu den größtenÖkologen zu mutieren, und Herr Stoiber hier von diesemPult aus sagte: Wir brauchen eine ökologische Steuer-reform,
um den Klimaschutzzielen näher zu kommen. Daranmöchte ich Sie erinnern.
Herr Kollege Müller, Sie sagen, die ökologische Steu-erreform, unsere Energiepolitik, sei eine Politik zur Ver-hinderung der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Wo sinddenn Arbeitsplätze entstanden? – Mittlerweile sind esbereits über 100 000 allein im Bereich der erneuerbarenEnergien.
Was ist denn der Exportschlager?
Das sind die erneuerbaren Energien bzw. Energiespar-maßnahmen. Hier liegen wir in Deutschland im interna-tionalen Vergleich vorne. So viel ökonomischen Sachver-stand darf man wohl erwarten, auch wenn Sie mitpopulistischen Sprüchen an dieses Pult hier treten.
Noch eine Bemerkung. Kein Land der EU kann ver-gleichbar hohe Klimaschutzleistungen vorweisen wiewir hier in Deutschland. Herr Schultz hat darauf hinge-wiesen: Mit Einsparungen in einer Größenordnung vonmehr als 200 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten hatDeutschland mehr Treibhausgase reduziert als die EUinsgesamt.
– Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in den letztenvier Jahren haben wir die CO2-Einsparungen von unter 16
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auf über 19 Prozentpunkte im Vergleich zu 1990 steigernkönnen.
– Ich darf Sie daran erinnern, dass Frau Merkel, immer-hin einmal Umweltministerin dieses Landes, eine großeVorkämpferin der Ökosteuer war. In dieser Debatte heutehaben Sie ganz andere Sprüche gemacht.
Was wird mit dem hier vorgelegten Gesetz verfolgt? Esverfolgt das Ziel, die Lenkungswirkungen zu verbessern.
– Verehrte Kollegen, hören Sie einmal zu! – Sie haben dasproduzierende Gewerbe angesprochen. Im Wahlkampfhaben Sie landauf, landab erzählt, Subventionen abbauenzu wollen. Es könne nicht sein, dass die deutsche Wirt-schaft mit solch hohen Subventionen zugeschüttet werde.Denn letzlich sei dies – aufgrund der zur Finanzierung derSubventionen notwendigen Steuern – eher eine Belastungfür die deutsche Wirtschaft.Jetzt bauen wir bei den energieintensiven Betrieben nurrund 10 Prozent der Subventionen ab, die bisher in einerGrößenordnung von 4 Milliarden Euro gewährt werden.Nun sagen Sie: Das führt zu Pleiten und zu Mindereinnah-men von 400Millionen Euro. – Sie sollten sich einmal ent-scheiden, welche Linie Sie tatsächlich vertreten wollen.
Zu den kleinen und mittleren Unternehmen. Wir ha-ben strikt darauf geachtet – Sie sollten einmal die Kircheim Dorf lassen –, dass kleine Unternehmen über die Bei-behaltung des Sockelbetrages keine Mehrbelastung erfah-ren. Wir wollen für das produzierende Gewerbe insgesamtauch weiterhin die Vorleistungen der deutschen Industrieim Rahmen der Klimaschutzvereinbarungen steuerlichanerkennen. Das tun wir mit dem vorliegenden Gesetz.
Bei den Heizstoffen führen wir eine im Hinblick aufden Energiegehalt systematischere Besteuerung ein, umkeine Verzerrungen entstehen zu lassen. Wir führen eineim Vergleich zum leichten Heizöl um rund 5 Prozent nied-rigere Steueranpassung für Erdgas durch. Damit werdenwir den Umweltvorteil von Erdgas auch weiterhin hono-rieren.
– Lesen Sie das Gesetz wirklich einmal durch. Dazu ha-ben Sie nichts gesagt.Damit ist insgesamt der Anreiz, in Einsparmaßnahmenund effiziente Kraftwärmekopplungsanlagen zu investie-ren, deutlich erhöht. Wir fördern die Einsparmaßnahmendarüber hinaus mit zusätzlichen 150 Millionen Euro jähr-lich für ein energetisches Gebäudesanierungsprogramm.Damit können die Leute die Ökosteuer wegsparen.
