Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist er-öffnet.Zunächst möchte ich zwei Kolleginnen und einemKollegen zum Geburtstag gratulieren. Die Kollegin Dr.Erika Schuchardt feierte am 29. Januar, die KolleginMargot von Renesse am 5. Februar und der KollegeKarl-Hermann Haack am 17. Februar, also heute, je-weils den 60. Geburtstag. Im Namen des Hauses sprecheich ihnen die besten Glückwünsche aus.
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der Kollege Dr.Michael Bürsch sein Amt als Schriftführer niedergelegthat. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Helga Kühn-Mengel vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die KolleginKühn-Mengel als Schriftführerin gewählt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll dieverbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punktesind in der folgenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. ge-mäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu denAntworten der Bundesregierung auf die Fragen 14 bis 19in Drucksache 14/2664 zur Haltung der EU zur neuenösterreichischen Regierung
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle,Hildebrecht Braun , Ernst Burgbacher, weitererAbgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für eine sachge-rechte Aufteilung wirtschaftspolitischer Zuständigkeiten – Drucksache 14/2707 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Faße, UlrikeMehl, Anke Hartnagel, weiterer Abgeordneter und der Frakti-on der SPD sowie der Abgeordneten Gila Altmann, AlbertSchmidt , Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Siche-rung der deutschen Nord- und Ostseeküste vor Schiffsun-fällen – Drucksache 14/2684 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes über Fernabsatzverträgeund andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zurUmstellung von Vorschriften auf Euro – Drucksache14/2658 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung desGesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohn-ortes für Spätaussiedler – Drucksache 14/2675 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung 5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung im Hinblickauf einen möglichen Schaden für die Demokratie inDeutschland durch die aktuellen Erkenntnisse zu Prakti-ken der Parteienfinanzierung und deren mögliche Aus-wirkungen auf Mehrheitsverhältnisse in Bundesorganen 6. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/CSU,BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Einsetzung einerEnquete-Kommission „Nachhaltige Energieversorgungunter den Bedingungen der Globalisierung und der Libe-ralisierung“ – Drucksache 14/2687 – 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidemarie Wright,Iris Follak, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Steffi Lemke, Ulrike Höfken, Kerstin Müller , Rezzo Schlauch undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Waldschädendurch die Orkane im Dezember 1999 – Drucksache14/2685 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss
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7974 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
8. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: EineSteuerreform für mehr Wachstum und Beschäftigung – Drucksache 14/2688 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Hildebrecht Braun , Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P:Unternehmensteuerreform – Liberale Positionen gegendie Steuervorschläge der Koalition – Drucksache 14/2706 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss 10. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Ergänzung des Untersuchungsauf-trages des 1. Untersuchungsausschusses – Drucksache14/2686 – 11. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Aus für den Transrapid Hamburg-Berlin; Auswirkungenfür den Wirtschafts- und Technologiestandort Deutsch-landAußerdem ist vereinbart worden, den für Freitag mitTagesordnungspunkt 11 zur Beratung vorgesehenen An-trag der Fraktion der CDU/CSU „Gegen den Missbrauchvon Kindern als Soldaten“ auf Drucksache 14/2243 ab-zusetzen. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich schaue auf die Besuchertribüne und sehe, dassdort ein Gast Platz genommen hat, der Präsident der Na-tionalversammlung der Republik Kamerun, Herr DjibrilCavaye Yeguie, mit einer Abgeordnetendelegation.Herr Präsident, ich begrüße Sie und Ihre Kollegen imNamen der Mitglieder des Deutschen Bundestages sehrherzlich.
Mit großer Aufmerksamkeit verfolgen wir die Bemü-hungen Ihres Landes auf dem Weg zu gefestigten de-mokratischen Strukturen und wirtschaftlichem Wohl-stand. Hierbei leistet Ihr Parlament einen wesentlichenund verantwortungsvollen Beitrag. Seien Sie versichert,dass der Deutsche Bundestag Sie mit allen ihm zur Ver-fügung stehenden Mitteln unterstützen wird. In der Hoffnung, dass Ihr offizieller Besuch in unse-rem Lande unsere parlamentarischen Beziehungen wei-ter vertiefen möge, wünsche ich Ihnen einen angeneh-men und fruchtbaren Aufenthalt. Seien Sie uns herzlichwillkommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a bis 2 c sowieZusatzpunkt 2 auf: 2 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-desregierung Jahreswirtschaftsbericht 2000 der Bundes-regierung „Arbeitsplätze schaffen – Zu-kunftsfähigkeit gewinnen“ – Drucksache 14/2611 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss 2 b) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Wirtschaft undTechnologie zu der Unterrich-tung durch die Bundesregierung Zwölftes Hauptgutachten der Monopol-kommission 1996/1997 – Drucksachen 13/11291, 13/11292, 14/69Nr. 1.8 und 1.9, 14/1274, 14/2005 – Berichterstattung: Abgeordneter: Dr. Uwe Jens 2 c) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-desregierung Jahresgutachten 1999/2000 des Sachver-ständigenrates zur Begutachtung der ge-samtwirtschaftlichen Entwicklung – Drucksache 14/2223 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
ter und der Fraktion der F.D.P. Für eine sachgerechte Aufteilung wirt-schaftspolitischer Zuständigkeiten – Drucksache 14/2707 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionPräsident Wolfgang Thierse
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 7975
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion PDSzum Jahreswirtschaftsbericht vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache drei Stunden vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Nunmehr eröffne ich die Aussprache zum Jahreswirt-schaftsbericht. Das Wort hat der Bundesminister der Fi-nanzen, Herr Eichel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!„Arbeitsplätze schaffen – Zukunftsfähigkeit gewinnen“:Mit dem Titel des diesjährigen Jahreswirtschaftsberichtsbringt die Bundesregierung die wichtigsten Ziele ihrerFinanz- und Wirtschaftspolitik auf eine Formel: die Be-kämpfung der immer noch viel zu hohen Arbeitslosig-keit und die Schaffung von Rahmenbedingungen für ei-ne moderne leistungsfähige Wirtschaft. Die Bilanz desdiesjährigen Jahreswirtschaftsberichts zeigt, dass wirden richtigen Kurs eingeschlagen haben, um diese Zielezu erreichen. Erste Erfolge stellen sich bereits ein, nach-dem wir im vergangenen Jahr das Ruder energisch he-rumgeworfen und in Kursrichtung Zukunft eingeschla-gen haben.Modernisierung ist dabei der Leitgedanke, der dieRichtung angibt. Geradlinigkeit und Verlässlichkeit die-ser Politik bilden das Fundament. Dies ist die Grundla-ge, damit unsere Wirtschaft wieder richtig in Fahrtkommt und für den langen, steilen Weg zu mehr Wachs-tum und Investitionen auch die nötige Durchhaltekrafthat.Modernisierung heißt dabei erstens, dass unsere Wirt-schafts- und Finanzpolitik konsequent auf Europa ausge-richtet ist. Nicht mehr der nationale, sondern der europä-ische Markt und die einheitliche Währung bestimmenzukünftig die Entwicklung von Wachstum und Beschäf-tigung.In Wirklichkeit ist die Koordinierung der europäi-schen Wirtschaftspolitiken auch unter elf oder unter15 Nationalstaaten – unter elf im Blick auf die ge-meinsame Währung, unter 15 im Blick auf die Europäi-sche Union – weit vorangeschritten. Die Grundzüge derWirtschaftspolitik, die die Kommission aufstellt, die derWirtschafts- und Finanzausschuss billigt und die im Ecofin beschlossen werden, werden künftig Leitplankenfür unsere nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitikensein. Wir werden sie in Zukunft hier in die Debatten ein-führen müssen. Der makroökonomische Dialog, der aufunseren Vorschlag hin auf europäischer Ebene in Ganggekommen ist – mit einem sehr positiven Einstieg –,macht deutlich, dass die großen Partner hinsichtlich derGeldpolitik, der Lohnpolitik und der Fiskalpolitik dabeisind, eine Verständigung über den Weg in Europa zu su-chen und – der erste Einstieg stimmt hoffnungsvoll –auch zu finden.Die Konvergenzprogramme, die wir im Zuge des eu-ropäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes vorlegenmüssen – und die übrigens nach vorheriger Prüfungdurch die Kommission und dann im Ecofin sehr genauim Wirtschafts- und Finanzausschuss betrachtet werden,womit ein ganz starker Druck auf gemeinsames Verhal-ten ausgeübt wird –, werden künftig auch die Grundlagefür unsere nationale Politik sein müssen.Zweitens gilt es, solche Rahmenbedingungen zuschaffen, die die Innovationskräfte in unserem Landstärken und Investitionen sowie Existenzgründungen er-leichtern.Drittens bedeutet Modernisierung, dass wir die not-wendigen Strukturveränderungen, etwa in der Frage derAlterssicherung, konsequent angehen. Die Leitplankenfür eine solche Politik bilden dabei die Haushaltskonso-lidierung auf der einen und Entlastungen bei Steuernund Abgaben auf der anderen Seite.Dass wir auf dem richtigen Weg sind, zeigen dieKonjunkturprognosen für dieses Jahr. Die Aussichtensind gut. Die deutsche Wirtschaft hat nach der Wachs-tumsdelle Ende 1998 und im ersten Halbjahr 1999 wie-der Tritt gefasst. Die Stimmung ist so positiv wie seitlangem nicht mehr. Die Auftragsbücher der Industriesind überwiegend – ich sage „überwiegend“, weil es ei-nen kleinen Wermutstropfen bei der Automobilindustriegibt –
gut gefüllt. Die Auslandsnachfrage ist lebhaft, die Be-stellungen aus dem Inland haben zumeist ordentlich zu-gelegt.Auch im internationalen Wettbewerb kann sich diedeutsche Wirtschaft sehr gut behaupten. Die Warenex-porte bewegen sich auf einem steilen Wachstumspfad.Unsere Projektion für dieses Jahr sieht deshalb einenAnstieg des Bruttoinlandsprodukts um real 2,5 Prozentvor und liegt damit ziemlich am unteren Ende der Er-wartungen aller internationalen Institutionen und derWirtschaftsforschungsinstitute. Die Verbraucherpreise werden relativ stabil bleiben.Wir erwarten eine Inflationsrate von 1 bis 1,5 Prozent,nach dem Preisbuckel, den wir im ersten Quartal diesesJahres – das hat mit dem Basiseffekt der Ölpreissteige-rungen am Weltmarkt zu tun –
haben werden. Dass das nicht auf die inländische Infla-tionsrate durchschlägt, hat damit zu tun, dass wir an an-deren Märkten im Inneren durch Deregulierung sehrgünstige Preisentwicklungen haben. Ich nenne insbe-sondere den Strommarkt und den Telekommunikations-markt.Die Europäische Zentralbank hat für sich ein Stabili-tätsziel von weniger als 2 Prozent definiert. Von deut-scher Seite wird das nicht gefährdet.Die Zahl der Arbeitslosen wird bis zum Ende diesesJahres im Vergleich zum Ende des vergangenen Jahresum etwa 300 000 geringer sein. Damit werden wir indiesem Jahr durchschnittlich die 4-Millionen-Marke klarunterschreiten. Wir gehen davon aus, dass bis zum Jah-Präsident Wolfgang Thierse
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resende 120 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehenwerden. Die Erwerbstätigkeit wird damit um knapp0,5 Prozent zulegen.Doch dies ist längst nicht genug. Deshalb werden wirmit unserer Politik dafür sorgen, dass die Bekämpfungder Arbeitslosigkeit weiter vorankommt. Das gilt nichtnur für Deutschland, sondern auch für die europäischeEbene. Allein kann ein einzelnes Land dies ohnehinnicht mehr leisten. Ich habe eben schon darauf hinge-wiesen, dass auf der europäischen Ebene der makroöko-nomische Dialog zwischen den Gewerkschaften, der Po-litik und der Europäischen Zentralbank in Gang ge-kommen ist. Der Sonderrat von Lissabon im März wirddie Themen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, inflati-onsfreies Wachstum in Europa und Modernisierung inden Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellen. Hier können wir aber auch von den guten Erfahrun-gen anderer Länder lernen. Wachstumsfördernde Rah-menbedingungen, ein beschäftigungsfreundliches Steu-er- und Transfersystem sowie flexible Güter- und Fak-tormärkte sind die Voraussetzungen für einen Abbau derhohen Arbeitslosigkeit. Dänemark und die Niederlan-de haben uns beispielhaft vorgemacht, wie dies funktio-niert: flexible Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitregelungen,flankiert von einer Senkung der Steuer- und Abgabenlastbei gleichzeitiger Haushaltskonsolidierung. Im Falle vonDänemark hatte die Haushaltskonsolidierung den ein-deutigen Vorrang, im Falle der Niederlande spielte dieSenkung der Steuern und Abgaben eine größere Rolle.Das war dort die Basis für einen lang anhaltenden Auf-schwung und eine deutliche Verringerung der Arbeitslo-sigkeit.Auch wenn sich diese Rezepte nicht nahtlos übertra-gen lassen, zeigt sich doch: Positive gesamtwirtschaftli-che Rahmenbedingungen und strukturelle Reformenentwickeln zusammen die stärksten Wirkungen. DiesenWeg werden wir weiterhin verfolgen.
Zur Schaffung eines günstigen Umfeldes für Wachs-tum und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat zu-nächst die strikte ausgabenseitige Haushaltskonsolidie-rung Priorität. Hierzu gibt es angesichts unseres Schul-denberges keine Alternative. Bei allen Konsolidierungs-anstrengungen verlieren wir aber nicht die Konjunkturaus den Augen. Im Gegenteil: Mit einer konsequentenHaushaltssanierung schaffen wir Spielräume an denKreditmärkten und leisten so unseren Beitrag dazu, dassdie Zinsen eine gute Basis für Wachstum schaffen. Einekonsequente Haushaltssanierung bewirkt auch, dass dieFinanzierungsbedingungen gerade für die kleinen undmittleren Unternehmen vergleichsweise günstig bleibenund wir Spielräume für Steuersenkungen schaffen kön-nen, und zwar Steuersenkungen für alle, insbesonderefür die kleinen und mittleren Unternehmen sowie für dieFamilien und die Arbeitnehmer.
Dies belebt die Nachfrage, fördert Investitionen undstärkt das Wachstum. Erste Erfolge nach den Entlastungsschritten durch dasSteuerentlastungsgesetz können wir jetzt schon deut-lich erkennen. Ergänzt wird diese Entlastung durch dieSteuerreform 2000, die wir morgen hier im DeutschenBundestag in erster Lesung beraten werden. Die Entlas-tung der Unternehmen von inzwischen fast 9 Milliar-den DM im Entstehungsjahr und deutliche Senkungender Einkommensteuersätze setzen weitere wichtige Im-pulse für unsere Wirtschaft.Eine Steuerentlastung auf Pump – das werden wirmorgen diskutieren – lehnen wir ab. Das lehnen übri-gens auch alle Sachverständigen ab. Das lehnt auch, wieSie sich werden sagen lassen müssen, die EuropäischeUnion mit Nachdruck ab.
Haushaltskonsolidierung und Steuersenkungen: Da-mit habe ich die Leitplanken für Investitionen und Ar-beitsplätze skizziert. Allerdings können wir uns bei derSchaffung von Arbeitsplätzen nicht allein auf das Wirt-schaftswachstum verlassen. Gleichzeitig brauchen wirStrukturreformen zur Aktivierung von Beschäftigungs-potenzialen ebenso wie eine gezielte Arbeitsmarktförde-rung.Dabei hat für uns die Förderung von Arbeit, also vonaktivierenden Maßnahmen, sowie die Förderung vonQualifikation deutlich Vorrang vor reinen Lohnersatz-leistungen. Hierzu gehören vor allem auch verstärkteAnstrengungen in der Aus- und Weiterbildung. Das bes-te Beispiel für mich ist immer noch das erfolgreicheProgramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-keit, das wir fortsetzen werden.
Bisher haben über 200 000 Jugendliche dadurch eineneue Perspektive bekommen. In keinem Land der Euro-päischen Union geht die Jugendarbeitslosigkeit so deut-lich zurück wie in Deutschland, seit diese Bundesregie-rung unter Bundeskanzler Schröder im Amt ist.
Besondere Verantwortung für die Bekämpfung derArbeitslosigkeit haben auch die Tarifvertragsparteien.Deshalb hat die Bundesregierung das Bündnis für Ar-beit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit initiiert.Ich werte die gemeinsame Erklärung über eine beschäf-tigungsorientierte und längerfristig ausgerichtete Tarif-politik als ersten wichtigen Erfolg. Sollte es gelingen,diese Ankündigung vernünftig umzusetzen, wäre diesein wichtiges Signal für eine an längerfristigen Zielenorientierte und damit kalkulierbare Tarifpolitik. Auchdies wäre eine wichtige Grundlage für Investitionen undWachstum. Meine Damen und Herren, ich sagte eingangs, derLeitgedanke unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik auchBundesminister Hans Eichel
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im Hinblick auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit seidie Modernisierung unserer Wirtschaft. Es geht darum,unsere Gesellschaft zukunftsfähig zu machen – mit einerlebenswerten Umwelt, mit Bildungs- und Ausbildungs-chancen für alle, mit einem hohen technologischenStandard und einer modernen, international wettbe-werbsfähigen Wirtschaft. So schaffen wir die Basis füreine dauerhafte Förderung von Innovationen und In-vestitionen. Auch die Modernisierung ist immer nur im europäi-schen Rahmen zu sehen. Nehmen wir das Beispiel Öko-steuer. Mit ihr haben wir eine maßvolle, schrittweiseVerteuerung der Energie vorgenommen. Im Vergleichder europäischen Preise liegen wir auch nach diesenMaßnahmen deutlich im unteren Bereich. Wir gebendamit also keineswegs ein Preissignal, das irgendeinegeldpolitische Wirkung haben könnte. Auch einen Wett-bewerbsnachteil für den europäischen Binnenmarkt kannich beim besten Willen nicht ausmachen – im Gegenteil.
– Sie müssen ganz vorsichtig sein. Die Richtlinie zurÖkosteuer ist doch zu Ihrer Zeit, unter Ihrer tätigenMitwirkung in Brüssel formuliert worden. Wären nichtIrland und Spanien dagegen gewesen, wäre dies schondamals Gesetz geworden.
Es ist wirklich erstaunlich, was für ein kurzes Gedächt-nis Sie haben. Sie haben doch etwas Vernünftiges ge-macht. Dass wir Ihre damalige Vernunft nun gegen Sieverteidigen müssen, ist ein Drama.
Erstens senken wir mithilfe der Einnahmen aus derÖkosteuer die Rentenversicherungsbeiträge und gehendamit ein Problem an, das bisher ein Investitions- undArbeitsplatzhindernis ersten Ranges war. Wenn wir überEuropafähigkeit reden, wenn wir darüber reden, wie wirim europäischen Vergleich dastehen, werden wir fest-stellen müssen, dass wir mit unseren hohen gesetzlichenLohnnebenkosten – nur davon rede ich – in Europa aufDauer nicht werden bestehen können. Das haben Sie zuvertreten. Wir ändern diesen Zustand.
Zweitens ist es – ich wiederhole es – ein europäischerWeg. Dies zeigt die Tatsache, dass sich bis auf ein ein-ziges Land, bis auf Spanien, alle darüber einig sind, dasseine einheitliche Richtlinie zur Energiebesteuerung er-lassen werden muss. Man hat erkannt, dass die Wirt-schaft von morgen angesichts der globalen Umweltprob-leme nicht so produzieren kann, wie es die Wirtschaftvon gestern tun konnte. Der Ressourcenverbrauch mussverteuert werden, die Arbeit muss billiger werden. Die-ses Signal für Modernisierung haben wir gesetzt.
Drittens ist die Ökosteuer ein wichtiger Beitrag zurStärkung der Innovationskräfte unserer Wirtschaft. Siebewirkt eine Initialzündung für die Entwicklung neuer,Ressourcen schonender Produkte und Produktionsver-fahren. Dies ist der richtige Weg in die Zukunft.Ein weiterer wichtiger Beitrag zur Modernisierung istdie Schaffung eines leistungsfähigen, international wett-bewerbsfähigen Steuersystems. Hier leistet die Steuer-reform 2000 den entscheidenden Beitrag. Investitionenwerden erleichtert, und mit Investitionen geht in der Re-gel eine schnellere Umsetzung des technischen Fort-schritts einher. Um eine langfristige Zukunftsfähigkeit zu erreichen,müssen die Anstrengungen für Bildung und Forschungheute verstärkt werden. Wenn jeder Bereich seinen Bei-trag zur Konsolidierung leistet, gewinnen wir Freiräumefür mehr Investitionen im Bereich Forschung und Bil-dung, zum Beispiel für die Förderung der modernenTechnologien, für Fachprogramme für den Hochschul-ausbau, den wir gemeinsam mit den Ländern fortsetzen.Wir werden neue Ausbildungsberufe schaffen und be-stehende Ausbildungsberufe modernisieren. InnovativeWirkungen verspreche ich mir insbesondere von einerErleichterung des Wissenstransfers zwischen Wissen-schaft und Wirtschaft.Meine Damen und Herren, Modernisierung macht na-türlich auch nicht vor der öffentlichen VerwaltungHalt. Die Orientierung der Bundesverwaltung am Gebotder Wirtschaftlichkeit ist beispielsweise ein wichtigerReformbereich. Neue Führungs- und Steuerungsinstru-mente, der flächendeckende Einsatz von Informations-technologien – das sind nur einige Beispiele dafür, dassder Leitgedanke „moderner Staat und moderne Verwal-tung“ für uns keine Worthülse ist. Natürlich gehört auch der weitere Aufbau Ost zudieser Modernisierung zentral hinzu. Denn die Zukunfts-fähigkeit Deutschlands setzt voraus, dass die neuenLänder den wirtschaftlichen Aufholprozess fortsetzen.Sie werden von dieser Bundesregierung dabei nachhaltigunterstützt.
Der Förderschwerpunkt liegt auch hier beim Mittelstandund bei den Existenzgründern sowie bei dem weiterenAusbau der Infrastruktur, den wir noch über lange Zeitmit allen Mitteln fortsetzen müssen. Meine Damen und Herren, das Fazit: Der Jahreswirt-schaftsbericht 2000 zeigt, dass wir auf dem richtigenWeg sind. Mit unserer Wirtschafts- und Finanzpolitikgehen wir die wichtigsten Probleme unseres Landes an.Diese Probleme sind nicht nur auf eine, sondern auf einganzes Bündel von Ursachen zurückzuführen. Deswe-gen haben wir auch ein Maßnahmenpaket geschnürt.Strukturreformen, verbesserte Rahmenbedingungen undkonkrete Unterstützungsmaßnahmen – das sind unsereAntworten auf die Herausforderungen, die sich uns jetztstellen. Der Jahreswirtschaftsbericht ist die gesamtwirt-Bundesminister Hans Eichel
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schaftliche Projektion der Bundesregierung. Aber er istmehr als das: Er zeigt, auf welchem Weg wir sind, damitArbeitsplätze geschaffen werden; er zeigt, wie wir dieZukunftsfähigkeit gewinnen; und er zeigt: Wir sind aufeinem guten Weg.
Für die CDU/CSU-
Fraktion erteile ich nun dem Kollegen Michael Glos das
Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dasswir heute endlich wieder über die wichtigen Problemeunseres Landes diskutieren können.
Ich glaube, diese Diskussion ist nötig. Wir sind als Poli-tiker dafür gewählt, die Probleme zu lösen.
Die Bundesregierung hat die wichtigsten Probleme un-seres Landes nicht gelöst
und konnte sich im Schatten von Affären vor der Öffent-lichkeit verstecken.
Ungelöst ist nach wie vor die große Steuerreform,
die für sofort angekündigt war. Ungelöst ist – trotz allerReden – die Rentenproblematik. Ungelöst ist das Prob-lem der Kernenergie – oder Sie wollen aussteigen.
Ungelöst sind die Tarifauseinandersetzungen, die inFolge des Bündnisses für Arbeit gekommen sind. Unge-löst ist die Schwäche unserer Währung; das Problemwird immer stärker. Das sind die Probleme, über die wirdiskutieren müssen.
Herr Bundeskanzler, es mag Sie freuen, dass man alldies in den Hintergrund hat rücken können und dass über andere Probleme diskutiert worden ist.
Aber diese Probleme werden Sie einholen. Die Freudedarüber, dass es der Union derzeit schlecht geht, wirdnur von kurzer Dauer sein.
Sie wollten sich zu jeder Zeit am Abbau der Arbeitslo-sigkeit messen lassen. In Ihrer Amtszeit ist die Zahl derArbeitslosen um 328 000 gestiegen.
Die Eingriffe bei den 630-Mark-Jobs waren ein erfolg-reiches Arbeitsplatzvernichtungsprogramm.
Ich sage es noch einmal: Trotz aller Beteuerungen istnach wie vor keine echte Rentenreform in Sicht. Das,was man mit den Rentnern vorhat, ist Betrug; und wirnennen es auch so. Ich meine die willkürliche Ausset-zung. Das ist bisher das Einzige, was beschlossen wor-den ist. Eine echte Gesundheitsreform steht nach wir voraus. Die jetzige Budgetierung ist nichts anderes als eineRationierung zulasten der Patienten und ein Marsch indie Zweiklassenmedizin.
Die viel gepriesene Ökosteuer – Herr Eichel hat sichnoch einmal ausdrücklich dazu bekannt – ist ein Rohr-krepierer. Sie trägt nicht zur Energieeinsparung bei. Siedient lediglich zum Abkassieren bei den deutschen Au-tofahrerinnen und Autofahrern.
Es ist noch nicht zu Ende. Drei weitere Stufen sind be-schlossen. Auch diese Stufen werden sich preistreibendauswirken.Was jetzt Herr Klimmt auf den Tisch gelegt hat, istebenfalls kein besonders geschickter Klimmt-Zug. Die-ses so genannte Notprogramm gegen den Stau wird dieProbleme auf den deutschen Autobahnen nicht lösen.Das Interessanteste am Jahreswirtschaftsbericht istnicht unbedingt das, was darin geschrieben steht, son-dern das, was ausgeklammert worden ist. So steht aufden 91 Seiten des Jahreswirtschaftsberichtes nicht ein-mal das Wort „Euro-Schwäche“. Das ist eines unserergrößten Probleme. Das hat langfristige Auswirkungenauch auf die Stabilität bei uns im Land.Der Bundeskanzler hat am 10. November 1998 beiseiner Regierungserklärung im Deutschen Bundestag er-klärt: Wir wollen nicht, dass der Euro Deutsch spricht.Wir wollen einmal davon absehen, dass er vielleichtdamit irgendjemand Zucker geben wollte, weil wir jawissen, dass auf der linken Seite des Hauses ein gewis-ser Deutschenhass verbreitet ist.
– Entschuldigung. Das Schlimme ist, dass der Euro jetztoffensichtlich Italienisch spricht. Italien ist auch einStück weit kommunistisch regiert, was heute durchausBundesminister Hans Eichel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 7979
en vogue ist. Daran stört sich niemand. Wenn andereLänder demokratisch andere Entscheidungen treffen,dann wird das von der gesamten Europäischen Unionzensiert.
Mit der verräterischen Aussage, der Euro solle nichtDeutsch sprechen, ist ein verhängnisvoller Kurswechselbei der Stabilität eingeleitet worden. 15 Monate nachdieser Erklärung ist sehr viel bittere Wirklichkeit ge-worden. Man kann und muss zur Kenntnis nehmen:20 Prozent Abwertung gegenüber dem japanischen Yen,13 Prozent Abwertung gegenüber dem britischen Pfund,16 Prozent Abwertung gegenüber dem amerikanischenDollar. Mit einem Kurs von 2 DM muss heute so viel fürden Dollar wie seit über 10 Jahren nicht mehr bezahltwerden.Der Präsident der Europäischen Zentralbank Duisen-berg hält nationale Preisziele bei anhaltender Euro-Schwäche für gefährdet. Das ist die eigentliche ver-hängnisvolle Langzeitwirkung, so willkommen es kurz-fristig einmal für den deutschen Export zu sein scheint.
– Entschuldigung, Sie können dann später reden, HerrKollege. – Ich zitiere nun den französischen Notenbank-Gouverneur Trichet. Auch er warnt vor einer importier-ten Inflation.
Die Briten, in deren Glanz sich der Bundeskanzlerselbstverständlich gerne sonnt – Tony Blair ist schließ-lich sein bester Freund –, gehen mehr und mehr auf Dis-tanz zu Europa und zur Europäischen Währungsunion,weil sie Folgen für ihre Stabilität befürchten.Die Menschen geraten dadurch natürlich in Sorge umihr Erspartes. Ein schwacher Außenwert kann sehrschnell auch den Binnenwert einer Währung gefährden,wie wir alle wissen. Über die preistreibenden Folgen derÖkosteuer haben wir schon gesprochen. Die überzoge-nen Lohnforderungen tragen ebenfalls zu dieser Schwä-che bei. Auch Staatsinterventionismus bei bestimmtenKonzernen aus parteipolitischen Werbegründen vor Par-teitagen tragen zu dieser Euro-Schwäche bei.
Was gleichzeitig noch mehr besorgt macht: DerPreisanstieg hat sich bereits kräftig beschleunigt. Im Ja-nuar 1999 lag er bei plus 0,2 Prozent, ein Jahr später, imJanuar 2000, bei plus 1,6 Prozent. Die Tendenz ist leiderweiter steigend. Darüber sollten wir sprechen. Dasmacht uns allen Sorge. Im Jahreswirtschaftsbericht heißtes trotzdem verharmlosend: Die Stabilität des Preisni-veaus bleibt ungefährdet.
Wer Gefahren verharmlost, der läuft Gefahr, dasssich diese Gefahren verstärken und dass dann das ein-tritt, was wir alle nicht wollen, nämlich eine neue Lohn-preisspirale. Für mich ist es deshalb unabdingbar: DieBundesregierung muss endlich wieder ein klares Signalgeben, dass ein starker Euro im europäischen und imdeutschen Interesse ist.
Bei aller verständlichen Freude – ich habe es vorhinschon einmal gesagt – für unsere Exportindustrie: DieBundesregierung muss in dieser stabilitätspolitischschwierigen Lage die weiteren Stufen der Ökosteueraussetzen.Deutschland braucht mehr Investitions- und Wachs-tumsdynamik. Das ist unabdingbare Voraussetzung zurLösung einer Vielzahl von Problemen. Es ist Vorausset-zung für die Lösung des Problems Euro-Schwäche. Esist Voraussetzung für die Konsolidierung der Staatsfi-nanzen. Es ist Voraussetzung für eine Rentenreform, dieden Namen verdient, weil auch die Quellen der Rentewieder stärker gespeist werden müssen, indem mehrLeute in Arbeit und Brot kommen. Gleichzeitig ist esnatürlich auch der Schlüssel zur Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit.Der amerikanische Wirtschaftsmotor brummt seit vie-len Jahren. In diesem Jahr wird es dort ein reales Wachs-tum von 4 Prozent geben.
Viele Länder in der Europäischen Union verzeichnenkräftige Zuwächse: Irland plus 7,5 Prozent, Luxemburgplus 4,75 Prozent, Finnland plus 4,25 Prozent, Spanienund Schweden plus 3,75 Prozent, Frankreich und Hol-land plus 3,5 Prozent. Deutschland hinkt mit einemWachstum von knapp 2,5 Prozent weit hinterher. Dassind die Fakten.Und die Arbeitslosigkeit – das ist die Kehrseite derMedaille – ist in der EU deutlich gesunken, außer inDeutschland: um 2 Prozent in Spanien, um 1,4 Prozentin Irland, um 1,1 Prozent in Frankreich, um 0,8 Prozentin Holland, Finnland und Dänemark, um 0,6 Prozent inBelgien. In der Bundesrepublik Deutschland dagegen istdie Arbeitslosigkeit, wie gesagt, nicht gesunken.Das ist die Bilanz Ihrer Regierungspolitik zur heuti-gen Stunde. Sie müssen sich deshalb fragen lassen, HerrBundeskanzler, warum das so genannte Bündnis fürArbeit, das Sie selbst zum Kernstück Ihrer Regierungs-arbeit erklärt haben, jetzt schon gescheitert ist. DieseBündnisvereinbarung zwischen Arbeitgebern und Ge-werkschaften war ein einziges Dokument der Beliebig-keit. Diese Seifenblase ist schon jetzt geplatzt; das istnur nicht eingestanden worden. Es sollte ein großerDurchbruch in Richtung einer mehrjährigen Beschäfti-gungspolitik sein. Bereits nach wenigen Tagen hat sichMichael Glos
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7980 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
gezeigt: Das war alles nur ein Formelkompromiss.Plötzlich gab es Lohnforderungen von 5,5 Prozent. Auch die Schlussfolgerung, das Bündnis für Arbeitbringe in diesem Jahr eine Abnahme der Arbeitslosen-zahl um 200 000, ist, Herr Bundeskanzler, verräterisch.Die gleiche Prognose stellt übrigens die Bundesanstaltfür Arbeit. Sie sagt allerdings, dass der Rückgang von200 000 daher kommen wird,
dass weniger Menschen Arbeit suchen, weil mehr Men-schen aus dem Erwerbsleben austreten als in das Er-werbsleben eintreten.
Es gibt keinerlei Erfolg Ihrer Bemühungen. Wir brau-chen diese Erfolge aber für unser Land.
– Das liegt nicht daran, wie wir mit Zahlen umgehen. Eszeigt doch vielmehr inzident, dass man letztendlichselbst nicht an das Ergebnis der Bemühungen glaubt. Ichfinde, auch hierüber verdient die Öffentlichkeit eine rea-listische Aufklärung.
Für diese wirtschaftspolitische Nullnummer hätteman keine Spitzengespräche gebraucht, keine Steue-rungsgruppe, keine Benchmarkinggruppe und keinesonstigen neuen Arbeitsgruppen.
Ich kann nur sagen: außer Spesen nichts gewesen! DieseBundesregierung lässt es zu, dass die IG Metall dieBündniserklärung als Alibi für verstaubte Vorschlägefür eine Rente mit 60 missbraucht. Wir wissen ganz ge-nau, dass die Jungen diese Rente mit 60 finanzierenmüssten.
Wir wissen, dass sich unsere Arbeitsmarktproblemenicht durch Umverteilung vorhandener Arbeitsplätze lö-sen lassen. Wir brauchen stattdessen Wirtschafts-dynamik. Wir wissen auch, dass man erfahrene Fach-kräfte, die man mit 60 oder noch früher wegschickt,nicht ohne weiteres durch schlecht ausgebildete jungeKräfte ersetzen kann, die nicht entsprechend eingearbei-tet sind. Das geht nicht so rasch. Letztendlich kann mandieses Problem nicht statisch lösen.Gerade für kleine und mittlere Betriebe ist die Erfah-rung dieser älteren Arbeitnehmer unverzichtbar.
Deswegen ist es auch unverantwortlich, sie in die Rentezu drängen. Wir müssen eine Politik für die Zukunftmachen. Wenn die Jungen neben ihren eigenen Renten-beiträgen und der notwendigen privaten Zusatzvorsorgeauch noch die vorzeitige Rente für die Älteren finanzie-ren sollen, ohne dass sich dauerhaft entsprechende Ge-genleistungen abzeichnen, dann ist es kein Wunder,wenn sie aus unserem Rentenversicherungssystem aus-steigen.
Deswegen sage ich es noch einmal: Wir brauchen keinerunden Tische, sondern wir brauchen endlich das Han-deln der Regierenden.
Sie haben gewaltige Mehrheiten. Sie haben derzeit sogardas Glück, eine Opposition zu haben, die sich sehr starkmit sich selbst beschäftigt. Ich verspreche Ihnen aber:Das wird wieder besser. Wir brauchen eine Steuerreform aus einem Guss.
Hierfür hat die CSU gemeinsam mit der CDU Eckpunk-te vorgeschlagen. Darüber werden wir in dieser Wochenoch diskutieren. Wir brauchen vor allen Dingen einerasch wirkende Nettoentlastung, um die Kaufkraft zustärken.
Wir brauchen die Senkung aller Steuersätze über dengesamten Tarifverlauf.
Wir brauchen Impulse für Wachstum und Beschäfti-gung. Auf Ihre Frage, Herr Schwanhold: „Wie viel darfes denn sein?“, eingehend, sage ich: Wir brauchen eineNettoentlastung in einer Größenordnung von circa50 Milliarden DM. Wir brauchen vor allen Dingen Steu-ersätze zwischen 15 und 35 Prozent.
Der Spitzensteuersatz darf nicht aus ideologischenGründen von der Steuersenkung ausgenommen sein.
Sonst laufen wir Gefahr, dass immer mehr leistungsfä-hige Arbeitskräfte verloren gehen.
Im Bereich der gut verdienenden Spezialisten wandernheute durch die Globalisierung und Europäisierung Ar-beitskräfte und Arbeitsplätze ins Ausland ab,
weil man viel vom Bildschirm aus erledigen kann.
Michael Glos
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 7981
So sehr wir die Globalisierung auch begrüßen, so sindwir auf der anderen Seite gezwungen, Gegenmaßnah-men durchzuführen. Das kann man aber nur marktwirt-schaftlich, indem man den Arbeitskräften bezüglich derSteuersätze das gleiche Angebot macht. Ein Bauer kann seine Hühner zwar einzäunen, vor al-lem, wenn er sie ökologisch halten will – dafür sind dieGrünen sicher –, aber man kann Arbeitskräfte nicht ein-sperren und immer noch glauben – jetzt greife ich wie-der auf die Hühner zurück –, dass goldene Eier gelegtwerden. Die Bundesregierung will die Wachstums- und Be-schäftigungsprobleme von heute mit Steuersenkungenvon übermorgen lösen. Herr Eichel, es wäre redlich ge-wesen, wenn Sie bei der Darstellung Ihrer Steuerreform,die Sie gepriesen haben – ein wenig Selbstlob gehörtimmer dazu –,
auch gesagt hätten, dass die entscheidenden Entlastungs-schritte erst im Jahr 2005 eintreten sollen.
Wir brauchen sie allerdings jetzt, um das PflänzchenKonjunktur zu kräftigen.
Ich hätte eigentlich niemals geglaubt, dass es untereinem sozialdemokratischen Kanzler, der sich auf Öko-sozialisten stützt, möglich ist – –
– Sagen Sie einmal, Herr Schlauch, betrachten Sie dasinzwischen als Schimpfwort?
Habt ihr euch so weit von der Basis, die euch einmal ge-tragen hat, entfernt, nur weil ihr nun in den Sesseln derMacht sitzt?
Wenn Ökosozialist ein Schimpfwort ist, dann weiß ichnicht mehr weiter. Eigentlich wollte ich aber etwas anders sagen.
Ich finde es einmalig – das ist ein Skandal –, dass mangroßen, leistungsfähigen Konzernen – Bankkonzernen,Versicherungskonzernen und Industriekonzernen – beimBeteiligungsverkauf einen Nullsteuersatz einräumenwill, während man bei kleinen Mittelständlern bei Be-triebsaufgabe gnadenlos abkassiert.
Wenn wir einen solchen Vorschlag zu Zeiten von TheoWaigel gemacht hätten, dann hätten uns Ihre Genossennachts die Bude angezündet, der Mob hätte auf denStraßen getobt.
Das ist letztendlich die Wahrheit.Wir wissen doch noch, in welchem Klima des Klas-senkampfes wir unsere Steuerreformvorschläge vom Pe-tersberg im Deutschen Bundestag durchsetzen mussten.Anschließend sind sie von Ihnen, Herr Eichel, sabotiertworden. Das ist die Wahrheit.
Etwas anderes: Große Aktiengesellschaften sollenbevorteilt werden. Darüber kann man reden, aber dannmuss auch Gerechtigkeit für die Kleinen gelten. Bei Ih-nen sollen die Kleinaktionäre schonungslos abkassiertwerden. Herr Eichel, ich kann nur sagen: Wenn man die Eichelaktie am Neuen Markt einführen würde, wäre sienach kurzer Zeit ein Flop, obwohl da heute die tollstenDinge laufen.
Der geplante Übergang vom Vollanrechnungsver-fahren bei der Körperschaftsteuer hin zum Halbein-künfteverfahren trifft nun einmal die Aktionäre mitmittleren Einkommen, Herr Schwanhold. Wenn es nichtrichtig ist, können Sie es anschließend darstellen. Wenn jetzt noch jemand von Umverteilung von untennach oben redet, so hat er dafür eine Berechtigung. VorJahren haben Sie das immer gesagt; da hatten Sie nie ei-ne Berechtigung für diese Aussagen.
Wir werden jedenfalls einen Nulltarif bei der Besteu-erung weniger großer Leistungsfähiger und ein Abkas-sieren der Kleinen im Bundesrat nicht mitmachen.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Ausstiegaus der Kernenergie sagen. Ausstieg aus der Kern-energie bedeutet steigende Strompreise und Ver-schlechterung der Wettbewerbsfähigkeit der strom-verbrauchenden Industrie. Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet die stärkereAbhängigkeit von Energieimporten. Dadurch wird aufdie Dauer auch der außenpolitische Spielraum Deutsch-lands geringer. Michael Glos
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7982 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet einen techno-logischen Fadenriss in einer wichtigen Zukunftstechno-logie. Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet eine geringereweltweite Reaktorsicherheit. Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet eine Nichtein-haltung der internationalen Klimaschutzvorschriften –und das alles, obwohl man sich das Klima und die Um-welt aufs Panier geschrieben hat. Wir von der CDU und der CSU werden deswegen –das sage ich auch Herrn Müller, der hierüber verhan-delt – diesen Weg nicht mitgehen, auch nicht, wenn esIhnen gelingt, sich mit den Bossen der Kernenergie zueinigen. Das ist lang nicht unsere Position.
Wir werden alle rechtlichen und gesetzlichen Möglich-keiten einsetzen, um diese falsche Weichenstellung zuverhindern, unabhängig davon, was Sie mit den großenBossen vereinbaren. Die großen Bosse diktieren nichtuns, sondern Sie lassen sich vielleicht von denen etwasdiktieren.
Deswegen sage ich es noch einmal: Ich freue mich,dass wir heute in großer Sachlichkeit über Wirtschafts-probleme diskutieren können,
und kann Sie nur auffordern:
Herr Bundeskanzler, beziehen Sie die Vorschläge, dieIhnen die Opposition macht, zum Wohle unseres Landesauch in Ihre Regierungsarbeit ein. Vielen Dank.
Ich erteile dem Kol-legen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, dasWort. Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrKollege Glos, es ist in diesen Tagen wahrlich nichtleicht, sich mit Sachpolitik auseinander zu setzen, weildie Spendenaffäre der CDU und auch die Selbstbedie-nungsmentalität im Parteienfilz alles andere überlagert.Der Flurschaden, der eingetreten ist, wird uns mögli-cherweise noch Jahre zu schaffen machen. Was hier Spitzenpolitiker, allen voran der Altbundes-kanzler Helmut Kohl und der ehemalige InnenministerManfred Kanther, angerichtet haben, hat das Grundver-trauen in die Politik, in den politischen Betrieb erschüt-tert und schweren Schaden angerichtet. Es ist wahrlichtragisch anzusehen, dass selbst die, die um Aufklärungbemüht sind und heute nicht hier sind, sich aus ihrerSelbstverstrickung überhaupt nicht befreien können. Ichbedauere das sehr, weil die politischen Talente – –
– Ja, natürlich. Das ist durchaus ein Verlust, wenn esnicht mehr zu dieser Auseinandersetzung kommt, diewir hier im Parlament brauchen, weil die politischen Ta-lente rar sind und weil auch die Umstände und Maßstäbefür den Rücktritt und das Verschwinden von der politi-schen Bildfläche in Deutschland sehr unterschiedlichund sehr fragwürdig sind. Während die einen wegenWidersprüchen und Lügen abtreten müssen, können dieanderen sich trotz erwiesener Stasispitzelei halten. Auchdarüber sollten wir einmal nachdenken.
Sie können mir glauben: Es bereitet keine Lust, mit an-zusehen, wie die Grundwerte und Grundfesten dieserRepublik mittlerweile erschüttert werden. Wir haben imDeutschen Bundestag eine hohe Verantwortung und ste-hen vor einer großen Bewährungsprobe, dafür zu sorgen,dass die politische Willensbildung, zu der wir bekannt-lich mitverpflichtet sind, jetzt nicht in Politikverdrussund Aversion umschlägt.Zum eigentlichen Thema: Der vorliegende Jahres-wirtschaftsbericht gibt Anlass zu Optimismus. Währendim vergangenen Jahr das Wirtschaftswachstum bei1,4 Prozent lag und die Arbeitslosigkeit nur wenig zu-rückgegangen ist, zeichnet sich zu Beginn dieses Jahresein Wirtschaftsaufschwung ab, der sich auf relativ ho-hem Niveau stabilisieren wird. Abweichend von den üb-lichen Ritualen könnten wir uns darüber wirklich ge-meinsam freuen,
falls wir in diesen für die Politik lausigen Zeiten noch zugemeinsamer Freude fähig sind. Aber vielleicht ist esgenau das, was der Politik manchmal fehlt und ihr einenzänkisch-neurotischen Charakter verleiht, nämlich dasswir uns über wichtige und positive Dinge nicht freuenkönnen;
denn selten zuvor waren die Aussichten so gut wie indiesem Jahr und für die kommenden Jahre. Alle Kon-junkturindikatoren wie Auftragseingang, Geschäftsklimaund Aktienindex weisen nach oben. Die Prognosen derMichael Glos
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Wirtschaftsforschungsinstitute werden in diesem Jahrmöglicherweise sogar noch übertroffen. Es besteht alsoGrund für Optimismus. Optimismus ist schließlich einesder wichtigsten Wachstumshormone in der Wirtschaft.
Die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts um2,5 Prozent wird sich auch deutlich auf den Arbeits-markt auswirken. Kollege Glos, es ist nicht nur auf demographische Faktoren zurückzuführen, dass mit200 000 bis 300 000 weniger Arbeitslosen zu rechnenist; denn es werden auch 120 000 neue Stellen geschaf-fen. Wenn Sie den Jahreswirtschaftsbericht genau analy-siert hätten, dann wären Sie darauf gestoßen. Sie sindvielleicht unzufrieden darüber, weil Sie selbst noch inden letzten Tagen Ihrer alten Regierung von der Halbie-rung der Arbeitslosigkeit gesprochen haben. Das ist infataler Weise auch eingetreten: Ihre Halbierung sah soaus, dass es etwas über 2 Millionen Arbeitslose im Wes-ten und etwa 2 Millionen Arbeitslose im Osten gab. Sosah die Situation aus, als wir die Regierung in diesemLand übernommen haben. Jetzt haben wir eine Trend-wende auf dem Arbeitsmarkt erreicht. Die Arbeitslosig-keit nimmt wirklich ab.
Hinsichtlich der Geldwertstabilität und der Zinsent-wicklung wird in dem Bericht für meine Begriffe einetwas zu optimistisches Bild gezeichnet. Allerdings ge-hen selbst die größten Pessimisten von einer maximalenSteigerung der Zinsen um 1 Prozentpunkt auf 4 Prozentaus. Das wird der wirtschaftlichen Entwicklung keinenAbbruch tun und das können wir ohne größere Problemeverkraften.
Wir sollten diesen Erfolg nicht kleinreden; denn erhat nicht nur mit der Wirtschaftsentwicklung und deranhaltenden Konjunktur in den USA sowie damit zu tun,dass sich die meisten Krisenländer dieser Welt wesent-lich schneller erholt haben, als wir das erwartet haben,und jetzt der wettbewerbsstarken deutschen Industrieund Wirtschaft Impulse geben. Sicherlich spielt auch dieSchwäche des Euro eine Rolle. Aber das hat, wie manam Exportboom sieht, auch positive Wirkungen.Es gibt – es ist viel wichtiger, dass wir das hier her-ausarbeiten und betonen – aber auch erste und ziemlichklare Signale für ein Anspringen der Binnenkonjunk-tur und der Binnennachfrage. Hier lohnt sich schon einegenauere Betrachtung; denn der unglückliche Start derrot-grünen Regierung und das erste holprige, wenigglanzvolle Jahr haben natürlich zunächst in der Wirt-schaft zu Skepsis und Attentismus geführt. Nun ist man,glaube ich, doch eher wieder optimistisch hinsichtlichder Entwicklung gestimmt. Die Panikmache, dieSchwarzmalerei und so manche Regelung wie die der630-Mark-Jobs haben sich überhaupt nicht so ausge-wirkt, wie das hier dargestellt worden ist,
im Gegenteil: Das eigentliche Ziel, nämlich den mas-senhaften Missbrauch dieser Jobs zu verhindern, ist imGrunde genommen erreicht worden. Das war das eigent-liche Anliegen.
Selbst hinsichtlich der Scheinselbstständigkeit wardie Regierung in der Lage, die erkannten Fehler zu kor-rigieren. Auch das mögen Sie als Anzeichen für eineneue Politik betrachten, die in der Lage ist, über sichselbst kritisch zu reflektieren und Korrekturen vorzu-nehmen, und die nicht mit Starrsinn reagiert, wie wir esfrüher erlebt haben: Augen zu und weitermachen.Zum Glück haben wir jetzt also eine stabile undhandlungsfähige Regierung, die aus den überhastetenAnfangstagen gelernt hat und die sich nicht durch dieSchwäche der Opposition, sondern aus eigener Kraft ge-festigt hat.
Sie liefert nun Schritt für Schritt klare Marschrichtungs-zahlen, an denen man sich orientieren kann. Das hatVertrauen geschaffen und wirkt sich positiv auf die In-vestitionsbereitschaft und auf die Binnenkonjunktur aus.Hinzu kommt die gelungene Haushaltskonsolidie-rung. Damit verbunden ist der glaubhafte Wille, mittel-fristig einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen undden geerbten Schuldenberg abzutragen. Ein Staat, derseine Finanzen im Griff hat und nicht über seine Ver-hältnisse lebt, erspart sich kontraproduktive Spekulatio-nen über Steuererhöhungen. Im Gegenteil, er kann sichSteuerentlastungen in angemessenen Größenordnungenleisten. Allein durch das, was wir morgen diskutieren, wer-den die Bürger und die Unternehmen demnächst um et-wa 44 Milliarden DM entlastet. Nimmt man die gesamteSteuerreform und den Familienlastenausgleich, den die-se Regierung angeschoben hat, zusammen, dann ergibtsich eine Nettoentlastung von insgesamt 73 Milliar-den DM. Das ist die größte Steuerreform, die diese Re-publik je erlebt hat. Das müssen wir immer wieder deut-lich machen.
Die Steuerreform ist sozial ausgewogen, an Wachs-tum und Beschäftigung orientiert; gleichzeitig werdeninternational wettbewerbsfähige Steuersätze eingeführt.
Zugegeben, das Steuerrecht wird nicht gerade einfa-cher und logischer. Allerdings halte ich die Kritik derUnion für kleinkariert und nörglerisch. Abgesehen vonDetailregelungen ist die Reaktion aus der Wirtschaft Werner Schulz
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7984 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
überwiegend positiv. Sie können Ihre Vorschläge in denweiteren Beratungen einbringen.
Schon heute steht fest: Die vorgesehene steuerlicheFreistellung von Veräußerungsgewinnen hat eine enor-me Dynamik ausgelöst. Galt der Standort Deutschlandbis vor kurzem noch als verkrustet und zu teuer, so wirder bereits im Vorfeld der Steuerreform als Niedrigsteuer-land bezeichnet und deutsche Aktien werden als heißerAnlagetipp gehandelt. Das Allzeithoch des DAX ver-deutlicht die Aufbruchstimmung in vielen Bereichen derdeutschen Wirtschaft. Was sich hier abspielt, beschreibtden Wandel weg von den alten Schornsteinindustrienhin zu modernen Sektoren der Wissens-, Informations-und Dienstleistungsgesellschaft. Kollege Glos, Sie ha-ben das Ganze, was sich hier abspielt, überhaupt nichtverstanden. Ich hatte den Eindruck, Ihre Rede war in derArt eines bayerischen PDS-Vorsitzenden gehalten.
Fast reziprok zu den steigenden Aktienkursen fälltdas Ansehen früherer Regierungspolitiker. Mit Wuchterfüllt sich offenbar die so oft dahergesagte Vermutung,dass nichts so bleibt, wie es war, und dass die BonnerRepublik zu Ende geht. Seit dem Ende der Ära Kohl undnun mit denkmalstürzender Geschwindigkeit erleben wireinen Abschied aus dem Beziehungsgeflecht des Natio-nalstaates, der korporatistischen Gesellschaft. Wir erleben, dass die Globalisierung eben nicht nurein Thema für Talkshows oder der Blickfang unsinnigerAnzeigenkampagnen ist. Die Vernetzung der Welt unddas neue Wirkungsgefüge lassen die erstarrten Struktu-ren in der Wirtschaft und in der Politik zerfallen. DieKonsensgesellschaft löst sich dort auf, wo sie als Klün-gelwirtschaft bestand.Vielleicht anders als erwartet und dennoch ein-drucksvoll markiert der Beginn des Jahres 2000 einenepochalen wirtschaftlichen Um- und Aufbruch: auf dereinen Seite die Rettungsaktion des Bundeskanzlers fürden schwer angeschlagenen Holzmann-Konzern, aufder anderen Seite die so genannte feindliche Übernahmevon Mannesmann durch Vodafone. Treffender könnteman diesen Umbruch eigentlich gar nicht symbolisieren.Hier der vermutlich letzte Versuch staatlicher Interven-tion zur Rettung eines Großunternehmens, dessen An-teilseigner – vor allem die Banken – alles zur Rettungihres Kapitals und herzlich wenig zur Rettung des Be-triebes getan haben, dort die Schaffung des fünftgrößtenKonzerns der Welt, finanziert, wenn man so will, ausEigenmitteln bzw. über die Börse.Beide Beispiele verweisen allerdings auch aufschwerwiegende Defizite. So zeigt der Fall Holzmann,dass die Unternehmensaufsicht in Deutschland nichtausreichend ist. Die Einfluss- und Kontrollmöglichkei-ten von Aufsichtsräten sind zu gering und wurden oben-drein sträflich vernachlässigt.
Wir fordern hierfür schon seit langem Veränderungen.Eine verbesserte Kontrolle durch Aufsichtsrat undHauptversammlung ist die wesentliche Voraussetzungfür die Schaffung einer neuen Aktienkultur in Deutsch-land. Das gibt den Anlegern mehr Sicherheit und Trans-parenz.Der Fall Mannesmann/Vodafone hat eine andereSchwachstelle des deutschen Finanzmarktes bloßgelegt.Bisher gibt es keine verbindlichen Regeln für die Über-nahme von Unternehmen. Die weltweite Fusionswellerollt, ohne dass in Deutschland private Kleinaktionärevor Nachteilen geschützt sind. Deswegen ist es dringendgeboten, dass wir im Vierten Finanzmarktförderungsge-setz oder in einem speziellen Übernahmegesetz verbind-liche Regeln festlegen, die sich an dem EU-Richtlinien-entwurf und dem freiwilligen Übernahmekodex derKommission orientieren und den Interessen von Anle-gern wie Kleinaktionären oder Arbeitnehmern gerechtwerden.
Grenzüberschreitende, weltumspannende Unterneh-men mit Umsätzen, die weit über dem Bruttoinlandspro-dukt der meisten Staaten dieser Erde liegen, zeigen al-lerdings auch die Grenzen politischer Einflussnahmenationaler Regierungen auf die ökonomische Entwick-lung auf. Der Chef der Deutschen Bank, Rolf E. Breuer,hat kürzlich festgestellt, dass das alte System der Finan-zierung und Kontrolle von Unternehmen durch die Ban-ken zusammenbreche. Auch die deutsche Wirtschaftentwickele sich zunehmend zu einer Wirtschaft der Ei-genfinanzierung. Für ihn ist das Signal klipp und klar:Das bedeutet das Ende der Deutschland AG. Ausgedienthat damit nicht die soziale Marktwirtschaft, der gebän-digte, so genannte rheinische oder westdeutsche Kapita-lismus, sondern der reformunfähige, allumfassende, al-les regelnde Fürsorgestaat. Es gilt, die Rolle des Staatesneu zu bestimmen. Durch den Jahreswirtschaftsberichtzieht sich deswegen auch das Leitbild des aktivierendenStaates: eines Staates, der sich auf seine Kernaufgabenkonzentriert, sich seiner begrenzten Ressourcen bewusstist und mehr Freiräume für gesellschaftliche Eigeninitia-tive und Selbstorganisation schafft. Wir müssen die unheilvolle Spirale wachsender An-sprüche der Gesellschaft und deren Erfüllung durch denStaat zurückschrauben, um den Kollaps zu verhindern.Gute Politik ist gefragt. Sie misst sich nicht an der Höheder staatlichen Aus- und Aufgaben. Gute Politik läuftnicht über geheime Finanzierung, sondern über den of-fenen und fairen Wettbewerb der Ideen. Den Umbau desSozialstaates – Stichworte sind Rentenreform und Ge-sundheitsreform – und die föderalen Herausforderun-gen – Länderfinanzausgleich, Ländergebietsreform, Ver-waltungsreform – können wir nur im Abwägen des Fürund Wider, im Ausklamüsern der besten politischen Lö-sung meistern. Ich will einige Felder herausgreifen, die das neueStaatsverständnis der rot-grünen Regierung zeigen: Fürden Abbau der Arbeitslosigkeit, um beim dringendstenProblem anzufangen, wurde eine bessere Koordinationauf nationaler Ebene geschaffen. Hierzu wurde dasWerner Schulz
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Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbs-fähigkeit ins Leben gerufen. Das ist keine wesensfrem-de Angelegenheit der bundesdeutschen Wirtschaftsord-nung, wie der Sachverständigenrat kritisiert, sondern esverhält sich wohl eher so, dass man nicht mehr daran ge-wöhnt ist, dass es einen regelmäßigen, kontinuierlichen,verbindlichen und konstruktiven Dialog zwischen Poli-tik, Wirtschaft und Gewerkschaften gibt.
Er ist ja gerade in den letzten Jahren der Regierung Kohlsystematisch verhindert worden. Auch erste Erfolge sindzu vermelden: Man hat sich maßvolle Tarifabschlüssevorgenommen, es besteht die Bereitschaft zur Reformdes Flächentarifs, zur Schaffung von Korridoren undÖffnungsklauseln, zum beschäftigungswirksamen Ab-bau von Überstunden. Das Bündnis für Arbeit – das sage ich hier klipp undklar – kann allerdings nur Erfolg haben, wenn alle Betei-ligten zum Geben und Nehmen bereit sind und sich andie Abmachungen halten. Die Regierung hat mit ihremZukunftsprogramm 2000, mit der Steuerreform und mitdem Sofortprogramm gegen die Jugendarbeitslosigkeitimmense Vorleistungen erbracht und auch ein hohesMaß an Geduld bewiesen. Jetzt sind die Arbeitgeber undGewerkschaften gefragt. Die Faustzahlen der IG Me-tall – 5,5 Prozent Lohnerhöhung, Rente mit 60 – sind je-doch nicht gerade hilfreich, um den Produktivitätsfort-schritt in Beschäftigung umzusetzen. Das ist eher einRückfall in die Zeiten von Brenner und Steinkühler.
Man hat mehr den Eindruck, als ob hier ein Bündnis ge-gen die Arbeitslosen zustande kommen soll. Es emp-fiehlt sich dabei durchaus noch einmal ein Aufenthalt inDänemark oder den Niederlanden, wo das Ganze länger-fristig funktioniert hat. Dort kann man studieren, was zutun ist, um zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit zukommen. Statt Tariffonds für die Frührente einzurichten,sollten wir Tariffonds eher für eine Offensive nutzen,um Teilzeitarbeit voranzubringen.Die Bundesregierung und die sie tragende Koalitionhaben im letzten Jahr mit einer Fülle von Maßnahmenden Strukturwandel in der Wirtschaft unterstützt unddamit Wachstum und Beschäftigung gefördert. Ich er-wähne hier nur das Aktionsprogramm für den Weg indie Informationsgesellschaft, das jetzt aufgelegt wurde.Damit wird ein Wirtschaftszweig gefördert, dessen Ent-wicklung zu den spannendsten in der Wirtschaft über-haupt gehört. Hier bestehen vor allen Dingen Chancen für kleineund mittlere Unternehmen. Gerade der Mittelstand unddas Handwerk liegen uns am Herzen. Hier liegt das Grosder Arbeits- und Ausbildungsplätze. In diesem Bereichhaben wir das Hauptaugenmerk auf die Verbesserungder Investitionsbedingungen, auf die Unterstützung vonExistenzgründern, die verbesserte Kapitalversorgung,auf den Bürokratieabbau usw. gerichtet. Gerade in dieserWoche ist in den zuständigen Ausschüssen der Entwurfeines Gesetzes zur Verbesserung der Zahlungsmoral be-raten worden. Auch dies ist ein wesentlicher Beitrag da-für, Liquiditätsengpässe und Schwierigkeiten im Mit-telstand zu verhindern und zu überbrücken.
Ein Strukturwandel, der die Gemüter am meisten er-hitzt, findet in der Energiepolitik statt. Damit meine ichden Ausstieg aus der Kernenergie und – dies ist ebensowichtig und gehört dazu – den Einstieg in eine zukünfti-ge Energieversorgung. Es ist an der Zeit, dass die Kern-kraftwerksbetreiber, die erkannt haben müssten, dass sienoch lange mit der jetzigen Bundesregierung zu tun ha-ben werden, endlich den Ausstieg, den sie intern längstverfolgen, verbindlich vereinbaren. Dies wäre für uns al-le von Nutzen und würde endlich den Blick dahin ge-hend freigeben, dass wir ein weltweit einzigartiges Pro-gramm zur Nutzung der regenerativen Energien einge-leitet haben, und zwar mit den Komponenten 100 000-Dächer-Programm, einem Marktanreizprogramm für re-generative Energien und einem geplanten Gesetz hin-sichtlich der erneuerbaren Energien. Diese Veränderungen in der Energiewirtschaft sindein wesentlicher Beitrag zur ökologischen Modernisie-rung und zu einer auf Nachhaltigkeit angelegten Ent-wicklung. Im dialektischen Duktus eines Trierer Philo-sophen müsste man heute sagen: Im 20. Jahrhundertwurde das Problem der Umweltzerstörung nur erkannt,im 21. Jahrhundert müssen wir es lösen.Meine Damen und Herren, die Anzeichen deuten aufeinen dauerhaften Wirtschaftsaufschwung. Wir sehendas mit verhaltenem Optimismus; andere gehen sogarweiter – wie auch immer. Es gibt jedenfalls keinenGrund, vom Kurs der Haushaltsdisziplin und der Konso-lidierung, der Strukturreform und der Neuorientierungstaatlicher Aufgaben abzuweichen. Die Zeiten desWohlfahrtsstaates – egal ob bei BAföG oder Rente –sind vorbei. Die Systeme müssen strukturell verbessertund angepasst werden. Es reicht nicht aus, kurzfristigZuschüsse zu erhöhen, weil jetzt die Steuereinnahmenzufällig wieder sprudeln. In einer Zeit, in der die CDU –selbst verschuldet – mit drastischen Einsparungen rech-nen muss, gilt es, die Erkenntnis und die Erfahrung zuvermitteln, dass nur Sparsamkeit, Klarheit und Wahrheitden Weg aus der Krise bahnen können.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rainer Brüderle, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! „Nur mit einer konstanten Wirt-schaftspolitik ist eine ausreichende Investitionstätigkeitzu erreichen. Ohne Konstanz ist auch die Wettbewerbs-ordnung nicht funktionsfähig.“
Diese Sätze stammen von Walter Eucken, dem geistigenWegbereiter unseres Wirtschaftssystems, der sozialenMarktwirtschaft.Werner Schulz
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7986 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Konstanz in der Wirtschaftspolitik, das ist heute lei-der keine Selbstverständlichkeit mehr. Dies ist vielmehreine notwendige Einleitung einer Rede zu einer Zeit, inder sich Wirtschaftspolitik immer mehr von ordnungs-politischen Zusammenhängen entfernt, zu einer grün-roten Zeit, in der Wirtschaftspolitik durch sprunghafteEntscheidungen, fehlende Konsequenz und mangelndeBerücksichtigung marktwirtschaftlicher Funktionswei-sen gekennzeichnet ist.
Der Wirtschaftspolitik fehlt seit anderthalb JahrenVerlässlichkeit.
Sie trägt zur Verunsicherung von Bürgern und Unter-nehmen bei. Sie führt dazu, dass Investoren längst einenBogen um den Standort Deutschland machen. Sie trägtzu Kursverfällen an den Devisenmärkten bei und be-schädigt das Image des Wirtschaftsstandortes Deutsch-land.
Dass der Euro – Deutschland ist in Euro-Land das größ-te Land und hat mit Abstand die größte Wirtschafts-kraft – täglich derart abgewertet wird, hat seinen Grund:Die Ursache liegt in der mangelnden Anpassungsfähig-keit in Deutschland.
Es ist schon merkwürdig: Hier debattieren praktischnur Wirtschaftspolitiker miteinander. Nur die Bundesre-gierung schickt ihren Finanzminister. Herr Eichel, ichgebe zu, Sie haben schon viele Fehler Ihres Vorgängerskorrigieren müssen. Dennoch fordere ich Sie auf: Korri-gieren Sie einen weiteren Fehler!
Geben Sie die wirtschaftspolitische Grundsatzabtei-lung dahin zurück, wo sie hingehört, nämlich ins Wirt-schaftsministerium!
Grün-rote Wirtschaftspolitik wird durch medienge-rechte Ad-hoc-Entscheidungen bestimmt. Eine ord-nungspolitische Linie ist nicht mehr erkennbar. DieRückgliederung der Grundsatzabteilung, des ordnungs-politischen Gewissens, in das Wirtschaftsministerium istnach unserer Ansicht eine notwendige Voraussetzung,dieser Entwicklung entgegenzuwirken.Herr Eichel, wir verfolgen durchaus nicht ohne Sym-pathie Ihre Versuche, die Schulden abzubauen. Ihr Mi-nisterium ist mit den elementaren Herausforderungen inder Steuer- und Finanzpolitik gut beschäftigt. Anderewirtschaftspolitisch wichtige Vorhaben im Geld- undKreditwesen, wie etwa ein neues Finanzmarktförde-rungsgesetz oder eine politische Initiative zu den neuenEigenkapitalrichtlinien, werden derzeit aber an den Randgedrängt.Auch die europäische Wirtschafts- und Strukturpoli-tik wird in Ihrem Haus derzeit stiefmütterlich behandelt.Ich nenne in diesem Zusammenhang etwa die Problema-tik des Euro und den Komplex der Landesbanken; dieWestLB lässt grüßen. Außerdem ist es wenig sinnvoll,wenn europäische Beihilfepolitik im gleichen Ministeri-um angesiedelt ist, in dem über die Gewährung von Bei-hilfen fiskalisch entschieden wird. Deshalb, Herr Eichel,geben Sie im Interesse der wirtschaftspolitischen Leis-tungsfähigkeit der Bundesregierung die Europaabtei-lung und die Abteilung Geld und Kredit zurück in dasMinisterium für Wirtschaft!
Diese organisatorische Rückgliederung ist auch deshalbgeboten, weil sich die praktische Wirtschaftspolitik zu-sehends von der Konzeption der sozialen Marktwirt-schaft entfernt. Das ordnungspolitische Gewissen istquasi ruhig gestellt. Statt auf Wettbewerb zu setzen unddie Marktkräfte zu stärken, wendet sich die Bundesre-gierung der instrumentalen Beliebigkeit zu. Sie betreibteine Wirtschaftspolitik, vor der Walter Eucken immergewarnt hat: eine Politik des Punktualismus.Die Liste der ordnungspolitischen Sünden von Grün-Rot ist lang. Dazu zählen das Zurückdrehen der markt-wirtschaftlichen Reformen der alten Bundesregierung,die Fälle Holzmann und Mannesmann, die Gewinnver-wendungssteuerung im Rahmen der Unternehmensteuer-reform, die diskriminierende so genannte Ökosteuerre-form, die Verzögerung bei der Liberalisierung der Post-märkte und der Versuch der nationalen Abschottung ge-genüber dem Ausland etwa in der Energiepolitik.
Sie betreiben eine korporatistische Politik, statt Ver-antwortung zu übernehmen und zuzuweisen. Sie wollendie Koordinierung und Harmonisierung in der europäi-schen und internationalen Wirtschafts- und Beschäfti-gungspolitik, statt den Systemwettbewerb zu fördern.Wo man hinschaut, kann man den Versuch erkennen,den Markt und den Wettbewerb durch politische Eingrif-fe quasi auszuhebeln. Sie wollen die Zeit zurückdrehenund wie in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhun-derts sozusagen Wirtschaft machen. Sie wollen vomSchiedsrichter zum Mitspieler werden.
Grün-Rot betreibt eine Politik der Intervention, der Pro-tektion und des Kollektivismus.Mit der Abwendung vom Markt und vom Wettbe-werb verlassen Sie nicht nur die Grundlagen der sozia-len Marktwirtschaft; Sie behindern vor allem notwendi-ge marktwirtschaftliche Anpassungsprozesse. Sie schaf-fen dauerhafte Investitions- und Wachstumshemmnisse:630-Mark-Regelung, Gesetz zur Scheinselbstständigkeit,Atomausstieg und Ökosteuer.
Rainer Brüderle
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Sie verhindern vor allem das Entstehen neuer, wettbe-werbsfähiger Arbeitsplätze.Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge-samtwirtschaftlichen Lage hat zu Recht drei Reformblö-cke aufgezeigt, die vor allem die Wirtschaftspolitikdringend in Angriff nehmen muss: die Reform des Ar-beitsmarktes, die Steuerreform und die Reform der So-zialversicherung, hier insbesondere der Reform der Al-terssicherung.
Zum Arbeitsmarkt. Im Jahreswirtschaftsberichtstellt die Bundesregierung zu Recht fest, dass die Erstar-rungen auf den Güter- und Faktormärkten den Abbauder Arbeitslosigkeit verhindern. Das ist interessant.Noch interessanter wird es, wenn im gleichen BerichtDänemark und die Niederlande lobend erwähnt werden.Diese konnten ihre Erfolge am Arbeitsmarkt durch mo-derate, beschäftigungsorientierte Lohnabschlüsse undflexible Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitregelungen erzie-len.
Diese Einsicht ist erstaunlich. Die Worte des Jahres-wirtschaftsberichtes stehen aber, wie bei dieser Bundes-regierung üblich, wieder einmal in krassem Widerspruchzu ihren Taten. Grün-Rot sorgt mit seiner Politik dafür,dass sich die Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarktweiter verschlechtern. Die Bundesregierung setzt aufArbeitsumverteilung statt auf neue Jobs, sie redet, Armin Arm mit den Gewerkschaften, dem Überstundenab-bau, der Frühverrentung und der Arbeitszeitverkürzungdas Wort. Sie erstickt mit ihrer Politik das zarte Flexi-bilisierungspflänzchen und zieht das Korsett des Ar-beitsmarktes enger, als es ohnehin schon ist. Des Kanzlers Funktionärsstammtisch, das Bündnisfür Arbeit, hat bis heute nichts bewegt, aber vieles ver-hindert. Der so genannte Durchbruch bei dieser Ge-sprächsrunde hat beschäftigungsfeindlichen Lohnforde-rungen und der volkswirtschaftlich unsinnigen Rente mit60 den Weg geebnet. Welche Gefahren von diesemFrühverrentungsmodell für den Arbeitsmarkt ausgehen,sollten Sie einmal genau im Sachverständigengutachtennachlesen. Die fünf Wirtschaftsweisen haben das Milli-arden teure IG Metall-Modell als Irrweg bezeichnet.
– Sie mit Sicherheit nicht. Das Bündnis für Arbeit ist längst ein Bündnis gegenReformen geworden. Es ist ein letzter verzweifelter Ver-such, das Tarifkartell zu retten. Die Interessen derjeni-gen, die arbeitslos sind oder Angst um ihren Arbeitsplatzhaben, werden durch den Schulterschluss von Verbands-funktionären und Bundesregierung nicht beachtet. Dabeiächzt der Arbeitsmarkt immer mehr unter der Selbstblo-ckade eines erstarrten Tarifkartells. Das Holzmann-Debakel belegt eindrucksvoll die Schwäche und Unbe-weglichkeit des Tarifvertragsystems. Der Flächentarif-vertrag, der alles bis in kleinste Detail regelt, verhindertneue Arbeitsplätze.
Er wird zudem von der Wirklichkeit längst ausge-höhlt. Die Mitglieder laufen den Tarifparteien scharen-weise davon. Die Tarifverträge werden besonders in denneuen Bundesländern unterlaufen. 60 Prozent der Ar-beitsplätze dort befinden sich außerhalb des Tarifver-tragsrechts.
In Ostdeutschland haben bereits 75 Prozent der Unter-nehmen den Arbeitgeberverbänden den Rücken gekehrt.Gerade hier werden Tarifverträge in Übereinstimmungvon Unternehmen und Mitarbeitern immer wieder be-wusst verletzt. Die Wirklichkeit in den neuen Ländernist weiter als das Gesetz.
Dieses Beispiel belegt einmal mehr, dass gerade ausOstdeutschland wichtige Anstöße für Reformen kom-men. Beispiele hierfür sind der Ladenschluss und dasAbitur nach dem 12. Schuljahr, was de facto eine Ver-längerung der Lebensarbeitszeit bedeutet. Die ostdeut-schen Bürgerinnen und Bürger haben sich selbst zurChefsache Ost erklärt. Dazu brauchen sie keinen Kanz-ler, der nur warme Worte, aber keine Taten für sie übrighat.
Meine Damen und Herren, eine Reform des Tarifver-tragsrechts ist überfällig. Die F.D.P. fordert deshalb dieEinführung von gesetzlichen Öffnungsklauseln, diefreiwillige Betriebsvereinbarungen zwischen Unterneh-men und Belegschaft ermöglichen. Wir wollen zudemdas gesetzliche Günstigkeitsprinzip erweitern. Lohn-und Arbeitszeitzugeständnisse müssen möglich sein,wenn dadurch Arbeitsplätze gesichert werden.
Wir wollen außerdem der Tendenz zu Verbandskla-gen im Arbeitsrecht gesetzlich entgegenwirken. Es kannnicht sein, dass – wie im Falle Viessmann – dann, wenn98 Prozent der Belegschaft, um ihre Arbeitsplätze, ihrWerk in Hessen zu halten, länger arbeiten wollen, diesdurch eine Klage der IG Metall verhindert wird.
Wir wollen die Rechte des einzelnen Mitarbeiters stär-ken und die Fremdbestimmung durch Verbände zurück-drängen.
Wir brauchen ordnungspolitisch klare Rahmenbedin-gungen, die den einzelnen Unternehmen und Beschäftig-ten mehr Spielräume für arbeitsplatzsichernde und ar-beitsplatzschaffende Vereinbarungen lassen. Statt einerStrategie, die alleine auf die Umverteilung von Arbeitsetzt, brauchen wir einen Befreiungsschlag –Rainer Brüderle
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7988 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
für mehr Beschäftigung in Deutschland. Die Arbeits-marktergebnisse der Länder mit flexiblen Regelungensind deutlich besser als in Deutschland.Zur Steuerpolitik. Herr Eichel, Ihre Steuerreform of-fenbart einige bemerkenswerte Kehrtwendungen der Fi-nanzpolitik der Sozialdemokraten. Sie gehen erstmalsvon einem Selbstfinanzierungseffekt von mehreren Mil-liarden DM aus. Als die F.D.P. diesen steuerpolitischenAnsatz in ihr Konzept einbezogen hat, galt für Sie – unddas noch bis vor kurzem – immer das Credo: Ohne Ge-genfinanzierung läuft nichts. Jetzt schließen Sie sich aufeinmal unserer Auffassung an, dass eine Steuersenkungin der Wirtschaft Wachstumseffekte auslöst und damitdas Steueraufkommen mittelfristig erhöht. Gratulationzu dieser Einsicht.
Anders als Ihr Vorgänger Lafontaine wollen Sie nichtnur die Nachfrageseite, sondern auch die Angebotsseitestärken, indem Sie das Investitionsklima der Steuersen-kung verbessern. Bis vor kurzem wollte die SPD aus-schließlich die Kaufkraft stärken. Auch hier haben Siezumindest teilweise die ökonomischen Grundtatsachenakzeptiert, dass bessere Angebotsbedingungen zu mehrWachstum und Beschäftigung führen können.
Anders als andere wollen Sie keine schuldenfinan-zierte Steuerreform. Auch das ist vernünftig, denn beieiner Staatsquote von fast 50 Prozent sind genug fiskali-sche Spielräume vorhanden, um eine umfassende Steu-erreform ohne eine Ausweitung des Defizits zu finanzie-ren,
zumal Ihr Kollege, der Bundeswirtschaftsminister Müller, große Subventionskürzungen versprochen hat.Falls er immer noch auf die Kürzungsvorschläge wartet,etwa im Steinkohlebereich, kann er sicherlich warten,bis er schwarz wie die Kohle wird. Er muss endlichselbst aktiv werden, sonst passiert überhaupt nichts.
Doch nicht nur Ihr Kollege muss mehr tun, auch Sie,Herr Eichel. Denn bei der Unternehmensteuerreformhaben Sie sich verrannt. Sie haben die Reform aus derPerspektive der großen Konzerne, der großen Kapitalge-sellschaften konzipiert. Nur für sie gibt es eine systema-tische einfache Lösung. Für den Großteil der Unterneh-men in Deutschland, nämlich die mittelständischen Ein-zelpersonenunternehmen, wollen Sie komplizierte Rege-lungen durchsetzen.
Damit stellen Sie sich aber gegen Ihre eigenen Zielvor-gaben. Denn im Jahreswirtschaftsbericht heißt es, dieBundesregierung strebe ein einfaches und gerechtesSteuersystem an. Das so genannte Optionsmodell ist dasGegenteil. Die Idee, aus Personenunternehmen per Steu-ergesetz sozusagen virtuelle Kapitalgesellschaften zuformieren, ist völliger Unfug.
Doch den Mittelstand in die Rechtsform der Kapital-gesellschaft zu drängen ist offensichtlich von Ihnen ge-wollt. Anders sind Ihre Äußerungen, Herr Eichel, nichtzu verstehen, Deutschlands Unternehmen müssten sichauch bei der Wahl der Rechtsform an internationalenMaßstäben messen lassen. Doch gerade um die mittel-ständische Struktur, die als Grundvoraussetzung das spe-zifische Eigentumsinteresse des selbsthaftenden Unter-nehmers hat, wird Deutschland in der Welt beneidet.Mehr Kapitalgesellschaften bedeuten eben nicht gleich-zeitig ein Mehr an Innovation, Wachstum und Beschäf-tigung.
– Herr Schwanhold, vielleicht haben Sie auch einmal ei-ne Erkältung, dann lache ich auch. Sie sollten sich viel-leicht als Minister ein bisschen mehr Niveau ange-wöhnen, sonst werden Sie nicht ernst genommen.
– Ihr Mitgefühl ist wirklich entwaffnend. Die Unternehmensteuerreform könnte das Ende desselbsthaftenden Unternehmertums in Deutschland ein-läuten. Dieser gefährlichen Entwicklung kann die F.D.P.weder im Bundestag noch im Bundesrat die Hand rei-chen.
Meine Damen und Herren, wir müssen Deutschlandzurück zum Steuersystem führen, das die wirtschaftli-chen Entscheidungen der Bürger und Unternehmen nichtvon vornherein präjudiziert. Es darf nicht von der Be-steuerung abhängen, ob sich jemand selbstständigmacht, seinen Lebensunterhalt mit Wohnungsvermie-tung bestreitet oder eine abhängige Beschäftigung an-nimmt. Es darf ebenfalls nicht von der Besteuerung ab-hängen, ob ein Unternehmen investiert oder rationali-siert. Ein Steuersystem sollte eben nicht bevormunden,sondern die Entscheidungsfreiheit der Bürger und derUnternehmen akzeptieren.
Persönliche Neigungen oder Begabungen, Risikoein-stellung und Marktlage müssen die Maßstäbe sein. DasRainer Brüderle
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 7989
Steuerkonzept der F.D.P. trägt diesem Maßstab Rech-nung. Alle Einkünfte von natürlichen und juristischenPersonen sollen einfachen, international üblichen Stu-fentarifen mit Grenzsteuersätzen von 15 Prozent, 25 Prozent und 35 Prozent unterliegen. Die Gewerbe-steuer wird gänzlich abgeschafft. Unser Modell ist so einfach und überzeugend, dassselbst Ihr Fraktionschef, Herr Struck, den ganzen letztenSommer damit hausieren ging.
Ich fordere Sie deshalb auf: Versuchen Sie nicht, diewirtschaftliche Realität Ihrem Steuerkonzept anzupas-sen, sondern passen Sie Ihr Konzept der wirtschaftlichenRealität an.
Wenn Sie sich nicht trauen, uns zu fragen, dann gehenSie zu Herrn Struck. Er hat sicherlich noch das eine oderandere Exemplar unserer Vorschläge in seiner Schubla-de.
Wie sieht Ihre Finanzpolitik sonst aus? Auch in derHaushaltspolitik haben Sie eine Kehrtwende vollzogen.Statt Deficitspending à la Lafontaine wollen Sie jetzt bis2006 einen ausgeglichenen Haushalt. Diese Zielsetzungkann ich nur unterstützen. Vor diesem Hintergrund soll-ten wir alle gemeinsam in diesem Haus darüber nach-denken, ob nicht eine grundlegende Erneuerung unsererFinanzverfassung notwendig ist. Unsere Finanzverfas-sung stammt noch aus der Hochzeit keynesianischerNachfragepolitik. Das ist nicht mehr zeitgemäß, vor al-lem seit auch die Sozialdemokratie die Angebotsseitewenigstens nicht mehr komplett ausblendet. Lassen Sieuns diese Chance ergreifen und die Finanzverfassunggrundlegend erneuern. Ich denke vor allem an die Ver-schuldungsklausel des Grundgesetzes. Sie müsste deut-lich enger gefasst werden.
Zur Rentenpolitik. Ich stimme den im Jahreswirt-schaftsbericht erwähnten Zielen durchaus zu. Sie habenRecht, Herr Eichel, wenn Sie einen Beitrag der Wirt-schafts- und Finanzpolitik zu einer höheren Erwerbsbe-teiligung einfordern, wenn Sie die steuerliche Behand-lung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersein-künften generationenverträglich ausgestalten wollen undwenn Sie die Altersvorsorgesysteme mit dem Ziel, dasssie auch bei veränderter Bevölkerungsstruktur dauerhaftleistungsfähig bleiben, reformieren wollen. Auch IhrerErkenntnis, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitzeitunausweichlich ist, stimme ich zu. Die von mir eingangs bemängelte fehlende Konstanzgrün-roter Wirtschaftspolitik spiegelt sich im Rentenka-pitel des Jahreswirtschaftsberichts eindrucksvoll wider.Sie versprechen dort nämlich, die zusätzlichen gesetzli-chen Voraussetzungen zu schaffen, um die Rente mit 60zu ermöglichen. Das bedeutet im Ergebnis nichts ande-res als eine geringere Erwerbsbeteiligung, eine Verkür-zung der Lebensarbeitzeit und vor allem einen nicht ge-nerationenverträglichen Lösungsansatz, sondern eher ei-nen Missbrauch der sozialen Sicherungssysteme.Statt dass Sie Ihren Zielvorgaben gleich widerspre-chen, hätte ich wirklich logische Folgerungen erwartet:die Selbstverantwortung bei den sozialen Siche-rungssystemen zu stärken, einen Demographiefaktor indie Rentenformel einzuführen und das Prinzip der nach-gelagerten Besteuerung anzugehen. Wie diese Prinzipienzusammenpassen, können Sie übrigens wunderbar imRentenreformkonzept der F.D.P. nachlesen. Wir schla-gen mit einem ganzheitlichen Ansatz eine echte Renten-strukturreform vor, die dauerhaft Vertrauen in unsereAltersversorgung aufbauen soll.
Unsere Ideen bringen wir selbstverständlich auch kon-struktiv in die derzeit laufenden Rentengespräche ein.Die Bundesregierung distanziert sich von der sozialenMarktwirtschaft nach Ludwig Erhard. Sie setzt auf einePolitik der punktuellen Eingriffe, bei der die eine Handmeist nicht weiß, was die andere Hand tut. Die volks-wirtschaftlichen Zusammenhänge geraten dabei zuse-hends aus dem Blick. Gerade das Wirtschaftsministeri-um, das einmal von Erhard als ordnungspolitischerWächter über die Tätigkeit der Fachministerien angese-hen wurde, mutiert immer mehr zum Wettbewerbssün-der Nummer eins. Der Wettbewerb wird nunmehr alsstörend empfunden. So setzt Herr Müller in der Energie-politik alles daran, ein Wettbewerbsmodell zu verhin-dern. Das Duopol im Energiebereich, das Herr Müllermassiv unterstützt, ist wohl der Preis, den die Bundesre-gierung für einen Atomausstieg zu zahlen bereit ist.Mit einer solchen diffusen Haltung zu marktwirt-schaftlichen Grundsatzfragen gerät Deutschland interna-tional immer weiter ins Abseits.
Es ist interessant, dass im Rating der Liste marktwirt-schaftlicher Volkswirtschaften des Fraser-Instituts inKanada, das insgesamt 23 Kriterien untersucht, Deutsch-land nur noch auf Platz 22 zu finden ist.Wie man aus Ihrem Hause auch hört, Herr Müller,wollen Sie dem wirtschaftspolitischen Credo, dem bis-her alle Wirtschaftsminister der BundesrepublikDeutschland gefolgt sind, nämlich „Mehr Markt, Wett-bewerb schaffen“, entsagen. Ich fordere Sie auf, HerrMüller, Ihr Bekenntnis zu Ludwig Erhard ernst zu neh-men und für die soziale Marktwirtschaft einzustehen.Ansonsten machen Sie selbst das Wirtschaftsministeri-um völlig überflüssig.
Ich erteile das Wortder Kollegin Christa Luft, PDS-Fraktion.Rainer Brüderle
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7990 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Herr Präsident! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Natürlich ist es wichtig, dasssich der Deutsche Bundestag endlich wieder einemSachthema zuwendet. Es scheint mir jedoch so zu sein,dass das, was von der CDU/CSU-Fraktion und derF.D.P.-Fraktion zum Jahreswirtschaftsbericht der Bun-desregierung vorgetragen worden ist, wenig glaubhaftist. Dieser superkritische Rundumschlag ist außerordent-lich verwunderlich, denn die neue Bundesregierung setztdoch in ganz wesentlichen Teilen die angebotsorientiertePolitik der Vorgängerregierung fort.
Insofern hätten Sie, meine Damen und Herren von derCDU/CSU und F.D.P., durchaus Anknüpfungspunktefeststellen müssen.Wenn Sie, Herr Glos, die Euroschwäche beklagen,müssten Sie sich mindestens heute sehr deutlich an dievielen Debatten in diesem Hause erinnern. Speziell mei-ne Fraktion hat immer darauf hingewiesen, dass wir mitder Einführung des Euro dem europäischen Integrati-onsprozess zwar eine Krone aufsetzen, dass ihm aberimmer noch die Füße fehlen. Das heißt, diesem Integra-tionsprozess fehlt ein wichtiges Fundament, ein Funda-ment in Form abgestimmter Politik zur Bekämpfung derMassenarbeitslosigkeit in Europa, zur Steuerharmonisie-rung und zur Weichenstellung für eine Sozialunion.
Dieses Defizit, das wir in der europäischen Politik habenund zu dessen Abbau die Bundesregierung zu wenigbeigetragen hat, hat dazu geführt, dass der Euro bislangwenig Vertrauen gewinnen konnte. Bei der Regierung fällt mir ein überschäumender undfür mich unerklärlicher Optimismus auf.
Wir erkennen sehr wohl an, dass es im Verlaufe des letz-ten Jahres einige positive Trends gegeben hat, sowohlbei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit als auchbeim Einstieg in die Senkung des Eingangssteuersatzessowie bei der Anhebung des steuerfreien Existenzmini-mums. Das sind sehr wohl von uns registrierte positiveAkzente. Insgesamt aber scheint mir dieser Bericht vorunberechtigtem Optimismus überschäumend zu sein.
Lassen Sie mich wenigstens drei Probleme nennen.Erstens. Die rot-grüne Koalition stützt ihren Optimismusbei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit imWesentlichen auf Wachstumserwartungen. Dies hat aberschon in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nichtfunktioniert.
Ein prognostiziertes Wachstum von 3 Prozent ist zumeinen völlig unsicher und zum anderen entwickelt sichdie Arbeitsproduktivität noch schneller, sodass die Rati-onalisierungseffekte stärker zum Tragen kommen.
Mit den in dem Bericht erwarteten Beschäftigungswir-kungen ist unter dem Strich schwerlich zu rechnen.In ihrem Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung derMassenarbeitslosigkeit kommen Überlegungen zur Ver-kürzung der Arbeitszeit viel zu kurz. Ich kann nur raten:Richten Sie doch den Blick auf unser unmittelbaresNachbarland Frankreich! Dort gibt es den Einstieg in dieverkürzte Arbeitszeit.
Dort gibt es erste positive Tendenzen, trotz all der Kom-plikationen, die man auch dort noch feststellen kann.Aber es ist ein Beispiel, das man analysieren kann. Manmuss nicht immer den Blick auf die USA richten. Wirhaben ein Nachbarland, das einen solchen Weg mit Er-folg beschreitet.
Von Ihnen werden auch keine Überlegungen zurAufnahme von Tätigkeiten in Bereichen angestellt, indenen es zuhauf ungetane Arbeit gibt. Ich nenne bei-spielsweise Sozialarbeit und humane Dienstleistungen.Wir müssen in der Bundesrepublik Deutschland Überle-gungen anstellen, wie wir Arbeiten in diesen Bereichenfinanzierbar machen. Wir wissen auch, dass das nichtder wirksame Weg zur Bekämpfung der Massenarbeits-losigkeit sein kann. Es kann jedoch nicht angehen, dasswir auf der einen Seite mit einem großen Berg von ar-beitslosen Menschen in die Zukunft gehen, während aufder anderen Seite ein großer Bedarf an Tätigkeiten inBereichen besteht, in denen sich Private nicht engagie-ren.
In Ihrem Maßnahmenkatalog kommt ebenso wenigdie Verantwortung der öffentlichen Hand als Arbeitge-ber vor. Im Gegenteil: Sie kündigen weitere Privatisie-rungen mit unabsehbaren Folgen für die Beschäftigungan. Sie müssen doch außer den optimistischen Einschät-zungen, wo möglicherweise neue Beschäftigung entste-hen kann, gegenrechnen, wo Beschäftigung weiter ab-gebaut wird. Das geschieht ganz besonders auch im Be-reich des öffentlichen Dienstes, für den die Bundesregie-rung mit die Verantwortung trägt.Durch Ihr vorrangiges Setzen auf Exportwachstummachen Sie sich im Übrigen von der Wirtschaftspolitikanderer Länder und auch vom Devisenmarkt einseitigabhängig. Beides kann auf Dauer nicht gut gehen.Kommt die allfällige Korrektur des Wechselkurses, stehtder deutsche Arbeitsmarkt wieder im Regen. Man kannsich doch nicht nur auf das Exportwachstum, so großseine Bedeutung auch sein mag, kaprizieren. Es bleibtwichtig, die kurze Zeit, in der die Zeichen weltweit aufAufschwung stehen, nachfrageorientiert zu nutzen. Die-se Erkenntnis aus vielen zurückliegenden Jahrzehnten
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 7991
ist, so denke ich, aktuell und muss von der Bundesregie-rung beachtet werden.Ein zweites Problem: Die rot-grüne Regierung setztinsbesondere mit ihrer Steuerpolitik darauf, die Stand-ortbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland zuverbessern. Das ist nicht neu. Wo aber sind die Beschäf-tigungs- und Investitionswirkungen geblieben, die inder Vergangenheit durch die Steuersenkungspolitik deralten Regierung, von CDU/CSU und F.D.P., eingeleitetwerden sollten? Wo sind die Beispiele dafür, dass einesolche Politik Auswirkungen auf Investitionen und Be-schäftigung hat?Ich erinnere daran, dass die Vorgängerregierung dieKörperschaftsteuer mehrfach gesenkt hat. Ich erinneredaran, dass die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft wor-den ist. Ich erinnere an die Aussetzung der Vermögens-teuer und den reduzierten Solidarbeitrag. Dies alles wa-ren beträchtliche Entlastungen für die Unternehmen,insbesondere für große Konzerne. Wo aber sind die be-absichtigten Wirkungen auf Investitionen und Beschäf-tigung geblieben?
Woher wollen Sie in einer Marktwirtschaft, in eineroffenen Gesellschaft wissen, wie viele Investoren untergünstigeren Bedingungen was investieren werden, wel-che Ideen sie verwirklichen können und wie viel Wachs-tum sich daraus ergeben wird? Das alles bleibt Spekula-tion.Wenn Sie tatsächlich etwas für die Verbesserung derStandortbedingungen und die Förderung der Beschäfti-gung tun wollen, dann entschließen Sie sich endlich zueiner Mehrwertsteuerentlastung für arbeitsintensiveDienstleistungen.
Das haben wir hier wiederholt diskutiert. Sie sagen, daswürde Steuerausfälle zur Folge haben, die zu groß seien,die wir nicht verkraften könnten. Ich habe den Eindruck,dass die Bundesregierung durch die neue Steuerpolitikin vielen Bereichen Selbstfinanzierungseffekte in zwei-stelliger Milliardenhöhe erwartet. Dagegen wären dieSteuerausfälle durch eine geringere Mehrwertsteuer fürarbeitsintensive Dienstleistungen wirklich Peanuts. Siesollten sich entscheiden, das zu tun, was andere europäi-sche Länder auf diesem Gebiet inzwischen auf den Weggebracht haben. Ich nenne Frankreich, Griechenland undHolland als Beispiele.
Auch die gezieltere Förderung regional vernetzterWirtschaftsstrukturen gehört zu den Entwicklungspoten-zialen, über die stärker nachgedacht werden muss. Ins-besondere im Osten Deutschlands wird es noch für eineganze Reihe von Jahren unverzichtbar sein, die regiona-le Wirtschaftsförderung zu intensivieren; denn dortweltmarktorientierte Großinvestitionen als Königswegzu erwarten führt in die Irre. In Ostdeutschland geht esim Besonderen um die Umsetzung der lokalen Agen-da 21, um die Veränderung der Ordnung bei der Verga-be öffentlicher Aufträge und viele andere Dinge. Über-haupt kommt der Osten Deutschlands in diesem Jahres-wirtschaftsbericht nur sehr traditionell vor. Ob wirklichetwas Neues auf den Weg gebracht worden ist, was manunter „Chefsache Aufbau Ost“ verbuchen könnte, bleibtim Dunkeln.Lassen Sie mich drittens sagen: Absolut unterbelich-tet ist in Ihrem Bericht die Vorsorge für eine sozialeGestaltung des europäischen Integrationsprozesses. Sichfür soziale Mindeststandards einzusetzen ist doch un-verzichtbar, sollen den Menschen Ängste vor der Oster-weiterung der EU genommen werden. Das würde auchRechtspopulisten den Boden für eine Rattenfängerpolitikentziehen.
Aber Niedriglohnpolitik, die vollständige Aushöhlungder Tarifverträge und Ladenöffnungen rund um die Uhrzu propagieren, wie dies eben Herr Brüderle getan hat,ist doch nichts, womit Sie Menschen, die schon jetzt ei-ne sehr niedrig bezahlte Beschäftigung haben und sichvor der Zukunft fürchten, auf ein in Zukunft größeresEuropa vorbereiten können. Dabei ist es den Menschenauch egal, ob das, was gegenwärtig geschieht, eineMarktwirtschaft im Eucken‘schen Sinne ist oder nicht.
Menschen messen ihre Zukunftszuversicht doch an dem,was sie in ihrer täglichen Arbeit spüren, und an den Er-wartungen, die sich bislang nicht erfüllt haben.Danke schön.
Ich erteile dem Bun-desminister Werner Müller das Wort.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Eines will ich vorab sagen: Dieser Jah-reswirtschaftsbericht ist ein so gutes Dokument, dass erdurchaus eine etwas bessere Würdigung verdient gehabthätte.
Das sage ich insbesondere im Hinblick auf die Rede vonHerrn Glos.Lassen Sie mich ein Zweites vorneweg schicken. Ichmöchte mich insbesondere im Namen meiner Mitarbei-ter sehr herzlich bei dem Finanzminister und seinenMitarbeitern für die Art und Weise bedanken, in der die-ser Jahreswirtschaftsbericht erstellt worden ist. Er ist eininsgesamt völlig einvernehmlich erarbeitetes Dokument.Infolgedessen ist manches von dem, was Sie, Herr Brü-derle, gesagt haben, für mich nicht so furchtbar wichtig.
Dr. Christa Luft
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7992 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Wichtig ist, dass wir eine gute Politik machen. Nicht sowichtig ist, in welchem Ressort das jeweils geschieht. Ich betone diese große Einvernehmlichkeit, weil daswirtschaftspolitische Konzept der Renaissance einerwohlverstandenen sozialen Marktwirtschaft in diesemJahreswirtschaftsbericht ganz klar erkennbar ist. DieEckpunkte – und es sind Eckpunkte im klassischen Sin-ne – sind im Grunde einfach: Senkung der Arbeitslosig-keit, Steigerung der Erwerbstätigkeit; Senkung vonSteuern und Abgaben, Steigerung von Investitions- undKaufkraft; Senkung der Staatsquote, Steigerung der pri-vaten Initiative. Besonders wichtig ist – und auch das ist in diesemJahreswirtschaftsbericht klar beschrieben –, dass wir unsangewöhnen müssen, immer weniger auf Kosten derZukunft zu leben und auf Kosten der Zukunft zu wirt-schaften. Das heißt im Klartext: Wir müssen alle zu-sammen wesentlich mehr Achtung vor dem vertikalenGenerationenvertrag gewinnen. Wir können uns nichtimmer neu verschulden. Wir können auch nicht immermehr der natürlichen Lebensgrundlagen verfrühstücken.All das formuliert der Jahreswirtschaftsbericht sehr klar,und er führt auch die notwendigen Konsequenzen auf,die wir anstreben müssen. Ich will in aller Deutlichkeitsagen: Dafür ist diese Koalition auch gewählt worden.
Im Jahreswirtschaftsbericht stehen Ziele, die Sie –wenn Sie ehrlich sind – in früheren Jahren nie aufzu-schreiben gewagt hätten: etwa das Ziel eines ausgegli-chenen Haushaltes. Wir haben dieses Ziel festgeschrie-ben und werden es spätestens im Jahre 2006 erreicht ha-ben.
– Das ändert nichts daran, dass Sie sich jetzt freuen, dasswir solche Ziele haben, weil Sie wissen, dass das fürDeutschland gut ist. Ich habe mir nur die Bemerkung er-laubt, dass das Ziele sind, die man von Ihnen nicht zuhören gewohnt war.
Der Jahreswirtschaftsbericht in toto rechtfertigt dasVertrauen der Bürgerinnen und Bürger, das sie an demWahltag im Herbst 1998 geäußert haben.
Der Jahreswirtschaftsbericht beschreibt die notwendigeReformpolitik, um Deutschland in eine wirtschaftlichbessere und insbesondere sichere Zukunft zu führen.Natürlich sind Reformen unbequem. Das hat für dieRegierung in gewisser Hinsicht einen scheinbaren Nach-teil: Unbequeme Reformen bieten der Opposition immerdie Möglichkeit, zu sagen, sie könnte das alles wesent-lich bequemer machen. Das ist das Kennzeichen der Kritik an der Wirtschafts-und Finanzpolitik. Sie sagen: Das ist für die Bürger alleszu unbequem, wenn wir es machten, wäre es viel be-quemer. Ich sage Ihnen in aller Klarheit: Natürlich, dashaben wir beobachtet. Eine Politik auf Pump und auf derBasis des Schuldenmachens ist unterm Strich eine be-queme Politik.Infolgedessen will ich Ihnen einmal zu bedenken ge-ben: Wenn Ludwig Erhard – Sie zitieren ihn immer sofreundlich, auch ich zitiere ihn gerne – den Bürgerinnenund Bürgern seinerzeit eine Politik der Bequemlichkeitgepredigt hätte, dann hätten wir das Wirtschaftswundernie erreicht.
Noch eines: Wenn Ludwig Erhard gesehen hätte, wasSie in Ihren 16 Jahren aus einer sozialen Marktwirt-schaft gemacht haben, dann hätte er sich im Grabe um-gedreht.
Über 4 Millionen Arbeitslose, eine Steuerlast, die vie-le erwürgt, eine viel zu hohe Staatsquote sind alles nichtKennzeichen einer sozialen Marktwirtschaft. Deswegensage ich: Wir sind angetreten und wir wollen eine Re-naissance der wohlverstandenen sozialen Marktwirt-schaft erreichen.Noch eines fällt mir auf, während ich den Reden zu-höre: Sie klagen oft auf einem recht hohen Niveau undunterlassen auch noch heute das, was Sie seit Jahren un-terlassen haben, nämlich das Bewusstsein in der Gesell-schaft, in der Wirtschaft wie bei Bürgerinnen und Bür-gern zu wecken, dass wir dieses Niveau, das wir haben,auch verteidigen müssen. Das erfordert Anstrengungenund eine entsprechende Politik; denn es gibt keinGrundgesetz, in dem steht, dass unserer Nation, die heu-te noch einen führenden Platz in der Weltwirtschaft ein-nimmt, dieser Platz auf ewig zustände. Jeder von uns, wir alle müssen uns das erarbeiten,und zwar umso härter, je größer der Wettbewerb der In-dustrienationen und insbesondere auch der Anwärter, dieIndustrienationen werden wollen, ist. Infolgedessen warein wirtschafts- und finanzpolitischer Neuanfang not-wendig. Sie können diesen Neuanfang in dem Jahres-wirtschaftsbericht nachlesen.Von Neuanfang ist in diesen Tagen viel die Rede.Aber wem sage ich das? Mir ist dieser Tage eingefallen,dass sich die Wählerinnen und Wähler glücklich schät-zen können, dass sie den Wechsel gewählt haben;
denn ich mag mir gar nicht vorstellen, wie die CDU an-gesichts der tiefen Krise jetzt regieren wollte. Dann hät-ten wir wahrscheinlich echte Probleme. So kann mansagen: Wir haben eine gut funktionierende Regierung,übrigens auch eine gut funktionierende Presse. Wir ha-Bundesminister Dr. Werner Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 7993
ben jedenfalls null Staatskrise. Alle, die auch nur Ähnli-ches andeuten wollen, wollen von Problemen ablenken.
– Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so erregen. In die-sem Land sind die Aufgaben doch klar verteilt: Sie müs-sen sich eine Zukunft suchen, wir führen Deutschland ineine sichere Zukunft hinein.
Oder etwas anders gesagt: Sie müssen irgendwie wiederpolitikfähig werden, wir machen Politik.
– Ich bin doch nicht arrogant.
Ich bin doch nicht derjenige, der immer feststellt, dassSie zurzeit nicht richtig politikfähig sind. Das steht überall. Das hat auch Herr Glos gesagt. Herr Glos hatseine Rede damit begründet, er könne jetzt nicht besserreden, weil Sie zurzeit nicht richtig sprechfähig seien.
Eines jedenfalls beobachte ich auch mit einem gewis-sen Maß an Freude: Das Zutrauen von Wirtschaft undGesellschaft zu dieser Bundesregierung wächst.
Die „FAZ“ schrieb dieser Tage – ich zitiere –: „InDeutschland herrscht Gründerstimmung.“ Das ist einerichtige Beschreibung. Sie schrieb weiter: „Die Grün-derszene ist das Beste, das der deutschen Wirtschaft seitlangem passiert ist.“ Auch hier muss ich sagen: Das istvöllig richtig.Sie können auch heute beispielsweise in der „BerlinerZeitung“ lesen, dass der BDI nun eine – Zitat – „Trend-wende im Verhältnis zwischen Wirtschaft und Regie-rung“ feststellt. Der BDI begrüßt die Wirtschafts- undFinanzpolitik dieser Bundesregierung und will – ich zi-tiere – „die Regierung bei dem begleiten, was sie jetzttut“.Das ist eine richtige Erkenntnis der deutschen Wirt-schaft. Sie kommt ein bisschen spät;
ich habe sie hier ab und an schon einmal kritisch ange-mahnt. Ich habe immer gesagt: Wir lassen uns gerne fürdie Belange der Wirtschaft in Anspruch nehmen. Wirmüssen redlich miteinander umgehen. Ich erkenne, dassdas zunehmend der Fall ist. Wir als Bundesregierungwissen: Wir können eine erfolgreiche Wirtschafts- undFinanzpolitik nur mit der Wirtschaft machen, nicht ge-gen sie. Das haben wir immer gesagt. Jetzt erkenne ich, dass die Wirtschaft das Vertrauengewinnt. So schreibt beispielsweise die „Süddeutsche“heute in einer Überschrift – ich zitiere – „Konzernchefsund Mittelständler mutieren zu Anhängern der rot-grünen Regierungskoalition“.
Auch das ist eine sehr zutreffende Überschrift.Wenn wir mit den Vertretern der Wirtschaft eine Energiepolitik konzipieren – wir sitzen ja in mehrerenRunden zusammen –, Sie aber ankündigen, völlig unge-achtet dessen, was die Vertreter der Wirtschaft für ver-nünftig halten, Ihren eigenen Kurs zu gehen, dann kön-nen Sie das machen. Vielleicht finden Sie sogar noch ir-gendwo jemanden, der eines Tages das umsetzen will,was Sie politisch fordern. Aber ich habe Ihnen schon öf-ters gesagt: Ihrer Energiepolitik folgt die Wirtschaftnicht. Das ist ein Problem, das Sie irgendwann nocheinmal durchdenken sollten.Zum Abschluss kommend will ich insgesamt sagen:Deutschland steht vor exzellenten Wachstumsperspekti-ven. Wir nutzen nun diesen Wachstumsprozess zu Re-formen, die nicht immer – wie soll ich sagen? –schmerzlos sind. Nur, wann sonst sollen wir solche Re-formen machen, wenn nicht in einem Prozess des Auf-schwungs?
Diese Reformen generieren ihrerseits wieder Wachstum.So führen wir unsere Gesellschaft auf einen stabilenWeg in eine gute Zukunft und die Gesellschaft gewinnterkennbar Zuversicht.Deswegen habe ich eine Bitte an die Wirtschaft, ins-besondere auch an die vielen Unternehmer des Mit-telstandes, und an die Bürgerinnen und Bürger in diesemLande: Vertrauen Sie weiterhin dieser Wirtschafts- undFinanzpolitik! Unser Land ist auf einem guten Weg undwir werden uns mit einer erfolgreichen Bilanz der Wie-derwahl stellen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wortdem Kollegen Gunnar Uldall, CDU/CSU-Fraktion.Bundesminister Dr. Werner Müller
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7994 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Herr Präsident! MeineDamen! Meine Herren! Es grenzt schon etwas ans Ko-mische, Herr Minister Müller, wenn sich gerade Vertre-ter einer rot-grünen Bundesregierung auf Ludwig Erhard berufen. Dabei waren es doch immer die Sozi-aldemokraten – Sie sind ja parteilos –, es waren immerdie Grünen, die in den vergangenen Jahren, wo immer esging, versucht haben, uns dann, wenn wir den Marktstärken wollten, zu bremsen und zu behindern.Wenn Sie den Jahreswirtschaftsbericht prüfen, wer-den Sie erkennen, dass es auch hier nicht darum geht, ir-gendwo mehr Markt einzuführen, sondern dass Sie, woes geht, Rahmenbedingungen schaffen, die mit einerAusweitung des Marktes überhaupt nichts zu tun haben.
Insofern sage ich: Es grenzt ans Komische, wenn SieLudwig Erhard als Zeugen aufrufen.Aber bevor ich mich dem sachlichen Inhalt des Be-richtes zuwende, möchte ich einen besonderen Gruß aneinen langjährigen Kollegen aussprechen, nämlich anErnst Schwanhold, der über viele Jahre im Wirt-schaftsausschuss mein Visavis gewesen ist. Auch wennErnst Schwanhold noch nicht als neuer Wirtschaftsmi-nister in Düsseldorf vereidigt ist, so möchte ich dochschon jetzt – auch im Namen meiner Kollegen – Gratu-lation sagen.
Wir haben immer gut zusammengearbeitet. Es war so,wie es sich unter Wirtschaftlern gehört: immer sachlichund fair. Wir wünschen Ernst Schwanhold viel Glück inden nächsten drei Monaten.
Wir wünschen, dass er in den nächsten drei Monatenmöglichst viel an Aufräumarbeiten macht, damit es seinCDU-Nachfolger anschließend etwas leichter hat. Indiesem Sinne: Alles Gute!
Sie, Herr Minister Eichel, beginnen den Jahreswirt-schaftsbericht mit einer richtigen Feststellung. Sie sa-gen: Ein entscheidender Abbau der Arbeitslosigkeit istnur im wechselseitigen Zusammenspiel günstiger mak-roökonomischer Rahmenbedingungen und nachhaltigerStrukturreformen zu erreichen. Das ist richtig. Es ist aber auch richtig, was Sie danach sagen: DieBundesregierung hat Glück, dass sie weltwirtschaftlichso günstige Rahmenbedingungen vorfindet wie seit lan-gem nicht. Aber deswegen ist es auch nur eine unver-diente Glückslage, dass Sie im nächsten Jahr von einerWachstumsrate in Höhe von 2,5 Prozent ausgehenkönnen. Der Jubel aber, der von Ihnen hier im Parlamentdarüber angestimmt wird oder über den heute in der„Bild“-Zeitung in einer großen Anzeige zu lesen ist, istvöllig unangebracht, denn Sie erreichen mit diesem An-stieg des Wachstums auf 2,5 Prozent gerade das Niveau,das im letzten Jahr der Regierung Helmut Kohls inDeutschland erreicht worden ist. Insofern gibt das über-haupt keinen Anlass zum Jubeln. Der Jubel ist auch deswegen nicht passend, weil dasWachstum völlig am Arbeitsmarkt vorbeigeht. Mankann feststellen, dass die Zahl der Arbeitsplätze inDeutschland sogar rückläufig ist. Es kommt nicht sosehr auf die Zahl der Arbeitslosen an, sondern darauf,wie viele Menschen in Deutschland arbeiten, Steuernund Versicherungsbeiträge zahlen und unser Bruttoin-landsprodukt erwirtschaften. Das ist die entscheidendeZahl.Wenn ich die letzte verfügbare Zahl von November1999 mit der Zahl von November 1998 vergleiche, dannmuss ich feststellen, dass die Zahl der Beschäftigten inDeutschland um über 60 000 zurückgegangen ist. MeineDamen und Herren, das ist kein Erfolg einer Arbeits-marktpolitik. Deswegen sind wir strikt dagegen, dasshier immer so getan wird, als wenn es nur auf die Ar-beitslosenzahl ankäme. Wir richten stattdessen den Blickauf das, worauf es tatsächlich ankommt, nämlich auf dieZahl der Beschäftigten in Deutschland.
Wenn es möglich ist, in den Statistiken von 200 000Arbeitslosen weniger zu reden, dann kann ich nur sagen:Dies ist nichts anderes als der demographische Effekt,der sich positiv für Sie auswirkt.
Ein kluger Nationalökonom hat einmal gesagt: EineRegierung tut schon viel, wenn sie nichts tut und dieMenschen in Ruhe arbeiten lässt. Wenn sich die Regie-rung Schröder daran gehalten hätte, wären wir auf demArbeitsmarkt im vergangenen Jahr ein ganzes Stück vo-rangekommen. Dann hätten wir eine stärkere Senkungder Arbeitslosenzahlen erreichen können und nicht nurdas, was sich im Umfang des demographischen Faktorspraktisch von allein eingestellt hat. Dass das Wachstum am Arbeitsmarkt vorbeigeht,liegt mit daran, Herr Minister Eichel, dass Sie den zwei-ten Teil der Voraussetzungen, die Sie für eine Verbesse-rung der Beschäftigungssituation aufzählen, nämlich ne-ben verbesserten makroökonomischen Bedingungenauch ein mutiges Anpacken nachhaltiger Strukturre-formen durchzusetzen, nicht erfüllen. Es ist auch nichterkennbar, dass dies in Ihrem Jahreswirtschaftsberichtfür das kommende Jahr geschehen soll.Wo immer es geht, vermeiden Sie klare Worte zuStrukturreformen. Dort, wo es möglich ist, versuchenSie, Strukturreformen zurückzunehmen. Dabei sindStrukturreformen in Deutschland nichts Schlechtes. Siehaben sich immer zum Guten ausgewirkt. Deswegenmöchte ich Sie ausdrücklich auffordern, in größeremUmfang als bisher mutig Strukturreformen in Angriff zunehmen. Ich will ein paar Beispiele nennen. Wir haben mitdem Energiewirtschaftsrecht eine Senkung der Strom-kosten für die Familien und die Betriebe erreicht. Jetztversuchen Sie, das zurückzunehmen. Sie fordern eine
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höhere Vergütung für die Stromeinspeisung. Das bedeu-tet 0,4 Pfennig pro Kilowattstunde. Die Stadtwerke mitKWK-Anlagen sollen 0,2 Pfennig zusätzlich bekommen.Für die ostdeutsche Braunkohle müssen 0,2 Pfennig be-zahlt werden, die Ökosteuer macht 4 Pfennig noch ein-mal obendrauf. Wenn ich das alles zusammenpacke,meine Damen und Herren, dann ist das, was wir an Ent-lastung für die Familien im Umfange von 400 DM proJahr bei den Stromkosten erreicht haben, fast schon wie-der aufgefressen worden. Das bedeutet, dass durch diese klammheimliche Poli-tik eine Belastung der Bürger verursacht wurde, die miteinem Volumen von 15 bis 20 Milliarden DM einen hö-heren Betrag erreicht als eine Erhöhung der Mehr-wertsteuer um einen Punkt, eine Belastung, die – ohnedass es von der Öffentlichkeit so richtig gespürt wird –0,2-Pfennig-weise den Bürgern abverlangt wird. MeineDamen und Herren, das ist nicht unsere Politik.
Ich erinnere bei den Strukturmaßnahmen, die wir er-folgreich durchgeführt haben, an die Absenkung der Te-lefonkosten. Wir entlasten den Haushalt damit um rund300 DM pro Jahr. Die Liberalisierung des Versiche-rungsmarktes hat die Haushalte im Schnitt um 100 DMentlastet. Wenn ich das alles zusammenzähle, bin ich beieiner Entlastung von 800 DM pro Jahr für den Ledigen. Jetzt vergleichen Sie das einmal mit Ihrer großartigangekündigten Steuerreform. Ich habe aus Ihren Tabel-len herausgesucht, dass die Steuerreform bei einem ledi-gen Durchschnittsverdiener mit einem Einkommen von40 000 DM pro Jahr in den Jahren 1999 und 2000 zu-sammengefasst eine Entlastung von 614 DM ergibt. Das,was Sie nebenbei einfach durch diese Maßnahmen,durch das Zurückführen von Strukturmaßnahmen, dieerfolgreich durchgeführt worden sind, den Bürgern wie-der wegnehmen, liegt weit darüber. Diese Beispiele zeigen, dass das Aufbrechen vonVerkrustungen und die Einführung von marktwirtschaft-lichen Elementen immer Vorteile für alle Beteiligtenbringt. Deswegen muss es auch sein, dass wir Verkrus-tungen im Arbeitsrecht, auf dem Arbeitsmarkt, im Sozi-alversicherungswesen mutig angehen und zu einem stär-keren marktwirtschaftlichen Rahmen auch auf dem Ar-beitsmarkt kommen.
Dazu zähle ich zum Beispiel auch eine Überarbeitungunseres Tarifrechts.
Bundeskanzler Schröder hat das inzwischen ja auch er-kannt, als er selber bei den „Gerhard, Gerhard!“-Demonstrationen bei Holzmann sagte, dass man in ei-nem Zusammenspiel zwischen Betriebsrat und Ge-schäftsleitung durchaus darauf hinarbeiten muss, dasGünstigkeitsprinzip sozusagen neu zu regeln. Ich kanndazu nur sagen: Das, was für einen von 8 000 in Schwie-rigkeiten geratenen Baubetrieben gelten darf und richtigist, das muss auch generell für die anderen Betriebe mitgelten.
Deswegen plädieren wir nachdrücklich dafür, dass die-ses hier vorgenommen wird. Im Übrigen wird jetzt langsam klar, was eigentlichbei Holzmann vor sich geht. 5 500 Arbeitnehmer werdendort ihren Arbeitsplatz verlieren. Sie werden das Unter-nehmen verlassen.
Man kann wirklich jetzt nur sagen: Die großartige De-monstration, bei der 5 500 Arbeitskräfte jubelnd „Ger-hard, Gerhard!“ gerufen haben, ist wahrscheinlich dieEinzige gewesen, die ich kenne, bei der die Arbeiter, dieaus ihrem Unternehmen entlassen werden, auch nochgejubelt haben. Aber mit Fernsehevents – so ist eben dieganze Politik bei Ihnen aufgebaut – lässt sich leidernichts erreichen.
Meine Damen und Herren, der Bundesregierung fehltder Mut zu echten Strukturreformen für mehr Beschäfti-gung.
Deswegen ist es kein Wunder, dass der Jahreswirt-schaftsbericht trotz guter weltwirtschaftlicher Rahmen-bedingungen von einem erheblich niedrigeren Be-schäftigungswachstum als in den übrigen 15 EU-Staa-ten ausgeht. Schon 1999 lagen wir weit unter dem EU-Durchschnitt. Wir haben in Deutschland im vergangenenJahr ein Wachstum der Beschäftigung von 0,3 Prozentgehabt. Der EU-Durchschnitt lag viermal so hoch, bei1,2 Prozent. Jetzt zeigen die Grafiken in Ihrem Jahreswirtschafts-bericht, dass sich diese Schere im Wachstum der Be-schäftigung in den nächsten Jahren durch Ihre Politiknicht nur nicht schließen wird, sondern dass sie sich so-gar noch weiter öffnen wird. Ich muss wirklich sagen,Herr Minister: Dieses ist das Verabschieden von einerrichtigen Arbeitsmarktpolitik. Sie erklären mit diesem Jahreswirtschaftsbericht, dassSie es nicht schaffen, in Deutschland eine solche Politikzu betreiben, die darauf hinausläuft, dass in Deutschlandin dem gleichen Maße wie in den anderen europäischenLändern das Beschäftigungswachstum wieder zunimmt.
Damit schiebt die Regierung die Lösung der eigentli-chen Aufgabe und des eigentlichen Problems, das wirhaben, wiederum auf die lange Bank. Gerhard Schröderhat gesagt, er wolle sich jederzeit daran messen lassen,ob er die Arbeitsmarktsituation in Deutschland verbes-sern kann. Diese Messlatte hat Gerhard Schröder selbergerissen.Gunnar Uldall
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7996 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Ich erteile nun dasWort dem Kollegen Klaus Müller, Bündnis 90/Die Grü-nen.Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Kollege Brüderle, als Sie in IhrerRede Walter Eucken zu zitieren anfingen, habe ich ge-dacht: Aha, einmal lauschen, was jetzt kommt.
Vielleicht wird er ja etwas zu dem Prinzip ordoliberalerWirtschaftspolitik sagen, nach dem nicht nur die Wirt-schaft florieren muss, sondern auch der Staat für ver-nünftige Rahmenbedingungen sorgen muss. Leidergab es eine Diskrepanz zwischen dem Zitat am Anfang,mit dem ich durchaus viel anfangen kann – übrigensauch die gesamte Koalition –, und dem, was Sie nachherStück für Stück aufzählten, zum Beispiel 630-Mark-Kräfte. Natürlich ist es für jede einzelne Person hart ge-wesen, die auf einen solchen Job verzichten musste. A-ber im Sinne einer vernünftigen Wirtschaftspolitik, diean volkswirtschaftliche Rahmenbedingungen und an dieSetzung eines vernünftigen Ordnungsrahmens denkt,war diese Reform notwendig und richtig. Mit ihr habenwir für vernünftige Rahmenbedingungen in der Wirt-schaft zu gesorgt.
Herr Glos, Sie haben vorhin das Vorgehen bei Holz-mann hart gegeißelt. Ich erinnere mich, dass neben demKanzler noch eine zweite Person oben auf dem Podeststand.
– Herr Wiesehügel? Nein, die Person hieß Roland Koch!Mir ist ja bewusst, dass die CDU diese Person momen-tan am liebsten verstecken möchte. Aber zur Wahrheitgehört, dass die hessische Landesregierung die Maß-nahmen zur Rettung von Holzmann genauso mitgetra-gen hat wie die rot-grüne Bundesregierung.
Noch ein Satz zu meinem Vorredner: Herr Uldall, ichhabe diese Woche mit Interesse vernommen, dass Siesich auch für Höheres berufen fühlen und von HerrnRühe als Schattenminister für Schleswig-Holstein vor-geschlagen worden sind.
Schade, dass sich für Sie in zehn Tagen nichts ändernwird und dass wir uns im März wieder im Bundestag se-hen werden. Ich möchte Ihnen auch sagen, warum das sosein wird: Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner haben ein feines Gefühl für soziale Gerech-tigkeit. Ihr Vorschlag zu Beginn der Legislaturperiode,Arbeitslose sollten im ersten Monat nach Verlust ihresArbeitsplatzes kein Arbeitslosengeld mehr erhalten, oderIhr Plädoyer für die Erhöhung der Zuzahlung zu Medi-kamenten machen Sie, glaube ich, in Schleswig-Holsteinnicht attraktiv. Damit können Sie in Schleswig-Holsteinkeine Stimmen sammeln.
An dieser Stelle einen herzlichen Glückwunsch anden Finanzminister in Schleswig-Holstein, Claus Möller,und den Wirtschaftsminister Herrn Bülck; denn das„Handelsblatt“ titelt heute: Schleswig-Holstein beimWirtschaftswachstum vorne! Schleswig-Holstein hat diehöchste preisbereinigte Wachstumsrate, die sogar nochdie von Bayern übertrifft, auf das Sie bei anderen Ge-legenheiten so gerne hinweisen.
Insofern kann man sagen: Rot-Grün ist gut für Schles-wig-Holstein und wird mit Sicherheit in zehn Tagenauch wieder bestätigt werden.
Jetzt zum Thema –
– das diskutieren wir in zwei Stunden, Herr Kollege; daswird sehr spannend, und es wird sehr gut für uns ausge-hen – Jahreswirtschaftsbericht. Das Klima wird freund-licher, zwar nicht hier im Saal – wir haben die Zwi-schenrufe gehört – und vielleicht auch nicht immer imnasskalten Berlin der vergangenen Tage, aber zumindestin den Führungsetagen der deutschen Unternehmen. Ichdarf nochmals das „Handelsblatt“ zitieren: Führungs-kräfte erstmals mit Standort zufrieden. In der Mehrheitschätzen die vom „Handelsblatt“ befragten Führungs-kräfte das Wirtschafts-, Investitions- und Beschäfti-gungsklima optimistisch ein.Auch mir sind die Veränderungen im Klima in denFührungsetagen kleiner wie großer Unternehmen nichtentgangen. Das ist wichtig für unser Land und sagt auchetwas darüber aus, dass der Aufschwung auf dem Ar-beitsmarkt nicht nur auf der demographischen Entwick-lungen beruht, sondern auch viel damit zu tun hat, wel-che Rahmenbedingungen Rot-Grün schafft. DieserStimmungsumschwung liegt nicht allein an günstigenKonjunkturaussichten; vielmehr hat das, was im „Han-delsblatt“ „Standortklima“ genannt wurde, sehr viel mitkonkreter Politik zu tun, nämlich mit den Rahmenbedin-gungen, die Rot-Grün in den vergangenen anderthalbJahren geändert hat und die im Rahmen der morgigenDiskussion über das vorliegende Konzept von HerrnMinister Eichel und von der rot-grünen Koalition aus-führlich beraten werden. Das heißt – ich glaube, dassman auch heute schon ein bisschen ins Detail gehenmuss, gewissermaßen als Auftakt für die morgige De-Gunnar Uldall
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batte –, dass wir uns an ein paar Fakten orientieren müs-sen. Herr Uldall hat vorhin nette Zahlenspielereien vorge-führt. Er sprach von einer Familie, die bei einem Jah-reseinkommen von 40 000 DM nur um 600 DM entlastetwerden würde. Sie haben schlicht eine Komponentevergessen: Wenn Sie von einer klassischen Familie aus-gehen, dann müssen Sie bedenken, dass Kinder dazuge-hören. Allein die bereits beschlossene Kindergelderhö-hung, die Ihre Fraktion übrigens teilweise belächelt undam Anfang auch abgelehnt hat, bedeutet für jede Familiemit zwei Kindern 1 200 DM mehr.
Dazu kommen die steuerlichen Entlastungen. Rot-Grün hat eine Steuerreform vorgelegt, die in drei Kom-ponenten entlastet.Die erste Komponente ist die Entlastung für die Kör-perschaften. Bei der Gelegenheit will ich einen Satz zuKapitalgesellschaften sagen. Gerade in CDU-Presse-äußerungen wird es verwirrenderweise oft so dargestellt,dass Kapitalgesellschaften per se die Großen und Perso-nengesellschaften per se die Kleinen sind. Wenn mansich junge, innovative Firmen auf dem Neuen Markt, imBereich von Technologie und Medien, anschaut, dannerkennt man, dass es jede Menge Kapitalgesellschaftengibt. Immer mehr Existenzgründerinnen und Existenz-gründer fangen an, auch die Rechtsform der Kapitalge-sellschaft zu wählen. Das heißt, unter Mittelstandsge-sichtspunkten sind auch Reformen bei Kapitalgesell-schaften im Bereich der Körperschaftsteuer notwendig.Die zweite Komponente betrifft den Mittelstand. Ichglaube, dass die Grünen gemeinsam mit ihrem Koaliti-onspartner an einer Mittelstandskomponente deutlichbeigetragen haben.Die dritte Komponente ist eine weitere Entlastungfür die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wennwir uns darüber unterhalten, wo es besonders notwendigist, in unserem Steuerrecht etwas zu verändern, dannwerden wir zu dem Ergebnis kommen, dass dies für denunteren Eingangsbereich gilt. Noch vor einem Jahr ha-ben wir den Niedriglohnbereich diskutiert. Wir habendavon gesprochen, dass man einen Anreiz setzen muss,eine Arbeit aufzunehmen. Was macht Rot-Grün? – Rot-Grün senkt den Eingangssteuersatz auf 15 Prozent. Da-mit wird gerade dort ein besonders wichtiges Signal ge-setzt.
– Dazu komme ich gerne, Herr Michelbach. Ich finde esschade, dass Sie nicht vor mir geredet haben; sonst hätteich dazu jetzt eine Menge sagen können. Ich will IhreRede einmal vorwegnehmen und darauf eingehen.Wenn wir die Signale von Herrn Merz vom Wochen-ende und des Hintergrundgesprächs, das Sie am Montaggeführt haben, richtig deuten, dann ist klar, dass Sie sa-gen: Rot-Grün macht eine gute Steuerreform;
der Karriere von Herrn Merz nicht schaden!)die Wirtschaftsunternehmen bestätigen das. Daher übtman sanften Druck auf die CDU aus. Hans Peter Stihlhat gestern ganz deutlich gesagt: Wenn die CDU blo-ckiert, wenn die CDU nicht mitmacht, dann erhöhen wirden Druck, sodass die CDU gar nicht anders kann. HerrMerz, in allen Ehren: Ich akzeptiere Ihr Angebot, in die-ser Frage zusammenzukommen. Dass Sie sich auf unszubewegen, ist ein wichtiger Schritt.Insofern gibt es nur noch einen einzigen Punkt, dervon der CDU/CSU an dieser Stelle streitig gestellt wird.Es handelt sich um die Steuerbefreiung von Kapitalge-sellschaften bei Beteiligungsveräußerungen. Herr Mi-chelbach, ich will Ihnen sagen, warum ich das richtigfinde. Dafür will ich Ihnen drei Gründe nennen.Der erste Grund: Das ist gut für Existenzgründungenin Deutschland. Existenzgründerinnen und Existenz-gründer bekommen zurzeit leichter Kredite. Daran ha-ben viele rot-grüne Landesregierungen hervorragend ge-arbeitet. Für Beteiligungsgesellschaften, wie es sie imangloamerikanischen Raum gibt, ist das aber schwierig,weil sie in eine Kapitalgesellschaft eintreten und sie mitGeld und Know-how mit aufbauen; aber wenn sie dieKapitalgesellschaft später verlassen wollen, gab es im-mer ein Hemmnis. Darum ist die Absenkung an dieserStelle ein richtiger Schritt.
Der zweite Grund: Sie sagen ja immer, für die Staats-kasse komme dabei nichts herum und wir verteilten zuhohe Steuergeschenke. Gerade wenn die Unternehmenin Zukunft von einem Körperschaftsteuersatz von25 Prozent und von einer großzügigen, systematischkorrekten Regelung bei den Beteiligungsveräußerungentatsächlich profitieren werden, dann wird sich der Wertder Unternehmen erhöhen und die Dividenden, die aus-geschüttet werden, werden ansteigen. Gemäß derBesteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip wirdder Staat davon profitieren. Auch das ist ein Argument,warum diese Reform schlichtweg richtig ist.
Der dritte Grund: Sie sagen, dass Personengesell-schaften schlechter gestellt werden würden. Ich entgeg-ne Ihnen ganz deutlich: Wenn Sie das Steuergesetz vonRot-Grün richtig gelesen hätten, dann hätten Sie ge-merkt, dass wir nicht nur ein Steuerschlupfloch ge-schlossen haben; vielmehr haben wir auch die Fünfte-lungsregelung eingeführt, sodass unter Rot-Grün geradekleine Personengesellschaften bis zu einem Gewinn voneiner halben Million DM weniger Steuern als unterSchwarz-Gelb zahlen. Das heißt, die Reform ist zwi-schen Kapitalgesellschaften auf der einen Seite und Per-sonengesellschaften auf der anderen Seite ausgewogen.Klaus Wolfgang Müller
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Zum Schluss würde ich gern noch einen Blick inRichtung Europa bzw. OECD werfen, weil ich glaube,dass wir die Steuerreform nicht zum Selbstzweck undnicht nur mit Blick auf die Binnennachfrage machen –das ist sicherlich auch richtig und wichtig –, sondernauch deshalb, um die Steuersätze und den Grundfreibe-trag wieder auf ein im internationalen Vergleich ausge-wogenes Niveau zurückzuführen, ein Niveau das denLeistungen, die der Standort Deutschland bietet, ent-spricht. Unternehmen zahlen ja etwas dafür, dass wir ei-ne gute Hochschullandschaft, eine gute Wirtschafts-struktur und Rechtsfrieden in Deutschland haben. DieseLeistungen müssen mit der Höhe der Steuersätze in Ein-klang gebracht werden. Wenn Ihre Wirtschaftspolitiker, sei es in Bayern odersonst wo, einmal einen Blick auf die Zahlen werfen,werden sie feststellen, dass Rot-Grün sowohl im Ein-gangsteuerbereich als auch im Spitzensteuerbereich, imKörperschaftsteuerbereich und beim Grundfreibetrag ei-ne Position erarbeitet hat, die international wettbewerbs-fähig, sozial gerecht und ausgewogen ist und Deutsch-land insgesamt nach vorne bringen wird. Insofern gehe ich davon aus, dass wir darüber morgeneine spannende Debatte führen werden. Im Bundestagbekommen wir dazu vielleicht noch nicht Ihre Zustim-mung, aber spätestens im Bundesrat werden auch dieCDU-regierten Länder einsehen, dass dieser Kurs ver-nünftig ist. Ich gehe davon aus, dass wir dieses dannauch bis zum Sommer unter Dach und Fach bringenwerden.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulla Lötzer.
Frau Präsidentin! Kolleginnenund Kollegen! Nach wie vor stützt sich Ihre Prognoseund die Hoffnung auf günstige Bedingungen vor allemauf eine relativ stabile weltweite Konjunkturentwicklungund auf Wachstum des Exports. Träger von Beschäfti-gungswachstum sind die Exportunternehmen jedochnicht, im Gegenteil: Gerade wegen des verschärftenKonkurrenzkampfes um Marktanteile auf dem Welt-markt hatten die Unternehmen mit einer Außenhandels-abhängigkeit von mehr als 40 Prozent den größten An-teil am Beschäftigungsabbau. Auch der Bericht der Mo-nopolkommission weist nach, dass die 100 größten,weltweit tätigen Unternehmen einen überproportionalenAnteil am Beschäftigungsabbau hatten. Noch dazu hängt das Exportwachstum in hohem Ma-ße von der amerikanischen Entwicklung ab: Wenn Sieschon unsere Warnungen nicht beachten wollen, KollegeEichel, hören Sie doch vielleicht auf amerikanische Ö-konomen wie Baldwin, Galbraith und Friedman, die sichgerade jetzt mit einer Erklärung an die deutschen Kolle-ginnen und Kollegen gewandt haben, in der sie nach-drücklich vor der Entwicklung in den USA warnen. Siesagen: Die Konsumentenverschuldung ist, gemessen amAnteil der verfügbaren Einkommen, 20 Prozent höherals zu Zeiten des vorhergehenden Höhepunktes. Dasamerikanische Handelsdefizit ist explodiert. Der US-Aktienmarkt hat die Kurs-Gewinn-Relation auf mehr alsdas Doppelte angehoben. Niemand kann sagen, wie oderwann diese Trends umkippen, aber sie sind gefährlich,zu gefährlich, meinen wir, um in dem Umfang, wie Siees tun, darauf zu bauen, dass diese Lage stabil bleibt.Umso dringender sind nach unserer Auffassung Re-formen, die der strukturellen Arbeitslosigkeit entge-genwirken und die Nachfrage auf dem Binnenmarktstärken. Im Mittelpunkt Ihrer Reformen steht die Steuer-reform. Damit würden Arbeitsanreize verstärkt, Investi-tionen ermutigt und sogar soziale Gerechtigkeit wieder-hergestellt, wie Sie sagen. Kollege Eichel, dass es indiesem Land Vermögende gibt, deren privates Geldver-mögen in den letzten Jahren auf 5,7 Milliarden DM ge-stiegen ist, darüber reden Sie seit dem letzten Parteitagvielleicht nicht mehr. Aber zu sozialer Gerechtigkeit –daran werden wir Sie weiterhin erinnern – gehört dieEinbeziehung von Vermögen in die Besteuerung.
Eine Entlastung aller angesichts des Zustandes, dass 16Jahre lang hohe Einkommen entlastet wurden und sicheine Lage höchster Verteilungsungerechtigkeit her-ausgebildet hat, ist und bleibt ungerecht und führt zurKrise auf den Nachfragemärkten. Zur Stärkung der Bin-nennachfrage wäre hier eine sehr viel entschiedenereKorrektur erforderlich.Das Anhäufen großer Vermögen, die nicht mehr pro-duktiv angelegt und steuerlich nicht abgeschöpft wer-den, auf der einen Seite und Staatsverschuldung und Ar-beitslosigkeit auf der anderen Seite sind zwei Seiten ei-ner Medaille. Diese Geldanhäufung hat auch zum Re-gime des Shareholder-Value in den Betrieben mit seinenverheerenden Folgen für Beschäftigung und sozialeDemokratie geführt. Sie hat einen gewaltigen Umstruk-turierungsprozess ausgelöst. Statt Diversifikation gibtes nun eine Konzentration auf das Kerngeschäft inweltmarktorientierten Wertschöpfungsketten. Das wirdbegleitet von Fusionen, Übernahmen, Outsourcing, Ver-lagerungen bis hin zur Schließung vieler Unternehmen.Dies alles sind Prozesse, die zum Abbau von Beschäfti-gung geführt haben und führen werden sowie zur „Pre-karisierung“ von Arbeit beigetragen haben und beitragenwerden. Die Regierung sieht hier keinen Handlungsbedarf.Wir schon! Eine Reform der Mitbestimmung, die einVetorecht für Betriebsräte und Gewerkschaften bei Fu-sionen, Übernahmen, Verlagerungen und Schließungenbeinhaltet, halten wir im Interesse von Beschäftigungund sozialer Demokratie für dringend geboten.
Die Senkung der Unternehmensteuern trägt unsererAuffassung nach ebenso zu dieser Entwicklung, zurKlaus Wolfgang Müller
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Stärkung der Finanzmärkte und damit zur Zunahme derArbeitslosigkeit, bei. Der Anteil, des Ertrages den Un-ternehmen in Sachmitteln investieren, ist auf 54 Prozentdes Ertrages von Produktionsunternehmen gesunken.Drei Viertel aller international tätigen Unternehmenspekulieren selbst mit Derivaten, ein Viertel der Mittelwird in Aktienkäufen angelegt.Auch Produktionsunternehmen verlagern ihre Aktivi-täten zunehmend in den Bereich Vermögenswirtschaftund Spekulation. Dies sind zwei Gründe mehr, Vermö-gen endlich der Besteuerung zu unterziehen und von ei-ner Senkung der Unternehmensteuern, die vor allem denKonzernen mehr Geld in die Kasse bringt, Abstand zunehmen, wenn man strukturelle Reformen für mehr Be-schäftigung will. Die vermissen wir in dem vorliegendenJahreswirtschaftsbericht noch deutlich.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ernst Schwanhold.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zu-nächst an Herrn Glos wenden, der gesagt hat, er freuesich, dass wir uns wieder der Sachpolitik zuwendenkönnen. Herr Glos, dies war nicht unser Problem. Wirhaben in den letzten Monaten eine gute Sachpolitik ge-macht. Ihr Problem ist es, dass Sie sich daran nichtbeteiligen konnten.
Anders ist es auch nicht zu erklären, dass der Jah-reswirtschaftsbericht 2000 ebenso wie das Sachver-ständigengutachten Folgendes belegt: Alle wirt-schaftlichen Rahmendaten für das Jahr 2000 zeigen nachoben, zeigen auf Erfolg, auf Wachstum und zusätzlicheBeschäftigung bei gleichzeitiger Preisstabilität undHaushaltskonsolidierung. Es ist schon erstaunlich, dassin dem vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht – übrigensanders als bei den von Ihnen in der Vergangenheit vor-gelegten – von deutlich geringeren Wachstumszahlenausgegangen wird. Dies geschieht deshalb, um sich nichthinterher dem Vorwurf aussetzen zu müssen, man habediesen nach oben manipuliert. Deutsche Bank Researchund alle anderen Institute prognostizieren bessere Er-gebnisse.Ich habe mir einmal angeschaut, wie dies in der Ver-gangenheit war, als der Wirtschaftsminister, der meistder F.D.P. angehörte, diesen Jahreswirtschaftsberichtnoch zu verantworten hatte. Da lagen die vorgelegtenZahlen immer deutlich oberhalb der realen Zahlen.
Es ist also dem Finanzminister und dem Wirtschafts-minister dafür zu danken, dass sie mit Realismus an die-se Sache herangegangen sind und die Rahmendaten sogesetzt haben, dass sie auch eingehalten werden können,damit nicht aus der jetzigen psychologisch positivenStimmung wieder eine Enttäuschung wird. Dies wäredas Schlimmste, was der deutschen Wirtschaft passierenkönnte.
Es wurde der Vorwurf gemacht, dass wir noch nichtalle Probleme gelöst haben. Dieser Vorwurf wurde auchvon Herrn Brüderle erhoben. Herr Brüderle, Ihre Redewar meiner Meinung nach in weiten Passagen eine aus-drückliche Bestätigung der Politik der rot-grünen Koali-tion-ein Schelm, der irgendetwas dabei denkt. Ich geheeinmal davon aus, dass dies ein Erkenntniszugewinn ist.Ich fand Ihre Rede in den Teilen, in denen sie Kritikenthielt partiell sogar berechtigt. Natürlich haben wirnoch eine zu hohe Arbeitslosigkeit. Aber, Herr Brüderle,so schlecht kann Ihr Gedächtnis doch nicht sein: Siemüssen sich doch daran erinnern, dass am Ende der Re-gierung, der Ihre Partei angehört hat, die Arbeitslosen-zahlen deutlich höher als heute lagen, dass Sie uns dieseProbleme hinterlassen haben und dass wir, nebenbeibemerkt, auch noch eine Haushaltskonsolidierung einzu-leiten hatten, was ja keine leichte Aufgabe gewesen ist.Was meinen Sie, wie es in diesem Land aussehen würde,wenn wir die 82 Milliarden DM, die wir für Zinszahlun-gen auszugeben haben, für Strukturreformen, für Infra-strukturmaßnahmen sowie für Forschung und Tech-nologie ausgeben könnten?
Ich möchte, wie sich das für eine Debatte gehört,noch auf ein paar Rahmendaten eingehen und nicht al-lein die positiven Zahlen des Jahreswirtschaftsberichteswiederholen. Es wird ein künstlicher Gegensatz – wir al-le neigen gelegentlich dazu – zwischen kleinen undGroßbetrieben aufgebaut. Ich möchte ausdrücklichdarauf hinweisen, dass mir die Großbetriebe, die wir inder Bundesrepublik Deutschland haben, alle sehr will-kommen sind, weil wir ohne diese Großbetriebe dieSpitzentechnologien in unserem Land nicht zu der Reifehätten entwickeln können, die wir jetzt haben.
Es ist deshalb leichtfertig, so zu tun, als ob man nurauf die kleinen Betriebe setzen könnte. Diese Betriebesind unendlich wichtig für die Beschäftigung. Aber dieSpin-offs, die sich von Großbetrieben zu Kleinbetriebenergeben, übrigens auch das Hereinholen von internatio-nalem Kapital und insbesondere das Hereinholen vonneuer Technologie sind ganz wesentliche Elemente fürdas Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum in dennächsten Jahren. Wie anders können wir die Lücken inder Biotechnologie, in der Informations- und Kommuni-Ursula Lötzer
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kationstechnologie, die leider in Ihrer Regierungszeitentstanden sind, eigentlich schließen?Es ist eben nicht gut, wenn Mannesmann Orangekauft, aber wenn sich ausländische Investoren auf demdeutschen Markt nicht bewegen können. Natürlich müs-sen sich ausländische Unternehmen auf dem deutschenMarkt und deutsche Unternehmen auf internationalenMärkten bewegen können. Es muss nur sichergestelltsein, dass die Produktionsstandorte und die Kompetenz-zentren dort bleiben, wo die Entwicklungen durchge-führt wurden. Darin liegt die Aufgabe – in diesem Punktgibt es keine Kritik – des Zusammenschlusses von Vo-dafone und Mannesmann.
Ich will auf das hinweisen, was bezüglich der kleinenBetriebe erreicht worden ist. Die Landespolitik, aberauch die Bundespolitik haben dabei eine wichtige Rollegespielt. Die Zahl von Unternehmensgründungen nimmtendlich wieder zu, nicht nur in den Bereichen der neuenTechnologien, wie zum Beispiel in der Bio-, Umwelt-,Informations- und Kommunikationstechnologie, sondernauch in den klassischen Bereichen. Diese Entwicklungist gut und auch richtig, weil wir damit eine Neustruktu-rierung der Wirtschaft erreichen. Wir sollten darüberfroh sein und den Betrieben Mut machen, indem wir ih-nen sagen: Ihr habt alle Chancen auf dem Binnenmarktund alle Chancen auf den internationalen Märkten; wirwerden euch dabei helfen, eure Zukunft zu finanzieren.Wir sollten aber nicht behaupten, dass diese Maß-nahmen nicht ausreichend seien, dass nicht genügendgetan werde und dass die Lage schlecht sei. Nein, dieseUnternehmer brauchen Mut, damit sie sich am Marktbewähren können. Sie haben vor vielen Jahren schoneinmal die Konjunktur schlechtgeredet. Sie sollten nichtnoch einmal den gleichen Fehler machen. Im Übrigenglaubt Ihnen niemand Ihre Kritik. Herr Henkel und an-dere sehen die Lage nämlich völlig anders.
Wenn es noch eines Indizes für die gute Entwicklungbedarf, dann sind dies die jüngsten Zahlen, die uns vor-gelegt worden sind. Es werden plötzlich 7 Prozent mehrfür Forschung und Entwicklung am Standort Bundes-republik Deutschland ausgegeben. Man würde in diesenStandort nicht investieren, wenn die Rahmenbedingun-gen so wären, dass man nicht die Früchte dieser In-vestition in Forschung und Entwicklung im eigenenLand ernten und auf den Weltmärkten präsentierenkönnte. Die Hoffnung bezüglich des Weltmarktes wirdvon der Tatsache getragen, dass wir in den vergangenenJahren die Lohnstückkosten durch Setzen der entspre-chenden Rahmenbedingungen deutlich gesenkt haben.Wir sind durch die Steuerreform und durch Strukturre-formen, die wir eingeleitet haben, wettbewerbsfähigergeworden. Insbesondere sind wir durch das Schaffenverlässlicher Rahmendaten wettbewerbsfähiger gewor-den.
Ich will an dieser Stelle eine Bemerkung zu demThema Kernenergie und Energieversorgung machen,welches Sie immer wieder in die Debatte – es handeltsich mittlerweile um eine Mammutdebatte – einbringen.Wer der investierenden Wirtschaft verspricht, eine si-chere Energieversorgung mit Hilfe der Kernkraft sei inEuropa und in der Bundesrepublik Deutschland möglich,der lenkt sie auf einen falschen Pfad. Gegenwärtig gibtes nämlich keine Akzeptanz für die Kernkraft. Weil esdiese Akzeptanz nicht gibt, haben wir eine neues Ener-gieszenario mit Steinkohle und Braunkohle, mit alterna-tiven Energieträgern und mit Energieeinsparung aufzu-bauen. Der Job des Bundeswirtschaftsministers ist es, imKonsens mit den Unternehmen dafür zu sorgen, dass dieEnergieversorgung in diesem Lande auf lange Zeit si-chergestellt ist und dass wir Arbeitsplätze und den Ener-gieproduktionsstandort Bundesrepublik Deutschland er-halten. Ihre Kassandrarufe dienen nicht dem Standortund insbesondere nicht der Entwicklung dieses Marktes.
Die immer wieder aufgeworfene Frage der sozialenGerechtigkeit wird uns sicherlich in der Zukunft voneiner etwas anderen Seite beschäftigen. Ein Teil desHauses meint, dass nur Umverteilung soziale Sicherheitgewährleisten könnte. Ich glaube, dass dies ein Modellder Vergangenheit ist.
Soziale Sicherheit wird man sicherlich eher durch Brü-cken in den ersten Arbeitsmarkt, durch eigene Er-werbstätigkeit, bekommen. Wir müssen darüber nach-denken, wie wir auch jenen in bei uns leicht unterentwi-ckelten Bereichen einen Anreiz geben, in den ersten Ar-beitsmarkt zu gehen, diese Stellen und diese Arbeit an-zunehmen. Das ist das eigentliche Erfolgsmodell, bei ge-ringerem Wirtschaftswachstum zu einer höheren Zahlvon Beschäftigten zu kommen. Zuruf des Abg.
– Herr Glos, machen Sie sich nichts vor: Jedes Land hateine eigene Tradition. Keiner sollte diese Tradition überBord werfen und wir sollten schon gar nicht so tun, alsob wir den schwarzen Peter den Gewerkschaften zu-schieben könnten. Diese haben eine äußerst große Ver-antwortung für die Entwicklung dieses Landes über-nommen und sie sind in der Vergangenheit wichtigerPartner wirtschaftlicher Entwicklung gewesen.
Sie werden dies mit dem notwendigen Maß an Flexibili-tät auch in Zukunft sein. Wer die Schwarz-Weiß-Debatte will, der will in Wahrheit den Abbau des Sozial-staates und nicht dessen Fortentwicklung.
Ernst Schwanhold
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Genau in diesem Bereich setzt das Bündnis für Ar-beit an. Ja, man hätte sich wünschen können, dass esschneller geht, übrigens auf beiden Seiten. Ich will dieRufe des einen oder anderen Unternehmens- oder Ver-bandsvertreters nicht noch einmal zitieren, obwohl mirdas sogar aus dem Gedächtnis heraus nicht schwer fallenwürde; denn es brennt sich ein, wenn man ein halbes o-der Dreivierteljahr in der Kritik ist. Ja, es hätte schnellergehen können. Wer uns aber heute das Beispiel von Hol-land oder Dänemark vorhält, vergisst, dass deren Gesell-schaften von Hause aus Konsensgesellschaften sind, dieeinen langen Prozess hinter sich haben, in denen dasWort des einen Partners gegenüber dem anderen Partnerauch noch gilt und in denen in den vergangenen 16 Jah-ren insbesondere das Wort der Politik verlässlich war.Dass Ihr Wort nicht verlässlich war, hat Unsicherheit indiese Gespräche hineingebracht. Sie sind es gewesen,Kohl ist es gewesen, der dies mutwillig zerstört hat.
Was sollen Ihnen eigentlich die anderen Partner glau-ben? Nein, ich halte es für einen ausgesprochen gefähr-lichen Weg, sich hierher zu stellen und zu kritisieren,insbesondere auch im Hinblick auf die internationalenSignale. Damit will ich mich noch einem Punkt zuwen-den, über den ich mich ausdrücklich freue. Wir haben eine gute Exportkonjunktur. Wir solltenalles tun, damit dieses so bleibt. Es wird übrigensschwieriger werden, unsere Produkte und Dienstleistun-gen auf den Weltmärkten zu verkaufen, weil der Globa-lisierungsprozess voranschreitet.
Wir können dies am besten dann bewerkstelligen, wennwir die Binnenkonjunktur auch stärken.
Diese Binnenkonjunktur ist in den letzten zwei Jahrendurch die rot-grüne Regierung gestärkt worden,
weil wir nämlich eine Steuerreform gemacht haben, mitder wir genau jene, die alles Geld, das sie haben, für denKonsum ausgeben, mit mehr Geld ausgegeben haben.Dieses Geld geht nicht in die Sparbücher.
Genau dies macht die Teilhabe für diejenigen aus, diejeden Tag in die Fabriken und in die Verwaltungen ge-hen und am Ende des Monats auch einen Ertrag habensollen. Deshalb haben wir die Lohnnebenkosten gesenkt.Deshalb haben wir die Steuern gesenkt, was übrigensdazu führen wird, dass vom Jahre 2005 an ein Arbeit-nehmerhaushalt mit vier Personen und einem Jahresein-kommen von 50 000 DM keine Mark Steuern bezahlenwird. Dies ist der richtige Weg, damit sich Arbeit lohntund damit es sich nicht lohnt – auch bei jenen nicht, diesich schon 50-mal beworben haben –, sich nur auf Sozi-altransfer und Schwarzarbeit zu kaprizieren. Dies ist ei-ne ernsthafte Gefahr, wenn man sich vergegenwärtigt,dass 650 Milliarden DM oder gar 700 Milliarden DMdurch Schwarzarbeit umgesetzt werden. Das kann manauch durch die Senkung um einen halben Mehrwert-steuerpunkt oder durch Senkung der Lohnnebenkostennicht beseitigen.
Schwarzarbeit wird immer preiswerter sein als Arbeit,die im ersten Arbeitsmarkt geleistet wird. Wir müssendie Anreize für Arbeit im ersten Arbeitsmarkt stärken.
Herr Glos, ich kann ja verstehen, dass Sie momentanwenig Zeit haben, den Jahreswirtschaftsbericht zu lesen.Ich hätte ihn an Ihrer Stelle auch nicht gelesen. Es gibtja jeden Tag so viel Spannendes an anderer Stelle zu le-sen. Wenn Sie sich aber nach den Tagen der Hektikwirklich einmal dem Jahreswirtschaftsbericht und derwirtschaftlichen Entwicklung zuwenden, dann werdenwir uns möglicherweise in einem halben Jahr darüberunterhalten müssen, welche weltwirtschaftlichen Risi-ken es gibt, wie es mit der Überbewertung des Yen aus-sieht und wie wir es erreichen können, den völlig unter-bewerteten Euro in eine vernünftige Relation zum Dollarzu setzen.Aber dafür sind nicht die wirtschaftlichen Fundamental-daten zum gegenwärtigen Zeitpunkt verantwortlich. Ich glaube, es ist eine relativ kurzfristige Reaktion,die sich bald harmonisieren wird, und ich glaube, dassdie Schwäche überwunden wird. Erste Signale gibt esauch von großen staatlichen Reservebanken, die sagen,sie wollen in den Euro investieren und teilweise aus demDollar umschichten. Dies ist ein positives Signal. Wirdürfen als Leitwirtschaftsnation in Europa nicht dazubeitragen, dass der Euro schlechtgeredet wird. Wir sinddauerhaft auf einen stabilen Euro angewiesen, der imAußenwert so stabil sein muss wie im Binnenwert. Ichbitte Sie sehr herzlich: Weisen Sie darauf hin, wie stabilder Euro im Binnenwert ist, damit Sie nicht eine Verun-sicherungskampagne gegenüber den Kleinsparern in dieWelt setzen. Das würde nämlich deren Investitionsnei-gung wieder reduzieren und nicht der Wirtschaft und derBeschäftigung dienen. Vertrauen ist angesagt, geradeauch in diesen Bereichen.Ernst Schwanhold
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8002 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zumSchluss einen ganz kurzen Dank an Sie richten. Ich habeden einen oder anderen gelegentlich hart attackiert. HerrBrüderle kann ein Lied davon singen. Der hat sich ein-mal bei mir beschwert. Ich fand es immer angemessen,Herr Brüderle. Wer selbst zuschlägt, soll kein Glaskinnhaben. Auch den leicht vergifteten Glückwunsch vonGunnar Uldall nehme ich so, wie ich ihn verstehe, inFreundschaft entgegen. Gunnar, das geht auch weiter so.Ich kann Sie nicht mit einer Abschiedsrede beglücken,weil ich noch lange Zeit von der Bundesratsbank zu Ih-nen reden werde. Ich freue mich darauf. Herzlichen Dank.
Lieber Herr
Kollege Schwanhold, ich wollte gerade ankündigen,
dass das vorerst Ihre letzte Rede in diesem Parlament ist.
Sie haben aber zu Recht darauf hingewiesen, dass es die
letzte vermutlich nur in dieser Funktion war. Jedenfalls
wünsche ich Ihnen auch im Namen des Hauses für Ihre
zukünftige Arbeit in Nordrhein-Westfalen alles Gute.
Das Wort hat die Abgeordnete Dagmar Wöhrl.
Frau Präsidentin! Lie-be Kolleginnen, liebe Kollegen! Lieber KollegeSchwanhold, auch von meiner Seite wünsche ich Ihnenfür Ihren persönlichen Lebensweg weiterhin alles Gute.
Ich glaube, wir haben immer gute Diskussionen imWirtschaftsausschuss geführt und werden sie auch zu-künftig haben, wenn Sie hier auf der anderen Bank sit-zen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir haben heutezum zweiten Mal einen Jahreswirtschaftsbericht vorlie-gen, den der Bundesfinanzminister verfasst hat. LieberHerr Minister Müller, ich bedauere wirklich sehr, dassSie es nicht geschafft haben, diesen wichtigen Bereichwieder in Ihr Ressort zurückzuholen.Das zeigt uns, welche Bedeutung diese Regierung derWirtschaftspolitik zumisst:
Die Wirtschaftspolitik ist bei Ihnen ein schmückendesBeiwerk für Finanzpolitik einerseits, für Sozialpolitikandererseits. Da braucht man sich nicht zu wundern,wenn uns ein solcher Jahreswirtschaftsbericht vorgelegtwird, bei dem nicht sehr viel herauskommt.
Was war beim letzten Bericht 1999? Wachs-tumsprognose: 2 Prozent. – Voll daneben gelegen! He-rausgekommen ist ein Wirtschaftswachstum von1,4 Prozent, bei einem EU-Durchschnitt – ich bitte, ge-nau zuzuhören – von 2,1 Prozent. Dann kann man sichnicht darauf berufen, dass irgendwelche außenwirt-schaftlichen Einflüsse daran schuld gewesen sein sollen.Verantwortlich waren innenpolitische Fehlentscheidun-gen. Ich denke hier an die Rücknahme arbeitsmarktpoli-tischer Reformen noch im Dezember 1998. Ich denke andas so genannte Steuerentlastungsgesetz, das den deut-schen Unternehmen im Zeitraum 1999 bis 2002 rund 30Milliarden DM mehr Belastung bringt. Ich denke an diezum 1. April eingeführte Ökosteuer, die seitdem dieEnergiekosten in die Höhe treibt, ohne irgendeinen um-weltpolitischen Nutzen zu haben. Diese Steuer ist wederöko noch logisch.
Sie ist sozial ungerecht. Es ist eine Umverteilung zulas-ten von Pendlern, Rentnern und Einkommensschwa-chen.Was das Stärkste ist: Sie berufen sich dabei darauf,diese Einnahmen zur Senkung der Rentenversiche-rungsbeiträge zu verwenden. Warum haben Sie dannkein Junktim zwischen Steuererhöhung und Beitrags-senkung in Ihrem zweiten Gesetz? Das fehlt in diesemGesetz!Wenn man sich dann die Zahlen anschaut, stellt manfest: geplante Einnahmen durch die Ökosteuer im Jahre2003 38 Milliarden DM; die Senkung der Rentenver-sicherungsbeiträge auf 19 Prozent bedeutet eine Entlas-tung um 20 Milliarden DM. Wo sind denn die 18 Milli-arden DM Differenz hingekommen? – Die gehen in Ih-ren Haushalt, und das ist die Mogelpackung, die Sienach draußen verkaufen!
Ich denke auch an etwas anderes, nämlich an dieNeuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhält-nisse, die 700 000 Jobs vernichtet hat,
worüber sich – das verwundert mich wirklich sehr –Herr Minister Riester anscheinend noch freut. Das ist ei-ne sehr eigenartige Mentalität.Lieber Herr Minister Müller, ich habe nachgelesen,was Sie letztes Jahr zum Jahreswirtschaftsbericht gesagthaben. Damals haben Sie angegeben, die Steuerreformkomme noch im Jahr 1999, und zwar mit einem refor-mierten Steuersystem mit einer Steuerbelastung der Un-ternehmen von höchstens 35 Prozent. Stattdessen habenwir jetzt einen Gesetzentwurf mit einem steuersystema-tischen Murks auf dem Tisch liegen, einen Entwurf, dermit Trippelschritten – ich möchte nicht sagen, dass esnicht die richtige Richtung ist – vorangeht. Aber SieErnst Schwanhold
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8003
werden eines mit dieser Reform nicht erreichen, nämlichdas Ziel, das Sie sich gesetzt haben.
Ein ganz großes Manko dieser Reform ist vor allem,dass Sie den Beschäftigungsmotor Mittelstand immenskrass benachteiligen.
Außerdem ist dieser Entwurf sogar in den Reihen derRegierungskoalition nicht unumstritten.Auch aus den 35 Prozent ist nichts geworden. Dennselbst die von Ihnen bevorzugten Kapitalgesellschaftenkommen mit der von Ihnen bisher geplanten Unterneh-mensteuerreform auf eine Gesamtbelastung von circa 38Prozent. Von Personengesellschaften, Freiberuflern undEinzelkaufleuten will ich hier jetzt überhaupt nicht re-den.Hinsichtlich der Prognosedaten des Jahreswirt-schaftsberichts ist Herr Minister Eichel schon vorsichti-ger als sein Vorgänger. Er rechnet mit 200 000 Arbeits-losen weniger. Aber diese Zahl kannten wir schon. Daswar nämlich die Zahl der Bundesanstalt für Arbeit,
die – was auch hier heute schon erwähnt worden ist –aufgrund des demographischen Faktors so prognostiziertwird.
Denn es werden weniger Menschen in das Erwerbslebeneinsteigen, als Menschen aus Altersgründen ausscheidenwerden.Wenn man an das denkt, was Herr Schröder damalsgesagt hat, nämlich dass er sich jederzeit am Rückgangder Zahl der Arbeitslosen messen lassen werde, mussman sagen: Dann muss er sich jetzt daran auch messenlassen. Wir haben allein in dieser Legislaturperiode ei-nen demographisch begründeten Rückgang von über 1Million Arbeitslosen. Das heißt, diese Regierung müsstebis Ende der Legislaturperiode eine Quote von unter 3Millionen Arbeitslosen aufweisen. Erst dann hätten Sieeinen Erfolg, der auf Ihre Arbeit zurückzuführen wäre.
Wir haben eine Stagnation auf dem Arbeitsmarkt, lie-be Kolleginnen und Kollegen von der Regierung. DieseStagnation kommt nicht von ungefähr. Bei Ihrem Kampfgegen die Arbeitslosigkeit betreiben Sie eine Mangel-verwaltung: Sie verteilen knappe Arbeit auf möglichstviele Köpfe. Da mahnt der Sachverständigenrat voll-kommen zu Recht dringend eine Reform der Arbeits-marktordnung an, die darauf ausgerichtet sein muss,den Arbeitslosen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu er-leichtern. Er kritisiert die Allgemeinverbindlichkeit vonTarifverträgen und fordert die Abschaffung von § 77Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes sowie eine Re-form des Günstigkeitsprinzips. Und er hat Recht. Diebestehenden gesetzlichen Regelungen verhindern dienotwendigen betrieblichen und regionalen Bündnisse fürArbeit. Da braucht man nicht erst einen Fall Holzmann,um das festzustellen.Was sagt die Bundesregierung in ihrem Jahreswirt-schaftsbericht zu diesen zentralen Anliegen des Sach-verständigenrates? Sie wischt sie einfach beiseite. Ich zi-tiere:Die Prüfungen durch die Bundesregierung habenergeben, dass die Vorschriften nach wie vor erfor-derlich sind, um das Arbeitsrechtssystem zu erhal-ten.Das ist der ganze Kommentar, den Sie dazu abgegebenhaben. Sie haben aber noch etwas anderes in Ihrer Schubla-de. Es ist schade, dass Herr Kollege Riester jetzt nichtda ist. Es gibt nämlich einen Vorschlag von den Ge-werkschaften zur Novellierung des Betriebsverfassungs-gesetzes. Das ist aber kein Vorschlag zu dringend not-wendigen Flexibilisierungen. Stattdessen wird vorge-schlagen, die unternehmerischen Abläufe noch stärker inein Korsett einzuspannen und damit den Unternehmennoch mehr Flexibilität wegzunehmen, noch mehr Mitbe-stimmung einzuführen sowie den Gewerkschaften einnoch stärkeres Klagerecht einzuräumen. Wir sind sicher,dass dieser Entwurf sehr bald hier auf dem Tisch liegenwird.Sie haben sich in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht beider Arbeitsmarktpolitik nicht an einer neuen Mitte, son-dern – ich sage es ganz offen und klar – an einer altenLinken orientiert. Sie haben seit Ihrem Regierungsantrittden Mangel an Flexibilität noch verschärft. Das heißt,wir haben nicht nur einen Stillstand, sondern wir habenin diesem Bereich einen klaren Rückschritt.Ich möchte noch ganz kurz Ihr Lieblingsprojekt, dasBündnis für Arbeit, ansprechen. Am 10. Januar hat dasletzte Spitzengespräch stattgefunden. Herausgekommenist ein ziemlich nichtssagendes Papier, in dem von be-schäftigungsorientierter Lohnpolitik die Rede ist. DerKanzler hat sich hierzu medienwirksam feiern lassen.Aber schon zwei Tage später legt die IG Metall eineForderung von 5,5 Prozent Lohnerhöhung vor. Eineschlimmere Demontage des Bündnisses kann es nichtgeben. Es ist ein eklatanter Widerspruch zu den Pseudo-vereinbarungen des Bündnisses.
Wenn Herr Schulte jetzt noch mitteilt, definitiv nichtüber Tarifpolitik sprechen zu wollen, sieht man den gro-ßen Fehler des Bündnisses. Der Sachverständigenratsagt zu Recht: Lohn ist die wichtigste Steuergröße aufdem Arbeitsmarkt. Es gibt einen Zusammenhang zwi-schen Lohnhöhe und Arbeitsplätzen. Deshalb ist es wi-dersinnig, dass man hier versucht, Lohn- und Tarifpoli-tik aus dem Bündnis auszuklammern.Wir wissen ganz genau, dass unsere Nachbarn in ih-ren Bündnissen und ihrer Arbeitsmarktpolitik erfolg-reich waren, indem sie langjährige moderate Tarifab-schlüsse vereinbart und in ihrer Arbeitsmarktpolitik fle-xibilisiert haben. Aber dazu, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Regierung, fehlt Ihnen der Mut.Dagmar Wöhrl
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8004 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Unsere Wirtschaft strahlt nicht so hell, wie Sie esimmer wieder darzustellen versuchen. Wir haben ein Ri-siko für unsere Konjunktur. Das sind die Löhne und dieZinsen. Sie wissen, dass wir im europäischen und welt-weiten Vergleich hinterherhinken. Wir haben einen Auf-schwung, aber das ist ein importierter Aufschwung. Dasist nicht Ihr Aufschwung, auch wenn sich der Kanzlerimmer wieder als Aufschwungkanzler darstellt.Zum Schluss möchte ich noch die Frage stellen: Wasboomt denn außer dem Export? Es boomen Hochtechno-logien und Branchen, vor allem des Telekommunikati-onsbereiches, die wir gegen heftigste Widerstände vonIhnen liberalisiert haben.
Frau Kollegin,
darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie schon zwei Mi-
nuten über die Zeit reden.
Ja. – Heute ernten Sie
die Früchte unserer Politik.
Sie machen keine Aufbruchstimmung, denn Ihre Wirt-
schaftspolitik kann nicht überzeugen und Ihr Jahreswirt-
schaftsbericht auch nicht.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Mathias Schubert.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht2000 hat in der Öffentlichkeit ein bemerkenswert positi-ves Echo ausgelöst. Ich glaube, Herr Minister, dass dieseVoten der Öffentlichkeit für uns auch politisch vielschwerer wiegen als das, was eine Opposition, die ohne-hin kaum sprachfähig ist, uns ins diesem Bereich zu sa-gen hat.Am bemerkenswertesten war für mich ein Satz einesKommentators der „Süddeutschen Zeitung“ vom 27. Ja-nuar. Ich zitiere:Die rot-grüne Bundesregierung ist nicht der stetigenVersuchung der Schönfärberei erlegen.Wir haben es ja erlebt: Berichte zum Abfeiern der eige-nen Großartigkeit führen, wie dieses Land in den 90er-Jahren erleben musste, zu Stillstand, zu Reformstau undvor allen Dingen zu politischer Mutlosigkeit.
Selbstverständlich sind die Erwartungen bezüglicheiner positiven Entwicklung in der Wirtschaft und einerendlich zurückgehenden Arbeitslosigkeit darauf zurück-zuführen, dass unsere Reformprogramme zu greifenbeginnen, so zum Beispiel die Haushaltskonsolidierung,die Steuerreform und auch das Bündnis für Arbeit. Aberwir stehen – das ist ganz klar – erst am Anfang. Derdauerhafte, der nachhaltige Erfolg dieser Politik wirdsich erst in den nächsten Jahren zeigen. Denn die Wie-dergewinnung der Zukunftsfähigkeit in Deutschlandist nicht mit einem Jahreswirtschaftsbericht zu schaffen;sie erfordert Verantwortung auch und gerade über denTag hinaus. Deshalb sind all unsere Reformvorhaben alslangfristige Prozesse – über diese Legislaturperiode hin-aus – angelegt.Hinter dieser Strategie verbirgt sich aber noch mehr:Unsere Politik ist auf Dialog angelegt, auf die Einbezie-hung möglichst vieler bei der politischen Konsolidie-rung und Neuorientierung, und zwar gerade nicht imSinne eines einseitigen Lobbyismus, sondern orientiertan dem, was zu nennen immer wieder wichtig ist, demGemeinwohl.
Mir scheint, dass gerade in dieser Grundüberzeugungdessen, was Politik bedeutet, was sie sein kann und seinmuss, ein wesentlicher Unterschied zu dem christsozia-len und christdemokratischen Politikverständnis vor al-lem der letzten Jahre Ihrer Regierungszeit liegt. Wir ver-stehen Politik als Verpflichtung und Verantwortung zumGemeinwohl. Bei Ihnen hatte ich zunehmend den Ein-druck, Sie betreiben Politik nach dem Motto: Der Staatgehört uns.
Es ist wichtig, gerade bei so harten Faktenthemen wieWirtschaft und Finanzen auf diese grundsätzliche Moti-vation hinzuweisen; denn die Menschen haben einRecht, zu wissen, von welchen Überzeugungen sich die-jenigen, die Politik zu verantworten haben, leiten lassen.Der Realismus, der sich durch den Jahreswirtschafts-bericht zieht, kommt ebenso wie unser Wille zu gestal-ten auch in den Passagen, die Ostdeutschland betreffen,zum Ausdruck. Wir müssen den vielschichtigen Realitä-ten ins Auge sehen und alle Ideologisierungen hinter unslassen. In diesem Sinne möchte ich im Einzelnen Fol-gendes sagen:Am höchst erfreulichen Wirtschaftswachstum in die-sem Jahr werden die neuen Länder – aufs Ganze gese-hen – nicht gleichwertig Anteil haben. Das gilt auch fürdie Rückführung der Arbeitslosigkeit. Doch die Wirt-schafts- und Arbeitsmarktlandschaft in Ostdeutschlandist zum Glück längst keine homogene Wüste mehr. Esgibt Hochtechnologieregionen mit jährlichen Wachs-tumsraten zwischen 8 und 12 Prozent in den zukunfts-orientierten Branchen und mit entsprechend relativ nied-riger Arbeitslosigkeit, und es gibt Regionen, die nachwie vor große Schwierigkeiten haben, überhaupt denSprung in die Konsolidierungsphase zu schaffen. Es gibtRegionen, in denen ein massiver Arbeitskräftemangelauf der ganzen Breite informationstechnologischerDagmar Wöhrl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8005
Branchen herrscht, und es gibt solche, wo die Abwande-rung hauptsächlich Jugendlicher deshalb so hoch ist,weil sie keine beruflichen Perspektiven sehen.Einerseits beschreibt der Jahreswirtschaftsbericht dieindustrielle Basis Ostdeutschlands zutreffend als immernoch zu schmal, andererseits erwarten nach einer Um-frage des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle vomvergangenen Montag 70 Prozent der ostdeutschen Un-ternehmen in diesem Jahr Umsatzsteigerungen. Vor al-lem die Investitionsgüterindustrie rechnet mit einer Ver-besserung des Geschäftsklimas.Diese regionale Ausdifferenzierung bedingt eine ent-sprechende Wirtschaftspolitik. Das jahrelang angewand-te Gießkannenprinzip wird der Situation überhaupt nichtmehr gerecht. Darauf hat die Bundesregierung reagiert.Neben die klassischen Förderprogramme treten mehrund mehr Programme, die regionale Investitionskräftegezielt ansprechen. Als zurzeit vielleicht herausragends-tes Beispiel – es ist nicht das einzige, wohl aber das be-kannteste und wohl auch derzeit wirkungsvollste – nen-ne ich das Inno-Regio-Programm. Darin geht es umdie Förderung von regionalen Netzwerken aus Wirt-schaft, aus Forschung, aus Wissenschaft und Bildung.Eine der wesentlichsten Voraussetzungen für den Erfolgdieses Programms ist, dass es die Selbstorganisation derAkteure voraussetzt, ja fordert. Es geht um Eigeninitia-tive statt Druck von oben und Selbstorganisation stattAmtsstubenbürokratie. Wie diese Chance zur Eigeniniti-ative auch diejenigen motiviert, die nicht prämiert wor-den sind, zeigt, welch große Bedürfnisse zur Bündelungder eigenen Kräfte und welche Energien zur Kooperati-on bei vielen in Ostdeutschland vorhanden sind und nunmit diesem und ähnlichen Programmen aktiviert werden.Darin werden zunehmend nicht mehr chancenlose Wirt-schaftsstrukturen alimentiert, darin wird zur Eigenver-antwortung motiviert.Diese Neuorientierung aus einem wachsenden eigen-ständigen Selbstbewusstsein heraus ist auch bei dem e-her konservativen Förderinstrument Gemeinschaftsauf-gabe zu beobachten. Seit 1996 gehen die neuen Bundes-länder mehr und mehr dazu über, mit diesem Geld die sogenannten weichen Faktoren wie Aus- und Weiterbil-dung, Managementtraining, Unterstützung von Koopera-tion zwischen Forschung, Entwicklung und Wirtschaftusw. zu fördern. Neben die Investitionsförderung tritt al-so – das ist wichtig und wird im Jahreswirtschaftsberichtklar hervorgehoben – mehr und mehr die Förderung vonInnovation, die Förderung der Kooperation von Wirt-schaft und Forschung sowie die Förderung von regiona-len Bündnissen. Solche Neuorientierungen erfordern natürlich politi-schen Mut – besonders den, sich vom Althergebrachtenzu verabschieden. Dieser Mut ist in unseren Strukturre-formprogrammen für die neuen Bundesländer ganz ein-deutig vorhanden.
Übrigens sind solche Neuorientierungen auch not-wendig, weil zehn Jahre nach Herstellung der deutschenEinheit auf die Tatsachen reagiert werden muss, dass dieArbeitslosigkeit im Osten nach wie vor signifikant höherist als im Westen, dass die wirtschaftliche Leistungskraftin den neuen Ländern immer noch bei nur ungefähr 60 Prozent des westlichen Vergleichswertes liegt unddass es insbesondere im produzierenden Gewerbe undim Dienstleistungsbereich erheblichen Nachholbedarfgibt. Dieser Anpassungsprozess wird – machen wir unsnichts vor! – noch Jahre dauern. Aber die Politik derBundesregierung und der Koalitionsfraktionen – mani-fest geworden im Jahreswirtschaftsbericht 2000 – mitder politischen Umorientierung weg vom Gießkannen-und Alimentationsprinzip hin zur Förderung und Moti-vation der Selbstorganisationspotenziale und deren Ent-wicklungsmöglichkeiten ist genau der richtige Weg; aufihm muss weitergegangen werden.
Insofern gibt die Bundesregierung im Jahreswirt-schaftsbericht – realistisch anstatt jubelnd eingefärbt –nicht nur den Istzustand wieder, sondern auch die künf-tigen Leitlinien für einen wirtschaftlichen und arbeits-marktpolitischen Erfolg auch und gerade in Ostdeutsch-land vor. Als ostdeutscher Abgeordneter kann ich demnur zustimmen und sagen: Wir werden von unserer Seitenatürlich alles tun, um die Bundesregierung auf diesemWeg zu begleiten und zu unterstützen. Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hansjürgen Doss.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kol-legen! „Arbeitsplätze schaffen – Zukunftsfähigkeit ge-winnen“ lautet der hochtrabende Untertitel des Jahres-wirtschaftsberichts. Er ist übrigens der zweite, der vomBundesfinanzminister vorgelegt wird. Das ist durchausbemerkenswert. Zwei Kollegen – Rainer Brüderle undDagmar Wöhrl – haben das in der Debatte schon ange-sprochen. Ein Wirtschaftsbericht gehört letztlich insWirtschaftsministerium. Das ist doch das Wächteramtder sozialen Marktwirtschaft.
Dort sollte die Kraft der Argumente, der Ordnungspoli-tik und des freiheitlichen Gedankenguts der sozialenMarktwirtschaft angesiedelt sein.
Es ist bezeichnend, dass die SPD Wirtschaftspolitik zurFinanzpolitik degradiert, also mit dem Geldbeutelmacht. Das bedeutet – so muss vermutet werden – keineklare Konzeption, sondern die Steuerung über Staatsfi-nanzen.Aber zurück zum Titel des Jahreswirtschaftsberichts:große Worte, schwache Taten. Mit Rot-Grün wird es –so müssen wir befürchten – keine neuen ArbeitsplätzeDr. Mathias Schubert
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8006 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
geben. Sie reden darüber, aber schaffen werden Sie kei-ne.Im Übrigen werden in erster Linie die MittelständlerArbeitsplätze schaffen. Das machen sie darüber hinausvöllig alleine, wenn man ihnen die richtigen Rahmenbe-dingungen gibt. Diese richtigen Rahmenbedingungensind gefragt.
– Ich komme noch darauf. Ich weiß, Sie sind ungedul-dig, wenn Sie meine Ausführungen hören, weil Sie ein-fach dazulernen wollen. Das kann ich gut verstehen.Ihre Politik belastet den Mittelstand, hindert die Un-ternehmer an der freien Entwicklung, will nach wie vordie Belastbarkeit der Wirtschaft testen und nutzt besten-falls angeschlagenen Baukonzernen, denen Sie großzü-gige Staatsgarantien geben und Zuschüsse spendieren,während Sie die Investitionen beim Mittelstand und dieMittelstandsförderung großzügig kürzen.Also: Das augenblickliche Wirtschaftswachstum istzu gering. Dem Aufschwung mangelt es an Breite. Erwird weitestgehend am beschäftigungsintensiven Mit-telstand, an den kleinen und mittleren Unternehmen, amHandel, am Handwerk und an den freien Berufen vor-beigehen. Dort ist nach wie vor die große Flaute.Für ein beschäftigungswirksames Wachstum ist esdringend erforderlich, die Gesamtbelastung der kleinenund mittleren Unternehmen deutlich zu reduzieren. Dassagt nicht, wie man vermuten könnte, ein ewiger Nörg-ler der Opposition. Das sagt der Zentralverband desDeutschen Handwerks – er ist im Übrigen der größteArbeitgeber in Deutschland –
in seiner Presseerklärung vom 26. Januar 2000.
Vielleicht sollten Sie auf die hören, die das tun, was wirvon ihnen erwarten, und nicht in Ihre eigenen ideologi-schen Gedanken zurückverfallen, die uns nicht weiter-führen.
Der Aufschwung, den Sie laut reklamieren, ist starkvom Export getragen. Wenigstens das sollte unstrittigsein. Er steht nur auf einem Bein. Auf einem Bein zustehen ist immer eine wackelige Sache. Deswegen müss-ten Sie eine andere Politik machen. Sie tun das genaueGegenteil.
– Vielen Dank, liebe Kollegen. Ich sehe hohe Kompe-tenz und Sachverstand. Wenn meine Ausführungennachvollzogen werden können, ist das der Fall.
Schauen wir uns einmal die Mittelstandsförderung imBundeshaushalt an: 1998 gab es insgesamt 1,3 Milliar-den DM im Einzelplan des Bundeswirtschaftsministers.2003 werden daraus 620 Millionen DM. Das ist eineglatte Halbierung. Das muss man sich vor Augen führen.Die Förderung von Unternehmensberatung wird im Zeit-raum von 1998 bis 2000 von 44 Millionen DM auf34 Millionen DM gekürzt. Das ist ein Viertel weniger.
Ich komme zu Forschung und Entwicklung. Sie re-den immer davon, das sei die Zukunftsfähigkeit. Wastun Sie? – Sie reduzieren von 896 Millionen DM auf680 Millionen DM im Jahr 2003. Dann ist da noch IhreSteuerreform. Darüber wird morgen noch zu reden sein.Sie ist zu spät, zu zaghaft und hat zu wenig Entlas-tungswirkung.
Was ich ganz besonders toll finde – ich freue mich,dass ich Ihre Aufmerksamkeit errege –, ist folgende Tat-sache – das sollten Sie sich wirklich auf der Zunge zer-gehen lassen –: 200 Milliarden DM mehr Steuereinnah-men bis 2005,
aber nur 43 Milliarden DM Steuerentlastung durch dieReform. Wo ist da die Reform?
Uns Mittelständlern liegt besonders schwer im Ma-gen: Die Steuerreform begünstigt die Körperschaften.Die Unternehmen in Deutschland sind zu über 80 Pro-zent – der Kollege von den Grünen, den das beschäftigthatte, ist nicht mehr da, – Personenunternehmen oderEinzelkaufleute. Sie zahlen weiter die hohen Einkom-mensteuersätze. Ihr Optionsmodell bringt da gar nichts.
– Hören Sie doch einmal zu. Sie können doch gar nichtzuhören, wenn Sie dauernd reden.Der bereits zitierte ZDH sagt, es wird nur 1 Prozentdieser Personengesellschaften für die Körperschaftsteueroptieren. Sollte es aber so kommen, dass sie optieren,dann bedeutet das, es gibt einen Umbau unserer Unter-nehmenskultur: raus aus der Personengesellschaft, reinin die Kapitalgesellschaft. Es ist eine qualitative Verän-derung, die in Deutschland stattfindet.Wenn nicht mehr der selbstverantwortliche, persönlichhaftende Unternehmer – er ist der SPD nach wie vor suspekt –, sondern die anonyme Kapitalgesellschaft, ambesten noch unter Gewerkschaftskontrolle, zur RegelHansjürgen Doss
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8007
wird, wie es Ihnen lieber ist, dann ist das eine qualitativeVeränderung in Deutschland.Was wir brauchen, ist mehr Mut in der Steuerreform,auch in der Debatte morgen. In der Länderkammer wer-den, so denke ich, die nötigen Korrekturen erfolgen.Deswegen nur noch ein paar Bemerkungen zur Öko-steuer. Diese Steuer soll – das ist bereits angesprochenworden – bis zum Jahr 2003 rund 38 Milliarden DMeinbringen. Die Beitragszahler werden aber nur mit20 Milliarden DM entlastet. – Dagmar Wöhrl hat das be-reits erwähnt, aber wichtige Dinge muss man immerwieder sagen. –
Die restlichen 18 Milliarden DM steckt der Bundesfi-nanzminister ein.Die Entlastung beim Rentenbeitrag beträgt für denDurchschnittsverdiener 25 DM im Monat, während dieBelastung durch die Ökosteuer für einen Durchschnitts-haushalt 85 DM ausmacht. Eine achtköpfige Familie ausHeidelberg wird deshalb gegen dieses Gesetz klagen.Der Bundesverband des Groß- und Außenhandels über-legt sich eine Verfassungsklage, ebenso das Güterkraft-verkehrsgewerbe – und das aus gutem Grund: Die Re-gierung bricht nicht nur ihr Versprechen, diese Steuervoll zur Senkung der Beiträge einzusetzen, dieses Ge-setz verstößt auch eklatant gegen den Gleichheitsgrund-satz des Art. 3 Grundgesetz. Zu diesem Sachverhalt lie-gen bereits Gutachten von Rechtswissenschaftlern vor.Auch der von mir in dieser Frage angesprochene Wis-senschaftliche Dienst des Bundestages hat in seinerAntwort eine Fülle verfassungsrechtlicher Zweifel fest-gestellt.Meine Damen, meine Herren, einige Schlaglichter:Das produzierende Gewerbe wird ohne sachlichenGrund gegenüber anderen Branchen bevorzugt. Es be-zahlt nur rund 20 Prozent des Regelsteuersatzes. So istder Strom für die Säge im Sägewerk privilegiert, wäh-rend der gleiche Strom für die gleiche Säge im Holz-großhandelsbetrieb mit dem vollen Steuersatz belastetwird. Der Strom in der Brotfabrik ist privilegiert, wäh-rend der gleiche Strom für den gleichen Backofen beimBäckermeister mit dem vollen Steuersatz belastet wird.Man muss einmal versuchen, das jemandem zu erklären!Neben dem gebrochenen Versprechen der Verwen-dung der Erträge für die Senkung der Rentenbeiträgeund neben den verfassungsrechtlichen Problemen ist dieÖkosteuer drittens auch noch ökonomisch eine schwereLast für die Betriebe. Beispiel Güterkraftverkehr: Schondie erste Stufe brachte für einen durchschnittlichenLKW Mehrkosten von 2 800 DM, während der Renten-beitrag des Fahrers nur um 280 DM gesenkt wurde. DieEntlastung beträgt also nur 10 Prozent der Belastung.Diese Art von Politik führt nicht, wie im Jahreswirt-schaftsbericht angekündigt, zu neuen Arbeitsplätzen,höchstens zur Schwarzarbeit: In der relativ kurzen ZeitIhrer Verantwortung ist in diesem Bereich eine Steige-rungsrate von 6,8 Prozent festzustellen. Der entgangeneJahresumsatz ist von 548 Milliarden DM – Sie habendas angesprochen, Herr Schwanhold – auf 640 Mil-liarden DM angestiegen. Das sind rund 16 Prozent desBruttoinlandsproduktes. Das sollte uns große Sorge ma-chen.Durch die zweite Stufe dieser Ökosteuer wird die Be-lastung des angeführten LKWs bis 2003 auf mehr als11 000 DM pro Jahr steigen – und das angesichts desharten internationalen Wettbewerbs und eines offeneneuropäischen Verkehrsmarktes. So wird die Ökosteuernicht nur zur Wachstumsbremse, sondern auch zumJobkiller.
Deswegen sollten wir einen Rat von den Amerika-nern annehmen. Die sagen nämlich: Die beste Wirt-schafts- und Mittelstandspolitik ist, wenn du, Staat, vonmeinem Rücken gehst und deine Hand aus meiner Ta-sche nimmst.
Ich empfehle dieser Bundesregierung: Gehen Sie unsMittelständlern vom Rücken und nehmen Sie beideHände aus unseren Taschen. Dann wird ein Schuh da-raus, dann wird sich ein Aufschwung einstellen unddann bekommen wir auch wieder mehr Arbeitsplätze.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Nina Hauer.
Frau Präsidentin! Verehrte Da-men und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht dokumen-tiert, was überall zu spüren ist: Wir haben in Deutsch-land mehr Beschäftigung und mehr wirtschaftlichesWachstum. Grund dafür ist mit Sicherheit die erfolgrei-che Politik dieser Bundesregierung:
das Zukunftsprogramm, die steuerlichen Entlastungenund die aktive Beschäftigungspolitik, die insbesonderefür die junge Generation eine Perspektive bietet.Wir haben aber auch ein neues wirtschaftlichesKlima in Deutschland.
Das liegt daran, dass wir nicht nur den Mut hatten, Ver-änderungen vorzunehmen, sondern auch die Verände-rung der Zukunft zu gestalten. „Wirtschaftspolitik unterReformdruck“ hat deshalb der Sachverständigenrat daserste Kapitel seines Jahresgutachtens 1999/2000 über-schrieben. Ich denke, wir können das als Bestätigung,als Ratschlag und Wegweiser für die Zukunft nehmen.Es gibt in Deutschland weniger Firmenpleiten und ei-ne richtige Gründerwelle von neuen, jungen Unterneh-men, die als Botschafter eines Strukturwandels auftretenund die Dienstleistungsgesellschaft zu einer Wachs-tumsgesellschaft machen. Das bedeutet auch mehr Be-Hansjürgen Doss
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8008 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
schäftigung. Zwar ist es richtig zu sagen, dass Rationali-sierungsfortschritte Arbeitsplätze kosten können. In derDienstleistungsgesellschaft aber wird das nicht mehr indem bisher gekannten Maß der Fall sein. Deswegenschauen wir auf eine Entwicklung, die uns mehr Be-schäftigung bringen und das wirtschaftliche Wachstumunterstützten wird. Die jungen Unternehmen in Deutschland treten im in-ternationalen Wettbewerb an. Sie verkaufen Dienstleis-tungen, sie transportieren Informationen, auch im Inter-net, und durchbrechen damit Monopolstrukturen. Siebrauchen Freiräume für ihre ökonomische Entwicklungund sie brauchen einen staatlichen Partner, der mit Bera-tung und Risikokapital zur Verfügung steht. Die Bun-desregierung hat mit ihren Programmen und den Trägerndieser Programme einiges geleistet.
Diese jungen Unternehmen werden auch von unsererSteuerreform profitieren. Sie gehören zu denjenigen,die von der Senkung der Einkommensteuer profitieren,und sie gehören zu denjenigen, die davon profitierenwerden, dass mit dieser Steuerreform die Bildung vonEigenkapital in Deutschland unterstützt wird. Mehr Ei-genkapital und mehr Risikokapital in Deutschland heißtaber auch, die Weichen für den Finanzplatz Deutschlandneu zu stellen. Dabei ist das, was wir in den letzten Wochen im Übernahmekampf von Mannesmann zu Vodafone erlebthaben, mehr als ein unternehmerischer Krimi. Es istauch ein Wegweiser dafür, dass sich Strukturen verän-dern und wir auf einer gemeinsamen europäischenGrundlage darüber nachdenken müssen, was bei uns inDeutschland nötig ist. Nötig ist auf jeden Fall, dass wirdie Rechte unserer Aktionäre stärken. Nötig ist, dass wirzu einem anderen Umgang mit Beteiligungen an Unter-nehmen finden. Übernahmen bieten Chancen für Unter-nehmen, aber auch für mehr Beschäftigung. Selbstbewusste Aktionäre – das lehrt uns Amerika –können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein, diein wirtschaftspolitischen Entscheidungen mitreden. Dasssich ein amerikanischer Gewerkschaftspensionsfonds indie Übernahme einmischt und Mannesmann Tipps gibt,was der beste Weg sein kann, wäre in Deutschland un-denkbar. Es wäre nicht falsch, wenn wir uns auf die Fra-ge konzentrierten, wie auch wir dahin kommen. In diesem Zusammenhang muss ich ehrlich sagen:Ich verstehe den bayerischen Konservatismus nicht, dersich gegen die Steuerfreiheit von Gewinnen aus Beteili-gungsveräußerungen richtet.
Sie müssen natürlich beachten, dass das Kapital, das inDeutschland bei den Banken konzentriert ist, ein Mo-ment ist, das mögliche neue ökonomische Entwicklun-gen im Dienstleistungsbereich und in anderen beschäfti-gungswirksamen Bereichen verhindert. Die hohe Kapitalkonzentration bei den Banken wareines der Probleme, die wir bei Holzmann kennen ge-lernt haben. Die Beweglichkeit von Beteiligungskapitalwird durch Steuerbelastung unnötig eingeschränkt.Deswegen ist es richtig zu sagen, wir stellen diesen Be-reich steuerfrei. Das ist nicht nur steuersystematisch undsteuerpolitisch richtig, sondern auch aus unternehmens-politischen und damit auch beschäftigungspolitischenGründen richtig.
Es gibt ökonomische Veränderungen, die in ganz Eu-ropa bekannt sind. Es wurde Zeit, dass es in Deutschlandeine Regierung gibt, die den Mut hat, auch hier die Wei-chen für die Zukunft zu stellen. Das gilt auch für diemittelständischen Unternehmen. Unser Mittelstand istzunehmend darauf angewiesen, auch innerhalb von Eu-ropa und gegen europäische Anbieter auf unserem Marktkonkurrenzfähig zu sein. Und er ist natürlich auch daraninteressiert, im eigenen Bereich konkurrenzfähig zusein. Da will man weniger Steuern zahlen und auch we-niger Bürokratie haben. In beide Richtungen geht dieBundesregierung mit ihrer Steuerreform. Sie wissenganz genau, auch wenn Sie immer das Gegenteil be-haupten – der DIHT bestätigt es heute noch einmal offi-ziell –, dass der Mittelstand einer der Hauptprofiteureunserer Steuerreform sein wird.
Die mittelständischen Unternehmen profitieren auchvon dem Abbau bürokratischer Vorschriften und sie pro-fitieren auch vom Steuerentlastungsgesetz. Es gibt eini-ge Dinge, die wir ihnen aus dem Kreuz genommen ha-ben. Ich denke da zum Beispiel an die Auszahlung desKindergeldes. Das war eine Belastung für ein kleinesUnternehmen. Diese Belastung haben sie jetzt nichtmehr. In einem Klima, in dem sich Mut für die Zukunftausbreitet, Mut, neue Wege zu gehen, brauchen wir na-türlich auch die Köpfe für die Zukunft. Insofern ist esgut, dass im Jahreswirtschaftsbericht so großer Wertdarauf gelegt wird, einmal zu schildern, wie die Investi-tionen in diese Köpfe ablaufen, wie Qualifikationen inden Branchen – gerade im Informationsbereich und inder Kommunikationstechnologie – gefördert werden,wie Ausbildungsgänge überarbeitet werden, wie über-dacht wird, welche Qualifikation, welche Ausbildungfür die Zukunft notwendig ist, wie Qualifikationen imWettbewerb mit anderen Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern geleistet werden. Dazu zählt natürlich auch die unbürokratischere undschnellere Zulassung von neuen Berufen. Wir haben Be-schäftigte in kleinen Computerunternehmen, bei denenkeiner weiß, welche Ausbildung sie eigentlich benöti-gen, wenn sie da arbeiten wollen. Das sind keine Indus-triekaufleute, das sind aber auch noch keine Informati-ker. Da gibt es viele Möglichkeiten für Beschäftigung,da sitzen junge Leute, aber auch ältere Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer, die eine Bezeichnung für ihrenBeruf haben wollen, die dafür eine Ausbildung habenwollen. Nina Hauer
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Auf diesem Gebiet hat die Bundesregierung Steineaus dem Weg geräumt, die verhinderten, dass diese Be-rufe schneller anerkannt worden sind. Sie wird weiterSteine aus dem Weg räumen, damit man in diesen Be-reichen ohne komplizierte, jahrelange Verfahren, son-dern mit einem guten Konzept in ein oder zwei Jahrenausbilden kann.