– Es wäre schön gewesen, wenn Sie auch nur einen einzi-gen Vorschlag gemacht hätten, wie man tatsächlich demKioto-Ziel nahe kommt. Das tun Sie nicht.
Was machen Sie? Sie, die CDU/CSU und die FDP, sinddie größten Keynesianer seit Bestehen der Bundesrepu-blik. Sie geben nämlich ständig unzählige Milliarden aus.Deshalb können Sie gar nicht in die politische Verantwor-tung genommen werden. Jede Steuersubvention, die wirabbauen, beklagen Sie – da bricht immer das Land zu-sammen. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wieviele Hunderte von Milliarden Sie im Wahlkampf in Aus-sicht gestellt haben.Die Leute in unserem Land wissen, dass wir nachhal-tig wirtschaften müssen. Dies betrifft die Finanzpolitik,die Steuerpolitik und natürlich auch die Umweltpolitik.Das machen wir mit diesem Gesetz, meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen.
Zu den Nachtspeicherheizungen: Wir bieten Besitzernalter Nachtspeicherheizungen zusätzliche 10 Milli-onen Euro jährlich an, mit denen sie die Umstellung aufumweltfreundliche Systeme finanzieren können. Das istein Anreiz, den wir jedem geben.Letzte Bemerkung: Als Bonbon für die Nutzung um-weltfreundlicher Erdgasautos haben wir jetzt die Verlän-gerung der bisher nur bis 2009 gültigen Steuerermäßigungbis 2020 vorgesehen. Damit zahlen Sie als Nutzer einesErdgasautos nur rund die Hälfte des normalen Spritpreises.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, genau das istdie Antwort auf die Herausforderungen aufgrund der kli-mapolitisch bedingten Katastrophen; das sagt Ihnen dochjeder. Jedes Jahr nehmen Anzahl und Ausmaß der Kata-strophen zu; das ist auch beim Hochwasser der Fall. Wassagen Sie? Sie sagen, das seien alles nur Steuererhöhun-gen. Entscheidend ist aber die Lenkungswirkung, wieSie gehört haben. Zudem geben wir – gerade auch durchSteuerermäßigungen zugunsten der Umwelt – nach wievor den allergrößten Teil zurück und bieten dadurch An-reize, tatsächlich ökologisch zu wirtschaften. Die Men-schen in diesem Lande haben das honoriert und werdendas auch weiter honorieren.Herzlichen Dank.
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Norbert
Schindler für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauStaatssekretärin Wolf, hoffentlich werden, nachdem Siejetzt in die Umschulung gekommen sind, Ihre nächstenvier Jahre in der Lehre im Umweltressort besser als Ihrevier Jahre bei Herrn Minister Müller im Wirtschaftsres-sort.Herr Minister Eichel, zu den Aussagen von FrauMerkel bezüglich des Kioto-Protokolls, die Sie zu BeginnIhrer Rede zitiert haben: Ja, diese Ziele hat Frau Merkelvorgegeben. Es ist treffend gesagt worden, was Herr Kol-lege Seiffert Ihnen vorgehalten hat. Das Schlimme aberist: Mit all den Zitaten im Vorwahlkampf, beginnend abApril/Mai, haben Sie doch in der Konsequenz nicht nurdas Volk belogen. Sie haben damit auch einen ganz enor-men Vertrauensverlust in der Wahrnehmung von politi-schen Aussagen nach draußen bewirkt.
Es sind schlimme Zeichen, die da in der politischen Aus-einandersetzung gegeben wurden. Die Wahrnehmungdraußen trifft uns alle, ob in der Koalition oder in der Op-position. Deswegen bitte ich auch, in so einem Punkt inZukunft wirklich verantwortlich mit Aussagen umzuge-hen, damit die Glaubwürdigkeit in der Politik wieder denStellenwert bekommt, der uns zu Recht zusteht, den Sieaber in verantwortungsloser Weise geschliffen haben, an-gefangen bei Kanzler Schröder über führende Leute inseinem Kabinett bis hin zum Bereich der Wahlkampfaus-einandersetzungen.