Es wurde aber auch einiges für die Umsetzung vonneuen Produkten und neuen Ideen geleistet. Es sinddie großen Unternehmen, aber auch die mittelständi-schen Unternehmen, die in der Kooperation zwischenWissenschaft, ihrem eigenen Bereich und Forschungneue Produkte und neue Dienstleistungen, neue Angebo-te erfinden. Sie zu unterstützen – ohne ihnen bü-rokratisch im Wege zu stehen –, und zwar nicht nur infinanzieller Hinsicht, sondern auch überall dort, wo Mo-deration und Vermittlung zu leisten sind, war das Zielder Bundesregierung. Im Jahreswirtschaftsbericht kön-nen wir nun lesen, dass sie dieses Ziel auch erreicht hat.
Meine Damen und Herren, Investitionen in die Köpfeheißt natürlich auch, dass wir unsere Arbeitsmarktpolitikan dem orientieren, was nötig ist. Es nützt nichts, da-rüber zu jammern, dass irgendeine Entwicklung in ei-nem bestimmten Bereich, in einer Branche dazu führenwird, dass durch Rationalisierung oder andere DingeArbeitsplätze verloren gehen. Wir werden das nicht auf-halten können und verbieten können wir es auch nicht.Was wir machen können, ist, den Menschen die Unter-stützung zu geben, sich für neue Aufgaben zu befähigen,in neuen Bereichen Fuß zu fassen und einen neuen Ar-beitsplatz zu finden. Das verstehen wir unter aktiver Ar-beitsmarktpolitik: dass ein Staat auch als ein aktivieren-der Staat auftritt. Ich denke, dass das der richtige Wegist, um auch diejenigen, die nicht zu den Gewinnern ei-ner neuen ökonomischen Entwicklung und neuer Struk-turen gehören, daran teilhaben zu lassen. Meine Damen und Herren, im Jahreswirtschaftsbe-richt 2000 ist zu lesen, was wir nicht erst seit einer Wo-che, sondern schon länger auch in allen Zeitungen lesenkönnen und auch überall spüren: Wir haben in Deutsch-land mehr wirtschaftliches Wachstum, wir haben mehrBeschäftigung. – Es ist klar: Die rot-grüne Koalitiongestaltet die Zukunft.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Michelbach.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Aus demJahreswirtschaftsbericht 2000 ergibt sich für uns dievordringliche Aufgabe, eine langfristige und nachhaltigeSicherung des sozialen, ökonomischen und ökologi-schen Wohlstandes für uns alle zu entwickeln. Dabei istdie Euphorie der Bundesregierung, die wir heute gehörthaben, nach meiner Ansicht völlig fehl am Platze.
Aus der zutreffenden Diagnose des Sachverständigenratsziehen Sie immer wieder falsche Schlussfolgerungen.
Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Illusio-nen, falsche Versprechungen und Weichenstellungenhaben das letzte Jahr zu einem verlorenen Jahr für dieWirtschaft gemacht
und haben die Nettoumsatzrentabilität der mittelständi-schen Betriebe sinken lassen. Herr Müller, ich kann nicht nachvollziehen, wie Siefeststellen können, dass die rot-grüne Politik bei dermittelständischen Wirtschaft an Sympathie gewinnt.Ich kann Ihnen nur sagen: Eine Umfrage zeigt,90 Prozent von 2 500 mittelständischen Betrieben haltendie derzeitige Politik für mittelstandsfeindlich. Sie sindder Auffassung, die gesamtwirtschaftliche Erholungschlage sich nicht in der mittelständischen Wirtschaftnieder. Insbesondere die Mittelstandsfeindlichkeit derrot-grünen Wirtschafts- und Steuerpolitik verhindertauch mehr Wirtschaftsdynamik. Zwar beschleunigt sichdas Tempo der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, vorallem im Lichte der weltwirtschaftlichen Rahmenbedin-gungen, aber 2,5 Prozent Wirtschaftswachstum ist keineRichtgröße, die zum Jubeln Anlass gibt. Bei richtigerWeichenstellung zugunsten einer mittelstandsfreundli-chen Politik ist angesichts der weltwirtschaftlichenRahmenbedingungen hier erheblich mehr möglich. Nach dem selbst ernannten Weltökonomen Lafontai-ne haben Sie sich, Herr Bundesfinanzminister Eichel,nun das Image eines großen Modernisierers zugelegt. InWahrheit haben Sie eine neue und besser gestylte Tarn-kappe aufgesetzt. Sie waren immer der Blockierer. Wirwären erheblich weiter, wenn Sie nicht blockiert hätten,insbesondere bezüglich der Arbeitsplätze und insbeson-dere bezüglich der mittelständischen Wirtschaft. Heuteentwickeln Sie sich, Herr Eichel, vornehmlich zum Mit-telstandsvernichter und zu jemandem, der die Wirtschaftteilt. Ihre Politik der Ungleichbehandlung von Personen-und Kapitalgesellschaften sowie der Tarifspreizung beider Körperschaft- und Einkommensteuer ist Steuerwill-kür und Steuerungerechtigkeit. Das ist ein Mittelstands-vernichtungsprogramm. Das muss ich Ihnen, Herr Eichel, deutlich sagen.
Rot-Grün hat keine ganzheitliche Konzeption für ei-ne effiziente Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Nina Hauer
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8010 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Statt einer langfristigen Sicherung durch eine effizienteRenten- und Gesundheitsreform gibt es zweifelhafteSubventionen von Lohnzusatzkosten durch die Ökosteu-er. Damit wird die Steuer- und Abgabenquote insgesamtnicht gesenkt, sondern erhöht. Das ist für die Kostenfak-toren unserer Betriebe und für die Schaffung von Ar-beitsplätzen letzten Endes wesentlich. Statt der Regulierung und Flexibilisierung des Ar-beitsmarktes gibt es eine zweifelhafte Rationierung vonArbeit durch die Rente mit 60, durch die bürokratischeRegelung der 630-Mark-Jobs, durch die komplexe Rege-lung zur Scheinselbstständigkeit und durch die Rück-nahme von Reformen. Statt kurzfristiger Steuerentlastung der Wirtschaftgibt es Scheingewinnbesteuerung, Behinderung der In-vestitionen durch hohe Gegenfinanzierungen und neueAfA-Tabellen. Die Umsetzung der Steuerreform wirdauf das Jahr 2005 hinausgezögert. Bis 2005 werden200 Milliarden DM mehr an Steuern eingenommen wer-den. Trotzdem wollen Sie 43 Milliarden DM an Steuer-entlastungen als den großen Wurf für die Wirtschaft inDeutschland darstellen. Da sind Sie auf dem falschenWeg!
Statt klarer Vereinbarungen über eine beschäftigungs-orientierte, längerfristige Lohnpolitik erleben wir einezweifelhafte Show beim Bündnis für Arbeit, das einNullsummenspiel für die Arbeitslosen ist. Statt einer Begünstigung von Betriebsübernahmenund Existenzgründungen gibt es mittelstandsfeindlicheBelastungen durch Erhöhung der Erbschaftsteuer sowieAbschaffung des halben Steuersatzes bei Betriebsveräu-ßerungen und Aufgaben von Personengesellschaften. Statt einer wirklichen Modernisierung der Wirt-schafts- und Finanzpolitik erleben wir – das müssen wirsehr ernst nehmen – einen schädlichen Wertverfall desEuro. Die Tatenlosigkeit der Bundesregierung beimWertverfall des Euro-Kurses muss uns mit größter Sorgeerfüllen. Der butterweiche Euro wird von Ihnen gerade-zu begrüßt. Es ist eine Fehleinschätzung zu meinen, derVerfall des Euro-Außenwertes würde letzten Endes dieNotwendigkeit zu Reformen in irgendeiner Weise ver-mindern. Der anhaltende Verfall des Euro führt zu einer Ver-schlechterung des Preisklimas und zu steigenden Zinsen,die wiederum die Investitionen verteuern. Das führt da-zu, dass weniger Arbeitsplätze entstehen. Der Euro-Raum wird für ausländische Anleger aufgrund der steti-gen Entwertung der Währung unattraktiver. Wegen dervorhandenen Unsicherheit und der Angst, dass sich dieInvestitionen durch die Abwertung nicht rentieren, wird grundsätzlich weniger investiert. Kapital fließt anDeutschland vorbei. Die Situation ist so, weil in anderenLändern wesentlich höhere realwirtschaftliche Renditenerzielt werden. Ausländische Investoren meiden unseren Investiti-onsstandort, weil keine stabilen, optimistischen Erwar-tungen vorhanden sind. Die Folgen sind weniger Ar-beitsplätze und Wohlstandsverluste. Der Markt lässt sichauch von Ihrer Rhetorik, Herr Eichel, nicht überlisten.Tatsache ist, dass wir inzwischen einen Wertverfall desEuro haben. Das ist der Beweis, dass Sie eine falscheWirtschafts- und Finanzpolitik betreiben.Außerdem besteht das Risiko, dass vor dem Hinter-grund negativer Preissignale durch die Verteuerung derImporte von den Gewerkschaften hohe Lohnforderungengestellt werden, die sich beschäftigungsfeindlich aus-wirken können. Dies wird schwerwiegende Folgen fürdie Wirtschafts- und Finanzpolitik haben – ich hoffe,dass Sie dies ernster nehmen –: Liquiditätsprobleme inden Betrieben, Insolvenzen und – für eine große Zahlder Arbeitnehmer – Arbeitsplatzverluste. Ein schwacher Euro-Kurs ist letzten Endes Ausdruckdieser Entwicklung. So kann man unsere Wirtschaftnicht erneuern. Es genügt nicht, immer nur von Moder-nisierung zu sprechen. Ihre Gesetze sprechen gegenModernisierung. Lassen Sie Ihren Worten endlich Tatenfolgen und modernisieren Sie unsere Wirtschafts- undFinanzpolitik in der Weise, dass durch eine Steuerre-form wirklich Nettoentlastungen von 50 Milliarden DMbis zum Jahr 2001 herbeigeführt werden. Die Vorschläge der CDU/CSU liegen auf dem Tisch.Wir stehen für eine Steuerreform, die alle, Arbeitnehmerund Arbeitgeber, entlastet, damit Nachfrage schafft, In-vestitionen fördert und uns in Deutschland insgesamtweiterbringt.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Fritz Schösser.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Mi-chelbach, wenn Sie Ihre Rede zum Jahreswirtschaftsbe-richt 1998 gehalten hätten, dann hätten Sie sogar Ap-plaus von mir bekommen. Zum Jahreswirtschaftsbericht2000 ist sie leider nicht mehr sehr angebracht. Ich willein paar Äußerungen zitieren, die aus Ihren Reihen zumJahreswirtschaftsbericht 1998 gemacht worden sind:Wenn Rot-Grün ans Ruder kommt, bekommen wireine Regierung, die alles andere als wirtschafts-freundlich ist.Heute fordert Stihl den Rücktritt von Koch und dieWirtschaft lobt die Unternehmensteuerreform – Rechthat sie damit.
Weiter wurde damals in der Debatte – vollmundig; mitdiesem Wort beginnt auch das Zitat – gesagt:Vollmundig will jetzt die SPD im Rahmen ihrerSteuerreform eine Durchschnittsfamilie mit zweiKindern um rund 2 500 DM pro Jahr entlasten.Dies ist reine Augenauswischerei.Wir haben nicht nur unser Versprechen gehalten;vielmehr haben wir es übererfüllt. Wir haben Sie und Ih-re Demagogie Lügen gestraft. Wir haben nachgeholt,Hans Michelbach
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was Sie in diesem Hause eineinhalb Jahrzehnte versäumthaben.
Im Vergleich zu 1998 ist eine vierköpfige Familie miteinem durchschnittlichen Einkommen heute um rund2 200 DM besser gestellt. Bis zum Jahr 2005 soll dieEntlastung auf mehr als 4 300 DM steigen. Im Übrigensage ich gerade Ihnen als Unternehmer, Herr Michel-bach: Wir haben für Nachfrage gesorgt. Sie haben einHotel und ein Kaufhaus. Wenn Familien mehr Kaufkrafthaben, klingelt doch bei Ihnen die Kasse. Warum be-schweren Sie sich denn eigentlich jetzt hier an dieserStelle im Bundestag?
Meine Damen und Herren, nach all den Skandalender letzten Wochen kann ich nur sagen: Es wäre nichtauszudenken, wenn die heutige Opposition noch an derRegierung wäre. Gott sei Dank haben wir eine andereBundesregierung. Diese Bundesregierung saniert endlichkonsequent den Staatshaushalt, statt auf Kosten derHaushalte von Klein- und Mittelverdienern steuer- undfinanzpolitische Klientelpolitik zu betreiben und sich da-für auch noch einen goldenen Handschlag geben zu las-sen. Diese Bundesregierung sucht in einem Bündnis fürArbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit den wirt-schafts-, sozial- und beschäftigungspolitischen Konsens,statt den Wirtschaftsstandort Deutschland kaputtzuredenund Arbeitslose als Drückeberger zu diffamieren.
Diese Bundesregierung fördert mit Investitionen inBildung, Forschung und Wissenschaft die Kreativitätund die Innovationsfähigkeit auch der Facharbeitnehmerund der kleinen und mittleren Betriebe, statt bis zumSankt-Nimmerleins-Tag auf das Beschäftigungswunderdurch hoch subventionierte Großkonzerne zu warten, dieunter Ihrer Verantwortung über Jahre hinweg keineMark an Steuern bezahlt haben.
Diese Bundesregierung hat mit dem Investitionspro-gramm für den Ausbau der Schienenwege, der Bun-desfernstraßen und der Bundeswasserstraßen in denJahren 1999 bis 2002 trotz Sparzwangs endlich einmaleine verlässliche, mittelfristige Finanzplanung zum Er-halt der Mobilität vorgelegt, anstatt mit dem – von derRegierung Kohl geerbten – fahrlässig unterfinanziertenVerkehrswegeplan weiter ein löcheriges Verkehrsnetzzu häkeln. Sie haben viel versprochen, meine Damenund Herren, aber in Fragen des Straßenbaus weniggehalten.
Mit dem Jahreswirtschaftsbericht 2000 stellt die Bun-desregierung nicht nur eine überaus vorsichtige Projek-tion der wirtschaftlichen Entwicklung im laufenden Jahran, sondern legt über die wirtschafts-, sozial- und ar-beitsmarktpolitischen Rahmensetzungen ihres erstenRegierungsjahres Rechenschaft ab. Sie, meine Damenund Herren von der heutigen Opposition, haben unsschwere Altlasten hinterlassen, zum Beispiel eine unak-zeptabel hohe Belastung des Faktors Arbeit durch Lohn-nebenkosten, weil Sie die deutsch-deutsche Wiederver-einigung zu einem guten Teil über die Arbeitslosen- undRentenversicherung finanziert haben. Allein der Beitragder Rentenversicherung stieg zwischen 1991 und 1998um 2,6 Prozentpunkte, nämlich von einem Beitragssatzvon 17,7 Prozent auf 20,3 Prozent.Frau Wöhrl, zu Ihren Einlassungen zum Flächenta-rifvertrag kann ich nur sagen: Hören Sie sich einmalum, was die mittelständischen Bauunternehmer in derbayerischen Bauwirtschaft zum Flächentarifvertrag ge-rade vor dem Hintergrund des Falls Holzmann sagen.Sie klagen diesen Flächentarifvertrag ein. Sie wissennämlich, dass Lohn kein taugliches Mittel für den Wett-bewerb ist.
Außerdem wird es nicht angehen, dass ich mich alsDGB-Vorsitzender von Bayern mit dem bayerischenMinisterpräsidenten auf die Tariftreue im Bausektor imRahmen des Beschäftigungspaktes verständige und Siehier Lohndumping betreiben. Da sollte die CSU endlicheinmal zu einer einheitlichen Linie finden.
Ihre so genannten Reformen in der Arbeitslosen-,Renten- und Krankenversicherung hatten weder fürdie Beitragszahler noch für die LeistungsempfängerVorteile, sondern nur Leistungskürzungen bei gleichbleibend hohen Lasten für die Versicherten zur Folge.Ihr Steuer- und Finanzchaos – ohne irgendeine beschäf-tigungspolitische Zielsetzung – hat Großkonzernen beimSteuersparen geholfen. Damit aber noch nicht genug:Sie haben diese Konzerne auch noch mit Subventionenbelohnt. Den kleinen und mittleren Unternehmen undden privaten Haushalten haben Sie aber immer stärker indie Tasche gegriffen und so dauerhaft eine tragfähigeBinnenkonjunktur unterminiert. Wenn Teile des Mittelstandes nun beklagen, dass siein einer schwierigen Situation sind und durchaus großeHoffnungen in die rot-grüne Koalition setzen, so frageich mich immer, wer eigentlich die hohen Belastungenfür den Mittelstand verursacht hat, die wir heute bekla-gen.
Ganz ohne Scheinheiligkeit können Sie das Steuerkon-zept der Bundesregierung im Augenblick nicht kritisie-ren. Das traurige Ergebnis Ihrer Politik waren zuletzt4,3 Millionen Arbeitslose, immer mehr Jugendliche oh-ne Berufsperspektive und immer mehr Menschen, denennach Verlust ihres Arbeitsplatzes – im Übrigen schon abMitte des vierten Lebensjahrzehntes – kaum eine Rück-kehr ins Arbeitsleben gelang.Die neue Bundesregierung hat nicht nur ein schlüssi-ges Steuerkonzept auf den Weg gebracht. Sie hat da-Fritz Schösser
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rüber hinaus in der Arbeitsmarktpolitik Sofortmaßnah-men ergriffen: Die Mittel für Maßnahmen der aktivenArbeitsmarktpolitik wurden deutlich erhöht und dasArbeitsmarktförderungsinstrumentarium stärker auf dieBekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit hin ausgerich-tet. Das ist richtig so. Die Ausgaben für eine aktive Arbeitsmarktpolitikwurden von 39 Milliarden DM im Jahre 1998 auf46 Milliarden DM im Jahre 2000 erhöht. Damit machenwir unser Versprechen wahr und finanzieren Arbeit stattArbeitslosigkeit. Das ist die einzige effiziente Möglich-keit, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit warund ist uns so viel wert, dass wir nun im zweiten Jahrmit Mitteln in Höhe von 2 Milliarden DM Jugendlichenzu einem Ausbildungsplatz, einer Arbeitsstelle oder ei-nem Trainingsprogramm verhelfen. Wir wollen den jun-gen Menschen das Trauma eines gescheiterten Einstiegsin das Erwerbsleben ersparen. Sie haben ihnen das überviele Jahre hinweg nicht erspart.
Das sind übrigens Investitionen in die Zukunft, dieden Menschen dienen. Wir schwingen nicht lediglich dieGlobalisierungskeule und wir lassen die Menschen mitihren Problemen nicht alleine. Wir werden mit allerKraft und Entschlossenheit der nationalen Schande, derArbeitslosigkeit, zu Leibe rücken und den geerbten ar-beitsmarktpolitischen Schlamassel Ihrer Regierungszeitüberwinden. Die Bundesregierung hat es sich nicht leicht gemachtund ein Paket geschnürt, das den gestiegenen Anforde-rungen des globalen Wirtschaftens, der Belebung desBinnenmarktes, der Nachhaltigkeit des Wachstums undder sozialen Ausgewogenheit mit der Maßgabe des Ab-baus der Arbeitslosigkeit entsprechen soll. Dieses Paketenthält auch noch offene Fragen, Risiken und Maßnah-men; dies will ich nicht verschweigen. So besteht für mich im Hinblick auf die künftige fi-nanzielle Ausstattung der Kommunen noch Handlungs-bedarf. Denn wer sonst als die Kommunen ist in der La-ge, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Feinarbeit zuleisten und eine möglichst ausgewogene Entwicklungzwischen den verschiedenen Regionen Deutschlands zuermöglichen? Das Schaffen einer auf Dauer tragfähigenfinanziellen Grundlage für die kommunalen Haushaltewird daher weiterhin auf der politischen Tagesordnungder Regierungskoalition oberste Priorität haben.Von besonderer Bedeutung wird es sein, die Mittelfür investive Maßnahmen des Bundes wieder zu erhö-hen. Es ist bedauerlich, dass das Schuldendesaster der-zeit nicht mehr Spielräume zulässt. Lassen Sie mich zum Schluss einen Appell an dieAdresse der Wirtschaft richten: Die Regierungskoaliti-on gibt ihr einen riesigen Vertrauensvorschuss. Wir allekönnen nun mit Recht erwarten, dass sie ihren eigenenBeschwörungen der segensreichen Wirkungen einesRückgangs der Staatsquote Glauben schenkt und diesmit einem gehörigen Zuwachs der eigenen Investitions-und Geschäftstätigkeit mehr als nur wettmacht. Ich war-ne die Wirtschaft davor, ihre Glaubwürdigkeit endgültigaufs Spiel zu setzen, indem sie ihrer gesellschaftlichenVerantwortung trotz hervorragender Rahmenbedingun-gen nicht nachkommt. Ich habe aber größte Bedenken dahin gehend, dassdie deutschen Großkonzerne, Versicherungen undGroßbanken das Geschenk der Bundesregierung, näm-lich den Verkauf von Unternehmensbeteiligungen steu-erfrei zu belassen, auch nur im Ansatz zu würdigen wis-sen. Ich höre bisher leider keine Silbe von den Häuptlin-gen der Wirtschaftsverbände, welche Anstrengungen siezum Abbau der Arbeitslosigkeit in Deutschland leistenwollen. Ich kann nur sagen: Es ist schön, dass die Un-ternehmensverbände jetzt die Bundesregierung für ihrUnternehmensteuerkonzept loben. Wie hat Herbert Wehner gesagt: Ihr Lob kann unsnicht treffen. – Wir wollen jetzt Taten sehen. Sie sindam Zuge, und zwar schnell. Dies sollte vor allem imRahmen des Bündnisses für Arbeit erfolgen. Meine Kol-leginnen und Kollegen von der Opposition, ich sehe dasein wenig anders als Sie: Das Bündnis für Arbeit ist da-rauf ausgerichtet, dass Politik, Gewerkschaften und Ar-beitgeber zu einem vernünftigen beschäftigungspoliti-schen Konsens kommen. Ich kann die Bundesregierungnur ermuntern, auf diesem Weg weiterzumachen.Herzlichen Dank.
Ich schließedamit die Aussprache.Wir kommen zunächst zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft undTechnologie zu dem Bericht der Bundesregierung zumZwölften Hauptgutachten der Monopolkommission1996/1997. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis derUnterrichtung durch die Bundesregierung, eine Ent-schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstimmen?– Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen des Hauses mit Ausnahme der F.D.P., die da-gegen gestimmt hat, angenommen worden.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufDrucksachen 14/2611 und 14/2223 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. DerEntschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Druck-sache 14/2721 soll an dieselben Ausschüsse wie der Jah-reswirtschaftsbericht auf Drucksache 14/2611 überwie-sen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Weiterhin wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 14/2707 zur federführenden Beratung anden Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und zurMitberatung an den Finanzausschuss, den Ausschuss fürBildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung undden Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-schen Union zu überweisen. Gibt es anderweitige Vor-Fritz Schösser
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schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 a bis 3 f so-wie den Zusatzpunkt 3 auf: 3. a) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Verkehr, Bau-und Wohnungswesen
– zu dem Antrag der Abgeordneten AnnetteFaße, Ulrike Mehl, Dr. Hans Bartels, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion derSPD sowie der Abgeordneten Gila Altmann , Albert Schmidt (Hitz-hofen), Angelika Beer, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN Optimierung des Sicherheits- und Not-fallkonzepts für Nord- und Ostsee – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolf-gang Börnsen , Dirk Fischer , Kurt-Dieter Grill,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU Folgerung aus der Havarie der „Pallas“vor Amrum – Drucksachen 14/281, 14/160, 14/483 – Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Michael Goldmann b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Koppelin, Ulrike Flach und der Frak-tion der F.D.P. Bericht der Unabhängigen Expertenkom-mission „Havarie Pallas“ unverzüglichvorzulegen – Drucksache 14/2454 – c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Birgit Homburger, HildebrechtBraun , weiterer Abgeordneterund der Fraktion der F.D.P. Nordseeküste schützen, Küstenwache ein-richten, international besser zusammenar-beiten – Drucksache 14/548 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Ausschuss für Tourismus d) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne-ten Wolfgang Börnsen , UlrichAdam, Dietrich Austermann, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSU Schaffung einer Deutschen Küstenwache – Drucksachen 14/1229, 14/2430 – e) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-desregierung Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe„Verbesserung der Agrarstruktur und desKüstenschutzes“ für den Zeitraum 1999 bis2002 – Drucksache 14/1634 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Finanzausschuss Ausschuss für Familie/Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss f) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-desregierung Bericht der Bundesregierung über diekünftige Gestaltung der Gemeinschafts-aufgabe „Verbesserung der Agrarstrukturund des Küstenschutzes“ ; hier: Rahmenplan 2000 bis 2003 – Drucksache 14/1652 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Finanzausschuss Ausschuss für Familie/Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus HaushaltsausschussZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Faße, Ulrike Mehl, Anke Hartnagel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD sowie der Abgeordneten Gila Altmann,Albert Schmidt , Dr. ReinhardLoske, weiterer Abgeordneter und der Frakti-on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sicherung der deutschen Nord- und Ost-seeküste vor Schiffsunfällen – Drucksache 14/2684 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Ausschuss für TourismusNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstdie Abgeordnete Faße.
Frau Präsidentin! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Das „SicherheitskonzeptDeutsche Küste“ der ehemaligen Bundesregierung weisteine Reihe von Schwachstellen auf. Darauf haben dieVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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8014 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünenseit Jahren deutlich hingewiesen. Die notwendigen Än-derungen am Konzept wurden jedoch in der Zeit vonKohl, Wissmann und Co. nicht als notwendig betrachtet.
Ich zitiere aus der Antwort der alten Bundesregierungauf eine Kleine Anfrage:Die Bundesregierung bekräftigt ihre Auffassung,dass die breite Palette der teilweise gemeinsam mitden Küstenländern eingeleiteten Vorsorge- und Be-kämpfungsmaßnahmen die Sicherheit und denSchutz der maritimen Umwelt in der DeutschenBucht gewährleisten.Jetzt frage ich mich: Sind die in den letzten Monatenund im letzten Jahr vonseiten der CDU/CSU und der F.D.P. vorgebrachten Anschuldigungen eigentlichschlüssig? Ihre Anschuldigungen in den vergangenenMonaten sind ein Bumerang. Er wird schneller wiederbei Ihnen sein, als Sie es ahnen.Unser Hauptkritikpunkt über die ganzen Jahre hinwegwar, dass das alte Konzept als Schwerpunkt die Be-kämpfung der Folgen eines Schiffsunfalls und leidernicht die Prävention hatte. Auf die Prävention war bis-her nur zweitrangig gesetzt worden. Erfahrungen ande-rer Nationen haben jedoch deutlich gemacht, dass derSchwerpunkt eines Sicherheitskonzeptes auf der Ver-hinderung von Havarien sowie auf dem zügigen und ef-fektiven Eingreifen bei Schiffsunfällen liegen muss.Die durch den Tanker „Erika“ ausgelöste Umwelt-katastrophe vor der bretonischen Küste hat uns vor Au-gen geführt, dass Schiffsunfälle und Havarien verhindertwerden müssen, bevor es zu Schäden durch Ladung undTreibstoffe kommt. Darüber hinaus hat sie erneut ge-zeigt, dass die Bekämpfung eines Schadstoffunfalls mitden vorhandenen Einsatzkonzepten und -mitteln nur be-grenzt möglich ist.Konkreter Anlass für unsere Bemühungen um eineVerbesserung des Sicherheits- und Notfallkonzeptes fürNord- und Ostsee ist die Havarie des Holzfrachters„Pallas“ vor Amrum im Oktober 1998. Diese Havariehat die von SPD und Grünen aufgezeichneten Schwach-stellen bestätigt. Sie hat zudem gezeigt, dass nationalund international Optimierungsbedarf bei der Präventionvon Schiffsunfällen, aber auch beim Unfallmanagementbesteht.Die Bundesregierung hatte nach der „Pallas“-Havarieumgehend mit einer lückenlosen Aufklärung und Analy-se des Unfallhergangs begonnen. Kurzfristig wurdenVerbesserungen am bisherigen Notfallkonzept umge-setzt. Es bleibt festzuhalten, dass der federführendeBundesminister bereits bei Amtsantritt der rot-grünenRegierung den Chartervertrag mit dem Hochseeschlep-per „Oceanic“ – entgegen den Planungen der damalsabgewählten Regierung – verlängert hat. Weitere bereitsim Bericht des Bundesverkehrsministeriums vom8. März 1999 genannte Maßnahmen sind inzwischen re-alisiert. Dazu gehören die Überwachung und Überarbei-tung der Alarmpläne, die Definition von Entscheidungs-kriterien für den Notschleppereinsatz, die Bestimmungder Vor-Ort-Einsatzleitung und die Ausrüstung derSchiffe „Neuwerk“ und „Mellum“ mit hochfestenSchlepptrossen. Die Realisierung weiterer Maßnahmenist bereits eingeleitet. Dazu gehören die vertraglicheBindung zusätzlicher allwettertauglicher Hubschrauber,die Bereitstellung zusätzlicher Mannschaften für Not-schleppeinsätze und das Zusammenwirken mit den fürden verbesserten Katastropheneinsatz zuständigen Stel-len der Länder. Umgehend wurde auch mit den Arbeiten zum Ge-setzentwurf zur Umsetzung des internationalen Überein-kommens zur Haftungsbeschränkung für Seeforderun-gen begonnen. Gleiches gilt für das internationale Ber-gungsübereinkommen. Der Gesetzentwurf zu Haftungs-fragen liegt inzwischen vor. Mit dem Referentenentwurfzum Bergungsübereinkommen ist innerhalb kürzesterZeit zu rechnen. Diese Abkommen gibt es bereits, meine Damen undHerren, nur leider gelten sie nicht in Deutschland. Dasheißt, internationale Haftungsabkommen sind immerverändert worden, aber die alte Bundesregierung hat sieschlicht und einfach nicht ratifiziert. Dies holen wirnach.
Dem 1996 in Kraft getretenen internationalen Ber-gungsübereinkommen von 1989 ist die Bundesrepubliktatsächlich nicht beigetreten. Die Übereinkommen hät-ten die „Pallas“-Havarie sicherlich nicht verhindern, dienegativen ökologischen und ökonomischen Folgen aufdeutscher Seite aber wesentlich reduzieren können. Ichmöchte an die Summen erinnern: Wir hätten über8 Millionen DM zurückbekommen können, aber wir be-kommen nur eine Entschädigung von 3 Millionen DM.Dieses Versäumnis haben allerdings nicht wir, sondernandere zu verantworten.
Gleichzeitig tragen solche Übereinkommen natürlichmit zur Prävention bei; denn sie haben eine abschre-ckende Wirkung. Wenn es darum geht, den Transportmit Schiffen sicherer zu machen, ist es sehr wichtig,auch zu wissen, welche Strafe ansteht, wenn ein Un-glück passiert. Die durch die „Erika“ ausgelöste Umweltkatastrophemacht deutlich, wie wichtig diese internationalenAbkommen und eine europaweit effizientere Koor-dinierung der Sicherheits- und Notfallmaßnahmen sind.Besonders zu begrüßen ist deshalb die von MinisterKlimmt und seinem französischen Kollegen am3. Februar in Saarbrücken auf den Weg gebrachte„Gemeinsame deutsch-französische Initiative zurVerbesserung der Sicherheit auf See“.
Diese Initiative ist ein bedeutsamer Schritt, der neueWege für die Sicherheit des Seeverkehrs und der euro-päischen Küsten aufzeigt.Annette Faße
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Deutschland und Frankreich werden sich durch aktiveMitarbeit in der IMO und in der EU dafür einsetzen, dieSicherheit nicht nur in der Tankschifffahrt, sondern füralle Bereiche der Seeschifffahrt zu verbessern. Maßgebliche Bausteine für das zukünftige Si-cherheits- und Notfallkonzept sind vor allem durch dieUmsetzung der Empfehlungen der Unabhängigen Ex-pertenkommission zu erwarten. Sie war kurz nach demUnfall der „Pallas“ mit dem Auftrag eingesetzt worden,„unter Auswertung der Havarie der ‚Pallas‘ eine Bewer-tung des bisherigen Notfallkonzeptes und dessen Wei-terentwicklung für die Sicherung der deutschen Küstenan Nord- und Ostsee vor den Folgen von Schiffsunfällenzu erarbeiten, das sowohl Vorschläge für Optimierungenim Bund/Küstenländerbereich als auch im internationa-len Bereich enthalten“ soll. Es ist ausdrücklich zu be-grüßen, dass der Abschlussbericht der Kommission seitgestern und damit vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein vorliegt. Damit wird den Vorwürfen der CDUund der F.D.P., die Wahrheit solle erst nach der Land-tagswahl ans Licht kommen, der Boden entzogen. IhrenAntrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der F.D.P.,können Sie also vergessen.
Denn im Gegensatz zu einigen anderen politischen Ver-tretern sind wir an einer vorbehaltlosen Aufklärung inte-ressiert. Wir werden uns sehr wohl mit den entsprechen-den Empfehlungen der Kommission auseinander setzen.Durch die Arbeit dieser Kommission ohne Öffentlich-keit und die absolute Verschwiegenheit ihrer Mitgliederhat sie im Übrigen ihre Unabhängigkeit auf bemerkens-werte Weise gewahrt. Auch uns hat es manchmal geär-gert; so ist es ja nicht. Wenn ich das Ergebnis sehe, somöchte ich mich an dieser Stelle herzlich für die zielori-entierte, konstruktive Arbeit dieser Kommission bedan-ken.
Nach der ersten Durchsicht des gestern vorgelegtenBerichts habe ich festgestellt, dass der Auftrag des Mi-nisteriums auf bemerkenswerte Weise erfüllt worden ist.Einer Optimierung des Notfall- und Sicherheitskonzep-tes steht auf der Basis der Grobecker-Empfehlungenaus meiner Sicht inhaltlich nichts mehr im Wege. ImBereich der präventiven Maßnahmen ist für uns vongroßer Bedeutung, dass BGS, Zoll, Fischereiaufsichtund Wasser- und Schifffahrtsverwaltung – unter Beteili-gung der Wasserschutzpolizeien der Länder – möglichsteng zusammenarbeiten. Daher begrüßen wir die Emp-fehlung der Expertenkommission, dass die mit Auf-sichtsaufgaben betrauten, auf See tätigen Dienste desBundes zu einer Seewache mit einer gemeinsamen Flot-te zusammengefasst werden. Sämtliche Fahrzeuge, soder Vorschlag der Kommission, sollen mit gemischtemPersonal aus den beteiligten Behörden besetzt und da-rüber hinaus einheitlich gekennzeichnet werden. ZurFührung der Seewache empfiehlt die Expertenkommis-sion die Bildung eines Havariekommandos. Dieses solldie bisherigen Einrichtungen und Stellen ersetzen undderen Aufgaben übernehmen. Meine Damen und Herren, wir alle sind gefordert, dieVorschläge, die in großer Zahl vorliegen, ernsthaft zuprüfen. Wir alle sind gefordert, dann an die konsequenteUmsetzung zu gehen. Die Verantwortlichen für das Unfallmanagement so-wie alle Einsatzkräfte müssen umfassend ausgebildetund trainiert werden. Nur so kann der flexible gemein-same Einsatz der Kräfte sichergestellt werden. Sowohl bei Notfällen als auch bei länger andauerndenNotschlepp- und Schadstoffbekämpfungseinsätzen müs-sen zusätzliche Einsatzkräfte und -mittel eingesetztwerden können. Dafür müssen die notwendigen Maß-nahmen ergriffen werden. Wir wollen, dass die Einsatz-kräfte mit bestmöglicher Ausrüstung für die Gefahren-abwehr bei Schiffsunfällen versorgt werden. Dazu ge-hört eine Ausrüstung, die sich natürlich auf die Schlepp-kapazität genauso bezieht wie auf Feuerlösch- undSchadstoffunfallbekämpfungsschiffe. Notwendig ist dieBereithaltung von Schleppgeschirr und Einrichtungen anBord von Mehrzweckschiffen und Schleppern, die auchunter ungünstigen technischen Voraussetzungen undWitterungsbedingungen eine dauerhafte Schleppverbin-dung herstellen können. Ein Schwachpunkt sind Vorrichtungen an den Schif-fen zur Herstellung einer Schleppverbindung im Notfall.Das hat sich bei der Havarie der „Pallas“ eindeutig ge-zeigt. Es ist schwierig, selbst kleinere Schiffe auf denHaken zu nehmen, wenn kein Haken an Bord ist. Dasheißt, wir müssen dafür sorgen, dass überhaupt die not-wendigen Einrichtungen auf den Schiffen vorhandensind. Dass dies nicht eine nationale, sondern eine inter-nationale Aufgabe ist, ist klar. Darum halte ich es auchfür wichtig, dass wir hier nicht nur national und EU-weit, sondern international denken. Gerade der Unfallder „Erika“ hat gezeigt, dass wir international fragenmüssen: Warum wird schweres Heizöl auf Schiffentransportiert, die dafür nicht die notwendige Sicherheitbieten? Es darf nicht sein, dass bei einem Schiff entspre-chende Klassifizierungen vorgenommen worden sind,das fast auseinander gebrochen wäre, weil es durchge-rostet war. Ich habe mit Leuten gesprochen, die vor Ortgewesen sind. Das Thema Hafenstaatkontrollen dürfen wir auchnicht unter den Tisch fallen lassen. Auch hier gilt es, eu-ropaweit und international konsequent zu arbeiten. Ein weiterer wichtiger Punkt auch auf internationalerEbene ist die Sicherung der Ausbildung für Schiffsoffi-ziere, aber auch für das gesamte Personal an Bord, ganzbesonders für Krisensituationen. Es ist unbestritten, dassunzureichende Schiffsbesatzungen auf Seeschiffen, so-wohl was deren Qualifikation als auch was deren Stärkebetrifft, ein weiteres Risiko bilden. Nach Meinung vonvielen Fachleuten hätten sich zahlreiche Unfälle in denletzten Jahren mit besser ausgebildeten Besatzungenvermeiden lassen. Dieser Punkt ist uns ganz besonderswichtig. Es gilt natürlich auch, für eine konsequenteUmsetzung der schon geltenden SicherheitsvorschriftenAnnette Faße
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bis hin zu Sanktionen bei Verstößen gegen die Flaggen-staatpflichten zu sorgen.Wir müssen uns auch darüber unterhalten, wie weitdie Übergangszeiten für Tanker noch gelten sollen. Esist zum Beispiel die große Frage, ob wir nicht hinsicht-lich der Übergangsfrist von 25 Jahren für Einhüllentan-ker eine Veränderung vornehmen müssen.Internationale Übereinkommen zu Haftungs- undBergungsfragen bei Schiffsunfällen müssen ratifiziertwerden. Es besteht hier weiterhin dringender Hand-lungsbedarf.Die Koordination, auch innerhalb Europas, hapert.Das sieht man deutlich an dem, was sich zwischenDeutschland und Dänemark abgespielt hat. Es gilt, einbesseres länderübergreifendes Frühwarnsystem zurMeldung von Schiffsunfällen und eingeleiteten Maß-nahmen aufzubauen.Es gibt eine Vielfalt von Fragen und Problemen, mitdenen wir uns schon befassen oder auch in Zukunft aus-einander setzen müssen. 30 Empfehlungen hat die Ex-pertenkommission aufgelistet. Wir sind nun gefordert,uns sachlich mit den Vorschlägen zu befassen. LassenSie uns gemeinsam alles tun, um die Sicherheit in Nord-und Ostsee zu erhöhen. Schadensvermeidung und Scha-densbegrenzung werden eine Daueraufgabe bleiben.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Austermann.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Wenn man sich bemüht,die Tagesordnungspunkte zusammenzufassen und eingemeinsames Thema zu suchen, kommt man, glaubeich, zu dem Ergebnis: Wie geht eine Regierung – egal,wie sie gebildet wird, aber Sie erwarten sicher von uns,dass wir danach fragen, wie es eine rot-grüne Regierungtut, sowohl im Bund als auch im Land, zum Beispiel inSchleswig-Holstein – mit der Natur, mit Tier- undPflanzenwelt um?
Wie wird auf Katastrophenfälle reagiert? Wie werdenvorbereitende Maßnahmen getroffen, um Katastrophennach Möglichkeit zu vermeiden und um die Landschaftund die Natur optimal zu schützen?Wenn man sich dann die Berichte, die in den Aus-schüssen erörtert worden sind, und Auswertungen dazuanschaut und diesen die Fakten gegenüberstellt, insbe-sondere die Fakten der letzten 15 Monate, kommt manzu einer ziemlich klaren Bewertung.
– Ich habe ja gesagt, Frau Kollegin Mehl, dass ich so-wohl die Regierung des Bundes als auch die Regierun-gen der Länder anspreche. Ich nenne das Thema Küstenschutz. Küstenschutz istja auch Natur- und Landschaftsschutz. Die rot-grüneLandesregierung in Schleswig-Holstein hat jahrelangBundesmittel, die für den Küstenschutz bereitstanden,nicht in Anspruch genommen, weil das Land seine Er-gänzungsmittel nicht bereitstellen konnte.
Das waren für die letzten vier, fünf Jahre allein Bun-desmittel in der Größenordnung von 32 Millionen DM.Ergänzt um die Landesmittel sind weit mehr als50 Millionen DM für den Küstenschutz nicht ausgege-ben worden.
Ich erinnere mich – der Kollege Carstensen wird da-rauf noch eingehen –, dass wir uns einmal gemeinsambemüht haben, zusätzliche Mittel aus der Gemein-schaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und desKüstenschutzes“ für Schleswig-Holstein und für denSchutz von Sylt vor die Klammer zu ziehen und dass dasvom Landwirtschaftsminister in Schleswig-Holstein,Hans Wiesen – die Älteren werden sich noch an ihn er-innern –, blockiert worden ist.Das heißt, wir können Ernsthaftigkeit beim Küsten-schutz und eigene Interessen des Landes nicht verzeich-nen. In den letzten vier Jahren hätten dort über50 Millionen DM mehr dafür ausgegeben werden kön-nen. Wenn jetzt vor der Wahl die Erklärung kommt,man werde in diesem Jahr zusätzliche Mittel für denKüstenschutz bereitstellen, dann sage ich, dass auch da-vor wieder der Finanzminister des Landes stünde –wenn er denn im Amt bliebe, wovon ich nicht ausgehe –
weil er sagte, er brauche eine globale Minderausgabe.Ich komme zu dem zweiten Themenkomplex, der an-zusprechen ist, nämlich zum Thema Agrarstruktur.„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut-zes“ heißt eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund undLändern. Ich bedaure, dass der Finanzminister nichtmehr da ist; aber der Bundeslandwirtschaftsminister istja anwesend. Durch Entscheidungen im Haushalt für dasJahr 2000 werden Mittel hin und her geschoben. Dabeigeht es um die Gasölbetriebsbeihilfe und um Sozial-maßnahmen zugunsten der Landwirtschaft. Wir stellenfest, dass im Haushalt dieses Jahres die Mittel für dieLandwirtschaft drastisch nach unten korrigiert wordensind und mittelfristig weiter nach unten korrigiert wer-den. Das soll jetzt in einer Notaktion wieder aufgefan-gen werden, indem man einen Ausgleich für die Öko-steuer in Höhe von 900 Millionen DM schafft.Annette Faße
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Aber schauen wir uns einmal an, welche Auswirkun-gen das auf die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserungder Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ hat, die janicht nur für den Küstenschutz, sondern auch für dieFrage wichtig ist, wie wir mit den Flächenregionen um-gehen und welche landwirtschaftlichen Strukturmaß-nahmen in der breiten Fläche gefördert werden können.Hier stelle ich fest, dass allein beim Bund die Mittel von1,78 Milliarden DM auf 1,4 Milliarden DM herunterge-fahren werden. Das hat Folgewirkungen auf die Situati-on in den Bundesländern, denn sie werden entsprechendkleinere Förderanteile erbringen. Die Agrarstruktur wirdalso unter dieser Regierung schlechter behandelt als inden Jahren vorher von den vorangegangenen Regierun-gen.Ein drittes Thema ist die Frage, wie ernst wir es mitdem Küstenschutz nehmen, wenn man in den Ländernund im Bund auf Notfallmaßnahmen reagieren muss.Auch hier muss ich feststellen, dass es große Problemegibt. Ich erinnere mich an das Jahr 1994, als es darumging, eine gemeinsame Küstenwache von Bund undLändern zu schaffen. Damals sagte der Innenministerdes Landes Schleswig-Holstein, Zuständigkeiten trete ernicht ab, der Bund möge seine Zuständigkeit koordinie-ren, er könne aber nicht mit der Wasserschutzpolizei desLandes rechnen, es gebe in diesem Bereich keine Zu-sammenfassung der Aufgaben. Heute behauptet derUmweltminister des Landes Schleswig-Holstein, dernoch wenige Tage im Amt sein wird, die CDU weigeresich, eine Bündelung der Interessen des Küstenschutzesmittels einer stärkeren, leistungsfähigen Küstenwachevorzunehmen.
– Das ist doch lächerlich! Noch sind Sie an der Regie-rung, Herr Müller. Sie hätten längst Maßnahmen ergrei-fen können, um auf die Bundesregierung zuzugehen undgemeinsam eine kraftvolle Küstenwache zu installieren.
Ich möchte den vierten Punkt ansprechen, der hier ei-ne Rolle spielt. Frau Kollegin Faße, Sie haben es sichsehr einfach gemacht, als Sie andeuteten, die „Pallas“-Katastrophe sei eingetreten, weil wir seinerzeit eineCDU-geführte Bundesregierung gehabt hätten. DerleiKonsequenzen sind von Ihnen ganz schnell gezogenworden. Schauen wir uns demgegenüber doch einmalden zeitlichen Ablauf an.Am 25. Oktober letzten Jahres, wenn ich mich nichtirre
– vorletzten Jahres –, ging es im Verkehrsministeriumvor allen Dingen darum, dass die Abteilungsleiter allepolitisch richtig ausgerichtet wurden.
Der Verkehrsminister hat so brutal wie kein anderervorher durch die Neubesetzung von Ämtern in dieStrukturen eingeschnitten. Das hatte zur Folge, dass injenen Tagen keine handlungsfähige Mannschaft da war,
die seitens des Bundes hätte konkret reagieren können.Das lag an der Umverteilung von Ämtern und Zustän-digkeiten.Auf der anderen Seite ist die Situation bei der Lan-desregierung in Schleswig-Holstein zu betrachten. Siekennen den Kalender und wissen, wie sich das Unglückabgespielt hat. Am 25. Oktober 1998 ist das Schiff inBrand geraten. Schauen Sie sich an, wann die zuständigeLandesregierung, der zuständige Minister begonnen ha-ben, Entscheidungen zu treffen. Am 25. Oktober 1998ist das Unglück passiert. Am 10. November – jeder kannleicht ausrechnen, wie viele Tage später das war – be-schließt die Landesregierung die Einsetzung eines Lei-tungsstabes. Das war 14 Tage später!Am 11. November, nach Aufforderung durch die Minis-terpräsidentin, findet sich der grüne Umweltministerendlich bereit, mit dem Innenminister des Landes da-rüber zu reden, welche Maßnahmen wohl die geeignet-sten seien, die eingeleitet werden könnten.Ich habe großen Respekt vor denen, die vor Ort ge-handelt haben, die sich bemüht haben, das Schlimmstezu verhindern, vor den Bergungsmannschaften und de-nen, die betroffen waren.
Ich habe weniger großen Respekt vor den vielen anderenin den Verwaltungen – das meine ich jetzt nicht poli-tisch –, die offensichtlich nicht auf solche Fällevorbereitet waren, die nicht wussten, wie groß dieTankerkapazität eines Rettungsschiffes und wie groß dieSchlepperzugkraft sein müssen, auch nicht, welcheMinisterien sich abzustimmen haben.
– Wenn Sie gerecht wären, würden Sie weiter herunter-gehen auf den Bereich der Fachleute. Es kann doch nichtAufgabe eines Ministers
oder der Abgeordneten hier sein, sich darum zu küm-mern, wie stark das Schleppseil eines Schiffes sein soll-te.
Ich glaube schon, dass die Verantwortung in den einzel-nen Verwaltungen gesucht werden muss. Wenn es umDietrich Austermann
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andere Dinge geht, meldet sich die Verwaltung auch tat-kräftig zu Wort.
Wenn man sich die Bewertung der Grobecker-Kommission ansieht – ich habe den Bericht gestern be-kommen; ich weiß nicht, ob Sie ihn eher hatten – unddie gut 100 Seiten querliest, dann kommt man zu derEmpfehlung, die eigentlich dem entspricht, was wir seitlanger Zeit wollen.
Wir haben eine Küstenwache eingerichtet, die Maß-nahmen durch den BGS, den Zoll und die Fischereiauf-sicht koordiniert, die aber nicht die Wasser-schutzpolizei einbeziehen kann. Jetzt wird gefragt, ob esmöglich sei, die Kräfte zu bündeln, ohne dass dasGrundgesetz tangiert wird. Es muss also an der Verwei-gerung der betroffenen Länder gelegen haben, dass dasAngebot von Wissmann damals nicht angenommenwurde, dass nicht gesagt wurde: Wir kommen zusam-men und gehen erst dann auseinander, wenn wir ein ge-meinsames Konzept beschlossen haben.
Nach den Details der Feststellungen, die in dem Be-richt aufgezeichnet sind, hat es viele Tage lang kein ak-tuelles Lagebild gegeben, nach dem Menschen und Ret-tungsmittel hätten koordiniert werden können. Für be-stimmte Dinge reichte das Personal nicht aus, weil nichtentschieden wurde, dass es zur Verfügung gestellt wird.Es heißt, die Reaktion auf das „Pallas“-Unglück durchdie Behörden der Landesregierung sei falsch gewesen,sei zu spät erfolgt. Dies alles können Sie zwischen denZeilen dieses Berichtes lesen. Natürlich wird ein ordent-licher Sozialdemokrat wie der Herr Grobecker davonAbstand nehmen, massiv zu kritisieren, was tatsächlichvorgefallen bzw. nicht vorgefallen ist. Aber dass manüberhaupt eine Verwaltung auffordern muss, in Kata-strophenfällen ein Lagebild aufzuzeichnen und eine Be-hörde einzusetzen, die die Hilfsmaßnahmen koordiniert! Die Lehre, die wir aus den verschiedenen Berichtenzur Kenntnis nehmen mussten und müssen, wird deut-lich: Durch Nichtannahme der Entscheidungsbe-fugnisse durch den grünen Umweltminister sind 16 000Seevögel verendet. Die Umwelt hat Schaden genom-men. Das ist ein Fazit. Und: Sowohl von der rot-grünenBundes- wie auch von der rot-grünen Landesregierungsind die Maßnahmen, die vorgesehen sind, um Naturund Landschaft stärker zu schützen, offensichtlich nichtmit der notwendigen Aufmerksamkeit versehen worden;es wird lieblos gehandelt. Ich glaube deshalb, dass es er-forderlich ist, eine Kurskorrektur vorzunehmen, wennman tatsächlich Natur und Landschaft dienen will.Herzlichen Dank.
Alsnächster Redner hat der Kollege Müller vom Bünd-nis 90/Die Grünen das Wort.Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Lieber Kollege Austermann, ichverstehe ja, dass Sie in solchem Maße Geschichtsklitte-rung betreiben müssen, um sich in Schleswig-Holsteinin den nächsten zehn Tagen wenigstens noch an die 35-Prozent-Grenze heranzurobben. Ich verstehe auch, dassSie dafür tief in die Mottenkiste greifen müssen.
Aber was Sie hier darstellen, ist falsch. Mir fällt auchnoch mehr dazu ein.
– Lieber Peter Carstensen, brüllen Sie nicht so durch dieGegend! Ihr designierter Ministerpräsident verkündetlandauf, landab eine zehnjährige Pause im Umwelt-schutz.
Wer sich in einem Land wie Schleswig-Holstein so dis-kreditiert, sollte in Umweltfragen nicht mehr den Mundaufmachen. An dieser Stelle können wir uns wieder ein Stückweit der sachlichen Debatte zuwenden.
Deutschland ist ein maritimes Land. Ein Großteil unse-res Außenhandels wird über die Häfen abgewickelt.Lassen Sie mich das als Kieler sagen: Das ist ein wichti-ger Wirtschaftsfaktor. Gleichzeitig wissen wir, dass dieInteressen der Küstenländer in einem Spannungs-verhältnis stehen: in dem Spannungsverhältnis zwischeneinem zügigen Seehandel auf der einen Seite, den wirdurchaus wollen, und dem Interesse des Naturerbes, desKüstenschutzes und des Naturschutzes auf der anderenSeite. Wenn wir schon auf das zu sprechen kommen,was in Schleswig-Holstein wirklich passiert ist, dannmuss man feststellen, dass es eine Menge Verfehlungengegeben hat, die unter anderem von einem Herrn zu ver-antworten sind, der dieser Debatte wohlweislich nichtbeiwohnt.
Das ist Ihr Kollege Wissmann. Er hat sich in seiner Zeitals Verkehrsminister – mit Verlaub – einen feuchtenKehricht darum gekümmert, was in Sachen Vorsorge,Naturschutz und Küstenschutz zu machen ist. Dietrich Austermann
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Das ist das Problem, das wir jetzt auszubaden haben.
Umso empörender ist es, dass CDU und CSU jetzt ver-suchen, aus der „Pallas“-Havarie politisches Kapital zuschlagen,
statt mit konstruktiven Lösungen aufzuwarten und eineernsthafte Debatte zu führen, was die Menschen inSchleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vor-pommern, Bremen und Hamburg wirklich brauchen.
Sie haben in Ihrem Antrag, der mit „Folgerungen ausder Havarie der ‚Pallas‘ vor Amrum“ überschrieben ist,keine konstruktiven Vorschläge gemacht.
Es ist ja richtig, einen Blick in die Vergangenheit zuwerfen, und, wie gesagt, ich verstehe auch billige Wahl-kampfmanöver. Aber Sie haben wirklich nichts vor-geschlagen, um in Zukunft etwas zu ändern, damit soetwas wie mit der „Pallas“ nicht noch einmal passierenkann.Gerade gestern hat die bereits erwähnte Experten-kommission, die fraktionsübergreifend gefordert wor-den ist, ihre Empfehlungen dem Herrn BundesministerKlimmt übergeben. Vieles davon deckt sich mit denForderungen von Bündnis 90/Die Grünen.
Manches werden wir kritisch zu hinterfragen haben.
– Gerade Bündnis 90/Die Grünen und gerade auch meinKollege Rainder Steenblock, als er noch Bundestagsab-geordneter war, haben mehrfach auf die Probleme hin-gewiesen. Ihr Minister war nicht in der Lage, etwas Ent-sprechendes vorzubereiten, und hat uns eine Erblast hin-terlassen.
Gerade Rainder Steenblock hat mehrfach darauf hinge-wiesen, dass die Schlepperkapazitäten unbedingt gesi-chert werden müssen, dass es um ausreichende Schlep-perkapazitäten im Seegebiet in Stand-by-Position gehtund dass die Bereitschaft eines einsatzstarken Hochsee-schleppers garantiert sein muss.
Ferner müssen wir – das wird auch von der Kommis-sion empfohlen – die bisherigen Einrichtungen vonBund und Ländern zusammenfassen
– brüllen Sie doch nicht so, Herr Koppelin –
und ein Havariekommando mit Durchgriffsrechten undWeisungsbefugnissen einsetzen. Zudem wird die Ein-richtung einer Seewache gefordert, die mit ver-schiedenen Aufsichtsmitteln zentral zusammengeführtwird. Gerade mit den letzten beiden Punkten – Einrich-tung einer Seewache und dem Havariekommandos –können deutliche Zeichen in die richtige Richtung ge-setzt werden. Diese Forderungen bleiben allerdings hinter den Vor-stellungen des schleswig-holsteinischen Landtages zu-rück. Dort ist man – was die konstruktive Zusammenar-beit anbelangt, nicht aber, was die polemischen Töne be-trifft – schon etwas weiter als hier.
Am 26. Januar dieses Jahres wurde im Kieler Landtagfraktionsübergreifend mit nur einer Gegenstimme desSSW ein gemeinsamer Beschluss gefasst. Gefordertwird die Einrichtung einer deutschen Küstenwache, diedie vorhandenen Kräfte stärker bündeln und die Kom-munikationswege noch stärker vernetzen würde.
Dies haben im November 1998 die Umweltminister derLänder auf Initiative Schleswig-Holsteins gegenüberdem Bund gefordert.
Insofern ist es aus der Mottenkiste gegriffen, wenn sichHerr Austermann hinstellt und versucht, die Bemühun-gen Schleswig-Holsteins kleinzureden oder schlichtnicht zu berücksichtigen.
Vorhandene Strukturen haben so funktioniert, wie eseben ging. Notwendig ist größtmögliche Effizienz beider Bekämpfung von Havarien. Dazu braucht man, wiegesagt, eine einheitliche Kommandostruktur sowie ei-ne Mannschaft von Expertinnen und Experten in ständi-ger Einsatzbereitschaft und steter Übung. Ich bin froh,dass wir uns für die Auswertung der Havarie und derdaraus resultierenden Ereignisse sowohl in einem Unter-suchungsausschuss in Schleswig-Holstein als auch inder Expertenkommission genügend Zeit genommen ha-ben. Aber wir sollten in der Diskussion – das meine ichgerade mit Blick auf Herrn Austermann – die Kirche imDorf lassen. Das „Pallas“-Unglück war furchtbar. Gera-Klaus Wolfgang Müller
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de als Schleswig-Holsteiner, der vor Ort war, weiß ich,wovon ich spreche. Dennoch war das „Pallas“-Unglückvor allem ein Schuss vor den Bug,
damit wir wissen, was wir jetzt besser machen müssen.Stellen wir uns vor, dort wäre kein Holzfrachter, son-dern womöglich ein Öltanker gestrandet. Dann wärennicht 100 Tonnen ausgelaufen,
sondern, Herr Carstensen, wesentlich mehr, etwa dasZehn- oder Hundertfache davon. Dann hätten wir wirk-lich eine ökologische Katastrophe gehabt. Dann hättenwir ein Fiasko gehabt. Dann wären nicht nur die 16 000Vögel, die furchtbar, grausam und schrecklich dort ver-endet sind – das ist keine Frage –, gestorben, sonderndann wäre die Katastrophe noch größer gewesen. Inso-fern sollten wir dieses Unglück tatsächlich als eineMahnung annehmen, aus der wir jetzt Konsequenzenziehen müssen.Ich will an dieser Stelle ein paar Sätze zu meinemKollegen Rainder Steenblock sagen, Umweltministerin Schleswig-Holstein. Ich verstehe, dass Sie gerne einePerson, die kein schwarzes Parteibuch hat, im Zentrumder Kritik sehen wollen. Dafür habe ich menschlich vol-les Verständnis. Aber dann lassen Sie uns ehrlich da-rüber reden: Was kann man Rainder Steenblock an die-ser Stelle vorwerfen?
– Blödsinn. Die Grünen sind ein Stück weit für Selbst-kritik bekannt. Dazu stehen wir.Was er nicht gemacht hat, ist, noch am gleichen Tagezum Strande zu eilen, um dort mit der Schippe im Öl dierichtigen Fernsehbilder zu liefern. Das räumen wir ein.Das ist richtig. Er hat im Kapitel Show leider nicht die100 Punkte bekommen, die man sich hätte wünschenkönnen.
Aber es gibt keinen einzigen Punkt, bei dem Sie ihmein fachliches Fehlverhalten vorwerfen können. Es gibtkeinen einzigen Punkt, bei dem er in der Sache andereHandlungsmöglichkeiten gehabt hätte.
Herr Austermann, Sie sprachen gerade von den15 Tagen, an denen vermeintlich nichts geschehen sei.Sie wissen, dass in dieser Zeit Dinge geschehen sind. Siewissen, dass in dieser Zeit, aufbauend auf den katastro-phalen Strukturen, die Sie uns durch Ihren ehemaligenVerkehrsminister hinterlassen haben, das getan wurde,was möglich war. Die „Oceanic“ war eben nicht sofortverfügbar, so wie das Bündnis 90/Die Grünen und dieSPD immer gefordert haben. Insofern gab es dort Män-gel. Aber das hat nicht der schleswig-holsteinische Um-weltminister zu verantworten. In dem Moment, woschleswig-holsteinische Landeskompetenz gefragt war,hat er gehandelt. Die Ölbeseitigung hat hervorragendgeklappt. Es ist dort nicht festzustellen, dass irgendwodauerhafte Schäden geblieben sind. Das müssen auchSie akzeptieren.Wenn Sie hier eine redliche Diskussion führen wür-den, Herr Carstensen, wenn wir tatsächlich über die Sa-che streiten würden und es nicht um Ihren Wahlkampfginge, weil Sie Herrn Steenblock doch gerne beerbenmöchten, und zwar nicht als Umweltminister, sondernals Landwirtschaftsminister – die Umwelt würde dannbei Ihnen irgendwo drangeheftet –,
wenn Sie ernsthaft darüber reden würden, müssten auchSie eingestehen, dass dort die Aufräumarbeiten sachlichgut funktioniert haben, dass es dort tatsächlich in demSinne keine bleibenden Schäden gegeben hat. Wir, dierot-grüne Bundesregierung, und wir, die wir hier im Par-lament in der Verantwortung sind, wir sind dabei, dieStrukturen zu schaffen und durchzusetzen, die wirklicherforderlich sind, um beim nächsten Unglück nicht wie-der so dazustehen, sondern von Bundesseite her dieKompetenzen und die Ausstattung zu haben, um auf soeine Katastrophe angemessen reagieren zu können. Sie haben hier versagt. Ihr ehemaliger Verkehrs-minister Wissmann hat hier versagt. Insofern sollten Siesich ein Stück weit dafür schämen, zu Ihrer eigenenVerantwortung bekennen
und uns jetzt dabei unterstützen, die richtigen Strukturenzu schaffen, um auf das nächste Unglück angemessenreagieren zu können oder es idealerweise sogar zu ver-hindern.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Jürgen Koppelin von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich hatte jetzt eigentlich vor,intensiv zu dem Bericht Stellung zu nehmen und natür-lich auch das eine oder andere zu dem zu sagen, was derUntersuchungsausschuss des Schleswig-HolsteinischenLandtages vorgelegt hat. Das muss man beides in einemPaket sehen. Aber nach der Rede des Kollegen Müller, glaube ich,muss man doch noch das eine oder andere bemerken unddem Kollegen Müller einen Spiegel vorhalten. Er hat na-türlich das Vorurteil, das man draußen in der Bevölke-rung hat, voll bestätigt. Er redet hier über etwas, was erKlaus Wolfgang Müller
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überhaupt nicht selber gelesen hat; sonst könnte er hiereine solche Rede überhaupt nicht halten.
Was den Bericht angeht: Dazu muss ich noch etwassagen. Wir haben einen Antrag gestellt, dass der Berichtrechtzeitig, und zwar vor der Landtagswahl in Schles-wig-Holstein, vorgelegt wird. Er ist jetzt vorgelegt wor-den. Wir sind nicht ganz ohne darauf gekommen, diesenAntrag zu stellen. Herr Steenblock ist im Lande Schles-wig-Holstein durch die Gegend gereist und hat erklärt –das können Sie auch nachschauen, wenn Sie die Presse-konferenz der Ministerpräsidentin mit Herrn Steenblocknachlesen –, am 29. Februar käme der Bericht heraus.Insofern ist es gut, dass er jetzt da ist. Aber dazu wirdgleich noch etwas zu sagen sein. Noch eine Vorbemerkung. Ich bedaure sehr, dasskein Mitglied des Bundesrates aus den norddeutschenLändern hier anwesend ist, einschließlich des HerrnSteenblock – auch das darf ich einmal sagen –, wenn wirso ein Thema hier behandeln.
Nun, Herr Müller, kommen wir tatsächlich zu denFakten, die Sie alle völlig verdrängt haben. Rückblickauf das Geschehen: Am 25. Oktober 1998 – Sie dürfensich die Daten mitschreiben – geriet die „Pallas“ vor derdänischen Küste in Brand. Es war übrigens keinSchrottkahn, wie der Herr Bundesumweltminister erklärthat, sondern auf diesem Schiff ist ein Brand ausgebro-chen. Tage später driftet dann die „Pallas“ in Richtungder deutschen Nordseeküste aus Dänemark kommend.Von da an, Herr Kollege Müller, zieht sich die Unfä-higkeit des schleswig-holsteinischen UmweltministersSteenblock wie ein grüner Faden durch das Geschehen:
Erst 20 Tage nach dem Geschehen beginnen die Lösch-arbeiten.
Austretendes Öl sorgt für den Tod von Tausenden vonSeevögeln und die Verschmutzung des Wattenmeeres.Und wenn Sie schon von Selbstkritik sprechen, HerrKollege Müller: Es gab nicht nur Selbstkritik, sondernauch massive Kritik an Ihrem Umweltminister. WissenSie noch, was auf Ihrem Bundesparteitag – oder wieimmer man das bei den Grünen nennt – in Leipzig imDezember 1998 beschlossen wurde? Man sprach von ei-nem – Sie waren ja wahrscheinlich dabei; vielleicht ha-ben Sie sogar den Parteitag geleitet – „dilettantischenKatastrophenmanagement“. Ja, wer hat denn das Ka-tastrophenmanagement in der Hand gehabt? HerrSteenblock hatte es in der Hand.
Herr Müller, wie konnte das geschehen?
Sie sagen, sein Fehler war, dass er nicht sofort zur Küstegefahren ist. Das konnte er auch gar nicht. Herr Steen-block ist nämlich in Urlaub gefahren, als die Ka-tastrophe entstand. Das ist die Wahrheit.
Als er aus dem Urlaub zurückgerufen wurde, hat er nochnicht einmal die betroffene Bevölkerung informiert undvor der Strandung der „Pallas“ gewarnt. Er hat die Be-völkerung auch nicht auf die Verschmutzung durch Ölvorbereitet. Nichts hat er getan.
Herr Minister Steenblock hat zu keinem Augenblick dieZeit für die Klärung der Zuständigkeiten, für die Koor-dinierung eines Einsatzes, für die Bereitstellung des Ma-terials genutzt.Hinzu kommt noch etwas – das ist auch im Untersu-chungsbericht des Landtages festgestellt worden –:Dreimal bietet der schleswig-holsteinische Innen-minister dem grünen Umweltminister die Krisenzentra-le des Innenministeriums an. Die dort vorhandene Tech-nik sowie für solche Einsätze geschultes Personal hättenzahlreiche Versäumnisse und Pannen verhindern kön-nen. Der grüne Umweltminister Steenblock lehnt ab.Das müssen Sie einmal der Bevölkerung in Schleswig-Holstein erklären.
Erst als die Empörung an der Westküste immer grö-ßer wurde, hat die Ministerpräsidentin – ich sage dies-mal: Gott sei Dank! – persönlich eingegriffen und veran-lasst, dass der Krisenstab des Innenministers tätig wur-de.
– Das können Sie uns gleich erklären. Machen Sie eineKurzintervention! Erklären Sie uns einmal, wie dennFrau Simonis dazu kommt, ihrem grünen Um-weltminister zu raten, er möge doch einmal für drei Ta-ge nach Hause fahren und ausschlafen – nicht weil derMann überarbeitet, müde und kaputt war, sondern weiler unfähig war und im Weg gestanden hat, als die Leuteanpacken wollten.
Das war das Entscheidende. Sonst hätte Frau Simonisdas doch niemals gesagt.Einmal in vier Jahren Rot-Grün in Schleswig-Holstein hätte Schleswig-Holstein den Umweltministerwirklich gebraucht, und zwar bei der Katastrophe derJürgen Koppelin
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„Pallas“. Da hat er versagt, da ist er im Urlaub gewesen.Er war nicht präsent, er hat völlig versagt.
Hilflosigkeit, Tatenlosigkeit, Konzeptlosigkeit – das hatdiesen Umweltminister zu einer tragischen Figur in derLandesregierung von Schleswig-Holstein gemacht.
Es möge jetzt kein Grüner kommen und sagen: Dassich diese Aussage treffe, hat mit dem schleswig-holsteinischen Wahlkampf zu tun.
– Ich erspare Ihnen sogar, all das zu zitieren, was dieMinisterpräsidentin über Herrn Steenblock imZusammenhang mit dieser Katastrophe gesagt hat.
Oder ist etwa auch das Wahlkampf gewesen?Wir müssen weiter feststellen: Auch der Bundesver-kehrsminister – das war damals übrigens Herr Münte-fering – wäre zuständig gewesen. Denn die Katastrophefand ja in einer Wasserstraße des Bundes statt. Wo warer? Er hat nichts gemacht. Und da es sich um eine Be-drohung des Nationalparks Wattenmeer handelte, mussman auch fragen: Wo ist eigentlich der Bundesum-weltminister gewesen? Ich habe von ihm nichts gehörtund nichts gesehen.
Die Staatssekretärin Altmann ist auf ein Schiff gestiefeltund hat sich das Ganze einmal von Ferne angeguckt.Dann ist sie wieder abgedüst. Sie hat mit ein paar Par-teigenossen von den Grünen gesprochen und war dannwieder weg. Das war der Einsatz des Umweltministeri-ums.
In der Zwischenzeit, Frau Altmann, sind Tausende vonSeevögeln verendet und ist das Wasser verseucht wor-den.
Der Umweltminister hat sich nicht zuständig gefühlt,Herr Müntefering, damals Verkehrsminister, war nichtzuständig, Herr Steenblock war nicht zuständig, dieStaatssekretäre waren alle nicht zuständig. Festzustellenist ein Versagen aller politisch Verantwortlichen. Wenndie Bürger, wenn die Amtsvorsteher dort nicht ange-packt hätten, dann wäre die Katastrophe noch viel grö-ßer geworden.
Jetzt komme ich auf das, was uns beim hier zu debat-tierenden Bericht der Bundesregierung und beim Unter-suchungsbericht des Landtages bewegen muss: Meinelieben Kolleginnen und Kollegen, was nutzen diese Be-richte, was nutzen die Empfehlungen, wenn man einenMinister hat, der nicht in der Lage ist, mit solchen Kon-zepten zu arbeiten? Wo war denn Minister Steenblockzum Beispiel,
als es um die Feuerwehren in Cuxhaven und in Ham-burg ging? Warum hat er den Einsatz nicht nach denvorhandenen Richtlinien koordiniert? Er konnte damitgar nichts anfangen.
Wir haben einen Minister, der unfähig war, mit den vor-handenen Konzepten zu arbeiten. UmweltministerSteenblock hat sich, so meinen wir, in der Katastropheder „Pallas“ weder nach den Einsatzmöglichkeiten desHochseeschleppers „Oceanic“ noch nach den Einsatz-möglichkeiten der Feuerwehren von Hamburg und Cux-haven erkundigt. Das hat übrigens auch der Untersu-chungsbericht des Landtags festgestellt. Allein der Ein-satz der Feuerwehren von Hamburg und Cuxhaven, HerrKollege Müller, hätte eine sachgerechte Brandbekämp-fung ermöglicht. Der Brand auf dem Schiff hätte min-destens eingedämmt werden können, sodass die anfangsnoch funktionsfähige Betriebstechnik des Schiffes undsomit die Manövrierfähigkeit der „Pallas“ erhaltengeblieben wären. Damit hätten wir das Schiff auf einenNotliegeplatz bringen können.
Herr
Kollege Koppelin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Heyne?
Ja.
Lie-
ber Herr Kollege Koppelin, über die „Oceanic“ sowie
deren Einsatzmöglichkeiten haben wir hier schon häufig
diskutiert. Könnten Sie meine Einschätzung bestätigen,
dass die „Oceanic“ vonseiten des Bundes finanziert und
selbstverständlich auch von Bundesseite eingesetzt
wird?
Selbstverständlich kannich das.
Allerdings hat die Kollegin Altmann aus bestimmtenGründen bessere Kontakte als ich zur „Oceanic“. Ichwill dies nicht näher erläutern. Jürgen Koppelin
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Ich will noch einmal sagen: Wir waren uns – auch imHaushaltsausschuss – immer darüber einig, was wir wol-len. Es geht nicht darum, ob das Schiff einsatzfähig istoder nicht. Herr Steenblock hat doch gar nichts gemacht.
– Frau Kollegin Heyne, er hat sich nicht einmal erkun-digt.
Sie können das alles im Bericht des Untersuchungsaus-schusses nachlesen. Das ist festgestellt worden. Wennein zögerlicher, unentschlossener und hilfloser Landes-minister wie der grüne Umweltminister Steenblock un-fähig zur Zusammenarbeit ist, wenn dieser Minister ineiner Situation der Gefahr handlungs- und führungsun-fähig ist, nutzen auch die besten Konzepte und Papierenichts. Diese Erfahrung haben die Menschen an derschleswig-holsteinischen Westküste machen müssen.Tausende von Seevögeln haben den Tod gefunden. Ver-antwortlich dafür ist der grüne Umweltminister Steen-block und kein anderer.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Eva
Bulling-Schröter von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Gut 16 Monate nach dem„Pallas“-Unglück und knapp drei Monate nach der ver-heerenden Ölkatastrophe der „Erika“ an der bretoni-schen Küste liegt nun der abschließende Untersu-chungsbericht vor. Im Kern enthält er einige wichtige Forderungen, dieauch die Umweltverbände zum Schutz der Nord- undOstsee gestellt haben. So ist die Gründung eines zentra-len Havariekommandos, das das Recht haben sollte,auf alle Einsatzkräfte und Einsatzmittel von Bund, Län-dern und Kommunen zuzugreifen, notwendig. Der Bericht macht auch klar, dass auch das beste Ka-tastrophenmanagement keine Unglücke verhindern kannund die Bekämpfung der Folgen nur sehr schwer mög-lich ist. In diesem Sinne unterstützen wir auch dieHauptintentionen des Koalitionsantrags. Zur vorbeugenden Sicherheitsphilosophie gehört füruns aber noch einiges andere. Im Expertenbericht wirdin klarer Sprache darauf verwiesen, dass bei der Unfall-ursache „menschliches Versagen“ die wirklichen Grün-de meist tiefer liegen. Um Lohnkosten einzusparen,rekrutieren sich die Schiffsbesatzungen erstens „aus al-ler Herren Länder“, wie der Bericht schreibt, und zwei-tens aus oft unqualifizierten Mannschaften. Um Tarif-verträgen aus dem Weg zu gehen, wird fleißig ausge-flaggt, auch von deutschen Reedereien.Wohl in keinem Bereich greift das internationaleLohndumping, das andere für Wettbewerb halten, sostark wie in der vermeintlich christlichen Seefahrt.Nutznießer auf Kosten der Schiffssicherheit, also aufKosten der Umwelt oder gar von Menschenleben, sindnicht nur Reedereien oder beauftragte Privatunterneh-men, Nutznießer ist beispielsweise auch die Bundesre-gierung.So führte Ende September letzten Jahres die Interna-tionale Transportarbeiter-Föderation eine europaweiteAktionswoche durch, bei der Sicherheits- und Ausbil-dungsstandards von unter Billigflagge fahrenden See-schiffen überprüft wurden und die Reedereien zum Ab-schluss eines Tarifvertrages bewegt werden sollten.Die Aktion wurde von der ÖTV unterstützt und führtedazu, dass für 17 Schiffe Tarifverträge abgeschlossenwerden konnten. In diesem Zusammenhang wurde am29. September in Cuxhaven die wie die „Pallas“ unterder Flagge der Bahamas fahrende „Ravenna Bridge“beim Laden bestreikt, weil für die Besatzung kein Tarif-vertrag bestand. Laut ÖTV hat sich hier niemand ande-res als die Bundeswehr als Streikbrecher betätigt. Siewar nämlich Auftraggeber und wollte Güter für dieTruppe in den Kosovo verschiffen.Aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der PDSergibt sich, dass 70 Prozent der Schiffscharterungen derBundeswehr durch „offene Register“, also Billigflaggen,realisiert werden. Die Charterung der Schiffe erfolge inerster Priorität nach Wirtschaftlichkeit und Zuverlässig-keit, begründet die Bundesregierung ihre Strategie desLohndumpings. Dass in der Seefahrt das Konzept derBilligflaggen in der Regel der Zuverlässigkeit genaudiametral entgegengesetzt ist, weiß allerdings jeder, dermit der Materie nur ein bisschen zu tun hat. Das hat au-ßerdem der vorliegende Expertenbericht bestätigt. Hier zeigt sich im Übrigen eine Kontinuität. Die„Ausflaggung“ von gesicherten Arbeitsplätzen aus Ver-waltungen oder Betrieben des Bundes, der Länder undKommunen zu Privatfirmen spart Geld. Doch seien esReinigungskräfte, Postangestellte oder Bundestagspfört-ner – das Ganze geht auf die Knochen und Geldbörsender Beschäftigten, die fast immer deutlich niedriger ent-lohnt werden und deren Arbeitsbedingungen sich ver-schlechtern. Ein Rätsel bleibt übrigens, warum seinerzeit dieTreuhand die ausreichende Bekämpfungskapazität derDDR zum Schutz der Ostsee an Private verscheuert hat.Alle Bekämpfungsschiffe und sonstiges Ölgerät wurdenverkauft. Mecklenburg-Vorpommern musste sich einenTeil davon zurückchartern, damit nicht der Sicherheits-standard gegen Null gefahren wird. Das sage ich an IhreAdresse, die Adresse der CDU/CSU. Jürgen Koppelin
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Zum Schutz des Wattenmeeres scheint es uns gebo-ten, die Verlegung der Hauptschifffahrtsstraße nachNorden zu prüfen. Vorwarnzeiten und Sicherheits-abstände zum hochsensiblen Schutzgebiet können damitvergrößert werden.Wir fordern einen zweiten Hochseeschlepper mit derSchleppkapazität der „Oceanic“. Dieser sollte vorgehal-ten werden.Wir meinen, dass die Frist zum Übergang auf Dop-pelwandigkeit bei Tankern als Standard verkürzt wer-den muss. 25 Jahre sind hierfür zu lang. Wir fordernweiter schärfere Haftungsverpflichtungen für Havaristenund eine grenzüberschreitende polizeiliche Verfolgungvon Öl- und Müllsündern. Danke.
Alsnächstem Redner erteile ich dem Bundesminister Rein-hard Klimmt das Wort. Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen: Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Die Pallas-Katastrophe vom Oktober1998 hat über viele Wochen hinweg die Öffentlichkeitbewegt. Das Schicksal der gequälten Kreatur, gleichzei-tig die Belastung der Natur, die wir immer wieder in denBildern der Medien gesehen haben, haben uns alle ge-troffen und betroffen gemacht. Deswegen haben wirheute eine ganze Reihe von parlamentarischen Initiati-ven zu diesem Thema zu behandeln. Bereits am 18. November 1998 hatte Ihnen meinAmtsvorgänger Franz Müntefering einen Bericht vorge-legt, der die erste Thematik der Schadensbegrenzung,die Bekämpfung der Ölverschmutzung und gleichzeitigauch weitere Vorhaben, zum Beispiel die Einsetzung ei-ner Kommission, zum Inhalt hatte. Ich möchte Herrn Austermann in einem Punkt etwaskorrigieren. Mein Ministerium, das ja aus zwei Häusernzusammenwächst, wurde in seiner personellen Ausges-taltung in den Hauptteilen nicht unbedingt durch Sozial-demokraten besetzt, sondern durch Vorgänger, die so-wohl die F.D.P. als auch die CDU und die CSU gestellthaben. Ich kann Ihnen versichern, dass wir uns auf dieLoyalität und die Fähigkeiten der im Baubereich und imVerkehrsbereich Beschäftigten, der Beamten und auchder Angestellten, voll verlassen können. Ich möchteausdrücklich die Beamten und Angestellten meinesHauses gegen den Vorwurf in Schutz nehmen, sie wür-den unqualifizierte, parteipolitisch motivierte Arbeitleisten.
Eingesetzt wurde, wie sich das gehört, eine unabhän-gige Expertenkommission. Diese Expertenkommissionhat unter der Leitung von Senator a. D. Claus Grobeckergetagt. Sie konstituierte sich vor etwa einem Jahr und siehatte den Auftrag, das Notfallkonzept zu bewerten undgleichzeitig Vorschläge für seine Weiterentwicklung zumachen, um einen optimalen Küstenschutz sowohl fürdie Nord- als auch die Ostsee zu garantieren. Dieser Bericht ist gestern vom früheren SenatorGrobecker vorgelegt worden. Ich möchte ihm für seinegründliche Arbeit danken. Es war richtig, dass mangründlich gearbeitet und sich Zeit genommen hat. Esgab zwischendurch den Wunsch, etwas mehr Druck aufdie Pipeline zu bringen, damit der Bericht schneller zu-stande kommt. Aber die 30 Punkte, die nach wirklichgründlicher Analyse erarbeitet worden sind, können sichsehen lassen. Deswegen ein ganz herzliches Dankeschönan Claus Grobecker und seine Mitstreiter, die diesen Be-richt erstellt haben.
Anhand der 30 Punkte ist deutlich geworden, dasseiniges veränderungswürdig und veränderungsbedürftigist. Deswegen gibt es eine Reihe von zukunftsorientier-ten Empfehlungen. Es ging nicht darum, festzustellen,wie die Verantwortlichkeit in der Vergangenheit war. Esgibt andere Einrichtungen und auch andere parlamenta-rische Gremien, um individuelle Schuld und Verant-wortung zu definieren oder entsprechende Ursachen aufihre Konsequenz etwa in strafrechtlicher Hinsicht zu überprüfen. Nein, es geht vor allem darum – das sind auch dievier wichtigsten Kapitel des Berichts –, die Sicherheitder Verkehrswege und die damit verbundene Landorga-nisation zu garantieren. Es geht auch darum, die Sicher-heit an Bord und des Schiffbetriebs zu garantieren. Esmuss also auch die Sicherheit des Schiffbetriebs selbstüberprüft werden, um zu erkennen, was dort verbessertwerden kann. Es geht auch um das wichtige und großeThema der Ausbildung; denn wir müssen darauf achten,dass angesichts der Standards, die trotz einer immerkomplizierter werdenden Technik erfüllt werden müs-sen, auch diejenigen, die die Schiffe führen und die Ar-beiten auf den Schiffen erledigen, optimal ausgebildetsind, damit sie nicht aufgrund von Unkenntnis – nichtaus bösem Willen heraus – Fehler machen.
Wir müssen überprüfen, wie wir den Schutz der Mee-resumwelt und der Küste garantieren können. Auch hiergibt es einiges, was durch die Forschung geklärt werdenmuss, etwa der Einsatz von Chemikalien, mit deren Hil-fe Ölkatastrophen bekämpft werden können, die abermöglicherweise neue Risiken in sich bergen. Hier musseine ausführliche Forschung betrieben werden. Wir müssen prüfen – das gehört zu unserer Gesell-schaft dazu –, wie die jeweilige Rechtslage ist, ob unsereRechtsinstrumente ausreichen und ob das, was die Ver-sicherungen anbieten, noch den entsprechenden Risikenund Gefährdungen entspricht, gerade auch im Hinblickauf unsere sehr dicht befahrenen Wasserstraßen. 30 Empfehlungen sind ausgesprochen worden. Das,was mir und sicherlich auch dem Herrn Innenministergut schmeckt, ist, dass nicht vorgeschlagen wurde,Eva Bulling-Schröter
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grundsätzlich die Zuständigkeiten durch eine Änderungdes Grundgesetzes zu korrigieren.
In der Diskussion über die Frage, ob nach amerikani-schem Vorbild etwas verändert werden muss, ist deut-lich geworden: Veränderungen können wir auch mit denvorhandenen Zuständigkeiten, Regelungen und Organi-sationen erreichen. Es ist völlig unbestritten, dass wirdabei für eine klare und eindeutige Leitungsstruktur sor-gen müssen – vielleicht darf man in diesem Zusammen-hang auch den Begriff Kommandostruktur verwenden –,und zwar unabhängig davon, wie wir das im Einzelnenin Übereinstimmung mit den betroffenen Küstenländernorganisieren. Ich bin auch der Meinung, dass wir uns sehr viel Ge-danken darüber machen müssen, was auf der internati-onalen Ebene dazu beigetragen werden kann. Es liegtnicht nur in unseren Händen, die entsprechenden Verän-derungen vorzunehmen; denn ein Großteil hängt natür-lich von Vereinbarungen ab, die wir bilateral mit unse-ren Nachbarländern treffen, bzw. von dem, was auf EU-Ebene geregelt werden kann. Natürlich spielt für den ge-samten internationalen Bereich die IMO eine ganz be-sondere Rolle. Im Rahmen dieser Organisation müssenwir versuchen, mit unseren Vorstellungen durchzudrin-gen, um zweifellos notwendige Verbesserungen zu er-reichen.Auch die schrecklichen Bilder von der Katastropheder „Erika“ vor der bretonischen Küste haben ganz Eu-ropa und insbesondere Frankreich aufgeschreckt. Ich binsehr dankbar, dass die damit verbundene gewachseneSensibilität den französischen Verkehrsminister dazugebracht hat, sich mit mir zusammen vorzunehmen, et-was auf der internationalen Ebene zu verändern. Es gehtdarum, die Vorschläge der Expertenkommission, die wirbei uns nicht umsetzen können, auf der EU-Ebene undgleichzeitig gemeinsam mit anderen interessierten Län-dern in der IMO zu realisieren.Wir haben uns auf folgende Themen verständigt, diewir aufgreifen wollen. Wir wollen ein europäisches Sys-tem für die Überwachung des Seeverkehrs schaffen.Das gibt es noch nicht. Es europaweit zu garantieren, istmeines Erachtens eine der wichtigen Aufgaben für dieZukunft. Wir dürfen nicht nur Normungen schaffen;vielmehr müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass dieKontrollen tatsächlich ausgeübt werden. Mit diesemPunkt müssen Garantien verbunden sein.
Auch der „Erika“ wurde von einer zuständigen undanerkannten Stelle ihre Seetüchtigkeit bestätigt. Manbedenke, in welchem Zustand sich dieses Schiff befun-den hat. Von einer deutschen Überwachungsbehördewäre es nicht als tauglich anerkannt worden. Insofernmüssen wir diese Frage nicht nur bei uns, sondern natür-lich auch international klären.Dazu gehören die Verschärfung der technischenNormen und Transparenz auf dem Seeverkehrsmarkt. Esist zu klären – mit den vorhandenen Möglichkeiten istdas durchaus machbar –, in welchem Zustand sich einSchiff, das unterwegs ist, eigentlich befindet, wie alt esist und wann es das letzte Mal eine Überprüfung seinerEinrichtungen gehabt hat. Wir brauchen selbstverständ-lich Sanktionsmöglichkeiten bei Nichtbeachtung derIMO-Normen. Auch auf diesem Gebiet muss etwas zu-stande gebracht werden.Die französische Ratspräsidentschaft in der zweitenHälfte dieses Jahres bietet uns dazu die Gelegenheit. Ge-rade in der Phase einer so hohen Sensibilisierung ist die-se Ratspräsidentschaft ein günstiges Zusammentreffen.Vor dem Hintergrund des gigantischen Verkehrs, dersich etwa auf dem Kanal abwickelt, ist Frankreich stän-dig in einem hohen Maße gefährdet. Die Bereitschaftmüsste dort eigentlich vorhanden sein, die Lösung die-ses Problems jetzt endlich in Angriff zu nehmen. Wirhaben auf unsere Initiative eine deutsch-französischeArbeitsgruppe vereinbart, die entsprechende Lösungs-vorschläge im Vorlauf entwickeln wird, sodass derStartschuss hierfür nicht erst fällt, wenn im Sommer dieRatspräsidentschaft an die Franzosen übergeht.
Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, dass wirauch mit unseren anderen Nachbarn zusammenarbeitenmüssen. Ich denke an Dänemark. Eines der Probleme,das uns besondere Sorgen gemacht hat, war, wie das Zu-sammenspiel zwischen den beiden Ländern funktioniert.Bisher hat es eher nicht funktioniert. Ich erinnere da-rüber hinaus an die Zusammenarbeit mit den Holländernund den Belgiern. Für die Ostsee ist es von großer Bedeutung, was die-ses endlich wieder zum Binnengewässer gewordeneMeer eigentlich macht. Wie schützen wir es in Zusam-menarbeit mit den Polen, mit den skandinavischen Län-dern und auch mit Russland? Wie können wir die ent-sprechenden Abmachungen treffen? Wir werden Rege-lungen finden, damit man nicht meint, die Behandlungdieses Themas sei auf die Zusammenarbeit zwischenDeutschland und Frankreich beschränkt.
HerrBundesminister, Ihre angemeldete Redezeit ist bei wei-tem überschritten. Sie können natürlich weitersprechen;aber das geht dann zulasten Ihrer Fraktionskollegen.Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen: Das würde auf das Kontomeiner verehrten Freunde von der sozialdemokratischenFraktion gehen. Das möchte ich natürlich nicht, weildiese Abgeordneten mindestens so viel an Argumentati-on wie ich sachkundig vortragen können.Es sei mir erlaubt, nur noch eines zu sagen: Hundert-prozentige Sicherheit werden wir nicht erreichen kön-nen. Aber es ist unsere Aufgabe, mit Sofortmaßnahmen,von denen es eine ganze Reihe gibt und die die Bundes-regierung eingeleitet hat, dafür Sorge zu tragen, dass wirdie Risiken, so weit es mit unseren menschlichen Kräf-ten möglich ist, ausschließen.Bundesminister Reinhard Klimmt
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8026 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Als
nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Börnsen von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Herr Verkehrsmi-nister, dat hört sik good an, wat Se seggt hebben. Manglöben doon wi dat erst, wenn dat Wirklichkeit ward.
Der Verkehrsminister wird auch von uns bei der Er-greifung von Maßnahmen unterstützt, die wir für sinn-voll halten und die für die nationale Küstensicherungwichtig sind. Bisher hat in diesem Parlament über dieseGrundsätze immer Einvernehmen geherrscht, querbeetdurch alle Fraktionen. Dabei soll es auch bleiben. Herr Verkehrsminister, ich muss aber noch eine Kor-rektur vornehmen: Niemand hat gesagt, dass Ihre Mitar-beiter nicht loyal arbeiten.
Der Vorwurf lautete, dass Ihr Vorgänger – dafür könnenSie nichts – genau in den Tagen der „Pallas“-Krise vonacht Abteilungsleitern sechs ausgewechselt hat,
weil er der Auffassung war, sie würden nicht loyal mit-arbeiten. In einer Krisenzeit muss man sich aber auf diebewährten Kräfte verlassen. Allein so lautete der Vor-wurf und nicht anders.
Um einen Eindruck davon zu bekommen, um was esuns eigentlich geht, will ich auf einige Tatsachen auf-merksam machen: Jährlich haben wir 420 000 Schiffs-passagen in der Nordsee, 80 000 davon in der DeutschenBucht. Es handelt sich um eines der meistbefahrenenSeereviere in der Welt. Entsprechend groß ist die Anzahlder Havarien; in den letzten zehn Jahren gab es im-merhin 48. Über 122 größere Ölunfälle hat es allein zwi-schen 1985 und 1995 gegeben.
Die Anzahl der verdeckten und unentdeckten Umwelt-sünder und der Beinahe-Katastrophen geht in die Tau-sende. Mindestens 20 Prozent aller Tanker haben Sub-standard, nur ein Bruchteil ist mit modernen Doppelhül-len ausgestattet. Menschen, Tiere und Pflanzen an derKüste leben ständig auf einem Pulverfass, und die Luntebrennt.
Stellen Sie sich vor, dass dpa gerade meldet: Super-tanker im Orkan vor Helgoland havariert – 50 000 Ton-nen Öl laufen aus! Panik auf See und an der Küste. DieMeldung geht dann weiter: Deutschlands Nachbarn ha-ben bereits reagiert, Frankreich hat seine Taskforce alarmiert, Hubschrauber aus England sind im Einsatz,Dänemarks Marine ist bereits auf dem Weg zum Un-glücksort, Brandexperten aus den Niederlanden sind un-terwegs. Die Meldung endet mit dem Satz:
In Deutschland laufen schon lange die Kabel zwischenBerlin und Bremen, Kiel und Hamburg, Wilhelmshavenund Bremerhaven heiß. Drei Krisenstäbe sind eingesetzt.Klärungsbedarf gibt es über die Zuständigkeit, dochBund und Länder sind sich einig: Wir müssen handeln. –Ende der fiktiven Meldung.
Ein havarierter Großtanker vor der deutschen Küste –das kann uns täglich treffen. 16 Monate nach der „Pal-las“-Havarie sind wir immer noch nicht für ein Meeres-unglück dieser Art ausreichend gerüstet, Herr Ver-kehrsminister.
Dabei hat die „Pallas“ den Finger auf die Wunde gelegt.Das politische Krisenmanagement hat versagt, nicht dasadministrative und nicht die Rettungsorganisationen. Eingrüner Umweltminister hat sich als unfähig erwiesen,die Umwelt zu schützen. Das ist die Wirklichkeit.
Auch das Konzept „Küstenwache“ zeigt deutlicheSchwächen. Ein Holzfrachter mittlerer Größe hat dastrügerische System Küstensicherheit am 26. Oktober1998 demaskiert. Noch immer liegt die Führungskompe-tenz im Ernstfall nicht klar in einer Hand. Noch immerliegen wichtige Seerechtsabkommen ununterschriebenauf dem Tisch,
noch immer gibt es Widersprüche bezüglich der Zustän-digkeiten von Bund und Ländern, noch immer haben wirkeine einheitliche nationale Küstenwache wie die Ame-rikaner, die Franzosen oder die Dänen.
Bundesminister Reinhard Klimmt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8027
Dabei haben wir bereits vor über einem Jahr über dieKonsequenzen aus der „Pallas“-Katastrophe diskutiert.Wir waren uns damals parteiübergreifend einig: Die na-tionale Küstenwache muss her – so zügig wie möglich.Greifbare Ergebnisse fast 500 Tage nach der Havarie:Fehlanzeige! Gutachten ja, Konzepte nein, und das, ob-wohl die Idee einer schlagkräftigen Wasserschutztruppenicht neu ist. Mehrfach hatte bereits Matthias Wissmann Mitte der90er-Jahre mit Unterstützung des Parlamentes versucht,eine nationale Küstenwache einzurichten.
Manch einer auch Ihrer Kollegen wird sich daran erin-nern, dass unsere Freunde in den Bundesländern dieVerhinderer eines nationalen Konzeptes gewesen sind.
Das war bereits Anfang 1990 so und das war 1994 so.Inzwischen hatte man zwar Küstenzentren für die Nord-see und für die Ostsee geschaffen. Aber die Straffung al-ler Maßnahmen im Hinblick auf eine nationale Füh-rungskompetenz ist ausgeblieben.
Die Begründung der Bundesländer war immer – dafürmuss man Verständnis haben –: Verfassungsmäßig sindwir für die Polizeiaufgaben zuständig. Wenn uns auchdas noch verloren geht, welche Kompetenzen bleibendenn dann bei uns Bundesländern, ob sie nun schwarz,rot, gelb oder grün regiert werden? Dahinter steckt ebenmehr als nur das Problem eines gemeinsamen Handelnsim Falle der Notwendigkeit von Rettungsmaßnahmen. Ich denke schon, dass es richtig gewesen ist, dass diefrühere Regierung trotz dieses Widerstandes mit Unter-stützung des Parlamentes Rettungsstrukturen durchge-setzt hat, die zu einer Straffung geführt haben, zweiKüstenwachzentren eingesetzt hat und dass es zu einerersten Vernetzung von Küstenwachorganisationen ge-kommen ist. Was wir jetzt noch brauchen, ist Entscheidungsklar-heit und mehr Entscheidungskompetenz in einer Hand.Die „Pallas“-Havarie hat die Notwendigkeit eines über-greifenden Schutzkonzeptes deutlich gemacht. DieCDU/CSU-Bundestagsfraktion hat bereits 1998 auf eineverbesserte Sicherheitsstruktur aufmerksam gemacht.Was hat der damalige Verkehrsminister, Herr Münte-fering, geantwortet? Es bestehe kein Handlungsbedarf –hier im Parlament. Das Wrack der „Pallas“ sprach undspricht, wie ich finde, immer noch eine andere Sprache. Im Frühjahr 1999 hat die CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion in einer Großen Anfrage sachbezogennachgefragt. Denn es ging uns um die Schaffung einernationalen Küstenwache und um die Aufforderung zueinem gemeinsamen parlamentarischen Handeln. Auchhier haben wir leider Fehlmeldungen zu verzeichnen.Denn von 54 Fragen in unserer Anfrage sind 26 nichtvernünftig bzw. ausweichend beantwortet worden. Dasist gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeitnicht vertretbar. Die Regierung ist zu einer sachkundi-gen Aussage angehalten und dafür verantwortlich. Ichglaube schon, dass das jetzt vorgelegte Gutachten dazubeitragen kann, die diesbezügliche Diskussion gemein-sam neu auszurichten. 16 Monate nach der „Pallas“-Havarie fehlt noch im-mer ein vertretbares Regierungshandeln. Wir müssenweg vom Kompetenzwirrwarr, hervorgerufen von vierBundesministerien, 16 Landesministerien und fünf Bun-desbehörden, die alle eingeschaltet werden, wenn es einUnglück in der Nordsee gibt. Im Krisenfall muss in ei-ner Zentrale, aus einer Hand entschieden werden. Auchsollte überlegt werden, ob nicht in Zukunft die Bundes-marine, wie in anderen Ländern auch, Teil eines solchenmaritimen Krisenkonzeptes wird. Dänemark zeigt, wiees geht.
In einer Katastrophe muss uns ein gemeinsames Han-deln von einer Zentrale aus möglich sein. Wir schlagen vor, eine nationale Küstenwache einzu-richten. Die Einsetzung einer Seewache und die Hava-rieorganisation sind ein guter Anfang, aber noch nichtdie ideale Umsetzung des gesetzten Zieles. Wir brau-chen eine jährliche Küstenwachekonferenz. Wir brau-chen in Europa eine verstärkte Vernetzung zwischen denNordseeanrainern, um ein Euro-Schutzkonzept aufzu-stellen. Auf dem nächsten Ministerrat sollte über diesesThema verhandelt werden. Herr Minister, Ihre Initiativezusammen mit Frankreich ist ein erster guter Schritt.
Wir brauchen eine Optimierung der internationalenSchiffssicherheit. Sie muss auf den Prüfstand. DieMehrzahl der Schiffe wird tadellos gefahren. Doch dieSeelenverkäufer, die schwarzen Schafe, sind auszugren-zen. Doppelhüllentanker sind für die Deutsche Bucht zurPflicht zu machen.
Gefahrgüter wie Öltransporte auf gefährdeten Wasser-straßen müssen bei widrigem Wetter durch Schlepperbegleitet werden. Wir brauchen ferner eine Datenauto-bahn für eine vernetzte europäische Küstenwache.Wir müssen – dieser Punkt ist ganz wichtig – immerwieder an die Ursachen von Havarien und Meeresunglü-cken denken. Neben der technischen Schiffssicherheit istmenschliches Fehlverhalten immer noch Ursache Num-mer eins für die Katastrophen. Ich glaube schon, es istrichtig, dass man eine Bildungs- und Ausbildungsoffen-sive startet, damit besonders bei dem Faktor Mensch an-gesetzt werden kann.Abschließend möchte ich sagen, dass die Experten-kommission auch von uns allen Dank verdient. Aber esbleibt die Kardinalfrage – der Verkehrsminister ist ihrWolfgang Börnsen
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ausgewichen –: Kommen wir im Hinblick auf die jetzi-gen Vorschläge ohne eine Verfassungsänderung aus?Kann man die Maßnahmen ohne eine Verfas-sungsänderung umsetzen? Das ist eben nicht möglich.Wir haben zehn Jahre lang bezüglich dieser Frage mitden Ländern im Streit gelegen. Nach meiner Auffassungerreichen wir erst dann eine einheitliche, vernünftigeund vertretbare nationale Küstenwache – wie sie auchvon unserer Fraktion in Kiel inzwischen gefordert wird –, wenn wir zu einer Verfassungsänderung kom-men. Sie gibt Klarheit, Ausblick und eine europäischeDimension, die wir brauchen.Herzlichen Dank.
Alsnächster Rednerin erteile ich der Kollegin Gila Altmannvom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Börnsen, eens is seker: Wat wi hier vertellen, datmok wi ok – anners als ji 16 Johr lang. Trotz des Wahlkampfes muss man sich über einigePunkte doch wundern. Zum ersten Punkt. Man musssich zunächst über das wundern, was uns Herr Koppelingerade verkauft hat. Ich möchte hinsichtlich des Zeitab-laufes der Wahrheit etwas nachhelfen. Am 25. Oktobergerät die „Pallas“ vor der dänischen Küste in Brand. Am26. Oktober treibt sie führerlos in deutsche Hoheits-gewässer.
Erst am 27. Oktober wird die „Oceanic“ nach Scheiterndes Abschleppversuches durch die Mehrzweckschiffeangefordert. Die „Oceanic“ kann aber wegen zu großenTiefganges nicht mehr eingreifen, weil die „Pallas“schon zu weit in Richtung auf die Küste getrieben ist.
Herr Koppelin, am 27. Oktober ist aber noch etwaspassiert. Erst an diesem Tag hat der Regierungswechselstattgefunden. Das heißt, wenn die damalige Regierungund unsere jetzige „fitte“ Opposition hätte handeln wol-len, dann hätte sie es am 25. und 26. Oktober noch tunkönnen. Das ist der erste Punkt.
Zum zweiten Punkt. Die „Oceanic“ ist erst mit 17 Stunden Verspätung eingesetzt worden, weil derzentrale Meldekopf – das ist eine Bundesbehörde – erstverspätet reagiert hat. Die Gründe waren, wie wir inzwi-schen wissen, Kompetenzgerangel und auch Eifersüch-teleien. Aber auch wenn es Ihnen nicht passt und Sie esnicht mehr hören können: Es sind Ihre Altlasten.
– Von wegen Steenblock. – Es sind Ihre Versäumnisse,die wir jetzt aus dem Weg räumen müssen.
Bis zum Regierungswechsel haben CDU/CSU undF.D.P. gemeinsam auf die Sturmgewalten, die die Frach-ter und Tanker vor der deutschen Nordseeküste in Ge-fahr brachten, weitgehend mit geistiger Windstille rea-giert, nach dem Motto „Lieber nie als gar nicht“. Inso-fern wollte ich Sie eigentlich heute zu der späten Ein-sicht beglückwünschen, dass das Konzept der altenBundesregierung nicht ausreicht und dass es dringendnachgebessert werden muss. Aber Ihr Reden ist ein zudurchsichtiges Manöver und enthält zu viel Wahl-kampfgetöse auf Kosten der Umwelt.
Jetzt komme ich zur Sache.
Sie koffern gegen Steenblock, dass es nur so kracht. Ichfrage Sie aber: Auf welcher Grundlage? Auf welchekonkrete Eingriffsermächtigung und auf welches Aus-wahlermessen beziehen Sie sich? Aber einmal ange-nommen, es würde stimmen: Was hätte Steenblock danntun können? Welche Einsatzmittel hatte er denn zur Ver-fügung? In dieser Frage möchte ich mit Herrn Börnsenund mit Herrn Koppelin auf der Grundlage der Ergeb-nisse des Untersuchungsausschusses in Schleswig-Holstein einmal zehn kleine Jägermeister spielen.79 Schlepper waren in der Deutschen Bucht. Davonkamen Schiffe mit weniger als 34 Tonnen Pfahlzugnicht in Frage, das heißt 48 schieden aus. Von denverbleibenden Schleppern hätten 14 eine zu lange Anrei-se gehabt. Bleiben 17. Von den 17 Schleppern wärensieben nicht einsetzbar gewesen, weil sie ab Windstär-ke 7 nur noch bedingt schleppen können. Wir hatten aber Orkan, also Windstärke 9 bis 11.
– Nein, das steht im Untersuchungsbericht des Lan-destages von Schleswig-Holstein. – Bleiben also nochzehn Schiffe. Davon gehören zwei der Bundesmarine,über die Schleswig-Holstein nicht verfügen kann.
Fünf sind Hafenschlepper, das heißt für Häfen und nichtfür die hohe See. Verbleiben drei, nämlich die Mehr-zweckschiffe „Mellum“ und „Neuwerk“ und der Sicher-heitsschlepper „Oceanic“, die auch, vom Bund geordert,am Einsatzort waren. Wolfgang Börnsen
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FrauKollegin Altmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage desKollegen Koppelin?Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Nein, nicht von Herr Koppelin. Ich finde, er hatheute schon genug dummes Zeug reden können.
Was also hätte Herr Steenblock tun können? Sich anden Strand stellen und rufen, die „Pallas“ solle nicht nä-her kommen? Das wäre es doch gewesen!Herr Austermann, Sie singen hier die Arie vom Res-pekt gegenüber den Leuten. Sie tun aber Folgendes: Siediskreditieren all jene, die bei der Havarie der „Pallas“ihr Leben und ihre Knochen riskiert haben.
Sie stempeln sie als faul und unfähig ab.
Aber im Wahlkampf ist Ihnen ja jedes Mittel recht.Folgendes möchte ich noch sagen: Wenn Sie vonHerrn Steenblock so etwas wie eine Django-Manier er-warten, dann heißt das ja, dass Sie eine Art Noteintritts-recht im Zusammenhang mit Art. 31 GG fordern. DiesesRecht hätte er aber nur wahrnehmen können, wenn dieBundesbehörden völlig untätig und völlig unfähig gewe-sen wären.
Dort haben jedoch Beamte 16 Jahre lang loyal das ge-macht, was ihnen letztendlich von der alten Bundesre-gierung auferlegt worden ist.
Diese Leute diskreditieren Sie ebenfalls. Ich muss sagen,Sie leisten hier wirklich ganze Arbeit.
Aber nach vorne gucken ist angesagt, und zwar sach-orientiert. Eine entscheidende Schwäche war das Kom-petenzgerangel. Deshalb wollen wir eine Bündelungder Entscheidungsstrukturen, das heißt, wir wollendie verschiedenen Ebenen zu einem Gesamtkonzept zu-sammenschließen. Was wir nicht wollen, ist ein weiteresAufblähen der bestehenden Strukturen zu einem büro-kratischen Wasserkopf. Erst recht nicht wollen wir dieverschiedenen Versuche der CDU – die Herr Austermann heute auch wieder unternommen hat –, überden Schutz der Küsten andere ordnungsrechtliche odersonstige Ziele zu verfolgen. Die Große Anfrage der CDU/CSU zum Thema Küs-tenschutz hat hierüber sehr viel Aufschluss gegeben. Siebesteht ungefähr zur Hälfte aus Fragen, die sich auf an-dere Themen beziehen, wie Kriminalitätsbekämpfung,Drogen, die Umsetzung des Schengener Abkommens,also das Verfolgen von Flüchtlingen. Auch die CDU inMecklenburg-Vorpommern hat sich ja dazu geäußert.Sie verfolgt in Anlehnung an die Aufgaben der US Coast Guard, bei der übrigens der Umweltschutz nur einPunkt von vielen ist, sogar eine Änderung des Grundge-setzes, um Hoheitsrechte umzuverteilen. Das heißt, Siewollen den Küstenschutz als Vehikel benutzen, um denLaw-and-Order-Staat durch die Hintertür zu installieren.Genau das machen wir nicht mit. Einziger Maßstab, wenn es darum geht, Entschei-dungs- und Verantwortungsstrukturen zu effektivieren,kann der größtmögliche Schutz des Wattenmeeres, derKüste und der Inseln sein.
Hierfür hat die neue Bundesregierung bereits eine ganzeMenge getan, und sie wird noch viel mehr tun. Das isthier schon ausgeführt worden. Deshalb erspare ich mirweitere Ausführungen dazu. Man muss aber sehen, dassPrävention das beste und erfolgreichste Mittel ist. Wennder Unfall erst passiert ist, ist alles zu spät. Das hat unsder Unfall des Tankers „Erika“ vor der bretonischenKüste drastisch vor Augen geführt. Dabei sind über 300 000 Vögel elendig verreckt, und der Albtraum istnoch längst nicht zu Ende. Diese Katastrophe hat aber auch die technischen Gren-zen der Ölbekämpfung aufgezeigt. Es waren zehn Öl-bekämpfungsschiffe aus ganz Europa vor Ort. Sie habenaber zusammen nur einen Bruchteil der ausgelaufenenLadung, nämlich gerade einmal 400 der insgesamt10 000 bis 12 000 Tonnen Schweröl aufnehmen können.Immerhin ein Viertel davon, nämlich 100 Tonnen, hatdie „Neuwerk“ geleistet. Aber insgesamt war es nur einTropfen auf dem heißen Stein. Die Erfahrungen mit „Lucky Fortune“ und „RubyXL“ haben auf der anderen Seite deutlich gemacht, dassVorsorge auch in der akuten Notsituation möglich ist.Sie erinnern sich: Im Dezember trieb die „Lucky Fortu-ne“ bei Orkan mit Maschinenschaden und mit 1 200Tonnen Schweröl im Bauch auf Sylt zu. Mit dem recht-zeitigen und beherzten Einsatz des Sicherheitsschleppers„Oceanic“ ist es gelungen, die „Lucky Fortune“ zwölfMeilen vor der Küste vor einer Strandung zu bewahren.Der Havarist wurde später mit Unterstützung des Mehr-zweckschiffes „Mellum“ in einen sicheren Hafen ge-bracht. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir mindes-tens einen Sicherheitsschlepper mit mindestens 165
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Tonnen Pfahlzug in der Deutschen Bucht weiterhin sta-tionieren. Meine Damen und Herren, Verkehrsminister Klimmthat schon angesprochen, dass es keine absolute Sicher-heit gibt. Es bleibt immer ein Restrisiko. Wir könnenSchäden an Bord nicht verhindern, aber wir können daskalkulierbare Risiko minimieren. Alles andere wärefahrlässig. Gestern Abend haben wir den Bericht der unabhängi-gen Expertenkommission erhalten. Die Ergebnisse desBerichtes müssen jetzt Punkt für Punkt bewertet und wonötig auch kritisch hinterfragt werden. Die Koalitionund die Bundesregierung arbeiten mit Hochdruck an ei-nem Sicherheitskonzept, das diesen Namen verdient –was Sie in 16 Jahren nicht geschafft haben –, das bei derVerkehrslenkung beginnt und beim Unfallmanagementnoch lange nicht endet. Ich danke Ihnen.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulrike Flach von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Das Unglück des Holzfrachters „Pallas“war keine ökologische Katastrophe, liebe Frau Altmann,es war eine organisatorische Katastrophe für die rot-grünen Regierungen in Schleswig-Holstein und Berlin.
Durch die Unfähigkeit, eine schnelle Koordinationder zuständigen Behörden zu gewährleisten, ist derSchaden wesentlich größer geworden, als es bei einerfunktionierenden Krisenbewältigung der Fall gewesenwäre. Da hilft es auch nicht, das durch das Aufzählenvon Schlepperkapazitäten zu beschönigen, Frau Alt-mann. Frau Simonis hat Ihretwegen bzw. wegen HerrnSteenblock eine Regierungskrise, eine Koalitionskrise,ausgerufen. Ich glaube, das spricht für sich.
Wir alle wissen – ich habe heute einen friedlichenTag –, dass Unfälle in der Schifffahrt nicht hundertpro-zentig zu vermeiden sind. Die Zusammenarbeit vonBundes- und Landesbehörden und privaten Rettungsor-ganisationen ist dringend verbesserungsbedürftig. Dashat der Unfall eindeutig bewiesen, und das hat das See-amt Kiel noch vor der dankenswerten Arbeit der Kom-mission schon am 21. August 1999 eindeutig bestätigt. Bereits im Frühjahr 1999 haben wir alle Anträge zurVerbesserung des Küstenschutzes vorgelegt. Sie ha-ben immer darauf verwiesen, man müsse erst den Be-richt der unabhängigen Sachverständigenkommissionabwarten. Wir haben auf eine sehr schnelle Vorlage ge-drängt. Es ging dabei nicht darum, die Arbeit von Sena-tor Grobecker und seiner Kommission unter Druck zusetzen. Die Regierung selbst hat mehrfach eine Vorlage des Be-richtes angekündigt und das dann nicht eingehalten. Wirhaben Sie zum Schluss sogar mit einem Antrag auffor-dern müssen, den Bericht unverzüglich vorzulegen. Ichfrage mich zu Recht, Herr Koppelin: Warum dieseLangsamkeit? Es geht schließlich um den Schutz voneinmaligen Naturräumen, seltenen Vogelarten und nichtzuletzt um den Schutz von Menschenleben.
Ich habe den Eindruck, bei der Langsamkeit geht esauch um den Schutz von Herrn Steenblock. Dass eine bessere Koordination dringend notwendigist, beweist folgender Vorfall unter Ihrer Ägide: Am5. November 1999 brach auf dem norwegischen Frach-ter „MS Mercator“ ein Feuer aus. Auf ihrem Weg vonHamburg nach Berlin wollte die „Mercator“ deshalbBrunsbüttel als Nothafen anlaufen. Die schleswig-holsteinischen Behörden lehnten es jedoch ab, einenLiegeplatz zur Verfügung zu stellen. Die FeuerwehrBrunsbüttel, die zur Brandbekämpfung bereits an Bordgegangen war, musste unverrichteter Dinge wieder ab-ziehen.
Unter dem Geleit des Schleppers „Mellum“ musste diebrennende „Mercator“ in den Hamburger Hafen einlau-fen, wo sie von der Hamburger Feuerwehr gelöschtwurde.
Das ist ein Skandal, der gefährliche Folgen hätte ha-ben können. Es kann nicht sein, dass brennende Schiffeaufgrund bürokratischer Borniertheit über unsere Meerefahren müssen.
Gestern Abend hat die unabhängige Expertenkom-mission ihren Abschlussbericht vorgelegt. Ich möchtemich bei dieser Gelegenheit bei Senator Grobecker undseinem Team herzlich für die geleistete Arbeit bedan-ken.Ich stelle fest, dass die 30 Empfehlungen des Berich-tes eine sehr hohe Übereinstimmung mit den von derF.D.P. geforderten Maßnahmen aufweisen, die wir imletzten Jahr in unserem Antrag vorgeschlagen haben. Daist die Kernforderung nach Zusammenführung der mitAufsichtsaufgaben betrauten, auf See tätigen Dienste desBundes zu einer Einheit mit gemeinsamer Flotte undgemeinsamem Kommando. Wir haben dies „Küstenwa-che“ genannt, die Kommission nennt es „Seewache“.Das ist wohl treffender, weil es schließlich nicht nur umden Schutz von Küstengewässern geht. Ein gemeinsa-mes Havariekommando soll den zentralen Meldekopf,Meldestelle, Einsatzleitgruppe, Sonderstellen von BundGila Altmann
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und Ländern ersetzen und autonom entscheiden, in wel-chen Fällen es das Kommando mit Durchgriffsrecht aufalle erforderlichen Einsatzkräfte übernimmt. Auch diesfinden Sie in unserem Antrag.Ganz wichtig ist auch eine verbesserte Öffentlich-keitsarbeit, wie sie in Empfehlung 13 vorgeschlagenwird. Ein Mitarbeiter des Havariekommandos soll zent-ral als Ansprechpartner für Medien und Öffentlichkeitdienen. Ich weise nur darauf hin, dass die F.D.P. auchdies gefordert hat.Beide Papiere enthalten die Forderung nach verbes-serter Zusammenarbeit mit den Niederlanden und Dä-nemark sowie nach Modernisierung der Ausrüstung derSchlepper. Im Bericht der Kommission finden Sie au-ßerdem – das ist für uns Umweltpolitiker sehr begrü-ßenswert – den Vorschlag zur Weiterentwicklung vonÖlbekämpfungsmitteln mit möglichst geringen Um-weltschäden.Von der rechtlichen Seite empfehlen F.D.P.-Antragund Kommissionspapier die schnelle Ratifizierung desinternationalen Bergungsabkommens, des internationa-len Abkommens über die Beschränkung für Seeforde-rungen sowie die Weiterentwicklung der IMO-Richt-linien für ein Haftungsübereinkommen für austretendesBunkeröl.Ganz wichtig ist aus unserer Sicht, meine lieben Kol-legen von der SPD, dass die Kommission ausdrücklichkeine Notwendigkeit für eine generelle Ausweitung derSchutzzonen und eine generelle Verlegung von Ver-kehrstrennungsgebieten sieht, sondern ein System derflexiblen Wegeführung bevorzugt. Das widersprichteindeutig dem überzogenen Vorschlag von SPD undGrünen nach einer Ausweisung des Wattenmeeres alsParticular Sensitive Sea Area mit Durchfahrverboten fürSub-Standard-Schiffe.
Wir fordern, dass das Machbare schnell umgesetztwird, damit ein verbesserter Umweltschutz gewährleistetwerden kann. Auch die Kommission kommt zu der Er-kenntnis – da stimme ich Herrn Klimmt zu –, dass fürdie Umsetzung der Maßnahmen keine Grundgesetzände-rung nötig ist und die Kosten für die Umsetzung allerEmpfehlungen mit rund 130 Millionen DM erträglichsind, wenn man bedenkt, dass allein die Kosten für den„Pallas“-Unfall bei rund 25 Millionen DM liegen, vondenen nur 3,5 Millionen DM über Versicherungen ge-deckt sind.Aufgrund der sehr hohen Übereinstimmung zwischendem F.D.P.-Antrag und dem Kommissionsbericht sindwir der Ansicht, mit der Unterstützung unseres Antrageskönnte der Bundestag nach dem langen Warten nunschnelle Handlungskompetenz beweisen. Wir bitten umIhre Unterstützung.
Als
nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Kersten Nau-
mann von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Ich möchte trotz der Wichtigkeitdes Küstenschutzes und sicher auch des Wahlkampfeszu einem weiteren Schwerpunkt dieses Tagesordnungs-punktes sprechen, nämlich der Agrarpolitik. Denn dieGemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstrukturund des Küstenschutzes“ ist eines der wichtigsten In-strumente der Bundesregierung zur Durchsetzung derAgrarpolitik.
Sie ist aber auch das Ergebnis einer starken Einfluss-nahme der Bäuerinnen und Bauern auf die Regierungs-politik, die wir für dringend notwendig erachten. Sieenthält deshalb viele Maßnahmen, die auch von der PDSnachdrücklich unterstützt werden.Aus der Sicht der PDS und der Landwirte sind aller-dings noch einige Schwachstellen zu kritisieren und zubeseitigen, die ich hier benennen möchte.Erstens. Auch die Regierung von BundeskanzlerSchröder setzt den unter Kanzler Kohl eingeleiteten ri-gorosen Sparkurs fort. Standen 1993 noch 2,6 Milliar-den DM für die Gemeinschaftsaufgabe zur Verfügung,so sind es im Haushaltsjahr 2000 nur noch1,7 Milliarden DM. Das entspricht einer Kürzung umüber 35 Prozent. Eine Aufstockung der Mittel ist nichtzu erwarten, wie uns Minister Funke gestern im Aus-schuss vermittelte.Gemessen an der Dynamik des Strukturwandels inder Landwirtschaft und den sich daraus ergebenden An-forderungen an eine gestaltende Agrarpolitik ist dieseMittelkürzung Ausdruck einer verantwortungslosen Po-litik. Sie wird leider durch viele andere agrarpolitischeMaßnahmen der Bundesregierung noch verstärkt. Ich er-innere in diesem Zusammenhang nur an die Haushalts-kürzungen bei der landwirtschaftlichen Sozialpolitik unddie Auswirkungen der Steuerpolitik auf die Landwirt-schaft. Das bestärkt den Eindruck, dass die Agrarpolitikmehr und mehr zu einem Restposten verkommt.Ein zweiter Schwachpunkt der Gemeinschaftsaufgabeist die Verteilung der Mittel auf die verschiedenen Maß-nahmen. Darunter wird die „Förderung der agrarstruktu-rellen Entwicklungsplanung“ genannt. Unter diesenGrundsätzen ist das Ziel formuliert: „Erarbeitung ge-bietsspezifischer Leitbilder zur Landentwicklung sowievon Vorschlägen sachlicher und/oder räumlicher Ent-wicklungsschwerpunkte.“ Und weiter: „Mitwirkung derÖffentlichkeit an der agrarstrukturellen Entwicklungs-planung“.Welche Bedeutung dieser Maßnahme beigemessenwird, lässt sich daran erkennen, dass lediglich 0,3 Pro-zent der Gesamtmittel dafür zur Verfügung stehen. Voneiner Mitwirkung der Öffentlichkeit kann unter diesenBedingungen überhaupt nicht die Rede sein. Es ist des-halb kein Wunder, wenn es lautstarke Proteste gegen dieEinrichtung neuer Naturschutz- oder FFH-Gebiete gibt. Die Vernachlässigung dieser Planungsaufgabe istauch ein wesentlicher Grund dafür, dass es erheblicheRückstände bei der Vorlage der Länderprogrammezur ländlichen Entwicklung gibt. Sie sind aber dieUlrike Flach
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8032 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Voraussetzung dafür, dass von der EU die Mittel für dieFörderung der ländlichen Entwicklung bereitgestelltwerden.Wir halten die Aufstockung der Mittel für die agrar-strukturelle Entwicklungsplanung und eine tatsächlicheBeteiligung der Öffentlichkeit an dieser Planung fürdringend erforderlich. Mehr noch: Die im Ergebnis die-ser Planung getroffenen Entscheidungen müssen zu Kri-terien für die Investitionsförderung der landwirtschaftli-chen Betriebe werden. Wir erwarten, dass die Regierungihre Grundsätze ernst nimmt und tatsächlich, wie es inder Unterrichtung der Bundesregierung heißt, „die För-dermaßnahmen so aufeinander abstimmt, dass auch zu-künftig eine integrierte Förderpolitik in allen Regionenermöglicht“ wird.Damit komme ich zu einem dritten Problem der Ge-meinschaftsaufgabe: Der größte Anteil der Mittel ausder Gemeinschaftsaufgabe wird für die einzelbetrieb-liche Investitionsförderung eingesetzt. Das entsprichtdem Grundsatz der Regierungspolitik „Stärkung derWettbewerbsfähigkeit der land- und forstwirtschaftli-chen Betriebe“. Mit diesem Grundsatz befördert dieBundesregierung aber nachdrücklich den Verdrän-gungswettbewerb und das Höfesterben; denn förderfähigsollen nach ihren eigenen Aussagen vor allem „Rationa-lisierung und Kostensenkung“ sein. Damit, meine Da-men und Herren, ist die Arbeitsplatzvernichtung vor-programmiert. Zwar lässt die Agrarinvestitionsförderungauch die „Förderung von Betriebszusammenschlüssen“,also der Agrarkooperation, zu. Doch dieses Thema spieltfür die Bundesregierung nur in Sonntagsreden eine Rol-le.Wir halten es für dringend erforderlich, den Erfah-rungen der neuen Bundesländer zu folgen, die trotz gro-ßer Betriebseinheiten die „Prioritäten zugunsten überbe-trieblicher Maßnahmen ... verschieben“, wie es in derUnterrichtung der Bundesregierung heißt. Ziel der Ge-meinschaftsaufgabe muss es sein, das betriebliche Inte-resse an der Steigerung der Effektivität mit der Schaf-fung von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum zu verbin-den.
Das erfordert Förderung der Kooperation zur Anglei-chung der Arbeits- und Lebensbedingungen in Stadt undLand.Ich komme zu einem letzten Problem: Der von derBundesregierung durchgesetzte Sparzwang hat dazu ge-führt, dass in einer Reihe von Bundesländern bei denSchwächsten gespart wird, nämlich bei den Betrieben inden benachteiligten Gebieten. Ihnen wurde kurzerhanddie Ausgleichszulage gekürzt.Meine Damen und Herren, die PDS hält eine flächen-deckende Landwirtschaft für unverzichtbar und fordertdeshalb, die natürlichen Ertragsunterschiede durch an-gemessene Ausgleichszulagen abzufangen. Außerdemerneuern wir unsere Forderung, eine Steuer- und Haus-haltspolitik zu betreiben, die die Handlungsfähigkeit desBundes und der Länder erhöht und nicht schmälert.Danke schön.
Als
nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Peter
Carstensen von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Ik glöv, dat is vielleicht ganz goot, um dat ook mol opPlattdüütsch zu seggen, dat eener vun de Küst, der so-goor op een Insel wohnen deit, mit beiden Küsten-schutzmaßnahmen een beten wat to doon hett undbedropen is, eniges dorto seggt.Leev Kollege Müller, man wunnert sik ja manchmol.Man wunnert sik, wie so’n jungen Kerl wie Sie so gootvergeten kann. Ik kööm dor glieks nochmol dorop.
– Ja, aber man kann nicht nur mit Vergessen Zukunftmachen, sondern man muss dabei auch etwas tun. Dasaber vergessen Sie offensichtlich auch.
Meine Damen und Herren, die „Pallas“ fing am25. Oktober 1998 an zu brennen, und bis heute, 16 Mo-nate später, hat man den Eindruck, es habe sich nichtviel geändert.
– Reden Sie einmal mit den Leuten auf den Inseln! DieWut ist ihnen noch immer ins Gesicht geschrieben, Wutdarüber, dass noch immer über Küstenwache und dau-erhafte Schlepperkapazitäten diskutiert wird, Wutdarüber, dass man sich noch immer allein gelassen fühlt,Wut darüber, dass noch immer nicht entschieden wird,Wut darüber, dass es offenbar auch wenig Interesse da-für gibt.
Ich habe einen Artikel gelesen, in dem es heißt: „Das Thema ist so tot wie der Friedhof von Chica-go“, erklärt Helmut Plüschau seine „Pallas“-Pause. Im Hamburger Umland interessiere dasniemanden mehr ... Das ärgert die Leute; denn sie haben das Gefühl, siewerden nicht ernst genommen.
Die Menschen ärgern sich auch darüber, wenn derInnenminister auf einer Wahlkampfveranstaltung inSchleswig-Holstein – dass er dort ist, ist ja in Ordnung –sagt: Berlin will alle Vorschläge genau prüfen. Er hatgesagt, es gebe gewisse Probleme und für die Aufga-benwahrnehmung seien verfassungsrechtliche, rechtli-Kersten Naumann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8033
che und finanzielle Fragen zu prüfen. Prüfen, prüfen,prüfen – bloß nicht entscheiden!
Auch ich vergesse manchmal etwas nach anderthalbJahren. Da ich aber im Hinterkopf noch etwas in Erinne-rung hatte, habe ich nachgesehen, wie die Situation da-mals war. Ich will sie Ihnen noch einmal vor Augen füh-ren.
– Ja, das ist die ganze Wahrheit. – Ich habe damals mitden Amtsvorstehern, mit den Leuten auf Amrum ge-sprochen. Sie haben mir gesagt – das ist wörtlich ausmeiner Rede am 18. November 1998 im Bundestag –: Es gab keine Ansprechpartner. Informationen, dieanfangs aus Cuxhaven kamen, wurden abgeschnit-ten mit dem Hinweis, jetzt sei das Umweltministe-rium in Kiel zuständig. Per dortigen Verteiler gin-gen die Informationen an zwei offizielle Stellenund neun Umweltverbände, nicht aber zum Beispielan die Wasserschutzpolizei. Das alles ist erst spätererfolgt.
Dazu passt, dass auf Hilfsangebote vor Ort nichtreagiert wurde. Sie wurden geradezu verhindert, so zum Beispiel dasAngebot der örtlichen Feuerwehren zu helfen. Erst am11. November um 8 Uhr – die „Pallas“ brannte seit dem25. Oktober, am 29. Oktober ist sie auf Grund gelaufen– wurde die Arbeitsbereitschaft des innenministeriellenLeitungsstabes der Landesregierung hergestellt.Und da wundern Sie sich, dass diese Katastrophe un-trennbar mit dem Namen Steenblock verbunden ist?Nennen Sie einmal an der Westküste den Namen Steen-block und fragen Sie die Leute, was ihnen dazu einfällt!Sie werden „Pallas“ sagen.
Fragen Sie die Leute an der Westküste: Was fällt dirzum Namen „Pallas“ ein? Sie werden sagen: Steenblock.Diese beiden Namen sind miteinander verbunden.
Ich darf daran erinnern, wie es damals war. HeideSimonis war es – nicht wir waren es –, die nach zweiWochen ihren Umweltminister anfauchte: „Rainder,schlaf endlich einmal aus, und dann pack deine Aktenund sieh zu, dass du nach Amrum kommst!“ Steenblockist dann am Abend des 10. November mit der Fähre um18.30 Uhr nach Amrum gefahren, hat sich dort in derDunkelheit informiert und ist noch vor Tagesanbruch am11. November um 6.15 Uhr wieder abgefahren. Das wardie Informationsbeschaffung des Herrn Steenblock, ei-nes Ministers, der dafür zuständig war, dort etwas zutun.
Meine Damen und Herren, die Leute haben das Ge-fühl, dass sie allein gelassen werden, dass immer nochnicht gehandelt wird. Ich glaube, es ist notwendig, hierzu handeln. Wir brauchen ein Zeichen, dass die Bundes-regierung etwas tun will. Wir brauchen endlich einezentrale, schlagkräftige Küstenwache und eine dauerhaf-te Schlepperkapazität für die Notfälle in der DeutschenBucht.Ich sage ein bisschen kritisch – ich habe den Berichtauch nur überfliegen können –: Da helfen die Vorschläge der Grobecker-Kommissionnicht, wo geschrieben steht, dass der Bedarf mit kleine-ren seegängigen Schleppern abgedeckt bzw. sogar Ka-pazität auf dem Londoner Schleppermarkt über Maklergebunden werden soll. Will man bei der nächsten Ka-tastrophe erst eine Ausschreibung machen oder wie hatman das vor? Wir brauchen keine Schiffe, die zur Notauch schleppen können. Wir brauchen Schiffe, die in derNot schleppen können. In dieser Richtung müssen wiretwas machen.
So sind auch die Resolutionen der Kreistage von Dith-marschen und Nordfriesland zu verstehen, die eine dau-erhafte Stationierung der „Oceanic“ oder eines ver-gleichbaren Schiffes fordern. Herr Minister Klimmt, ichglaube, diese Resolutionen sind Ihnen in den letzten Ta-gen zugegangen. Außerdem glaube ich – das ist allerdings meine per-sönliche Meinung –, es reicht nicht aus, den Vertrag mitder „Oceanic“ immer wieder nur für kurze Zeit zu ver-längern. Die „Oceanic“ ist alt; und auch dieses Schiffwird nicht jünger und kommt an seine Grenzen. Deswe-gen bitte ich ganz herzlich darum, einmal zu überprüfen,ob es nicht notwendig ist, ein eigenes Schiff – eventuellmit den Dänen oder den Holländern zusammen – aufKiel zu legen, das durchaus auch andere Aufgaben über-nehmen kann, aber in der Not eben auch wirklichschleppen kann.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sicherheitmuss dauerhaft gewährleistet werden. Das gilt auch fürden klassischen Küstenschutz. Damit meine ich denSchutz der Leute, die hinter den Deichen wohnen. Of-fensichtlich ist für sie Hilfe in Sicht. Es sind nicht nurdie Küstenländer, die sich um Küstenschutz bemühen,sondern wohl auch andere Länder. Ich meine Minister-kollegen von Ihnen, Herr Minister, die Sie sehr gut ken-nen und die – auch aus Nordrhein-Westfalen – vor kur-zem wohl vor Ort gewesen sind und sich über die Prob-leme des Küstenschutzes informiert haben.Ich habe einen Artikel vorliegen, der mit „GeheimeDeichschau oder Jux-Tour?“ überschrieben ist. Die Mi-nister Heinemann, Schleußer, Schwier und der leiderverstorbene Matthiesen sind auf Sylt gewesen und habensich dort nach dem Küstenschutz erkundigt. Peter H. Carstensen
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8034 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Vor dem Untersuchungsausschuss in Düsseldorf wurde– so der Zeitungsbericht – gesagt, sie hätten bei ihrem Abflug mit Gummistiefeln und Angel-route bewaffnet den Eindruck vermittelt, auf demWeg zur privaten Angeltour zu sein ...
Weder Westerlands damaliger Bürgermeister undVorsitzender des Landschaftszweckverbands, Vol-ker Hoppe, noch Amtsvorsteher Claus Andersenwaren informiert. „Das ist schon ´ne komischeNummer.
Da will mein Freund Hans Wiesen auf Sylt jeman-dem die Sandvorspülung zeigen und ruft mich nichtan? Das hat´s nicht gegeben. Wenn das man nichtdoch ´ne Juxtour war.“Herr Minister, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie unseinmal sagen würden, wie das Ergebnis dieser Informie-rung über den Küstenschutz lautet und ob wir jetzt denRückhalt der nordrhein-westfälischen Landeregierunghaben, wenn es bei der Gemeinschaftsaufgabe darumgeht, mehr für den Küstenschutz zu machen.
Küstenschutz wird zu 70 Prozent vom Bund und zu30 Prozent von den Ländern finanziert. Ich habe mit In-teresse festgestellt, dass Sie, Herr Kollege Opel, gleichnoch reden werden. Ich kenne die ganzen Äußerungen,die Sie gemacht haben. Wahrscheinlich werden Sie sa-gen, der Bund müsse mehr für den Küstenschutz tun.
Der Bund müsse – richtig, nationale Aufgabe! – mehr indie Finanzierung des Küstenschutzes eingebunden wer-den. Es gehe um eine Übernahme des Küstenschutzes zu100 Prozent durch den Bund. Das und nicht das, was wirim Moment in Schleswig-Holstein erleben, wäre derrichtige Weg.
Herr
Kollege Carstensen, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hendricks?
Aber sicher.
Frau
Hendricks, bitte schön.
Herr Kollege Cars-
tensen, ich kann ja verstehen, dass Sie vor dem Hinter-
grund, dass Sie im November noch sicher waren, dem-
nächst Landwirtschaftsminister in Schleswig-Holstein
zu werden,
nunmehr ein bisschen Amok laufen.
Sind Sie trotzdem bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
die Aussage, die Sie vor dem deutschen Parlament wie-
derholen, von einer zwielichtigen Zeugin im Untersu-
chungsausschuss des Düsseldorfer Landtages stammt,
deren Aussage vom „Spiegel“ gekauft und im Untersu-
chungsausschuss von ihrem eigenen früheren Mitarbei-
ter widerlegt worden ist, der ausdrücklich gesagt hat, es
habe eine solche Reise nicht gegeben?
Sind Sie im Übrigen bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass der ehemalige Minister Heinemann in der vergan-
genen Woche ausgesagt hat, es habe die Reise genau so
gegeben, wie sie beschrieben worden ist, es sei aber
selbstverständlich niemand mit Gummistiefeln gereist,
denn alle Beteiligten seien aus Sitzungen heraus dorthin
gekommen und hätten deswegen normale Kleidung ge-
tragen?
Sind Sie vor diesem Hintergrund vor allen Dingen be-
reit, dieses Hohe Haus nicht in der schäbigen Weise, in
der Sie es jetzt getan haben, für Ihren doch schon verlo-
ren gegangenen Wahlkampf zu benutzen?
Frau Kollegin, erst einmal ist dieser Wahlkampf nichtverloren. Ich gehe davon aus, dass wir diese Wahl ge-winnen.
– Kollege Müller, Sie sollten lieber erst einmal dafürsorgen, dass Sie in Schleswig-Holstein 5 Prozent be-kommen.
Peter H. Carstensen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8035
Die Grünen sind bei den Kreistagen in Dithmarschenund in Nordfriesland schon in hohem Bogen herausge-flogen, auch wegen „Pallas“ und vieler anderer Dinge.
Dass die Grünen in diesen beiden Kreistagen nicht ver-treten sind, hat sich in der letzten Zeit überaus bewährt –um auch das nur einmal kurz zu sagen.
Ich darf Ihnen, Frau Kollegin, aus diesem Artikel zi-tieren, der noch weiter geht: Das Landwirtschaftsminis-terium bestätigte gestern, dass die Herren dort auf einerTour gewesen sind.
– Gerade haben Sie gesagt, das sei nicht der Fall gewe-sen.
– Sie haben doch gesagt, das sei nicht der Fall und ichsolle es zurücknehmen. Es ist bestätigt worden – ich ha-be auch Volker Hoppe zitiert, der sich ebenfalls darübergewundert hat –, dass vier hochrangige Leute aus Nord-rhein-Westfalen nach Sylt angeflogen kommen, dort he-rumlaufen und sich auch informieren.
– Das kann ich einmal nachsehen: 14. und 16. Juni 1990.
– Entschuldigen Sie bitte, lieber Herr Opel, Sie müssendie Tagesordnung lesen und zur Kenntnis nehmen, dasswir auch über Küstenschutz und über die Gemein-schaftsaufgabe reden. Sie werden doch wohl noch wis-sen, dass das etwas mit Küstenschutz zu tun hat.Jetzt wollen wir das noch einmal für Sie aufdröseln.
Herr
Kollege Carstensen, befinden Sie sich noch in der Be-
antwortung der Frage von Frau Hendricks?
Ich
befinde mich noch in der Beantwortung. Das dauert
noch lange.
Dann
würde ich die Frau Kollegin Hendricks bitten, stehen zu
bleiben.
Das waren vier Fragen.
Es gibt
den Wunsch nach einer weiteren Frage. Wenn Sie mit
der Beantwortung dieser Frage zu Ende sind, dann
möchte ich Sie bitten, eine weitere Frage zu genehmi-
gen.
Ich
stelle noch einmal fest: Es hat dort eine Reise von vier
Ministern gegeben. Es ist völlig gleichgültig, wann das
gewesen ist. Hier geht es um den Küstenschutz, nicht
um die „Pallas“.
Es gab diese Reise dorthin. Es hat nicht eine Presse-
mitteilung darüber gegeben. Es hat darüber anschließend
keine Diskussion gegeben, weder in Nordrhein-
Westfalen noch bei uns.
Auch gab es keinen schriftlichen Bericht. Ich fordere in
diesem Zusammenhang den Minister auf, der hier für die
Gemeinschaftsaufgabe zuständig ist, in seinem Hause
einmal nachzuforschen, ob diese Informationsreise mit
vier hochrangigen Ministern, die sich den Küstenschutz
und die Sandvorspülung auf Sylt ansehen wollten, etwas
bei der Bewilligung, der Ausgabe und der Diskussion
über den Küstenschutz in Nordfriesland, an der West-
küste und wo auch immer bewirkt hat.
Herr
Kollege Carstensen, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Koppelin?
Aber gerne.
Bitte,
Herr Koppelin.
Lieber Herr Kollege
Carstensen, erkenne ich es bei Ihnen richtig, dass Sie
nach diesem Beitrag und nach der Frage völlig über-
rascht sind, dass der Minister Schleußer in NRW zu-
rückgetreten ist?
DieFrage kann ich so beantworten: Ich bin völlig über-rascht. Das ist schon richtig.Herr Präsident, ich komme jetzt wieder zu meinemRedetext. Es ist schon erstaunlich, wenn bei einer sowichtigen Aufgabe wie der Gemeinschaftsaufgabe, fi-nanziert mit 60 Prozent vom Bund und 40 Prozent vonPeter H. Carstensen
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8036 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
den Ländern in der normalen Gemeinschaftsaufgabe, einLand wie Schleswig-Holstein 1 DM ausgibt und zusätz-lich 1,50 DM an Bundesmitteln erhält; beim Küsten-schutz ist es noch mehr. In den letzten Jahren, wie Diet-rich Austermann auch schon gesagt hat, hat das Landauf 34 Millionen DM an Bundesmitteln verzichtet.
– Natürlich stimmt das, Herr Opel. Sie sind nicht infor-miert. Es wurde auf 34 Millionen DM verzichtet.22 Millionen DM sind an Landesmitteln für den Küsten-schutz und für die Verbesserung der Agrarstruktur nichtdazugegeben worden.
– Nein, das hat er eben nicht.
– Nein, Herr Opel. Sie haben keine Ahnung.
Das ist an sich schade. Sie haben keine Ahnung, aberSie sind trotzdem immer noch sehr laut.
Schleswig-Holstein hat hier darauf verzichtet, Ausga-ben in einer Größenordnung von 56 Millionen DM indiesem Bereich zu tätigen. Wenn Sie das auf Investiti-onstätigkeiten im ländlichen Raum umrechnen, HerrOpel, dann sind das 250 Millionen DM, die im ländli-chen Raum in Schleswig-Holstein nicht investiert wor-den sind, weil die Landesregierung nicht bereit ist, hiermitzumachen.Jetzt zu meinen, dass die zukünftigen Küstenschutz-aufgaben über Brüsseler Mittel finanziert werden kön-nen, nun herumzulaufen und überall laut zu verkündenund zu versprechen, ihr bekommt auf Sylt wesentlichmehr Sandvorspülung und mehr Geld für den Küsten-schutz, und dann darauf zu hoffen, dass Brüssel dies ge-nehmigt, das ist schon ein dreistes Stück. Ich finde, es ist unredlich, erst jetzt den Antrag auf Ge-nehmigung dieser Mittel für den Küstenschutz zu stel-len, aber draußen und zu verkünden: Jawohl, wir werdendie Küstenschutzmaßnahmen verstärken.
Herr
Kollege Carstensen, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja -
Der beste Küsten- und der beste Katastrophenschutz ist,
eine Landesregierung wie die in Schleswig-Holstein ab-
zuwählen.
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine Geschäftsord-
nungsregelung, die denjenigen, der eine Zwischenfrage
stellt, zwingt, bei der Antwort stehen zu bleiben. Aber es
ist ein Akt der Höflichkeit und für die Zuschauer ein
Zeichen, dass hier ein Frage-und-Antwort-Spiel statt-
findet.
Deswegen wäre ich dankbar dafür, wenn man sich an
diese Regelung halten würde. Der Inhalt der Antwort
liegt in der Kompetenz des Redners; dazu kann ich
nichts sagen.
Jetzt gebe ich das Wort zu einer Kurzintervention der
Kollegin Ulrike Höfken von Bündnis 90/Die Grünen.
Vie-len Dank. – Die Verzweiflung muss groß sein, wennman sich schon darüber unterhalten muss, ob jemand vor100 Jahren mit Gummistiefeln herumgelaufen ist odernicht.
Wenn das zum Wahlkampfthema wird, dann sind dieChancen für die CDU aber gering.Ich möchte auf einen anderen Punkt eingehen, näm-lich auf das Märchen der mangelnden Ausgaben fürden Küstenschutz, das hier verbreitet wird. Ich will nurdarauf hinweisen, dass sich das Land Schleswig-Holstein gerade in den letzten Jahren erheblich ins Zeuggelegt hat.
Das gilt im Übrigen auch für den Bund. Im Jahr 1998hat es 151 Millionen DM für den Küstenschutz gegeben,im Jahr 1999 waren es 243 Millionen DM.
Schleswig-Holstein hat 61 Millionen DM für den Küs-tenschutz zur Verfügung gestellt bekommen, zusammenmit der Kofinanzierung mehr als 80 Millionen DMUm auch das noch einmal zu sagen: Die alte Bundes-regierung hatte die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe– und damit für den Küstenschutz, der ja hilft, HerrnCarstensen, vor dem „Land unter“ zu bewahren – um einganzes Drittel gekürzt. Dagegen hat das Land Schles-wig-Holstein, das oft wegen mangelnder Kofinanzierunggescholten wurde, was natürlich auch damit zusam-menhing, dass andere Schwerpunkte gesetzt wurden –gerade der Agrarbericht weist aus, dass die Betriebser-Peter H. Carstensen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8037
gebnisse in Schleswig-Holstein gut sind, sogar viel bes-ser als in anderen Ländern –, erhebliche Anstrengungenunternommen, um die Kofinanzierung hinzubekommen.Das gilt – das muss man betonen – gerade für die letztendrei Jahre: Im Jahr 1997 gab es noch ein Defizit von16,5 Millionen DM – Sie haben das einfach alles zu-sammengerechnet –, aber im Jahr 1999 nur noch einesvon 4,5 Millionen DM. Jetzt hat Schleswig-Holstein eingroßes Programm gemeldet. Ich finde, das ist eine er-hebliche Leistung, die die rot-grüne Landesregierunghier vollbracht hat.Schließlich noch zur Gemeinschaftsaufgabe: DieseBundesregierung hat die Gemeinschaftsaufgabe stabili-siert, trotz der finanziellen Engpässe. Das hat der Mini-ster auch gestern im Ausschuss laut und deutlich gesagt.Das bedeutet keineswegs – wie Frau Naumann gesagthat– eine Reduzierung der Unterstützung für die Ent-wicklung der ländlichen Räume. Vielmehr wird dieEntwicklung mit einer Reform der Gemeinschaftsaufga-be vorangebracht. Das ist, finde ich, eine gute Sache.Danke schön.
Zur Er-
widerung Herr Carstensen.
Frau Kollegin Höfken, ich stelle noch einmal fest: Von
1996 bis einschließlich 1999 sind – seinerzeit von Hans
Wiesen und jetzt von Klaus Buß unterschiedlich ge-
handhabt – ungefähr 34 Millionen DM an Bundesmit-
teln aus der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ entweder wieder
zurückgegeben – das war die Zeit von Hans Wiesen –
oder gar nicht erst abgerufen worden, nämlich zu der
Zeit von Klaus Buß.
Die nicht abgerufenen Mittel betrugen im Jahr 1999
4,8 Millionen DM. Durch die globalen Minderausgaben,
die Finanzminister Möller in Schleswig-Holstein
beschlossen hat, ist zu erwarten – und keiner bestreitet
das –, dass auch im Jahre 2000 4,6 bis 4,8 Milli-
onen DM der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe
nicht abgerufen werden. – Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Frau Kollegin, ich begrüße es,
wenn man versucht, für den Küstenschutz Mittel aus eu-
ropäischen Töpfen zu gewinnen.
Aber ich halte es für unredlich – das hat überhaupt
nichts mit Wahlkampf zu tun –, im Moment nach Sylt,
Föhr, Amrum oder Pellworm zu fahren und dort zu ver-
künden, dass das Land Schleswig-Holstein in diesem
Jahr 12 Millionen DM mehr in den Küstenschutz ste-
cken will.
Es ist gut, wenn man das will. Aber es ist unredlich,
wenn man die Finanzierung über die Mittel aus Brüssel
sicherstellen will und noch nicht einmal weiß, ob Brüs-
sel die Verwendung dieser Mittel, die nach Art. 33 die-
ser Richtlinie für Katastrophenvorsorge gegeben werden
können, für den Küstenschutz genehmigt. Dieses be-
mängele ich.
Ich wäre dankbar, wenn der Minister dazu etwas sa-
gen und vielleicht auch ankündigen würde, dass der An-
trag von Schleswig-Holstein unterstützt wird. Es wäre
gut, wenn er sagen würde: Die Mittel fließen in den
Küstenschutz; wir haben nichts dagegen, dass die Mittel,
die in den ländlichen Raum fließen sollen, auch für den
Küstenschutz herangezogen werden. – Man kann aber
nicht vorher sagen: Ihr werdet mehr Geld für den Küs-
tenschutz bekommen; wir müssen aber immer noch auf
die Genehmigung aus Brüssel warten. – Das halte ich
für unredlich.
Das
Wort hat nun die Kollegin Ulrike Mehl von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ich höre immer von der Opposition –auch bei anderen Gelegenheiten –, man möchte sichunbedingt wieder inhaltlich politisch auseinander setzen.Das, was Sie heute abgeliefert haben, war keine inhalt-liche Auseinandersetzung,
es sei denn, Sie hätten andere Vorstellungen von dem,was Inhalte sind. Ich finde es auch ziemlich öde, dass jedes Mal dann,wenn in Schleswig-Holstein eine Wahl ansteht, derBundestag zum Landtag gemacht wird und hier Debat-ten geführt werden, die zu 90 Prozent in den Schleswig-Holsteinischen Landtag gehören. Der einzige qualifizier-te Beitrag war der von Herrn Kollegen Börnsen; ihnmöchte ich ausdrücklich von meiner Kritik ausgenom-men wissen.
Alles andere waren Debatten, die im Landtag vonSchleswig-Holstein längst geführt worden sind und nichthierher gehören.
Man hätte mit dieser Debatte eigentlich noch eineWoche warten können. Auch das wäre noch vor derWahl gewesen. Man hätte sich dann in Ruhe mit diesemBericht auseinander setzen können, der ausgesprochendifferenziert ist. Jetzt musste man in einer Nachtschichtden Bericht lesen und kann ihn nicht in Ruhe in den ei-genen Reihen diskutieren. Das finde ich sehr schade,zumal darin sehr viel Arbeit steckt. Ulrike Höfken
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8038 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Ich will noch einmal auf Herrn Carstensen zurück-kommen, der gesagt hat, dass die Bevölkerung derWestküste stinkwütend sei und eineinhalb Jahre nachdem Unfall noch immer mit Blutdruck 180 darüber ge-redet werde. In dem Gutachten für die Ministerpräsiden-tin – der Schwachstellenanalyse – steht als Schwach-stelle acht: Eine Region mit einem Außendarstellungs-problem wie die Westküste hatte kein Konzept, einenpopulären Unglücksfall so darzustellen, dass der Frei-zeitsektor minimal geschädigt wurde. Statt dessen wurdegefährlich lamentiert. Alleingänge betroffener Gemein-den können einfallsreich sein, sind aber doch insgesamteher bedenklich. – Dies kann ich nur betonen. Es gibtnoch andere kritische Dinge.
– Nein. Ich glaube, dass gewisse Debatten dazu beitra-gen, dass nicht Lösungen gebracht werden, sondern nurDinge unter den Teppich gekehrt werden, und genau dasfinde ich zynisch.
Frau
Kollegin Mehl, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Herrn Kollegen Koppelin?
Ja.
Bitte
schön, Herr Koppelin.
Liebe Kollegin Ulrike
Mehl, haben Sie in diesem Bericht unter Schwachstelle
sechs auch gelesen, dass das gesamte Landeskabinett
unter unerwarteten symbolischen Druck geraten sei?
Das steht dort. Das kann ich be-
stätigen.
Können Sie noch einmal
kommentieren, wie das zustande gekommen ist? Kann
das nicht doch an Minister Steenblock gelegen haben?
Herr Kollege Koppelin, genaudas wollte ich eben nicht tun, weil ich hier im Bundestagund nicht im Landtag bin. Deswegen werde ich michjetzt dem Thema widmen.
– Man muss ja wenigstens reagieren. Also zum Bericht: In dem Bericht, der glücklicher-weise in einer gut lesbaren und nachvollziehbaren Formgeschrieben ist – das kann man nicht von allen Berichtensagen –, gibt es viele Lösungsansätze, wie das Risikovon Schiffsunfällen durch ein verbessertes und optimier-tes Notfallkonzept von Bund und Ländern sowie ge-meinsam mit den europäischen Nachbarn verringertwerden kann. Ich komme noch auf einzelne Punkte zusprechen. Aber klar ist auch – das ist in mehreren Beiträgen ge-sagt worden –, dass wir Gefahren oder Havarien natür-lich nicht hundertprozentig ausschließen können. Eswurde jetzt mehrmals das Beispiel des Tankers „Erika“angeführt, der vor der bretonischen Küste verunglückte,auch wenn dort andere Standards oder Messlatten ange-legt werden müssen. Trotzdem können wir nicht hun-dertprozentig ausschließen, dass eine Katastrophe pas-siert. Wir können in dem Zusammenhang durchaus frohsein, dass bisher an der deutschen Küste keine Katastro-phe und kein Super-GAU passiert ist. Die „Pallas“ warein Holzfrachter und hatte nur relativ wenig Öl an Bord.Es sind da nur 244 Kubikmeter Öl ausgelaufen. Trotz-dem hat das gerade im Wattenmeer eine enorme negati-ve ökologische Wirkung entfaltet. 16 000 Seevögel sindverendet, 600 Kubikmeter ölverseuchter Sand musstenentsorgt werden. Man muss sich einmal vorstellen – es gibt ja auch an-dere Beispiele, nicht nur der Fall der „Erika“ –, was ge-schähe, wenn ein solcher Unfall wie jener der „Braer“,die 1993 vor den Shetland-Inseln zerschellte – damalssind 95 000 Tonnen Rohöl ins Meer geflossen –, oderbeispielsweise die Havarie der „Sea Empress“ 1996 vorWales sich bei uns ereignet hätten. Das wäre für dasWattenmeer eine absolute Katastrophe, wenn so etwaspassieren würde. Das gilt nicht nur für die Ökologie desWattenmeeres, sondern natürlich auch für die Men-schen, die dort leben.
Deswegen drängen wir als SPD-Fraktion natürlichauch seit vielen Jahren darauf, dieses Problem der Si-cherheit durch eine Küstenwache oder irgendetwasÄhnliches konzentriert zu lösen. Darüber sind wir uns inTeilen auch einig gewesen, aber die alte Bundesregie-rung hatte offenbar nicht vor, das umzusetzen.
Das ist meine Kritik: Wenn Sie immer mit dem Fingerin unsere Richtung zeigen, dann erinnert das daran, dassdrei Finger in Ihre eigene Richtung zeigen müssten. Die Expertenkommission hat Grundsätze erarbeitet,die ich außerordentlich begrüße, und zwar hat sie fol-gende Reihenfolge aufgestellt: Schadensvermeidung hatVorrang vor Schadensbegrenzung. Die Rettung vonMenschen hat Vorrang vor der Rettung von Ökosyste-men. Die Rettung von Ökosystemen hat Vorrang vor derRettung von Sachwerten. Ich finde, das ist genau dierichtige Reihenfolge. Das kann ich nur begrüßen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht jetzt nichtum Schuldzuweisungen, sondern wir müssen schnell dieFrage beantworten, wie das Risiko von Schiffstranspor-Ulrike Mehl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8039
ten möglichst minimiert wird. Wenn wir schon auf ganzbestimmte Stoffe wie Rohöl, Chemikalien und anderegefährliche Stoffe nicht grundsätzlich verzichten kön-nen, müssen wir wenigstens alles für den vorsorgendenSchutz und für ein reibungslos funktionierendes Katas-trophenmanagement tun. Das heißt konkret: Erstens müssen wir uns auf internationaler Ebene da-für einsetzen, dass die passive Transportsicherheit derSchiffe insgesamt und insbesondere bei gefährlichenGütern wie Chemikalien und Schweröl erhöht wird.Doppelhöhlentanker sind ja für bestimmte Bereiche vor-geschrieben, aber die Übergangsfrist, bis sie eingeführtwerden müssen, ist zu lang. Wir müssen darauf drängen,dass diese Fristen verkürzt werden.
Zweitens müssen Schiffe mit hohem Risikopotenzialauf küstenfernere Fahrwasser verwiesen werden können,und es muss auch möglich sein, Einlaufverbote für Hä-fen auszusprechen. Diesem Ansatz folgt auch die Exper-tenkommission zum Teil. Sie empfiehlt, Schiffen mit er-höhtem Risikopotenzial küstenfernere Fahrwasser zu-zuweisen. Das wäre jedenfalls ein wesentlicher Schrittin die richtige Richtung. Drittens müssen die Reeder und die Flaggenstaatenstärker in die Pflicht genommen werden. Das ist vorhinauch schon angesprochen worden. Haftungssummen undHaftungsregelungen für ökonomische und ökologischeSchäden müssen eine wirksame Abschreckung gegenSicherheitsdumping bieten. Auch dieser Ansatz wirdvon der Expertenkommission teilweise aufgegriffen. Viertens – das ist der zentrale Ansatzpunkt für dieExpertenkommission – brauchen wir für den schnellenEinsatz bei Schiffshavarien dringend ein zentrales, stän-dig besetztes Havariekommando, das ein schnelles undeffizientes Eingreifen bei Schiffsunfällen ermöglicht. Eswird empfohlen, die bisherigen Einrichtungen des Bun-des und der Länder in Cuxhaven zusammenzufassen.Ein solches ständig besetztes Kommando hätte im Ernst-fall Durchgriffsrecht und Weisungsbefugnis bezüglichaller erforderlichen Ressourcen von Bund, Ländern undKommunen. Dazu gehört auch, dass die auf See tätigenAufsichtsfahrzeuge von Einheiten des Bundesgrenz-schutzes bis zur Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zueiner zentral geführten Seewacht zusammengefasst wer-den. Genau diese Punkte entsprechen auch unseren Vor-stellungen.
Der Expertenbericht hat den Kompetenzwirrwarr, derstellenweise beim Abwickeln des Unfalls der „Pallas“gegeben war, deutlich gemacht, einen Wirrwarr, den wiruns sicherlich kein zweites Mal leisten können und auchnicht wollen. Deshalb kommen wir auf jeden Fall an ei-ner gut organisierten, von bürokratischen Hürden befrei-ten deutschen und – langfristig gesehen – auch europäi-schen Küstenwache – hier sind erste Schritte bereitsgemacht worden – nicht vorbei.Die Expertenkommission hat geprüft und geht davonaus, dass ihre Vorschläge auf der Basis der geltendenRechtslage umgesetzt werden können. Das steht aus-drücklich in dem Bericht. Aber wenn sich herausstellensollte – das nehme ich im Moment nicht an –, dass fürdie Umsetzung notwendiger Maßnahmen eine grundge-setzliche Änderung erforderlich ist, dann dürfen wir da-vor nicht zurückschrecken. Herr Kollege Börnsen sagtzu Recht, dass es immer sehr schwierig sei; man braucheandere Mehrheiten; man müsse vor allem die Länder insBoot holen. Aber gerade angesichts solcher Fragen undder Unfälle in jüngster Zeit kann es nicht nur um Recht-haberei und darum gehen, was wer behalten und nichtabgeben möchte; vielmehr müssen wir einen Anlauf ver-suchen. Ich hoffe, dass die Expertenkommission Rechthat und dass es ohne eine grundgesetzliche Änderungmöglich ist. Der Schleswig-Holsteinische Landtag hatübrigens partei- und fraktionsübergreifend auch so etwasanvisiert. Wenn wir über Öltanker, Schiffsunfälle und möglicheVorsorgemaßnahmen sprechen, dann dürfen wir nichtvergessen, was dem Wattenmeer neben der Gefahr vonUnfällen ständig zugemutet wird. Jedes Jahr geratenschätzungsweise 100 000 Tonnen Öl aus dem regulärenSchiffsverkehr oder durch den Betrieb von Ölplatt-formen in die Nordsee, genauso wie 1 Million TonnenStickstoffe vornehmlich aus dem Kfz-Verkehr und auchaus der Landwirtschaft. Hier müssen wir dringend eineVorsorge organisieren, speziell in diesem Fall. Aber dieVorsorge zu organisieren ist eine ständige und dauerndeAufgabe. Wenn Sie, Herr Kollege Koppelin – Sie habenmir das reihenweise vorgemacht –, und die Oppositionanmahnen, dass aus ökologischen Gründen dringendMaßnahmen durchgeführt werden müssten – 16 Jahrelang ging es nicht; wir müssen es jetzt in anderthalb Jah-ren schaffen –,
dann müssen Sie erklären, wie dazu passen soll, dass Siemit einer Partei in Schleswig-Holstein koalieren wollen,die sagt: Wir müssen den Umweltschutz zehn Jahre aus-setzen.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Gert Willner
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Traurige Tatsache ist, dass wir 16 Monatenach dem Ereignis „Pallas“ nicht durchgreifend besserauf ein solches Unfallgeschehen vorbereitet sind, als esdie Beteiligten damals waren.
Es gibt vielleicht jetzt ein bisschen mehr Routine, abermehr auch nicht. Die rot-grünen Regierungen im Bund und in Schles-wig-Holstein haben die vergangenen Monate nur fürRechtfertigungen genutzt. Es wurde versäumt, einigeVeränderungen in wenigen beherzten Schritten anzuge-hen. Ulrike Mehl
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8040 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Bis zur gestrigen Vorlage des Expertenberichtes bestandoffensichtlich ein Denk- und Handlungsverbot. Dabeigibt es genügend Fachleute in Bund und Land. Da hätteselbstständig weitergedacht werden können. Die in derBeantwortung unserer Großen Anfrage als praktischeinziges Handeln der Bundesregierung herausgestellteÜberarbeitung der Alarmpläne, die Definition von Ent-scheidungskriterien für den Notschleppeinsatz, die Aus-rüstung der Mehrzweckschiffe des Bundes mit – manhöre und staune – hochseefesten Schlepptrossen und dieSchließung von Verträgen über den Einsatz von Hub-schraubern sind, gemessen an der Erwartungshaltung derBürgerinnen und Bürger, bitter wenig. Das ist nämlichganz normales Verwaltungshandeln. Dazu braucht eskeines politischen Impulses und es bedarf erst recht kei-ner Havarie oder massiver Forderungen. Im Klartext:16 Monate ist politisch nicht gehandelt worden.
Auch mit der heutigen Vorlage des Expertenberich-tes ist die Welt nicht plötzlich in Ordnung. Alle wortrei-chen Erklärungen der rot-grünen Politiker in Bund undLand kaschieren nur notdürftig, dass bisher kein ge-meinsames Handlungskonzept der Küstenländer vor-liegt. Grundsätzliche Meinungsunterschiede zwischenden Einsatzkonzepten von Bund und Ländern bestehenweiterhin. Es ist nicht einmal zu den von allen Seiten geforder-ten gemeinsamen Übungen der Einsatzstäbe von Bundund Ländern gekommen, obwohl die Bundesregierungzugesagt hat, die Konzepte für solche Übungen fortzu-schreiben. Das ist ein Defizit. Ich hoffe, dass es Bundund Ländern gelingt, auf der Basis des Expertenberich-tes die Kraft zu einer wirklich durchgreifenden Neuaus-richtung des Sicherheitskonzeptes für die Küsten vonNord- und Ostsee zu finden. Das ist unser gemeinsamesAnliegen.
Welche Fakten müssen heute genannt werden? Nichteinmal die Landesregierung Schleswig-Holstein verfügtüber ein geschlossenes Konzept. Der Landesumweltmi-nister und der Landesinnenminister sind zerstritten. DerLandesumweltminister kann sich in Schleswig-Holsteinin der alles entscheidenden Frage der Küstenwache in-nerhalb der Landesregierung nicht durchsetzen. Heutedarf er wohl nicht reden, weil es in Schleswig-Holsteinkeine klare Regierungsposition gibt.Deshalb fordert der Umweltminister am liebstengleich eine europäische Coast Guard. Das ist risikolos.Dazu gibt es kaum einen Widerspruch; nur löst es keinProblem. Denn schon 1998 wurde deutlich, dass dieEU-Mitgliedstaaten eine zentrale Leitung aller Küsten-wachen nicht für zweckmäßig erachten. Deshalb fordernwir nach dem schwedischen Vorbild eine deutsche Küs-tensicherung mit starken, im Krisenfall jederzeit ausdem Routinebetrieb heraus operierenden Einsatzkräften. Die Überlegungen hinsichtlich der Seewache sind füruns sehr diskutierenswert, wenn die Führung durch einHavariekommando ausgeübt wird, das die Möglichkeitzum Durchgriff hat. Wir müssen uns vor Augen führen:Schwerpunktaufgabe bleibt die Vermeidung von Unfäl-len. Das ist der Knackpunkt. Wir fordern eine einheitli-che Führung aller auf See eingesetzten Kräfte des Bun-des. In den Einsatzstäben muss die verantwortliche Ein-personenleitung auch organisatorisch verankert sein; dieMannschaft muss eingespielt sein und sie darf nicht erstmit der Buschtrommel zusammengerufen werden müs-sen.Alle rechtlichen Möglichkeiten unterhalb einerGrundgesetzänderung müssen genutzt werden. Die Ex-perten haben gute Ansätze vorgeschlagen. Die internati-onale Zusammenarbeit muss verbessert werden und derSchiffsverkehr muss besser überwacht werden. In derOstsee findet praktisch keine Überwachung statt. Über-wachung ist Vorsorge zur Vermeidung von Unfällen.Für Schiffe mit gefährlicher Ladung in der Nordseemüssen erforderlichenfalls Routenverlegungen durchge-setzt werden; denn nicht nur die Leichtigkeit, auch dieSicherheit des Seeverkehrs ist Aufgabe einer Küstenwa-che.
Die Brandbekämpfung auf See muss neu geordnetwerden. Dafür sind ausgebildete und ständig geschulteSeeleute einzusetzen – nicht Feuerwehrleute, die erstvon Land abgezogen werden. Das ist nicht der richtigeWeg. Wir müssen überlegen, ob die Notschleppkapazitätin dieser Form ausreicht. Peter Harry Carstensen hat da-zu ein Wort gesagt.Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Erwartungender Betroffenen sagen. Die Menschen an den Küsten,die beruflich und wirtschaftlich von sauberen Meerenund Stränden abhängig sind, können – auch aus Sorgeum mögliche ökologische Auswirkungen von Hava-rien – erwarten, dass es endlich zu den nach der „Pal-las“-Havarie versprochenen durchgreifenden Verände-rungen kommt und dass nicht nur alter Wein in neueSchläuche gegossen wird.Die rot-grüne Landesregierung in Schleswig-Holsteinwill offenbar – das muss ich hier deutlich sagen – nureine gemeinsame Führung im Krisenfall mit Unterstüt-zung aus dem Bundesinnenministerium und aus denKüstenländern. Dies ist nicht der richtige Weg.
Die Große Anfrage der CDU/CSU zur Schaffung ei-ner Deutschen Küstenwache hat dazu geführt, dass diegrundsätzliche Problematik aufgearbeitet wurde. Ich sa-ge meinem Kollegen Wolfgang Börnsen ein herzlichesDankeschön für die Arbeit, die er hineingesteckt hat.Das muss einmal deutlich und klar gesagt werden.
Meine Damen und Herren, mancher von Ihnen hatsich gegen Mitternacht auch mit dem dicken Gutachtender Expertenkommission befasst. Dort steht, dass dieUmsetzung der Empfehlungen der Expertenkommissioneinmalig 130 Millionen DM kostet. Die laufenden Kos-ten konnten noch nicht ermittelt werden. Diese130 Millionen DM sind ein Betrag, mit dem, verteilt aufGert Willner
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8041
Bund und Länder, schnell Verbesserungen erreicht wer-den können. Schadensvermeidung hat Vorrang vor Schadensbe-grenzung. Jetzt muss zügig und schnell ausgewertet, be-raten und entschieden, also gehandelt werden. Nocheinmal dürfen 16 Monate nicht ungenutzt verstreichen!
Zu einer
Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Gila
Altmann.
Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ich möchte noch einmal auf den Redebeitrag von
Frau Flach eingehen, in dem sie gesagt hatte, dass
Schleswig-Holstein der brennenden „MS Mercator“
quasi die Hilfe verweigert habe, weil man ihr untersagt
habe, in Brunsbüttel einzulaufen. Ich hatte diesen Vor-
gang anders in Erinnerung, habe aber in der Zwischen-
zeit noch einmal Recherchen angestellt, um ganz sicher-
zugehen. Ich möchte Ihnen deshalb noch einmal zur
Kenntnis geben, dass dieses Schiff mit Eisenspänen be-
laden war, die schon brannten, die Feuerwehr Brunsbüt-
tel an Bord gegangen ist und in Absprache mit der Be-
satzung und dem Hamburger Hafen die Freigabe erteilt
hat, weil die brennenden Eisenspäne, die ja ein gewisses
Gefahrenpotenzial darstellten, besser in Hamburg ge-
löscht werden konnten. Genau so ist es dann ja auch pas-
siert. Die von Ihnen konstruierte Unterstellung, dass
Schleswig-Holstein in einer akuten Gefahrensituation
keine Hilfe geleistet habe, ist nach meinen Informatio-
nen falsch.
Wollen
Sie erwidern? – Bitte.
Nichtsdestoweniger stimmen
Sie mir doch sicherlich zu, Frau Staatssekretärin, dass
dieses Schiff brennend über das Meer gefahren ist. Es
ging darum, dass hier etwas ablief, was nicht hätte sein
müssen.
Zu einer
weiteren Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kol-
legen Jürgen Koppelin.
Die Kollegin Ulrike
Mehl hat mich ja direkt im Zusammenhang mit dem
Thema Umweltschutz in Schleswig-Holstein ange-
sprochen. Sie hat behauptet, eine Koalition aus
CDU/CSU und F.D.P. würde den Umweltschutz für
zehn Jahre stoppen.
– Entschuldigung, das haben Sie gesagt. Deswegen habe
ich mich gerade gemeldet. Ich bin mir auch sicher, dass
die Kollegin Mehl, die ich sehr schätze, zu intelligent
ist, um nicht selber zu wissen, dass es Unsinn ist, was
sie da erzählt hat.
Der Sachverhalt – das wissen Sie, Kollegin Mehl – ist
doch folgender: Es geht nicht darum, dass der Umwelt-
schutz in Schleswig-Holstein gestoppt wird, sondern
darum, dass die Drangsalierung vor allen Dingen der
Menschen an der Westküste durch die Politik des Um-
weltministers Steenblock aufhören muss. Darum geht es.
Ich fahre auch gerne mit Ihnen dahin, damit Sie sehen,
dass es sich so verhält.
Ich will Ihnen auch noch ein Beispiel nennen: Wird
ein Landwirt an der Westküste Schleswig-Holsteins, der
einen Bauantrag stellt, um am Stall noch etwas anzubau-
en, eine Baugenehmigung dafür bekommen? Nein! So
werden die Leute dort drangsaliert. Das muss aufhören.
Dafür stehen wir ein.
Zur Er-
widerung Frau Mehl, bitte schön.
Jetzt sind wir schon wieder beiThemen aus dem Schleswig-Holsteinischen Landtag.Aber Ihre Aussage kann man so nicht stehen lassen. Zumindest ist herübergekommen, dass Herr Rühe dasso sieht. Auf einer Pressekonferenz und bei verschiede-nen Veranstaltungen in Schleswig-Holstein hat er auchkonkrete Beispiele gebracht, wo der Amtsschimmelwiehert. Er sagte sogar: Der Amtsschimmel wiehert röh-rend. Vorstellen kann ich mir das nicht, da Hirsche röh-ren und keine Schimmel, erst recht keine Amtsschim-mel. Aber das nur nebenbei. Er brachte dann zwei Bei-spiele, die wirklich neben der Kappe lagen, um es soauszudrücken. Es ging zum Beispiel um eine Boßelbahn in einemNaturschutzgebiet, um die ein 1 Kilometer langer Zaungebaut werden sollte. Zwei Tage später las man in einemPresseartikel, dass diejenigen, die diese Bahn beantragthatten, sehr großen Wert darauf legten, dass dieser Zaungebaut wird, weil sie sich nicht vorhalten lassen wollten,dass die Leute in diesem Gebiet irgendetwas zerstörten.Diese Frage ist dann absolut einvernehmlich geregeltworden. Die waren nämlich sauer darüber, dass das alsBeispiel gebracht wurde. In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen: Dafürsind die Kreise zuständig. Man kann darüber diskutie-Gert Willner
Metadaten/Kopzeile:
8042 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
ren, ob man den Kreisen Kompetenzen abnimmt. Wirwollen das nicht tun.
Herr
Carstensen, ich habe Ihnen nicht das Wort gegeben. –
Wir haben jetzt eine Reihe von Kurzinterventionen er-
lebt. Es macht keinen Sinn, dass die Redner, die bereits
gesprochen haben, diese Debatte durch Kurzinterventio-
nen verlängern.
Ich schlage vor, dass jetzt der Kollege Opel von der
SPD-Fraktion das Wort bekommt.
– Jetzt hat Kollege Opel das Wort.
Werte Frau Präsidentin! Mei-
ne lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal
möchte ich als der Abgeordnete, in dessen Wahlkreis die
„Pallas“ gestrandet ist und wo im Moment das, was von
der „Pallas“ noch übrig ist, im Sand des Wattenmeeres
langsam versinkt, einen Dank aussprechen. Mein Dank
gilt jenen Helferinnen und Helfern, die damals zum Teil
unter Einsatz ihres Lebens bei schwierigster See und un-
ter schwierigsten Verhältnissen auf einem brennenden
Frachter mit Holzladung – Holz ist, wenn es sehr heiß
wird und wenn alle Planken glühen, bekanntlich sehr
schwierig zu handhaben – die erforderlichen Lösch- und
Bergearbeiten, soweit es möglich war, durchgeführt ha-
ben. Dies war eine besondere Leistung. Deswegen herz-
lichen Dank an alle, die geholfen haben!
Ich habe mit Freude festgestellt, dass Kollege Willner
gesagt hat, man wolle eine saubere Nordsee haben. Dies
steht im Programm der SPD bzw. der Koalition. Herr
Kollege Willner, ich kann mich aber erinnern: Als wir
den Bau der dritten Klärstufe, Uferrandstreifenpro-
gramme oder Ähnliches gefordert haben, war die
CDU/CSU immer dagegen.
Heute haben wir zwar eine sauberere Nordsee; aber dies
ist nur deswegen so, weil wir vor Ort die Politik der
SPD bzw. der rot-grünen Landesregierung über Jahre
durchgesetzt haben. Dies wird auch weiter so sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Opel,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Carsten-
sen?
Aber selbstverständlich. Mit
größtem Vergnügen.
Herr Kollege Opel, können Sie bestätigen, dass zum
Beispiel auf der Insel Nordstrand vor zwei Jahren alle
Ackerrandstreifen wieder umgepflügt worden sind, weil
das Landesnaturschutzgesetz es nicht erlaubt, solche
Streifen außerhalb von Naturschutzgebieten anzulegen,
wenn man sie länger als fünf Jahre belässt?
Herr Kollege Carstensen, ichkann bestätigen, dass es Rechtsstreitigkeiten gibt, diebisher nicht entschieden worden sind. Ich kann aberauch bestätigen, dass Sie, Herr Carstensen, noch vor ei-nigen Jahren gesagt haben, man solle das Umweltminis-terium in Schleswig-Holstein abschaffen. Jetzt lese ichin der Zeitung, dass Sie selber Umweltminister werdenwollen. Das ist ein Widerspruch.
Ich möchte auf einen Punkt eingehen, den KollegeWillner angesprochen hat: Er hat gesagt, man habe inden letzten 16 Monaten nicht gehandelt. Kollege Cars-tensen hat gesagt, es werde geprüft, geprüft und geprüft,aber nicht entschieden. Verehrte Kolleginnen und Kol-legen, wir müssen doch erst einmal untersuchen, waswir tun müssen. Wir können nicht in Aktionismus ver-fallen. Wir müssen wissen, wohin die Reise gehen soll.Genau das hat dankenswerterweise die Bundesregierunggetan. Der diesbezügliche Bericht, der uns von derGrobecker-Kommission sehr schnell vorgelegt wordenist – Herrn Grobecker ist dafür heute schon gedanktworden –, sowie die Arbeit des Untersuchungsausschus-ses des schleswig-holsteinischen Landtages haben indiesem Zusammenhang viel aufgezeigt. Wir alle sind dafür, dass sich solche Unglücke nichtwiederholen. Wir alle sind für Prävention und nicht sosehr für eine Beseitigung hinterher. Auch die ist erfor-derlich; aber Prävention ist wichtiger. Darauf werde ichzurückkommen. Herr Kollege Carstensen – darin stimme ich Ihnenzu –, wir wollen nach Möglichkeit für die Durchführungvon Rettungsmaßnahmen ein eigenes Schiff haben. Derentsprechende Prüfauftrag – es muss natürlich erst ge-prüft werden, ob das sinnvoll bzw. billiger ist – befindetsich im Moment beim Bundesverkehrsminister. DerUlrike Mehl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8043
Bundesverkehrsminister hat mir dankenswerterweisegeantwortet, dass er die Prüfung dieser Frage in dieAufarbeitung des Untersuchungsberichtes mit einarbei-ten wird. Ich hoffe, dass wir nach Abschluss der Arbei-ten eine gute Nachricht für die Menschen an der West-küste bzw. überhaupt an der Küste haben.Darüber hinaus gestehe ich Ihnen gerne zu, dass nachmeiner Auffassung und übrigens auch nach Auffassungdes damaligen Ministerpräsidenten Björn Engholm derKüstenschutz eine nationale Aufgabe ist. Nur: Sie müs-sen bedenken, dass sich die Finanzierung des Küsten-schutzes verändert hat; sie hat sich nämlich für das Landverschlechtert.Sie und auch der Kollege Austermann haben mehr-fach gesagt, die Mittel für den Küstenschutz seien nichtausgegeben worden.
Hinterher ist diese Aussage korrigiert worden: Für dieGemeinschaftsaufgabe sind die Mittel nicht ausgegebenworden. Dafür gibt es einen Grund – ich weiß, dass derMinister Buß Ihnen persönlich diesen Grund mehrfachgenannt hat –: Innerhalb der Gemeinschaftsaufgabe sindnämlich Einzelanträge nicht genehmigt worden; entspre-chende Mittel konnten nicht in Anspruch genommenwerden und damit nicht abfließen.
Im Übrigen erwecken Sie den Eindruck, als liege imBereich des Küstenschutzes irgendetwas im Argen. Dasstimmt nicht. Die Küsten an der Nordsee sind sicher. Alle Aussagen, die Angstmacherei beinhalten, sindschlichtweg falsch.
Wenn Sie, Herr Kollege Carstensen, sagen, die In-formation der Wasserschutzpolizei sei nicht erfolgt,dann bitte ich Sie doch einmal nachzulesen, was auf dieKleine Anfrage der F.D.P. am 29. Januar 1999 von derBundesregierung geantwortet wurde. Die Wasserschutz-polizei in Husum ist nämlich schon am27. Oktober 1998 um 7.37 Uhr informiert worden. ImGegensatz zu Ihrer Aussage war die Wasserschutzpoli-zei also informiert.
Verehrter Herr Kollege Carstensen, wenn man Sieund andere Wahlkämpfer von der CDU und F.D.P. hört,dann könnte man wirklich meinen, die „Pallas“ sei einHolzfrachter der Landesregierung gewesen, eingesetztvon der Reederin Heide Simonis, der Kapitän sei Rainder Steenblock gewesen und er habe die Weisungder Reederin Simonis erhalten, diesen Frachter ausge-rechnet vor Amrum auf Grund zu setzten. Ich darf Ihnensagen, dass es nicht so war.
Richtig ist nur ein Punkt: Die „Pallas“ ist eine Billig-flaggen-Lösung gewesen. Deswegen sind bei diesemSchiff viele Mängel zu verzeichnen gewesen. Ich willSie daran erinnern, dass Sie gegen unseren erbittertenWiderstand die Billigflaggen ins deutsche Schifffahrts-register eingeführt haben. Sie haben auf diese Weise dasProblem erzeugt, welches wir nun lösen müssen.
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass unsere Forderungennach umfassender und wirksamer Unfallprävention rich-tig sind! Der Reeder, dem die „Pallas“ gehörte, war einItaliener, dem 25 solcher Schiffe gehören. Er hatte dafür25 Reedereien gegründet. Alle 25 Schiffe dieser insge-samt 25 Reedereien fuhren unter Billigflaggen. Genaudas darf in Zukunft nicht mehr passieren! Wir müssendiese unselige Billigflaggen-Politik von CDU/CSU undF.D.P. endlich überwinden.Ich möchte auf einen Widerspruch hinweisen, den derKollege Austermann vorgetragen hat. Ich freue mich ja,dass Sie jetzt eine zentrale Küsten- oder Seewache for-dern. Das ist prima. Es ist gut, wenn dieses Haus ge-meinsam eine entsprechende Lösung mit einer Exper-tenkommission erarbeiten will. Aber Ihr Antrag vom 8. Dezember 1998 spricht von„Durch das Nordsee-Schutz-Abkommen und im Rah-men des auf Subsidiarität aufbauenden Sicherheitskon-zepts ...“. Was heißt das? Das heißt doch, dass Sie keinezentrale Lösung wollen. Sie wollen vielmehr eine aufSubsidiarität aufgebaute Lösung. Das kann es aber nichtsein. Wir möchten einen länderübergreifenden Küsten-schutz, möglichst in ganz Europa. Ich freue mich, dassSie heute Ihre Meinung in diesem Punkt geändert haben.Die Küsten- oder Seewache ist eine nationale und – bes-ser noch – eine europäische Aufgabe, der wir uns allestellen müssen.
Ich möchte auf den endgültigen Spruch des Seeamtesin Kiel zurückkommen. Verehrter Herr Kollege Börnsen, Sie haben gesagt, Dänemark zeige, wie esgeht. Ich bin anderer Meinung. In dem Spruch des See-amtes Kiel heißt es nämlich:Die Einschätzung der Gefahrensituation durch diedänischen Sicherheitsbehörden wurde der Gefah-renlage nicht gerecht.
Ich möchte also nicht, dass so wie in Dänemark gehan-delt wird.Was sind die Schlussfolgerungen? Es gibt vierSchlussfolgerungen, denen wir uns anschließen. Erstens.Wir wollen eine Küstenwache bzw. Seewache neuer Art,wie sie vorgeschlagen worden ist. Zweitens. Wir wollenManfred Opel
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8044 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
eine leistungsfähige Schleppkapazität in der DeutschenBucht, und zwar möglichst schnell. Drittens. Wir möch-ten international verbesserte Melde- und Informati-onssysteme, die funktionieren. Viertens. Wir möchteneine seewärtige Verlegung der Schifffahrtsstraßen, da-mit die Gefährdung unserer Küsten, vor allem die Ge-fährdung des Wattenmeeres, geringer wird.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Cajus Caesar.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat heute diesen Antrag eingebracht, um nocheinmal auf die Konsequenzen dieser großen Katastrophehinzuweisen. Wichtig ist, dass die Verantwortlichenendlich aus den Fehlern, die sie seinerzeit gemacht ha-ben, ihre Schlüsse ziehen, ja aus ihren Fehlern lernen.
Solch verheerende Folgen für Umwelt und Wirtschaftwaren nicht nötig: zerstörte Meeresbiologie und 16 000tote Vögel, und das unter der Verantwortung von zweigrünen Umweltministern.
Beide waren nicht in der Lage, die notwendigen Maß-nahmen zu ergreifen, um die Katastrophe rechtzeitig ab-zuwenden. Sie haben das Problem schlichtweg ausge-sessen. Das ist das erschreckende Fazit dieser Vorge-hensweise.
Erinnern wir uns noch einmal an die Ereignisse vondamals, meine Damen und Herren. In der Nacht vom 25.auf den 26. Oktober 1998 brach an Bord des Frachters„Pallas“ ein Feuer aus. Technische Mängel und unsach-gemäße Brandbekämpfung führten schließlich dazu,dass das Schiff von der Besatzung aufgegeben und ver-lassen werden musste. Es trieb dann einige Tage führer-los auf See, und es strandete am 29. Oktober 1998 vorAmrum.Ein offensichtlich völlig desinteressierter und inkom-petenter – noch im Amt befindlicher – UmweltministerRainder Steenblock ließ sich ebenfalls dahintreiben;denn er ergriff keine Maßnahmen.
Noch am 6. November 1998, als klar war, dass sichdie Lage dramatisch verschärft hatte – zwischenzeitlichwar ein Riss im Rumpf entstanden, Öl trat aus –, lehnteder Umweltminister ein erneutes Angebot seines eige-nen Innenministeriums ab und schlug die Hilfe aus.Tagelang tritt Öl aus, verschmutztes Wasser und ver-schmutzte Küsten verölte Vögel werden gefunden – unddas unter den beiden Umweltministern Steenblock undTrittin, die mehr oder weniger tatenlos zusehen.Man schiebt die Verantwortung zwischen Land undBund hin und her. Der frühzeitige Einsatz des Hochsee-schleppers „Oceanic“ erfolgt nicht. Es bleibt eigentlichnur ein Schluss: Überforderung und Gleichgültigkeit.
16 000 tote, ölverschmutzte Vögel und eine langfris-tig geschädigte Umwelt gehen auf das Konto der beidenUmweltminister.
Kompetenzwirrwarr ist zu verzeichnen. Die Verantwor-tung wird vom Land auf den Bund geschoben, und manist nicht in der Lage, Hilfe zu leisten, Verantwortung zuübernehmen und Gefahren von der Umwelt abzuwen-den.
100 000 Liter Öl liefen ins Meer. Wenn wir uns diegutachterlichen Stellungnahmen von Experten ansehen,Herr Minister Fischer, dann stellen wir fest: Versäum-nisse und Fehleinschätzungen. Sie hätten sich das ein-mal durchlesen sollen. Die „Kieler Nachrichten“ weisen darauf hin: DasLand darf sich bei der Gefahrenabwehr in Küstengewäs-sern nicht hinter dem Bund verstecken. Das Seeamt inCuxhaven stellt fest: Gefahrenlage bei dem Unglückfalsch eingeschätzt. Greenpeace bringt zum Ausdruck:Der unprofessionelle und nachlässige Umgang mit derÖlverschmutzung ist nur ein Aspekt des mangelhaftenKrisenmanagements im Fall „Pallas“.
– Die SPD selbst bestätigt Reibungsverluste – dies zuIhrem Zwischenruf, Herr Minister Fischer –, spricht aberansonsten von einem „ganz normalen Schadensfall“. Naja, bei der Politik, die Sie leisten, ist es normal, wenn dieUmwelt geschädigt wird.
Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. DieBundesregierung sollte endlich etwas unternehmen, umdie Schlüsse aus diesem Vorgehen zu ziehen.
Wir fordern deshalb nachdrücklich – und dies nicht erstheute –, dass die internationale Zusammenarbeit in die-sem Zusammenhang verbessert wird.
Manfred Opel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8045
Hierbei gilt es, Vereinbarungen über die Sicherheit derSchiffe zu treffen.
Das bestehende Sicherheitskonzept muss in Zusam-menarbeit zwischen Ländern und Bund dahin gehendüberarbeitet werden, dass Kompetenzen und Verant-wortlichkeiten geklärt werden und klar zugeordnet wer-den können. Mit rot-grünem Kompetenzwirrwarr mussjedenfalls endlich Schluss sein. Es muss eine einheit-liche deutsche Küstenwache geschaffen werden. In die-sem Zusammenhang muss es endlich zu einer hand-lungsfähigen Umweltpolitik kommen. Nur – wie beiRot-Grün – über die Restlaufzeiten von Kernkraftwer-ken zu diskutieren ist in der Umweltpolitik einfach zuwenig.
Meine Damen und Herren, ein effizienter Schutz vonMensch, Tier und Natur muss durch eine Kompetenzfu-sion erreicht werden. Uns, der CDU/CSU, geht es da-rum, den Menschen vor Ort zu helfen.
Jeder vierte Arbeitnehmer in diesem Raum ist mit demTourismus und der Fischerei in Zusammenhang zu brin-gen. Durch Inkompetenz und dadurch, dass die Bundes-regierung die notwendige finanzielle Unterstützungnicht geleistet hat, ist hier viel Schaden entstanden. Bei Rot-Grün stehen die Fragezeichen im Vorder-grund. Die Ausrufungszeichen fehlen oder sind nicht inSicht. Wo bleiben bei der rot-grünen Politik – nebendem Vorgehen in diesem konkreten Fall – die Weiter-entwicklung der Naturschutzgesetzgebung, die Ent-scheidungen zur Verpackungsverordnung, die Umset-zung der FFH-Richtlinie, das Konzept zur CO2-Reduzierung und zum Klimaschutz? Sie propagierenden Atomausstieg, haben aber keine Konzepte. Sie wol-len auf der grünen Wiese zwischenlagern.
Wir mahnen Handlungsbedarf an. Nicht Lamentieren,sondern Handeln ist angesagt.
Wir wollen eine sinnvolle Vernetzung von Ökonomieund Ökologie. Verantwortliches Handeln im Sinne zu-künftiger Generationen ist gefordert. Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Caesar,dies war Ihre erste Rede, nicht im römischen Senat, son-dern im Plenum des Deutschen Bundestages. Im Namenaller Kolleginnen und Kollegen möchte ich Sie an dieserStelle herzlich beglückwünschen.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Bundesminis-ter für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, KollegeKarl-Heinz Funke. Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte auf zweiPunkte hinweisen, die in dieser Debatte vor allem beiden Rednern der CDU/CSU-Fraktion eine Rolle gespielthaben. Erstens ist unterstellt worden, dass es angesichts derTatsache, dass Schleswig-Holstein – aus welchen Grün-den auch immer – die Gemeinschaftsaufgaben nicht vollbedient habe, auch Vernachlässigungen des Küsten-schutzes gegeben habe. Das ist eindeutig falsch.
Jeder, der sich im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabeauskennt, weiß – –
– Doch, doch, ich habe sehr genau zugehört; aber es istja schön, wenn Sie es jetzt zurücknehmen, Herr KollegeCarstensen. Ich bin sehr froh darüber, dass das so ist.
Ich stelle das mit großer Genugtuung fest. Denn jederweiß, dass die Länder Schwerpunkte innerhalb der Ge-meinschaftsaufgabe setzen können. Hier mag man be-klagen, dass für die agrarstrukturelle Vorplanung, fürDorferneuerung und anderes zu wenig getan worden ist.Das will ich jedem selbst überlassen. Aber Schleswig-Holstein ist seinen Verpflichtungen im Küstenschutzgenauso vorbildlich wie Niedersachen, Bremen undHamburg nachgekommen.
Das muss man eindeutig feststellen oder man ist – HerrCarstensen, um mit Ihren Worten zu reden – unredlich. Zweitens, Schleswig-Holstein hat ein Programm imRahmen der so genannten zweiten Säule der Agendagemacht und dabei auch Maßnahmen zum Küstenschutzangemeldet.
Es ist eindeutig so, dass die Maßnahmen, die Schleswig-Holstein angemeldet hat, im vorgegebenen Rahmen die-ses Programms aus der zweiten Säule der Agenda dazugeeignet sind, von der EU mitfinanziert zu werden. Daszeigen unsere Unterlagen. Deswegen haben wir das vonCajus Caesar
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8046 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Schleswig-Holstein gemeldete Programm zur Beurtei-lung, zur Notifizierung nach Brüssel weitergegeben. Sie haben mich aufgefordert zu sagen, ob wir das,was Schleswig-Holstein gemeldet hat, unterstützen. Ichsage dazu: Es gibt erstens überhaupt keinen Grund an-zunehmen, dass Institutionen oder Stellen der Europäi-schem Union genötigt sein könnten, irgendeinen Teildieses Programms in Frage zu stellen. Denn mit Beihil-ferecht oder Ähnlichem hat das überhaupt nichts zu tun.
Zweitens unterstützen wir nachdrücklich das BegehrenSchleswig-Holsteins und wollen helfen, dass dieses Pro-gramm, wie von Schleswig-Holstein vorgetragen undvorgelegt, auch notifiziert wird, gerade im Interesse derKüstenbewohner des Landes Schleswig-Holstein.
In Ihrer Rede wäre es, wenn Sie denn schon aus poli-tischen Gründen Zweifel anmelden, unheimlich wertvollgewesen, wenn Sie genau diesen Satz, dass Sie demKollegen Buß dabei helfen, das durchzusetzen, gesagthätten.