Was wir heute beginnen, ist der nächste Tanz auf demVulkan für den Wirtschaftsstandort Deutschland.Wenn man den Koalitionsvertrag in Zahlen einmal nach-rechnet, stellt man fest, dass das, was bis 2006 beschlos-sen ist, Erhöhungen von rund 65 bis 67 Milliarden Euroergibt. Was wir heute diskutieren, hat Auswirkungen aufdie Mieterhöhungen im kommenden Jahr. Herr Däkerechnet mit Durchschnittserhöhungen von 170 bis180 Euro pro Monat für die Steuerzahler im Durch-schnittshaushalt.Ich will das im Einzelnen nicht nachvollziehen, aber dieGesamtbelastung für den Wirtschaftsstandort Deutschlandim internationalen europäischen Vergleich lässt sich mitfolgendem Bild ausdrücken: Man legt einem Patienten,der eine Lungenentzündung hat, eine zusätzliche Infek-tion ins Krankenbett. Meine Damen und Herren, das hältDeutschlands Wirtschaft im europäischen Vergleich nichtaus.
– Sie können von Panikmache reden, Frau Kollegin, aberwas ist denn mit der Steuerreform 2000 passiert? Diegrößte Steuerreform sollte es sein. Was hat Herr Riesterhier getönt, was er mit der größten Rentenreform alles aufden Weg gebracht hat. Ihr habt jetzt den eigenen Mist ge-erbt. Es sind eure eigenen Beschlüsse, die im Sommer desJahres 2000 so hochgelobt wurden. Ein Desaster unge-wöhnlichsten Ausmaßes zeigen alle relevanten Zahlen zuunserer Wirtschaft und zu den Steuereinnahmen.Ich habe schon von Vertrauensverlust gesprochen. Waswir jetzt beschließen, sind die ersten Schritte dahin, näm-lich 2 Milliarden Euro Mehrbelastung im privaten und2 Milliarden Mehrbelastung im wirtschaftlichen Bereich.Wir sagten nicht umsonst schon vor einem guten Jahr: Wirrauchen jetzt für die Sicherheit und wir tanken für dieRente. – Dies alles findet statt – trotz aller Aussagen, diein der Vergangenheit gemacht wurden.
Ich befürchte, dass nach dem 2. oder 3. Februar dieKiste der Pandora ganz aufgemacht wird.
Wenn die Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessengelaufen sind, reden wir hier über die Erhöhung der Erb-schaftsteuer, über die Einführung der Vermögensteuerund – das ist gestern schon einmal angeklungen – über dieErhöhung der Mehrwertsteuer. Man will diesen wichtigenTag natürlich genauso abwarten, wie man dies mit demgroßen Wahltag im Jahr 2002 gemacht hat.Was das, was in der Vergangenheit so viel gelobt wor-den ist, für uns bedeutet, auch in der strukturellen Ent-wicklung, sehen wir erst heute. Das geht bis hin zumKleingewerbe und zur Landwirtschaft. Wenn es heißt,dass es die Landwirtschaft nur in Maßen trifft, dannmuss ich erwidern – Sie wissen es doch auch, Herr Kol-lege Schultz –: Ein Unterglas-Gartenbaubetrieb wirddurch diese Beschlüsse mit 15 000 Euro neu belastet undda reden Sie vom Wirtschaftsstandort im Vergleich zuHolland! Sie kommen doch aus der Region. Sie müsstenes eigentlich wissen.
Dem Durchschnittsbetrieb, der heute schon eine Belas-tung von 3 500 Euro hat, werden noch einmal 400 bis500 Euro draufgesattelt. Aber gerade die Bauern habenbei den Lohnnebenkosten – da verkündet ihr ja immereine Entlastung; dabei muss man aber fragen: Was habtihr da alles versprochen? – keine Entlastung.
Sie haben bei der Ökosteuer – um noch einmal auf denPunkt zu kommen – eine gute Idee steuerfiskalisch miss-braucht, weil Sie nicht den Mut hatten, in den Struktur-fragen, etwa bei der Rente, die Wahrheit zu sagen und dasProblem so anzupacken, wie es dringend notwendig wäre.
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Diese Flickschusterei ist Gift für Deutschland. Die Aus-sagen, die Sie im letzten halben Jahr gemacht haben,führen dazu, dass das Vertrauen in die Politik schwindet.Ich prophezeie Ihnen: Sie werden dafür bitter, bitter ab-gestraft.Vielen Dank.
– Ich kann Ihnen dazu nur Folgendes sagen: In der „Ber-liner Zeitung“ gab es ein schönes Witzbild mit einer Kuhund da hieß es: Sie soll nicht mehr fressen, sondern mehrMilch geben. – Dabei ging es um die deutsche Wirtschaft.Sehr treffend!
Das Wort hat der Kollege Michael Müller, SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Mit-glied des Club of Rome, Frederic Vester, hat Ihre Politik,wie ich finde, völlig richtig gekennzeichnet. Er hat gesagt:Die Kampagne gegen die Ökosteuer, an deren Spitzesich Ministerpräsident Edmund Stoiber gesetzt hat,zeigt überdeutlich, worum es ihm geht, nicht um dienotwendigen Weichenstellungen, die uns und kom-menden Generationen eine lebenswerte Welt garan-tieren. Es geht ihm ausschließlich um ein parteipoli-tisches Kalkül.
Frederic Vester sagt weiter:Dabei schreckt er nicht einmal davor zurück, dieFakten bewusst zu entstellen.Auch das ist richtig.Wenden wir uns doch noch einmal dem Sinn der öko-logischen Steuerreform zu! Übrigens waren wir da schonsehr viel weiter. Ich erinnere nur daran, dass der erste Re-gierungsbeschluss zu einer ökologischen Steuerreformvom Kabinett Kohl gefasst worden ist. Das war im Jahre1990. Es ging um die Einführung einer Restverschmut-zungsabgabe zum Klimaschutz, die Sie dann allerdingsnicht umgesetzt haben, weil Sie nie den Mut dazu gehabthaben. Sie haben auch die ganze Zeit danach nichts ande-res getan, als eine Doppelstrategie zu verfolgen. Sie ha-ben die ökologische Steuerreform angekündigt, aber im-mer dann, wenn es Ernst wurde, haben Sie gekniffen. Daswar die Wirklichkeit der 90er-Jahre.
Was also ist der Sinn der ökologischen Steuerre-form? Wir sind am Beginn eines ganz neuen und sehrschwierigen Weges. Sie sagen immer, wir müssten der Be-völkerung die Wahrheit sagen. Wenn wir es tun, dann kri-tisieren Sie das auch. Wir sind aber in einer Situation, inder wir mit dem heutigen Verbrauch an Umwelt nicht wei-termachen dürfen. Bei der ökologischen Steuerreformgeht es darum, Arbeit zu entlasten und gleichzeitig dieEnergieproduktivität und die Ressourcenproduktivität zustärken.
– Sie sollten ganz ruhig sein! Sie tun so, als ob Sie mit Ih-rer eigenen Vergangenheit überhaupt nichts zu tun hätten.Ich möchte deshalb zum Beispiel auf Herrn Rexrodtzurückkommen. Er hat in einem Papier, das er vorgelegthat, für einen nationalen Alleingang bei der Ökosteuerplädiert, übrigens völlig zu Recht.
Das Papier der CDU/CSU enthält genau das gleiche Kon-zept, nämlich Entlastungen bei den Lohnnebenkosten.Auch Ihr Wahlprogramm von 1998, meine Damen undHerren von der FDP, enthält eine solche Forderung.
– Nein, in Ihrem Wahlprogramm war von Energiebe-steuerung und von der Einführung einer Ökosteuer dieRede.Ich kann ja verstehen, dass Sie das alles heute nichtmehr wahrhaben wollen; denn Sie reden den Menschennach dem Mund, statt die Wahrheit zu sagen.
Die Wahrheit ist, dass unser heutiges Wirtschaftsmodelldie Natur zerstört und deshalb nicht fortgesetzt werdendarf. Das ist doch die Wahrheit! Die ökologische Steuer-reform ist doch kein Selbstzweck.
Frederic Vester hat Recht: Das, was Sie betreiben, ist ver-antwortungslos.In der Tat hat die Ökosteuer seit 1999 Erfolge gehabt.Das zeigen alle Untersuchungen.