– Wenn Sie ihn gesagt haben, habe ich ihn überhört,Entschuldigung. Dann nehme ich das jetzt ausdrücklichzurück und freue mich, dass wir gemeinsam die bewähr-te Linie Schleswig-Holsteins, über Küstenschutz die Si-cherheit von Menschen, Sachen und Biotopen sicherzu-stellen, unterstützen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zudem Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis90/Die Grünen zur Optimierung des Sicherheits- undNotfallkonzepts für Nord- und Ostsee auf Drucksache14/843. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/281anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU undF.D.P. angenommen.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 14/843, den Antragder Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/160 zuden Folgerungen aus der Havarie der „Pallas“ vor Am-rum abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist gegen die Stimmen vonCDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktionangenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antragder Fraktion der F.D.P. zur unverzüglichen Vorlage desBerichts der Unabhängigen Expertenkommission „Ha-varie Pallas“ auf Drucksache 14/2454. Wer stimmt fürdiesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Antrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion abgelehnt.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 14/548, 14/1634 und 14/1652 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist of-fensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.Weiterhin wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 14/2684 zur federführenden Beratung anden Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenund zur Mitberatung an den Ausschuss für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuss für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie den Ausschussfür Tourismus zu überweisen. Gibt es dazu anderweitigeVorschläge? – Auch das ist nicht der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b so-wie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren 14 a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Flurbereinigungsgesetzes – Drucksache 14/2445 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen b) Erste Beratung des von den Fraktionen SPDund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzeszur Änderung des Melderechtsrahmenge-setz
– Drucksache 14/2577 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Rechtsausschuss ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachtenVerfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes überFernabsatzverträge und andere Fragen desVerbraucherrechts sowie zur Umstellungvon Vorschriften auf Euro – Drucksache 14/2658 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für TourismusBundesminister Karl-Heinz Funke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8047
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset-zes zur Änderung des Gesetzes über dieFestlegung eines vorläufigen Wohnortesfür Spätaussiedler – Drucksache 14/2675 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und SozialordnungInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen un-ter Punkt 14 an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann sind auch diese Überwei-sungen so beschlossen.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 14/2658 zur federführenden Beratung anden Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Aus-schuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschussfür Gesundheit, den Ausschuss für Tourismus und denAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vor-schläge? – Auch das ist nicht der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Weiterhin wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 14/2675 zur federführenden Beratung anden Innenausschuss und zur Mitberatung an denRechtsausschuss und den Ausschuss für Arbeit und So-zialordnung zu überweisen. Gibt es dazu anderweitigeVorschläge? – Auch das ist nicht der Fall. Dann sinddiese Überweisungen ebenso beschlossen.Damit kommen wir zu den Tagesordnungspunkten15 a bis 15 h. Es handelt sich um Beschlussfassungen zuVorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 15 a: Zweite und Dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Fünf-zehnten Gesetzes zur Änderung des Wehr-soldgesetzes
– Drucksache 14/2498 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-gungsausschusses
– Drucksache 14/2625 – Berichterstattung: Abgeordnete Uwe Göllner Helmut RauberDer Verteidigungsausschuss empfiehlt auf Drucksa-che 14/2625, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da-mit in zweiter Beratung bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung! Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist damit in dritter Lesung bei Enthaltung derPDS-Fraktion angenommen.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 15 b auf: Zweite und Dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Bundesbesoldungsgesetzes – Drucksache 14/2094 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-gungsausschusses
– Drucksache 14/2602 – Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Meinrad Belle Cem Özdemir Dr. Max Stadler Petra PauIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmigangenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung! Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist damit in dritter Lesung einstimmig ange-nommen.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 15 c auf: Beratung der Beschlussempfehlung und Berichtsdes Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten Gunnar Uldall, Dr. Bernd Protzner, Karl-Heinz Scher-hag, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU „Jahr-2000-Problem“ in der Informations-technik ernst nehmen – zu dem Antrag der Abgeordneten BirgitHomburger, Ulrike Flach, Horst Friedrich
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P. Jahr-2000-Problem – Unterstützung zurProblemlösung – Drucksache 14/1334, 14/1544, 14/2115 – Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Axel BergWir stimmen zuerst über die Beschlussempfehlungauf Drucksache 14/2115, Buchstabe a ab. Der AusschussVizepräsidentin Petra Bläss
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8048 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1334 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSUund F.D.P. angenommen.Wir kommen nun zu der Beschlussempfehlung desAusschusses für Wirtschaft und Technologie zu demAntrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2115,Buchstabe b. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 14/1544 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen dieStimmen der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. beiEnthaltung der PDS-Fraktion angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 d auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelbericht 117 zu Petitionen – Drucksache 14/2585 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 117 einstim-mig angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 e auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelbericht 118 zu Petitionen – Drucksache 14/2586 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 118 bei Ent-haltung der PDS-Fraktion angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 f auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelbericht 119 zu Petitionen – Drucksache 14/2587 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 119 einstim-mig angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 g auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelbericht 120 zu Petitionen – Drucksache 14/2588 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 120 ist ebenfalls ein-stimmig angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 h auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelbericht 121 zu Petitionen – Drucksache 14/2589 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 121 gegen dieStimmen der PDS-Fraktion angenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell istvereinbart, den Tagesordnungspunkt 7 – es handelt sichum die abschließende Beratung des Zuwanderungsbe-grenzungsgesetzes – von der heutigen Tagesordnung ab-zusetzen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen-sichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDIS 90/DIEGRÜNEN Haltung der Bundesregierung im Hinblick aufeinen möglichen Schaden für die Demokratiein Deutschland durch die aktuellen Erkennt-nisse zu Praktiken der Parteienfinanzierungund deren mögliche Auswirkungen auf Mehr-heitsverhältnisse in BundesorganenIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Spre-cherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, KerstinMüller.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dergestrige Rücktritt des Fraktionsvorsitzenden WolfgangSchäuble war aus unserer Sicht ein überfälliger, einnotwendiger Schritt. Ich glaube, der Kollege Schäublekonnte nicht mehr glaubwürdig aufklären und konntenicht zur Erneuerung beitragen, weil er viel zu sehrselbst im Gestrüpp des Systems Kohl verfangen war.Dennoch möchte ich hier zu Beginn sehr klar sagen –das ist von meiner Fraktion aufrichtig gemeint –: Wirhaben großen Respekt vor dieser persönlichen Entschei-dung des Kollegen Schäuble.
Allerdings ist das allein – das möchte ich auch ganz klarsagen – noch nicht der Neuanfang, von dem Sie in die-sen Tagen so viel reden. Es kann allenfalls ein ersterSchritt sein. Der Fraktionsvorsitzende Schäuble, so sa-gen selbst Abgeordnete aus Ihren Reihen, hat mit seinemRücktritt Maßstäbe gesetzt. Ich glaube, dass andere die-sen Maßstäben folgen sollten.
Wo ist zum Beispiel der Abgeordnete Kohl? SeitAufdeckung der Spendenaffäre habe ich den Abgeord-neten Kohl in diesem Hohen Hause nicht mehr gesehen.
Ich frage mich: Hat er so viel in seinem Wahlkreis zutun, oder in welcher Form kommt er seinen Pflichten alsVizepräsidentin Petra Bläss
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8049
Abgeordneter nach? Bis heute hat der ehemalige Bun-deskanzler die Namen der Spender nicht genannt. Er be-geht an jedem Tag, an dem er schweigt, einen Bruch vonGesetz und Verfassung.
– Darüber lachen Sie auch noch? Das finde ich wirklichungeheuerlich.Heute hat der Untersuchungsausschuss mit einer er-staunlich turbulenten Anhörung begonnen. Allein diesererste Tag hat gezeigt, dass die CDU die Aufklärung be-hindert, statt wirklich etwas zur Aufklärung beizutragen.Mit ausgesprochen krimineller Energie und offensicht-lich in großem Stil hat das frühere Kanzleramt Aktenmanipuliert und verschwinden lassen.
Ich finde, das Mindeste ist, dass der Abgeordnete Kohlsein Mandat niederlegt.
Und was ist mit dem hessischen MinisterpräsidentenKoch, dem selbst ernannten brutalsten Aufklärer allerZeiten? Seine vorgelegte Chronologie der schonungslo-sen Aufklärung – erweist sich inzwischen als Chronolo-gie der konsequenten Verschleierung und Trickserei –anders kann man das wirklich nicht mehr nennen –: ma-nipulierter Rechenschaftsbericht, um den Schwarzgeld-zufluss von 1,5 Millionen DM zu verschleiern,
und mehrfache Lügen in der Öffentlichkeit, in den Pres-sekonferenzen am 10. und am 14. Januar. Am 14. Januarwurde aus einem von Koch selbst erfundenen Brief zudiesem Darlehen, das es niemals gegeben hat, von ihmzitiert, nur um die ungeklärte Herkunft von1,5 Millionen DM zu verschleiern.Um es mit einem Zitat aus der „Berliner Zeitung“vom 10. Februar auszudrücken:Doch nun hat sich Koch als das entpuppt, was erimmer war: der legitime Erbe Kanthers. Der Auf-klärer selbst hat gelogen, auch er hat getarnt, ge-trickst und getäuscht.Und weiter heißt es:Wie Helmut Kohl hat ... gegen Amtseid, Gesetzund Verfassung verstoßen.Dem ist, so glaube ich, nichts mehr hinzuzufügen.
Mit diesem Geld wurde aber nicht nur diese brutal-populistische, ausländerfeindliche Kampagne finanziert,die ja schließlich zum Wahlsieg führte, also schwarzesGeld für einen schwarzen Sieg. Ich frage Sie auch:Glauben Sie denn wirklich, die Wählerinnen und Wählerhätten die CDU gewählt, wenn sie gewusst hätten, dassausgerechnet diese Partei, die Partei von Law and Order,über Jahrzehnte hinweg systematisch und mit hoherkrimineller Energie Geld verschoben hat? Das glaubenSie heute selbst nicht mehr; denn sonst würde Minister-präsident Koch zurücktreten.
Der einzige Weg, um die politische Glaubwürdigkeitwiederherzustellen, ist deshalb, dass MinisterpräsidentKoch Schäubles Beispiel folgt und in Hessen den Wegfür Neuwahlen frei macht.
Ich möchte noch zur F.D.P. kommen. Es reicht nicht,nur die Person Koch auszuwechseln; das wäre eine of-fensichtliche Mogelpackung. Die F.D.P. führt zurzeit ei-ne ganz nette Inszenierung auf: Auf Bundesebene spie-len Sie die Saubermänner und schwadronieren überGlaubwürdigkeit, während in Hessen der Landesverbanddes Bundesvorsitzenden Gerhardt mit Ruth Wagner ander Spitze wie mit Pattex an den Sesseln klebt.
Ich halte das für ein ziemlich durchsichtiges Doppel-spiel. Was wäre eigentlich, wenn keine Landtagswahlen inSchleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen anstün-den? Was würden Sie dann machen? Würden Sie dannauch auf Bundesebene über den Rücktritt von HerrnKoch diskutieren? Wären Sie dann auch so um eineweiße Weste bemüht? Das wäre wirklich etwas Neues.Nein, ich glaube, der einzig saubere Weg sind Neuwah-len. Dafür sollten Sie sich heute hier ganz deutlich aus-sprechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Müller, Sie müssen zum Schluss kommen.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Ich komme zum Schluss. – Eines finde ich – FrauMerkel, die bei einer solchen Debatte nun wirklich an-wesend sein sollte, ist leider nicht da –
wirklich unglaublich: die Angriffe und Einschüchte-rungsversuche gegen den Bundestagspräsidenten,
der Sie nach Recht und Gesetz zur Rückzahlung von41 Millionen DM verpflichtet hat. Wenn Sie nicht wol-len, dass diese Debatte in der Gesellschaft eskaliert unddass sich die Menschen mit Grauen von der Politik undden Parteien abwenden, Kerstin Müller
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8050 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
dann kann ich Ihnen nur raten: Pfeifen Sie Ihre Anwältezurück! Die vergrößern nur den Schaden für die Demo-kratie. Und das alles zeigt doch: Ihnen ist es mit der Erneue-rung nicht Ernst. Machen Sie Ernst! Hören Sie auf mitdiesen Spielchen! Schaffen Sie einen echten Neuanfangund reden Sie nicht nur davon.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Herr Kollege Dr. Klaus
Lippold.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Frau Müller, Sie fordern den Wechsel in Hessen,weil Sie nicht wollen, dass durch die dortige Koalitioneine miserable Politik auf Bundesebene nach wie vorkorrigiert werden kann.
Das ist doch der wahre Sachverhalt. Ihr Versagen beider Steuerreform und bei der Gesundheitsreform könnenwir mit der Koalition in Hessen korrigieren.
Ohne diese Koalition geht es aber nicht.
Damit deutlich wird, wie es läuft: Was ist denn mitNRW? Wo ist denn die schonungslose und zügige Auf-klärung in Nordrhein-Westfalen?
Scheibchenweise lässt sich der dortige Ministerpräsidentdie Würmer aus der Nase ziehen. Scheibchenweise gibtHerr Schleußer zu,
dass manches privat genutzt war. Scheibchenweise wirddeutlich – im Gegensatz zu den Vorgängen bei der Uni-on –, dass es sich um persönliche Vorteile handelt.
Das sind Dinge, die Sie der Union in dieser Form nichtnachweisen können.Was Sie in der aktuellen Diskussion machen wollen,ist ganz einfach: Sie wollen davon ablenken, dass derhessische Ministerpräsident in unheimlich harter Arbeit
nahezu 97 Prozent der Vorgänge aufgeklärt hat. Davonwollen Sie ablenken, weil Ihnen das nicht gefällt.
Wenn dabei Äußerungen kommen, die zu einem be-stimmten Zeitpunkt richtig sind, und sich das hinterheranders darstellt, dann ist das nur so zu beurteilen, dassdamit die Richtigkeit der Rechenschaftsberichte nicht inFrage steht. Wir haben neutrale Gutachter beauftragt, dienachgewiesen haben, dass der Rechenschaftsbericht kor-rekt abgegeben worden ist.
Davon wollen Sie, Frau Kollegin Müller, schlicht undergreifend ablenken. Das ist ein Punkt, den wir Ihnen sonicht durchgehen lassen.
Kommen wir auf etwas anderes zu sprechen. Geradewurde gesagt, Frau Kollegin Merkel sei nicht anwesend.Ich halte fest: Soweit ich sehe, ist auch Herr KollegeStruck nicht anwesend. An dieser Stelle fängt es an, in-teressant zu werden. Ich lese in der „Wirtschaftswoche“:Zunächst schien es wieder nur eine der zahlreichen,schon sattsam bekannten Filzgeschichten im SPD-Milieu zu sein: gut dotierte Pöstchen gegen nützlichepolitische Kontakte. Doch je länger die „Wirtschaftswo-che“-Hauptstadtkorrespondenten recherchierten – unddie Verbindungen, die sich dabei offenbarten, deutlichwurden –, desto mehr stellte sich der Verdacht ein, dassSozialdemokraten mit Geld, jedenfalls mit Spendengeld,womöglich besser umgehen können, als ihnen oft nach-gesagt wird.
So, liebe Freunde, nun klären Sie doch einmal die Ver-strickung des Kollegen Struck mit einer Institution, inder er Aufsichtsratsvorsitzender war, und mit Spenden-geldern, die von dort Vereinigungen zuflossen, die ihmnahe stehen, auf!
Klären Sie doch einmal die Situation, dass ein frühererMitarbeiter von Lafontaine mit einem mit 1 Million DMdotierten Posten abgefunden wurde.
Sie haben in Ihrem Bereich wirklich mehr als genug zutun
und brauchen gar nicht mit dem Finger auf andere zuzeigen. Ich gehe davon aus, dass das erst der Anfang ei-nes langen Weges ist und dass da noch einige Positionenhinzukommen werden.Im Übrigen: Frau Kollegin Müller, warum adressie-ren Sie Ihre Forderung, dass Aufklärung betrieben wird,denn nicht mehr an die Kollegen von der SPD? DemKerstin Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8051
Vernehmen und den Mitteilungen nach soll Ministerprä-sident Clement, als es um eine Erweiterung des Auftra-ges des Untersuchungsausschusses in NRW ging unddieses von Ihrer Kollegin Höhn befürwortet wurde, mitdem Bruch der Koalition und dem Rausschmiss vonFrau Höhn gedroht haben. Diese Pressemitteilungen sindnach wir vor nicht dementiert. Sagen Sie mir doch ein-mal, was das mit Aufklärung in Sachen SPD zu tun hat.Das macht doch deutlich: Sie sprechen mit doppelterZunge. Sie ziehen über andere her. Dazu haben Sie abernicht das Recht.
Machen Sie es wie wir in Hessen. Klären Sie auf –schonungslos und deutlich! Dann kommen Sie weiter.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Franz Müntefering.
Frau Präsidentin! Kolle-ginnen und Kollegen! Lassen Sie uns über das sprechen,was dieses Haus angeht. Erstens. Demokratie brauchtRegeln und Gesetze. Die Regeln und die Gesetze habenwir gemacht. Diese Gesetze für die Parteien, die Partei-enfinanzierung, auch die Regelungen bei Verstößen ge-gen Parteienfinanzierung, haben wir gemeinsam im An-gesicht des Flick-Ausschusses beschlossen. Die CDUhat dabeigesessen und hinterrücks das verraten, was wiralle miteinander beschlossen haben.
Deshalb will ich noch einmal feststellen: Das, wasder Bundestagspräsident am 15. Februar 2000 hier ent-schieden hat, war eine Entscheidung nach Recht undGesetz. Das musste so sein. Es findet unsere ausdrückli-che Unterstützung.
Zweitens. Demokratie braucht gleiche Chancen. Siehaben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ver-sucht, diese gleichen Chancen auch für uns zu reduzie-ren, und zwar als Überzeugungstäter. Sie haben über dieJahre immer wieder versucht, sich eigene – besondere –Möglichkeiten gegenüber anderen demokratischen Par-teien zu verschaffen.
Kohl, Kanther und andere lebten in der Vorstellung,dies sei ihr Land.
Sie haben sich im Recht gefühlt, was noch einmal deut-lich wurde, als in diesen Tagen Herr Dregger von der„Kampfgemeinschaft CDU“ gesprochen hat – und übersein Geld, das wahrscheinlich aus der Kriegskassestammt. Die CDU hat sich als „originärste“ Westpartei nachdem Krieg in Abgrenzung zum Kommunismus definiert.Sie versucht auch, Sozialdemokraten und andere Partei-en in diese Ecke zu stellen. Ich bin alt genug, um michan die fiese Art und Weise erinnern zu können, in derSie versucht haben, Willy Brandt und andere klein zu-machen.
Ich sage Ihnen heute: Wir Sozialdemokraten haben ei-nen Ehrenvorsitzenden, auf den wir jetzt und auch inZukunft stolz sein können.
Sie werden sich damit abfinden müssen, dass dieCDU in Zukunft eine demokratische Partei unter ande-ren ist, nicht mehr und nicht weniger. Dieses Land ge-hört Ihnen nicht. Das wird mit der Aufarbeitung dieserAffäre klar, die wir in diesen Tagen zu bewältigen ha-ben.
Drittens. Demokratie braucht Transparenz. SchäublesRücktritt ist kein Ersatz für Transparenz. Es wird in derChronologie dieser Wochen vielleicht einmal beach-tenswert sein, dass Schäuble gegangen ist, währendKoch und Kohl noch selbstgerecht ihre Runden drehen.Das wird noch einmal besonders zu bewerten sein.
Aber es muss zum Beispiel noch das Jahr 1990 unterdem Stichwort „Transparenz“ aufgearbeitet werden.Dies war das Jahr, in dem sich die CDU in einem Jahrum 34,8 Millionen DM entschuldet hat, um 82 Prozentinnerhalb eines Jahres. Am 1. Januar 1990 waren esnoch 42,5 Millionen DM Schulden, am Ende des Jahres7,7 Millionen DM Schulden. Der Wahlkampf im verein-ten Deutschland ist von der CDU um 36,1 MillionenDM billiger durchgeführt worden als der Wahlkampf1987. Wenn man nicht an Wunder glaubt, muss man sa-gen: Auch das bedarf noch der Aufklärung. Da stimmtetwas nicht, meine Damen und Herren.
Schauen wir uns einmal an, was der damalige Gene-ralsekretär Volker Rühe dazu gesagt hat. Ich möchte ihnzweimal zitieren. Volker Rühe sagte am 11. März 1992,als er darauf angesprochen wurde: Ich hätte eigentlichöffentliches Lob dafür verdient, dass ich die Überschul-dung der Partei zurückgeführt habe.
Dr. Klaus W. Lippold
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8052 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Am 30. November 1999 sagte Volker Rühe: Ich hatte inmeiner Zeit als Generalsekretär keinen Überblick überdie Finanzen und somit auch keine Verfügungsgewalt.
Es wird noch zu klären sein: War der Herr nun Generalund wusste alles, oder war er Sekretär und wusstenichts?
Nun höre ich – das geht ja auch Rühe an –, die WahlIhres Fraktionsvorstandes solle möglicherweise dochnicht nächsten Dienstag stattfinden, sondern eine Wochespäter. Ergänzend dazu lese ich, dass Rühe für Eventua-litäten zur Verfügung stehen könnte.
Den können Sie jetzt schon nehmen, der wird inSchleswig-Holstein nicht gebraucht. Das darf ich Ihnenversprechen.
Der Streit um die Termine in den letzten Stunden machtdeutlich, dass die Grabenkämpfe bei Ihnen fröhlich wei-tergehen. Das werden Frau Merkel und Herr Merz nochmerken. Man kann in Anlehnung an ein altes Wort nursagen: „Merzlein, du gehst einen schweren Gang!“.
Viertens. Demokratie braucht Parteien. Affären wi-derlegen das nicht. Politische Parteien haben die Mög-lichkeit, Interessen zu bündeln, Dialoge zu führen,Kompromisse zu finden und politische Arbeit zu organi-sieren. Ich wende mich gegen jene im Land, die – mitmancher Larmoyanz – Politikverdrossenheit verkünden.Richtig ist: Es gibt guten Grund, selbstkritisch zu sein,auf Ihrer Seite in besonderer Weise. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen – ich wendemich an alle in diesem Haus –, wir müssen als politischeParteien auch deutlich machen, dass wir mit dem nöti-gen Selbstbewusstsein darauf hinweisen können: Weilwir uns bemühen und weil wir uns in dieser Gesellschaftengagieren, ist die Demokratie in diesem Lande möglichgeworden. Da schließe ich manche von denen mit ein,die zu den 630 000 Mitgliedern der CDU gehören. Den-jenigen, die draußen herumlaufen und sich das Maul zer-reißen, anstatt mitzuhelfen, muss ich sagen: Derjenige,der sich anstrengt, ist auch dann, wenn er Fehler macht,gerechtfertigter als derjenige, der von ferne aus demBusch heraus das ignoriert, was Politik versucht. Des-halb braucht Demokratie Parteien, jetzt und in Zukunft. Und abschließend: Politik in demokratischen Parteienmacht sogar Spaß – ich glaube, im Augenblick uns mehrals Ihnen. Aber das kann ich Ihnen nicht ersparen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Dr. Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Ichglaube nicht, dass diese von der Tonlage des Wahlkamp-fes geprägte Debatte geeignet ist, das Vertrauen derBürgerinnen und Bürger in diesen Zeiten zurückzuer-obern.
Ich glaube, dass es ein großer Fehler ist, wenn auf dieseArt und Weise eine Debatte entsteht, von der die Men-schen den Eindruck gewinnen müssen: Es geht lediglichdarum, den Splitter im Auge der anderen Parteien zufinden.Wir, die wir hier gemeinsam Verantwortung tragen,müssen meiner Meinung nach begreifen, dass das Anse-hen der deutschen Parteien – und zugleich das Ansehender Politik insgesamt – in großer Gefahr ist. Ich habe dieSorge – und ich denke, viele von Ihnen teilen, jenseitsdes Wahlkampfes, diese Sorge –, dass aus den derzeiti-gen Affären zunächst eine Glaubwürdigkeitskrise er-wächst und irgendwann eine Krise der demokratischenInstitutionen erwachsen kann. Das ist die Aufgabe, diewir hier haben: den Menschen zu sagen, dass wir alsParlamentarier bemüht sind, jenseits der Parteitaktik zurAufklärung dieser Affären und zur Transparenz beizu-tragen. Deshalb dürfen wir die Vorkommnisse nicht fürkleine parteitaktische Manöver missbrauchen. Es gehtvielmehr darum, dass die Bürgerinnen und Bürger wie-der zur Wahl gehen wollen. Dazu bedarf es aber Partei-en, die den Eindruck erwecken, dass sie um Aufklärungbemüht sind.
Die Tatsache, dass diese Affären aufgedeckt werden, istkein Zeichen für das Versagen der Demokratie, es ist einZeichen für das Funktionieren von Demokratie.Die Spendenaffäre oder die Roter-Filz-Affäre in Düs-seldorf oder die Mandatsträgeraffäre im Zusammenhangmit der Finanzierung Ihrer Partei sind in meinen Augenkein Anlass zu Triumphgeheul und zur Schadenfreude.
Ich kann für meine Partei sagen: Unsere Kassen sindgewiss nicht voll, aber sie sind transparent. Wir sind alsF.D.P. zwar nicht belastet, aber wir sind nicht froh da-rüber, dass dies bei den anderen Parteien der Fall ist.Denn ich glaube, dass keine Partei von diesen Affärenprofitieren wird. Das Ansehen der Politik insgesamtnimmt Schaden.
Sie vergrößern den Schaden, wenn Sie in diesem Hauseein reines Wahlkampfmanöver veranstalten.Franz Müntefering
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8053
Herr Schäuble hat gestern eine, wie ich finde, honori-ge Erklärung abgegeben. Er hat gesagt:... ohne einen sichtbaren, also auch personellenNeuanfang sich die Union nicht aus der Umklam-merung dieser Krise befreien kann. Das waren die Worte von Wolfgang Schäuble. Er hatdamit Maßstäbe gesetzt und Konsequenzen aus Fehlver-halten gezogen. Dieser Maßstab ist auch für andere bei-spielgebend. Diese Maßstäbe sollten für alle gelten. Fürmeine Fraktion im Deutschen Bundestag füge ich hinzu:Dieses gilt auch für den hessischen MinisterpräsidentenRoland Koch.
Die Koalition von F.D.P. und CDU in Hessen hat ei-nen klaren Wählerauftrag. Diesen Wählerauftrag wollenwir erfüllen. Mit einem Ministerpräsidenten Koch, derdie Unwahrheit gesagt und wissentlich einen falschenRechenschaftsbericht abgegeben hat, wird weitererSchaden für die Glaubwürdigkeit der Politik eintreten.Herr Schäuble musste sich gewiss nicht mehr vorwerfenals Herr Koch. Herr Koch sollte genauso konsequentund honorig handeln.
Wir Liberalen im Deutschen Bundestag halten ausdiesem Grunde einen Wechsel des Regierungschefs inHessen für notwendig. Dabei geht es längst nicht nur umdie Angelegenheit einer Partei. Es geht um das Ansehender Politik und der demokratischen Institutionen insge-samt. Wenn wir nicht Acht geben, sind wir sehr schnellauf einer schiefen Bahn. Erst ist es eine Partei, dann istes eine andere Partei, in Düsseldorf mit rotem Filz, dannist es die nächste Partei, und irgendwann ist die Parteider Nichtwähler die größte Partei in Deutschland. Dasgilt es zu verhindern und das kann man nur, wenn manwirklich die gleichen Maßstäbe bei allen anlegt. Meine Damen und Herren, ich will Ihnen sagen, wasmich ärgert – Sie von den Grünen haben diese Debattebeantragt –: Ich habe den Eindruck, die Grünen fragennicht danach, was sie zur Bewältigung der Krise derDemokratie tun können, sie fragen nur, was die Kriseder Demokratie für sie tun kann, und das ist falsch. Dasist nicht gut.
Wir sind sehr schnell beieinander, wenn wir darübersprechen, dass die Losung in diesen Tagen Klarheit undWahrheit heißt. Das gilt für alle, das gilt selbstverständ-lich auch für den amtierenden Bundespräsidenten.
Ich glaube, es geht weniger um die Fragen, die ge-stellt, und die Vorwürfe, die in der Öffentlichkeit ge-macht werden. Ich glaube vielmehr, dass die meistenBürgerinnen und Bürger bereit wären zu akzeptieren,dass Fehler gemacht worden sind, wenn sie wenigstenszugegeben würden. Die Taktik des Verschleierns – eswird immer nur so viel zugegeben, wie sowieso heraus-kommt – ist das Problem, und das muss auch durch per-sonelle und persönliche Konsequenzen gelöst werden.
Ich teile die Auffassung, dass ein Abgeordneter die-ses Hauses, der Mitglied eines Verfassungsorgans istund sich im Zustand des permanenten Verfassungs-bruchs befindet, wohl kaum parlamentarische Arbeitleisten kann. Es handelt sich hier nicht um irgendeinePetitesse, es handelt sich um Art. 21 unseres Grundge-setzes.
Das Transparenzgebot – das müssen wir zur Kenntnisnehmen – ist die Folge von Fehlentwicklungen in derWeimarer Republik gewesen. Wir reden hier über einungeheuer hohes Gut. Dieses Gut, nämlich das Ansehender Politik, die bewährte Demokratie zu verteidigen,
ist die Aufgabe, die an dieses Hohe Haus gestellt ist. Esist ganz gewiss nicht Aufgabe, diesen oder jenen klein-karierten Vorteil in einer solchen Debatte zu erlangen.Wir nehmen alle Schaden in diesem Hause, wenn dieDebatte auf diese Art und Weise weitergeführt wird.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Dietmar Bartsch.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! Im Zusammenhang mit demgrößten Spendenskandal in der Geschichte der Bundes-republik noch von einem möglichen Schaden für dieDemokratie zu sprechen ist meines Erachtens nicht an-gemessen. Sieht man die der CDU nachgewiesenen Ver-stöße gegen Recht und Gesetz einerseits und das latenteUnrechtsbewusstsein, das auch Herr Lippold ausge-drückt hat, andererseits, kann es nur einen Schluss ge-ben: Die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschlandhat Schaden genommen. Wir haben eine Krise des parlamentarischen Systems,wir haben eine Krise des Parteiensystems, wir haben ei-ne Staatskrise. Wer daran zweifelt, der schaue sich dasAgieren des ehemaligen Bundeskanzlers an, der die Ver-fassung bricht, der Gesetze bricht und keinerlei Konse-quenzen zieht; der schaue sich die Wahlen an, die amletzten Wochenende stattgefunden haben. Bei den Land-ratswahlen in Quedlinburg lag die Beteiligung bei unter20 Prozent und bei den Oberbürgermeisterwahlen inHalle bei knapp über 30 Prozent. Dr. Guido Westerwelle
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8054 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Die CDU sollte sich endlich darüber klar werden,dass die zu Tage getretenen Missstände zuerst Resultateines verheerenden Partei- und Demokratieverständ-nisses sind und erst in zweiter Linie auf das – allerdingsgrandiose – Fehlverhalten Einzelner zurückzuführensind. Herausgefordert sind allerdings, wie Herr Wester-welle richtig sagte, alle demokratischen Parteien. Her-ausgefordert ist zuallererst die CDU. Machen Sie denMenschen in diesem Land glaubhaft, dass Sie für denungeheuren Schaden, den Sie angerichtet haben, gerade-stehen wollen.
Verzichten Sie auf juristische Winkelzüge gegenüberdem Bescheid des Bundestagspräsidenten! Das Aussit-zen war ein Markenzeichen jenes Systems, das Sie vor-geben überwunden zu haben.
Überzeugen Sie die Öffentlichkeit davon, dass Sieangesichts finanzieller Einschnitte Ihre politische Arbeitneu ordnen, ohne in Abhängigkeit von Großspenden zugeraten. Machen Sie sich gemeinsam mit allen Fraktio-nen dieses Hauses Gedanken darüber, wie die unheilvol-le Verquickung von Politik und Geld, von Politik undWirtschaft beendet wird. Geben Sie den Weg für Neu-wahlen in Hessen frei!
Es ist doch in der Tat bemerkenswert, dass eine schmut-zige politische Kampagne in Hessen mit schmutzigemGeld geführt worden ist. Bei der Hessenwahl ist gegendas Prinzip der Chancengleichheit verstoßen worden.Die Landesregierung hat sich selbst die Vertrauens-grundlage entzogen. Stellen Sie Aufklärung vor Macht-erhalt! Das gilt natürlich auch für die hessische F.D.P.
Die Stellung zu Neuwahlen in Hessen ist in gewissemSinne eine Nagelprobe für die Demokratie.
– Ja, das sagen wir. Man kann gut dazulernen. Die Veränderung der Mehrheitsverhältnisse – um dasauch zu sagen, Frau Müller – kann natürlich Resultatvon Neuwahlen sein, aber nicht das Motiv dafür, was dazu geschehen hat. Letztlich ist ganz klar: Wir alle sind gefordert. Esgeht um die politische Moral, es geht um Glaubwürdig-keit, es geht um das Vertrauen der Bürgerinnen undBürger. Weitreichende Konsequenzen stehen auf derTagesordnung, aber einige Schritte sollten ohne Zeitver-zug gegangen werden.Das Parteiengesetz gehört auf den Prüfstand. DiePflicht zur Rechenschaftslegung ist zwingender auszu-gestalten, um dem verfassungsrechtlichen Transparenz-gebot gerecht zu werden. Verstöße müssen wirkungsvollgeahndet werden. Unzulässige Einflussnahmen juristi-scher Personen müssen strukturell ausgeschlossen wer-den.
Wir haben gestern auf einer Pressekonferenz unsereVorschläge für die Modifizierung des Parteiengesetzesvorgelegt. Die Berichtspflicht des Bundestagspräsiden-ten zu den Parteifinanzen sollte erweitert und öffentlichgemacht werden. Spenden juristischer Personen solltennicht mehr statthaft sein. Spenden natürlicher Personensollten begrenzt werden und die Publizitätsgrenze solltegesenkt werden. Nicht zuletzt sollte das Führen vonAuslandskonten für Parteien verboten werden.
– Ja, das sollte verboten werden. Dazu stehen wir. Schließlich ist ein sofortiger gemeinsamer Beitrag al-ler Fraktionen möglich, um ein Stück Vertrauen in dieDemokratie zurückzugewinnen. Die CDU sollte sich be-reit erklären, den vom Bundestagspräsidenten auferleg-ten Sanktionen ohne Wenn und Aber nachzukommen.Alle Fraktionen – letztlich die Parteien – sollten gemein-sam entscheiden, von diesen Geldern nicht zu profitie-ren, sondern sie dem Gemeinwohl zuzuführen. Wie wärees, wenn wir der Forderung von Arbeitsloseninitiativennachkämen und diese Mittel für eine aktive Beschäfti-gungspolitik einsetzten? Mir ist klar, dass die Mehrheit in diesem Hause demnur eingeschränkt Folge leisten kann. Vielleicht könnenSie aber dem Neujahrsgebet des Pfarrers von St. Lam-berti in Münster folgen, der gesagt hat: Herr, lasse die Leute kein falsches Geld machen,aber auch das Geld keine falschen Leute. Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Bartsch, dies war Ihre erste Rede hier im Plenum des
Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen möchte ich Sie dazu herzlich beglückwün-
schen.
Nächste Rednerin in dieser Debatte ist Kollegin Rita
Streb-Hesse für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Der Redebeitrag des Kollegen Lippold aus Hessen, aber auch die Stellungnahme derCDU über Frau Merkel zu der Strafe, die das Parteien-gesetz vorsieht, hat gezeigt – ich bedauere, das so sagenDr. Dietmar Bartsch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8055
zu müssen, weil ich heute insbesondere aufgrund desRücktritts Ihres Partei- und Fraktionsvorsitzenden,Herrn Schäuble, gern anders geredet hätte –,
dass die Aufklärung weder in Ihren Köpfen stattgefun-den hat noch dass Sie bis heute bereit sind, irgendeineArt von Verantwortung zu übernehmen.
Das zeigt sich besonders deutlich dann, wenn – sicher-lich zu Recht – darauf hingewiesen wird, dass es auchbei anderen Parteien Schwierigkeiten gibt. Aber Sie sindsich bis heute nicht über die Dimension Ihres Gebarensim Klaren; denn Mitglieder Ihrer Partei haben einenRechtsbruch und einen Verfassungsbruch begangen. Siehaben den Wettbewerb der Parteien – ein wichtiges Element – bis zur totalen Verzerrung verkommen lassen.
Sie räsonnieren über 41,3 Millionen DM und bezwei-feln die Rechtmäßigkeit dieser Summe. Sie wissen of-fenbar nicht, dass sich allein die Schwarzgelder in Hes-sen, deren Existenz scheibchenweise enthüllt worden ist,deutlich auf diese Summe belaufen. Ich möchte Ihnendas vorrechnen: Es wurden 22 Millionen DM in dieSchweiz gebracht. Sie sollten 1983/84 vor den Folgendes Parteiengesetzes in Sicherheit gebracht werden. Dashat der ehemalige Finanz- und Innenminister, HerrKanther, im Januar offenbart.
24,3 Millionen DM sind zurückgeflossen, aber nicht auflegalem Weg, sondern als Vermächtnisse, Darlehen,Spenden und Zuwendungen, und zwar über eine höchstdubiose Stiftung namens Zaunkönig in Liechtenstein.
– Kollegin Blank, ich zitiere nur aus Aufklärungsberich-ten der hessischen CDU, nicht aus eigenen Quellen;denn diese sind mir nicht zugänglich.
Am meisten davon profitiert hat der FrankfurterCDU-Kreisverband mit seiner damaligen Vorsitzendenund heutigen Oberbürgermeisterin, Frau Petra Roth.Hier werden alleine von der CDU 9,1 Millionen DM be-nannt. Man schämt sich noch nicht einmal, das Ver-schwinden eines Defizits von 3 Millionen DM in den ei-genen Kassen mit dem Hinweis auf Vermächtnissedeutschstämmiger Juden zu erklären und dies auch nachWochen nicht richtig gestellt zu haben.
Dies ist schon ein Skandal im Skandal und zeigt einHöchstmaß an politischer Verantwortungslosigkeit.
Es gibt auch eine wundersame Geldvermehrung: Von22 Millionen DM – 24 Millionen DM sind zurückge-flossen – lassen sich noch immer 17 Millionen DM aufSchweizer Konten finden. Meine Damen und Herrenvon der CDU, wenn Sie Probleme mit der Rückzahlunghaben, dann wenden Sie sich an die hessische CDU; dortgibt es noch einiges zu holen.
Seit In-Kraft-Treten des Parteiengesetzes ist von derCDU in Hessen eine Parteienfinanzierung betriebenworden, die selbst Roland Koch als „ausgeklüngeltes“,geheimbündlerisches System bezeichnet. Es kommt noch viel dicker. Wenn man nachfragt:„Wer trug denn die Verantwortung?“, dann taucht stän-dig das Bild der drei Affen auf. Keiner hat etwas ge-wusst; niemand hat gefragt; niemand wurde misstrau-isch, nicht der CDU-Geschäftsführer, nicht die jeweili-gen Vorsitzenden und auch nicht die Parteivorstände. Esgibt ein System der organisierten Verantwortungslosig-keit in Frankfurt bzw. in Gesamthessen, leider auch inBerlin. In Hessen sollen allein ein Edelmann, ein Sau-bermann und ein Geldmann ohne Kompetenz und ohneBefugnisse entschieden haben, wer wann was an Zu-wendungen erhielt. Rupert von Plottnitz hat zu Recht imHessischen Landtag gesagt: Das waren wohl keinefeindlichen Agenten im Netz der CDU. Sie sind nichtOpfer von Machenschaften; vielmehr müssen Sie sichIhrer Verantwortung endlich bewusst werden.
Man darf nicht bei der notwendigen Aufklärung ste-hen bleiben. Sie gestehen wohl auch zu, dass diese Auf-klärung ein Verdienst der Presse und der Parlamente warund noch immer ein Verdienst der Justiz ist. Ein solchesvon Ihnen praktiziertes und geduldetes Verhalten über-trifft bei weitem die Dimension aller bisher bekanntenpolitischen Skandale. Es erfordert nicht erst seit gesternKonsequenzen in Ihrer und durch Ihre Partei – auch inHessen und vielleicht auch in Frankfurt.Der „brutalmöglichste Aufklärer“ Herr Koch darf beider eigenen Aufklärung nicht Halt machen.
Er hat selbst zugegeben, vor Weihnachten den Rechen-schaftsbericht seiner Partei als Landesvorsitzender ge-fälscht zu haben, indem er Schwarzgeld als Kredit de-klarierte. Dies hat er dem Parlament und der Öffentlich-keit über Wochen verschwiegen, obwohl er mehrfachdie Möglichkeit gehabt hat, anders zu handeln.Das ist keine Dummheit mehr. Und Kolleginnen undKollegen von der F.D.P., siehe Frau Wagner, es ist nichtnur ein Fehler, sondern auch eine bewusste Täuschung.Sogar Herr Stihl sagt: Das ist eine Lüge.
Rita Streb-Hesse
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8056 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Frau Kollegin, Sie
haben Ihre Redezeit schon um eine Minute überschrit-
ten. Ich bitte Sie, jetzt zum Schluss zu kommen.
So gilt für Roland Koch
jetzt das, was er selbst 1994 als Maßstab für sein Han-
deln gegenüber der Vorgängerregierung formuliert hat:
„Diese Landesregierung hat den Anspruch verwirkt, den
Menschen Vorbild zu sein und sie zu führen.“ Lassen
Sie mich zum Schluss ergänzen: Es ist nicht mit dem
Rücktritt des Ministerpräsidenten allein getan.
Zu viele Mitglieder der Landesregierung sind involviert.
Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin
Streb-Hesse, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Ich darf Ihnen dazu gratulieren.
Nun hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege
Hartmut Schauerte das Wort.
Herr Präsident!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Müntefe-ring, ich möchte mich zu Anfang etwas mit Ihnen be-schäftigen.
Wir haben eine wirklich schwierige Krise. WolfgangSchäuble hat gestern und vorgestern für sich unendlichschwere Entscheidungen treffen müssen. IhrBundeskanzler hat – das konnte man heute in allenZeitungen lesen – Worte gefunden, um ihm gegenübersein Mitgefühl und seine Betroffenheit zum Ausdruck zubringen. Und Sie halten hier eine Rede, als wäre nichtspassiert – in einer besserwisserischen, pharisäerhaften,unüberlegten Art,
dass ich nur sagen kann: Das ist eine wirklich doppelteMoral, die nicht weit trägt. Das wird Ihnen nicht gut be-kommen.
Ich bin wirklich von dem betroffen, was mit Finanzenin unserer Partei passiert ist.
Aber, Herr Müntefering, ich habe wieder ein bisschenVertrauen, weil ich erkenne, dass wir uns wirklichernsthaft mit der Lösung dieses Problems beschäftigen.
Das macht mir langsam wieder etwas Mut. Gleichzeitigbin ich aber auch betroffen, dass Sie hier so tun, als hät-ten Sie kein einziges Problem in dieser Richtung. Dasmacht mich in einer Weise betroffen, die Sie sorgfältigstudieren müssten.
Herr Müntefering, es ist eigentlich ärgerlich, dass wirgegeneinander aufrechnen müssen; denn wir sollten unsum die Sache kümmern. Aber wer so pharisäerhaft jedeeigene Fehlentwicklung leugnet, dem darf man das nichtdurchgehen lassen und den muss man mit seiner doppel-ten Moral stellen.
Dann fangen wir doch einmal an. Herr Nau hat da-mals 6,7 Millionen DM abgegeben. Das Gesetz galtschon; es war nur noch keine Strafe da. Niemand redetdarüber. Der Herr Maschmeyer hat eine Spende in Höhevon 1 Million DM gezahlt. Das sollte anonym gesche-hen – eine klare Umgehung der Parteienfinanzierung.Um für die Zukunft zu verhindern, dass so etwas wiederpassieren kann, müssen Sie einmal bei sich selbst nach-sehen.Im Land Nordrhein-Westfalen sind 2,5 Millionen DMfür Flugkosten ausgegeben worden, die im Wesentlichenprivat oder parteipolitisch bedingt waren. Das ist eineverdeckte Parteienfinanzierung. Das muss aufgeklärtwerden.
Das hat doch nichts mit gleichen Chancen zu tun.
Es gibt sogar den Verdacht, dass hier tatsächlich Beste-chung stattgefunden hat.
Ich will Ihnen das erklären: Die WestLB wollte dieWohnungsbauförderungsmittel des Landes für sich. DasLand hat diese Mittel verschenkt.
Als Belohnung dafür, dass das Kabinett dem zustimmte,durfte es fliegen, wann und wohin auch immer es wollte.Die EU aber hat gesagt: Ihr habt 1,5 Milliarden DM ver-schenkt, ihr müsst sie zurückfordern. So verhält es sich.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat aufgrund dieserVerflechtungen große Schwächen, Herr Müntefering.Um Ihren Landesverband – Sie sind ja auch Generalsek-retär der gesamten Partei – kümmern Sie sich nicht einJota. Clement geht hin und sagt, es sei eine Luftnummer.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8057
Er hat erklärt, eher wolle er sich erschießen, als HerrnSchleußer zu entlassen.
Wir müssen uns jetzt Sorge um die Gesundheit vonHerrn Clement machen. So klären Sie auf.
Uns meinen Sie vorwerfen zu müssen, wir machtenzu langsam. Sie machen sich jetzt lustig darüber, dasswir nach der Entscheidung von Wolfgang Schäuble sa-gen, Gründlichkeit in der Neubestimmung unserer Per-sonalstruktur geht vor Schnelligkeit.
Das ist doch unter Niveau, Herr Müntefering.
Man braucht doch, wenn 50 oder 60 Positionen neu mitLeuten zu besetzen sind, die für zwei bis drei Jahrewichtigste Ämter in diesem Staat übernehmen sollen,eine Phase der Überlegung. Wer sich darüber lustigmacht, ist doch im Unrecht. Geben Sie es doch zu, stel-len Sie Ihr Lachen ein wenig ein und werden Sie etwasnachdenklicher. Gehen Sie ein wenig in sich und fragenSie sich, ob Sie so mit dem politischen Gegner umgehenkönnen.
Wir wollen diese Dinge ändern, Herr Müntefering. Auch etwas anderes tut weh. Warum ist denn derBundespräsident, der sonst in solchen Fragen moralischeKompetenz hat, genau bei diesem Thema so still?
Das hat doch seine ganz besonderen Gründe. Auch Siemüssen bereit sein, darüber noch einmal selber nachzu-denken. Ich sage daher: Wir haben genug zu tun. Wir müssenein neues Parteienfinanzierungsgesetz erarbeiten undwirklich klare Strukturen herstellen.
Wir müssen zum Beispiel überlegen, ob es angesichtsder föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschlandwirklich richtig ist, auf Dauer jedes Verhalten einesKreisverbandes oder eines Landesverbandes demgesamten Bundesverband anzulasten.
Lasst uns darüber einmal reden. Nicht mit Blick auf dieVergangenheit, wohl aber auf die Zukunft. Ich glaubenämlich, dass es eine wichtige Frage ist, ob wir das rich-tig miteinander organisiert haben. Wir haben noch genug aufzuräumen. Für Häme undFingerzeigen auf andere Leute gibt es wirklich keinenAnlass. Ich entschuldige mich dafür, dass ich es teilwei-se musste, aber Sie haben eine unerträgliche Vorlage da-für geliefert.Ich bedanke mich.
Ich gebe das Wortdem Kollegen Matthias Berninger für Bündnis 90/DieGrünen.
noch nicht allzu lange her, da hat ein Bun-desinnenminister aus meiner Sicht Maßstäbe für die Ü-bernahme von politischer Verantwortung gesetzt. Er isthier im Raum. Es war Herr Seiters. Er hat für das Vor-gehen in Bad Kleinen die politische Verantwortung ü-bernommen und ist deshalb zurückgetreten.
Seitdem hat sich einiges getan. Sein Nachfolger, derschwarze Sheriff Herr Kanther, hat sich als wahrer Ex-perte für Geldwäsche im Ausland im Amt des Innenmi-nisters profilieren können.
Er hat uns hier über Jahre mit seiner Null-Toleranz- undLaw-and-Order-Politik genervt und genau das Gegenteilgemacht.
Der Dritte im Bunde ist der, der sich so gerne alshundertprozentiger Kohlianer bezeichnet hat: RolandKoch. Dieser Roland Koch hat vor nicht mehr als einemJahr in Hessen eine Landtagswahl gewonnen. Er hat diese Landtagswahl aus vielen Gründen gewonnen. Erhat sie unter anderem deshalb gewonnen, weil die jun-gen Menschen gesagt haben: Wir wollen lieber diesenRoland Koch als die rot-grüne Koalition. – Das hat unssehr geschmerzt. Nur, was mich wundert, ist, dass bei Ihnen keinerdarüber nachdenkt, dass genau diese jungen Menschen,die ihre erste Stimme Herrn Koch gegeben haben, heutefordern, sie wollten ihre Stimme zurück, dass Sie ankeiner Stelle, nicht ein einziges Mal auf die Idee kom-men, darüber nachzudenken, was es in der Demokratiefür eine Erfahrung ist, wenn man jemanden wählt, derzunächst mit Schwarzgeld seinen Wahlkampf bezahlthat und der dann bei der Übernahme politischer Verant-wortung Maßstäbe setzt, die nichts anderes sind als derBeweis für die Verrottung des politischen Systems.
Meine Damen und Herren, Herr Koch hat nicht nursystematisch getäuscht und Herr Koch war nicht nur derHartmut Schauerte
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8058 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Meister der Salamitaktik. Dafür will ich Ihnen ein Bei-spiel nennen; denn es gibt dafür sehr viele Sachstands-darstellungen der CDU. Eine betrifft den FallReischmann. Dieser Mitarbeiter der CDU hat 1 Mil-lion DM veruntreut.
– Lassen Sie mich das erst einmal ausführen. - Dazu gibtes folgende Sachstandsdarstellung vom 8. Februar diesesJahres seitens des Herrn Koch – das ist noch nicht langeher –: Am 14. August 1992 gab Reischmann ein notariel-les Schuldanerkenntnis ab, in dem ein Betrag von1 Million DM als Schadenssumme genannt wurde.Das Schuldanerkenntnis machte– jetzt kommt es – den raschen Zugriff auf die VermögenswerteReischmanns möglich. Als Treuhänder für denLandesverband trat dabei die Firma Weyrauch &Kapp GmbH auf. Was stellt sich heraus? Nicht einmal eine Woche spä-ter veröffentlicht der „Spiegel“, dass man nicht etwa aufdas Vermögen von Herrn Reischmann zugegriffen hat,sondern dass man ihm weitere 1,2 Millionen DM gezahlthat. Warum hat man das getan? Weil man Schweigegeldzahlen wollte.
Warum sagt Herr Koch das nicht eine Woche vorher?Warum stellt er sich nicht hin und sagt die Wahrheit?Warum versucht er, die Öffentlichkeit wiederholt zutäuschen? Weil er Roland „Pattex-Koch“ heißt, weil eram Amt des Ministerpräsidenten, an seinem Postenklebt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, Siehaben in dieser Woche vorexerziert, dass auch Sie damitnicht mehr zufrieden sind.
Auch heute ist die Zahl der Kritiker groß. NorbertLammert sagt, Roland Koch sollte besser zurücktreten.Christa Thoben sagt, Roland Koch sollte besser zu-rücktreten. Rita Süssmuth sagt: Ich würde Roland Kochnahe legen, zurückzutreten.
Nichts dergleichen tut dieser Mann. Denn er ist ebendoch der „Pattex-Koch“. Wenn Herr Lippold sich hieraufregt und einerseits die Verflechtungen von Posten inder Wirtschaft und andererseits von Posten in der Politikanspricht, dann ist das schon ein starkes Stück für je-mand, der seit Jahren gleichzeitig Verbandsfunktionär inder Wirtschaft und Bundestagsabgeordneter ist.
Er hätte besser auf die beiden Wirtschaftskapitäne, näm-lich auf Herrn Stihl und Herrn Henkel vom BDI hörenmüssen, die auch sagen: Roland Koch muss zurücktre-ten. Nun komme ich zu dem entscheidenden Punkt dieserAktuellen Stunde, zum Verhalten der F.D.P. Herr Kol-lege Westerwelle, ich verstehe, dass Sie sich sozusagenals Lautsprecher des politischen Anstandes hier hinstel-len und dass Sie hier als Übervater, der über politischenAnstand referiert, sprechen,
ohne auf das Thema F.D.P. deutlich einzugehen. Ich be-zweifle, dass die Koalition in Hessen noch über Legiti-mität verfügt.
Dies bezweifle ich genauso wie die vielen jungen Wäh-ler, die ihre Stimme in Unkenntnis der jetzigen Situationgegeben haben. Ich bezweifle, dass eine Kampagne ge-gen mehr Rechte für junge Migrantinnen und Migrantennoch einmal einen solchen Erfolg, wie dies vor einigenMonaten der Fall war, hätte angesichts dessen, dass wiruns beim Staatsbürgerinnen- und Staatsbürgerrechtdurchgesetzt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., ich be-zweifle, dass Sie hier als Saubermänner und Moralisie-rer auftreten können, solange sich Frau Wagner und diehessische F.D.P. gegen Neuwahlen sperren. Ich halte dasfür ein ziemlich komisches Vorgehen.
Für Hessen muss es aus drei Gründen einen Neuan-fang geben: Es muss ihn geben, weil die CDU seit Jah-ren Schwarzgelder im Ausland parkt, weil sie noch heu-te stolz ist, dort diese Vermögenswerte zu haben,
und weil sie die Öffentlichkeit seit Jahren getäuscht hat.Die Regierung muss zurücktreten
– ich weiß nicht, warum Sie so aufgeregt sind – , weilder Ministerpräsident, der so getan hat, als wüsste er vonnichts, von diesen Dingen nicht nur frühzeitig wusste,sondern weil er auch als Fraktionschef zusammen mitseinem Generalsekretär Jung zumindest für den FallReischmann selbst die Verantwortung getragen hat.Denn dabei ging es zum Teil um Fraktionsgelder und erwar Fraktionschef. Matthias Berninger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8059
Die hessische Regierung muss zurücktreten, weil derNeuanfang, der durch solche Aktionen wie durch die desRücktritts von Herrn Schäuble möglich wird, nur danneine Chance hat, wenn man für klare Verhältnisse sorgt. Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkungmachen: Nicht Herr Koch, sondern Herr Schäuble, derjetzt zurückgetreten ist, hat sich damals für diesen un-glaublichen Ausfall des Prinzen zu Sayn-Wittgensteinentschuldigt, der gesagt hat, die Vermächtnisse stamm-ten von jüdischen Mitbürgern.
Nicht Herr Koch, sondern Herr Schäuble hat sich zuerstentschuldigt. Das hat mir sehr imponiert.
– Später hat sich auch Herr Koch entschuldigt. Aber amTag der Pressekonferenz war davon keine Rede.Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.Herr Schäuble ist unter dem Strich wegen 100 000 DMzurückgetreten. Wenn Sie allein die 2,2 Millionen DMnehmen, deren Herkunft noch unsicher ist, dann kom-men Sie zu dem Ergebnis, dass Herr Koch 22-mal zu-rücktreten müsste. Einmal würde mir schon reichen.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Gerald Weiß.Gerald Weiß (CDU/CSU): Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ichmöchte mich mit einigen Debattenbeiträgen auseinandersetzen, aber nicht mit dem von Herrn Bartsch von derPDS. Es wäre ja noch schöner, wenn sich die PDS alsHüterin der parlamentarischen Demokratie hier aufspie-len könnte und eine vermeintlich blütenweiße Westenachweisen wollte. Das darf nicht sein.
Herr Berninger, was Sie eben als Ansammlung vonVerleumdungen und Lügen geboten haben, ist unakzep-tabler Tobak.
Ich mache diese Aussage an einigen Beispielen fest. Mi-nisterpräsident Koch hat sich beispielsweise sehr wohlbei der jüdischen Gemeinde dafür entschuldigt, dassPrinz Wittgenstein die jüdischen Erblasser als vermeint-liche Geldgeber in Anspruch genommen hat.
So billig kommen Sie mir nicht davon: Erst Behauptun-gen aufstellen, diese dann aber nicht beweisen können.Auf diese Weise können wir in der jetzigen Debattenicht verfahren.
Frau Streb-Hesse, zu dem angeblich gefälschten Re-chenschaftsbericht.
Wir haben inzwischen Rechtsgutachten und Wirt-schaftsprüfergutachten vorliegen. Herr Koch hat vondem Geldzufluss von einem Anderkonto, das er nichtkannte, nichts gewusst.
Um diese Zahlung zurückweisen zu können und diesesGeld als Eigentum der hessischen Union abwehren zukönnen, hatte er rechtlich keine andere Wahl, als diesesGeld als Darlehen zu verbuchen.
Bei seinem Wissensstand am Ende des Jahres und beiAbgabe des Rechenschaftsberichts blieb keine andereMöglichkeit übrig. Lesen Sie die entsprechenden Gut-achten! Wir lassen Roland Koch von Ihnen nicht in dieEcke der Verleumdung und der Denunzierung rücken.
Frau Streb-Hesse, zu welchen Plattitüden und zu wel-chen maßlosen Anschuldigungen – diese absolute Maß-losigkeit ist ja das Kennzeichen der Debatte – Sie grei-fen,
wird deutlich, wenn Sie von den Vorwürfen Verfas-sungsbruch, Staatskrise und Demokratiekrise sprechen.
Wir verniedlichen nicht das Fehlverhalten und die Feh-ler Einzelner. Aber es ist doch keine Staatskrise, keineDemokratiekrise und kein Verfassungsbruch. Herr Isen-see hat Ihnen unlängst ins Stammbuch geschrieben, dasses diese Maßlosigkeit ist, die die Demokratie in derBundesrepublik Deutschland vergiftet.
Herr Berninger – Frau Müller, Sie haben sich vorhinähnlich ausgedrückt, – was ist denn das für eine Vorstel-lung, dass man in dieser Demokratie Stimmen kaufenkann?Matthias Berninger
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8060 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Wählerstimmen gibt es nicht für Geld; Wählerstimmengibt es für Argumente.
Wenn es Wählerstimmen für Geld gäbe, dann müsste jadie SPD die Wahl in Hessen gewonnen haben, weil sie 6 Millionen DM im hessischen Landtagswahlkampfausgegeben hat.
Die hessische Union hat aber nur 4 Millionen DM, or-dentlich finanziert, ausgegeben.
Wenn ich die Aktion gegen die doppelte Staatsbür-gerschaft und für Integration nehme, dann muss ich sa-gen – diese Feststellung ist richtig –, dass diese Aktionsehr viel mit dem Wahlerfolg zu tun hatte.
Was hat aber die hessische CDU angesichts dieserAktion gesagt? Lasst den monetären und den materiellenAspekt beiseite! Sie hat nur 230 000 DM aus demWahlkampfbudget umfinanziert. Wer diese Aktion großgemacht und ins Bewusstsein gerückt hat, waren man-che Medien und Sie selbst von der SPD und den Grünen,sodass diese Aktion zum Schluss wahlrelevant wurde.
Eigentlich haben wir Ihnen dafür zu danken.Der Kollege Schauerte hat sich vorhin verdienstvollmit dem Beitrag von Herrn Müntefering auseinander ge-setzt. Diese Einäugigkeit, diese Selbstgerechtigkeit istnur Ihnen, Herr Müntefering, zu Eigen. Das Kompli-ment muss man Ihnen schon machen. An allen jetzt imRaume stehenden Vorwürfen – Struck, Rau, Clement,Schleußer –, an allen diesen Fragestellungen vorbei, diesich letztlich auch an Sie richten, sich in der Attitüde desSaubermanns vor den Deutschen Bundestag zu stellen,ist schon eine unglaubliche Heuchelei, ein unglaublichesPharisäertum.
Und wenn Sie uns pathetisch sagen: Ihr dürft euchdiesen Staat nicht zu Eigen machen, dann halte ich Ih-nen vor, wie Sie das Bundesland Nordrhein-Westfaleneinschließlich WestLB vereinnahmt haben.
Dort haben Sie nach Gutsherrenart Mittel gebraucht, umnicht den Begriff des Missbrauchs zu verwenden. Washier abläuft, meine sehr verehrten Damen und Herren,diese Schlammschlacht gegen den - auch in der Aufklä-rung der Missstände – verdienstvollen Roland Koch, hatein einziges Ziel: Machtumverteilung. Hinter dieser Fra-ge steht die Machtfrage. Sie wollen im Bundesrat und inHessen Macht umverteilen, weil Sie eine andersfarbigeRegierung wollen.
Wir wollen die Farbe der jetzigen hessischen Regierung,weil diese eine leistungsfähige Landesregierung ist.Deshalb und auch um seiner Aufklärungsverdienste wil-len stellen wir uns vor Roland Koch, wie die F.D.P. inHessen auch.
Für die SPD-
Fraktion spricht der Kollege Bernd Reuter.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Ich will zunächst dieunverschämten Unterstellungen, die hier vom KollegenWeiß im Hinblick auf Johannes Rau vorgetragen wur-den, zurückweisen.
Ich kann mich nicht erinnern, dass seit Friedrich Ebertein amtierender Präsident in Deutschland so falsch an-gegiftet wurde, wie das hier geschehen ist.
– Ihr Gelächter ist schon in Ordnung. – Solange Sie sichhier so selbstgerecht wie Herr Weiß, Herr Lippold undHerr Schauerte hinstellen, so lange werden Sie nicht inder Lage sein, Ihre Probleme einer Lösung zuzuführen.
Meine Damen und Herren, welchen Schaden hat denndie Demokratie durch diese verwerflichen Taten, die beiIhnen begangen wurden, genommen? Es gibt einen Ver-lust an Glaubwürdigkeit in der Politik, Ihrer höchstenRepräsentanten. Aber am meisten ärgert mich, dass dieF.D.P. mit dranhängt. Das, was Herr Westerwelle hiervorgetragen hat, war ja alles sehr schön. Es hört sichimmer an wie das Wort zum Montag.
Am meisten ärgert es mich, dass die Frauen undMänner, die vor Ort treu und brav ihre Arbeit machen,jetzt alle in einen Sack mit denen gesteckt werden, diegegen Recht und Gesetz und gegen die Verfassung ver-stoßen haben. Das ist das Ärgerliche, auch in der CDU,meine Damen und Herren.Gerald Weiß
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8061
Ich sage Ihnen: Willy Brandt hat einmal ausgeführt:Demokratie ist keine Frage der Zweckmäßigkeit, son-dern der Sittlichkeit.
Seien Sie ruhig!
Meine Damen und Herren, ich komme ja nun ausHessen. Hessen ist ja die Schaltstelle der Bimbes-Schwarzkonten gewesen. Ich will auch hinzufügen: Ichwar derjenige, der am meisten mit Manfred Kanther zukämpfen hatte. Dazu möchte ich Ihnen auch einmal etwas sagen. Siehaben das seltene Talent entwickelt, sofort von der Tä-terrolle in die Opferrolle zu schlüpfen. Sie fühlen sichvon allen verfolgt, so ähnlich wie dies Manfred Kantherauch getan hat. Stellen Sie sich vor, meine Damen undHerren, er hat erklärt: Ich mache hiermit der Treibjagdein Ende und trete zurück. Ein unterfränkischer Kabaret-tist, Urban Priol, hat dazu ausgeführt: Das ist genau so,als wenn bei einer richtigen Treibjagd die Sau aus demUnterholz kommt und erklärt den staunenden Jägern:Jetzt ist die Treibjagd zu Ende. So mutet das an.
Dann will ich Ihnen noch sagen: Der spätere Minis-terpräsident Koch konnte seine unselige Unterschriften-kampagne nur machen, weil er wusste, dass er Geld imRücken hat.Ich kann Ihnen sagen, wo das Ganze seinen Anfanggenommen hat. Ich habe hier einen Brief: Seit Beginn der 80er-Jahre wütet in Mittelhessenein „kleiner Haider“ ...Der „kleine Haider“ hat auch einen Namen. Der heißtnämlich Irmer. Herr Reif feierte seinen fünfzigsten Ge-burtstag. Am 14. Januar 1999 begann in Mittelhessendiese Unterschriftenaktion. Bei dieser Geburtstagsfeierhat Herr Irmer Herrn Koch, der verspätet eingetroffenwar, als Hauptredner des Abends vorgestellt, hat gesagt,dass er in Sachen doppelte Staatsbürgerschaft der ersteSpitzenpolitiker sei, der sich hinter Wolfgang Schäublegestellt habe. Das heißt im Klartext: Wer ist denn HerrClemens Reif?
Clemens Reif ist der Schatzmeister, der Prinz Wittgen-stein abgelöst hat. Ich behaupte steif und fest: Die Her-ren wussten, wo das Geld ist. Sie waren deshalb willensund entschlossen, diese Kampagne zu führen. Ich hörevon Herrn Weiß immer, der brutalstmögliche Aufklärersei Koch. Meine Damen und Herren, ich erwarte von ei-nem Parteivorsitzenden, dass er aufklärt. Aber warumsagt er, er wolle dieses Geld nicht haben? Dann hätte eres zurückweisen müssen und nicht als Darlehen verbu-chen dürfen.
Wer einen Rechenschaftsbericht fälscht, kann nicht Mi-nisterpräsident bleiben.
Es geht nicht nur darum, meine Damen und Herren,so wie die F.D.P. sagt: Der Herr Koch muss weg. Esgeht auch nicht darum, dass uns die Farbe der Regierungnicht gefällt.
– Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Schauerte, bin ich einüberzeugter Demokrat.
Ich sage Ihnen: Ich bin der Meinung, dass die Wählerin-nen und Wähler von diesem Herrn Koch getäuscht wur-den und dass jetzt die Wählerinnen und Wähler ent-scheiden müssen, welche Regierung sie in Hessen habenwollen. Dann wird sich herausstellen, ob noch einmaljemand wie Herr Koch Ministerpräsident von Hessenwerden kann. Wer das Parlament und die Öffentlichkeitbelügt, muss seinen inneren Schweinehund überwindenund sagen: Ich trete zurück. Andere haben das vorge-macht.
Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist leiderzu Ende. Ich könnte Ihnen noch einiges aus dem schö-nen Hessen erzählen. Ich sage Ihnen: Kehren Sie in sich,räumen Sie auf! Wir sind gerne bereit hier mitzuwirken.
– Ihr Gelächter beweist mir, dass Sie noch nicht die Rei-fe haben, um die Dimension Ihrer moralischen Verwer-fung zu begreifen. Sie sollten sich als Demokraten ei-gentlich schämen.
Ich gebe das Wortdem Kollegen Wolfgang Bötsch von der CDU/CSU-Fraktion.
Bernd Reuter
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8062 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Den unterfränkischen Kaba-rettisten kenne ich persönlich. Er ist wirklich gut, auchwenn ich diese Aussage in diesem Zusammenhang nichtbegrüßen kann.
Frau Kollegin Müller, ich weiß nicht, wer Ihnen be-richtet hat, die Sitzung des Untersuchungsausschussesheute früh sei turbulent verlaufen.
Sie habe ich dort jedenfalls nicht gesehen, während ichals stellvertretendes Mitglied an der Sitzung vier Stun-den teilgenommen habe. Da war von Turbulenzen über-haupt keine Rede.
Nicht einmal Ihr Fraktionskollege Ströbele hat dort Tur-bulenzen angerichtet, obwohl er dafür immer ganz gutist. Sie sollten Ihren Informanten noch einmal fragen,auf was er sich bezieht. Von Ihnen hätte ich gerne noch etwas zu dem gehört,was der Kollege Westerwelle in einem Halbsatz ange-sprochen hat: Ihren Parteitagsbeschluss zu der Finanzie-rung der Fraktion oder der Partei aus Mitteln der Kos-tenpauschale.
Ich bin der Auffassung: Jeder sollte die Probleme in sei-nem eigenen Bereich selbst klären.
Probleme gibt es überall. Es gibt mehr oder weniger.Ich will sie nicht alle in gleicher Gewichtung darstellen.
Aber wenn jeder in seinem eigenen Bereich die Pro-bleme klärt – die CDU ist mittendrin –,sie zu klären danntun wir alle miteinander der Demokratie einen gutenDienst.
Denn eines steht fest: Die Vorgänge der letzten Wo-chen haben viele Bürger unseres Staates irritiert, verär-gert, bei vielen Diskussionen Zweifel und auch berech-tigte Kritik ausgelöst sowie die Sympathie für die eineoder andere Partei etwas anders gewichtet – zu IhrerFreude wahrscheinlich, Herr Generalsekretär –, als diesim letzten Jahr durch Wahlergebnisse zum Ausdruck ge-kommen ist.
Fest steht, dass es hierbei eigentlich bei niemandemetwas zu beschönigen gibt. Jeder der Beteiligten hat sichan Recht und Gesetz zu halten. Ich sage auch: Keiner istda gleicher als der andere. Ich meine, es ist selbstver-ständlich, dass jeder Betroffene die gesetzlich vorgese-henen Konsequenzen zu tragen hat, was aber auch be-deutet, dass die Anwendung von Sanktionen unpartei-isch zu erfolgen hat und das Parteiengesetz nicht derHebel dafür sein darf, andere, in Konkurrenz zur CDUstehende Parteien etwa auf Kosten der Union zu berei-chern,
Der Chef der Mittel verwaltenden Behörde DeutscherBundestag – so hat es der Bundestagspräsident in seinerPressekonferenz vorgestern selbst bezeichnet – hat dazuAusführungen gemacht, die ich jetzt nicht rechtlich be-werten will. Er war übrigens souveräner als manch ande-rer. Er hat gesagt, dass das rechtlich möglicherweise an-gegriffen werde, liege in der Natur der Sache. Aberwenn Sie so hehre Ziele verfolgen, wenn Sie so großzü-gig und großherzig sind, dann könnten Sie ja einmalüberlegen, ob Sie – ob das nun gesetzlich vorgeschriebenist oder nicht – den auf Sie entfallenden Anteil vielleichteinem guten Zweck zuführen. Sonst stehen Sie mögli-cherweise in dem Verdacht, aus der Misere der CDUselbst politischen Vorteil ziehen zu wollen.
– Ist es keine Misere? Herr Fraktionsvorsitzender, dasRechtsstaatsverständnis der Grünen ist heute vielleichtbesser, als es früher war, aber dazu sollten Sie keine all-zu umfangreichen Ausführungen machen.
Ich sorge mich, dass der breite Eindruck entstehenkönnte, dass Parteispenden grundsätzlich etwas Schädli-ches, Verderbtes oder Unanständiges sind.
Herr Kollege Müntefering, Sie haben am Ende IhrerRede einen Satz gesagt, dem ich zustimme – ansonstenschließe ich mich der Bewertung des Kollegen Schauer-te an –, nämlich: Politik braucht auch in Zukunft Partei-en. Das stimmt. In diesem Zusammenhang haben Sie einpaar nachdenkliche Sätze gesagt, für die ich Ihnen aus-drücklich dankbar bin. Das bedeutet aber, dass die Par-teien auch in Zukunft Spenden brauchen.
– Ja, öffentlich und transparent. Ich sage Ihnen: Ich war17 Jahre Kreisvorsitzender und habe viele Spenden ge-sammelt. Ohne Spenden hätte ich keinen einzigenWahlkampf durchführen können. Ich werde mich auch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8063
in Zukunft um Spenden bemühen, entsprechend den ge-setzlichen Bestimmungen.
Auch das will ich der Öffentlichkeit einmal sagen.
Wer dies bezweifelt, sollte einmal darlegen, wie politi-sche Parteien ohne Parteispenden überhaupt tätig wer-den können.Ich glaube, unsere repräsentative Demokratie hat sichbewährt. Sie bewährt sich auch in dieser Krise und siebewährt sich ebenso in der demokratischen Auseinan-dersetzung um die Krise. Das sollten wir nicht verges-sen, auch wenn wir hier streitig miteinander umgehenmüssen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-
Fraktion spricht der Kollege Ludwig Stiegler.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Wir haben zu untersuchen, welcheAuswirkungen das Verhalten der Union in Hessen undanderswo auf die Mehrheitsverhältnisse in den Bundes-gremien hat. Da kann ich mich jetzt nicht mit all denAblenkungsmanövern befassen, bei denen Sie Splittersuchen, um Ihren eigenen Balken zu bedecken, um daseinmal biblisch auszudrücken. Nein, wir müssen dieAuswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse in denBundesgremien untersuchen.Nach dem Grundgesetz geht die Staatsgewalt vomVolke aus. Sie wird durch Wahlen ausgeübt. Ohne kor-rekte Wahlen ist die Legitimität der Herrschaft in einerDemokratie nicht gegeben, denn nur korrekte Wahlenführen dazu, dass die Minderheit die Mehrheit anerken-nen kann.Vor diesem Hintergrund haben wir in Hessen Do-pingwahlen. Herr Koch hat mit schwarzem Geld gedopt.
Deshalb sind das Ergebnis und das Verfahren dieserWahl nicht anzuerkennen.
Das Wahlverfahren in Hessen war durch Schwarzgelder,die verfassungswidrig verwendet worden sind, gedopt,korrumpiert, verdorben.
Die Herkunft der Mittel ist nicht offen gelegt worden,der politische Wettbewerb ist durch Verfassungsbruchverletzt worden.
Deshalb kann das Ergebnis keinen Bestand haben. DieVoraussetzung dafür, dass die Minderheit die Mehrheitanerkennt, liegt nicht mehr vor.Das hessische Wahlprüfungsgericht muss berücksich-tigen, dass die Staatsgewalt in Hessen, soweit sie sichderzeit in Parlamentsmehrheit und Regierung darstellt,von schwarzem Geld und von korrupten Verfahren undnicht vom Volke ausgeht, meine Damen und Herren.
Deshalb muss das Wahlprüfungsgericht das Verfahrenwieder aufnehmen und die Wahl annullieren.Schauen wir uns an, was das für Berlin bedeutet. DerBundesrat ist falsch zusammengesetzt. Der Vermitt-lungsausschuss ist falsch zusammengesetzt. Der Rich-terwahlausschuss ist falsch zusammengesetzt. AlleGremien, die Sie mit besetzen, sind falsch zusammenge-setzt. Damit ist auch das Bundestagswahlergebnis be-schädigt, weil Herr Koch mit seiner korrupten Mehrheitdafür sorgt, dass keine soziale Steuerreform mehr zu-stande kommen kann.
Meine Damen und Herren, die Verteilungswirkungdieser illegitim eingesetzten Geldmittel schreit zumHimmel. Dies kann nicht akzeptiert werden. Hier ist ei-ne Entscheidung notwendig und hier kommt die Stundeder F.D.P.
– Ich habe unlängst in freier Rede etwas zu harte Wortegewählt; das gebe ich zu. Ich habe mit Herrn Kinkel be-reits darüber geredet. Wenn ich die Rede vorbereitet ge-habt hätte, hätte ich das Thema – ich will das Wort garnicht mehr in den Mund nehmen – anders bezeichnet.
Aber, Herr Kinkel, die F.D.P. reitet auf einem schwar-zen Ross, das Rotz hat. Steigen Sie von diesem schwar-zen Pferd ab und geben Sie den Weg frei. Nicht HerrKoch allein ist das Problem. Koch ist ein Symptom. Ent-scheidend ist, dass Sie an einer Wahlmehrheit beteiligtsind, die keine Legitimation hat.
Das kann zu einer Staatskrise führen, weil keine Ach-tung vor dieser Entscheidung mehr besteht.
Dr. Wolfgang Bötsch
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8064 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Hier ist die F.D.P. gefordert, nicht die scheinheiligenBrüder, die sich an der Macht festklammern, die sich mitSchwarzgeld wählen lassen.
– Das hätte ich mir denken können, dass man aufhörensoll, wenn man Ihnen die Wahrheit sagt.
Sie haben die Macht in Hessen illegitim inne undbestimmen illegitim auf Bundesebene mit. Das ist dieStaatskrise, meine Damen und Herren; sie kann nurdurch Neuwahlen in Hessen beendet werden.
Deshalb fordere ich Sie auf, zum Thema zurückzu-kommen und aufzuhören, zum Beispiel Peter Struck zuverleumden. Das war eine Schweinerei. Hier liegt dieSpendenquittung an das Forum Ostdeutschland der So-zialdemokratie e. V. vor. Sie stammt vom 3. September,also von einem Zeitpunkt, längst bevor Struck mit demUnternehmen im Aufsichtsrat etwas zu tun hatte. Siegraben hier herum und schleudern mit Dreck, um vonIhrer Schande abzulenken. Sie sollten sich schämen, an-dere Kolleginnen und Kollegen in Anspruch zu nehmen.
Meine Damen und Herren, wer die politische Machtgestohlen hat und damit auch die Ergebnisse auf Bun-desebene verfälscht, kann nicht sagen, er habe nun denSchäuble abgeräumt und jetzt sei alles in Ruhe und Frie-den. Richtig ist vielmehr, dass Sie den Schaden, den Sieangerichtet haben, wieder gutmachen müssen. Der ersteund wichtigste Schritt dazu sind Neuwahlen in Hessen.Herr Westerwelle, geben Sie den Weg frei!
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Vereinbarte Debatte
zur Eröffnung der Regierungskonferenz über
institutionelle Reformen der EU und zu den
Ergebnissen der Tagung des Allgemeinen Ra-
tes am 14./15. Februar 2000
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für die
SPD-Fraktion dem Kollegen Michael Roth das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es fällt mir als hessi-schem Abgeordneten, ehrlich gesagt, ein wenig schwer,nach diesem doch außerordentlich brisanten Thema aufEuropa zu sprechen zu kommen. Aber es lohnt sich al-lemal, über dieses Thema eine ernsthafte Debatte zu füh-ren.Am Montag wurde die Regierungskonferenz eröff-net. Mit ihr haben sich die Bundesrepublik Deutschlandund die anderen Partnerländer in der Europäischen Uni-on ein ambitioniertes Ziel gesetzt. Wir verfolgen dreiwesentliche Projekte: Zum einen wollen wir die Euro-päische Union erweiterungsfähig gestalten. Zum ande-ren wollen wir den Integrationsprozess voranbringen.Und zum Dritten – dieser Punkt scheint mir besonderswichtig zu sein – werden wir die demokratische Legiti-mität innerhalb der EU vor allem auch gegenüber denBürgerinnen und Bürgern stärken müssen.Der Fahrplan dieser Regierungskonferenz ist eng ge-steckt, so eng wie noch nie. Wir wollen Ende dieses Jah-res unter französischer Präsidentschaft unsere Arbeit be-enden. Gerade weil dieser Fahrplan so eng gesteckt ist,haben sich die SPD-Fraktion und der Deutsche Bundes-tag insgesamt für ein begrenztes Mandat der Regie-rungskonferenz ausgesprochen. Ich halte das für ganzwesentlich und will mit einigen wenigen Argumentendarauf eingehen.Zuvor aber will ich fragen, liebe Kolleginnen undKollegen, welche Rolle uns, den Mitgliedern des Deut-schen Bundestages, bei dieser wichtigen europapo-litischen Weichenstellung zukommt. Ich meine, wir soll-ten uns noch stärker als bisher als ein zentrales Forumder Auseinandersetzung über den richtigen Weg in Eu-ropa begreifen. Geben wir es doch offen zu: Die Begeisterungsfähig-keit der Bürgerinnen und Bürger im Hinblick auf dieRegierungskonferenz hält sich sehr in Grenzen. Wie ichan dem Interesse an dieser Debatte sehe, scheint dasauch für viele Kolleginnen und Kollegen zuzutreffen.Was mich, offen gestanden, am meisten stört – ich neh-me mich von der Kritik ausdrücklich nicht aus –, ist die-se unsägliche Phraseologie, mit der wir gelegentlich dieÖffentlichkeit überschütten. Außerhalb der Experten-runden versteht uns häufig niemand mehr. Dabei finde ich es wichtig, dass wir Parlamentarie-rinnen und Parlamentarier auch in diesem Bereich unse-re Hausaufgaben machen. Wir sollten die europäischeIdee greifbarer und transparenter machen. Das gelingtuns wahrscheinlich nur, wenn wir ganz selbstbewusstmit kreativen Vorschlägen in die Debatte eingreifen,auch als Deutscher Bundestag im Hinblick auf unsereRegierungsvertreter in der Regierungskonferenz.Ich will nur auf einen Vorschlag hinweisen, den ichals kreativ erachte und der einen ganz bedeutendenPunkt aufgreift. Er betrifft die Begrenzung der Anzahlder Kommissare, einhergehend mit der Einsetzung vonpolitischen Vertretern, so genannten Juniorkommissa-ren. Ich werde anschließend noch einige Bemerkungendazu machen. Das Problem ist doch, dass die Debatten der Regie-rungskonferenz überwiegend hinter verschlossener Türstattfinden.Ludwig Stiegler
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8065
Wir Parlamentarier können die Debatten zwar nicht ausdiesem Hinterzimmer herausholen, können aber hier, imBlickpunkt der Öffentlichkeit, darüber diskutieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einer, der nun wirk-lich von uns allen sehr respektiert wird, Jacques Delors,hat sich kürzlich wieder in die Diskussion über die Zu-kunft der europäischen Integration eingebracht. Dabeihat er eine Frage aufgeworfen, die uns alle sehr be-drängt: Wie können wir der drohenden Gefahr einerVerwässerung des europäischen Integrationsgedankensdurch das rasche Anwachsen der EU auf fast 30 Mit-gliedstaaten entgegentreten? Er spricht von einer Avant-garde, von einer so genannten Föderation der National-staaten. Der dahinter stehende Gedanke ist sehr sympa-thisch: Innerhalb der EU-Strukturen müssen wir zu einerverstärkten Flexibilisierung kommen. Wir machen dasschon bei der Europäischen Wirtschafts- und Wäh-rungsunion; wir betreiben das beim Schengener Ab-kommen und bei der Gemeinsamen Außen- und Sicher-heitspolitik. Das alles sind wichtige Flexibilisierungsfel-der und es werden nicht die einzigen bleiben. Bei dieser gesamten Debatte habe ich allerdings einProblem. Bei der „Kerneuropa“-Debatte, die von derCDU maßgeblich angestoßen wurde, haben wir das vorJahren sehr kritisch angemerkt. Der Solidaritätsgedan-ke in der Europäischen Union ist lebensnotwendig. Die-sen Solidaritätsgedanken dürfen wir nicht aufgeben. Vorallem dürfen wir keine verstärkte Zusammenarbeit au-ßerhalb der EU-Institutionen organisieren.
Wir sprechen häufig über die berühmt-berüchtigten„leftovers“ – wobei ich behaupte, dass außerhalb diesesKreises niemand weiß, worum es dabei geht –:
erstens die Größe und die Zusammensetzung der Kom-mission, zweitens die Stimmengewichtung im Rat, drit-tens den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen als Re-gelfall. Bei den Debatten im Deutschen Bundestag in derVergangenheit hatte ich manchmal den Eindruck, eshandele sich bei diesen Fragen um belanglose Lappa-lien. Die Bundesregierung hat zu Recht darauf hinge-wiesen, dass wir in diesen drei Bereichen, die auf derAmsterdamer Konferenz unerledigt geblieben sind, nachvorne gehen und dass wir vorrangig auf diesen Feldernzum Durchbruch kommen müssen. Dann hätten wir amEnde dieses Jahres eine ganze Menge erreicht. Das mussim Mittelpunkt der Regierungskonferenz stehen.Alles andere wird jetzt auf Vorschlag der portugiesi-schen Präsidentschaft in eine so genannte Crazy Box ge-stopft. Ich finde diesen Begriff sehr interessant. Aller-dings ist nicht das „crazy“, was sich in dieser Box befin-det – das sind ja Notwendigkeiten. Es wäre aber ganzschön „crazy“, wenn die Umsetzung im Rahmen dieserRegierungskonferenz auf den Weg gebracht werdensollte. Das halte ich in der Tat für verrückt und das soll-ten wir gegenüber den anderen Mitgliedstaaten sehrdeutlich machen.
In der Vergangenheit haben wir es uns relativ einfachgemacht. Bei jeder Erweiterung haben wir die Organeder EU einfach aufgebläht. Das wurde bei der Regie-rungskonferenz von Amsterdam schon recht schwierig.Wir haben gesehen: Es geht so nicht mehr weiter. Des-halb stehen wir vor einer Gezeitenwende. Den Weg, dieOrgane immer wieder personell aufzustocken, bis jederüberall vertreten ist, können wir nicht weiter beschrei-ten. Machen wir uns nichts vor: Wir befinden uns, ob wires wollen oder nicht, in einem Prozess der europäischenVerfassungsgebung. Ich weiß um die Irritationen, diedas in einigen Partnerländern hervorruft. Der Begriff„Verfassung“ wird dort etwas anders oder bisweilenauch überhaupt nicht verwandt. In der deutschen Debat-te sollten wir das Kind aber beim Namen nennen. Dennes geht um die Überlebensfähigkeit der EU. Dazu ge-hört, dass wir die Organe der EU sehr radikal weiter-entwickeln. Ich habe schon einiges zur Europäischen Kommis-sion gesagt. Der Vorschlag der Europäischen Kommis-sion erscheint mir problematisch. Wir können nicht ein-fach eine Obergrenze einführen und damit ein so ge-nanntes Rotationsprinzip verbinden. Das würde bedeu-ten, dass bevölkerungsreiche Mitgliedstaaten mitunterfünf Jahre nicht in der Kommission vertreten wären.Schon alleine vor dem Hintergrund der Handlungsfähig-keit muss es unterhalb der Kommissare eine weitere po-litische Ebene geben – ähnlich dem, was wir in der Bun-d
Rede von: Unbekanntinfo_outline
politische Stellvertreter der Bundesministe-rinnen und Bundesminister. Zudem müssen wir das Ressortprinzip mit dem Kol-legialitätsprinzip verknüpfen.
In den vergangenen Monaten haben wir auch im Bun-destag viele Skandale innerhalb der Kommission disku-tiert. Wer die Übernahme von politischer Verantwortungdurch die Kommissionsmitglieder einfordert, der mussihnen zuvor die klare Verantwortung für ein Ressort zu-ordnen. Wir fordern eine Reform der Stimmgewichtigung imMinisterrat. Wir debattieren im Augenblick über diedoppelte Mehrheit. Das heißt, die Mehrheit im Rat mussdurch eine Mehrheit bei der Bevölkerung der Mitglied-staaten ergänzt werden. Wir fordern den Übergang zur qualifizierten Mehrheitals Regel. Was ich bei der qualifizierten Mehrheit alsRegel als besonders bedeutsam erachte, ist die Verknüp-fung mit dem Mitentscheidungsverfahren im Europä-Michael Roth
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8066 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
ischen Parlament. Wenn wir das Mitentscheidungsver-fahren grundsätzlich einführen, haben wir ein stärkeresEuropäisches Parlament und eine damit einhergehendeStärkung der demokratischen Legitimität. Lassen Sie mich noch einen Aspekt anbringen, dermir auch vor dem Hintergrund der aktuellen Debattewichtig ist: die europäische Grundrechtscharta. Einigevon uns fordern, dass wir die europäische Grundrechts-charta in diese Debatte einbeziehen. Ich gehe aber davonaus, dass wir mit der Grundrechtschartadebatte bis Endedes Jahres nicht fertig werden. Gerade in diesen Zeiten, wo nationalistisches, rassis-tisches und auch intolerantes Gedankengut innerhalb derEuropäischen Union regierungsfähig geworden ist, müssen wir uns dessen vergewissern, was Europa imKern ausmacht. Europa ist und bleibt eine Wertege-meinschaft, die sich in all ihrem Handeln immer auf dieFreiheits- und die Grundrechte berufen muss. Lassen Sieuns das in diesen Monaten sehr deutlich machen!
Ich bin nach der Debatte, die wir gestern im Europa-ausschuss geführt haben – Bundesminister Fischer hathier einige wichtige Vorschläge unterbreitet, die wirnoch ein bisschen intensiver diskutieren müssten –, sehroptimistisch, dass wir gemeinsam eine ganze Menge anguten Vorschlägen auf den Weg bringen können. Wirmüssten nur öfter als bislang die Gelegenheit nutzen,auch hier im Deutschen Bundestag und nicht nur im Eu-ropaausschuss über Europapolitik zu diskutieren.
Ich will mit einem Beispiel aus meiner Kindheit ab-schließen. Damals habe ich gerne mit Lego gespielt.
Dabei setzt man Stein auf Stein. Diese Debatte ist demnicht unähnlich. Wir bauen am Haus Europa. Wir soll-ten immer bemüht sein, es sorgfältig und behutsam zubauen. Das Schöne am Legospiel war immer, dass mankein Architekt sein musste, damit es trotzdem auch mitder Statik funktioniert. Wir konnten unserer Kreativitätfreien Lauf lassen. Das ist bei der europäischen Aufbauarbeit und bei derIntegrationsarbeit leider nicht so. Aber vielleicht mögees uns beflügeln, unsere kreativen Vorschläge in dennächsten Monaten einzubringen. Der Bundesregierungwünsche ich für die schwierigen Verhandlungen allesGute. Auf die Unterstützung der SPD-Fraktion kann siesich zweifellos verlassen.Danke schön.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Peter Altmaier.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Es geht bei der Regierungskonfe-renz nicht um irgendwelche technischen Detailregelun-gen, sondern es geht um eine ganz zentrale Weichenstel-lung, die für Millionen von Menschen in Europa Aus-wirkungen bis in ihren persönlichen Lebensbereich hin-ein haben wird und die die politische Landkarte und diepolitische Situation auf unserem Kontinent so oder so,bei Erfolg oder Scheitern, auf Jahre hinaus beeinflussenwird.Herr Bundesaußenminister, bei allem Respekt vordem großen Einsatz der Beamten Ihres Hauses, den wirunterstützen, bei allem Respekt auch für Ihren persönli-chen Einsatz: Wir haben den Eindruck und die zuneh-mende Sorge, dass die Bundesregierung ohne wirklichesKonzept und ohne wirkliche Strategie in diese großeRegierungskonferenz hineinstolpert. Das kann für dasErgebnis dieser Regierungskonferenz nichts Gutes be-deuten.
Es geht darum, dass wir bei der Regierungskonferenzeine grundlegende Reform der Europäischen Union zu-stande bringen, eine Reform, die uns in die Lage ver-setzt, ab dem Jahre 2003 die ersten Mitgliedstaaten ausMittel- und Osteuropa aufzunehmen, die sich ihrerseitsfür den Beitritt qualifiziert haben. Das ist uns ein Anliegen, für das wir bereit sind zukämpfen. Aber es bedeutet, dass wir in der verbleiben-den Zeit unsere Hausaufgaben machen müssen, damitdie Union überhaupt erst erweiterungsfähig wird. Wennman Zwischenbilanz zieht, stellt man fest, dass Sie mitIhren Hausaufgaben im Rückstand sind, dass Sie einengroßen Teil der Hausaufgaben entweder gar nicht odernicht ausreichend gemacht haben. Ich will das bei deneinzelnen Themen jetzt ansprechen.Es geht darum, die europäischen Institutionen effi-zienter zu machen. Wir müssen erreichen, dass die Eu-ropäische Union in den Bereichen, in denen sie Kompe-tenzen hat, diese auch wirksam wahrnehmen kann. Dennes ist keine Lösung – auch in den Augen der europäi-schen Bürger nicht –, wenn Kompetenzen nach Brüsselübertragen werden, der Ministerrat und das Parlamentaber aufgrund der Schwerfälligkeit der Entscheidungs-prozeduren nicht imstande sind, diese Kompetenzen inangemessener Zeit wirksam auszuüben, damit Ergebnis-se herauskommen, die im Interesse der europäischenBürger für die Lösung der bestehenden Probleme not-wendig sind.Das heißt konkret: Wir brauchen Mehrheitsent-scheidungen in praktisch allen Bereichen des Gemein-schaftshandelns, weil es nicht vorstellbar ist, dass eineUnion mit 20, 25 oder 28 Mitgliedstaaten in wichtigenBereichen weiterhin einstimmig entscheidet. Herr Au-ßenminister Fischer, Sie tragen dieses Ziel ja vor sichher. Wir unterstützen Sie auch dabei. Aber ich sage Ih-nen voraus: Sie werden die Zustimmung für die Auswei-tung der Mehrheitsentscheidungen auf der Regierungs-konferenz nicht bekommen, wenn Sie nicht bereit sind,auf dieser Regierungskonferenz auch über eine genauereMichael Roth
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8067
und klarere Kompetenzabgrenzung in den europäischenVerträgen zu diskutieren.
Wie ist denn die Situation? Die Widerstände gegeneine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen werdendoch in dem Maße wachsen, wie die Sorge besteht, dassaufgrund unklarer Kompetenzverteilungen weitereKompetenzen auf die europäische Ebene abwandern.Das sind alles keine Hirngespinste. Sie brauchen sichnur bei den Bundesratsvertretern der Länder zu erkundi-gen, auch bei denen, die sozialdemokratisch und grünregiert sind. Dort teilt man diese Sorgen über alle Par-teigrenzen hinweg. Deshalb sollten Sie darüber nach-denken, wie man in der Europäischen Union eine ver-nünftige Kompetenzabgrenzung hinbekommen kann.Das kann man nicht von heute auf morgen leisten. Siewerden auf der nächsten Regierungskonferenz keinenKompetenzkatalog hinbekommen, aber Sie können zu-mindest den Anfang machen: zum Beispiel indem manin einzelnen Bereichen dafür sorgt, dass die Abgrenzun-gen klarer werden. Ich bin zum Beispiel überzeugt davon, dass der Euro-päische Gerichtshof seine Kompetenzen beim Thema„Dienst an der Waffe für Frauen“ nicht überschrittenhat; aber ich glaube nicht, dass die Staats- und Regie-rungschefs, als sie vor vielen Jahren diese Zuständigkeitgeschaffen haben, davon ausgingen, dass sie so weit rei-chen würde, wie sie der Europäische Gerichtshof derzeitdefiniert.
Deshalb glauben wir – bei allem Verständnis für einebegrenzte Tagesordnung –, dass dieser Ansatz nichtdurchhaltbar ist. Wir fordern Sie auf, auf die Vorschlägeeinzugehen, die Richard von Weizsäcker, die der ehema-lige belgische Premierminister Dehaene und andere indiesem Zusammenhang gemacht haben. Wir wollen eineEuropäische Union, die sich nicht um alles und jedeskümmert. Wir wollen eine Europäische Union, die sichvor allem auf ihre Kernaufgaben konzentriert. Das sindfür die europäischen Bürger der Binnenmarkt, die Wäh-rungspolitik und ein Euro, der stabil ist und nicht jedenTag weicher wird, die gemeinsame Außen-, Sicherheits-und Verteidigungspolitik, die Asyl- und Flüchtlingspoli-tik, die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Krimi-nalität und der Umweltschutz. Wenn wir uns auf dieseKernaufgaben beschränken und den Mitgliedstaaten dieAngst nehmen, dass ihre verbleibenden Kompetenzen inallen anderen Bereichen – Tourismus, Fremdenverkehrund andere Fragen – zunehmend nach Brüssel wegrut-schen, dann werden Sie auch Fortschritte in diesem Be-reich erzielen.Sie müssen auf der Regierungskonferenz auch überdie so genannte Flexibilisierung reden. In einer Europä-ischen Union von 28 Mitgliedstaaten wird es nicht mög-lich sein, dass alle Mitgliedstaaten bei allen Vorhabenmitmachen. Das ist nicht erforderlich und das führt auchzur Reduzierung des Erpressungspotenzials, das derzeitdarin besteht, dass jeder einzelne Mitgliedstaat verhin-dern kann, dass andere Mitgliedstaaten gemeinsam Ent-scheidungen treffen, die nur für ihren Bereich Gültigkeithaben. Deshalb brauchen wir eine verstärkte Zusam-menarbeit, die nicht mehr durch ein Veto eines einzel-nen Mitgliedstaates ausgehebelt werden kann. Es mussmöglich sein, in bestimmten Bereichen – ohne irgend-jemanden zu überstimmen und ohne irgendjemanden zubevormunden – unter einer begrenzten Anzahl von Mit-gliedstaaten Fortschritte zu erreichen und die Integrationvoranzubringen.
Es geht um die Größe der Kommission, um das Euro-päische Parlament, die Ausweitung seiner Mitentschei-dungsrechte, die Sicherstellung einer doppelten Mehr-heit im Ministerrat, die dafür sorgt, dass weder die Gro-ßen die Kleinen noch die Kleinen die Großen überstim-men. Es gibt Themen über Themen!