– Auch bei der Rente hat die Ökosteuer Erfolge zu ver-zeichnen. Immerhin ist der Beitragssatz von 20,3 Pro-zentpunkten im Jahr 1998 auf 19,1 Prozentpunkte in 2002gesunken.
Das wissen Sie ganz genau. Tun Sie doch nicht so, als obdas nicht wahr wäre.Ich möchte jetzt die wichtigsten Erfolge der Öko-steuer nennen.Norbert Schindler
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Michael Müller
Erstens. In den letzten beiden Jahren ist der Kraftstoff-verbrauch zum ersten Mal seit Ende der 70er-Jahre ge-sunken.
Zweitens. Der Heizölverbrauch stagniert. Auch das istein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Sonst gab esimmer nur Zuwächse.Drittens. Untersuchungen belegen, dass rund 60 000zusätzliche Arbeitsplätze durch die Ökosteuer geschaffenund circa 90 000 gesichert worden sind. Sie müssen dieFakten auch einmal zur Kenntnis nehmen.Nach den Untersuchungen des Bundesumweltamtessind die Kohlendioxidemissionen um rund 8 MillionenTonnen durch die Ökosteuer reduziert worden. Zum ers-ten Mal gab es in den letzten Jahren in unserem Land einestarke Steigerung der Energieproduktivität. Sie hat sichfast verdoppelt, wenn man den Zuwachs der letzten vierJahre berücksichtigt. Diese Erfolge kann man nur weg-diskutieren, wenn man sie aus parteipolitischen Gründennicht zur Kenntnis nehmen will oder sich nicht mit denFakten beschäftigt.
Wie war es bei Ihnen? Am Anfang haben Sie – das kannman Ihnen auch nicht ersparen – gesagt: Eine ökologischeSteuerreform wird es mit uns nicht geben. – Wie haben Siegegen diese Steuerreform gewettert! Aber je näher derWahltermin vom 22. September rückte, desto öfter habendie Zeitungen – völlig zu Recht – getitelt: Einknicken vonHerrn Stoiber bei der Ökosteuer – Rolle rückwärts –.Letztendlich haben Sie eine Schadstoffabgabe vorge-schlagen. Als ob das keine Ökosteuer wäre! Welche Dop-pelstrategie betreiben Sie eigentlich? Das, was Sie ma-chen, kann man in keiner Weise akzeptieren.
Sie haben behauptet, dass unsere Ökosteuer ungerechtsei, weil sie die Großen schone. Was enthielt Ihr Vor-schlag einer Schadstoffabgabe? Er enthielt – darauf hatvorhin jemand hingewiesen – viele Ausnahmen für dieIndustrie. Das ist auch vernünftig. Heute behaupten Sie,wir trieben den Wirtschaftsstandort Deutschland in dieKrise. Nein, Sie sind in Ihrer Argumentation unlogischund unsauber. Das ist das eigentliche Problem.
Wir werden es auf keinen Fall so machen, wie Sie eszwischen 1989 und 1994 gemacht haben, als Sie die Mi-neralölsteuer um 51 Pfennig erhöht haben und alle darausresultierenden Mehreinnahmen in die Kassen gesteckt ha-ben, um Haushaltslöcher zu stopfen. So sah Ihre Realitätaus. Wir dagegen leisten einen Beitrag, indem wir dasAufkommen zurückgeben.
– Sie haben stets leichtfertige Versprechungen gemacht,die Sie nie erfüllen konnten.
Wir machen eine andere Politik. Wir wollen – das istvöllig richtig – weg von der einseitigen Ausrichtung aufdie Arbeitsproduktivität, das heißt von der Übernahme derArbeit durch Technik, hin zu einer höheren Energie- undRessourcenproduktivität. Das ist überall in Europa,nur nicht bei der Opposition, als das moderne wirt-schaftspolitische Konzept anerkannt. Ich habe aber denEindruck, das wird die Opposition nie lernen.Meine Damen und Herren, man kann Ihnen jetzt langevorhalten, was Sie selbst zu diesem Thema gesagt haben.So wurde beispielsweise im Konzept 2000 derCDU/CSU-Bundestagsfraktion unter anderem mit Hin-weis auf die großen Vorteile, die man bei der Katalysator-technik erreicht hat, bewusst für eine nationale Vorreiter-rolle bei der Ökosteuer plädiert. Das wurde von HerrnRepnik unterschrieben.Ein anderes Beispiel: Herr Merz führte am 10. No-vember 1998 aus, durch die Ökosteuer sollten Steuerein-nahmen erzielt werden, um auf der anderen Seite Sozial-abgaben zu reduzieren; über ein solch sinnvolles Konzeptkann man reden.