Ich wiederhole: Dies alles ist schon seit dem letzten Jahrbekannt, Sie haben es aber unterlassen – auch währendder deutschen Präsidentschaft –, weiterführende inhaltli-che Vorstellungen zu entwickeln, wie man kreative, zu-kunftsweisende Lösungen zu entwickeln.
Herr Bundesaußenminister, Sie befinden sich in derSituation eines Schülers, der mit Hausaufgaben ein gan-zes Jahr im Rückstand ist und sie nun an einem Wo-chenende erledigen soll. Da darf man sich nicht wun-dern, wenn am Ende, in der Hektik der Regierungskon-ferenz, die europäischen Verträge und Institutionenkomplizierter statt einfacher werden, sodass sie am Endekaum noch jemand in Europa versteht.
Es geht bei all den Diskussionen über die Regie-rungskonferenz, die wir in diesem Jahr führen werden,nicht nur um technische Fragen. Es geht darum, dass wirdas große Projekt der Osterweiterung auch in der in-nenpolitischen Diskussion akzeptanzfähig halten. DieUnion steht zur Osterweiterung.
Wir stehen zu den ambitionierten Zeitplänen. Sie müs-sen aber auch in diesem Bereich die Hausaufgaben ma-chen. Die Osterweiterung bringt riesige Chancen, dieOsterweiterung löst aber auch – zum Teil berechtigte,zum Teil unberechtigte – Ängste aus. Sie löst bei vielenMenschen in den neuen Bundesländern Besorgnis aus:zum Beispiel bei Handwerkern und bei Arbeitnehmern,die Angst vor verstärkter Konkurrenz durch vermehrteFreizügigkeit haben. Deshalb unsere Aufforderung an Sie: Sagen Sie uns,wie Sie sich die Übergangsvorschriften in diesem Be-reich vorstellen. Sagen Sie uns, wie Sie sich, das Zu-Peter Altmaier
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8068 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
sammenwachsen in diesem Bereich vorstellen. Es machtwenig Sinn, die Ängste zunächst entstehen zu lassen, umsie dann mühsam wieder zu bekämpfen und aufzulösen. Die entscheidende Frage wird sein, mit welcher Stra-tegie Sie die Regierungskonferenz angehen werden. Siewerden unsere Unterstützung haben, wenn Sie uns eineStrategie präsentieren, die es möglich macht, in einemgeordneten Diskussionsprozess sowohl in der europäi-schen Öffentlichkeit als auch bei uns zu Hause die not-wendigen Diskussionen zu führen und die Entscheidun-gen vorzubereiten. Wir haben den Eindruck, dass bis-lang nicht klar ist, wie die Strategie aussieht und werdabei unsere Partner sind. Bisher war es so, dass bei allen großen Projekten dereuropäischen Integration, angefangen von den Römi-schen Verträgen über die Einheitliche Europäische Akte,den Vertrag von Maastricht und den Euro, die deutsch-französische Zusammenarbeit eine ganz wesentlicheRolle gespielt hat.
Wir haben den Eindruck, dass der deutsch-französischeMotor seit einigen Monaten stottert und inzwischenmöglicherweise ganz zum Stillstand gekommen ist.
Und deshalb, Herr Kollege Wieczorek, bitte ich Sie: Er-klären Sie uns, ob es eine deutsch-französische Initiativezu den Inhalten der Regierungskonferenz geben wirdund wo die Parallelität der Interessen liegt, die wir brau-chen, um in diesem Prozess der Regierungskonferenzeinen konstruktiven Input für die weiteren Verhandlun-gen zu ermöglichen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage?
Ja, bitte sehr.
Herr Kollege Alt-
maier, Sie haben das deutsch-französische Verhältnis
angesprochen. Es geht hier um die drei großen Komple-
xe, die fälschlich „leftovers“ genannt werden. Können
Sie sich daran erinnern, dass es vor dem Amsterdamer
Gipfel einen gemeinsamen Brief des französischen
Staatspräsidenten und des damaligen Bundeskanzlers
gab, in dem gerade für die Frage der Abstimmung im
Rat zwei Alternativen vorgeschlagen wurden und in dem
man sich gegenseitig versicherte, man könne mit der je-
weils anderen Alternative leben? Können Sie bestätigen,
dass diese gemeinsame Initiative wegen eines Konfliktes
zwischen Frankreich und der Bundesrepublik eben nicht
zustande gekommen ist und bereits beim informellen
Gipfel in Noordwijk und erst recht in Amsterdam eine
Lösung nicht mehr möglich war? Insofern meine Frage:
Wie bewerten Sie dies im Hinblick auf das Verhältnis
zwischen der früheren deutschen Regierung und der da-
maligen – und jetzigen – französischen Regierung?
Herr Kollege
Wieczorek, ich gehöre zu denen, die mit den Ergebnis-
sen der Regierungskonferenz von Amsterdam genauso
wenig zufrieden waren wie Sie und viele andere in die-
sem Hause. Aber darf ich Sie daran erinnern, dass die
Probleme, die wir in der allerletzten Phase der Regie-
rungskonferenz hatten, insbesondere im Hinblick auf die
Einführung von Mehrheitsentscheidungen in ganz be-
stimmten Bereichen, auf eine Initiative des Bundesrates
zurückgingen und dass der rheinland-pfälzische Minis-
terpräsident, Herr Beck, an dieser Initiative ganz
maßgeblich beteiligt war. Dieser kommt, wenn ich mich
recht erinnere, aus Ihren Reihen.
Andere Beteiligte kamen aus unseren Reihen.
Wenn die Bundesregierung, Herr Kollege Wieczorek,
verhindern will, dass wir in der Endphase der nächsten
Regierungskonferenz eine ähnliche Erfahrung machen,
das heißt, dass wir uns hier auf Mehrheitsentscheidun-
gen und auf ein bestimmtes Vorgehen einigen, das dann
am Widerstand auch des Bundesrates, möglicherweise
parteiübergreifend, scheitert, tut die Bundesregierung
sehr gut daran, die vom Bundesrat formulierten Beden-
ken nicht beiseite zu wischen, sondern sie ernst zu neh-
men und darüber nachzudenken, wie man sie im Vorfeld
so auflösen kann, dass ein Konzept daraus wird. Ich
glaube, dass die Diskussion über die Kompetenzabgren-
zung einen ganz wichtigen Beitrag dazu leisten könnte,
eine solche Blockade zu verhindern.
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Wieczorek?
Bitte sehr.
Ich habe Ihre Ant-
wort gehört. Ich habe allerdings nach dem deutsch-
französischen Verhältnis und nicht nach dem Verhältnis
zum Bundesrat gefragt. Aber wenn Sie schon darauf
eingehen, möchte ich Sie Folgendes fragen. Die Stel-
lungnahmen, die die Ministerpräsidenten abgegeben ha-
ben, gehen ja genau davon aus, dass zunächst einmal
das, was in Amsterdam übrig geblieben ist, was jetzt
praktisch mit ein paar Ergänzungen angegangen wurde,
später geregelt werden sollte – so der Wortlaut. Insofern
wundere ich mich, dass Sie auf die Frage nach dem
deutsch-französischen Verhältnis – ich mache der alten
Bundesregierung da ja keinen Vorwurf – mit dem Hin-
weis auf den Bundesrat antworten.
Deshalb meine Frage: Können Sie mir zumindest in der
Bewertung zustimmen, dass das deutsch-französische
Verhältnis auch damals schon in dieser Frage gestört
war? Das hat nichts mit dem Bundesrat zu tun.
Herr Kollege Wieczo-rek, über eines sollten wir uns doch einig sein: Wir wis-Peter Altmaier
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8069
sen alle, dass es auch im deutsch-französischen Verhält-nis in der Vergangenheit Schwierigkeiten gegeben hat.Aber das ist doch keine Entschuldigung dafür, dass Siejetzt und gerade in der jüngsten Zeit dieses deutsch-französische Verhältnis vernachlässigen
und damit auch die Gefahr von Missverständnissen grö-ßer wird. Unser Anliegen besteht darin, dass wir diese Proble-me, die in der französischen Presse, die in der französi-schen politischen Diskussion jeden Tag Thema sind –Sie brauchen nur die Zeitungen zu lesen –, ernst nehmenund dass wir im Vorfeld versuchen, eine abgestimmtegemeinsame deutsch-französische Position zustande zubringen. Meine Frage an den Bundesaußenminister war,ob es eine solche Position im Hinblick auf die Regie-rungskonferenz geben wird und was die Kernpunkte die-ser Position sein werden. Meine Damen und Herren, ich halte es für wichtig,dass wir die Debatte über die Regierungskonferenz imPlenum des Deutschen Bundestages, im Forum des Eu-ropaausschusses regelmäßig führen.
Die Zeiten, in denen Regierungskonferenzen hinter ver-schlossenen Türen stattgefunden haben, in denen die Er-gebnisse – ganz egal, wie sie aussahen – anschließendakzeptiert und ratifiziert wurden, sind lange vorbei. Wir könnten einen Beitrag zur politischen Diskussions-kultur, zum Entstehen einer europäischen öffentlichenMeinung leisten, wenn wir diese Debatte, so wie wir esheute begonnen haben, in den nächsten Wochen undMonaten regelmäßig und konstruktiv fortführten. DieBereitschaft unserer Fraktion dazu besteht, aber dieHausaufgaben werden Sie machen müssen. Aus dieserVerpflichtung werden wir Sie nicht entlassen. Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt Herr Außenminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter,geschätzter Kollege Altmaier, ich weiß jetzt, was michin jungen Jahren daran gehindert hat, der Jungen Unionbeizutreten, nämlich ein grundsätzlich anderes Verhält-nis zu Hausaufgaben. Sie haben ja eine fast schon eroti-sche Bindung an diese Qual einer jeden Schulzeit.
Ich weiß nicht, warum Sie sich hier mit solcher Leiden-schaft für Hausaufgaben aussprechen. Ich kann Ihnennur sagen: Das Ergebnis ist bekannt. Sie sehen, dabeikann am Ende sogar noch etwas Vernünftiges heraus-kommen.
Aber jetzt im Ernst: Wir sollten alle miteinander dieDifferenzen – Sie tragen hier mit großem Tremolo vor –nicht überbetonen. Die Differenzen zwischen uns beidensind, behaupte ich, minimal. Die Differenzen liegen wo-anders. Wenn ich mich hier umschaue, vermute ich, dasssich die meisten Zuhörerinnen und Zuhörer im Saal fra-gen werden: Worum streiten die sich eigentlich? Ichglaube nicht, dass jemand hier versteht, worum wir strei-ten. Wenn ich mich hier unten umschaue, scheinen es dieKolleginnen und Kollegen auch nicht zu begreifen, wo-rüber wir hier reden. Ich meine nicht diejenigen, die hiersind, sondern die vielen, die nicht da sind, die Fachpoli-tiker. Es geht faktisch darum, ob der Deutsche Bundestag inZukunft weniger und die europäische Ebene mehr zu sa-gen haben wird. Darum geht es und das findet nicht sehrgroßes Interesse. Das zeigt, dass offensichtlich nochnicht begriffen wird, in welchem Stadium wir uns da be-finden.
Wenn ich einmal die Summe der Erfahrungen – nichtparteipolitisch; da werden wir uns weiter zu streiten ha-ben – aus einem starken Jahr, das ich jetzt als Außenmi-nister und vor allen Dingen in der exekutiven Europa-politik – sie ist hauptsächlich Regierungspolitik – tätigbin, bilanzieren darf, dann kann ich Ihnen nur sagen:Wenn wir dieses Europa nicht schneller schaffen, alsviele unserer Bürger es für erforderlich halten, dannwerden wir unter dem Gesichtspunkt Arbeitsplätze, un-ter dem Gesichtspunkt Sicherung unseres Sozialstaates,unter dem Gesichtspunkt Einkommen, unter dem Ge-sichtspunkt Gewinne Positionen verlieren. Unsere Wettbewerber in der Welt von heute und vorallem in der Welt von morgen schlafen nicht, sondernsind sehr dynamisch dabei, Positionen zu beziehen. Wirwerden das als Nationalstaat Bundesrepublik Deutsch-land, der größte innerhalb der EU, nicht schaffen, diekleineren für sich genommen auch nicht. Das heißt: ImGrunde genommen wird es darum gehen – das wird dieschwierige Aufgabe sein –, Verständnis dafür zu schaf-fen, dass wir dieses Europa brauchen, dass wir in diesesgemeinsame Europa heute investieren müssen, um mor-gen ernten zu können. Die Regierungskonferenz ist einer der nächsten,ganz entscheidenden Schritte. Nur, wie so oft in Europa,wird es ein Schritt sein, von dem man noch nicht klarsagen kann, wie er aussehen wird. Das hat nichts mitnicht gemachten Hausaufgaben der Bundesregierung zutun; vielmehr müssen 15 Interessen gebündelt werden.Sie wissen selber, dass das schwer ist. Ich habe nochvon gestern die Aussagen von Herrn Stoiber im Ohr. IchPeter Altmaier
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8070 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
habe jenseits der Polemik sehr genau zugehört. Ich ken-ne seine europapolitischen Positionen. Ich weiß, er istzwar kein engagierter Antieuropäer, aber er ist letztlichjemand, der meint, dass der Zug verlangsamt werdensollte. Ich glaube, das wäre ein großer strategischer Feh-ler.
– Ich höre sehr sorgfältig zu. – Er ist jemand, der meint,dass am Ende doch noch die volle Integration infragegestellt werden sollte. Dies hielte ich unter vielen Ge-sichtspunkten ebenfalls für einen großen Irrtum. Zu den Kleinigkeiten, die Sie angesprochen haben,möchte ich Ihnen sagen: Dem, was Sie über Mehrheits-entscheidungen und Kompetenzabgrenzungen gesagthaben, stimme ich zu. Aber außerhalb des Verfassungs-gefüges des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutsch-land gibt es in Europa kaum Erfahrung mit konkurrie-render Gesetzgebung. Das heißt, über Mehrheitsent-scheidungen werden wir Kompetenzabgrenzungen erzie-len, nicht umgekehrt. Ich halte Kompetenzabgrenzungenfür dringend notwendig. Wir befinden uns bereits in ei-ner – nicht offiziell erklärten – Verfassungsdebatte überdie Frage: Was soll auf der nationalstaatlichen und wasauf der europäischen Ebene getan werden? Ich kann Ih-nen nur versichern: Wir wollen in den drei entscheiden-den Punkten, die in Amsterdam nicht gelöst wordensind, vorankommen.Die Größe und die Zusammensetzung der Kom-mission betrifft schwierige Fragen: Sollen alle Ländernach ihrer Größe bewertet werden? Wenn ja, werden diezwei größten Nationen weiterhin zwei EU-Kommissarestellen? Ist eine Kommission mit über 30 Kommissarenüberhaupt noch handlungsfähig, wenn sich die Zahl derMitgliedstaaten der Europäischen Union auf 20 oder 25erhöht? Ich halte das für praktisch nicht machbar und fürnicht gut. Die Handlungsfähigkeit der Kommission wärenicht mehr gegeben. Aber dann stellt sich die Frage:Verzichten die großen Staaten auf einen Kommissar?Das hieße wiederum, dass ein Land wie Luxemburg ge-nauso bewertet wird wie die Bundesrepublik Deutsch-land oder Frankreich. Das ist ebenfalls eine Frage derRepräsentation. Das sind alles schwierige Fragen, beidenen Interessen aufeinander stoßen.Wir sind in der Tat dabei – diesen Punkt möchte ichnoch ansprechen –, auf deutsch-französischer Ebene vo-ranzukommen. Wenn Sie behaupten, wir hätten unsereHausaufgaben nicht gemacht, dann möchte ich Sie da-rauf hinweisen, dass wir auf dem deutsch-französischenGipfel in Toulouse zum ersten Mal gut vorbereitet überdie Regierungskonferenz gesprochen und vereinbart ha-ben, dass es keine überladene Tagesordnung geben soll;denn wir verfolgen nicht die Strategie – die andere unterder Hand verfolgen –: Überladen wir doch die Tages-ordnung, dann wird es ad calendas graecas gelöst. Wirverfolgen eine realistische Strategie. Für uns ist es wich-tig, dass die Regierungskonferenz bis zum Ende derfranzösischen Präsidentschaft auf dem Gipfel in NizzaErgebnisse zeitigt. Das wollen wir erreichen; das ist realistisch. Deswegen gibt es nur ein reduziertes Pro-gramm: Zusammensetzung und Größe der Kommissionsowie die Stimmgewichtung. Das Wort Stimmgewichtung sagt unseren Bürgerin-nen und Bürgern auch nichts. Damit ist die entscheiden-de Frage gemeint: Wie viel ist eine Stimme in der EUwert? Von der Beantwortung dieser Frage hängt sehrviel ab, nämlich wie weit die Interessen von kleinen imVergleich zu großen Mitgliedstaaten zum Tragen kom-men. Hier kann es um sehr wichtige Fragen gehen, diedem einen oder anderen weniger wichtig erscheinen, dieaber in anderen nationalen Öffentlichkeiten von zentra-ler Bedeutung sind. Schließlich geht es um das Prinzip der Mehrheits-entscheidung. Zu diesem Prinzip haben wir gestern imAusschuss – ich möchte hier deswegen nicht mehr insDetail gehen – unser Konzept vorgestellt. Wir unterstüt-zen den ersten Entwurf, der während der Präsidentschaftvorgelegt worden ist, sozusagen um hier ein entspre-chendes Screening vorzunehmen und abzugleichen, wasmöglich ist. Aber das Prinzip der Mehrheitsentscheidungist natürlich eine delikate Frage. Ich möchte ein Beispielnennen: Dann, wenn sich eine Mehrheitsentscheidung –zum Beispiel über den Sherryexport oder über das Rein-heitsgebot beim deutschen Bier – gegen die nationalenInteressen des jeweiligen Landes und seiner Öffentlich-keit richtet, wird es eine riesige Debatte geben. Dasheißt, ohne gleichzeitige Unterfütterung durch eine ent-sprechende parlamentarische Stärkung wird es meinesErachtens im Konfliktfall sehr schwierig werden. Den-noch sind wir für eine Ausdehnung des Prinzips derMehrheitsentscheidung, weil dies ein unabweisbarerSchritt ist.
Ich kann Ihnen versichern: Das, was Sie überDeutschland und Frankreich gesagt haben, ist grund-falsch. Hier gibt es überhaupt keinen Dissens.Der deutsch-französische Motor der europäischen Inte-gration ist unersetzbar, unabhängig von den Regie-rungsmehrheiten in Paris und in Berlin bzw. früherBonn. Die deutsch-französische Verbindung ist der ent-scheidende Motor, der den europäischen Einigungspro-zess voranbringen muss. Daran arbeiten wir auf das In-tensivste. Es gibt keinen Kollegen, den ich öfter seheund den ich mehr konsultiere als den von mir sehr ge-schätzten Hubert Védrine. Für den Bundeskanzler gilt,was die Konsultationen auf bilateraler Ebene mit Präsi-dent Chirac und Premierminister Jospin betrifft, dassel-be. Das gilt ganz genauso für die Kollegen der Fachres-sorts. Da brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zumachen.Ich bin der Meinung, wir sollten eine parallele Vor-gehensweise an den Tag legen. Sie haben die Frage nachder Strategie der Bundesregierung gestellt. Meine Rede-zeit ist hier begrenzt; ich habe es gestern im Ausschussdetailliert dargestellt: Wir wollen einerseits eine realisti-sche Strategie verfolgen, das heißt, dass das, was ausBundesminister Joseph Fischer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8071
heutiger Sicht wirklich gemacht werden kann, auch er-reicht wird. Wir wollen andererseits aber parallel dazu –nicht als Alternative – eine Diskussion vor allen Dingenunter dem Gesichtspunkt der zukünftigen VerfasstheitEuropas, sozusagen eine Maastricht-II-Diskussion überdie politische Integration. Wenn es eine Mehrheit für weitergehende Schritte indem anvisierten Zeitraum bis zum Ende der französi-schen Präsidentschaft geben sollte, dann wollen wir dieMöglichkeit nutzen, energische, weiterführende Schrittezu gehen. Vielleicht können die Konturen der nächstenEntscheidungen nach der Regierungskonferenz auchschon konkretisiert werden.Ich darf mich bedanken.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir müs-sen uns nicht rechtfertigen, überzeugte Europäer zu sein;denn wir haben das in vielen Jahren mit einer sehr ziel-orientierten europäischen Politik unter Beweis gestellt.Deshalb sagen wir ganz klar: Die dritte Regierungskon-ferenz in diesem Jahrzehnt muss für die EuropäischeUnion zu einem deutlichen Qualitätssprung führen.
Wie alle richtig gesagt haben: Es ist eben keineTechnik, die jetzt auf der Tagesordnung steht. Es kommtja nicht von ungefähr, dass in den europäischen Gremieneine Einigung über offene Punkte – sie sind hier genanntworden – bisher nicht erzielt werden konnte. Diese sonüchtern klingenden Verhandlungspunkte sind in Wirk-lichkeit ein entscheidender Schritt zur Staatswerdungder Europäischen Union. Natürlich ist das in einem ge-wissen Umfang mit der Verringerung nationalen Ein-flusses verbunden. Deshalb konnten diese Fragen bishertrotz ambitionierten Vorgehens nicht gelöst werden unddeshalb hat diese Regierungskonferenz eine riesige Auf-gabe.Sie muss die Handlungs- und Funktionsfähigkeit derEuropäischen Union für die eingeleitete Erweiterung,die wir immer propagiert haben, herstellen. Auch mussdie mit der Europäischen Wirtschafts- und Währungs-union initiierte Dynamik für den Integrationsprozessder Europäischen Union jetzt genutzt und umgesetztwerden; denn es war unsererseits immer ein Argumentfür den Euro, dass damit Dynamik in den Integrations-prozess der politischen Union kommt.
In ihrer jetzigen Verfasstheit ist die Europäischen Union eben nicht in der Lage, sich von derzeit15 Mitgliedern in eine Europäische Union mit bis zu28 Mitgliedern auszuweiten. Herr Außenminister, wirsind deshalb der Auffassung, dass die Regierungskonfe-renz mit großem Ehrgeiz, mit großem Elan, mit sehr kla-ren Vorstellungen und mit der Perspektive, einen bedeu-tenden historischen Verfassungsgebungsprozess in Gangzu setzen, durchgeführt werden muss. Zur erfolgreichen Durchführung der Erweiterung istjetzt ein sehr ambitionierter Vertiefungsprozess gefor-dert, bei dem die Bundesregierung zusammen mitFrankreich natürlich eine besondere Verantwortung be-sitzt, der sie gerecht werden muss. Sie muss entspre-chend initiativ werden, um diesen Prozess in Gang zusetzen und zu einem Erfolg zu führen.
Wir sind der Auffassung, dass das Mandat für dieRegierungskonferenz nicht nur die genannten und be-kannten Themen umfassen muss; vielmehr gehören zu-sätzliche Punkte auf die Tagesordnung. Einmal solltedas Prinzip der kollektiven Verantwortung der Kommis-sion der Europäischen Union sehr viel stärker durch dieVerankerung der individuellen Verantwortung derKommissare ersetzt werden. Die Entwicklungen im letz-ten Jahr zeigen ganz deutlich, dass das ein notwendigerund überfälliger Schritt ist. Wir wollen aber auf alle Fälle auch anstreben und al-les versuchen, um dazu beizutragen, dass die in der Er-arbeitung befindliche europäische Grundrechtscharta inden Vertrag übernommen wird. Wir wollen nicht vonAnfang an sagen, das sei nicht zu schaffen, sondern wirmeinen, dass man hier sehr ambitioniert herangehensollte.Schließlich sollte man in diese Überlegungen natür-lich auch die Strukturen des Europäischen Gerichtsho-fes, für den es ja schon umfangreiche Änderungsvor-schläge gibt, einbeziehen. Deshalb stellt diese Regierungskonferenz eine ent-scheidende Weichenstellung für die Europäische Uniondar. Sie braucht die nötigen Kompetenzen und die klareAbgrenzung von Kompetenzen, sie braucht die Souve-ränität, aber ganz klar auch die demokratische Legitima-tion und ein ausgewogeneres Verhältnis als bisher in denBeziehungen der Mitgliedstaaten untereinander. Europabraucht für diesen Prozess eine klare politische Perspek-tive. Mehr als eine halbe Milliarde Menschen, die künftigUnionsbürger in der politischen Europäischen Unionsein werden, wollen wissen, in welche Richtung sich dieEuropäische Union entwickelt.
Sie muss sich über den derzeitigen Staatenverbund hin-aus entwickeln. Man muss es deutlich sagen: Europa be-findet sich mitten in einem Verfassungsgebungs-prozess, der hin zu einer europäischen Verfassung füh-ren soll, die sich unserer Auffassung nach sehr wohlauch am Leitbild des europäischen Bundesstaates orien-tieren sollte.
Bundesminister Joseph Fischer
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8072 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Jeder, der das bestreitet und sagt, mit Verfassung habedas nichts zu tun, drückt sich vor der Verantwortung undklärt die Unionsbürger nicht richtig auf. Diese erwartenes aber; sie haben ein Recht auf umfassende Beteiligungund Information über diesen wirklich einmaligen Ver-fassungsgebungsprozess. Wir sollten jetzt die richtigen Lehren ziehen. Dasheißt, die anstehenden Beratungen müssen durchschau-bar und verständlich sein. Sie müssen für die Bürgerin-nen und Bürger nachvollziehbar sein. Diese müssen wis-sen und verstehen können, warum sich Europa zu mehrStaatlichkeit hin orientiert und warum ein abnehmenderEinfluss der nationalen Parlamente durch eine stärkeredemokratische Legitimation und eine stärkere Ausge-staltung des Europäischen Parlamentes ersetzt und aus-geglichen werden muss. Sie wollen wissen, was mit ei-ner europäischen Grundrechtscharta verbunden ist, inwelchem Verhältnis sie zu den nationalen Grundrechtensteht und wie der Schutz dieser Grundrechte aussieht. Damit die Bürger diesen Prozess begleiten und auchunterstützen können, müssen wir die entsprechendenVorgaben machen. Deshalb brauchen wir regelmäßigeund sehr viel offenere Debatten über die nächstenSchritte, die auf der Tagesordnung der Regierungskonfe-renz stehen. So können wir die Argumente austauschenhinsichtlich der Frage, ob die Kommission künftig viel-leicht sogar nur mit 15 Kommissaren auskommt. EinModell müssen wir auf jeden Fall diskutieren – wir ver-treten es so –, dass nämlich künftig nicht mehr jederMitgliedstaat einen Kommissar wird stellen können.Auch hier wird eine Form des nationalen Einflusses re-duziert werden. Wir brauchen eine Kommission, die sich gemeinsaman europäischen Interessen orientiert. Natürlich ist dasnicht leicht. Das wissen wir, die wir jahre- oder jahr-zehntelang in europäischen Gremien Verhandlungen ge-führt haben und Verantwortung getragen haben. Geradevor diesem Hintergrund wissen wir auch, dass mandann, wenn man nicht mit hohem Anspruch an dieseAufgaben herangeht, hinterher ein Ergebnis erzielenwird, das vielleicht nur kleine Münze ist. Das wäre dasschlechteste Ergebnis, das bei dieser Regierungskonfe-renz herauskommen könnte.
Deshalb ist – ich komme zum Schluss, meine Damenund Herren – natürlich auch die Grundrechtscharta,die der Wertegemeinschaft Europa Ausdruck verleiht,von so herausragender Bedeutung. Angesichts unsererGrundrechtstradition und unseres Verständnisses vonGrundrechten wollen wir, dass es einen wesentlichenBestand von Grundrechten gibt, der nicht antastbar istund vor Einschränkungen sicher ist. Wir Liberalen ha-ben uns dieses fest vorgenommen und wollen dabeimitwirken. Insofern können Sie, Herr Außenminister,wenn Sie diesen Prozess ambitioniert vorantreiben, mitunserer Unterstützung rechnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Uwe Hiksch.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Mit der Eröffnung der Regie-rungskonferenz werden die Grundlagen für eine Vertie-fung und Erweiterung der Europäischen Union geschaf-fen. Die PDS möchte die Erweiterung der Union mit ei-ner klaren Perspektive auch für eine demokratische Tür-kei, die in die Europäische Union eingeschlossen wer-den muss. Wir treten ausdrücklich dem entgegen, was gestern inreaktionärer Manier vom Ministerpräsidenten Bayerns,Herrn Stoiber, dargelegt wurde, der die Europäische Union als christlich-abendländisches Bollwerk begreiftund nicht mehr als weltoffenes, multikulturelles Europa,das auch für Minderheiten, Asylbewerber und Flüchtlin-ge offen sein muss.
Der Gründer des Freistaates Bayern, der Sozialist KurtEisner, würde sich im Grabe umdrehen, wenn er feststel-len würde,
was aus dem Freistaat Bayern geworden ist, welche Re-den unter dem Begriff des Freistaates, der eine Ablösungvom Kaiserreich bedeutet hatte, heute gehalten werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa darf keineFestung werden. Europa muss weltoffen sein und mussauch Asylbewerbern eine Perspektive geben, wenn sieverfolgt werden. Deshalb tritt die Partei des Demokrati-schen Sozialismus dafür ein, dass im Rahmen derGrundrechtscharta darüber geredet und möglichstdurchgesetzt wird, ein Individualrecht auf Asyl auf eu-ropäischer Ebene festzuschreiben, und dass Europa nichtzu einem Bollwerk aufgebaut wird.
Die Regierungskonferenz muss dazu beitragen, dasswir zu einer Demokratisierung der Europäischen Union kommen. Es darf nicht mehr so sein, dass überdie Zukunft der Europäischen Union in nicht öffentli-chen Sitzungen diskutiert wird. Vielmehr muss endlichdurchgesetzt werden, dass das demokratische Gremiumder Europäischen Union, das Europäische Parlament,gestärkt und mit wesentlich mehr Rechten ausgestattetwird. Wir müssen die Europäische Union auch erweite-rungsfähig machen. Wir brauchen sowohl eine Höchst-grenze für die Zahl der Abgeordneten im EuropäischenParlament, weil das EP arbeitsfähig bleiben muss, alsauch eine Höchstgrenze für die Zahl der Kommissare,damit die Kommission das tun kann, was sie tun muss,nämlich arbeiten.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8073
Lieber Kollege Altmaier, ich habe sehr genau zuge-hört, wie Sie das Europa der Zukunft beschrieben haben.Sie haben ein Europa beschrieben, das sich auf Kern-kompetenzen beschränken soll, die vor allen Dingen indrei Bereichen angesiedelt sind: Wirtschaftspolitik fürein wirtschaftsfreundliches Europa, Sicherheitspolitikund Militarisierung. Ein solches Europa allein möchtedie PDS nicht. Das Europa, das wir wollen, muss fürArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer da sein, muss ei-nen der Schwerpunkte der Politik auf die Bekämpfungder Arbeitslosigkeit setzen und muss ökologische undsoziale Mindeststandards in den Mittelpunkt seiner Po-litik stellen. In der CDU spielt ein soziales Europa keineRolle mehr.
Deshalb wundert es mich, sehr geehrter Herr Außen-minister Fischer, wenn Sie in diesem Hause keine Un-terschiede mehr feststellen können. Wir sehen durchausgroße Unterschiede zwischen dem, was die rot-grüneBundesregierung wenigstens angekündigt hat, in Europadurchsetzen zu wollen, und dem, was vor allen Dingenvonseiten des rechten Teiles des Hauses, der CDU/CSU,beschrieben wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erweiterung derEuropäischen Union bringt für viele Menschen auchÄngste mit sich. Ängste kann man auf zwei verschiede-ne Arten aufgreifen: so, wie es in reaktionären Tönengestern durch Stoiber passiert ist, oder dadurch, dassman sich die Ängste anschaut und konkrete Antwortengibt. Menschen, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben,müssen wissen, wie Arbeit in Zukunft gesichert wird.Menschen, die Angst um die sozialen Standards haben,müssen wissen, dass in Europa Sozialpolitik eine Rollespielt. Vor allen Dingen müssen auch Handwerker wis-sen, wie durch Übergangsvorschriften beispielsweise imBereich der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheitgewährleistet werden kann, dass sie ihre Arbeitneh-merinnen und Arbeiternehmer weiter beschäftigen kön-nen.Wir, die PDS, treten dafür ein, dass die Grund-rechtscharta nicht nur ein Schriftstück wird, das einendeklaratorischen Charakter hat. Wir treten ausdrücklichauch dafür ein, dass die EU-Charta und die Grund-rechtscharta zusammengeführt werden und dass dieGrundrechtscharta integraler Bestandteil der EU-Ver-träge wird. Wir wollen, dass das, was in der Grund-rechtscharta stehen wird, von den Menschen auch ein-geklagt werden kann und dass sie einen Anspruch daraufhaben, die festgelegten Rechte durchzusetzen und vordem Europäischen Gerichtshof auch einzuklagen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa darf durchdie Erweiterung nicht zu einem Kerneuropa werden, dassich immer weiterentwickelt und das um sich herum ei-ne Freihandelszone hat, die vor allen Dingen die Funkti-on hat, den kerneuropäischen Ländern zu helfen. Wirwollen ein Europa, in dem sich alle europäischen Länderweiterentwickeln können und aus dem sich nicht diewirtschaftlich starken Länder herauslösen. Wir wollenein Europa, von dem die kleinen Länder wissen, dass sieintegraler Bestandteil dieses Europas sind. Wir wollenferner ein Europa der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer, ein Europa der Menschen und nicht eine Frei-handelszone und ein Europa der Wirtschaft.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Herr Staatsminister Christoph Zöpel.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolle-ginnen und Kollegen! Ein Zwischenruf von Ihnen, HerrKollege Haussmann, enthielt das Wort Vision, eine Vi-sion, die Europa brauche. Ich stimme Ihnen auf der ei-nen Seite zu, schränke aber auch auf der anderen Seiteein.Das Wort Vision sollte nicht inflationär gebrauchtwerden. Im Augenblick gibt es für mich hinsichtlich desZusammenlebens in Europa eine Vision, nämlich dassnach realistischer Einschätzung der Lebenserwartungder Generation, zu der ich gehöre – dazu zähle ich diewestdeutsche Generation, die die Entwicklung Europasseit 1956/1957 erleben konnte, aus persönlicher Erfah-rung sage ich: dazu gehören auch die Menschen, diedurch Zufall der Geschichte in Ost-Mitteleuropa gebo-ren wurden, aber in Westdeutschland aufgewachsen sind –, wir erleben können, dass die Friedensgemein-schaft für ganz Europa gilt. Für ganz Europa heißt, dasssie auch in den Ländern gilt, mit denen derzeit verhan-delt wird, und auch in denen, die nordwestlich von Grie-chenland liegen. Das ist die Vision.Dieser Vision ordnen sich auch die anderen Ziele derBundesregierung unter, die mit der jetzt anstehendenRegierungskonferenz verbunden sind. Wenn wir über politische Moral sprechen, dannmüssen wir erkennen, dass es eine Ebene der politischenMoral gibt, die gerade heute nicht vergessen werdendarf. Diese politische Moral ist eine Verpflichtung mei-ner Generation. Wir müssen den Frieden, den wir in Eu-ropa erfahren durften, auf das ganze Europa erweitern.Das ist unsere moralische Verpflichtung.
Angesichts dieses Oberzieles kommt man zu derFeststellung, dass die Regierungskonferenz am Endedieses Jahres das Vertragswerk so ändern muss, dass dieEU erweiterungsfähig ist. Erweiterungsfähig bedeutet –realistisch formuliert – die Erweiterung um 70 MillionenMenschen. Ich gebrauche bewusst die Formulierung„Erweiterung um 70 Millionen Menschen“ und nicht dieFormulierung „Erweiterung um maximal 10 Staaten“,weil die Zahl von den 10 Staaten die Dimension ver-zerrt. Aber die Zahl von zusätzlich 70 Millionen Men-schen in der Europäischen Union macht deutlich, dassdie Union um weniger Menschen erweitert wird, als dieBundesrepublik Deutschland Einwohner hat. Diese Zahlist im Verhältnis zu der Zahl von 370 Millionen Ein-Uwe Hiksch
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8074 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
wohnern, die jetzt der Europäische Union angehören,überschaubar.Das ist die Perspektive bis zum Jahr 2006. Bis zu die-sem Jahr reichen auch die finanziellen Perspektiven derAgenda 2000. Die Durchsetzung dieser Agenda war derwesentliche Erfolg der deutschen Präsidentschaft. Dar-um geht es.
– Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass dieser Rahmenbis zum Jahre 2006 hält.Dieses Ziel verbindet sich nun – vielleicht durch dieList der Vernunft – mit dem Ehrgeiz Frankreichs, amEnde dieses Jahres unter französischem Vorsitz ein Ver-tragswerk zu erarbeiten, das den Namen einer französi-schen Stadt trägt – wahrscheinlich Nizza. Ich halte dieseList der Vernunft für geeignet, diese Kopplung zu errei-chen.Auf beides kann in diesem Jahr hingearbeitet werden.Dabei ist so viel wie möglich zu erreichen, aber eben so-viel, wie in den verbleibenden zehn Monaten möglichist. Den Ehrgeiz, Herr Kollege Haussmann, bestimmt indiesem Falle Frankreich, und an Ehrgeiz ist die GrandeNation ja nicht zu überbieten. Nun aber zu den Hausaufgaben, die Sie – Herr Minister Fischer hat dazu eine richtige Bemerkung ge-macht – so gerne im Munde führen. – Vielleicht solltemanches Vokabular erwachsener sein. – Zu den Aufga-ben der Bundesregierung hinsichtlich der drei wichtigs-ten zu verhandelnden Punkte gehören zwei, bei denendie vorschnelle Formulierung einer deutschen Positionnicht hilfreich wäre, nämlich die Zahl der Kommissareund die Quantifizierung der Stimmrechte. In dem ei-nen Fall wird Deutschland im Ergebnis auf irgendetwasverzichten müssen. In dem anderen Fall wird mandurchsetzen müssen, dass kleinere Länder zugunsten be-völkerungsreicher Länder etwas nachgeben. Sich vorei-lig festzulegen würde in beiden Fällen nicht helfen.
Beim dritten Bereich sollten wir, wieder einmal dasWort „Haus“ gebrauchend, darüber reden, dass die Pro-bleme in der Bundesrepublik und nicht anderswo liegen.In der Frage der Kompetenzabgrenzung, in der Frageder Mehrheitsentscheidungen im Verhältnis des Bun-des zu den Ländern gibt es quer durch die Parteien nochnicht ausdiskutierte Positionen. Dies ist auch nicht ein-seitig eine Frage der Regierung, dies ist nicht einseitigeine Frage von Opposition und der die Regierung tra-genden Parteien, nicht einseitig eine Frage der A- undder B-Länder, sondern ein wichtiger Prozess, der inten-siver als bisher betrieben werden muss. Dieser ver-schränkt sich noch zusätzlich mit wirtschaftsphiloso-phischen und wirtschaftskonzeptionellen Einsichten;denn einer der Hauptreizpunkte der derzeitigen vorgeb-lichen Überkompetenzen der EU hängt ja mit einer sehrunterschiedlichen Bewertung der Wettbewerbspolitikzusammen. Und einheitlich und parteiübergreifend strei-ten die deutschen Länder dagegen, dass die EU darüberdiskutiert, ob es in Deutschland Sparkassen geben darf.
– Sie streiten einheitlich darüber, ob es in DeutschlandSparkassen geben darf, habe ich gesagt. Mir ist nochnicht aufgefallen, dass sie ganz einheitlich über Landes-banken diskutieren.Die Antwort darauf hat aber in der französischenTerminologie etwas mit Service publique zu tun, alsomit einer wirtschaftspolitischen Auffassung, die inDeutschland wiederum von der Wettbewerbsphilosophieher nicht einheitlich geteilt wird. Bei der letzten Regie-rungskonferenz wäre es möglich gewesen, die Sparkas-sen sichernden Bestimmungen in das Vertragswerk auf-zunehmen, wenn nicht die damalige deutsche Regierungdagegen gewesen wäre. So kompliziert ist das mit derFrage der Kompetenzabgrenzung und der Mehrheitsent-scheidung.
Ich hatte vor 14 Tagen die Möglichkeit, im Bundesratzu sprechen. Damals konnte ich mich bei Herrn Minis-terpräsidenten Teufel so wie heute bei Ihnen, Herr Kol-lege Altmaier, dafür bedanken, dass Sie dem Hauptzielder Bundesregierung, wegen der Osterweiterung bis En-de 2000 das Vertragswerk abzuschließen, zugestimmthaben.
– Das ist unstreitig. – Das wollte ich an dieser Stellefesthalten und ich wollte zu der Frage, was umgesetztwird, das wiederholen, was ich im Bundesrat gesagt ha-be. Die Bundesregierung – ich fühle mich in meiner der-zeitigen Zuständigkeit diesbezüglich besonders ver-pflichtet – ist zu intensivstem Dialog mit allen Fraktio-nen dieses Hauses wie auch mit allen im Bundesrat ver-tretenen Ländern bereit, um – Herr Kollege Altmaier,Sie haben das auch angedeutet – darüber zu sprechen,was an Beschwernissen der Länder noch in dieses Ver-tragswerk passt und was darüber hinaus formuliert wer-den muss. Herzlichen Dank, dass Sie mit ähnlichenFormulierungen, wie ich sie im Bundesrat gewählt habe,aufgezeigt haben: Darüber sollte über das Ende diesesJahres hinaus intensiver diskutiert werden. Dies giltauch für die Fragen: Wann wird der Grundrechtskatalogaufgenommen? Kann daraus ein anders gegliedertesVertragswerk werden, wie es das Europäische Parlamentwill? Jetzt schon muss gefragt werden: Muss es nichtBestimmungen unter den Stichworten Flexibilität undverstärkte Zusammenarbeit geben?Dies alles möchte die Regierung mit Ihnen allen undmit den Ländern sehr schnell, in der ersten Hälfte desJahres 2000, diskutieren. Ich habe den Prozess zu orga-nisieren, habe ihn eingeleitet und erste Termine ge-macht. Wenn die Länder, die Opposition, die Regierungund die Regierungsfraktionen in der Frage, was unterdiesen Gesichtspunkten noch ins Vertragswerk kommenkann bzw. unbedingt kommen muss – ich stelle nocheinmal die Frage, wie wir vielleicht jetzt schon dieSparkassen im Vertragswerk sichern –, zu einem ge-meinsamen Ergebnis kämen, dann wäre das gut.Staatsminister Dr. Christoph Zöpel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8075
– Herr Haussmann, wer sagt, es gäbe solche – da werdenSie mir zustimmen, Herr Altmaier –, stößt auf das Pro-blem und sieht, wie kompliziert es ist. Darüber hinauswäre zu verabreden, welche weiteren Schritte danachvon Deutschland unter Wahrung des Gedankens des Fö-deralismus – das im Bundestag zu formulieren ist nichtimmer populär – nach draußen getragen werden.Zum Föderalismus eine Bemerkung. Ich halte dendeutschen Föderalismus für ein Geschenk für Europa.Probleme in einigen europäischen Ländern, wie zumBeispiel in Bosnien-Herzegowina, werden sich ohne denGrundgedanken des Föderalismus nicht lösen lassen.Dies in Europa weiter zu verbreiten kann ein echter Auf-trag auch der deutschen Länder sein. – Ich wiederholehier eine Bemerkung, die ich auch im Bundesrat machenkonnte. Lassen Sie mich zum Schluss aufgrund meiner Erfah-rungen aus meiner Tätigkeit in den europäischen Institu-tionen sagen: Ich sehe mit einer gewissen Faszinationeinen für die Beurteilung der Politik bedeutsamen Pro-zess einer politischen Entwicklung. Jeder Gipfel gibtsich einen Auftrag, der angegangen werden muss, dernächste nimmt ihn auf und Schritt für Schritt wird tat-sächlich erreicht, was drei oder vier Gipfel vorher nochals Vision galt. Das ist bemerkenswert. So habe ich überhaupt keinen Zweifel daran, dass manches, was heu-te zu Recht als Notwendigkeit in den Debatten überEuropa formuliert wird, aber im Vertrag von Nizza nichtsteht, im nächsten Vertragswerk stehen wird. Nach dem Sondergipfel von Tampere hatten wir ei-ne Debatte, in der der eine oder andere fragte: Was hatsich in Europa in der Rechts- und Verfassungslage ge-ändert? Die Antwort war zu Recht: heute nichts. Dassel-be konnte man über den Gipfel sagen, auf dem der Euroverabredet wurde: heute nichts. Nur, wir werden den Euro haben. Wir werden ein mehr und mehr einheitli-ches europäisches Straf- und Zivilrecht, eine europäi-sche Verfassung und einen kompetenzabgegrenzten Ver-trag haben. Ich bin sicher, dass wir das erreichen kön-nen. Um die viel zitierten Bürger nicht zu verunsichern:Lassen Sie uns bei den Auseinandersetzungen über diePerspektive Europas die Notwendigkeiten, die erfülltwerden müssen, wenn Europa als Ganzes da ist, nichtdeshalb als gescheitert definieren, weil sie noch nicht imVertrag von Nizza stehen. Das ist ganz wichtig.
Ich schließe mit dem, was ich dem neuen, derzeiti-gen – eine große Hoffnung für Europa – Premierministervon Kroatien, Herrn Racan, gesagt habe, als ich ihn alsersten ausländischen Besucher an seinem ersten Ar-beitstag nach seiner Amtsernennung besuchen durfte:Ich wünsche uns, Herr Ministerpräsident, dass Sie michzu Ihrem 75. Geburtstag einladen. Dann haben wir beideeinen europäischen Pass in der Tasche. Diese Vision ha-be ich. Ich bin jedem dankbar, der sie mit mir teilt. Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Gerd Müller.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Entgegen der Erwartung ei-niger Kollegen möchte ich heute nicht den Dissens inden Vordergrund stellen, sondern daran anknüpfen, waswir gestern im Europaausschuss sehr interessant mitein-ander entwickelt haben und was Außenminister Fischerauch dargelegt hat. Wir stehen in der Europäischen Uni-on vor einem Quantensprung von 15 auf 25, ja vielleicht30 Mitgliedstaaten. Es stellt sich in der Tat die Frage:Wohin geht dieser Weg? Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, der europäische Staat mit 25 Mitglied-staaten? Ich würde sagen: nein.Ich möchte einleitend mit sieben Punkten zur Fragesprechen: Welche neuen Kriterien muss die Regierungs-konferenz – Herr Roth und andere – für die europäischeRechtsetzung schaffen? Der Außenminister hat dazugestern einige wichtige Dinge gesagt. Erstens. Wir brauchen bei der europäischen Rechtset-zung in Brüssel über die Mitgliedstaaten die Verwirkli-chung des Prinzips der Demokratie. Die Rechtsetzungder Europäische Union entspricht nicht den demokrati-schen Mindeststandards, wie sie in allen Mitgliedstaatenfür die Rechtsetzung umgesetzt werden. Mit anderenWorten: Die EU könnte, wenn sie ein Staat wäre, unterdiesem Gesichtspunkt niemals Mitglied der Europäi-schen Union sein.Der Bürger als Souverän muss hinsichtlich der Zu-sammensetzung über Wahlen beteiligt sein. Seine Wahl-entscheidung muss direkt oder indirekt einen Einflussauf die europäische Politik haben.
Dies ist nicht der Fall. Der Bürger kann durch seineWahlentscheidung im Augenblick kaum etwas bewegen,was die europäische Rechtsetzung anbetrifft.Stichwort Demokratie. 80 Prozent der Gesetzgebungauf europäischer Ebene erfolgen in so genannten Beam-tenausschüssen – die Insider wissen das, kaum einerspricht das an – im Umlaufverfahren unter Ausschlussder Öffentlichkeit. Dies ist absolut inakzeptabel. Ich willnicht auf die Rolle des EuGH beim Thema Frauen in derBundeswehr – ein eklatantes Beispiel – eingehen. VonDemokratie ist die europäische Rechtsetzung weit ent-fernt.
Zweitens. Das Grundprinzip der Gewaltenteilung istnicht umgesetzt. Gewaltenteilung in der europäischenRechtsetzung widerspricht allen Grundregeln demokra-tischer Systeme. Der Rat ist Exekutive und Legislative.Das wäre in einem Mitgliedstaat nicht möglich. DieKommission als Exekutive hat das alleinige Initiativ-recht. Das wäre in einem Mitgliedstaat absolut unmög-lich.Staatsminister Dr. Christoph Zöpel
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8076 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Ich möchte als drittes Kriterium das Stichwort Re-präsentation aufgreifen. Wenn wir im Rat oder im Eu-ropäischen Parlament Mehrheitsentscheidungen, Mitent-scheidungsrechte usw. fordern, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, wenn das EuropäischeParlament wirklich die Vertretung der europäischenBürgerinnen und Bürger sein will und muss, dann müs-sen wir das Prinzip „One man, one vote“ auch dortumsetzen. Aber Faktum ist: Ein deutscher Abgeordnetervertritt 800 000 Wählerinnen und Wähler, ein Nieder-länder zum Beispiel vertritt 500 000. Wie ist das zurechtfertigen? Wir müssen die Proportionalität im Rat,in der Kommission und im Europäischen Parlamentwahren.Vierter Punkt: Transparenz und Öffentlichkeit.Niemand von Ihnen und kein einziger Bürger oder Jour-nalist in Europa ist in der Lage, das Zustandekommenvon Entscheidungen, Richtlinien oder Verordnungen imeuropäischen Regelungswerk nachzuvollziehen. Damitkann es auch nicht kontrolliert werden. Es kann keineverantwortliche Zuweisung erfolgen. Das ist absolutnicht akzeptabel.Fünftens. Daraus erwächst das Problem der Akzep-tanz. Ich erinnere an die Beteiligung bei den Wahlenzum Europäischen Parlament.Sechstens. Wir brauchen, was Kollege Altmaier ge-sagt hat, eine klare Abgrenzung der Kompetenzen unddas Strukturprinzip des Föderalismus. Die Proportiona-lität ist die Voraussetzung für Mehrheitsentscheidungenund Mitentscheidungen.Wir brauchen siebtens, wenn ich das sagen darf, eineDebatte über die Finalität der europäischen Entwick-lung, die über diese technischen Details hinausgeht.
Wo ist die europäische Vision für das neue Jahrhundert?Die Idee von der europäischen Integration hat uns Frie-den, Freiheit und Wohlstand für das 20. Jahrhundert ge-bracht. Wo ist die Vision, die uns darüber hinaus in das21. Jahrhundert führt?Da stellt sich natürlich die Frage im Zusammenhangmit 25, 30 Mitgliedstaaten: Muss die Türkei Vollmit-glied sein? Warum die Türkei? Ich bin der Meinung:nein! Warum nicht die Ukraine? Warum nicht Israel?Wo sind die Grenzen der Europäischen Union? Wo sinddie Wertefundamente der Europäischen Union? Gibt esnicht auch eine andere Form der Kooperation in Europa,von Sizilien bis Skandinavien, von Portugal bis Weiß-russland, als den Weg der Vollmitgliedschaft?Mir wird immer wieder bestätigt, auch von Regie-rungschefs, dass es leider zu spät ist; ein EWR Ost wärevermutlich der vernünftigere Weg gewesen. Auch beider Frage der Einbindung der Türkei stellt sich doch füralle Bürgerinnen und Bürger und für uns die Frage: Istdie Vollmitgliedschaft der richtige Weg? Ich meine:nein.Mir bleiben vier Minuten. Ich möchte die gestrigeDebatte aus dem Ausschuss aufgreifen. Ich bitte Sie ausallen Fraktionen um Unterstützung oder Widerspruch.Wir müssen diese Debatte führen über die Frage: Euro-pa – wo bleibt der Deutsche Bundestag? Wir haben hiereine Stunde Redezeit für diese zentrale, wichtige Frage.
Für den Sportbericht nachher stehen eineinhalb Stundenzur Verfügung.Wo bleibt also der Deutsche Bundestag in der euro-päischen Rechtsetzung? Das Bundesverfassungsgerichthat in seinem Maastricht-Urteil festgelegt, dass sichdie Legitimation der europäischen Rechtsetzung in ers-ter Linie über die Wahl des Deutschen Bundestages undder anderen Parlamente in den Mitgliedstaaten durch dieBürgerinnen und Bürger und sodann über die daraus re-sultierenden Wahlen der nationalen Regierungen, die imMinisterrat mitwirken, ergibt. Das ist der Legitimations-strang. Die erste Legitimation ergibt sich über uns, dieParlamente der Mitgliedstaaten, und erst in zweiter Linie– so das Bundesverfassungsgericht – ergänzend über dieWahl des Europäischen Parlaments. Im Deutschen Bun-destag müssen daher substanzielle Rechte verbleiben,was Mitsprache und Kontrolle im Zusammenhang mitder europäischen Gesetzgebung angeht.
Gestern hat mit Bundesaußenminister Fischer im Eu-ropaausschuss zum ersten Mal, wie ich meine, sich einAußenminister über die Frage Gedanken gemacht, wiedie nationalen Parlamente ihrer Rolle gerecht werdenkönnen. Es ist eigentlich ein Armutszeugnis für das Par-lament, wenn uns dies ein Außenminister servierenmuss.
Aber Respekt! Ich nehme es gerne auf, und wir solltenmit ihm den Gedanken weiterentwickeln, wie wir dieRolle der nationalen Parlamente in der europäischenRechtsetzung verstärken können.
Ich möchte diese Frage nicht nur aufwerfen, sonderndazu sieben Punkte in die Diskussion einbringen:Erstens. Den nationalen Parlamenten sollte auch imRahmen der Regierungskonferenz im sekundärrechtli-chen Rechtsetzungsprozess künftig ein maßgeblichesMitwirkungs- und Kontrollrecht zuerkannt werden.
Das heißt, bei grundlegenden Richtungsentscheidungendes Ministerrates ist das Mitentscheidungsrecht der nati-onalen Parlamente vorzusehen.Zweitens. Das Mitwirkungsrecht der nationalen Par-lamente bei grundlegenden Richtungsentscheidungendes Ministerrates könnte in der Weise erfolgen, dassnach Einbringung einer Kommissionsinitiative im RatDr. Gerd Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8077
und der ersten Lesung keine Abstimmung im Ministerraterfolgen darf, bevor die endgültige Stellungnahme dernationalen Parlamente dem Ministerrat vorliegt.
Das Votum der nationalen Parlamente sollte bindendeWirkung für die Vertretung im Ministerrat haben.
– Ich bin gern bereit, im Ausschuss dies im Detail aus-zuformulieren.Drittens. Die nationalen Parlamente sollten ein Kla-gerecht vor dem EuGH bekommen, welches die Durch-setzung ihrer Mitwirkungsrechte und des Subsidiaritäts-grundsatzes sicherstellt.Viertens. Dem Deutschen Bundestag sollte ein Fra-gerecht bei den europäischen Institutionen eingeräumtwerden.
Es ist ja paradox, dass wir nicht einmal eine Frage an dieEU-Kommission richten können, sondern zu diesemZweck den Weg über den Europaabgeordneten gehenmüssen.Fünftens. Bei der Regierungskonferenz 2000 sinddie Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente ver-traglich abzusichern.Sechstens. Im Zuge einer Parlamentsreform sind neueFormen der Parlamentarisierung des EU-Prozessesumzusetzen. Wir haben gestern im Ausschuss dazu eini-ge interessante Ansätze diskutiert.Siebtens. Wir brauchen eine Parlamentarisierung derGemeinschaft, weil wir die Legitimation über die natio-nalen Parlamente, über die Bürger brauchen.Herr Außenminister Fischer, Sie haben nicht allemeine Ausführungen vorhin gehört. Ich wollte das nocheinmal verdeutlichen.
Herr Kollege,
denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum
Schluss. – Wir sollten an das, was Sie gestern im Aus-
schuss angedeutet haben, parteiübergreifend anknüpfen
und vielleicht auch eine Enquete-Kommission oder eine
Expertenkommission einsetzen, die sich wirklich einmal
vertieft mit der Frage beschäftigt: Wie schaffen wir es,
den Deutschen Bundestag und die Mitgliedsparlamente
insgesamt in die europäische Rechtsetzung effektiver –
wirkungsvoller auch im Sinne unserer Bürger – einzu-
binden?
Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Sterzing.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichfinde die Vorschläge, die Kollege Müller gemacht hat,durchaus diskussionswürdig. Allerdings muss ich daranerinnern, dass Sie sich gestern im Ausschuss darüber be-schwert haben, wie kompliziert die Entscheidungspro-zesse innerhalb der Europäischen Union sind. Ob Siedurch diese Vorschläge durchsichtiger und einfacherwerden, mag mit Fug und Recht bezweifelt werden.
– Nein.Wir beschäftigen uns heute mit einem Ereignis, dasvon der breiten Öffentlichkeit eigentlich kaumwahrgenommen wird, der Regierungskonferenz. Nochviel mehr im Verborgenen ist geblieben, dass in dieserWoche die Beitrittsverhandlungen mit sechs weiterenKandidatenländern aufgenommen werden. Überdecktwurden diese beiden Ereignisse schließlich von einemdritten Ereignis, von der Auseinandersetzung über dieReaktion der 14 EU-Staaten auf die Regierungsbildungin Österreich. Diese drei Ereignisse werfen zusammen-genommen sehr grundsätzliche Fragen auf, fern allerparteipolitischen Auseinandersetzung und fern allen in-nenpolitischen Streits zum Beispiel über die angemesse-ne Reaktion auf die Regierungsbildung in Österreich.Gerade wenn wir uns mit der Reaktion der 14 Mit-gliedstaaten auf die Situation in Österreich beschäftigen,stellen sich – darüber haben wir gestern diskutiert – fol-gende Fragen: Wie soll es mit der Integration weiterge-hen? Was verstehen wir unter einer Politischen Union?Wie tief verändert sich durch die Entwicklung dieser Po-litischen Union auch das Verhältnis der Mitgliedstaateninnerhalb der EU? Wie weit verschiebt sich die Grenzezwischen Außenpolitik und europäischer Innenpolitik?Müssen wir nicht das völkerrechtliche Gebot der Nicht-einmischung in die so genannten inneren Angelegenhei-ten in einer Politischen Union neu definieren? Müssenwir nicht auch den Begriff der Wertegemeinschaft, derfür unsere Europäische Union so prägend ist, neu kon-kretisieren? Wo liegen also die Grenzen dieses politi-schen Europas, die Grenzen der Vertiefung?Um Grenzen geht es auch bei dem zweiten Ereignis,bei den Beitrittsverhandlungen, von denen ich gespro-chen habe. Es geht um die geographischen Grenzen Eu-ropas. Wo liegen diese Grenzen? Kann die EU unbe-grenzt wachsen, ohne dass das, was bislang an politi-scher Integration erreicht ist, Schaden erleidet? Wirdsich der Charakter der Politischen Union notwendiger-weise verändern müssen? Droht der Rückfall in eine eu-ropäische Freihandelszone?Diese beiden Problemkreise, die Vertiefung undErweiterung, verschränken sich sozusagen im drittenEreignis, der Regierungskonferenz. Hier wird versuchtwerden, auf einige Fragen, die sich in diesem Zusam-Dr. Gerd Müller
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8078 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
menhang stellen, Antworten zu geben, nämlich darauf,was Vertiefung und Erweiterung für das institutionelleGefüge der Europäischen Union bedeuten.Wir sagen – das ist sehr leicht dahingesagt –: Die EUmuss fit gemacht werden für die Erweiterung. Aber diepragmatische Bescheidenheit, mit der wir die Tagesord-nung dieser Regierungskonferenz behandeln, und diebegrenzte Reichweite dieser Reformen, auf die wir unsjetzt auch schon einzustellen beginnen, dürfen nicht da-rüber hinwegtäuschen, dass wir uns mehr und mehr ei-nem Wendepunkt der europäischen Geschichte nähern,einem Wendepunkt, der uns zwingt, über die Perspekti-ven und Grenzen von Vertiefung und Erweiterung stär-ker nachzudenken und sie auch zu definieren.
Wir haben in den letzten Jahren immer sehr deutlichgesagt, dass wir besser nicht über das Ziel reden, son-dern einfach nach der „Methode Monnet“ vorgehen:pragmatisch, einen Schritt nach dem anderen. Es stelltsich die Frage, inwieweit wir am Ende der „MethodeMonnet“ angelangt sind, inwieweit wir die Debatte überdie Gestalt und Zukunft dieses Europas viel offensiverführen müssen.
Sie wurde bislang tabuisiert. Ich glaube, es muss uns ge-lingen, diese Debatte parallel zur Regierungskonferenzmit ihrer begrenzten Tagesordnung innerhalb, aber na-türlich auch außerhalb des Parlamentes anzustoßen undzu intensivieren. Denn anders wird es uns nicht gelin-gen, die Bürgerinnen und Bürger in Europa auf diesemWege mitzunehmen. Insofern müssen wir uns darumbemühen – das hat die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger ja auch angesprochen – die Tendenzder Reduzierung der Tagesordnung im Hinblick auf dieeuropapolitische Debatte umzukehren. Wir müssen uns,was das notwendige Maß an Kreativität, an Fantasie undan Engagement für die europäische Debatte anbelangt,sozusagen umgekehrt proportional verhalten.
Herr Kollege,
ich muss Sie auf die Zeit hinweisen.
Insofern sollten wir, glaube ich, diese Regierungskonfe-
renz dazu nutzen, diese Debatte gemeinsam fort-
zuführen.
Vielen Dank.
Ich schließe
die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Eine
Abstimmung ist nicht vorgesehen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
9. Sportbericht der Bundesregierung
– Drucksache 14/1859 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Einen
Widerspruch sehe ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper das
Wort.
F
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Es handelt sich um den 9. Sportbericht.Damit wahrt die Bundesregierung die Kontinuität hin-sichtlich ihrer Sportberichte. Man sollte berücksichtigen,dass es sich bei diesem Sportbericht um den Bericht deralten Bundesregierung handelt. Sie sehen mir mit Si-cherheit nach, wenn ich mich mehr auf die Aktivitätenund Initiativen, die im Bereich des Sports unter der Ägi-de der neuen Bundesregierung ergriffen worden sind,beziehe. Deshalb mache ich jetzt einige Bemerkungen zurSportsituation in Deutschland insgesamt. Ich denke,wir können stolz darauf sein, 87 000 Sportvereine mitsage und schreibe 27 Millionen Mitgliedern zu haben.Das ist ein gutes Zeichen. Wenn das fort- und weiter-entwickelt wird, ist es gut. Denn der Sport übernimmtauf vielfältige Weise eine soziale Funktion, die für denZusammenhalt unserer Gesellschaft von außerordentlichhoher Bedeutung ist.
In diesem Zusammenhang möchte ich – weil mich mei-ne Kollegin aus dem Bundesverteidigungsministeriumdarauf hingewiesen hat – einmal auf die Leistungen imBereich des Sports durch die Bundeswehr und – das fü-ge ich hinzu, Frau Kollegin – durch den Bundesgrenz-schutz aufmerksam machen. Ich denke, in diesem Be-reich wird eine hervorragende Arbeit geleistet.Viele Leute reden über das Ehrenamt. Vielleicht wä-re es besser, nicht so viel über das Ehrenamt zu reden,sondern es zu praktizieren. An dieser Stelle möchte ichall denjenigen ein ganz herzliches Dankeschön ausspre-chen, die ehrenamtlich in Sportorganisationen tätig sind,insbesondere denjenigen, die sich auch heute noch fürdie Arbeit im Jugendbereich des Sports zur Verfügungstellen. Ihnen allen gebührt ein ganz besonderer Dank.
Christian Sterzing
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8079
Die Bundesregierung hat handfeste finanzielle Entlas-tungen geschaffen, um das Ehrenamt zu stärken.
– Das sage ich: beispielsweise, dass die Übungslei-tungspauschale ab Januar dieses Jahres um 50 Prozentvon 2 400 DM auf 3 600 DM angehoben worden ist
und dass zugleich der Kreis der Begünstigten über denKreis der Übungsleiter hinaus auf die Betreuer erweitertworden ist. Meine Damen und Herren von der Oppositi-on, Sie sollten mit der Kritik vorsichtig sein. Das sindEntscheidungen, die Sie jahrelang überhaupt nicht zu-stande bekommen haben.
Zudem können – anders als beim bisherigen Pauschalbe-trag – von den Einkünften, die den Steuerfreibetrag übersteigen, entstandene Kosten wie zum BeispielFahrtkosten anteilmäßig abgesetzt werden. Ich denke,auch das muss erwähnt werden.Heute klagen auch vielfach Vereine des Breiten-sports, dass es immer weniger Menschen gibt, die sichehrenamtlich zur Verfügung stellen. Ich denke, dass das,was auf den Weg gebracht worden ist, nämlich das ar-beitsaufwendige so genannte Durchlaufspendenverfah-ren über Gemeindeverwaltungen und Stadtverwaltungenabzuschaffen, eine gute Tat für die Sportvereine ist. Jetztkönnen alle gemeinnützigen Vereine, auch Sportvereine,Geldspenden unmittelbar entgegennehmen
und Spendenquittungen selbst ausstellen. Diese Maß-nahme baut zugleich unnötige Bürokratie ab und wirdhelfen, die Vereine finanziell zu stärken.
Auch ist es notwendig, deutlich zu machen, dass indiesem Haushaltsjahr die Mittel für die Sportförderungtrotz schwierigster Haushaltslage erhöht worden sind,nämlich um den Betrag von 41 Millionen DM. DieSportförderung hat jetzt das beachtliche Volumen vonfast 280 Millionen DM erreicht. In Anbetracht derschwierigen Haushaltslage ist das ein sehr positives Er-gebnis.
Wir haben eine Initiative mit dem Sonderförderpro-gramm Goldener Plan Ost vollzogen. Ich denke, dassgerade auch für den Sportstättenbau in den neuen Bun-desländern damit ein guter Ansatz gewählt worden ist.Ich könnte mir vorstellen, dass sofort kritisiert wird,dass das finanzielle Volumen noch größer hätte seinkönnen. Aber mit diesen 60 Millionen DM können wirbis zum Jahre 2002 wesentliche Impulse auch für denSportstättenneubau in den neuen Bundesländern geben. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, festzuhalten,dass zwar die Länder für den Breitensport und der Bundfür den Spitzensport zuständig ist, dass man dies abernicht trennen kann. Ich bringe das auf den einfachenNenner: ohne Breite keine Spitze, ohne Spitze keineBreite. Deswegen gehören beide Komplexe zusammen.
Nur nebenbei möchte ich erwähnen, dass diese Bun-desregierung mit der Zurverfügungstellung von insge-samt 200 Millionen DM für die Sanierung des Olympia-stadions Berlin und des Leipziger Zentralstadions einenganz wesentlichen Beitrag für eine vielleicht erfolgrei-che Bewerbung für die Fußballweltmeisterschaft 2006leisten wird. Dieses große Ereignis würde uns gut anste-hen. Hoffentlich gelingt es, das nach Deutschland zu ho-len.
Der Sportförderhaushalt 2000 gewährleistet auch,dass Vorbereitung und Entsendung der deutschen Mann-schaften zu den Olympischen Spielen und zu den Para-lympics nach Sydney im vorgesehenen Umfang reali-siert werden können. Das möchte ich hier noch einmalfesthalten.Aber der Sport wird auch nicht umhinkönnen, sich zufragen, wo er sich effektiver und effizienter organisierenkann. Ich bin dem Deutschen Sportbund sehr dankbar,dass er sich konstruktiv an diesem Prozess beteiligt. Dievon ihm angeregte Konzentration, etwa zukünftig nurnoch einen speziell geförderten internationalen Haupt-wettkampf in den einzelnen Sportarten pro Jahr durchzu-führen, wirkt nicht nur finanziell entlastend, sondernschützt auch die Athletinnen und Athleten vor den Ge-fahren einer permanenten gesundheitlichen Überforde-rung. Deswegen ist der Vorschlag nicht schlecht.In solchen Maßnahmen liegt auch ein Ansatzpunktfür konsequente Dopingbekämpfung, die zugleichGrundvoraussetzung für staatliche Spitzenförderung ist.In dieser Zielsetzung nämlich mit Nachdruck die huma-ne Gestaltung des Leistungssports einzufordern, bestehtGrundkonsens zwischen allen im Deutschen Bundestagvertretenen Parteien.
Unser Land belegt bei Dopingkontrollen weltweit ei-nen führenden Platz. Dies hat die Jahresstatistik gezeigt,die am 10. Februar dieses Jahres von der Anti-Doping-Kommission von DSB und NOK vorgelegt wurde. Ins-gesamt gab es mehr als 7 700 Dopingtests, davon 4 265Trainingskontrollen. Die seit Bestehen des Dopingkon-trollsystems höchste Anzahl gaben die im DSB zusam-mengeschlossenen Verbände 1999 in Auftrag. Wennman über dieses Thema redet, ist festzuhalten, dass le-diglich 39 dieser Tests aus Wettkampf und Training po-sitiv waren; das sind – um einmal die Relation deutlichzu machen – 0,5 Prozent. Es ist ein gutes Zeichen, dassParl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
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8080 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
trotz vermehrter Trainingskontrollen die Zahl positiv ge-testeter Sportler nicht gestiegen ist.Intensivere Trainingskontrollen und verfeinerte Ana-lysemethoden haben wohl zur verstärkten Abschreckunggeführt. Diese Entwicklung ist maßgeblich durch die Po-litik der Bundesregierung mitbestimmt worden. So wur-den 1999 die Bundesmittel für die beiden deutschen Do-pingkontrolllabore und für die Dopingforschung um400 000 DM aufgestockt, nachdem wir den noch vonder alten Bundesregierung hierfür zunächst vorgesehe-nen Ansatz bereits um 100 000 DM erhöht hatten. Alleinin den Jahren 1999 und 2000 wird rund 1 Million DMfür Forschungen auf den Gebieten Wachstumshormoneund EPO bereitgestellt werden. Dies unterstreicht dieEntschlossenheit der Bundesregierung im Kampf gegenDoping. Mit dem Deutschen Sportbund und dem NationalenOlympischen Komitee weiß ich mich auch darin einig,dass die gemeinsame Anti-Doping-Kommission vonDSB und NOK möglichst rasch zu einer eigenständigennationalen Anti-Doping-Agentur fortentwickelt wird.Wichtig ist eine Zusammenführung des Sachverstandes,wenn es darum geht, konkreten Anhaltspunkten für eineBeteiligung des Athletenumfeldes an Dopingverstößennachzugehen. Die Einrichtung einer Schwerpunktstaats-anwaltschaft ist dabei ein aus meiner Sicht Erfolg ver-sprechender Ansatz.Die Bundesregierung bekennt sich nachdrücklich zurFörderung des Leistungssports der Behinderten, de-ren Leistungen nicht nur Anerkennung, sondern auch ei-ne angemessene Darstellung in den Medien verdienen.
Behinderung ist nicht gleichbedeutend mit Leistungs-minderung. Behindertensport trägt viel zu einer huma-nen Gesellschaft bei. Deswegen verdient er unsere Un-terstützung.
Ein besonderes Anliegen ist in diesem Zusammen-hang die Berichterstattung über den Behindertensport.Gerade mit Blick auf die Berichterstattung über die Pa-ralympics in Sydney im Oktober dieses Jahres appelliereich auch von dieser Stelle noch einmal eindringlich andie Medien, den Behindertensport in Zukunft stärker zuberücksichtigen.
– Sie können ja dazu beitragen, dass das erhört wird. Ichbin sicher – das wird dann auch dem Breitensport derBehinderten dienlich sein –, dass das Interesse durch ei-ne verstärkte Darstellung in den Medien weiter steigenwird, wenn beispielsweise von Sydney in den Fernseh-programmen breit berichtet wird.Mit der Fußballeuropameisterschaft steht uns indiesem Jahr ein herausragendes Sportereignis bevor. Wirfreuen uns alle und hoffen, dass die deutsche National-mannschaft in den Niederlanden und Belgien entspre-chend gut abschneidet.
Damit diese Europameisterschaft auch ein schönes,großes und friedliches Fußballfest werden kann, bei demSpieler und Zuschauer nicht durch Randalierer oder garKriminelle gefährdet werden, wird es eine umfänglicheZusammenarbeit der Polizeibehörden aller beteiligtenLänder über die Grenzen hinweg geben. Gestern hatBundesminister Otto Schily mit seinen belgischen undniederländischen Kollegen vereinbart, dass wir zur Ver-hinderung von Gewalt bei der Europameisterschaft 2000sowie zur zügigen Ahndung eventueller Ausschreitun-gen eng zusammenarbeiten werden. Dies können wir nurgemeinsam tun und wir hoffen, dass wir erreichen, dassfür Rowdys und Hooligans bei solchen Sportereignissenkein Platz bleibt.
Die weitere Gestaltung der Spitzensportförderungvonseiten der Bundesregierung ist eine Aufgabe mitgroßer Tragweite. Ihre Auswirkungen gehen weit überden engeren Sportbereich hinaus. Ein Engagement zumWohle des Sports sollte ein über alle Parteigrenzen hin-weg einheitliches und verbindliches Ziel sein, dem wiruns alle verpflichtet fühlen. Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Riegert.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Der 9. Sportbericht belegt mit Zah-len und Dokumenten die Zielsetzung und Leistung derBundesregierung bei der Förderung des Sports, vor-nehmlich des Spitzensports, in den Jahren 1994 bis1997, zum Teil noch 1998. Dieser Bericht ist eine Bilanz des Erfolges, der Zu-verlässigkeit und der partnerschaftlichen Zusammenar-beit mit dem Sport. Deutschland gehört zu den Top-Nationen des Spitzensports sowohl im Bereich der nichtbehinderten als auch der behinderten Sportler. Diese er-folgreiche Bilanz lässt sich an den Medaillenzahlen beiden Olympischen Spielen und bei den Paralympics able-sen.
Diese erfolgreiche Bilanz lässt sich vor allem ableitenaus der Breite, in der Spitzensport heute in Deutschlanderfolgreich gefördert wird. Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8081
Diese erfolgreiche Bilanz ist möglich, weil der deut-sche Spitzensport über eine hervorragende Infrastrukturan Trainings- und Wettkampfeinrichtungen verfügt unddie sportwissenschaftliche Forschung in den vergange-nen Jahren vorangebracht worden ist. Wir verfügen heu-te über qualifizierte Trainer, unsere Athleten werdensportmedizinisch und sozial gut betreut. Dies ist möglichdurch eine konsequente und verlässliche Förderung desSpitzensports durch die früheren Bundesregierungen.
Der Vizepräsident des Deutschen Sportbundes traut un-seren Athleten ein hervorragendes Abschneiden in Syd-ney zu, weil alle Koordinaten des Spitzensportkonzeptsstimmen. Wir wünschen unseren Athleten diesen Erfolgals Ergebnis von jahrelangem, oft entbehrungsreichemTraining.
Es wäre deshalb fatal, junge Menschen durch Kür-zung von Fördermitteln in ihrer Leistungsentwicklungzu hemmen. Es wäre fatal, Spitzensport nur dort zu för-dern, wo er international erfolgreich ist. Dies wäre eineRückkehr zur Förderpraxis des ehemaligen DDR-Systems. Dort wurden nur die Bereiche des Spitzen-sports gefördert, die mit wenigen Mitteln sehr effektivund erfolgreich waren. Die Folgen sind bekannt: Weg-brechen der Breite des Spitzensports, Vernachlässigungvon Talenten, die nicht zu den förderfähigen Sportartengehörten.
Dies wollen wir nicht und dies hat die alte Bundesre-gierung stets verhindert. Sie hat in den vier Jahren desBerichtszeitraumes von 1994 bis 1997 die Förderung desSpitzensports auf einem sehr hohen Niveau gehalten. Die Mittel für den Spitzensport sind in diesen Jahrennicht angehoben, aber auch nicht abgesenkt worden.Zum ersten Mal nun werden die Mittel für die Förderungdes Spitzensports im Haushalt 2000 drastisch gekürzt.Da hilft, Herr Staatssekretär, auch kein Gesundrechnen. Es ist unredlich, die Kosten für die Entsendung zuden Olympischen Spielen und zu den Paralympics inHöhe von 9,4 Millionen DM in die Fördermittel desSports hineinzurechnen.
Sie kürzen real die Leistungen für den Spitzensport um8,2 Millionen DM,
und zwar im Bereich der Olympiastützpunkte und Bun-desleistungszentren, für Wettkampf- und Trainingsmaß-nahmen, für medizinische Versorgung der Spitzen-athleten usw. Da können Sie herumrechnen, wie Siewollen. Ich schließe mich der Aussage des Präsidentendes Deutschen Sportbundes an,
der Ihre Art des Rechnens und Ihren Haushalt schlichtund einfach eine Mogelpackung nennt.
In dem Berichtszeitraum 1994 bis 1997/98 hat derdeutsche Sport seine Kooperation unter Beweis gestellt,die Fördermittel des Bundes sparsam und effizient ein-zusetzen. Das nationale Spitzensportkonzept bewirkt ei-ne Konzentration der Olympiastützpunkte und Leis-tungszentren, sieht doch das Förderkonzept 2000 Förde-rung nach Leistung vor; es setzt Qualifizierung vonTrainern voraus und betreibt gezielt Nachwuchsförde-rung. Diese Konzeption ist nicht zum Nulltarif zu haben,im Gegenteil. Internationale Konkurrenz nimmt zu, im-mer mehr Länder etablieren sich erfolgreich im Spit-zensport. Es wird nicht gelingen, dieses internationalhohe Spitzenniveau auf breiter Basis zu erhalten, wenndie Bundesregierung die Fördermittel drastisch kürzt –bei den Olympiastützpunkten, den Bundesleistungszent-ren, den Trainings- und Wettkampfmaßnahmen.Sie wollen zusätzlich die Investitionen für Sport-stätten im Spitzensport bis zum Jahre 2003 um 60 Pro-zent, von jetzt 68 Millionen DM auf 32 Millionen DM,kürzen.
Wie wollen Sie eigentlich noch Sportstätten für denSpitzensport finanzieren? – Schon heute gibt es eineBugwelle von Verpflichtungsermächtigungen für dienächsten Jahre, und Sie wissen ganz genau, dass derdeutsche Spitzensport die ihm jetzt gekürzten Mittel ausdem Investitionshaushalt herausschneidet. Wie wollenSie in drei oder vier Jahren noch Sportstätten für denSpitzensport fördern, wenn Sie die Mittel so drastischkürzen?
Wir werden – dies sagen Experten – auf Dauer keineSportstätten und keine Trainingseinrichtungen mit einemsolch hohen internationalen Niveau mehr haben. Der Aktivensprecher der deutschen Sportlerinnen undSportler hat bei der Anhörung im Sportausschuss zumThema Doping deutlich gesagt, sollten Sie es nicht ge-hört haben, können Sie es in seinem Statement nachle-sen – : Die sehr gute Infrastruktur des deutschen Sportesdarf nicht gefährdet werden, wenn unsere Sportlerinternational mithalten wollen, ohne auf illegaleMethoden, sprich: Doping, zurückgreifen zu müs-sen. Diese Warnung der Aktiven sollten Sie ernst nehmen.
Klaus Riegert
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8082 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Deshalb fordere ich Sie auf: Kürzen Sie nicht. Blei-ben Sie bei Ihrer früheren Aussage. Jede Mark, die demSport entzogen wird, muss dreifach im sozialen Bereichzugezahlt werden. Dies haben Sie uns im Sportaus-schuss immer wieder vorgehalten. Dies sollte für Sieheute auch Gültigkeit besitzen.
Der Herr Minister – leider ist er vor Beginn der De-batte gegangen; ich weiß nicht, wohin er musste –
inszeniert sich ja gern selbst.
So hat er zu Recht darauf hingewiesen, dass die Einheitim Sport hervorragend und beispielhaft gelungen sei.Nur, der Herr Minister schmückt sich mit fremden Fe-dern. Er hat dazu nichts, aber auch gar nichts beigetra-gen.
Mit 665 Millionen DM hat die Bundesregierung bis1998 den Aus- und Neubau von Spitzensporteinrichtun-gen in den neuen Ländern gefördert. Wo sind Ihre Mittelfür die zusätzliche Förderung des Spitzensports?
Sie gefährden durch Ihre Haushaltspolitik diese Leistun-gen. Zu Beginn seiner Tätigkeit hat sich der Minister inDopingaktionismus und in geradezu hysterischer Über-bewertung von Einzelfällen geübt.
Manchmal hatte man den Eindruck, als wimmle es inseinen Vorstellungen geradezu von gedopten Sportlern.
Diese Aufregung hätte er sich sparen können. Er hat inSachen Doping ein gut bestelltes Haus vorgefunden.
Wir haben das Arzneimittelgesetz geändert. Er will oderwollte – man weiß es nicht genau – ein eigenständigesAntidopinggesetz, wir nicht. Die Sachverständigen ge-ben uns Recht. Das deutsche Dopingkontrollsystemfunktioniert sehr gut. Der Herr Staatssekretär hat es auchausgeführt. Es arbeitet effektiv und die Abschreckungfunktioniert. Von 7 726 Kontrollen – Wettkampf undTraining – waren 39 positiv, davon 14 in einer Kraft-sportart. Dies sind weniger als 0,5 Prozent der unter-suchten Proben. Das ist erfolgreiche Prävention und Do-pingbekämpfung und ein Verdienst der alten Bundesre-gierung.
Der Leiter des Dopingkontrolllabors in Köln warntvor einer Dopinghysterie und gibt Ihnen, Herr Ministerund Herr Staatssekretär, Hausaufgaben auf.
Wir brauchen eine kontinuierliche Erhöhung der Zahlunangemeldeter Trainingskontrollen von 4 000 auf6 000, um auch die C- und D-Kader im Nachwuchs-bereich stärker zu erfassen.
Wir brauchen eine unabhängige Antidopingagentur.Stellen Sie hierfür Mittel bereit!
Wir brauchen auch mehr Mittel für Dopingforschungund -analytik.
Sie dagegen kürzen die Mittel.Ihre Behauptung, Sie gäben mehr Mittel für die Do-pingbekämpfung aus, wird durch die Zahlen des Haus-haltes widerlegt. 1998 gab die Bundesregierung für dieFörderung der sportwissenschaftlichen Forschung unddie Durchführung der Dopinganalytik 5,86 Milli-onen DM aus. 1999 waren es noch 5,094 Millionen DM.Im Jahre 2000 sind es nur noch 4,498 Millionen DM.Sie haben diesen Bereich von 1998 bis 2000 um rund12 Prozent gekürzt. Das sind über 600 000 DM. In wel-chen Bereichen der Forschung wollen Sie sonst kürzen,wenn nicht im Dopingbereich, etwa bei der Forschungim Bereich des Behindertensports? Sagen Sie uns das!Das würde uns interessieren. Ihre Aktivitäten in Sachen Doping beschränken sichauf Drohgebärden: Dies geht vom Entzug der Fördermit-tel über Verschärfung der Gesetze,
über den juristischen Flop mit der Androhung einerMindeststrafe von zwei Jahren bei Ersttätern bis hin zumOlympiaboykott. Aber Drohgebärden ersetzen keineSachpolitik. Wir, aber vor allem der Sport, erwarten vonIhnen sachliche, konstruktive und kontinuierliche Ar-beit. Aber die ist beim besten Willen nicht zu erkennen.Wenn Sie in Sachen Doping hohe Anforderungen an an-dere stellen, dann müssen Sie auch die erforderlichenHaushaltsmittel bereitstellen. Diese verweigern Sie. Wir,die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fordern ein For-schungsprogramm zur Dopingbekämpfung.
Klaus Riegert
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8083
Auch im Bereich des Behindertensports müssen Siesich an den Leistungen der Vorgängerregierung messenlassen. In den letzten Jahren haben sich die Leistungenim Bereich des Behindertensports geradezu explo-sionsartig entwickelt. Immer mehr Nationen schickenAthleten zu den Paralympischen Spielen. Es wird des-halb zukünftig von herausragender Bedeutung sein, denbehinderten Sportlerinnen und Sportlern die gesamteInfrastruktur des Spitzensports zur Verfügung zu stellen.Dies sind wir den Behinderten schuldig.
Behinderte müssen kurze Wege zu den Trainings-und Wettkampfeinrichtungen haben. Darauf sind siemehr angewiesen als andere Sportler. Tägliches Trainingist auch bei unseren behinderten Spitzensportlern zu-künftig gefragt, damit sie international konkurrenzfähigbleiben können.
– Hören Sie bitte zu! Ich bin gerade dabei, dies zu erklä-ren.
Lesen Sie den Sportbericht! Dort steht, dass wir den be-hindertengerechten Ausbau und Zugang zu den Einrich-tungen des Spitzensports auf den Weg gebracht haben.Setzen Sie diesen erfolgreichen Weg fort
und kürzen Sie nicht willkürlich bei Olympiastützpunk-ten und Leistungszentren!
Wir wollen, dass den behinderten Leistungssportlern dasgesamte Leistungsangebot der Olympiastützpunkte undLeistungszentren zur Verfügung steht. Sie verhindern dies durch Ihre Kürzungen.Ziehen wir das Fazit des 9. Sportberichts für die Jahrevon 1994 bis 1998: hervorragende Leistungsbilanz fürden deutschen Sport, Kontinuität und partnerschaftlicheZusammenarbeit mit dem deutschen Sport. Trotz ange-spannter Haushaltslage hat der Spitzensport bei der al-ten Bundesregierung einen hohen Stellenwert gehabt.
Spitzenleistungen – auch im Sport – sind kein Selbst-zweck. Spitzenleistungen sind Voraussetzungen für einegesunde Breite und umgekehrt. Deshalb sind die Mittelfür den Spitzensport nicht gekürzt worden. In der Be-wertung von Leistungen für unsere Gesellschaft liegt derwesentliche Unterschied zu der neuen Regierung. Spit-zensport und damit Spitzenleistungen scheinen für SieLuxus zu sein, bei dem man ruhig sparen kann. In die-sem Sinne äußerte sich der sportpolitische Sprecher derGrünen im Sportausschuss des Bundestages.
Dementsprechend ist Ihre Bilanz: Unzuverlässigkeit,drastische Kürzungen im Spitzensport und Unklarheit.Trotz aller Differenzen, die es naturgemäß gibt, sindwir zu einer fairen und konstruktiven Zusammenarbeitbereit. Wir werden Sie daran messen, ob Sie dem Sportdie erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen. Wirwerden Sie daran messen, ob Sie alle Voraussetzungenfür Sportlerinnen und Sportler aufrechterhalten, eine fai-re Chance im internationalen Wettbewerb zu haben. Wirwerden Sie auch daran messen, ob Sie Talente in derganzen Breite des Spitzensports fördern.Noch ein Wort zum Minister. Das Vorwort des9. Sportberichtes strotzt vor vollmundigen Ankündigun-gen, die ein sportpolitisch neues Zeitalter prophezeien.Leider können wir nicht erkennen, wer hier so tönt. Wirnehmen aber an, dass es der Herr Minister ist, der dahin-ter steckt. Wenn das so ist, dann soll er sich dazu beken-nen, dass er der Sportminister dieses Landes sein soll.
Mir stellt sich oft die Frage: Haben wir überhaupt ei-nen Sportminister? Seine Abwesenheit heute spricht ei-ne deutliche Sprache.
Herr Staatssekretär, richten Sie bitte Herrn Schilyaus, er solle das Vorwort des Sportberichtes unterschrei-ben, er solle sein Konterfei dem Bericht hinzufügen unddiesen Bericht als Broschüre herausgeben. Auch alleseine Vorgänger haben dies bei einem Regierungswech-sel so gehalten. Wir versichern Ihnen: Sein Vorwort undsein Konterfei interessieren nicht; doch der Bericht istfür Sportinteressierte sehr interessant.
Jetzt hat der
Abgeordnete Winfried Hermann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Sportfreunde, liebe Sportfreundinnen!
Kollege Riegert, sehen Sie es etwas lockerer undnicht ganz so verbiestert, wenn Sie über Sport reden.Behalten Sie ein bisschen die Lockerheit, die Freiheitund die Leichtigkeit des Sports auch in Ihren Reden; daswürde die Sache auch in der Debatte etwas einfachermachen.
Klaus Riegert
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8084 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Ich möchte meine Rede gern mit einer kleinen per-sönlichen Anekdote beginnen. Als ich – Sie verzeihenmir, dass ich so persönlich werde – vor 15 Jahren zumersten Mal in einem deutschen Landtag, nämlich in demvon Baden-Württemberg, zur Sportpolitik gesprochenhabe, bin ich mit Rollschuhen angereist.
Danach bin ich häufig auch mit dem Rad gekommen.Damals waren Rollschuhe die totale Sensation unddas Rad war wie eine Provokation. Heute kommen aus-gewachsene Abgeordnete – übrigens aus Ihrer Frak-tion – auf Tretrollern. Ich sage das nicht, um die Kollegenlächerlich zu machen; vielmehr ist das heute sozusagenZeitgeist. An schönen Tagen gibt es heute schonSchwierigkeiten, einen Fahrradparkplatz zu bekommen,
weil so viele Abgeordnete, sogar ehemalige Ministerund Noch-Minister, Rad fahren.Warum erzähle ich das? Es ist zum einen Ausdruckdafür, dass die politische Klasse, die vor 15 Jahren eherdickbäuchig-männlich war, heute eher sportiv ist undselbst ein ganz anderes Leben als damals lebt.
Sportpolitiker sind tatsächlich auch aktive Sportler.Das ist gut so. Es ist aber auch ein Stück weit Ausdruckeiner Veränderung der gesamten Gesellschaft. Heute istSport weit mehr Teil des Alltags. Der Sport ist weitmehr in die Breite der Gesellschaft gegangen. Sport istnicht nur Sport in der Sportstätte; vielmehr ist Sport tat-sächlich auch sportives Handeln im Alltag.Der Sportbericht selber ist, wie ich meine, ein schö-ner Spiegel der ganzen Vielfalt des Sports in unsererGesellschaft während der letzten Jahre. Er ist hinsicht-lich der aufgezeigten Facetten durchaus interessant. Eswird deutlich, dass Sport auch im Sportverein nicht nurder „kleine Hochleistungssport“ ist, sondern auch eineganz eigene Sport-, Spiel- und Bewegungskultur, die ei-nen eigenständigen Charakter hat. Insofern widersprecheich übrigens auch den beiden Vorrednern. Für mich istder Breitensport nicht nur der untere Teil des Hochleis-tungssports, sondern stellt eine eigenständige Bewe-gungskultur in der Gesellschaft dar.
Sportpolitik muss von daher breiter gedacht werden,sie kann sich nicht nur auf herkömmliche Sportförde-rung und insbesondere auf Spitzensportförderung kon-zentrieren. Trotzdem ist und bleibt diese wichtig. DaSie, Kollege Riegert, ja immer wieder gerne meinenAusspruch zum Spitzensport zitieren, sage ich es gerneauch an dieser Stelle: Wir haben ein sehr gut ausgestat-tetes System. Es ist das System eines reichen Landes,das sich ein gutes bis luxuriöses Sportleistungssystemleistet. Dafür müssen wir uns nicht schämen. Aber dieseGesellschaft braucht das eigentlich nicht unbedingt,sondern sie leistet es sich. Das halte aber auch ich fürgut.Wenn wir uns den Sportbericht anschauen, finden wireine sehr beeindruckende Darstellung dessen, was Sie inIhrer Regierungszeit alles geleistet haben.
Wir können sagen, dass wir in der Bundesrepublik her-vorragende Trainingsmöglichkeiten und fachlich sehrgut qualifizierte Trainer sowie hervorragende Olympia-stützpunkte und Leistungszentren zur Sportförderunghaben. Es gibt auch eine exzellente Förderung desSports im Rahmen der Bundeswehr und des Bundes-grenzschutzes, wodurch es gelingt, einerseits beruflicheQualifizierung und andererseits Förderung sportlicherLeistung miteinander zu verbinden. All das verdient An-erkennung. Sie haben uns in dieser Hinsicht durchausein gut bestelltes Haus hinterlassen. Wir werden das aber auch weiterführen. Sie brauchen jetzt nicht anzufangen, über das zujammern, was wir alles kaputtmachten – das tun Sie jaschon die ganze Zeit im Sportausschuss –, sondernschauen Sie sich doch einmal die Haushalte der letztenzwei Jahre an: von wegen „alles gestrichen“. Auch wennwir in allen Bereichen sparen mussten, haben wir dieSportförderung auf höchstem Niveau erhalten und habenfür die Olympischen Spiele sogar eins drauflegen kön-nen.
Wir werden weiterhin alles tun, damit wir in diesem Be-reich Spitze bleiben. Es kann aber durchaus sein, dassman da und dort im Sportsystem nachschaut, ob alleswirklich effizient ist oder ob nicht da und dort zu vielnebeneinander und parallel gearbeitet wird und Geld he-rausgeht, das man sparen könnte. Auch das muss mög-lich sein. Ein nächster Punkt, bei dem in den letzten Jahrenwirklich Vorbildliches geleistet wurde, ist der Behin-dertensport. Es wurde viel für den Behindertensportund den Leistungssport von Behinderten getan. Ich findees ausgezeichnet, dass wir es geschafft haben, nicht mitzweierlei Maß zu messen, sondern beide Bereiche nachdenselben Kriterien zu fördern. Das ist ein Gebot derFairness und gute Politik. Diese Politik werden wir fort-setzen.Ich habe bei der Anhörung zum Behindertensport ge-lernt, dass man in diesem Bereich durchaus auch nochetwas verbessern kann, etwa den Transfer. Sehr beein-druckt hat mich, dass zwischen dem Hochleistungssportvon Behinderten und dem von Nichtbehinderten ein re-ger Austausch in den Zentren besteht und dass zum Teilin den technisch-wissenschaftlichen Abteilungen dieserZentren Prothesen entwickelt werden, die auch für denalltäglichen Breitensport von Behinderten taugen. Ichwürde mir wünschen, dass hier ein Transfer in die Ge-sellschaft hin zu den Behinderten stattfindet, die Brei-tensport betreiben.Winfried Hermann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8085
Ich komme nun zu einem Bereich, der mir große Sor-gen bereitet. Ich finde, dass man in dieser Frage nicht sopolemisieren darf, wie Sie es, Herr Riegert, getan haben.Wir sollten darüber gemeinsam weiter nachdenken. Ichrede von Doping. Doping ist
nach wie vor trotz der geringen Zahlen, die wir bei Pro-ben finden, neben der totalen Kommerzialisierung desSports die größte Bedrohung des Sports überhaupt.
Das gilt nicht nur, weil Doping eine Gefahr für Leib undLeben mit sich bringt und wir auch immer wieder fest-stellen müssen, dass Sportler in jungen Jahren aufgrundvon Dopingmissbrauch plötzlich sterben oder schwererkranken, sondern auch, weil durch solche Manipulati-onen des Körpers das Leitbild des Sports, nämlich Fair-ness und fairer Wettkampf, im Grunde genommen adabsurdum geführt wird. Dem fairen Wettkampf wird so-zusagen faktisch die Manipulation entgegengestellt.Dem Leitbild des Sportes, Gesundheit zu schaffen, wirddie Maxime entgegengesetzt: Es ist völlig egal, was mitdem Körper geschieht, Hauptsache gewonnen. Das istdie völlige Untergrabung des sportlichen Ideals und in-sofern eine schwerwiegende Bedrohung des Sports.Wir dürfen nicht müde werden, Doping mit allen unszur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen und tat-sächlich ernsthaft zu suchen, wo das bisherige SystemLücken hat und wo es verbessert werden muss.Lange Zeit hieß es: Doping ist wie eine Hydra; wennman ein Mittel verbietet, kommt ein anderes zum Vor-schein. Daraus hat sich eine fatale Haltung – bisweilenauch in der Politik – abgeleitet. Man hat gesagt: Da kannman sowieso nichts machen; das gehört halt irgendwiezum Leistungssport.Ich bin froh, dass es hier in den letzten Jahren zu ei-nem völligen Umdenken gekommen ist. Heute sagt imSportausschuss kein Mensch mehr so etwas. Auch inden Medien herrscht eine ganz andere Grundstimmung.Die Politik, die Wissenschaft, die Medien, aber auch derSport selber sagen: Wir müssen dieses Dopingelend ge-meinsam mit allen Mitteln bekämpfen. – Das ist meinesErachtens die einzige Chance, zu verhindern, dass ausdem Sport ein Festival der chemiegesteuerten Gigantenwird. Das wäre fatal.Ich möchte übrigens ausdrücklich dem Innen-minister – ich hätte es ihm gerne persönlich gesagt – da-für Dank sagen, dass er den Mut gehabt hat, die Laisser-faire-Haltung der alten Innenminister nicht weiter zupflegen, sondern zu sagen: Dort, wo der Sport versagt,dort, wo auch aus dem Sport selber Stimmen kommen,die den Staat, der den Sport fördert und unterstützt, umHilfe bitten, greifen wir ein, ohne die Autonomie desSports zu gefährden.
Ich meine, der Sport hat in der Politik durchaus einenguten Partner. Wir in der Politik haben auch eine eigen-ständige Verantwortung. In der Anhörung ist deutlich geworden: Der Kampfgegen Doping ist schwierig, aber nicht aussichtslos. Miteinem konsequenten Kontrollsystem im Training istviel zu machen. – Herr Riegert, ich kann Ihnen versi-chern: Es wird da keine Kürzungen geben. Im Gegenteilwerden wir dafür sorgen, dass dieses System eher ver-bessert als verschlechtert wird. Die Anhörung hat auch deutlich gemacht, dass wirweiter arbeiten müssen. In der Exekutive bestehen of-fensichtliche Lücken. Zollpolizei und Staatsanwaltschafterfahren eher zufällig vom Schmuggel von Dopingmit-teln. Sie erinnern sich vielleicht an die Beispiele, die dagenannt wurden: Hunderttausende Medikamenten-packungen wurden in wenigen Taschen über die Gren-zen transportiert. Neu ist – jedenfalls wird es von der Öffentlichkeit alsneu wahrgenommen –, dass diese Dopingmittel nicht al-leine im Spitzensport Verwendung finden, sondern zu-nehmend auch im Breitensport, in den Fitnessstudios.Man hat ausgerechnet – ich habe mir heute eine neuereUntersuchung aus Lübeck angeschaut –, dass vermutlichan die 300 000 Menschen regelmäßig ihren Körper inFitnessstudios anabolisch behandeln. Diesen Punkt müs-sen wir unbedingt in den Fokus unserer Bemühungennehmen. Ich glaube, die bisherigen gesetzlichen Rege-lungen reichen hier nicht aus. Wir werden noch abwar-ten und schauen, was die Verbesserung im Arzneimit-telgesetz bringt. Aber ich persönlich glaube, dass dasGesetzeswerk, das wir jetzt haben, nicht ausreicht unddass wir erstens eine nationale Antidopingagentur undzweitens eine gesetzliche Grundlage dafür brauchen,auch und nicht zuletzt um das Doping im Breitensportzu bekämpfen.
Ich komme nun zu einem ganz anderen Bereich, zumBreitensport, dem wir uns im Koalitionsvertrag ver-pflichtet haben. Sie haben das sehr aufmerksam verfolgt:Wir haben uns im Koalitionsvertrag verpflichtet, nebendem Spitzensport zukünftig auch den Breitensport stär-ker zu fördern, ihn gewissermaßen gleichartig zu behan-deln. Damit tragen wir der Tatsache Rechnung, dass derSport sich verändert hat und nicht nur der Spitzensport,sondern gerade auch der Breitensport für uns als Ge-setzgeber interessant ist. Es muss uns interessieren, was im Bereich des Sportsim Sinne von Gesundheitsförderung geschieht. Es mussuns interessieren, wie Sport Lebensstile prägt und ent-wickelt. Das ist auch für den Nationalstaat von Bedeu-tung, wenn wir über Entwicklungskonzepte, überVerbrauch und Konsumverhalten oder beispielsweiseüber die Gesundheitsreform nachdenken.Insofern glaube ich nicht, dass das alte System trägt,wonach die Kommune für den Breitensport, das Landfür den Schulsport und der Bund für den Spitzensportzuständig ist. Wir müssen da zu einer sinnvollen Ver-Winfried Hermann
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8086 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
schränkung, zu einer ganzheitlichen Betrachtung auf al-len Ebenen kommen. Wir müssen auf Bundesebene einneues Breitensportförderkonzept erarbeiten, in demwichtige Fragen geklärt werden, beispielsweise: Wiekönnen wir Gruppen, die ausgegrenzt sind, an den Sportheranführen? Wie können wir etwa Senioren und Frauenbesser in den Sport eingliedern? Welche Arten vonSpiel- und Bewegungskultur müssen wir im Sinne derGesundheit fördern? Damit bin ich bei einem weiteren wichtigen Punkt,der Gesundheitspolitik. Aus unserer Sicht war es einRiesenschritt, dass wir es im Rahmen der Gesundheits-reform endlich geschafft haben, § 20 des Sozialgesetz-buches V zu korrigieren und im Rahmen dieser Ände-rung die primäre Prävention zu fördern.
– Für sinnvolle Maßnahmen der Gesundheitspräventionund nicht zum Beispiel für einen Segeltörn.Die alte Koalition hatte leider diese Regelung gestri-chen. Wir haben es jetzt geschafft, pro Versicherten proJahr fünf Mark dafür bereitzustellen. Das sind im erstenhalben Jahr 170 Millionen DM und im zweiten Jahrschon 350 Millionen DM. Das ist eine Menge Geld, mitdem sich der Sport an der Gesundheitsförderung beteili-gen wird. Der Sport wird dadurch seinen Beitrag zurGesundheitsförderung leisten. Das ist gut so.
Nun können Sie natürlich wieder jammern und sagen:Gemessen an den hohen Kosten des Gesundheitssystemsist dieser Beitrag zu gering; da haben Sie vollkommenRecht. Aber Sie haben einst diese Regelung gestrichen.Wir haben sie wieder eingeführt und werden dafürkämpfen, dass dieser Beitrag systematisch erhöht wird,weil wir wissen, dass die beste Sparpolitik für die Kran-kenkassen eine gute Primärprävention durch Sport ist.
Sportpolitik im neuen Sinne muss auch neue Sicht-weisen haben. So ist es zum Beispiel dringend notwen-dig, dass wir darüber nachdenken, wie wir außerhalb derSportstätten dafür sorgen, dass Menschen zur Bewe-gung, zur sportlichen Aktivität angeregt werden. Ich sa-ge immer: Ein guter Sportpolitiker ist zugleich ein guterStadtpolitiker, ein guter Architekt; denn er muss sichdarüber Gedanken machen, wie er die Stadt, die Kom-mune und den nahen Wohnort so gestalten kann, dasssie spiel- und bewegungsfreundlich sind, sodass Kinderund Menschen jeden Alters zur Bewegung angeregt wer-den. Sie dürfen aber nicht in Gefahr sein, wenn sie zumBeispiel mit dem Fahrrad fahren. Es müssen also Räumegeschaffen werden, in denen man sich frei, sicher undspielerisch bewegen kann.Das ist eine neue Qualität, von der ich glaube, dassder Bund diesbezüglich eine Leitbildfunktion hat. Wirmüssen auf der Bundesebene beispielhaft für die Länderund für die Kommunen wissenschaftliche Modellstudienanstoßen und müssen Modelle fördern und unterstützen.Dies muss beispielhaft, aber nicht flächendeckend ge-schehen. Die Aufgabe des Bundes ist es nämlich,beispielhaft auf Bundesebene auszuprobieren, wasandere dann nachmachen können.
Modellhaft in sozialer und ökologischer Hinsichtmuss etwa auch die Sanierung von Sportstätten mit gu-ter Verkehrsanbindung durchgeführt werden. Modellhaftmüssen auch die Sportstätten in den neuen Bundeslän-dern ausgebaut werden, von denen wir bewusst gesagthaben: Im Zuge des Goldenen Planes Ost wollen wirnicht einfach irgendwelche Sportstätten fördern, sondernwir wollen auch neue sozialökologische Kriterien anle-gen, damit nicht einfach so wie bisher weitergemachtwird, sondern damit auch neue Gesichtspunkte berück-sichtigt werden können.
– Wir haben Geld dafür bereitgestellt. Damit lösen wirandere Investitionsströme aus. Ich denke, dass dies einguter Anfang ist. Wir hätten natürlich gerne mehr Geldausgegeben. Immerhin aber handelt es sich jetzt um60 Millionen DM. Das ist weit mehr, als Sie uns zuge-traut haben.
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, es ist klar ge-worden, dass moderne Sportpolitik mehr sein muss alsherkömmliche Leistungssportförderpolitik. Sie mussauch andere Felder berühren. Die Sportpolitik muss esschaffen, dass diese Gesellschaft spiel- und bewegungs-freundlich ist, dass beispielsweise Gebäude, in denensich viele Menschen aufhalten, nicht ohne Umkleideka-binen und nicht ohne Möglichkeit zum Duschen gebautwerden. Auch im Reichstag fehlt eine solche Möglich-keit.
Herr Kollege,
Sie müssen zum Schluss kommen.
Hier gibt es nämlich kein Studio und keine Dusche. Wirsollten gemeinsam dafür eintreten, dass beispielsweiseauch hier im Reichstag die Bedingungen für Bewegungund Spiel im Alltag besser werden.Vielen Dank.
Winfried Hermann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8087
Jetzt spricht
der Abgeordnete Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Im Sportausschuss desDeutschen Bundestages, dem anzugehören ich seit kur-zem die Ehre habe,
sind wir uns in den letzten Monaten sehr oft in derGrundaussage einig gewesen: Deutschland muss einegroße Sportnation bleiben. Das muss unser Stolz und dasmuss sozusagen auch Grundlage all unserer Anstren-gungen sein. Der Bund ist ja nur für den Spitzensport zuständig.Dennoch möchte ich in den zehn Minuten, die mir heutezur Verfügung stehen, einige grundsätzliche Ausführun-gen zu ein paar Fragen machen, die über die Zuständig-keit des Bundes hinaus gehen, weil ich das Gefühl habe,dass es sich der Deutsche Bundestag nicht nehmen las-sen sollte, über die Kernfragen des Sports zu sprechen,auch wenn er nur für die Förderung des Spitzensportszuständig ist. Deutschland ist und bleibt eine große und wichtigeSportnation. Ein großes Problem – ich will hauptsäch-lich auf Problemfälle eingehen – ist aber der Schul-sport. Ohne guten Schulsport wird es in Deutschlandkünftig keinen Leistungssport, keinen Spitzensport undkeinen Breitensport geben, und auch für den Behinder-tensport und dort, wo wir in anderen Sportbereichen Un-terstützung brauchen, werden wir auf den Schulsportangewiesen sein. Wie sieht die Situation aus? 40 Prozent unserer 12-jährigen Schüler haben Kreislaufprobleme, 30 Prozenthaben Haltungsfehler und 20 Prozent haben Überge-wicht. Beim Schulsport in Deutschland – das muss manklar und deutlich sagen – liegt einfach vieles im Argen.
Deshalb drängen wir auch darauf, dass wir zu Anhörun-gen kommen, obwohl die Kultusministerkonferenz er-neut ein wenig bockt. Sie sollte für meine Begriffe frohsein, dass sich der Sportausschuss des Deutschen Bun-destages um dieses Thema kümmert.
In Deutschland haben wir ja derzeit die Situation,dass die Elterngeneration einer Fitnesswelle huldigt undin die Sportstudios rennt, während es beim Schulsport anallen Ecken und Enden hapert. Es gibt in starkem Um-fange Unterrichtsausfall. Die dritte wöchentliche Sport-stunde fällt weitgehend weg. In einzelnen Bundeslän-dern ist dies besser, in anderen schlechter. Bei denSportlehrern ist eine Überalterung zu verzeichnen, undes gibt eine zu freizügige Vergabe von Attesten zur Be-freiung vom Schulsport. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Niedergang desSchulsports in Deutschland – das wird auch bei derAnhörung herauskommen – ist eine gesundheitspolitische Zeitbombe. Wir werden uns noch mächtig wundern.
Der alte Spruch „Der Alte joggt, der Junge hockt“ darfnicht mehr gelten. Das hat natürlich auch ein wenig da-mit zu tun, dass wir unseren Kindern beim Hinüberglei-ten von der Industrie- und Produktionsgesellschaft in dieInformations- und Wissensgesellschaft so viele andereDinge bieten, dass das meiste von dem, was notwendigist, um insgesamt zu Leistungen zu kommen, leider Got-tes unterbleibt. Was mich besonders bedrückt – darüber haben wir imAusschuss schon öfter gesprochen – ist, dass es inDeutschland zu wenig sportbetonte Schulen gibt. Essind, wenn ich es richtig im Kopf habe, 31 an der Zahl,davon 21 in den neuen Bundesländern. Das ist für einLand mit 82,2 Millionen Menschen ein Witz. Ich habekürzlich meinem Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg einen Brief geschrieben und habe gefragt:Wäre es nicht gut, wenn unser Heimatland hier vorange-hen würde?
Man schämt sich fast, dass ein Land wie Baden-Württemberg nur zwei sportbetonte Schulen hat. Wennman sich einmal ansieht, woher die Olympia- und dieWeltmeisterschaftskader kommen, dann stellt man fest:Sie kommen natürlich aus den sportbetonten Schulen.Hier sitzen einige, die dies erfahren haben und wissen,dass wir die sportbetonten Schulen unterstützen und vielmehr, als es bisher der Fall ist, antreiben müssen.Nochmals: Die Kultusministerkonferenz sollte danicht bocken, sondern sollte auch joggen und zu uns inden Sportausschuss des Deutschen Bundestages kom-men.
Fußballweltmeisterschaft 2006: Es wird schwierigsein. Gerade ich als früherer Außenminister weiß das.Aber wir sollten uns gemeinsam anstrengen, um siehierher zu holen.
Man sollte auch sehen, was dies im Hinblick auf Werbe-effekte bedeuten würde, welchen Image – und auch wel-chen wirtschaftlichen Gewinn dies bringen würde. DieKosten, die dafür aufgewendet würden, wären gut ange-legt. Ich möchte auch noch einmal deutlich sagen – dasbeziehe ich auch auf meine frühere Tätigkeit –: Ich habeauf vielen Reisen erlebt, dass unsere Spitzensportler mitweitem Abstand die besten Botschafter waren, dieDeutschland überhaupt haben kann. Insoweit bin ich vorallem der Bundeswehr und dem Bundesgrenzschutzdankbar, die den Spitzensport außerordentlich stark un-terstützen. Dabei soll es auch bleiben.
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8088 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Höhepunkt desSportjahres 2000 werden natürlich die OlympischenSpiele und die Paralympics sein. Ich bin überzeugt da-von, dass unsere Sportler dort gute Ergebnisse erzielenwerden. Darauf können wir hoffen und darauf könnenwir auch stolz sein. Mich beunruhigt allerdings, dass wirfür unsere Mannschaft möglicherweise zu stark daranfesthalten, dass eine Chance auf die Endkampfteilnahmeein strenges Nominierungskriterium ist. Sollten wir unsals große und verhältnismäßig reiche Sportnation nichtleisten können, bei jeder olympischen Sportart unserenbesten Sportler oder unsere beste Sportlerin zur Olympi-ade zu schicken? Das müsste doch eigentlich möglichsein.
Meine Damen und Herren, man muss natürlich auchüber die Finanzierung, über das Geld sprechen. Geldist bei den Olympischen Spielen leider Gottes zum Fak-tor Nummer eins geworden. Das ist bedauerlich, es istaber so. Ich mache mir überhaupt große Sorgen um dieDenaturierung des Sports durch Geld. Bei vielen Sport-arten sind auch durch Fernsehvermarktung exorbitanthohe Summen im Spiel, so dass jede Verhältnismäßig-keit verloren gegangen ist.
Ob wir wollen oder nicht: Die Olympischen Spiele sindnicht mehr die fröhlichen Jugendspiele, sondern es sindteure Fernsehspiele geworden. Da muss man sich natür-lich ein paar Gedanken machen. Zwei Gedanken will ichhierzu kurz einführen: Könnten nicht Teile der vom IOCdurch Vermarktung der Spiele, insbesondere durch TV-Vermarktung, erzielten Gelder auch zur Finanzierungder Teilnehmer an Olympischen und vor allem Paralym-pischen Spielen herangezogen werden? Ich bitte, das zuüberlegen.
Könnte die Industrie nicht etwas mehr die Olympiabetei-ligung sponsern? Wäre es nicht möglich – das interes-siert mich auch aufgrund meines früheren Amtes alsJustizminister sehr –, beispielsweise Patenschaften fürdie Athleten aus Entwicklungsländern zu übernehmen?
Wenn wir von der Herrschaft des Geldes im Sport re-den, dann sind wir zwangsläufig sehr schnell beim Do-ping. Warum? Weil die Zuschauer Höchstleistungenerwarten und sich die Sportler selbst Höchstleistungenzutrauen müssen, um mithalten zu können. Dann sindwir bei der Geißel Doping. Ich nenne das „Geißel Do-ping“. Wir müssen uns natürlich überlegen, wie wir dasin den Griff bekommen können und wie wir das Drecks-zeug wegbekommen, mit dem sich die Sportler imwahrsten Sinne des Wortes aufpumpen. Der Sport-ausschuss hat hier wirklich gute Arbeit geleistet. Wirwaren in dem bekannten medizinischen Labor in Köln.Wir haben uns auch in der Anhörung, die für meineBegriffe sehr gut war, sehr intensiv mit dieser Frage be-schäftigt. Als ehemaliger Justizminister bin ich für harteStrafen. Dennoch glaube ich, dass trotzdem nur dortgemacht werden sollten, wo sie unbedingt notwendigsind. Was die Subsidiarität angeht, Herr Kollege, teileich Ihre Meinung. Es sollte bei der Autonomie desSports bleiben, soweit es nur geht. Wir brauchen drin-gend eine nationale Dopingagentur. Wir brauchen natür-lich auch europäische Vorschriften auf diesem Gebiet.Wir sollten uns anstrengen, dass die Sanktionierung aufeine professionelle Ebene gehoben wird, was auch ange-sichts der hohen Verantwortung durch eventuelle Re-gressansprüche wichtig ist.
Der Kollege aus meiner Heimat Tübingen hat daraufhingewiesen, dass in Sportstudios und Fitnesscenternheute schon über 20 Prozent der Männer und fast10 Prozent der Frauen Mittel zur Leistungssteigerungnehmen. Solange das mit dem Arzneimittelgesetz inEinklang steht, ist das kein staatliches Problem. Es wirdaber natürlich aus anderen Gründen ein staatliches Pro-blem. Deshalb müssen wir uns Doping im Breitensportgenau ansehen. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einenPunkt aufgreifen, der die Sportmedizin betrifft. Bei derAufklärung von Dopingfällen spielen die Sportmedizi-ner eine große Rolle. Sie sind mehr als Doping-Päpste.Die medizinische Betreuung unserer Leistungssportlerist gut. Von der Hochleistung in der deutschen Sportme-dizin sollte aber stärker als bisher auch die breite Öffent-lichkeit profitieren. Das Bindeglied, das Gelenk zwi-schen Sportmedizin und allgemeiner Medizin funktio-niert noch nicht. Die Sportmedizin – ich schlage dies je-denfalls vor – sollte in die Approbationsordnung derÄrzte aufgenommen werden.
Als jemand, der aus einer nicht ganz kleinen Arztfamiliestammt und zunächst selber Medizin studiert hat, regeich an, dass eine Facharztausbildung für Sportärzte ein-geführt wird, weil dies heute notwendig und richtig ist.
Goldener Plan Ost: Hier hat die Koalition den Mundein wenig voll genommen. Es ist nur wenig dabei he-rausgekommen. Natürlich kritisiere ich, wie der KollegeRiegert, dass bei den Sportmitteln gekürzt wird. Ichmöchte das jetzt nicht mit Zahlen belegen. Ich appellierean die Koalition, besonders an die Kolleginnen und Kol-legen im Sportausschuss, dass hier mehr als bisher getanwird. Dazu wäre einiges zu sagen. Ich persönlich habe mich sehr für die Verankerungdes Sports in den Amsterdamer Verträgen eingesetzt.Dr. Klaus Kinkel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8089
Das ist uns in dieser schwierigen Nacht nicht so gelun-gen, wie wir es uns vorgestellt hatten. Aber ich meineschon, dass wir alles tun sollten, damit der Sport in Zu-kunft im europäischen Vertragswerk verankert wird.
Zum Schluss ein Wort zu einem Gebiet, von dem dieKollegen wissen, dass es für mich wichtig ist, nämlichzum Behindertensport: Ich bin vor allem deshalb inden Sportausschuss gegangen, um mich in besondererWeise für die behinderten Sportler einzusetzen. Warum?Wir haben 5 bis 7 Millionen Behinderte in Deutschland,aber lediglich 250 000 bis 300 000 Behinderte, die sichin Behindertensportvereinen betätigen.
Die Zahl klingt sehr gering. Auf der anderen Seite müs-sen wir aber sehen, dass die Tendenz immer mehr zu in-tegrierten Sportveranstaltungen geht. Ich möchte dieKollegen, gerade die aus dem Sportausschuss, auffor-dern, dass sie, wenn sie um die Teilnahme an Sportver-anstaltungen, um die Übernahme von Schirmherrschaf-ten usw. gebeten werden, sagen: Wir kommen gern, abervor allem dann, wenn zum Beispiel im Tennis, in derLeichtathletik usw. eine Behindertensportveranstaltungintegriert wird. Ich glaube, dass das ein gutes Beispielwäre.
Sie alle wissen, was es bedeutet, beispielsweise einenSpastiker dazu zu bringen, dass er zusammen mit Spas-tikern Fußball spielt. Das tut er nicht, ohne dass manihm die Möglichkeit dazu gibt. Sie alle wissen, was esbedeutet, Behinderten zu helfen, in einer schwierigen Si-tuation durch Sport über manches leichter hinwegzu-kommen. Da muss eine gewisse Hemmschwelle über-wunden werden. Dabei muss man helfen. Ich finde, esist des Schweißes der Edlen wert, dass sich unsere Ge-sellschaft um die Behinderten, die wir haben, mehr küm-mert. Es ist schon vieles besser geworden, vor allemauch bei geistig Behinderten, bei denen das natürlich be-sonders schwierig ist.Ich habe insgesamt nicht den Eindruck, dass es beiuns in Deutschland um die schönste Nebensache derWelt, nämlich den Sport, schlecht steht. Das ist gut so.Das verdanken wir vor allem den Millionen Aktiven undFunktionären, die sich im und für den Sport engagieren.Ein Lob auch all denen, die es wegen der Übernahmeeines Ehrenamtes verdienen, noch mehr hervorgehobenund gewürdigt zu werden.
Politik sollte, kann und darf sich nur subsidiär, hel-fend, ergänzend einmischen. Für politische Graben-kämpfe bestehen im Sport nicht so viele Möglich-keiten – zum Glück!
Herr Kollege
Kinkel, Sie haben Ihre Redezeit schon lange überschrit-
ten.
Das ist minimal.
Nein, das ist ein
Langstreckenlauf, den Sie hier machen.
Geben Sie mir einen
zweiten Schuss Luft. Ich komme zum Schlusssatz.
Ich möchte die Diskussion des Sportberichts, der im
Wesentlichen der alten Koalition zugeschrieben wird,
zum Anlass nehmen, ein ausdrückliches Angebot zur
Zusammenarbeit im Interesse des deutschen Sports zu
machen. Ich habe in der relativ kurzen Zeit, in der ich im
Sportausschuss bin, den Eindruck gewonnen, dass je-
denfalls der Spitzensport dort nicht schlecht aufgehoben
ist. Wir sollten uns noch ein bisschen mehr um andere
Bereiche kümmern dürfen und uns nicht kleinkariert mit
der Kultusministerkonferenz herumschlagen müssen.
Vielen Dank.
Nun gebe ich das
Wort dem Kollegen Gustav-Adolf Schur für die Fraktion
der PDS.
Herr Präsident! WerteKolleginnen und Kollegen! Ein Sportbericht in einemParlament wie dem deutschen ist für die Sportler eigent-lich eine gewaltige Sache, weil mit einem solchen Be-richt zugleich die Leistung derer gewürdigt wird, diedraußen tätig sind,
von Millionen von Sportlern, die sich dafür interessie-ren, was sich hier im Bundestag tut. Die Ehrenamtlichensind genannt worden, deren Leistungen wir hier nichtermessen können. Deswegen hätte ich eigentlich erwar-tet, dass sich bei diesem Punkt, bei dem es grundsätzlichum die Gesundheit der Bevölkerung geht, mehr Abge-ordnete im Saal befinden. Das muss ich als ehemaligerAktiver schon sagen. Jedenfalls möchte ich mich bei denAbgeordneten bedanken, die anwesend sind, aber auchbei denen, die oben auf den Zuschauertribünen zuhören.Herzlichen Dank!
Ein Sportbericht, selbst wenn ihn die Bundesregie-rung schreiben ließ, bietet viele Möglichkeiten zur Dis-kussion. Aber als ehemaliger Radrennfahrer habe ich ge-lernt, auf kürzestem Wege möglichst schnell zum Zielzu kommen. Deswegen halte ich mich kurz; ich versu-che es zumindest. Ich lasse mich auch nicht über unsereOlympiamannschaft und den Spitzensport aus. Darumkümmern sich unsere Spezialisten; sie brauchen kaumTipps, weder von der Regierung noch von Abgeordne-ten.Aber ich möchte einiges zum Goldenen Plan Ost sa-gen. Zunächst rufe ich kurz in Erinnerung, dass Mitteder 50er-Jahre die Deutsche Olympische GesellschaftDr. Klaus Kinkel
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8090 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
eine Riesenkonzeption auf den Weg brachte, den Golde-nen Plan für Gesundheit, Spiel und Erholung. In einembeispielhaften Gemeinschaftswerk von Bund, Ländernund Gemeinden wurde dieser Plan in die Tat umgesetzt.Von 1960 bis 1975 wurden für die Verbesserung derSportstätteninfrastruktur 17,4 Milliarden DM aufge-bracht. Von 1976 bis 1991 sind nochmals 20 MilliardenDM in die Sportstätten investiert worden. Nach derWiedervereinigung wurde auf Initiative des DeutschenSportbundes für die neuen Bundesländer der GoldenePlan Ost konzipiert und mit der Bitte um zügige Umset-zung ohne Vorbehalte an die Politik übergeben. EineWiederholung der enormen Leistungen von 1960 bis1975 war gefordert.Seither ist im Osten zweifelsohne viel erreicht wor-den. Durch das Investitionsförderungsgesetz und dasSportstättenprogramm Goldener Plan Ost der neuenBundesregierung sind, wie heute schon ausführlich be-merkt wurde, bereits 1990 sichtbare Ergebnisse zu ver-zeichnen. Aber jeder von uns weiß – die einen sagen es,die anderen reden drum herum und noch andere ver-schweigen es –, dass mit dem bisherigen Tempo dieschrittweise Angleichung der Lebensverhältnisse an dasNiveau der alten Länder nicht realisierbar ist.
Alle auch noch so lobenswerten Maßnahmen sind keinadäquater Ersatz für den eigentlichen Goldenen PlanOst.Die neuen Bundesländer benötigen eine wirkungsvol-lere Anschubfinanzierung. Zur berühmten Frage „Wohernehmen?“ ein einfaches Rechenexempel: 15 MillionenDM hat die Bundesregierung erstmals in den Haushalteingestellt. Das sind haargenau 14,4 Prozent der Kosteneines einzigen Eurofighters, dessen Stückpreis 104,5 Millionen DM beträgt, wie wir kürzlich lesenkonnten. Da die Bundesregierung 180 dieser Todesengelanschaffen will, betragen die Ausgaben für das Sport-stättenprogramm Goldener Plan Ost also 0,08 Prozentder Ausgaben für die Eurofighter. Ich denke, ein Kom-mentar ist hier überflüssig.
Zu meinem zweiten Anliegen: Am 30. Septembermachte ich hier an dieser Stelle einige Ausführungenüber Defizite in der sportlichen Ausbildung an unse-ren Schulen und wiederholte die Beschreibung dieserMängel im Dezember anlässlich des 30-jährigen Beste-hens des Sportausschusses. Als wir den Saal verließen,
Herr Schur, der Schulsport ist nicht Ihre Sache. Er woll-te mich wohl aufklären, dass Schulsport Ländersachesei. Um ehrlich zu sein, das wusste ich.
Aber damit darf und werde ich mich nicht zufrieden ge-ben. Ich sage auch, warum: Der Schulsport erreicht alseinzige Form des Sports grundsätzlich alle Kinder undJugendlichen. In ihm verwirklicht sich vordergründigdas sozialpolitische Ziel „Sport für alle“. In der Schulewird das Fundament für sportliche Begeisterung odersportliche Antipathie gelegt. Ich verstehe es als unseremoralische Pflicht, den Schulsport zu unserer Sache zumachen.
Offene Ohren dafür gibt es in allen Ländern und Kom-munen.Der sportpolitische Sprecher der bayerischen SPD-Landtagsfraktion, Wilhelm Leichtle, sagte auf einer Ta-gung am 25. Januar, dass, obwohl der Schulsport als Be-standteil der bayerischen Gemeindeordnung eine staatli-che Aufgabe darstellt, der Schulsport in Bayern faktischam Ende sei, und bezog darin aus seinem Wissen dasSaarland ein. Die dritte Sportstunde ist selbst im „Länd-le“ weggefallen und in mehreren Ländern nicht einmalmehr Planansatz. Der Karlsruher SportwissenschaftlerProfessor Dr. Klaus Bös warnt vor einer gesellschaftli-chen Zeitbombe. Er führt an, dass Kinder, die zu wenigBewegung haben und sich nicht ausreichend spielerischund sportlich betätigen können, später gesundheitlicheProbleme bekommen. Nüchtern formuliert: Deutschlandwird krank. Der Freiburger Professor Aloys Berg – Kol-lege Kinkel, hier haben wir dieselben Veröffentlichun-gen studiert – wies in Untersuchungen nach, dass 40 Prozent der zwölfjährigen Kinder bereits Kreislauf-probleme haben, jedes dritte Kind Haltungsfehler auf-weist, jedes zweite Muskelschwächen hat und jedesfünfte Kind übergewichtig ist. Weitere Negativerfahrun-gen: Viele Ärzte sind zu großzügig bei Attesten zur Be-freiung vom Sportunterricht. Zunehmende Überalterungder Sportlehrer signalisiert mit Deutlichkeit, dass sie dengestellten Anforderungen eines modernen Sportunter-richts nicht mehr gewachsen sind. Zu allem Übel führt der Sportwissenschaftler der FUBerlin, Dr. Kuhlmann, aus, dass die Freie Universitätnach 50 Jahren ihres Bestehens beschlossen hat, sämtli-che Studiengänge ihres Instituts für Sportwissenschaftspätestens im Jahr 2001 auslaufen zu lassen.Der Weltschulsportgipfel tagte im November beiuns in Berlin. Die Präsidentin des Weltrates für Sport-wissenschaft und Leibeserziehung, Frau Doll-Trepper,stellte in Auswertung einer weltweiten Studie zumSchulsport fest, dass die meisten Kongressteilnehmerüber den katastrophalen Stand im Schulsport, insbeson-dere in Deutschland, nicht informiert waren. Umso mehrist die Berliner Agenda des Weltschulsportgipfels auchals ein Appell an die deutsche Regierung zu verstehen.Sehr geehrter Herr Bundesminister Schily – schade,er ist heute nicht hier, aber das Wort gilt ihm –, beimSchulsport geht es um die Herstellung gleichwertigerLebensverhältnisse im Bundesgebiet, wie in Art. 72 desGrundgesetzes nachzulesen ist. Eine bundesgesetzlicheRegelung ist im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich.Durch konkurrierende Gesetzgebung sollte festgeschrie-ben werden, dass in allen allgemein bildenden Schulenund Berufsschulen eine Mindestanzahl von drei Unter-richtsstunden Sport in der Woche gesetzlich verankertwird.
Gustav-Adolf Schur
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8091
Bis zur Realisierung des alten Traums von der täglichenSportstunde blieben noch genügend Freiräume. Aber dererste Schritt von der Vision zur Gegenwartsaufgabe wä-re getan.Auch hier abschließend eine Bemerkung zur mögli-chen Finanzierung. Der ehemalige Präsident des Deut-schen Sportlehrerverbandes, Hansjörg Kofink, sagte ineinem Interview: Die großen Krankenkassen bieten längst Fortbil-dungen an – auch für Sportlehrer –, wie Jugendli-che zeitgemäß, konditionell und koordinativ zu be-lasten sind. Die Konzerne haben Angst vor derKostenlawine, die auf sie zurollt.Nutzen wir das Interesse der Konzerne! Jüngstes Bei-spiel: Telekom. 40 000 Schulen in Deutschland sollenbis zum Jahr 2001 kostenlos mit Internetzugängen undISDN-Anschlüssen versorgt werden. Das Programmkostet die Telekom jährlich circa 125 Millionen DM. Werte Kolleginnen und Kollegen, potenzielle Partnerfür die Bundesregierung hätte ich damit benannt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe der Kolle-
gin Dagmar Freitag für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! In diesem Jahr ist der eher seltene Fall einge-treten, dass eine Bundesregierung einen Bericht über ei-nen Zeitraum vorlegt, in dem sie in der Opposition warund die Sportpolitik naturgemäß nur in beschränktemMaße gestalten konnte. Heute sollte aber ganz sichernicht die Stunde sein, ausschließlich die Ergebnisse deralten Bundesregierung zu diskutieren; denn wie vielesandere sind diese bereits weitgehend Vergangenheit.Dennoch lohnt sich rückblickend die eine oder andereAnmerkung.Meine Damen und Herren, die Förderung des Spit-zensports – wir haben dies heute mehrfach gehört – istdas Kernstück der Sportförderung durch das Innenminis-terium. Aber auch andere Ressorts – ich möchte aus-drücklich das Verteidigungsministerium nennen – tragenin erheblichem und, wie ich finde, vorbildlichem Maßezur Förderung des Spitzensports bei.
Im Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums sindvorrangig die zentralen Maßnahmen zu fördern: Lehr-gänge, Trainingsmaßnahmen, Teilnahmen an nationalenund internationalen Wettkämpfen, Finanzierung vonLeistungs- und Olympiastützpunkten sowie Leistungs-zentren. Bekanntlich hat sich die Bundesregierung – dies dürf-te Ihnen nicht entgangen sein – mit der zwingend erfor-derlichen Konsolidierung des Haushalts ein ehrgeizigesZiel gesetzt. Da verwundert es schon, Herr KollegeRiegert, wenn Sie von einer Mogelpackung im Sporthaus-halt sprechen. Vielleicht haben Sie vergessen, dass IhreSporthaushalte weitgehend auf Pump finanziert wordensind. Wir sind dabei, den Laden in Ordnung zu bringen.
Das führt – übrigens in jedem Ressort – dazu, liebGewonnenes zu überprüfen, und, wenn es notwendig ist,möglicherweise auch dazu, Prioritäten neu zu setzen.Wir werden diese Diskussion im engen Dialog mit demDeutschen Sportbund führen. Ziel unserer Bemühungenmuss und wird es sein, unseren Athletinnen und Athle-ten bestmögliche Vorbereitungs- und Trainingsbedin-gungen zu bieten.
Ich bin davon überzeugt, dass uns das in Zukunft auchgelingen wird. Aber nicht nur der Spitzensport hat in unserer Gesell-schaft einen unbestreitbar hohen Stellenwert. Auch dieVielfalt des breitensportlichen Angebots hat untersport-, sozial- und gesundheitspolitischen Aspekten einenicht zu unterschätzende Bedeutung. Anders als die frü-here Regierung hat die jetzige Koalition dieses aus-drücklich anerkannt. Von dieser Thematik ist die Dis-kussion um die Sportstättensituation nicht zu trennen.Der Deutsche Sportbund hatte bereits im zweiten Jahrnach der Wiedervereinigung den Goldenen Plan Ostvorgelegt und die katastrophale Sportstättensituation inden neuen Bundesländern eindrucksvoll dokumentiert. Unter Hinweis auf die unverzichtbare Angleichungder Lebensverhältnisse in Ost und West hatte die SPD-Bundestagsfraktion bereits in der letzten Wahlperi-ode die Forderung erhoben, diesen Plan zu verfolgenund umzusetzen. Mit den verschiedensten – unter ande-rem mit verfassungsrechtlichen – Argumenten hat diedamalige Bundesregierung die Umsetzung dieses sinn-vollen Plans stets abgelehnt.
Zwar ist der Hinweis, Länder und Gemeinden in denneuen Bundesländern hätten Gelder aus dem IFG für dieInstandsetzung und teilweise auch für den Neubau vonSportstätten verwenden können, durchaus zutreffend.Das ist mit Einschränkungen auch so geschehen. DerEhrlichkeit halber muss jedoch festgestellt werden, dassIFG-Mittel gemäß der Protokollerklärung eben nicht fürden Sportstättenneubau eingesetzt werden dürfen. Spä-testens seit 1997/98 – übrigens hat damals Ihr Finanz-minister darauf hingewiesen – mussten die Gemeindenin den neuen Ländern und auch die neuen Länder selberden Neubau von Sportanlagen vollständig aus Eigenmit-teln finanzieren. Was das angesichts der Situation in denkommunalen Haushalten bedeutet, muss ich an dieserStelle nicht ausdrücklich beschreiben. Wir haben unsere entsprechende Aussage in der Koa-litionsvereinbarung umgesetzt, auch wenn wir uns – dasist heute schon angeklungen; ich räume das an dieserGustav-Adolf Schur
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8092 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Stelle gern ein – einen höheren Betrag als insgesamt 60 Millionen DM bis 2002 hätten vorstellen können.Aber der Goldene Plan Ost – und an der Erkenntnisführt kein Weg vorbei – ist und bleibt ein zusätzlichesFörderinstrument, das im Übrigen von den Kommunenin den neuen Ländern zügig und äußerst erfolgreich ge-nutzt worden ist.
Die ständig verbreitete Kritik der Opposition, die 15 Millionen DM jährlich seien nur der berühmte Trop-fen auf dem heißen Stein, ist vor dem Hintergrund ihrerjahrelangen völligen Untätigkeit schlicht und einfachunglaubwürdig. Ihre Bilanz beim Goldenen Plan Ostwar nichts anderes als eine Nullnummer im wahrstenSinne des Wortes.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habebereits kurz die Bedeutung des Sports unter gesund-heitspolitischen Aspekten erwähnt. In diesem Zusam-menhang darf ich Sie – Sie werden es mir nachsehen –an das Jahr 1996 erinnern, in dem die damalige Parla-mentsmehrheit die Regelungen in § 20 SGB V gegen al-le Vernunft abgeschafft hat. Alle Grundlagen einer sinn-vollen und für die Menschen nachvollziehbaren Ge-sundheitspolitik wurden von CDU/CSU und F.D.P. da-mals mit einem Federstrich zerstört. Insofern war es nurfolgerichtig, dass die neue Bundesregierung das SGB Vim Rahmen der Gesundheitsreform geändert hat. Künf-tig „sollen“ – das ist im Übrigen weit mehr als „kön-nen“ – die Krankenkassen in ihren Satzungen wieder fi-nanzielle Leistungen zur primären Prävention vorsehen.
Nach meinen heutigen Informationen findet in Kürzeein Gespräch zwischen Deutschem Sportbund und Ver-tretern der Krankenkassen statt, in dem der Kriterienka-talog des § 20 SGB V abschließend beraten werden soll,um die Zusammenarbeit von GKV und dem organisier-ten Sport zu regeln. Um es einmal sportlich auszudrü-cken: Es ist wieder Bewegung in den § 20 SGB V ge-kommen. Für uns Sportpolitiker ist wichtig: Die Bedeu-tung des Sports im Bereich der Primärprävention wirdmit dieser Novelle im Interesse einer vorausschauenden,flächendeckenden Gesundheitspolitik ausdrücklich an-erkannt, in der die Angebote von Sportverbänden undSportvereinen eine ganz wichtige Funktion haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zueinem letzten Aspekt kommen. Die SPD-Bundestags-fraktion teilt ohne jede Einschränkung die Auffassungdes Bundesministers des Innern zur Dopingbekämp-fung. Wir begrüßen insbesondere, dass der Minister mitvielfältigen Initiativen vor allen Dingen auf internationa-ler Ebene neue Akzente in der Dopingbekämpfung ge-setzt hat. Doch auch die nationale Diskussion ist frei vonjeglicher Langeweile. Im 9. Sportbericht ist nachzulesen,dass es ein Gesetzentwurf der SPD-Fraktion aus demJahre 1996 war, der zu einer öffentlichen Anhörung deszuständigen Fachausschusses 1997 und letztendlich zurÄnderung des Arzneimittelgesetzes im Jahre 1998 führ-te.
Wie die Sachverständigen anlässlich der jüngstenAnhörung am 26. Januar 2000 feststellten, war und istdiese Änderung des AMG ein durchaus wichtiger Bei-trag im Rahmen der Dopingbekämpfung. Wenn ichmich an die parlamentarische Diskussion in der letztenWahlperiode erinnere, insbesondere im Sportausschuss,dann kann ich feststellen: Sie, meine Herren von CDU,CSU und F.D.P. sahen dies damals völlig anders. Wennes damals nach Ihnen gegangen wäre, wäre dieses Ge-setz nicht geändert worden. Wie aktuelle Fälle zeigen, ist die Diskussion überDoping noch lange nicht beendet. Im Gegenteil: Sowohlin rechtlicher als auch in medizinischer Hinsicht sindnoch viele Fragen offen. Wir erleben es fast täglich: Eskommen immer neue Fragen hinzu. Diesen Herausforde-rungen werden sich Sport und Politik gemeinsam stellenmüssen. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion sind dazubereit.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Klaus Riegert das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Ich wollte nur kurz zu der Null-nummer Stellung nehmen. Die Frau Kollegin Freitag hatvon Redlichkeit und Wahrhaftigkeit gesprochen,
sie hat von Nullnummer gesprochen. Zur Redlichkeitund Wahrhaftigkeit gehören in der Tat einige Ausfüh-rungen zum so genannten Goldenen Plan Ost – einSchwabe nennt so etwas „Plänle“; denn er ist nur mitschlaffen 15 Millionen DM jährlich ausgestattet. DerKollege Schur hat darauf hingewiesen, dass der Investi-tionsbedarf etwa bei 25 Milliarden DM liegt. Man kannsich dann ausrechnen, wie lange man bei 15 Millio-nen DM braucht, um diesen Investitionsstau aufzulösen.Zur Wahrhaftigkeit gehört aber auch, dass über dasInvestitionsförderungsgesetz 1995 350 Millionen DM,1996 über 400 Millionen DM und 1997 über 460 Milli-onen DM in Sportstätten in den neuen Ländern geflos-sen sind. Wir werden daran die Zahlen 1999 und in denFolgejahren messen, um zu sehen, was durch das IFGund den Goldenen Plan Ost in der Addition tatsächlichherauskommt. Dann werden wir vergleichen und wissen,wer mehr für die Sportstätten getan hat. Wenn weit über1 Milliarde DM eine Nullnummer ist, dann kenne ichmich nicht mehr aus.Dagmar Freitag
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8093
Zu einer Erwide-
rung erhält das Wort die Kollegin Dagmar Freitag.
Herr Kollege Riegert, diese
Diskussion führen wir nun nicht zum ersten Mal. Ich
bin – ich muss es einräumen – etwas erschüttert, dass
Sie das offensichtlich immer noch nicht verstanden ha-
ben. Ich will es Ihnen aber gerne zum wiederholten Ma-
le erklären.
Das Investitionsförderungsgesetz kann durch den
Goldenen Plan Ost nur ergänzt werden. Im Investitions-
förderungsgesetz sind nur Maßnahmen zur Sanierung
und Modernisierung von maroden Sportanlagen unter-
zubringen. Dass teilweise Mittel aus dem IFG über eine
gewisse Zeit auch in den Neubau geflossen sind, wissen
wir. Aber Sie wissen auch, dass das nicht der Zweckbe-
stimmung des Gesetzes entsprochen hat.
Ich wundere mich ein wenig, dass Sie von einem In-
vestitionsstau sprechen. Der müsste dann allerdings in
Ihrer Regierungszeit aufgelaufen sein. Die von uns ver-
anlassten 15 Millionen DM sind eine zusätzliche Förde-
rung über das hinaus, was das IFG bietet. Das IFG bietet
die gleichen Möglichkeiten, die es früher gegeben hat.
Das heißt, wir satteln drauf. Das ist einfach nicht zu
bestreiten. Ich weiß auch nicht, warum Sie das nicht ver-
stehen wollen.
Ich sage Ihnen noch einmal: Die 15 Millionen DM
zusätzlich in 1999 haben zu Gesamtinvestitionen in den
neuen Bundesländern von 78 Millionen DM geführt, al-
so zu weit mehr, als wir gemeinsam erwartet haben.
Wenn Sie jemals eine solche Bilanz hätten vorweisen
können, wären Sie darauf sehr stolz gewesen. Wir jeden-
falls sind es. Wir wissen, dass man sich in den neuen
Ländern über den Goldenen Plan Ost durchaus freut.
Nun gebe ich das
Wort dem Kollegen Peter Letzgus für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Kollegin Freitag, da Sienicht unbedingt Ausführungen zu den Ergebnissen –sprich: Erfolgen – der Sportpolitik der alten Bundesre-gierung machen wollten, setze ich Ihr vollstes Verständ-nis voraus, dass ich das jetzt nachholen werde.
Ich werde mich bei den Ausführungen allerdings auf denSportstättenbau in den neuen Ländern beschränken.„Sportler sind Diplomaten im Trainingsanzug“, sohieß es in der ehemaligen DDR. Das ist heute nicht an-ders; der Kollege Kinkel hat darauf hingewiesen. UnsereSportler sind tatsächlich die besten Diplomaten, die wirin die Welt hinausschicken können. Damals sollten diesportlichen Erfolge vor allen Dingen dazu beitragen,dass die DDR international Anerkennung erfährt.
– Ja, das hat funktioniert. Das streite ich überhaupt nichtab. Es waren allerdings sehr viele Mittel recht.
Infolgedessen hatte in der DDR der Spitzensport absolu-te Priorität. Der Breitensport lebte überwiegend von der Eigenini-tiative seiner Mitglieder, und die war zum Glück rechtgroß. Trotzdem – darauf ist heute schon mehrfach hin-gewiesen worden – befand sich die Sportstättenstruk-tur der neuen Bundesländer vor zehn Jahren in einemdesolaten Zustand. So wurde dann vom DeutschenSportbund der Goldene Plan Ost aufgestellt, mit einemInvestitionsbedarf von sage und schreibe rund 25 Milli-arden DM – eine gewaltige Summe! Obwohl die alteBundesregierung kein spezielles Programm, also auchkeinen Goldenen Plan Ost für die Sanierung der Sport-stätten in den neuen Bundesländern, auflegte, ging siedoch zügig daran, den Nachholebedarf auf diesem Sek-tor zu beseitigen.Führen wir uns die Situation nach der Wiedervereini-gung Deutschlands noch einmal kurz vor Augen: Bis1993 wurden allein aus dem Sportetat des BMI mehr als40 Prozent aller Mittel in die neuen Bundesländer trans-feriert. Für den Bau der Olympiastützpunkte wurdenjährlich rund 10 Millionen DM bereitgestellt. Weitereerhebliche finanzielle Mittel sicherten die Weiterbe-schäftigung von haupt- und nebenamtlichen Trainern ab,eine ganz wichtige Sache in der damaligen Zeit.Für die Fortführung von FES, IAT und dem Doping-labor Kreischa wurden die notwendigen Mittel einge-plant und ausgegeben. Nur so – das darf, das muss manhier eigentlich sagen – konnten diese für den Sport inder Bundesrepublik so wichtigen Einrichtungen über-haupt erhalten werden.
Öffentliche Investitionen im Sportstättenbau sindGrundvoraussetzung für den Breiten- und Spit-zensport. Wir brauchen eine ausreichende Anzahl viel-fältiger Sportstätten für die Grundversorgung des Brei-tensports und wir brauchen Trainings- und Wettkampf-möglichkeiten für den Leistungssport, für unsere Spit-zensportler. Die Infrastruktur der Sportstätten bedarf ei-ner ständigen Erneuerung, Sanierung und Modernisie-rung. Die Länder sind dabei zuständig für die Brei-tensporteinrichtungen, der Bund – dies ist unbestritten –für den Bau und die Unterhaltung von Spitzensportein-richtungen wie Olympiastützpunkten, Bundesleistungs-Klaus Riegert
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zentren, Bundesstützpunkten und Sportinternaten mitbundeszentraler Funktion.Dieser Verantwortung ist die alte Bundesregierunggerecht geworden. Rund 270 Millionen DM hat derBund im Berichtszeitraum, also von 1994 bis 1997, fürSportstätten des Spitzensports bereitgestellt. Dass die-se Summe nicht zu üppig bemessen war, zeigen dieVerpflichtungsermächtigungen für die nächsten Jahre.Deshalb ist das Vorhaben der jetzigen Bundesregierung,die Investitionen bis zum Jahr 2003 von heute 68 Mil-lionen DM auf 32 Millionen DM um beinahe 60 Prozentzu kürzen, fast als abenteuerlich zu bezeichnen. So wer-den die Sportstätten für unsere Spitzensportlerinnen undSpitzensportler keine geeigneten Trainingseinrichtungenund Wettkampfstätten mehr sein. Diese aber brauchensie, um im immer härter werdenden Wettkampf bestehenzu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie-rungskoalition: Nehmen Sie die Hinweise unserer Sport-ler ernst. Eine hervorragende Infrastruktur ist Vorausset-zung für Spitzensport mit legalen Mitteln. Kürzungen imSpitzensport beschneiden diese fundamentalen Voraus-setzungen, das heißt, sie gefährden die Trainingsstätten,die unsere Sportler brauchen. Bis 1997 hat die alte Bundesregierung 665 Millio-nen DM in die Sportstätten des Spitzensports und in dieSportinfrastruktur der neuen Länder gesteckt. Diese Inf-rastruktur steht auch dem Breitensport zur Verfügung.Sie hilft unter anderem dabei, Jugendliche von der Stra-ße zu holen. Das ist eine vordringliche Aufgabe, speziellin den neuen Bundesländern, aber nicht nur dort. Nun zu dem Goldenen Plan, über den schon viel ge-sagt worden ist und auf den auch Herr Kollege Riegertschon hingewiesen hat. Insgesamt war vorgesehen,100 Millionen DM jährlich für die Förderung von Sport-stätten des Breitensports in die neuen Länder zu geben.Das war allerdings vor der Bundestagswahl. Es sind er-hebliche Hoffnungen geweckt worden, die sich jedochlängst wieder verflüchtigt haben. Immerhin haben Siemit Mühe 50 Millionen DM in den Haushalt eingestellt.Mit den von den Ländern und Kommunen aufzubrin-genden Komplementärmitteln macht dies eine Summevon 45 Millionen DM jährlich aus.
– Hinsichtlich der Zahlen ist zu sagen: Der eine sieht esso und der andere sieht es anders, Frau Kollegin Freitag.
– Herr Küster, bei Ihnen fällt mir immer ein: Kurz vorder Küste küsste der Küster Käthe komischerweise. Ichweiß nicht, wieso. Der Goldene Plan des DSB sah einen Investitionsbe-darf von 25 Milliarden DM vor. Also hätten Sie wenigs-tens bei der Wahl des Begriffs etwas ehrlicher sein kön-nen. Ein goldenes Zeitalter wird mit diesen 15 Mil-lionen DM für den Sport in den neuen Bundesländernwahrlich nicht ausbrechen.
Natürlich sind 15 Millionen DM mehr als nichts, das istrichtig.
Wir würden das auch gern anerkennen, wenn Sie diesnicht an anderen Stellen wieder kürzen würden. Die alte Bundesregierung hat die neuen Länder mitgroßem Erfolg ermuntert, verstärkt Mittel aus dem In-vestitionsförderungsgesetz für Sportstätten heranzuzie-hen. Frau Staatssekretärin Dr. Hendricks vom Bundes-ministerium für Finanzen war so freundlich, für die Jah-re 1995 bis 1997 die Mittel projektbezogen aufzulisten.Wir sind somit in der Lage, genau zu sagen, in welchemUmfang und wo etwas saniert, erneuert oder auch neuerrichtet worden ist.
Kollege Riegert hat die Zahlen schon genannt. Es wa-ren allein 1997 über 450 Millionen DM. Das heißt: DerBund hat in drei Jahren in den neuen Ländern Sportein-richtungen mit rund 1,2 Milliarden DM gefördert. Hinzukommen über 770 Millionen DM an Komplementärmit-teln der Länder und Kommunen. Einschließlich der Mit-tel für den Spitzensport sind damit rund 2,65 Milliar-den DM für Einrichtungen des Sports in die neuen Län-der geflossen. Das ist, so glaube ich, wahrlich eine stol-ze Summe.
Interessant ist – das wurde hier auch schon gesagt –,dass darin nicht nur Mittel für die Sanierung und den Er-satzneubau, sondern auch für Neubauten enthalten sind.Das waren in den letzten drei Jahren insgesamt 87 Milli-onen DM. In Verbindung mit den Komplementärmittelnkommt ebenso eine große Summe zusammen. Allein inmeinem Bundesland, Sachsen-Anhalt – das wird Sie,Herr Küster, freuen –, wurden auch zwei Hallen errich-tet, nämlich die Leichtathletikhalle in Halle an der Saaleund die Bördelandhalle in Magdeburg. In Berlin nenneich als Ersatzneubauten beispielhaft die Max-Schme-ling-Halle und die Radsporthalle an der LandsbergerAllee. Wenn Sie, die Kollegen der Koalition, in dem Jahres-bericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deut-schen Einheit beklagen, dass erst 15 Prozent der nachdem Goldenen Plan notwendigen Investitionen realisiertwerden konnten, so frage ich: Was heißt hier an dieserStelle „erst“? Eigentlich müsste es doch „schon“ heißen;denn wenn wir die von Ihnen eingestellten 15 MillionenDM zum Maßstab nähmen, was wir natürlich alle nichttun wollen, dauerte die völlige Angleichung im Sport-Peter Letzgus
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8095
stättenniveau zwischen Ost und West noch locker150 Jahre.
Herr Kollege
Letzgus, ich muss Sie jetzt bitten, doch zu den letzten
Sätzen zu kommen.
Abschließend ist noch
zu sagen: Wir werden Sie an den Leistungen der ver-
gangenen Jahre messen, daran, wie viel Mittel insgesamt
in die Sportstättenförderung der neuen Ländern fließen.
Dann werden wir Bilanz ziehen und hoffentlich nicht
feststellen müssen, dass durch den Goldenen Plan Ost
Investitionen durch das Investitionsförderungsgesetz für
Sportstätten zu kurz gekommen sind. Investitionsförde-
rungsgesetz plus Goldener Plan Ost kann somit die
Formel für die Sportstättenförderung in den neuen Bun-
desländern nur heißen, und wenn wir da konform gehen,
ist das besonders nett.
Ich bedanke mich.
Nunmehr spricht für
die SPD-Fraktion die Kollegin Christine Lehder.
Herr Präsident! Sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Von meinen Vorred-nern wurden schon viele Bereiche aus dem 9. Sport-bericht aufgegriffen und die sich daraus ergebende Prob-lematik wurde ausführlich dargestellt. Ein Bereich wur-de bisher noch gar nicht angesprochen, nämlich der Be-reich, den das Ministerium für Familie, Senioren, Frauenund Jugend abzudecken hat. In dessen Verantwortungs-bereich fällt die Förderung von Jugendsport im Rahmendes Kinder- und Jugendplanes des Bundes, der Sport fürFrauen und Mädchen sowie der Seniorensport. Der erste große Bereich, auf den ich eingehen möch-te, ist der Jugendsport. Die meisten Mittel des Ministe-riums stehen für die sportliche Jugendbildung zur Ver-fügung. Daran ändert auch die neue Regierungskoalitionnichts. Ein wesentliches Instrument zur Förderung des au-ßerschulischen Jugendsports ist der Bundesjugendplandes Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauenund Jugend. In ihm sind die konzeptionellen und finan-ziellen Möglichkeiten der Förderung der freien und öf-fentlichen Jugendarbeit zusammengefasst. Er ist unteranderem Finanzierungsgrundlage der Deutschen Sport-jugend und anderer zentraler Jugendverbände sowie fürdie Bundesjugendspiele. Diese Bundesjugendspiele werden hauptsächlichvon dem Gedanken getragen, dass alle Jugendlichenteilnehmen können, dass jeder einen Anreiz erhaltensoll, teilzunehmen, zu üben und die für ihn optimalenLeistungen zu erzielen. Dabei werden unterschiedlicheVeranlagungen angesprochen und sie sollen auch entwi-ckelt werden. Hierbei geht es nicht um sportlicheHöchstleistungen; vielmehr sollte jeder Schüler seine imUnterricht erlernten Fertigkeiten erproben können.
Im Berichtszeitraum 1994 bis 1997 wurde eine Koor-dinationsgruppe aus Vertretern des Deutschen Leichtath-letikverbandes, des Deutschen Turnerbundes, des Deut-schen Schwimmvereins und der Deutschen Sportjugendgegründet, die ein Konzept erarbeitet hat, um die Bun-desjugendspiele neu und zeitgemäß zu gestalten. DieErprobung fand im Schuljahr 1998/99 statt, sodass nachentsprechender Auswertung die neuen Bundesjugend-spiele in die Ausschreibung für das Schuljahr 2000/2001aufgenommen werden. Hierfür sind im Haushalt für dasJahr 2000 jetzt zusätzlich 100 000 DM eingestellt wor-den. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein weitereswichtiges Gebiet des Jugendsports sind die internationa-len Beziehungen und der Jugendaustausch. Neben dergemeinsamen sportlichen Betätigung können sich dabeifreundschaftliche Beziehungen entwickeln. Die Jugend-lichen lernen so das gesellschaftliche und das kulturelleUmfeld des jeweiligen Landes kennen.
Einen besonderen Stellenwert haben hierbei dasdeutsch-französische und das deutsch-polnische Jugend-werk. Ich persönlich würde mir wünschen, dass es inZukunft noch mehr solcher länderübergreifender Ju-gendwerke gibt, die das Ziel haben, Vorurteile abzu-bauen, den Weg zur Versöhnung zu ebnen sowie guteNachbarschaft und das gegenseitige Kennenlernen derjungen Menschen zu fördern. Aus meiner Sicht kann man sagen, dass der bisher be-schrittene Weg der Förderung des Jugendsports in dierichtige Richtung geht. Sicherlich gibt es noch einigeFelder, die der besonderen Förderung bedürfen. Aber beider Aufdeckung solcher bestehenden Defizite sind wirauch auf die Zuarbeit der jeweiligen Sportverbände an-gewiesen. Auch wenn wir mit der Förderung der Jugend imRahmen der Sportpolitik relativ konform mit der altenBundesregierung gehen, erschreckt mich dagegen in be-sonderem Maße die in meinen Augen verfehlte Politikim Bereich des Seniorensports in unserem Berichtszeit-raum von 1994 bis 1997. So sind die Ausgaben in die-sem Bereich von 428 000 DM im Jahre 1996 über245 000 DM im Jahre 1997 auf sage und schreibe78 000 DM im Jahre 1998 gesunken.
Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter, weil mannicht erst seit gestern weiß, dass der Anteil der älterenMenschen an der Gesamtbevölkerung zunimmt. Wennman von einer zukunftsgestaltenden Politik für ältereMitbürger und mit der älteren Generation sprechenPeter Letzgus
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8096 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
möchte, dann müssen deren Wünsche und Bedürfnissenoch stärker berücksichtigt werden; denn nur so kannman Bedingungen für ein sinnerfülltes und selbstständi-ges Leben im Alter schaffen oder verbessern. Die Mehrzahl unserer älteren Menschen ist rege, leis-tungsfähig und vital. Seniorinnen und Senioren möchtenaktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Lang ge-hegte Wünsche, die wegen Berufstätigkeit oder Ver-pflichtungen in der Familie zurückgestellt wurden, kön-nen jetzt im Alter erfüllt werden. Viele Freizeitaktivitä-ten werden in der nachberuflichen Phase erweitert odertreten neu hinzu, auch im sportlichen Bereich. Bewe-gung, Spiel und Sport im Alter tragen wesentlich zurVerbesserung der Lebensqualität älterer Menschen bei.Sportliche und spielerische Betätigung hilft, sozialeKontakte zu knüpfen und einer eventuellen Vereinsa-mung entgegenzuwirken. Sportliche Betätigung ist jedoch nicht nur für Jung-und Fitgebliebene von hohem Stellenwert. Auch man-chem hilfs- und pflegebedürftigen älteren Menschen bie-ten Spiel und Sport gewisse Möglichkeiten, Selbststän-digkeit, Kompetenz und Lebensfreude zu erhalten. All dies hat die alte Bundesregierung erkannt undverweist in ihrem 8. wie auch in dem vor uns liegenden9. Sportbericht immer wieder darauf. Nur, man mussfeststellen, dass dies keinen Niederschlag in ihrer finan-ziellen Förderung im Bereich des Seniorensports fand. Als im Herbst 1998 die neue Regierungskoalition ihreArbeit aufnahm, wurden die Ausgaben für den Senio-rensport um 50 000 DM erhöht. Natürlich war auch dasnur ein Tropfen auf den heißen Stein. Leider war zu die-sem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Jedoch unmittelbarim Anschluss an die parlamentarischen Beratungen hatdie SPD-Fraktion die Initiative ergriffen und den DSBgebeten, eine eigene neue Konzeption bezüglich des Se-niorensports vorzulegen. Dies ist durch die Mitarbeiterdes Deutschen Sportbundes zügig geschehen. Ich möch-te an dieser Stelle ausdrücklich meinen herzlichen Dankdafür aussprechen.
Nur dadurch war es möglich, dass die Konzeption mitdem Ministerium abgestimmt werden konnte und im Haushalt 2000 eine nochmalige Erhöhung um90 000 DM eingestellt werden konnte. Man mag sichüber den relativ bescheidenen Betrag wundern. Wennman jedoch sieht, wie die Kampagne für den Senioren-sport konzipiert ist und wie diese durch Eigenmittel undengagierte Sponsoren mit finanziert wird, dann mussman feststellen, dass hier eine positive Entwicklung be-gonnen hat, die die alte Regierung nicht in der Lage warin Gang zu setzen.
An dieser Stelle möchte ich abschließend auch nochauf den dritten Förderbereich des Bundesministeriumsfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Frauen-und Mädchensport, eingehen. Es ist besonders hervor-zuheben, dass im 9. Sportbericht dieser Thematik zumersten Mal ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Dies ist fürmich auch ein Indiz, dass die Rolle der Frau in der Ge-sellschaft einen höheren Stellenwert bekommen hat.Sport hat im Leben von Mädchen und Frauen verstärktan Bedeutung gewonnen. Die zunehmenden sportlichenAktivitäten von Mädchen und Frauen schlagen sich auchdeutlich in den Mitgliedszahlen des DSB nieder. Wur-den hier 1970 noch 28 Prozent weibliche Mitgliederverzeichnet, so bestanden 1997 bereits 38,1 Prozentweibliche Mitgliedschaften. Aber diese erfreuliche Ent-wicklung hat sich leider nicht in der Besetzung von Vor-ständen und Präsidien niedergeschlagen.Dort sind Frauen nämlich nur zu circa 15 Prozent vertre-ten. Daran hat sich bis heute bedauerlicherweise nichtviel geändert. Es stellt uns vor die besondereHerausforderung, diesen Missstand zu beheben.Ein besonderes Anliegen der alten und der neuen Re-gierung war und ist es, verstärkt den frauen- und mäd-chenpolitischen Interessen im Sport Rechnung zu tragen.Dies wird besonders an der Entwicklung mädchen- undfrauengerechter Trainingsangebote deutlich. Hierfür hatdie rot-grüne Regierung zum Beispiel im Jahr 2000 För-dermittel in Höhe von 400 000 DM zur Verfügung ge-stellt. Diese werden für ein Modellprojekt des Deut-schen Basketball Bundes und der Damenbasketballbun-desliga eingesetzt.
Ich möchte noch auf ein von der alten Bundesregie-rung initiiertes Forschungsvorhaben hinweisen, dasmich als ostdeutsche Politikerin besonders interessiertund auf dessen Ergebnisse ich mit Spannung warte.Hierbei handelt es sich nämlich um die Erforschung derEntwicklung des Frauensports in der DDR – eine bishervollkommen unbeachtete Thematik. Ich könnte mir vor-stellen und ich würde mir wünschen, dass sich darausnachahmenswerte Anregungen für die Vereinbarkeit vonFamilie, Beruf und sportlicher Betätigung im Bereichdes Breiten- und des Leistungssports auch für Frauenunserer jetzigen Gesellschaft ergeben.
Abschließend kann ich nur sagen: Sport frei und vie-len Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Klaus Rose für die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsi-dentin! Liebe sportliche Kolleginnen und Kollegen! Ichmeine nicht bloß diejenigen, die jetzt im Plenarsaal sind,sondern auch die vielen anderen Kolleginnen und Kolle-gen, die zur Stunde außerhalb des Hauses Sport treiben.
Christine Lehder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8097
Denn das Interesse an der Sache, lieber Herr KollegeSchur, ist sicherlich viel größer, als es den Anschein hat.Die geringe Zahl von Anwesenden liegt mehr an der Ta-geszeit und weniger am Interesse.Wir praktizieren im Sportausschuss – ich greife ger-ne das auf, was Kollege Dr. Kinkel sagte – eine großesportpolitische Zusammenarbeit. Es geht um gemeinsa-me Ziele und um die Vertretung der Interessen desSports, der Sportlerinnen und Sportler. Uns eint auch derfaire Wille zum Erfolg im Interesse der Sache. Wir ha-ben auch deshalb im Laufe der Jahre einiges gemeinsamerreicht.
Nur, das heißt nicht, dass man nicht sportlich fair Punktesammeln will
und dass wir uns Gedanken machen, wie es in Zukunftnoch besser wird – so wie Sie es uns versprochen haben. Wir Sportpolitiker wissen auch, dass wir eine ver-schworene Gemeinschaft sind und gerne mehr möchten,auch wenn wir von den Finanzpolitikern und von denFraktionsführungen nicht ganz so viel gehört werden.Deshalb müssen wir über unseren eigenen Bereich hin-aus Freunde sammeln. Das macht man am besten, wennman miteinander sportlich umgeht.Die unterschiedlichen Auffassungen möchte ich nichtverschweigen. Im Laufe meiner parlamentarischen Kar-riere sind sie mir immer wieder bewusst geworden. Ichmusste mich immer wieder, wenn das Stichwort „Sportund Umwelt“ kam, damit auseinander setzen, dass mirvonseiten der Grünen ganz andere Vorstellungen ent-gegnet wurden. So hieß es, dass man Sport fast nichtmehr betreiben dürfe, weil man eigentlich die Umweltzerstöre. Ich war mir auch bei der SPD nicht immer so sicher,dass sie zum Leistungs- und Spitzensport ein wirklichgutes Verhältnis gehabt hat. Dies galt zwar für vieleKolleginnen und Kollegen; aber die Gesamtaussage waroft sehr differenziert, sodass ich festhalten muss: Begrif-fe wie „Leistung“ und „Elite“ sind manchem nicht soleicht über die Lippen gegangen. Wenn Sie sich in derRegierungsverantwortung jetzt verantwortlich fühlenund das anders wird, dann kann ich das im Interesse desSports und der vielen Sportlerinnen und Sportler nurdankbar begrüßen.
Auch einen zweiten Hinweis kann ich Ihnen nicht er-sparen: Es ist die unsportliche Politik der Bundesregie-rung im Zusammenhang mit dem 630-Mark-Gesetz.
Das tut Ihnen noch immer weh; aber es hat den Sport-vereinen viel mehr wehgetan, weil sie damit wichtigeAufgaben nicht vollenden und wichtige Leistungen nichtanbieten konnten. Zusätzlich beabsichtigen Sie jetzt eineerneute Belastung des Ehrenamts durch Sozialabgabenauf Aufwandsentschädigungen. Wir spüren die Folgenzurzeit bei den Feuerwehren, die sich rühren. Ich weißnoch nicht, ob diese Welle auf die Sportvereine über-schwappt. Ich traue ihnen zu, dass sie an ähnliche Reak-tionen denken.Meine Damen und Herren, wir debattieren zwar heuteden 9. Sportbericht, also unsere Leistungsbilanz, aber imVorwort haben Sie ja doch sehr vollmundig davon ge-sprochen, dass Sie für die Zukunft eine klare Hand-schrift anbieten.
Sie wollten ja überhaupt alles neu erfinden. Ich erinneremich an manche Aussagen nach dem Regierungswech-sel, in denen es hieß: Jetzt geht es mit dem Sport erstrichtig los.
Ich frage: los, ohne Moos? Sie führen doch so gerne an,dass Sie sparen müssen und nur mit großen Schwierig-keiten überhaupt einige Millionen für den GoldenenPlan gefunden haben.
Wir werden das auch in Zukunft intensiv beobachtenund Ihre Versprechen dann daran messen, was Sie in dieTat umgesetzt haben.
Wer sich mit den Spitzen des deutschen Sports unter-hält, der weiß, dass die derzeitige Förderung der Spit-zensportler durchaus gewürdigt wird. Ich sage aber aufden bisherigen Bericht bezogen auch: Wie steht es umkünftige Investitionen in Sportstätten? Zieht man näm-lich eine Bilanz der Leistungsfähigkeit der derzeitigenLeistungszentren, dann taucht die klare Erkenntnis auf,dass man nicht nur reparieren und flicken darf, sonderndass man modernisieren und klotzen muss, weil alleindas den deutschen Sportlern angemessen ist. Sie werdenalso über den Goldenen Plan Ost hinaus einen Plan auf-stellen müssen, wie in den nächsten Jahren wirklich einekonzentrierte Sportstättenförderung im ganzen Landedurchgeführt werden kann. Auch daran werden wir Siemessen. Kommen Sie mir bitte nicht mit der Leier, Sie hätteneine dramatische Finanzlage vorgefunden.
Zunächst einmal sprechen die gesamtwirtschaftlichenDaten dagegen. Sie alle wissen, dass Faktoren wie Infla-tionsrate und Geldwertstabilität eine deutlich andereSprache sprechen. Außerdem geben Sie in anderen Be-reichen ja auch mehr als zuvor aus, beim Sport aller-dings nicht. Sie sagen, beim Sport müsse man einsparenund den Gürtel enger schnallen. Vor dem Hintergrund,dass der Bundeshaushalt im Jahre 1999 Ausgaben inDr. Klaus Rose
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8098 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Höhe von 485 Milliarden DM vorsah, die nach IhremFinanzplan im Jahre 2003 auf 504 Milliarden DM an-wachsen, kann es nicht heißen, auch beim Sport müssegespart werden. Wir werden Sie also beobachten und anden Taten messen. Wir werden Sie natürlich auch – das sage ich als alterHaushaltspolitiker – daran messen, wie viel SchuldenSie machen. Uns werfen Sie das ja immer vor. In Ihrenderzeitigen Haushaltsplänen machen Sie Schulden inHöhe von 50 Milliarden DM pro Jahr. Wenn Sie einmaldie nächsten vier Jahre zusammenrechnen, dann ergibtsich, dass der Schuldenberg danach um 200 MilliardenDM höher sein wird. Sie können dann nicht mehr sagen,das liege leider an der Situation, die Sie vorgefundenhätten. Im Vorwort des Sportberichtes haben Sie auch ge-schrieben, dass Haushaltskonsolidierung und Einsparun-gen bei der Sportförderung eine Chance für Strukturver-besserungsmaßnahmen bieten. Das sah ich immer so.Jede Sparmaßnahme und jeder Druck auf öffentlicheHaushalte führte immer auch zu Verbesserungen. Aberauch da werden wir Sie daran messen, ob Sie wirklicheVerbesserungen vorweisen können. Wenn Sie diesenachweisen, dann – das verspreche ich Ihnen heute –sind wir auf Ihrer Seite.
– Ich verteile dann gerne auch die goldene Rose. Sehrrichtig.Ich setze Ihr Einverständnis voraus, wenn ich jetztzwei Bereiche des Spitzensports noch einmal besonderserwähne, weil ich mich für diese auch verantwortlichfühlte, nämlich die Förderung durch Bundeswehr undBundesgrenzschutz. Die Frau Kollegin Parlamentari-sche Staatssekretärin Schulte war nur am Anfang derDebatte anwesend, als die Bundeswehr gelobt wurde,um die Blumen entgegenzunehmen. Vielleicht ist janoch jemand da, der ihr auch meine Worte mitteilt. Wirfreuen uns, dass hier die Kontinuität gewahrt bleibt unddie Bundeswehr weiterhin als bedeutsamer Förderer desSports auftritt. Auch Bundesminister Scharping scheintdiese bisher gut entwickelte Politik in Bezug auf die 25Sportfördergruppen fortzusetzen.
– Der Zwischenruf kommt mir gerade gelegen, lieberKollege Dr. Ramsauer. Bezüglich des Wintersportessollten wir Bayern natürlich besonders stolz auf unserebayerischen Sportstätten und besonders auch auf unsereAushängeschilder sein; ich nenne Martina Ertl, UschiDisl, Claudia Pechstein, Barbara Niedernhuber
oder den legendären Schorsch Hackl – bei der Erwäh-nung seines Namens bekomme ich jetzt natürlich –Durst – und Fritz Fischer.Aber nicht nur der Freistaat Bayern, auch der FreistaatThüringen, der Freistaat Sachsen und die „Freiburg“Schwabenland werden nicht vergessen. Sie bringen gro-ße Leistungen für den Sport. Olympiastützpunkte und Bundesleistungszentrenin ganz Deutschland fördern Talente im Sommersport.Bundeswehr und Bundesgrenzschutz bieten auch be-rufliche Perspektiven. Dafür sind wir dankbar. Das solltefortgesetzt werden. Ich sage heute das Gleiche wie ges-tern im Ausschuss: Ich persönlich hoffe, dass die allseitsdiskutierte und befürchtete Verkleinerung der Bundes-wehr die Sportplanstellen unangetastet lässt, und zwarüber das Olympiajahr hinaus.
Beim Stichwort Olympia fällt mir ein, dass Uli Feld-hoff davon gesprochen hat, dass wir in diesem olympi-schen Sommer noch erfolgreicher als die Amerikanerabschneiden werden. – Na gut, Funktionäre sprechen so.Ich hoffe, dass sich die Gedanken in Medaillen umset-zen. Wir können uns darüber nur freuen.Lassen Sie mich abschließend einige gesellschaftspo-litische Auswüchse im Umfeld des Sports erwähnen.Zum Doping ist schon viel gesagt worden; das kann ichmir also jetzt sparen. Aber ich finde es traurig und auf-rüttelnd zugleich, dass die diesjährige Fußballeuropa-meisterschaft –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Rose,
Sie müssen langsam zum Schluss kommen, bitte.
– in Holland und Bel-
gien zu einem Ausnahmezustand im Nordwesten unse-
res Kontinents führt. Ich finde es unsportlich und men-
schenverachtend, dass junge Skiflieger wegen Geld und
Fernsehrechten Sturmböen und Lebensgefahr verges-
sen sollen. Es gibt also über den Erfolg hinaus eine Rei-
he von Aufgaben, die wir demnächst behandeln müssen.
Dazu rufe ich uns gemeinsam auf.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Friedhelm Julius Beucher
für die SPD-Fraktion.
Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Präsiden-tin! Mögen Sie meinen Solidarbeitrag zu dieser Debattedaran messen, dass ich mit gebrochenem Zeh zu Ihnengeeilt bin. Sport ist, wie Sie wissen, Ausdruck von Lebensfreu-de. Dazu passte die Rede des Kollegen Riegert nichtganz. Sie war zu verbiestert und hat zu sehr das Tren-nende, das wir im Sport haben, hervorgehoben.
Dabei haben wir doch seit über 30 Jahren die gute Tradi-tion im Sportausschuss des Deutschen Bundestages, dasswir uns oft als die Fraktion des Sports bezeichnen dür-Dr. Klaus Rose
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fen, das heißt über die Parteigrenzen hinweg – aus-schließlich an der Sache orientiert – für den Sport zu-sammenarbeiten. Es ist ebenso richtig – das kann man denjenigen, diedas nicht begriffen haben, nicht oft genug sagen –, dassder Sport die größte Personenvereinigung in dieser Re-publik ist. Über 26 Millionen Mitglieder hat der Deut-sche Sportbund, dem der Berliner von Richthofen vor-steht, der auf eine gute Bilanz seiner Vorgänger zurück-greifen kann und der diese noch ausgeweitet hat. Dasheißt, dass der Sport ein gesellschaftlich ungeheuerwichtiger Faktor ist.Ich bin dem Kollegen Rose dankbar, dass er ein paarnachdenkliche Akzente eingebracht hat. Denn Sport be-findet sich in einigen Bereichen in der Krise. Das hängtmit der zunehmenden Kommerzialisierung zusammen.Das ist genau das, was Sie bei den Skiflugweltmeister-schaften beklagt haben: Sehr oft wird bei uns nach tele-genen und nicht telegenen Sportarten unterschieden, unddanach gerät der Sport vor Ort in eine Abhängigkeit vonder Finanzierung. Wir haben Gegensätze mit Millionen-einkommen Einzelner auf der einen Seite und Vereins-leuten vor Ort, die manchmal nicht wissen, wie sie ihreSchülermannschaften zum nächsten Spiel transportiertbekommen, auf der anderen Seite.
Diese Gegensätze gilt es aufzuarbeiten und da gilt es ge-genzusteuern. Wir dürfen hier nicht unerwähnt lassen, dass wir unsvor einem Jahr durch einen Skandal, ausgelöst vomIOC, erschüttert sahen. Ich freue mich, dass es darumruhiger geworden ist. Die olympische Idee war in Ge-fahr. Besonnene Sportführer in der ganzen Welt habendazu beigetragen, dass das vergessen gemacht werdenkonnte.Doping ist hier genannt worden. Es ist nicht genanntworden, was Doping ist. Doping ist Betrug, und Betruglassen wir nicht zu.
Doping ist Betrug am eigenen Körper und Betrug im fai-ren Wettkampf miteinander. Wenn wir immer mehr Gelder für die Dopingfor-schung fordern, dann dürfen wir nicht nur auf die staat-liche Seite schauen, sondern wir müssen auch die Phar-maindustrie an diesen Kosten beteiligen. Es geht nichtan, dass eine Seite Geld mit den Pillen verdient, die an-dere Menschen schädigen. Auch dieser Punkt gehört indie Debatte.
Den Schulsport bewerte ich nicht danach, ob wir zu-ständig sind oder nicht. Es ist von allen Fraktionen ein-hellig gesagt worden: Wir können nicht zulassen, dassdiese Entwicklung in die falsche Richtung läuft. DieEntwicklung bei unseren Kinder ist einfach zu drama-tisch. Herr Kollege Kinkel, ich muss aber die Kultusmi-nisterkonferenz verteidigen. Sie bockt hier nicht, son-dern sie hat zum Zeitpunkt unserer Anhörung – diesenPunkt muss man anerkennen – ihre Jahrestagung „Ju-gend trainiert für Olympia“. Das respektiere ich.
Wir nehmen diese Situation zum Anlass, zusammen mitder Kulturministerkonferenz und mit der Sportminister-konferenz eine Extraveranstaltung durchzuführen.Der 9. Sportbericht beschreibt die gute Grundlage inder Sportpolitik der früheren Regierung, in einigen Tei-len; – das erkenne ich an. – Ich freue mich aber, dassdie neue Regierung mit Unterstützung der Koalitions-fraktionen und innerhalb des Sportausschusses oft mitUnterstützung aller Fraktionen des Hauses einige we-sentliche Akzente hinzugefügt hat.Alles, was recht ist: Sie haben bei all den Zahlenver-gleichen einfach vergessen, dass insgesamt 13 Millio-nen DM mehr im Haushalt 2000 als im Haushalt 1999enthalten sind. Sie haben nur zum Teil erwähnt, dass derBehindertensport der Bereich ist, der sozusagen dengrößten Schluck aus der Pulle bekommen hat. Das istaber eine Fortsetzung der guten Politik in Sachen Be-hindertensport, die wir von der Vorgängerregierung übernommen haben. Ich erkenne diese Tatsache aus-drücklich an und freue mich, dass wir diese Entwicklungweitergeführt haben.Zu dem Geschaffenen gehört, dass nach der Regie-rung Brandt/Scheel, die erstmals eine Übungsleiterpau-schale von 1 200 DM eingeführt hat, die RegierungSchmidt/Genscher diese Pauschale auf 2 400 DM erhöhthat. Danach gab es 16 Jahre lang einen Stillstand. Wirhaben jetzt aber konsequent das Ehrenamt nicht nur mitWorten anerkannt, sondern wir haben eine steuer- undsozialversicherungsfreie Pauschale von 3 600 DM ein-geführt.
Es muss auch klar gesagt werden, dass wir zurzeit einneues Stiftungsrecht diskutieren. Das heißt, dass dem-nächst mit rückwirkender Geltung über Stiftungen Geldfür den Sport gesammelt werden kann, was es bishernicht gegeben hat.Wir haben zum Goldenen Plan schon viel gehört. Ichsage dazu: Auch kleine Schritte sind Schritte. Verinner-lichen Sie dies bitte und schauen Sie, was schon ge-schaffen worden ist!Zu den Aufgaben und Zielen. Es ist wichtig, dass wirdie Bundeswehr weiterhin als größten Förderer desLeistungssports in der Republik auch mit finanziellenMitteln stärken. Der Sport in der EU darf nicht nur inFußnoten vorkommen, sondern er muss einen eigenenArtikel bekommen. Bei der Novellierung des Bundes-naturschutzgesetzes, muss der Sport berücksichtigtwerden, wie es in der Koalitionsvereinbarung heißt. Daswird den Kollegen Rose sicher beruhigen.Wir haben bei Olympia 2000 schöne Spiele zu er-warten. Das wünsche ich mir. Ich wünsche mir aberFriedhelm Julius Beucher
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auch den notwendigen Erfolg. Die Grundlagen für dieErfolge bei Olympia und bei den Paralympics sind ge-schaffen. Ich wünsche mir auch, dass am 6. Juni ent-schieden wird, die WM 2006 in Deutschland durchzu-führen. Insofern hoffe ich, das Haus hinsichtlich der Zie-le und Aufgaben des Sportes in den Jahren 2000 undfolgende wieder geeint zu haben.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vor-
lage auf Drucksache 14/1859 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Einund-
zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des
Abgeordnetengesetzes zur Änderung der
Europaabgeordnetengesetzes
– Drucksache 14/2235 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
– Drucksache 14/2660 –
Berichterstattung
Abgeordnete Roland Claus
Jörg van Essen
Joachim Hörster
Dr. Uwe Küster
Steffi Lemke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dr. Uwe Küster das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Nach einem langen Diskussionsprozesskönnen wir heute über einen reifen Entwurf zur Ände-rung des Abgeordnetengesetzes beschließen. Dieser istein bedeutender Schritt zur Reform des Abgeordneten-rechts. Er ist insbesondere ein überzeugender Nachweisunseres Sparwillens. Wer von den Bürgern zur Konsoli-dierung des Haushaltes Opfer verlangt, muss selbst mitgutem Beispiel vorangehen. Dies tun wir mit dem vonden Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge-brachten Entwurf zur Änderung des Abgeordnetengeset-zes, und zwar in mehrfacher Hinsicht.Der Präsident des Bundestages hatte eine moderateErhöhung der Diäten vorgeschlagen. Hierzu ist er nachdem Abgeordnetengesetz verpflichtet. Gleichwohl habenwir auf die Anhebung der Entschädigung für die Tätig-keit als Abgeordneter verzichtet.Dies ist die zehnte Nullrunde für Abgeordnete seit1977. Es wäre gut, wenn sich dies auch einmal in derÖffentlichkeit herumspräche. Keine gesellschaftlicheGruppe hat in diesem Zeitraum in gleicher Weise aufEinkommenserhöhungen verzichten müssen. Keine Be-rufsgruppe – auch nicht die Rentner – war in der Ver-gangenheit von Nullrunden betroffen.Ich bin mir ganz sicher: Eine Anhebung der Diätenwäre keinem Nachrichtenmagazin entgangen. Ob diejetzt vorgenommenen Kürzungen von Abge-ordneteneinkünften ähnlich breite Aufmerksamkeit fin-den, ist eher fraglich. Meine Damen und Herren, es ist erklärter politischerWille von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, konsequent– ich sage es ganz deutlich: konsequent – ungerechtfer-tigte Mehrfachbezüge von Abgeordneten zu streichen.Das Bundesverfassungsgericht verlangte bereits in sei-nem Diätenurteil von 1975 die Beseitigung von Doppel-alimentationen. Die Union und die F.D.P. haben sichdieser Forderung in den vergangenen Jahren immer wie-dersetzt. In dieser Richtung ist nichts passiert.
Jetzt haben wir die Mehrheit. Jetzt setzen wir endlichdiesen Gesetzgebungsauftrag des Bundesverfassungsge-richtes um. Mehrfachversorgungen werden mit dem nö-tigen Augenmaß – ich sage es ganz deutlich: mit demnötigen Augenmaß – auf ihren berechtigten Umfang zu-rückgeschnitten.Dabei geht es uns um zwei Fälle von Überversor-gung. Erstens. Aus dem Amt scheidende Bundesministerund Parlamentarische Staatssekretäre erhalten nach deralten Regelung auch dann ein Übergangsgeld, wenn sieihre politische Arbeit als Abgeordneter fortsetzen. Dasist nicht einzusehen. Für ihre wichtige und verantwor-tungsvolle Aufgabe als Abgeordneter erhalten sie eineEntschädigung. Diese sichert bereits den Lebensunter-halt. Deshalb sagen wir: Mit sofortiger Wirkung soll dasÜbergangsgeld ab dem zweiten Monat nach dem Aus-scheiden aus dem Regierungsamt in voller Höhe ruhen.Lassen Sie mich das anhand eines konkreten Bei-spiels verdeutlichen. Ein früherer Bundesminister erhältbisher neben seiner Abgeordnetenentschädigung ein Übergangsgeld von bis zu 244 000 DM.
Wir kürzen den Höchstbetrag des Übergangsgeldes aufunter zehn Prozent. Ich wiederhole: auf unter zehn Pro-zent. Ein höheres Übergangsgeld verfehlt deutlich sei-nen Zweck.
Friedhelm Julius Beucher
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8101
Zweitens. Mit gleicher Entschlossenheit kürzen wirzusätzlich zur Abgeordnetenentschädigung bezogeneVersorgungsbezüge aus öffentlichen Kassen. Wentrifft dies aus unserem Hohen Hause? Einzelne unter Ih-nen, liebe Kolleginnen und Kollegen, waren vor ihrerMitgliedschaft im Bundestag als Oberbürgermeister,Landräte, als kommunale Wahlbeamte tätig. Andere bli-cken auf eine Tätigkeit als politische Beamte zurück.Dafür haben sie zu Recht Versorgungsansprüche erwor-ben. Aber warum verbleiben Abgeordneten hiervon ne-ben der Abgeordnetenentschädigung 50 Prozent, wäh-rend Beamte nur 20 Prozent behalten dürfen? Das istnicht in Ordnung. Deshalb rechnen wir künftig alle Ver-sorgungseinkünfte aus öffentlichen Kassen zu 80 Pro-zent auf die Abgeordnetenentschädigungen an. Einige fordern hier eine vollständige Anrechnung. Ichwarne aber vor übertriebenem Populismus. Richtig istauch: Versorgungsbezüge beruhen auf beruflichen Leis-tungen. Diese genießen deshalb den Schutz unserer Ver-fassung. Nach meiner Überzeugung haben wir mit unse-rer verschärften Anrechnungsbestimmung den politischnotwendigen und überfälligen Schritt vollzogen. Wir ha-ben den Gestaltungsspielraum, den uns die Verfassunglässt, vollständig ausgeschöpft.
– Aber die Zukünftigen wird es betreffen. Das ist genauder Zweck, den wir haben wollen.
Wie wirkt sich nun die neue Anrechnungsbestim-mung konkret aus? Dazu ein Zahlenbeispiel: Erhält einAbgeordneter eine monatliche Amtsversorgung vonvielleicht 9 000 DM, verbleiben ihm nach der alten An-rechnungsregelung 4 500 DM, nach neuem Recht wer-den ihm neben der Abgeordnetenentschädigung nurnoch1 800 DM ausgezahlt. In diesem Beispielsfall erhältder Abgeordnete 2 700 DM weniger. Diese verschärfte Anrechnungsregelung tritt ab der15. Wahlperiode in Kraft. Dies gebietet das Rückwir-kungsverbot unserer Verfassung. Entgegen der Auffas-sung der Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion halten wir es für falsch, bei der Anrechnungvon Versorgungseinkünften zwischen neu gewähltenund wieder gewählten Abgeordneten zu unterscheiden.Abgeordnete stellen sich zu jedem Bundestag unter denjeweils geltenden Rahmenbedingungen zur Wahl. Nie-mand würde es verstehen, wenn Überversorgung aus öf-fentlichen Kassen als Besitzstand von Abgeordneten ge-setzlich festgeschrieben würde. Nicht gerechtfertigteÜberversorgung soll deshalb über die jetzige Wahlperi-ode hinaus keinen Bestandsschutz genießen. Es freut mich zu betonen, dass wir wenigstens zu un-serer Reform der Amtsausstattung für Abgeordnete denKonsens aller Fraktionen des Hohen Hauses festzustel-len ist. Die Arbeitsbedingungen für Abgeordnete sindnicht mehr zeitgemäß. Sie halten mit den an sie gerichte-ten Forderungen hinsichtlich Quantität und Qualität derfür ihre politische Arbeit notwendigen Informationennicht mehr Schritt. Die Arbeitsbedingungen für Abge-ordnete genügen nicht mehr den hohen Mobilitätsan-sprüchen des Mandats. Wir können uns nicht den Luxuserlauben, weniger professionell zu arbeiten als bei-spielsweise die Wirtschaft. Wie kann die Politik ernst-haft den Anspruch erheben, den Wandel in der Infor-mationsgesellschaft zu gestalten, wenn sie sich dieserEntwicklung verschließt? Wenn wir keinen Zugang zumodernen Informations- und Kommunikationstech-nologien finden, traut uns niemand die Kompetenz zurZukunftsgestaltung zu. Die Anforderungen an dieBetreuung der Wahlkreise sind deutlich gewachsen. DieBürgerinnen und Bürger erwarten in ihrem Wahlkreiseinen schnell und zuverlässig informierenden Abgeord-neten. Deshalb führt kein Weg daran vorbei: Die ge-meinsame Informations- und Kommunikationsplattformdes Deutschen Bundestages muss mit dem technischenFortschritt im Bereich der Kommunikations- und Infor-mationstechnologien Schritt halten. Nur dann – ich be-tone es ganz deutlich: nur dann – kann es gelingen, denfür politische Entscheidungen notwendigen hohen In-formationsbedarf zu sichern. Aber auch bei der Reformder Amtsausstattung für Abgeordnete vergessen wir un-sere Sparziele nicht. Alle Kosten in diesem Bereichwerden deshalb aus den bestehenden Haushaltsansätzenfinanziert. Ich stelle fest: Die Bilanz der von den FraktionenSPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Novellezum Abgeordnetengesetz kann sich sehen lassen. Mehr-fachversorgungen von Abgeordneten werden konse-quent zurückgeschnitten. Die Arbeitsbedingungen fürAbgeordnete werden modernisiert. Wir rüsten unser Par-lament für die Herausforderungen der Informationsge-sellschaft. Mehr Gerechtigkeit und mehr Modernitätmüssen nicht unbedingt mehr Geld kosten. Im Gegen-teil: Wir sparen. Solche Reformen erwarten die Bürge-rinnen und Bürger von uns. Ich hoffe, dass wir damit ei-nen guten Beitrag geleistet haben. Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Joachim Hörster.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Das fulminante Werk, dasder Kollege Küster hier so gepriesen hat, lässt sich imGrunde in drei Bestandteile zerlegen.
Das Erste ist, dass in diesem Abgeordnetengesetz ei-ne ganze Reihe sprachlicher und technischer Rege-lungen getroffen worden sind, die die Verweisungssys-tematik vereinfachen und das Gesetz etwas lesbarer ma-chen.Dr. Uwe Küster
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8102 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Das Zweite ist, dass wir im Bereich der Amtsausstat-tung im § 12 Abs. 4 die Informations- und Kommuni-kationstechnik einbezogen haben, eine Regelung, die inder Sache vernünftig ist und die mitgetragen worden ist.Das Dritte, was der Herr Kollege Küster als Ausdruckeines optimalen Sparwillens bezeichnet hat, ist nurnicht konsequent zu Ende gedacht worden. Denn mankönnte ja noch mehr einsparen, wenn man das Parlamentnoch kleiner machte und die Abgeordneten vielleicht eh-renamtlich tätig sein ließe oder Ähnliches.
Das Ganze, was Sie hier vorgelegt haben, Herr Kol-lege Küster, entspricht zum Beispiel überhaupt nichtdem Paket, das der Herr Bundestagspräsident den Frak-tionen in seinem Schreiben vom 21. April 1999 empfoh-len hat, weil in diesem Paket beispielsweise auch einigeRegelungen hinsichtlich der Transparenz enthalten wa-ren, die merkwürdigerweise von Ihnen nicht aufge-nommen worden sind, obwohl Sie die Mehrheit gehabthätten, diese hier einzubringen und entsprechend durch-zusetzen.Im Übrigen haben Sie vergessen – auch das will ichIhnen gleich entgegenhalten –, dass die Regelung mitder Doppelalimentation einem Gesetz von 1996 ent-spricht, das von CDU/CSU und SPD in diesem Hausealleine getragen worden ist. Die F.D.P. hat ihm nicht zu-gestimmt, weil in diesem Gesetz eine Regelung über ei-ne Diätenanhebung enthalten war, die die F.D.P. nichtmittragen wollte. Deswegen richtet sich Ihr Vorwurf,CDU/CSU und F.D.P. hätten nichts gegen Doppelali-mentation unternommen, ganz massiv gegen die F.D.P..Denn die letzten Änderungen des Abgeordnetengesetzessind gemeinsam von unseren beiden großen Fraktionengetragen worden.Wir haben bei dieser Änderung des Abgeordnetenge-setzes zum Beispiel die Verringerung der Zahl derWahlkreise festgelegt. Wir haben ebenfalls festgelegt,wie der Streit entschieden werden soll, was denn nun dierichtige Ausstattung der Abgeordneten und die richtigeHöhe der Abgeordnetenentschädigung sei. Mit dem Kol-legen Dr. Struck bin ich in früheren Jahren einmal ge-meinsam in eine Pressekonferenz gegangen, um anhandvon zwei Gutachten, die Sachverständige erstellt haben,die nicht dem Bundestag angehört haben, zu begründen,warum die Abgeordnetenbesoldung, die wir gegenwär-tig haben, den verfassungsrechtlichen Geboten nicht ent-spricht. Ich finde, man macht sich einen sehr schlankenFuß, wenn man sich einfach aus der Vergangenheit ver-abschiedet.Im Übrigen – auch das ist eine Erfahrung, die sicherjede Kollegin und jeder Kollege, die oder der hier sitzt,mitgenommen hat – hat uns der Verzicht auf eine Diä-tenerhöhung noch nie ein größeres Ansehen in der Be-völkerung eingebracht.
Ganz im Gegenteil, wir haben immer erlebt, dass dieReaktion war: Offenbar haben die genug, die können javerzichten.Dabei geht es uns überhaupt nicht darum, ob das100 DM mehr oder 100 DM weniger sind, sondern esgeht entscheidend darum, ob das Ansehen des Parlamen-tarismus und einer parlamentarischen Tätigkeit in unse-rer Gesellschaft so ist, dass sie auch in entsprechenderWeise vergütet wird. Das ist der entscheidende Punkt.
Das Ganze beim Abgeordnetengesetz mit Sparwillenund Populismus zu begründen scheint mir nicht sehrvernünftig zu sein.Da dieses Gesetz, wie wir wissen und wie ich es ebendargelegt habe, aus drei unterschiedlichen Bereichen be-steht, von denen jedenfalls zwei in unserer Fraktion ab-solut unbestritten sind, haben wir in unserer Fraktion be-schlossen, keine Fraktionsmeinung herbeizuführen.Das heißt, jeder kann nach Lust und Laune abstimmen.