Tatsache ist: Sie haben immer nur folgenlos geredet.Das ist der zentrale Unterschied zwischen Ihnen und uns,denn wir handeln. Wir haben nämlich eine Verantwortungfür die Zukunft, die wir auch wahrnehmen.Vielen Dank.
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Michael
Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Sie gestatten mir, dass ich Herrn Bundesumweltmi-nister Trittin vom 29. Oktober zitiere.Die einseitige Erhöhung der Erdgassteuer, insbeson-dere im Verhältnis zum Steuersatz des leichten Heiz-öls, widerspricht der ökologischen Vernunft.
Ihr Bundesumweltminister hat Ihren Gesetzentwurf ge-meint, dem er damit den Stempel „ökologisch unvernünf-tig“ aufdrückt.
Des Weiteren möchte ich Sie darauf hinweisen, dassIhr Bundesumweltminister, gestellt vom Bündnis 90/DieGrünen, befürchtet, dass die Konzeption dieses Gesetz-
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entwurfs, über den wir debattieren, die klimaschutzpoli-tische Glaubwürdigkeit des Instrumentenverbundes mitder freiwilligen Selbstverpflichtung der Industrie ge-fährdet. Das heißt, Sie stellen mit diesem Gesetzentwurfmassiv infrage, ob die Wirtschaft in Deutschland noch zurfreiwilligen Selbstverpflichtung steht. Der Umweltminis-ter in Ihrem Kabinett hat Zweifel daran.Sie sind heute meilenweit davon entfernt, eine 25-Pro-zent-CO2-Minderung bis zum Jahre 2005 zu erreichen.
Vor diesem Hintergrund gefährden Sie die freiwilligeSelbstverpflichtung. Das, was Sie hier tun, ist ökologischkontraproduktiv und klimafeindlich, Herr Kollege Müller.Sie sollten also nicht versuchen, uns Ratschläge zu geben.Sie sagen, Sie machten Energie teurer und Arbeit billi-ger. Obwohl es vorhin schon einmal angesprochen wurde,will ich es nochmals auf den Punkt bringen: Das, was Sieab 1. Januar 2003 durch die Ökosteuer einnehmen, ent-spricht 2,3 Prozentpunkten in der Rentenversicherung.Sie werden eine Anhebung auf 19,5 Prozent zum 1. Januarbeschließen. Das ergäbe einen Beitragssatz von 21,8 Pro-zent. 1998 lag der Rentenversicherungsbeitrag bei20,3 Prozent. Das heißt, Sie liegen weit höher als damalsund sind mit Ihrer Rentenreform gescheitert. Sie habenmit diesem Ansatz in der Rentenpolitik versagt.
Wenn Sie nicht zu einer Systemreform in der Rentekommen, werden Sie weiter in die Irre gehen. Die Alters-struktur unserer Bevölkerung muss sich endlich in derRentenformel widerspiegeln. Dafür haben wir übrigensgesorgt.
Sie haben den Leuten in Ihrer Koalitionsvereinbarungvorgegaukelt, dass der Betrieb von Nachtspeicherhei-zungen nicht besteuert wird. Sie haben in der 14. Wahl-periode in der Drucksache 14/40 dargestellt, dassNachtspeicherheizungen überdurchschnittlich häufig vonunteren Einkommensschichten genutzt werden und ge-rade deshalb eine steuerliche Ermäßigung gerechtfertigtsei.Genau diese unteren Einkommensschichten, die Sie inIhrer Drucksache vor vier Jahren hervorgehoben und überdie Sie gesagt haben, ihre Belastung sei sozial unverant-wortlich, belasten Sie jetzt. Das ist sozial unverantwort-lich, und zwar nicht deshalb, weil wir es sagen, sondernaufgrund Ihrer eigenen Argumentation. Lassen Sie dochdie Finger davon und machen Sie keine sozialen Schwei-nereien!
Natürlich ist es berechtigt, nach Herrn Stoiber auchFrau Merkel nach unserem Konzept zu fragen, HerrMüller. Ich sage Ihnen dazu: Wir haben ein Konzept, dasan dieser Stelle konsistent ist. Wir haben immer gesagt:Die ökologische Steuerreform muss EU-konform sein.
Sie muss im Gleichklang mit der Europäischen Union er-folgen. Wir haben immer gesagt: Sie muss wettbewerbs-konform und aufkommensneutral sein.Sie machen sie weder EU-konform noch aufkommens-neutral, noch wettbewerbskonform. Alle Bedingungensind verletzt. Deshalb sagen wir auch Nein zu dieser Öko-steuer. Wir sagen aber nicht Nein zu ökologischen Maß-nahmen im Steuerrecht, wenn sie den genannten Anfor-derungen genügen würden.
Dann halten Sie uns die Erhöhung der Mineralöl-steuer von Mitte der 90er-Jahre vor. Deren Aufkommenhaben wir natürlich zu einem Teil zur Finanzierung des öf-fentlichen Personennahverkehrs eingesetzt.
Diese Mittel fließen im Rahmen der Bahnreform. WennSie der Meinung sind, dass wir den öffentlichen Perso-nennahverkehr nicht aus dem Mineralölsteueraufkommenfinanzieren sollten, dann beantragen Sie, dass die Mine-ralölsteuer gesenkt und die Finanzierung des ÖPNVzurückgenommen wird. Bringen Sie, meine Damen undHerren von Bündnis 90/Die Grünen, einen Antrag ein, dervorsieht: Finanzierung des ÖPNV absenken. Das müsstenSie ehrlicherweise tun, wenn Sie uns den Punkt Mine-ralölsteuererhöhung vorhalten.
– Sind Sie für den ÖPNV oder gegen den ÖPNV? Beant-worten Sie doch einfach diese Frage!Ich will Ihnen vorhalten, was Sie in dieser Frage für dieWirtschaft tun: Es ist keineswegs so, dass Sie in diesemLand mehr Arbeitsplätze schaffen. Vielmehr belasten Siedas produzierende Gewerbe, Sie belasten die Landwirt-schaft und Sie belasten die Forstwirtschaft. Das ist schäd-lich für den Wirtschaftsstandort Deutschland, es ist schäd-lich für das Wachstum und es ist schädlich fürArbeitsplätze. Wenn Sie endlich eine wachstums- und ar-beitsplatzfreundliche Finanzpolitik machen würden, dannbräuchten Sie sich auch um die Haushaltskonsolidierungkeine Sorgen zu machen.
1 Prozent mehr Wachstum und Sie haben die gesamtenHaushaltsprobleme in diesem Land gelöst. Deshalb tunSie etwas dafür, dass wir Arbeitsplätze und Wachstum be-kommen. Tun Sie nicht ständig etwas dafür, dass Firmenund Unternehmen und somit Arbeitsplätze aus Deutsch-land abwandern.
Der Gesetzentwurf, der hier vorliegt, ist ein Wortbruch.Denn der Bundeskanzler hat gesagt: Es gibt nach der fünf-ten Stufe der Ökosteuer keine weitere Stufe. – Das hier istdie sechste. Von dem, was Sie jetzt in Bezug aufNachtspeicherheizungen und Heizöl planen, war vor derDr. Michael Meister
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. November 2002
Dr. Michael MeisterWahl nicht die Rede. Alles, was hier begangen worden ist,ist Wortbruch. Diesen Wortbruch werden wir und auch dieÖffentlichkeit Ihnen nicht durchgehen lassen, selbst wennSie versuchen, diesen Gesetzentwurf bei Nacht und Nebelund in kurzer Zeit durch die Beratungen zu pauken.Viel Freude bei der Beratung dieses für dieses Landund seine Menschen sehr unangenehmen und sehr feind-lichen Gesetzentwurfes.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 15/21 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an-
derweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Den neu gewählten Kolleginnen und Kollegen im
Hause empfehle ich, keine voreiligen Schlüsse hinsicht-
lich der üblichen Dauer von Plenartagen zu ziehen. Das
gilt besonders für Donnerstage.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 13. November 2002, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.