Für so wichtig halten wir dieses Opus der Koalitionnicht, dass wir darüber länger diskutieren müssten.Ich persönlich werde gegen das Gesetz stimmen undwill das damit begründen, dass ich mich, im Gegensatzzu dem Kollegen Küster, aus dem gemeinsamen Wirkenan dem Abgeordnetengesetz mit SPD-Kollegen in Ge-schäftsführerfunktion über viele Jahre hinweg nicht ver-abschieden möchte. Denn das, was wir damals gemein-sam für richtig gehalten haben, wird von mir auch heutenoch für richtig gehalten.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Cem
Özdemir.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stehen, wasdie Seriosität des Parlaments und des Parlamentarismusangeht, vor einem Scherbenhaufen, der von „Don Kohleone“ und seiner Fraktion, der CDU/CSU, ausge-löst wurde. Aber jeder von uns, in welcher Fraktion undPartei er auch immer ist, wird im Wahlkreis darauf an-gesprochen und damit konfrontiert. Die Bürgerinnen undBürger tun sich zunehmend schwer zu unterscheiden,wer hier was angerichtet hat. Insofern können wir es unsnicht so einfach machen und sagen, das sei ein Problemzwischen Regierung und Opposition. Jeder von uns istgefragt, Beiträge zu leisten.Joachim Hörster
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8103
Wir stehen erst am Anfang der Debatte über die völ-lige Neustrukturierung der Finanzierung des Politikbe-triebs in der Bundesrepublik Deutschland. Wir werdenneue Regelungen brauchen, was die Parteienfinanzie-rung und die Parteispenden angeht. Tragender Gedankeim Hinblick auf den gesamten Bereich der Parteienfi-nanzierung wird zukünftig die Transparenz sein müs-sen.
Was wir seit November Tag für Tag erfahren, darf nichtohne tief greifende Auswirkungen auf die Gestaltungund Finanzierung unserer demokratischen Institutionenbleiben.Ich glaube allerdings nicht, dass wir von einer Staats-krise reden müssen, auch wenn das immer wieder kol-portiert wird. Wir hätten vielleicht eine Staatskrise ge-habt, wenn es nicht zu einem Regierungswechsel ge-kommen wäre.
Auch das ist ein wichtiges Argument dafür, dass es gutist, dass es zu diesem Regierungswechsel gekommen ist.Wir sehen in diesen Tagen, warum.Da in unserem Berufstand gelegentlich eine gewisseForm von Amnesie um sich greift, möchte ich die Gele-genheit auch nutzen, daran zu erinnern, dass vieles ander Diskussion, die wir heute führen, so neu nicht ist.Ich erinnere an die Diskussion in der GemeinsamenVerfassungskommission nach der deutsch-deutschenEinheit, in der viele Vorschläge, über die wir heute dis-kutieren, bereits angesprochen worden sind. Wir werdenes Ihnen nicht ersparen, Sie daran zu erinnern, wie da-mals die Union, aber leider auch die F.D.P. nahezu jedenVorschlag in Sachen Transparenz, Reform und direkteDemokratie abgelehnt haben. Herr Kollege, Sie solltensich einmal die Protokolle der damaligen GemeinsamenVerfassungskommission durchlesen; es lohnt wirklichdie Lektüre.
Wir werden viele sinnvolle Vorschläge zur Weiterent-wicklung unserer Demokratie, die damals auch mit un-seren Freunden und Freundinnen aus den neuen Ländernerarbeitet worden sind, aufgreifen.Herr Kollege Küster hat bereits darauf hingewiesen,dass diese Reform eine Reform mit Augenmaß ist. Esgeht hier nicht darum, dass wir unseren eigenen Berufs-stand diskreditieren. Es geht auch nicht darum, dass wirso tun, als müssten wir in Sack und Asche herumlaufen.Wir sollten die Diätendiskussion von dem trennen, waswir hier tun. Hier machen wir notwendige Einschnitte indie Doppelalimentation von politischen Würdenträ-gern. Hier geht es darum, dass Dinge, die von nieman-dem verstanden werden, so nicht länger Bestand habenkönnen.Der von uns eingebrachte Vorschlag – Bündnis 90/Die Grünen hat das früher schon gefordert – ist sinnvollund es wert, dass wir ihn durchsetzen. Wir wollen dieMehrfachversorgung von Abgeordneten kräftig zusam-menstreichen. Die Bürgerinnen und Bürger haben das„Sterntalersyndrom“ vom unbegrenzten Aufsammelnhimmlischer Wohltaten zu Recht nie verstanden.
Im ersten Punkt geht es darum, dass ab der kommen-den Legislaturperiode – insofern könnte man sagen, wirschädigen uns selbst, da wir davon ausgehen, dass es zueiner Wiederauflage der rot-grünen Koalition kommt;auch daran sehen Sie, wie seriös wir arbeiten, denn wirtreffen uns mit dem, was wir hier machen, selbst – alleaus öffentlichen Kassen bezogenen Versorgungsbezügezu 80 Prozent auf die Diäten angerechnet werden. Dasheißt, frühere Landesminister und hauptamtliche Bür-germeister dürfen neben der Abgeordnetenentschädi-gung nur noch 20 Prozent ihrer Versorgungsbezüge be-halten. Das ist übrigens im Beamtenrecht üblich undinsofern auch keine Schlechterstellung, sondern ange-messen. Das Übergangsgeld für Bundesminister undParlamentarische Staatssekretäre wird künftig bereits abdem zweiten Monat neben den Abgeordnetendiäten ru-hen. Bisher bekamen sie bis zu drei Jahre lang Über-gangsgeld. Auch das scheint mir eine Maßnahme mitAugenmaß zu sein.Die drastischen Kürzungen, die wir jetzt vornehmen,sollen zu einer Reform der Politikfinanzierung beitra-gen. Ich nehme an, dass auch Herr Eichel sich darüberfreuen wird, auch wenn dies nur einen symbolischenBeitrag zur Haushaltskonsolidierung darstellt. Aber esist ein wichtiger Beitrag in einer Zeit, in der wir überZukunftsgestaltung und Sparpakete reden. Auch dies un-terscheidet uns von der alten Regierung. Während die al-te Regierung – Kohl und die Minister, insbesondere der,der für Recht und Ordnung zuständig war – den Staat imWesentlichen als Ressource für eigene Privilegien ver-standen hat, sehen wir unsere Aufgabe auch darin, siedort zu beschneiden, wo sie überflüssig oder unange-messen sind. Auch das ist ein Signal gegen Politikver-drossenheit, ein Signal dafür, dass diese Regierung unddie sie tragenden Fraktionen bereit sind, diese Diskussi-on selbstkritisch zu führen. Sicherlich gibt es Bereiche, in denen uns die Rege-lungen – Herr Kollege Hörster hat dies, zugegebener-maßen ironisch, aufgegriffen; ich meine es ernst – nichtweit genug gehen. Wir haben uns daher in der Koalitiondarauf verständigt, weiter darüber zu diskutieren undnoch in dieser Legislaturperiode ein Angebot vorzule-gen. Meine Fraktion ist der Meinung, dass zum Beispieldie geltenden gesetzlichen Regelungen bezüglich der sogenannten politischen Beamten weder sachlich gerecht-fertigt noch gegenüber der Öffentlichkeit zu erklärensind. Ich weiß, dass viele mit den herkömmlichenGrundsätzen des Berufsbeamtentums ankommen. Aberwir erwarten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern, dass sie sich veränderten Gegebenheiten anpas-sen, dass sie bereit sind, sich umzustellen, sich weiter-zubilden und auch Tätigkeiten in einem völlig anderenUmfeld anzunehmen. Ich glaube durchaus, dass wirauch beamteten Staatssekretären Selbiges zumuten kön-nen. Cem Özdemir
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Deshalb meine Bitte: Lassen Sie uns nach diesem ers-ten Schritt den zweiten folgen; das wäre nur konsequent.In der Zeit tiefer Einschnitte wird niemand für sich inAnspruch nehmen können, dass diese Maßnahmen vorihm Halt machen.Danke sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Kollege Özdemir hat einen
bunten Strauß von Themen angesprochen, allerdings nur
ganz wenig zu dem gesagt, was wir im Augenblick de-
battieren. Ich möchte mich auf dieses Thema beschrän-
ken; denn ich denke, dass es uns hilft, wenn wir uns mit
den Debattenthemen intensiver auseinander setzen.
Im Gegensatz zu der größeren Oppositionsfraktion
werden wir als F.D.P. diesem Gesetzentwurf zustim-
men – nicht, weil wir mit allem einverstanden wären,
sondern weil wir der Auffassung sind, dass die Richtung
stimmt.
Dass die Richtung stimmt, können Sie daran ersehen,
dass wir als Regierungskoalition versucht haben, einen
Teil dessen, was heute verabschiedet werden wird, um-
zusetzen, nämlich die Anrechnung der Bundestagsdiäten
auf die Übergangsgelder.
Es ist völlig falsch, wenn hier, insbesondere vom
Kollegen Özdemir, der Eindruck erweckt wird, als seien
in der letzten Legislaturperiode in diesem Bereich keine
Änderungen vorgenommen worden. Wir haben erhebli-
che Einschnitte vorgenommen, übrigens mit dem Ergeb-
nis, das wir alle kennen, nämlich dass die Akzeptanz der
Tätigkeit der Abgeordneten nicht besser geworden ist.
Jeder, der hier die Illusion erweckt – Gott sei Dank hat
dies in der bisherigen Debatte nach meiner Beobachtung
niemand getan –, dass dadurch eine größere Zufrieden-
heit mit der Tätigkeit der Parlamentarier zu erreichen
wäre, wird sich täuschen.
Es wird weiterhin Kritik geben, egal was wir machen.
Ich denke aber, dass es berechtigte Kritik ist, und wir
haben die Verpflichtung, auf berechtigte Kritik ein-
zugehen.
Für uns hat zur berechtigten Kritik immer gehört,
dass Übergangsgelder nur dazu dienen sollen, einen
Übergang abzufedern. Wer ein Regierungsamt über-
nommen hat, wie zum Beispiel das der Parlamentari-
schen Staatssekretärin im Innenministerium, der unter-
liegt dem Berufsverbot, der darf keinen anderen Beruf
ausüben und dem kann es passieren, dass er, wenn er
sein Amt verliert, von heute auf morgen auf der Straße
steht. Deshalb muss es Übergangsgelder geben. Der
Sinn der Übergangsgelder tritt jedoch dann nicht ein,
wenn ein Beruf ausgeübt wird, wie es eben bei der ge-
nannten Parlamentarischen Staatssekretärin der Fall ist.
Sie ist Abgeordnete und bekommt Abgeordnetenbezüge;
sie steht nicht auf der Straße. Es macht also Sinn, dann
das Gehalt, das man als Abgeordneter bezieht, anzu-
rechnen. Das wird von uns unterstützt.
Der zweite Punkt, den wir für richtig halten, ist die
Änderung der Bestimmung, durch die es uns ermöglicht
wird, die moderne Kommunikationstechnologie in unse-
re Arbeit einzubeziehen, und zwar im Rahmen der Gel-
der, die uns dafür zur Verfügung stehen. Von daher sa-
gen wir Ja zu der Zielrichtung.
Trotzdem – das will ich deutlich machen – bleiben
wir bei unseren Überlegungen, zu einer radikalen Neu-
ordnung zu kommen. Der Kollege Hörster hat schon ge-
sagt, dass die letzte große Initiative zur Regelung der
Abgeordnetendiäten von CDU/CSU gemeinsam mit
der SPD erfolgt ist, weil wir der Auffassung sind, dass
wir nicht wie Beamte besoldet werden sollten, uns also
nicht am öffentlichen Dienst orientieren sollten, sondern
dass unser Beruf den Freiberuflern gleichgestellt werden
sollte. Deshalb bleiben wir dabei, dass uns eine Kom-
mission, bestehend aus unabhängigen Persönlichkeiten,
Vorschläge machen soll und dass unsere Altersver-
sorgung so geregelt werden soll, wie es bei Freiberuflern
üblich ist.
Unsere Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf hindert
uns nicht daran, dieses Ziel, das ich hiermit noch einmal
deutlich machen wollte, weiter zu verfolgen.
Lassen Sie mich noch folgende Bemerkung machen. Sie
alle wissen, dass die Landtage Jahr für Jahr ihre Diäten
erhöhen. All die Diskussionen, die bei uns geführt wer-
den, finden dort nicht statt. Sie wissen, dass fast alle
Landtage keine Bestimmungen haben, die dem entspre-
chen, was wir heute verabschieden. Ich habe den
Wunsch, dass die vernünftigen Gründe, die uns dazu
bewegen, diese Änderungen vorzunehmen, bald auch in
den Landtagen gesehen werden und dass die Landtage
uns folgen.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner indieser Debatte ist der Kollege Roland Claus für diePDS-Fraktion.Cem Özdemir
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8105
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Auch unsere Fraktion will diesem Ge-
setzentwurf die Zustimmung geben. Uns bewegen dabei
die heute schon geschilderte Vermeidung von Doppel-
vergütungen und die Möglichkeit der Nutzung moderner
Technik. Das ist nicht viel von dem, was man sich ins-
gesamt gewünscht hätte, aber es geht in die richtige
Richtung.
Der Einwand, den der Kollege Hörster für die Christ-
demokraten gemacht hat, ist uns aber nicht verständlich.
Ich fand seine Argumentation auch reichlich gestelzt.
Wenn es Ihnen wirklich darum geht, viel weiter gehende
Vorschläge einzubringen, so hätten Sie das mit einem
Änderungsantrag locker machen können. Wenn Sie sich
dem verweigern, was die anderen Fraktionen heute be-
schließen, wird die öffentliche Botschaft über die
CDU/CSU wiederum lauten: Bescheidenheit ist uns
immer noch fremd. Ich glaube, das ist nicht gut.
– Das ist für uns alle nicht gut.
Eines ist übrigens bemerkenswert: Während Sie im
federführenden Ausschuss noch geschlossen gegen das
Gesetz gestimmt haben, haben Sie, Herr Kollege
Hörster, heute gesagt, die Abgeordneten könnten nach
„Lust und Laune“ abstimmen. Vielleicht hat es auch bei
Ihnen einiges an Bewegung gegeben.
An der Einbringung des Gesetzentwurfes hat mich
das etwas zu dick geratene Eigenlob der Koalition etwas
gestört.
Der Kollege Küster hätte mir die Zustimmung beinahe
ausgeredet. Es hat nur noch gefehlt, dass Sie das gesagt
hätten, was wir jetzt immer zu hören bekommen, näm-
lich das Gesetz sei „alternativlos“. Sie wissen, wovon
ich rede.
Eine Reform wurde angekündigt; ein „Reförmchen“
ist daraus geworden. Die Sache bewegt sich aber in die
richtige Richtung. Deshalb lassen wir uns unsere Zu-
stimmung auch nicht von Ihrem Eigenlob ausreden.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge-
brachten Gesetzentwurf zur Änderung des Abgeordne-
ten- und Europaabgeordnetengesetzes auf den Drucksa-
chen 14/2235 und 14/2660. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung gegen einige Stimmen aus der CDU/CSU-
Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist damit gegen die Stimmen einiger Mitglieder
der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung
auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Nach-
haltige Energieversorgung unter den Bedin-
gungen der Globalisierung und der Liberali-
sierung“
– Drucksache 14/2687 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die
Kollegin Monika Ganseforth für die Fraktion der SPD.
Frau Präsidentin! Sehrgeehrte Kolleginnen und Kollegen! Viele sagen, siewüssten genug, um eine nachhaltige Energieversorgungeinzuleiten, und fragen, wozu wir noch eine Enquete-Kommission brauchen. In der Tat haben sich in der Ver-gangenheit diverse Kommissionen mit dem Thema einernachhaltigen Energieversorgung beschäftigt und demBundestag ausführliche Berichte mit einer Fülle vonEmpfehlungen vorgelegt. Ich habe den letzten Berichtauf der Drucksache 12/8600 vom 31. Oktober 1994 mit-gebracht. Das ist nicht der dickste, der unter der Über-schrift „Mehr Zukunft für die Erde – Nachhaltige Ener-giepolitik für dauerhaften Klimaschutz“ steht. Obwohlwir so viel wissen, ist es in der Vergangenheit kaum ge-lungen, diese Empfehlungen umzusetzen. Eines der größten Hemmnisse war dabei das Festhal-ten an den überkommenen Strukturen der angebots-orientierten Energiebereitstellung. Ein wesentlicherGrund dafür war der Preis. Mit der bisherigen Energie-erzeugung wurde sehr viel Geld verdient, wie sich andem Sinken der Strompreise seit dem Aufbrechen derMonopole zeigt. Langsam werden diese Luft und dieseZusatzverdienste herausgedrückt.Der zweite Grund für den Stillstand in der Energiepo-litik der Vergangenheit war der Streit um die Zukunftder Atomenergie. Die Atomenergie trägt in Deutschlandmit etwa 10 Prozent zur Primärenergie bei. Bei derStromerzeugung sind es allerdings 30 Prozent. Weltweitist der Anteil der Atomenergie sogar nur halb so groß.Aber der Streit um diesen Teil hat eine nachhaltigeEnergiepolitik in der Vergangenheit weitgehend blo-ckiert und verhindert.
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8106 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Es wurde beispielsweise das Ausschöpfen der enormenEffizienzpotenziale verhindert. Wir haben in der En-quete-Kommission damals ermittelt, dass es rund40 Prozent sind. Der Wirkungsgrad von der Primärener-gie bis zur Nutzenergie beträgt ungefähr 10 Prozent. Dasheißt, 90 Prozent der eingesetzten Energie geht im We-sentlichen auf dem Umwandlungsprozess bis zur Nutz-energie verloren. Weltweit ist es sogar noch vielschlechter. Da gehen ungefähr 95 Prozent verloren. Hierwäre also sehr viel zu tun. Man könnte mit der halbenPrimärenergie genau dieselbe Wirkung haben, wennman diese Potenziale nutzen würde. Auch die Nutzung erneuerbarer Energien wie Solar-energie, Biomasse, Wasser und Wind wurde wegen derBlockade nicht in dem notwendigen Maß vorangetrie-ben.
Es gelang noch nicht einmal, die Hemmnisse zu beseiti-gen, die den ökonomischen Potenzialen für eine nach-haltige Energieversorgung im Wege stehen. Es ist richtig: Es hat sich seit dem Regierungswechseleiniges getan. Wir haben das 100 000-Dächer-Programmauf den Weg gebracht. Wir haben die Ökosteuer einge-setzt, die die Energieeffizienz verbessern soll. Wir habenein Anreizprogramm mit den eingenommenen Mittelnaufgelegt, die nicht für die Senkung der Lohnnebenkos-ten verwendet werden. Wir sind dabei, ein hervorragen-des Gesetz für die Förderung erneuerbarer Energien zumachen. Die Energieeinsparverordnung, die den Namenauch verdient, ist in Arbeit. Gleiches gilt für die Kam-pagne „Solar – Na klar!“ usw. Wir haben also mehrTempo in die Sache gebracht.
Dann stellt sich, wenn wir auf so einem guten Wegsind, natürlich die Frage: Was soll eine neue Enquete-Kommission noch leisten? Was ist neu? Seit den letztenArbeiten haben sich die Rahmenbedingungen für Ener-giepolitik durch die Liberalisierung der Energiemärkteund die Globalisierung durchgreifend geändert. Das sindneue Gesichtspunkte. Nationale Energiepolitik mussdiese Bedingungen stärker berücksichtigen als in derVergangenheit. Das wird der Schwerpunkt der Arbeitder neuen Enquete-Kommission sein. Es heißt zum Beispiel im Einsetzungsbeschluss: „ImZentrum sollen die kurz-, mittel- und langfristigenKlimaschutzziele … stehen.“ Wichtig sind hier die25 Prozent CO2-Reduktion, die wir zugesagt haben, sowie die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutsch-lands im Rahmen des Kioto-Prozesses. Es geht um dieKonkretisierung dieser Ziele einmal bis zum Jahr 2010,aber auch der Ziele bis zum Jahr 2050. Die Enquete-Kommission hat damals gesagt, dass die Industriestaatenihre Emissionen bis zu 80 Prozent reduzieren müssen.Das ist wahrlich eine anspruchsvolle Aufgabe.Trends, Ziele und Gestaltungsspielräume sind natio-nal, europäisch und im globalen Rahmen aufzuzeigen.Insbesondere geht es darum, die veränderten Rahmen-bedingungen von Globalisierung und Liberalisierung zuberücksichtigen.
– Ich habe nicht den Eindruck, als wenn dies die Kolle-gen und Kolleginnen von der Opposition sonderlich in-teressierte. Ich kann verstehen, wenn Sie im Augenblickandere Sorgen haben. Aber hier geht es um wichtigeFragen für die Zukunft. Ich wäre Ihnen dankbar, wennSie sich auch damit etwas beschäftigen würden undnicht nur mit sich selber.
Ob die Enquete-Kommission diese Aufgabe, die icheben geschildert habe, wirklich lösen kann und ihr ge-recht wird, wird davon abhängen, ob es gelingt, Pro undKontra der Atomenergie nicht wieder in den Mittel-punkt zu stellen; denn das würde die Diskussionen blo-ckieren. Über dieses Thema werden wir keine Einigungzwischen der rechten und linken Seite des Hauses erzie-len. Auf Ihrer Seite sind nach wie vor die Befürworterder Atomenergienutzung, während wir diese gefährlicheEnergieform nicht mehr verwenden wollen. Wir haltensie für zu riskant. Die Gründe dafür sind altbekannt: DieNutzung ist zu gefährlich, die Proliferation kann nichtausgeschlossen werden und für die Endlagerung gibt eskeine sichere Lösung.Gestern gab es wieder einen Störfall in einem Atom-kraftwerk bei New York.
Dort hat es ein Leck in einer Wasserleitung gegeben, ra-dioaktiver Dampf ist entwichen. Alarmstufe 2 ist ausge-rufen worden. Jetzt passiert das, was immer passiert. Eswird gesagt: Es ist ja nicht die ganz große Katastropheeingetreten, wir haben alles im Griff. Ich muss Ihnen sa-gen: Wir werden und wollen uns nicht an diese Meldun-gen gewöhnen.Den Streit um die Atomenergie werden wir also auchin dieser Enquete-Kommission nicht lösen. Wir werdennur dann erfolgreich sein, wenn wir uns nicht an derFrage der national 10 Prozent bzw. weltweit etwa5 Prozent der Primärenergienutzung festbeißen, sondernwenn wir uns um die restlichen 90 bzw. 95 Prozent desEnergiebedarfs kümmern.
Ich sage einmal ganz klar an Ihre Seite gerichtet: DieEnquete-Kommission darf kein Kampfinstrument wer-den.
– Ich bekomme große Bedenken, wenn ich das höre. –Sie muss einen Dialog- und Lernprozess einleiten. WirMonika Ganseforth
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8107
haben eine große Verantwortung. Wir müssen über die90 bzw. 95 Prozent der restlichen Energie sprechen; dar-auf kommt es an.Ich will einen Teil aus den Empfehlungen dieses Be-richts vorlesen, den damals die Minderheit verabschiedethat.
– Ich habe große Sorge, wenn ich Sie so höre.
Ich bitte Sie, wirklich zuzuhören, weil es dabei umwichtige Dinge geht.Wir haben geschrieben:Unverantwortlich ist, dass und wie wir Reichen zu-lasten der Armen leben. Diese Unverantwortlich-keit wird noch dadurch verschärft, dass wir – unddas gilt auch für Deutschland – dies wissen und inKenntnis der Folgen fast nichts tun, um daran etwaszu ändern.Und vielleicht noch schlimmer ist, dass diesesNichtstun im Wesentlichen auf einem Mangel anVerständigungswillen beruht. Diejenigen, die denenergiepolitischen Gegensatz aufrechterhalten unddamit die gegenseitige Blockade stabilisieren,kämpfen nicht nur gegeneinander. Vor allem ver-weigern sie gemeinsam die Verständigung zulastender Dritten Welt und der Nachwelt.Das war das Zitat, und ich will nicht verhehlen, dassich – gerade nach Ihren Reaktionen – skeptisch bin, obder Verständigungswille inzwischen größer geworden istals zu der Zeit, als wir an diesem Bericht gearbeitet ha-ben, und ob die Enquete-Kommission gelingen wird.Wir müssen aber versuchen, diesen Dialog über Partei-grenzen hinweg und mit den Wissenschaftlern und denExpertinnen und Experten der verschiedenen Gruppenund der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte zu füh-ren. Dieser Dialog ist ganz wichtig; denn die Herausfor-derungen, vor denen wir stehen und die wir zu bewälti-gen haben, sind mit oder ohne Atomenergie gewaltig.Die Regierungskoalition ist bereit, sich diesen Her-ausforderungen zu stellen und diesen Dialog im Interes-se der Verantwortung zu führen. Wir werden unserenBeitrag für eine erfolgreiche Arbeit der Enquete-Kommission leisten. Es kommt darauf an, dass auch Siebereit sind, zusammenzuarbeiten. Nur dann werden wirErfolg haben.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Herr Kollege Dr. Ralf
Brauksiepe.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigenEinsetzungsbeschluss für unsere Enquete-Kommissionstehen wir zunächst einmal an einem erfolgreichen Endeschwieriger Verhandlungen, aber eben erst am Anfangeiner gemeinsamen Suche nach Problemlösungen für dieAufgaben, die wir uns gestellt haben.Ich bin froh, für die CDU/CSU-Fraktion, die dieseEnquete-Kommission ausdrücklich wollte, feststellen zukönnen, dass nach unserer Auffassung mit diesem Ein-setzungsbeschluss, über den Sie, Frau Kollegin, relativwenige Worte verloren haben, eigentlich alle Vorausset-zungen dafür gegeben sind, dass wir die Ziele, die wiruns vorgenommen haben, auch erreichen können unddass wir insbesondere auch eine langfristige Energiepo-litik in ihren Grundzügen hoffentlich weitgehend imKonsens verabreden können.Wir stehen in der Energiepolitik zweifellos vor gra-vierenden Herausforderungen. Dazu zählt selbstver-ständlich nicht zuletzt das wichtige Ziel des Umwelt-und Klimaschutzes. Wir müssen die natürlichen Lebens-grundlagen vor dem Hintergrund des nicht tolerierbarenKlimawandels und seiner Auswirkungen sichern. Wirhaben dieses Ziel so in unserem Beschluss formuliert.Dazu gehört die Bekämpfung der CO2Problematik. Dazu gehört auch, dass wir die gemeinsam beschlossenen na-tionalen und internationalen Ziele der CO2-Reduktion verwirklichen und den Weg, den die frühere Bundesre-gierung in diesem Bereich so erfolgreich eingeschlagenhat, auch gemeinsam fortsetzen.
Metadaten/Kopzeile:
8108 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Bei aller Bedeutung der umwelt- und klimapoliti-schen Fragen geht es uns bei der vor uns liegenden Ar-beit nicht allein um diese Fragen. Sämtliche Ziele, diewir uns setzen – das ist bereits angesprochen worden –,sind vor dem Hintergrund der Globalisierung und derLiberalisierung zu verwirklichen. Das bedeutet auch,dass wir die volkswirtschaftlichen Aspekte der Energie-politik keinesfalls außer Acht lassen dürfen. Für uns als CDU/CSU spielt die Wettbewerbsfähig-keit des Energieproduktionsstandortes Deutschland eineganz herausragende Rolle. Wir wollen nicht, dass inDeutschland nur Energie verbraucht wird, sondern wirwollen, dass dort auch Energie produziert wird.
Wir brauchen den EnergieproduktionsstandortDeutschland gerade auch für die Sicherung bestehenderund die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Wahrscheinlich hört die Einigkeit auf, sobald ichfeststelle, dass es dabei nicht darum gehen kann, Ar-beitsplätze in gute und schlechte zu teilen. Eine sinnvol-le Energiepolitik sieht für uns nicht so aus, mit einemgroßen moralischen Anspruch in Deutschland Arbeits-plätze im Bereich der Kernenergie zu vernichten undgleichzeitig Atomstrom aus Frankreich oder anderenLändern zu importieren. Das kann nicht der richtigeWeg in die Energiepolitik der Zukunft sein.
Dabei sind wir uns darüber im Klaren, dass es geradevor dem Hintergrund der Liberalisierung der Energie-märkte, die – ob wir wollen oder nicht – ja noch weitervoranschreiten wird, nicht möglich ist, die Anteile ein-zelner Energieträger am Energiemix der Zukunft vonvornherein durch staatliche Regulierungen exakt festzu-schreiben.
Das funktioniert nicht. In einem globalisierten und li-beralisierten Energiemarkt muss sich dieser Energiemixvielmehr ein Stück weit am Markt bilden.
Die Politik muss dafür, national und international ab-gestimmt, die erforderlichen Rahmenbedingungen set-zen. Verbote gehören sinnvollerweise nicht zu solchenRahmenbedingungen.Vor diesem Hintergrund ist es für uns als CDU/CSU-Fraktion besonders wichtig, dass die in unserem Einset-zungsbeschluss vorgesehenen fünf Optionen, die fürjeweils vergleichbare Zeiträume untersucht werden sol-len, auch klar und gleichberechtigt nebeneinander ste-hen. Es kann keine von vornherein politisch festgesetztePrioritätenfolge und auch keine Präjudizierung dahingehend geben, wie der Energiemix der Zukunft aussehensoll. Deswegen möchte ich diese nach langen Verhandlun-gen gemeinsam festgelegten Optionen noch einmal inErinnerung rufen. Da ist zunächst selbstverständlich dieAusschöpfung der kurz- und mittelfristig verfügbarenEnergieeinsparpotenziale in den Bereichen Elektrizität,Wärme und Mobilität unter Berücksichtigung von Ener-giedienstleistungen. Es ist völlig klar, dass Energieein-sparpotenziale genutzt und ausgeschöpft werden müs-sen. Uns ist aber gleichzeitig auch klar, dass die so vielbeschworene Effizienzrevolution von uns hier nicht ein-fach beschlossen und verkündet werden kann und dassvon daher eine solche Option allein auch nicht ausrei-chend ist. Deswegen legen wir großen Wert auch auf dieOptionen, die uns die erneuerbaren Energien geben. Indiesem Zusammenhang wirkt natürlich auch der Ausbauweiterführender Technologien als Ergänzung zu den er-neuerbaren Energien. Wir unterstützen es auch, dieMöglichkeiten für den Einsatz von Kraft-Wärme-Kopplung für die langfristige Energieversorgung zu prü-fen, so wie wir es uns vorgenommen haben. Wir nehmen darüber hinaus auch dankbar zur Kennt-nis – ich halte mich zunächst einmal an das, was wirvereinbart haben –, dass es nach schwierigen Verhand-lungen und nach einer längeren Vorbereitung doch ge-lungen ist, sich darauf zu verständigen, dass wir ebenauch – hier zitiere ich unseren Einsetzungsbeschlusswörtlich – den „Beitrag der Kernenergie sowie der wei-terführenden Forschung in der Kernenergie“ als einegleichberechtigte Option in den Arbeitsauftrag der En-quete-Kommission aufgenommen haben. Es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein,dass man vorbehaltlos sämtliche Optionen prüft. Aberwir sind ja nicht nur aus den Vorgesprächen für die Bil-dung dieser Enquete-Kommission, sondern leider auchaus der praktischen Regierungspolitik dieser Bundesre-gierung eine Menge Kummer gewöhnt.
Meine Damen und Herren, wie Sie von der Regie-rungskoalition in den letzten Monaten versucht haben,den Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie poli-tisch durchzusetzen, das widerspricht nicht nur aller ökonomischen, sondern auch aller ökologischen Ver-nunft. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie endlich aufhö-ren, mit Ihrer Verstopfungsstrategie bei den notwendi-gen Atomtransporten und mit anderen Nadelstichen aufkaltem Wege diesen KernenergieproduktionsstandortDeutschland – gegen den Import von Kernenergiestromhaben Sie ja offenbar nichts – kaputtmachen zu wollen.
Dr. Ralf Brauksiepe
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8109
Dagegen wehren wir uns. Hören Sie damit auf!Warten Sie ab; lassen Sie sich in dieser Enquete-Kommission wissenschaftlich beraten und treffen Sieerst dann vernünftige Entscheidungen in der Sache! Dasist unser Wunsch. Zu Ihrer bisher betriebenen Energiepolitik passen lei-der eben auch die Tendenzen – mit denen wir konfron-tiert waren –, dass Sie eine wissenschaftlich fundierteDiskussion über die Kernenergie eigentlich von vorn-herein verhindern oder – um es mit Ihren Worten zu sa-gen – blockieren wollten. Es widerspricht doch eigent-lich dem Sinn jeder Enquete-Kommission, Optionen vonvornherein auszuschließen und Denkverbote erteilen zuwollen. Deswegen nehmen wir schon mit Befriedigungzur Kenntnis, dass Sie sich bei der Formulierung diesesBeschlusses unserer Auffassung in dieser Frage, dasswir über dieses Thema diskutieren wollen, letztlich dochangeschlossen haben. Es gibt nach unserer Überzeugung in der Energiepoli-tik keinen Weg ohne Risiken. Wir bestreiten nicht, dassbei der friedlichen Nutzung der Kernenergie Risiken zubeachten und zu minimieren sind. Wir wollen uns aller-dings nicht so verheben, uns vorzunehmen, dass wir imRahmen der Arbeit dieser Enquete-Kommission dieKernenergieprobleme des Staates New York lösen wer-den. Das wird unsere Möglichkeiten übersteigen. Wir sagen aber auch, dass es Risiken gibt, die mit an-deren Energieträgern verbunden sind. Ich erinnere nuran die regional sehr unterschiedliche Verteilung der Energieressourcen auf der Welt und an die politischenRisiken, die damit verbunden sind, wenn wir uns zu-nehmend von Energieimporten nach Deutschland ab-hängig machen.
Gerade vor diesem Hintergrund – das sage ich Ihnenvon der Regierungskoalition auch als Abgeordneter ausNordrhein-Westfalen; der eine oder andere Nordrhein-Westfale ist ja hier auch anwesend – sollten wir mit un-seren heimischen Energieträgern sorgsam umgehen. Deshalb sage ich auch: Es ist unverantwortlich, wennSie mit Ihren Ökosteuerplänen die Arbeitsplätze in derBraunkohle erst massiv gefährden und dann noch nichteinmal den Mut haben, das den betroffenen Menschenauch zu sagen,
sondern sich mit Ankündigungen von Nachbesserungenüber die nordrhein-westfälischen Landtagswahlen rettenwollen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das geringste Risi-ko in der Energiepolitik, in der Energieversorgung istnach aller Erfahrung mit einem ökonomisch und ökolo-gisch vernünftigen Mix der verschiedenen Energieträgerverbunden.
Wir als CDU/CSU wollen sämtliche Wege vorbehalt-los untersuchen. Wir wollen bei der Arbeit in dieser En-quete-Kommission nichts von vornherein ausschließen.Wir wollen keine Energieträger diskriminieren und auchkeinen bevorzugen. Wir wissen natürlich, dass wir in dieser Enquete-Kommission keine politische Mehrheit haben. Deswe-gen setzen wir auf den Sachverstand nicht nur der Ab-geordneten, sondern gerade auch der Vertreter der Wis-senschaft in dieser Kommission. Wir sind sehr zuver-sichtlich, dass auch die von Ihnen benannten Sachver-ständigen zu der notwendigen Versachlichung der ener-giepolitischen Debatte beitragen.
Unser Eindruck von der Energiepolitik der Bundesre-gierung ist: Diese Bundesregierung hat energiepolitischeBeratung wirklich bitter nötig. Wir hoffen sehr, liebeKolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktio-nen, dass Sie sich bei den Beratungen der Enquete-Kommission nicht wie in vielen anderen politischenSachfragen als beratungsresistent erweisen. Das könnenwir nicht gebrauchen. In diesem Sinne freuen wir unsauf die gemeinsame Arbeit in der Enquete-Kommission.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Michaele Hustedt für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrBrauksiepe, ich hoffe – ehrlich gesagt –, dass die Dis-kussion in unserer Enquete-Kommission ein etwas bes-seres Niveau haben wird als das, was Sie hier gezeigthaben.
Angesichts dieser platten Diskussion über Energiepoli-tik, die nicht zur Kernzeit stattfindet, sondern dann,wenn keiner mehr zuhört – es geht schließlich um eineEnquete-Kommission –, hoffe ich, dass wir in der En-quete-Kommission nicht auf dieses Niveau zurückfallenwerden und dass sich dieser Stil dort nicht wiederholenwird. In der Enquete-Kommission sollten wir ein biss-chen tiefer in die Thematik einsteigen.
– Ich kann sagen, was ich will. Noch habe ich ein freiesRederecht, Herr Grill. Danach sind Sie an der Reihe. Dr. Ralf Brauksiepe
Metadaten/Kopzeile:
8110 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Wir fangen auch nicht bei Null an. Wir knüpfen –Frau Ganseforth hat darauf hingewiesen – an die alteKlimaenquete an. Unser Ziel ist, die Treibhausgase bis2005 – EU-weit bis 2010 – zu reduzieren. Wir alle ak-zeptieren wohl das Leitbild der nachhaltigen Entwick-lung, auch wenn wir es zum Teil unterschiedlich ausle-gen. Das EU-Ziel ist, den Anteil der erneuerbaren Ener-gien und der Kraft-Wärme-Kopplung zu verdoppeln.Das alles ist die Grundlage, um die Diskussion fortzu-führen.Aber Marktwirtschaft im Bereich der Energiever-sorgung ist für alle Neuland. Wir alle lernen währendder Entstehung des Marktes gleichzeitig hinzu. Allemüssen umdenken. Wer behauptet, er brauche es nicht,der macht sich etwas vor.
Es gibt völlig neue Akteure auf dem Markt. Die Ak-teure haben ganz andere Rollen und werden sie auch inZukunft innehaben. Es muss überdacht werden, ob dieInstrumente noch in den marktwirtschaftlichen Rahmenpassen, um die Ziele zu erreichen. Wir müssen viel stär-ker lernen, auch im europäischen und nicht nur imdeutsch-nationalen Maßstab zu denken. Das Spannende an einer Enquete-Kommission ist,dass man dort etwas tun kann, was man im normalen Po-litikgeschehen nicht tun kann, nämlich dass man überdie Legislaturperiode hinaus plant und denkt und zumBeispiel auch über das Thema „Übergang ins Wasser-stoffzeitalter“ diskutiert, obwohl man im parlamentari-schen Rahmen eingebunden ist. Wir sollten diskutieren,was wir tun können, um schon heute Brücken auch zuweiter entfernten visionären Energieszenarien zuschlagen, die uns dann, wenn sie Wirklichkeit werden,tatsächlich eine nachhaltige Energieversorgung gewähr-leisten. Hier geht es nicht nur, Herr Brauksiepe, um dieArbeitsplätze im Bereich der Energieproduktion. In Deutschland ist die Maschinen- und Anlagenbran-che die größte. Zurzeit gibt es eine außerordentlich hoheInvestitionszurückhaltung, sowohl im Anlagenbau alsauch im Ausbau des Netzes. Das ist für die Anlagen-branche zurzeit ein Riesenproblem. Wenn man sich an-gesichts dessen vor Augen führt, dass sich der Energie-verbrauch aufgrund der Entwicklung in den Entwick-lungsländern verdoppeln wird, und wenn man weiß, dasses einen sehr großen Exportmarkt in diesem Bereichgibt, dann darf man das Problem „Arbeitsplätze durchEnergie“ nicht nur auf die Energieproduktion verengen;vielmehr muss man sich fragen, wie diese Investitions-zurückhaltung aufgebrochen werden kann. Ich möchte nun noch einige Punkte über die Verzah-nung von aktueller Politik und Enquete-Kommission sa-gen. Früher hat die Klimaenquete gute Vorschläge aus-gearbeitet, die dann in den Schubladen vermodert sind.Nichts, aber auch gar nichts von diesen teilweise ge-meinschaftlich verabschiedeten Vorschlägen wurde vonder alten Bundesregierung übernommen. So sah dasVerhältnis zwischen Enquete-Kommission und Bundes-regierung früher aus.
Jetzt gibt es eine völlig andere Situation. Wir werdendie anstehenden Probleme anpacken. Wir werden zumBeispiel den erneuerbaren Energien auch in der Markt-wirtschaft eine Perspektive eröffnen. Wir werden etwas für die Kraft-Wärme-Kopplung tun,damit diese Investitionszurückhaltung überwunden wer-den kann. Wir haben schon durch die Ökosteuer einenAnreiz zur Effizienz gegeben.Wir werden auch den Atomausstieg organisieren. Esist völlig klar: Es wird in nächster Zeit ein Ergebnis ge-ben – egal ob wir es im Konsens oder im Dissens zu-stande bringen. Dann wird der Atomausstieg in Deutsch-land beginnen.
In der Enquete-Kommission wird deswegen aus unse-rer Sicht mehr die Diskussion über eine Energiepolitikin mittel- und langfristiger Sicht im Zentrum stehen. Eswird durchaus darauf ankommen, den Einsatz dieser In-strumente zu diskutieren.Ich nenne folgendes Beispiel: Viele von Ihnen wollendie Diskussion über den Instrumentenwechsel bei denerneuerbaren Energien in Richtung Quote. Ich finde,dieses Thema gehört als Instrumentendebatte in die En-quete-Kommission, auch wenn ich in der Sache eherskeptisch bin. Ich fände es sehr gut, wenn Sie vor demHintergrund, dass wir diese Diskussion führen werden,jetzt erst einmal für Investitionssicherheit sorgen, denAttentismus, den es in diesem Bereich gibt, überwinden,dann konstruktiv bei einer Novellierung des EEG mituns zusammenarbeiten und uns zustimmen. Das würdeich mir wünschen. Es wäre ein guter Start für diese En-quete-Kommission.Ein letztes Wort an Herrn Grill persönlich.
– Sie, Herr Grill, waren ja Vorsitzender. – Diese En-quete-Kommission macht nur Sinn, wenn wir dort nach-denklich diskutieren und wenn wir nicht gegenseitig po-larisieren.
Da werden Sie eine besondere Aufgabe haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Hustedt, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich bin gleich am Ende.Ich fand unseren Start und die Art, wie diese Vorlagezustande gekommen ist, sehr schlecht. Wenn wir es tat-sächlich schaffen, ein gemeinsames Votum für „Rio + 10“ im Jahr 2002 abzugeben, dann wird das sehrdeutlich beachtet werden; denn die Rolle Deutschlandsbei dieser Diskussion ist außerordentlich bedeutend. EinMichaele Hustedt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8111
gemeinsames Votum aller Fraktionen würde das Ge-wicht unserer Stimme in der Welt noch erhöhen.Deswegen wünsche ich uns allen eine konstruktiveZusammenarbeit, die nicht polarisiert. Ich wünsche unsallen eine sachkundige Diskussion und fantasievolle Ideen zum guten Gelingen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt für
die F.D.P.-Fraktion der Kollege Walter Hirche.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Beschluss,den wir heute fassen, setzt sich dieser Bundestag einganz ehrgeiziges Ziel. Wir sollen in der Enque-te-Kommission diskutieren, wie es möglich ist, bis zumJahr 2010 den Anteil der erneuerbaren Energien zuverdoppeln und bis zum Jahr 2050 – ein weiter Horizont– den Umfang der Treibhausemissionen um 80 Prozentzu verringern. Ich nenne diese Zahl deswegen am An-fang, weil ich glaube, dass vielen in diesem Hause über-haupt nicht bewusst ist, was das letzten Endes unter denBedingungen von Globalisierung und Liberalisierungbedeutet.Wer „Klima“ an die oberste Stelle der Ziele setzt, derbegeht einen Anschlag auf dieses Ziel, wenn er zu die-sem Zeitpunkt eine CO2-freie Energieerzeugung, die Kernenergie, vom Markt entfernt,
ohne dass er in entsprechendem Umfang eine Alternati-ve zur Verfügung hat.
An dieser Frage entscheidet sich, ob „Klima“ oder dieGegnerschaft gegenüber der Kernenergie das obersteZiel ist.Ich verstehe den Antrag auf Einsetzung der Enque-te-Kommission so, dass wir verschiedene Szenarienentwickeln. In der einen Kategorie spielt die Kernener-gie eine Rolle, während in der anderen Kategorie Szena-rien beschrieben werden, wie es gelingen kann, dieProbleme ohne Kernenergie zu bewältigen. Dies mussvor dem Hintergrund der Globalisierung und der Libera-lisierung geschehen.Liberalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang,dass wir den Innovationsdruck im Energiebereich auf-rechterhalten müssen, zum Beispiel so, wie es bis jetztmit dem Stromeinspeisungsgesetz in Richtung auf dieerneuerbaren Energien vonstatten gegangen ist. Abergenau diesen Innovationsdruck, nämlich durch eine An-kopplung von Preisen auf dem Markt, wollen Sie jetztmit Ihrem neuen Gesetzentwurf herausnehmen.Nach meiner festen Überzeugung schaden Sie mitdiesem Gesetzentwurf der Entwicklung der erneuerbarenEnergien. Frau Hustedt, weil Sie es angesprochen haben,sage ich Folgendes auch in Ihre Richtung: Es wäre bes-ser, das bestehende Gesetz bestehen zu lassen und da-rüber nachzudenken, wie man ohne das Aufwerfen allder Verfassungsprobleme, die mit Ihrem Entwurf ver-bunden sind und die eine totale Verunsicherung in dieSzene der erneuerbaren Energien treiben, in einer ruhi-gen Diskussion mit Fachwissenschaftlern und Rechtsex-perten eine sichere Grundlage für den Ausbau der er-neuerbaren Energien schaffen kann.
Ich plädiere jedenfalls dafür, dass wir das versuchenund dabei – auch das ist im Zuge der Liberalisierung zubeachten – daran denken, dass es natürlich eine Rollespielt, gerade wenn wir die globale Entwicklung be-trachten, zu welchen Kosten wir CO2-Vermeidung betreiben. Wenn zum Beispiel die Biomasse zu geringe-ren Kosten als die Windenergie und in ihrer Gesamtbi-lanz CO2-frei Energie erzeugt, dann muss dieses Haus den Akzent stärker auf die Biomasse als auf die Wind-energie legen. Wenn dieses morgen auf die Geothermieoder etwas anderes zutrifft, dann muss dieses Haus eineentsprechende Gewichtung vornehmen. Ich plädiere in dieser Situation dafür, dass wir offenbleiben und in dieser Debatte nicht versuchen, uns ge-genseitig auf bestimmte Wege und Instrumente festzule-gen. Global heißt aber auch – das ist mein Appell insbe-sondere an die SPD – zu registrieren, was im Europäi-schen Parlament Positives über Kernenergie gesagt wur-de. Ich denke da an Ihren Sprecher, den Kollegen Link-ohr.
– Natürlich ist das so. Lesen Sie doch einmal die Zei-tungsinterviews nach. In zehn Jahren ändern sich auchdie in Debatten behandelten Fragen. Lassen Sie uns dasvorurteilsfrei diskutieren. Ich plädiere dafür, Szenariender unterschiedlichsten Art nebeneinander zu stellen.
In fünf oder zehn Jahren werden dann Parlamenteentscheiden, was nach neuesten Erkenntnissen für siedas Richtige ist. Lösen Sie sich davon, heute durch einenBeschluss festlegen zu wollen, was für die Zukunft rich-tig ist. Derjenige hat eine schwache Position, der heutemit Verboten oder Geboten festlegen will, was morgenrichtig ist. Wir als Liberale verstehen die Aufgabe derEnquete-Kommission und jede aktuelle Debatte so, dassman nach jeweils aktuellem Erkenntnisstand, sicherlichvon unterschiedlichen Auffassungen ausgehend, ver-sucht, eine Situation zu beschreiben. Sie darf aber nichtzementiert werden,
sondern es muss die Möglichkeit offen gelassen werden,morgen eine Entwicklung in Gang zu setzen, die dazubeiträgt, dass auf der ganzen Welt zu bezahlbaren Prei-sen – das ist dann Weltpolitik für die Umwelt – umwelt-verträglich Energie erzeugt werden kann. Wenn wir unsin dieser Frage in der Kommission annähern, dann hät-ten wir eine ganze Menge erreicht.Michaele Hustedt
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8112 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Einsetzungsbe-
schluss für die Enquete-Kommission zu Energiefragen
hat eine lange Vorgeschichte und hat die Beteiligten bis
jetzt schon viele Nerven gekostet. Es begann damit, dass
sich SPD und CDU/CSU darum stritten, wer denn ei-
gentlich zu den Vorbereitungstreffen einladen dürfe.
Bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Antrages wur-
den vonseiten der CDU/CSU immer wieder bekannte
Wahrheiten infrage gestellt,
während sich die SPD-Vertreter selbst uneinig über die
Zielrichtung der Enquete-Kommission waren. In lang-
wierigen mühsamen Verhandlungen wurde dann ein
Kompromiss gefunden, dem sich alle Parteien anschlie-
ßen konnten.
Obwohl über Nachhaltigkeit viel im Antrag geschrie-
ben steht und bekannterweise dabei alle gesellschaftli-
chen Gruppen einbezogen werden sollen, durfte die PDS
nicht als Antragstellerin erscheinen. Die beiden großen
Volksparteien wollten das wieder einmal so. Offensicht-
lich hat sich bis jetzt immer noch nicht herumgespro-
chen, dass wir hier im Bundestag über zwei Millionen
Wählerinnen und Wähler vertreten. Vielleicht will man
aber auch schlicht und einfach mit einer Partei nichts zu
tun haben, die sich nach wie vor für den sofortigen
Atomausstieg einsetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Titel für
die Enquete-Kommission im Einsetzungsbeschluss wird
suggeriert, dass die Wirkungen der Globalisierung und
der Liberalisierung gottgegeben und deshalb unabwend-
bar sind. Entsprechend untergeordnet werden dann auch
die damit zusammenhängenden Fragen behandelt, wie
zum Beispiel die mögliche Verdoppelung des Einsatzes
von erneuerbaren Energien. Mit dem hoffentlich bald
beschlossenen Stromeinspeisungsgesetz werden hier
Möglichkeiten geschaffen, im Rahmen marktwirtschaft-
licher Instrumente regenerative Energien zu fördern. Si-
cher kann hier noch sehr viel mehr bewegt werden, vor
allem dann, wenn andere Energieträger die von ihnen
erzeugte Energie endlich zu realen Kosten verkaufen
müssen, also zum Beispiel endlich die Rückstellungen
der Atomkonzerne versteuert oder die Haftpflichtsum-
men der AKWs der realen Gefährdung angepasst wer-
den.
Weiter soll der Einsatz von Kraft-Wärme-
Kopplung erforscht werden „mit dem Ziel, sie als mög-
liche Technologie zur Überbrückung bis zu einer lang-
fristig wesentlich auf erneuerbaren Energieträgern beru-
henden Energieversorgung ... zu installieren“. Ich bin
mir nicht sicher, ob wir mit unserer Untersuchung nicht
zu spät kommen. Denn schon jetzt kämpfen die Stadt-
werke und KWK-Anlagen-Betreiber ums Überleben.
Wenn hier nicht schnell reagiert wird, besteht die Ge-
fahr, dass die Diskussion um KWK zu spät kommt und
diese Anlagen inzwischen alle abgeschaltet sind. Des-
halb hat die PDS einen Antrag zur Sicherung und zum
Ausbau der gekoppelten Strom- und Wärmeerzeugung
eingebracht, um die Diskussion ein bisschen zu beför-
dern.
Natürlich soll auch „der Beitrag der Kernenergie
sowie der weiterführenden Forschung in der Kernener-
gie“ zum x-ten Mal untersucht werden. Offensichtlich
reichen Atomunfälle wie in Japan oder in Tschernobyl
nicht aus, um endlich zu einer gemeinsamen Einsicht zu
kommen. Ich befürchte allerdings, dass man darüber
auch im Abschlussbericht keine Einigung erzielen wird.
Denn die Atombefürworter werden nicht zu überzeugen
sein, selbst wenn es noch einmal ein anderes Tscherno-
byl geben würde. Herr Dr. Brauksiepe hat das schon
deutlich gemacht.
Ich meine also: Es wurden Chancen vertan, wirkliche
Perspektiven für eine zukunftsfähige Energieversorgung
zu erarbeiten. Dass Kollege Scheer, wie ich gehört habe,
die Enquete-Kommission schon im Vorfeld verlässt, ist
nur ein Indiz dafür.
Wir werden uns deshalb bei der Abstimmung enthal-
ten, werden aber versuchen, in der Enquete-Kommission
unsere Meinung und unser Wissen einzubringen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für denAntrag auf Drucksache 14/2687 zur Einsetzung einerEnquete-Kommission? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Antrag ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Die Enquete-Kommission„Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungender Globalisierung und der Liberalisierung“ ist damiteingesetzt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b sowieZusatzpunkt 7 auf: 8 a) Beratung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU)/CSU Hilfsprogramm für die Sturmschäden imWald durch den Orkan „Lothar“ – Drucksache 14/2570 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
FinanzausschussWalter Hirche
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8113
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heitAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenUlrich Heinrich, Birgit Homburger, ErnstBurgbacher, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P. Rasche und wirksame Hilfe für Waldbesit-zer – Drucksache 14/2583 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit Ausschuss für Tourismus HaushaltsausschussZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi Wright, Iris Follak, Renate Gradistanac,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD sowie der Abgeordneten Steffi Lemke,Ulrich Höfken, Kerstin Müller , RezzoSchlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN/ Waldschäden durch die Orkane im De-zember 1999 – Drucksache 14/2685 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hö-re keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für dieFraktion der CDU/CSU der Kollege Peter Weiß.
Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren! Der Orkan „Lo-thar“ am zweiten Weihnachtsfeiertag hat in vielen Län-dern Europas – bei uns in Deutschland vor allem amOberrhein und im Schwarzwald, woher ich komme –riesige Waldschäden verursacht. Private Waldbesitzer,aber auch viele Kommunen stehen vor einem riesigenfinanziellen Desaster. Da gibt es kleine Gemeinden, in denen zwei Dritteldes gesamten Starkholzvorrates auf dem Boden liegen –eine finanziell kaum zu schulternde Aufgabe. Da gibt esLandwirte – ich nehme jetzt kein übertriebenes, sondernein mittleres Beispiel – mit einem Jahreseinkommen vonvielleicht 45 000 DM, davon 15 000 DM aus der Wald-wirtschaft, die über Jahre und Jahrzehnte auf diese Ein-kommensquelle verzichten müssen und die mit demVerkauf des Sturmholzes vielleicht gerade noch dieAufarbeitung und die Wiederaufforstung bezahlen kön-nen. Meine Damen und Herren, in Sonntagsreden spre-chen wir oft von der Sozialpflichtigkeit des Waldes. Erist allgemein begehbar für Wanderer und Erholung Su-chende. Aber Sozialpflichtigkeit ist keine Einbahnstraße.Jetzt, da die Wälder durch einen Orkan massiv geschä-digt wurden, brauchen diejenigen, die unsere Wälderhegen und pflegen, die Unterstützung der Solidarge-meinschaft und des Staates.
Nun haben wir bereits die Verordnungen nach demForstschäden-Ausgleichsgesetz. Das ist auch allessinnvoll und notwendig. Aber für diejenigen, die diegroßen Kosten der Holzaufbereitung, der Holzlagerungund der Wiederaufforstung, die immensen Einkom-mensausfälle über Jahre hinweg nicht aus eigener Kraftschultern können, brauchen wir dringend zusätzliche fi-nanzielle Hilfen in Form eines Sonderprogramms.
Für die betroffenen Gemeinden und Waldbauern inunserer Region ist es völlig unverständlich, dass derBundeslandwirtschaftsminister zwar in interessierterWeise Waldbesichtigungen vornimmt, aber nicht bereitist, einen zusätzlichen finanziellen Beitrag des Bundesin Form eines Sonderprogrammes für die Hilfen hin-sichtlich der Orkanopfer einzubringen.
Die Begründung, dass es sich um eine regionale Ka-tastrophe in wenigen Bundesländern handele, halte ichfür eine faule Ausrede.
1990 gab es nämlich ein Sonderprogramm des Bundesbezüglich der damaligen Schäden. Damals lag der Scha-den europaweit bei rund 103 Millionen Festmetern. Die-ses Mal liegt der Schaden – je nach Schätzung – bei150 Millionen bis 200 Millionen Festmetern. Diese Zahlzeigt deutlich, dass es sich nicht um eine regional be-grenzte Katastrophe, sondern um eine Katastrophe han-delt, die nationale und europäische Solidarität erfordert.
Die Bundesländer haben ja gehandelt. Das hauptbe-troffene Bundesland Baden-Württemberg hat ein Sofort-hilfeprogramm in Höhe von 100 Millionen DM aufge-legt. Innerhalb der von der EU finanzierten Maßnahmenim Rahmen des Entwicklungsplanes zur Förderungdes ländlichen Raumes werden Mittel zugunsten derForstwirtschaft umgeschichtet. Aber von Berlin wieauch von Brüssel gibt es bis heute keine einzige müdeMark zusätzlicher Hilfe für die Opfer der Orkanschäden.
Ich will nicht in Abrede stellen, dass auch im Antragder Koalitionsfraktionen eine Vielzahl sinnvoller Maß-nahmen zu finden ist. Aber der entscheidende PunktVizepräsidentin Petra Bläss
Metadaten/Kopzeile:
8114 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
fehlt, nämlich die Zusage, dass sich der Bund an einemSonderprogramm für die Beseitigung und Aufarbeitungder Orkanschäden mit zusätzlichen finanziellen Mittelnbeteiligt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Weiß,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fuchtel?
Ja.
Herr Kollege
Weiß, gestern war der Kommissar Fischler in Gengen-
bach. Dort wurde konkretisiert, wie die europäische Hil-
fe aussieht. Können Sie uns darüber unterrichten, ob es
zutrifft, wie Kollegen der SPD aus diesem Haus behaup-
tet haben, dass in den nächsten Jahren allein für Baden-
Württemberg eine Hilfe der Europäischen Union von
6 Milliarden DM zur Verfügung stehen soll?
Herr Kol-lege Fuchtel, es ist richtig, dass der EU-Agrarkommis-sar Fischler gestern in Gengenbach – dieser Ort liegtübrigens im Wahlkreis von Wolfgang Schäuble – einbesonders stark betroffenes Waldgebiet besucht hat. Beidieser Gelegenheit ist mit der Landwirtschafts-ministerin von Baden-Württemberg ein Gespräch übermögliche Hilfen der EU geführt worden. Er hat aus-drücklich darauf hingewiesen, dass Umschichtungen beiden dem Land Baden-Württemberg ohnehin zustehen-den EU-Mitteln möglich sind und vorgenommen werdenkönnen,
aber dass keine einzige zusätzliche Mark aus Brüsselfließt.
Ich will in Fortführung dessen, was gefragt wordenist, betonen: Ich bin der Auffassung, dass Solidaritätauch innerhalb der Europäischen Union notwendig ist.Eine Möglichkeit dafür wäre, dass Restmittel aus demProgramm für die ländliche Entwicklung, die in diesemJahr eventuell nicht abfließen, für die Hilfen in derForstwirtschaft zur Verfügung gestellt werden. Der EU-Agrarkommissar Fischler hat übrigens gestern in Gen-genbach erklärt, dass er sich hierfür gerne einsetzenwerde. Er hat aber hinzugefügt, dass es ihm leichter fal-le, innerhalb der Europäischen Union finanzielle Solida-rität für die geschädigten Waldregionen zu fordern,wenn schon innerhalb Deutschlands Solidarität geübtworden sei.
Herr Minister Funke, alle Bundesländer, auch dieSPD-regierten, haben Sie aufgefordert, sich als Bund aneinem Bund-Länder-Sonderprogramm zu beteiligen.Der EU-Kommissar Fischler hat Ihnen das ebenfalls insStammbuch geschrieben. Wann endlich gibt es eine na-tionale Hilfe der Bundesregierung? Geben Sie Ihre dies-bezüglich ablehnende Haltung auf!
Was übrigens die Punkte aus dem Koalitionsantraghinsichtlich des Holztransportes anbelangt, so muss ichsagen: Es ist mir mittlerweile nicht mehr verständlich,dass zwei Monate nach dem Sturm einzelne Bundeslän-der immer noch unterschiedliche Regelungen haben unddass es nicht eine einheitliche Regelung gibt, die groß-zügig gehandhabt wird. Das ist mir völlig unverständ-lich. Auch die Betroffenen verstehen nicht, dass beimOder-Hochwasser die Bundeswehr selbstverständlicheingesetzt wurde, aber hinsichtlich der Orkanschädender Einsatz von Bundeswehrgerät für den Abtransportriesiger Holzmengen schlichtweg abgelehnt wird.
– Auf Ihren Zwischenruf kann ich Folgendes sagen: EinEinsatz der Bundeswehr für Arbeiten im Wald kommt inder Tat nicht in Frage. Dafür braucht man Fachleute.Aber wenn riesige Mengen von Holz und von Reisig amWaldrand liegen und die Wege zum Teil in einem ka-tastrophalen Zustand sind, dann ist der Einsatz vonschwerem Gerät in der einen oder anderen Gegenddurchaus sinnvoll und hilfreich.
Mittlerweile haben wir den Zustand erreicht, dass sichbei vielen Betroffenen Wut, Enttäuschung und Resigna-tion breit machen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von Rot-Grün, ich fordere Sie auf: Geben Sie Ihre kaltherzigeHaltung auf.
Bewegen Sie den Bundeslandwirtschaftsminister dazu,endlich zusätzlich etwas für unsere geschädigten Wald-regionen zu tun. Der Bundeskanzler lobt bis zum heuti-gen Tage seinen angeblich so großartigen Einsatz fürden Holzmann-Konzern.
Aber er hat kein Herz für die Holzmänner, für diejeni-gen, die in unseren Wäldern arbeiten, die vom Wald le-ben, die mit ihm ihre Existenz bestreiten und heute zumTeil vor dem wirtschaftlichen Ruin stehen. Die Gemein-den wissen nicht ein noch aus, weil sie die immensenKosten nicht aufbringen können, um die Waldschädenzu beseitigen, und können die riesigen Einnahmeausfällenicht verkraften. Ändern Sie endlich Ihre Haltung. Heute haben SieGelegenheit dazu.Vielen Dank.
Peter Weiß
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8115
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt dem Kollegen Peter Dreßen das
Wort.
Kollege Weiß, aus Ihrer Rede
ist deutlich geworden, was ich im Wahlkreis seit Wo-
chen erlebe. Ich habe das Gefühl, Sie suhlen sich regel-
recht in diesem Unglück anderer Leute.
Jeder umgefallene Baum, den Sie finden, wird geküsst,
um eine Schlagzeile zu erhaschen.
Dabei geht es völlig unter, dass dies den Betroffenen in
keiner Weise hilft. Im Gegenteil. Ich finde, dadurch wird
die Politikverdrossenheit sogar noch erhöht.
Sie wissen doch genau, dass bei regionalen Katastro-
phen in erster Linie das Bundesland zuständig ist. Von
dort sind 100 Millionen DM geflossen. Davon sollen un-
ter anderem Nasslager eingerichtet werden. Das ist auch
gut so.
Zu Ihrer Forderung bezüglich der Bundeswehr muss
ich Ihnen sagen: Sie haben doch selber gehört, dass man
hierfür keine Bundeswehrsoldaten nehmen kann. Hier
braucht man Facharbeiter, Holzarbeiter, die etwas von
der Arbeit verstehen.
– Warum erwähnen Sie dann, dass Sie Bundeswehrein-
sätze haben wollen? Das verstehe ich nicht.
Kollege Weiß, ich finde, in dieser Sache sind
Schnellschüsse überhaupt nicht angebracht. In meinem
politischen Leben habe ich schon oft erfahren, dass die
vorhergehende Regierung bei Katastrophen – ich denke
an Hochwasser in Köln, Bonn, Koblenz usw. – gesagt
hat, der Bund werde helfen, und die Leute warten heute
noch darauf. Nichts ist passiert. Diesen Weg geht die
jetzige Regierung nicht, und das ist, finde ich, auch in
Ordnung.
Sie haben auch gefordert, dass den Kommunen bald
finanziell geholfen wird. Sie haben aber vergessen, dass
den Kommunen bereits dadurch, dass andere Bundes-
länder die Hiebansätze verringert haben, geholfen wird;
sie werden ihr Holz nun los. Sie sollten zur Kenntnis
nehmen, dass die Bundesregierung das, was auf die
Schnelle getan werden konnte, auch sofort getan hat.
Allerdings müssen wir uns hier in diesem Parlament
darüber unterhalten, wie wir künftig mit solchen Kata-
strophen umgehen; denn ich befürchte, dass dies nicht
die letzte Katastrophe war, die wir erleben. Wir müs-
sen – da gebe ich jedem in diesem Hause Recht – in ir-
gendeiner Form helfen, wenn es zu größeren Katastro-
phen kommt und insbesondere wenn Existenzen verlo-
ren gehen. Dabei denke ich auch an die Waldbauern.
Das ist völlig in Ordnung. Aber nochmals: Mit Forde-
rungen, wie Sie sie hier und im Wahlkreis stellen, ist
niemandem geholfen.
Schnellschüsse sind hier nicht in Ordnung.
Deswegen finde ich es richtig, dass wir diese Anträge
in die Ausschüsse verweisen. Es ist gut, dass wir dort in
aller Ruhe, emotionslos und ohne große Hektik darüber
diskutieren, wie man effektiv helfen kann. Darauf
kommt es Ihnen allerdings nicht an. Sie wollen mit
Schnellschüssen nur wieder einmal eine Schlagzeile er-
haschen. Dagegen wehre ich mich. Wie Sie sich in die-
ser Angelegenheit verhalten, finde ich nicht in Ordnung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Weiß
zur Erwiderung.
Herr Kol-lege Dreßen, wer schnell hilft, hilft doppelt.
Den Satz hat übrigens ein sozialdemokratischer Ober-bürgermeister unserer Region immer wieder vorgetra-gen. Herr Kollege Dreßen, was Sie hier vorschlagen, näm-lich dass wir noch weiter warten, wird die Wut und Em-pörung derer, die den Besuch von Herrn Funke in unse-rer Region mitbekommen haben und die bis zum heuti-gen Tag auf eine konkrete Antwort und darauf, was Ber-lin tut, warten, noch mehr steigern. Das ist der Punkt.
Nehmen Sie doch einmal die Briefe und Stellung-nahmen zur Kenntnis, die Persönlichkeiten bei uns ab-geben, die nicht der CDU angehören. Zum Beispielschreibt Ihnen der Bürgermeister einer der hauptbetrof-fenen Gemeinden: Der Bund entzieht sich in jeder Hin-sicht seiner Verantwortung, was ich sehr bedauere. Dasist die Stellungnahme eines Bürgermeisters, der wirklichnicht der CDU angehört.
– Ich nehme doch an, dass Sie die Briefe, die Sie be-kommen, lesen. Wenn es nicht so ist, ist es bedauerlich. Ich muss Ihnen antworten: Was Sie in Ihrer Kurzin-tervention vorgetragen haben, ist in meiner Rede nichtvorgekommen. Was ich zum Thema Bundeswehr gesagthabe, bezieht sich auf den Abtransport. Man sollte seine
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8116 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Kurzintervention nicht vorher schreiben, sondern erst alsReaktion auf eine Rede formulieren.
Der entscheidende Punkt ist und bleibt: Der Bundgibt keine zusätzlichen finanziellen Hilfen. Er weigertsich, das zu tun, was er 1990 getan hat, als wir einenweitaus geringeren Schaden hatten. Das ist der Punkt.
Sie verdrehen hier die Tatsachen und sagen, dass daseine regionale Katastrophe ist, und Sie nehmen dasAusmaß des Schadens überhaupt nicht zur Kenntnis.Das ist blinde Ignoranz.
– Peter
Dreßen [SPD]: Sie lügen!)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Heidemarie Wright.
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Kolleginnen und Kollegen! Erschütterung und
Besorgnis waren die ersten Reaktionen und Erschütte-
rung und Besorgnis halten auch jetzt noch an bezüglich
der schlimmen Auswirkungen des Orkans „Lothar“,
der eine Schneise der Verwüstung hauptsächlich durch
Frankreich und Baden-Württemberg geschlagen hat –
Erschütterung insbesondere auch deshalb, weil uns allen
bewusst wurde, dass die Jahrhundertstürme in Abstän-
den von zehn Jahren auch in unseren Regionen auf-
treten. Die Besorgnis gilt natürlich zunächst den betrof-
fenen Regionen, aber wir empfinden auch Besorgnis,
weil wir bei aktuellen Verwüstungen bereits um zukünf-
tige Verwüstungen aufgrund von zukünftigen Naturka-
tastrophen Sorge haben. Hier teile ich die Einschätzung
des Kollegen Dreßen, der auf die langfristigen Wirkun-
gen hingewiesen hat.
Ob und wie langfristige Anstrengungen zur Vermei-
dung von Umweltkatastrophen greifen, wissen wir alle
nicht. Wir wissen aber, dass wir das Ankämpfen nicht
aufgeben dürfen, sondern verstärken müssen. Wir müs-
sen unsere Erde und Atmosphäre von den Auswirkungen
unserer Umweltnutzung noch sehr viel mehr entlasten.
Umweltschutz ist eine fortwährende Aufgabe, um
Nachhaltigkeit wirklich zu gewährleisten und um der
Sorge vor Katastrophen aufgrund von Umweltbelastun-
gen unser aktives Handeln entgegenzusetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, all diese notwendi-
gen und langfristigen Aufgaben nützen natürlich denen
nichts, die unmittelbar von der Sturmkatastrophe betrof-
fen sind. Das wusste auch der Landwirtschaftsminister,
das wussten auch die Bundestagskollegen vor Ort. Somit
hat sich nicht nur Bundesminister Funke, sondern es ha-
ben sich auch viele andere direkt nach dem Geschehen
in das Sturmgebiet begeben. Wir von den Fachausschüs-
sen werden die Problematik um die Aufräumarbeiten
und die Entwicklung der Bewältigung der Schäden auch
weiter im Auge behalten.
Wir aus den Fachausschüssen, der Bundeslandwirt-
schaftsminister, insbesondere aber auch die Kollegen
aus Baden-Württemberg werden in Berlin alle mögliche
Hilfe und Unterstützung für die Betroffenen eruieren
und die entsprechenden Möglichkeiten ausreizen.
Somit sind auch die Anträge der Fraktionen der
CDU/CSU und der F.D.P. teilweise schon überholt,
denn viele der berechtigten Forderungen sind ohne Zö-
gern und Zeitverlust umgesetzt worden
– doch, von Bonn. Ich nenne den umgehenden Erlass ei-
ner Verordnung des Bundeslandwirtschaftsministers zur
Beschränkung des ordentlichen Holzeinschlages auf der
Basis des Forstschäden-Ausgleichsgesetzes sowie Steu-
ererleichterungen für Kalamitätennutzungen. Hier sehen
wir erneut, wie wichtig es war, dass diese steuerliche
Möglichkeit beibehalten wurde.
– Sie ist verändert worden, wurde aber beibehalten, weil
wir die Notwendigkeit schon im letzten Jahr eingesehen
haben. Wir sehen erneut, wie notwendig es ist, sie weiter
beizubehalten. Es wird die Kalamitätennutzungen wei-
terhin geben und wir werden somit auch Steuererleichte-
rungen hierfür benötigen.
Das Verteidigungsministerium gewährt Freistellun-
gen von Forstwirten und Hofnachfolgern von der Bun-
deswehr. Die Bundesforstverwaltung stellt selbstver-
ständlich ihre qualifizierten Arbeitskräfte zur Holzaufar-
beitung zur Verfügung. Ebensolche Angebote gibt es
aus allen Bundesländern.
Der Weg auf der Europaschiene, so im Agrarrat am
24. Januar 2000, und die Abstimmung mit dem so heftig
betroffenen Nachbarn Frankreich wurden über das
Landwirtschaftsministerium und Minister Funke prompt
gesucht. Das hält an.
Die Hilfe für Baden-Württemberg ist gesteuert von
Kopf und Herz und erfolgt mit Herz und Hand. Wohl
weiß ich, dass hier natürlich auch die gebende Hand, al-
so die Ausreichung unmittelbarer Bundesmittel, gefor-
dert wird. Gerade über die vom Bund für Gesamt-
deutschland bereitgestellten 1,7 Milliarden DM für die
Gemeinschaftsaufgabe ist dies bereits geschehen. Hier-
aus wird ein erheblicher Teil für die sturmgeschädigten
Regionen aufzubringen sein.
/CSU: Das Geld
brauchen wir für etwas anderes!)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau KolleginWright, gestatten Sie eine Zwischenfrage des KollegenWeiß?Peter Weiß
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8117
Bitte sehr.
Verehrte
Frau Kollegin, Sie haben die Gemeinschaftsaufgabe er-
wähnt. Können Sie mir irgendwie erklären, wie aus der
Gemeinschaftsaufgabe derzeit zusätzliches Geld für die
Forstschäden in Baden-Württemberg kommen soll? Die
Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe sind doch, wenn
ich das richtig sehe, für das Jahr 2000 bereits fest ver-
teilt. Wo kommt das zusätzliche Geld her – nicht das
Geld, das Baden-Württemberg ohnehin bekommen hat?
Kollege Weiß, ich rede
nicht über das zusätzliche Geld, sondern ich freue mich
erst einmal über die 1,7 Milliarden DM,
die wir – schwer erkämpft – auch in diesen Haushalt
eingestellt haben. Baden-Württemberg erhält den dritt-
größten Anteil an den Bundesmitteln.
Die Festlegung hat jedoch – hier kann ich nahtlos zu
meinem Konzept zurückkehren und Sie können sich
wieder setzen; danke, Herr Kollege Weiß –
über das Land Baden-Württemberg zu erfolgen. Hier
sind natürlich ganz besonders die soziale Kompetenz in
der Landesregierung, zum Beispiel durch Umwidmung
im Rahmenplan, und die soziale Solidarität von großen
gegenüber kleinen Waldbesitzern gefragt.
Gott sei Dank konnten wir trotz des hohen Sparzieles
der Bundesregierung die Mittel für die Gemeinschafts-
aufgabe hoch halten. Es wird selbstverständlich möglich
sein, vielleicht nicht aufgebrauchte Mittel anderer Bun-
desländer zur finanziellen Katastrophenbewältigung mit
einzusetzen.
Zum Schluss. Holz ist der nachwachsende Rohstoff
Nummer eins, Holz ist ein wertvolles Gut und vielfältig
verwendbar und nutzbar. Ich bin sehr erfreut, dass der
Absatz und die Verwendung des nachwachsenden Roh-
stoffes Holz in den letzten Jahren wächst und gerade von
der Bundesregierung kräftig gefördert wird. Auch die
energetische Holznutzung gewinnt enorm an Bedeutung.
Die neuen Fördermöglichkeiten zur Nutzung erneuerba-
rer Energien und das Erneuerbare-Energien-Gesetz sind
hier sehr hilfreich. Das nutzt bei dem zu erwartenden
Überangebot auf dem Holzmarkt. So wächst in der Not
in Baden-Württemberg auch das Rettende.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist zu Ende.
Mein letzter Satz.
Wir werden alle vorliegenden Anträge in die Fach-
ausschüsse überweisen,
um insbesondere im Sinne des Koalitionsantrages weite-
re Unterstützungsmöglichkeiten, zum Beispiel über den
Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die
Landwirtschaft, und die Möglichkeiten zusätzlicher
Zinsverbilligung auszuloten.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Ulrich Heinrich.
Frau Präsidentin! Meineliebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wäre ja froh, FrauKollegin Wright, wenn unsere Anträge nicht mehr bera-ten werden müssten, weil sie überholt wären. LeiderGottes ist das nicht so; denn Sie haben jetzt erst relativspät – in Anbetracht der von uns beantragten Debatte –Ihren eigenen Antrag formuliert. Für mich ist es eigent-lich ganz furchtbar, dass wir erst solche Anträge undDebatten brauchen, um auf Not aufmerksam zu machen,die andere offensichtlich so nicht erkennen, auch wennsie deutlich sichtbar ist.
Meine Damen und Herren, wir brauchen hier nichtsherbeizureden. Es gibt riesige Schäden, die bis an die2 Milliarden DM und wahrscheinlich noch darüber hin-aus gehen. Wollen Sie denn denen, die ohne eigenesVerschulden in eine solche existenzielle Not geratensind, weismachen, dass die öffentliche Hand nicht zurHilfe aufgerufen ist? Ich halte es schon für ausgespro-chen keck von Ihnen, Herr Minister, dass Sie am27. Januar im Bericht über die Situation nach dem Sturm„Lothar“ geschrieben haben, dass eine gesamtstaatlicheBedeutung vorliegen müsse, um handeln zu können. Wowar denn die gesamtstaatliche Bedeutung beim Oder-Hochwasser?Lassen Sie sich eines sagen: Ich war im letzten Jahran genau dem Platz, der vom Oder-Hochwasser überflu-tet war. Alles war paletti: die Felder in Schuss, die Häu-ser von oben bis unten renoviert. Gehen Sie einmal imnächsten Jahr in den Schwarzwald oder die anderen be-troffenen Regionen und schauen Sie sich den Wald an.Eine ganze Generation wird unter diesen Schäden zuleiden haben. Angesichts dessen sagt der Bundesland-wirtschaftsminister: Nein, hier helfen wir nicht! Damalswurden 160 Millionen DM lockergemacht.Meine Damen und Herren, es ist auch unverständlich,dass man bei Holzmann, einem in Not geratenen Ein-zelunternehmen, einfach so 300 Millionen DM locker-macht,
Metadaten/Kopzeile:
8118 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
zugleich aber viele einzelne Waldbauern und Kommu-nen in ihrer existenziellen Not allein lässt. Was solldenn der Bauer machen, der 80 Hektar Wald hat, vondenen 60 Hektar gefallen sind? Wir bekommen auf dieseFrage keine befriedigende Antwort vonseiten der Bun-desregierung.
Ich halte es einfach nicht für akzeptabel, wenn wir hierso wenig Solidarität bekunden.Die Bundesregierung hat seither nichts weiter getan,als dass sie den Antrag vom Bundesrat in eine Verord-nung umgesetzt hat.
Das haben Sie zeitig gemacht, aber das ist der großenSolidarität der Länder untereinander zu danken; denn dieLänder wissen ganz genau, dass der Sturm nicht immerdie gleiche Region trifft. Er kann auch wieder einmal einanderes Land treffen; 1974 war ja Niedersachsen beson-ders stark betroffen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich binnicht damit einverstanden, dass man jetzt auf dieGemeinschaftsaufgabe verweist. Ich bin auch nichtdamit einverstanden, dass man auf den europäischenStrukturfonds für die ländlichen Räume verweist. DieseGelder stehen für bereits angemeldete Maßnahmen zurVerfügung und sind in der Regel schon verplant. Hiermuss jetzt also der Bund tatsächlich den Mut haben undallen Betroffenen – nicht mit der Gießkanne, sonderneinzelbetrieblich erfasst – zinsfreie Darlehen mitfünfjähriger Laufzeit geben. Das wäre einmal ein Wort;wir erwarten es.
Erst dann könnten wir sagen, dass sich der Bund ernst-haft beteiligt hat.
100 Millionen DM hat das Land gegeben. Natürlichist das seine Aufgabe; das ist gar keine Frage. Wenn esnotwendig ist, wird das Land Baden-Württemberg auchnoch einen Nachtragshaushalt aufstellen. Aber wir tref-fen auf europäischer Ebene natürlich nur dann auf offe-ne Türen und offene Ohren – hier gebe ich dem Kolle-gen Weiß absolut Recht –, wenn sich wenigstens auchdie nationale Ebene solidarisch zeigt.
Wir berufen uns immer zu Recht auf den föderativenStaat und sagen: Wir haben zwar eine Aufgabenteilung,sind aber immer dann solidarisch, wenn es um die Lin-derung unverschuldeter Not geht. Das konnte man beiHolzmann guten Gewissens vielleicht gar nicht sagen.Aber da hat der Staat geholfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Heinrich, da Sie nicht zu stoppen sind, muss ich Sie jetzt
unterbrechen. Es gibt einen Fragewunsch vom Kollegen
Wiese. – Bitte.
Herr Kollege
Heinrich, der Kollege Weiß und ich haben uns bereits in
der ersten Fragestunde des neuen Jahrhunderts an den
Staatssekretär des Landwirtschaftsministeriums, Herrn
Dr. Thalheim, mit der Bitte gewandt, rechtzeitig zu hel-
fen. Wie gestaltet sich nach Ihrer Auffassung der zeitli-
che Rahmen der Hilfsmaßnahmen? Ist es nicht so, dass
nach solch einem Orkan – wir haben das in Baden-
Württemberg mit „Wiebke“ erlebt, von der wir vor zehn
Jahren heimgesucht wurden – innerhalb kürzester Frist,
innerhalb eines Vierteljahres massiv geholfen werden
muss, das Holz aus dem Wald zu holen, es auf Nasslager
zu bringen und Sekundärschäden zu vermeiden? Gerade
die Problematik der Sekundärschäden, die entstehen
können, wenn nicht rechtzeitig geholfen wird, ist dieser
Bundesregierung anscheinend entgangen. Teilen Sie
diese Auffassung?
Ich teile diese Auffassung.Wir müssen selbstverständlich beachten, dass eine Vor-leistung erbracht werden muss. Die Leute müssen be-zahlt werden. Das Holz kann in der Regel nicht verkauftwerden, es muss auf Nasslager gelegt werden. Die Ein-kommen durch den Verkauf des Holzes können also erstsehr viel später erzielt werden. Es bedarf deshalb einerraschen Finanzierung. Deshalb habe ich gesagt, dass wirzinsfreie Darlehen über fünf Jahre brauchen. Dannkönnen wir alles überblicken, dann kann auch die Wie-deraufforstung ordnungsgemäß erfolgen, dann könntenwir den Betrieben tatsächlich unter die Arme greifen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bun-desregierung hat leider Gottes beim letzten Steuerentlas-tungsgesetz, und zwar in § 34 Abs. 3 Einkommen-steuergesetz, eine Verschlechterung bei der Kalami-tätsnutzung vorgenommen. Wir fordern, dass der Ach-telsteuersatz wieder eingeführt wird.
Das wäre eine Maßnahme, von der man sagen kann,dass sie vernünftig ist. Es muss entsprechend gehandeltwerden. Es handelt sich nicht um eine generelle Steuer-befreiung, sondern nur um eine Befreiung in Kalamitäts-fällen. Dieser Vorteil ist entfallen. Ich fordere deshalbnachdrücklich, dass diese Verschlechterung zurückge-nommen wird und der Achtelsteuersatz wieder zum Tra-gen kommt.Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass wir hierkein Neuland betreten. Wir haben nämlich leider GottesErfahrung mit solchen Fällen. Wir sollten diese Erfah-rung nutzen und eine entsprechende finanzielle Hilfeleisten, um all das zu tun, was wir dem Wald schuldigsind, nicht nur den Besitzern des Waldes, nicht nur denUlrich Heinrich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8119
Kommunen, sondern auch dem Wald selbst. Er hat näm-lich auch eine soziale Funktion.Von den Grünen und auch von der SPD höre ich im-mer große Reden darüber, wie wertvoll der Wald für dieUmwelt ist. Die sozialen Funktionen werden stets herun-tergebetet. Wenn es aber darauf ankommt, diesen Waldzu erhalten, ihn wieder aufzuforsten, diejenigen, die tag-täglich im Wald arbeiten, nicht in Existenznöte zu trei-ben bzw. ihnen zu helfen, sich aus dieser Not zu befrei-en, dann bekommt man zu hören, man solle irgendwel-che Programme in Anspruch nehmen, die ohnehin schonausgebucht sind. Das ist wirklich nicht besonders hilf-reich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hein-
rich, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
Ja. – Herr Minister Funke,
ich habe Sie in der vorletzten Ausschusssitzung gebeten,
noch einmal nachzusehen, ob nicht ein vernünftiges,
zinsfreies Kreditprogramm auf die Beine gestellt werden
kann. Das, was Sie vorgeschlagen haben, ist absolut un-
genügend. Bei einer Zinsverbilligung um 1 Prozent la-
chen mir die Waldbauern ins Gesicht und fragen: Was
soll denn das? In dieser großen Not ist wirklich aktive
Hilfe notwendig.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen.
Ver-ehrte Frau Präsidentin! Wehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Im Dezember des letzten Jahres haben Stürme invielen Teilen Europas Menschenleben gekostet. Häuser,Wälder und andere Werte wurden vernichtet. Insbeson-dere Frankreich hat schwerste Schäden in den Forsten zuverzeichnen. In Deutschland ist das Bundesland Baden-Württemberg besonders betroffen. Ich finde, dass dieheutige Debatte
den damit verbundenen Leiden und Schäden nicht ge-recht wird. Denn Landes- und Bundesregierung habenSofortmaßnahmen eingeleitet, um die Betroffenen zuunterstützen. Es ist einfach nicht seriös, wenn Sie in derDebatte so tun, als ob die Bundesregierung in keinerWeise gehandelt hätte. Finanziell und auch in andererWeise sind Sofortmaßnahmen eingeleitet worden.
Das Forstschäden-Ausgleichsgesetz wurde mit Un-terstützung der Bundesregierung so schnell wie irgendmöglich in Kraft gesetzt. Eigentlich müssten Sie wissen,dass damit sehr wohl finanzielle Hilfen in Form vonSteuererleichterungen verbunden sind. Wenn es Ihnendarum geht, dass der Bund Geld geben soll, so müssenSie bedenken, dass das mit Einnahmenausfällen desBundes verbunden ist. Es gibt also sehr wohl Geld.Wichtig an diesen Maßnahmen ist insbesondere, dassnicht auch noch der Holzmarkt zusammenbricht. Daswäre eine Situation, die den Betroffenen zusätzliche fi-nanzielle Einbußen zufügen würde, die sie wirklichnicht mehr verkraften könnten. Nach Angaben derFachpresse ist das momentan allerdings nur in begrenz-tem Umfang zu erwarten. Vollständig auffangen lässtsich eine Entwicklung wie die in Baden-Württembergnatürlich nicht. Panikmache ist aber mit Sicherheit nichtangesagt.
Die Bundesregierung hat darüber hinaus ein Sonder-kreditprogramm aufgelegt
und die Unterstützung der Bundeswehr angeboten. Siewissen, dass die Bundeswehr im Wald momentan nichtsinnvoll eingesetzt werden kann.
Darin liegt ein Unterschied zum Oder-Hochwasser.Beim Oder-Hochwasser hat die Hilfe des Bundes zusehr wesentlichen Teilen in der Unterstützung durch dieBundeswehr bestanden. Das ist bei den Waldschädennicht in diesem Umfang möglich. Möglich war – diesesAngebot ist vor Ort mit großem Interesse aufgenommenworden – die konkrete Aufnahme der Schäden durch dieBundeswehr, um überhaupt erst einmal einen Überblickzu bekommen, welche Schäden es wo gibt.
– Reden Sie doch einmal mit den Transportunternehmenvor Ort! Die wollen das doch nicht.
Im Moment existiert kein Engpass beim Transport; dasist doch überhaupt nicht das Problem. Der Wald kanndoch noch gar nicht geräumt werden. Diese Forderungin die Debatte einzubringen ist bitterste Polemik.
Die Bundesregierung hat verkehrsrechtliche Aus-nahmegenehmigungen in die Wege geleitet. Sie hat –das finde ich besonders wichtig – Gespräche mit Frank-reich aufgenommen, um dort Hilfestellung zu geben.Frankreich profitiert momentan von den Erfahrungen,Ulrich Heinrich
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8120 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
die Deutschland – leider! – bereits gemacht hat. Wichtigfür den Holzmarkt ist, dass der Holzpreis in Deutschlandnicht wegen der großen Schäden in Frankreich in denKeller geht.
Für finanzielle Hilfen im Rahmen der Gemein-schaftsaufgabe und durch EU-Mittel sind die Möglich-keiten eröffnet worden. Ich finde es sinnvoller, solcheMittel im Katastrophenfalle auch tatsächlich einzuset-zen, auch wenn sie sonst unter Umständen für andereMaßnahmen ausgegeben worden wären. Sie wissen aberauch, dass die GAK-Mittel oft nicht ausgeschöpft wor-den sind. Deshalb können diese Mittel ruhig dafür ver-wendet werden. Zu der Frage, inwieweit der Bund seiner Verantwor-tung nachkommt: Sie wissen, dass zunächst das Land inVerantwortung steht. Solange das Land Baden-Württemberg kein konkretes Hilfsersuchen an die Bun-desregierung gerichtet hat – –
– Das ist erst vor wenigen Tagen erfolgt. Vorher gab eseinen Brief der Ministerin für den ländlichen Raum.
Erst inzwischen hat Ministerpräsident Teufel ein Hilfs-ersuchen an die Bundesregierung gerichtet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Lem-
ke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Weiß?
Bitte
schön.
– Er hat von seiner Fraktion nicht genug Redezeit be-
kommen.
Frau Kol-
legin Lemke, da Sie soeben behauptet haben, es sei kein
Hilfsersuchen an den Bund ergangen,
– langsam! – möchte ich Sie fragen: Können Sie bestäti-
gen, dass die Konferenz der Amtschefs der 16 Bundes-
länder am 13. Januar 2000 einstimmig die Bundesregie-
rung gebeten hat, ein Bund-Länder-Sonderprogramm
„Orkanschäden“ mit 60-prozentiger Finanzierung durch
den Bund aufzulegen, und dass dieses Ersuchen bis zum
heutigen Tag nicht beantwortet worden ist?
Ichgebe Ihnen Recht.
Aber können Sie mir erklären, warum sich Ministerprä-sident Teufel erst vor einigen Tagen an die Bundesregie-rung gewandt hat? Ich gebe Ihnen Recht, dass die Situa-tion in Baden-Württemberg schlimm ist und dass derBund helfen soll. Der Bund hilft bereits. Ich finde es aber schlimm, dass Sie die Debatte und die Situationdort benutzen, um auch jetzt noch polemisch auf denBund zu weisen, obwohl Ministerpräsident Teufel erstjetzt an den Bund herangetreten ist.
Ich finde es schlimm, dass Sie mit dem Schaden derBetroffenen, auf dem Rücken der Betroffenen in billigs-ter Polemik Politik machen. Das ist es, was ich nicht inOrdnung finde, Herr Kollege.
– Ich habe versucht, es Ihnen darzulegen, aber Sie kön-nen oder wollen offensichtlich nicht zuhören, weil Siemit anderen Dingen beschäftigt sind. Der Bund hilft denBetroffenen vor Ort bereits mit Hilfsmaßnahmen.Ein weiteres Wort zu Ihren Vergleichen zum Oder-Hochwasser und zu Baden-Württemberg beziehungs-weise zu den Schäden, die damals durch „Wiebke“ und„Vivien“ entstanden sind. Um der Redlichkeit willensollten Sie einräumen, dass die Schäden damals, aufmehrere Bundesländer verteilt, zweieinhalb Mal so hochgewesen sind, wie sie es diesmal sind. Deshalb ist auchbeim Oder-Hochwasser eine andere Situation entstan-den. Die Menschen waren dort anders betroffen. Siekönnen die Finanzkraft Brandenburgs nicht mit der Fi-nanzkraft Baden-Württembergs vergleichen. Ich finde,dass eine wohl überlegte Abwägung erforderlich ist, wieder Bund in solchen Fällen eingreifen soll.
– Der Bund hat mit 20 Millionen beim Oder-Hoch-wasser geholfen.
Steffi Lemke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8121
– Nein, das ist nicht richtig, Herr Kollege. UnterstellenSie nichts, was ich nicht sage.Kommen wir zu einer weiteren Dimension, die wiraus meiner Sicht in dieser Situation diskutieren müssen:Da ist zum einen die aktuelle existenzielle Betroffenheit,und zum anderen stellt sich eine grundsätzliche, ursa-chenbezogene Frage, und zwar die, wie wir in Zukunftmit solchen Schäden, die nach Einschätzung vieler Kli-maforscher öfter auftreten werden, umgehen wollen. Ichdenke, dass es nicht die Lösung sein kann, dass in allenFällen, wenn solche Schäden für Privatleute oder für dieWirtschaft auftreten, ob es Hochwasser, Orkanschädensind, der Bund alle diese Schäden mit Bund-Länder-Sofortprogrammen aufgreift. Hier sind weiter gehende Überlegungen notwendig.Ich denke, hier wäre die Mithilfe aller Fraktionen undParteien gefragt, insbesondere auch bei dem Klima-schutzprogramm, das die Bundesregierung jetzt nocheinmal mit intensiven Anstrengungen zum Erreichen desKlimaschutzziels auflegt. Wir werden nur mit diesemProblem fertig werden, wenn wir versuchen, die Klima-schutzprobleme grundsätzlich in den Griff zu bekom-men, und dann überlegen, wie in solchen Fällen den Be-troffenen geholfen werden kann.Die Koalition hat in ihrem Antrag die Bundesregie-rung aufgefordert, zu schauen, welche Unterstützung fürdie Betroffenen, beispielsweise bei Zinsprogrammen,möglich ist, welche Kapazitäten vorhanden sind und obForstfachkräfte, die dort momentan gebraucht werden –nicht Bundeswehrsoldaten – hingeschickt werden kön-nen. Auch bei der Wiederaufforstung muss geschautwerden, wie dort mit einem minimalen Kostenaufwandein möglichst hoher Effekt erreicht werden kann, umden wirtschaftenden Betrieben dort wieder auf die Füßezu helfen. Ich fände es gut, wenn diese Debatte nicht in Wahl-kampfpolemik ausartet. Das ist nicht im Interesse derBetroffenen. Vielmehr muss hier gemeinsam anerkanntwerden, was Bundes- und Landesregierung bisher ge-leistet haben und was dort in Zukunft gemeinsam geleis-tet werden kann.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat jetzt die Kollegin Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Der Wald erfüllt vielfältige Funkti-onen im Ökosystem, in der Gesellschaft, im sozialen, imkulturellen und im wirtschaftlichen Bereich. Holz ist einwichtiger nachwachsender Rohstoff, auf den wir nichtverzichten können.Seine Integration in die genannten Systeme müssteviel mehr Beachtung auch im Blick auf die Belange zu-künftiger Generationen finden. Die in den Anträgen vonder CDU/CSU, der F.D.P und zum Teil auch der SPDgeforderten Maßnahmen machen deren politische Zieledeutlich: Gewinne wirtschaftlicher Tätigkeit sollen pri-vatisiert und Verluste sozialisiert werden.Auch die PDS ist der Überzeugung, dass dringendMaßnahmen zur Überwindung der Sturmschädennotwendig sind und die sozialen Folgen für die Wald-bewirtschafter minimiert werden müssen. Allerdingswäre zu diskutieren, wie die Lasten für solche Maßnah-men zu verteilen sind. Wir halten es für richtig, wenn ander Spitze der Maßnahmen die Solidarität der Waldbe-sitzer untereinander steht, wie sie mit der Verordnungzum Holzeinschlag vom 8. Februar 2000 eingefordertwird.Durch die Einschränkung vorgesehener planmäßigerHolzeinschläge leisten sie einen konkreten Beitrag da-für, dass die Holzpreise nicht zusammenbrechen. Aller-dings scheint dieses Risiko nach Meinung der deutschenSägeindustrie nicht besonders groß zu sein. Der Anfallvon Sturmholz beträgt etwa 50 Prozent des europawei-ten Rohholzbedarfs der Sägewerke. Sie sehen vor allemHandlungsbedarf bei der Förderung der Marktnachfrageund der Einflussnahme auf den Holztransport. Grund da-für ist die Verstärkung der Diskrepanzen zwischen demHolzanfall durch die Orkanschäden und der Verarbei-tungskapazität. Da die Waldwirtschaft eine Ökonomie über Generati-onen ist, besteht das Hauptproblem in der zeitlichen Ab-federung der mit den Sturmschäden entstandenen Wi-dersprüche zwischen Bewirtschaftungsaufwand und Er-trag. Dazu sind die in den Anträgen geforderten Maß-nahmen aber nicht ausreichend. So muss für die Zukunftnicht nur über die Vergrößerung der Risikoabsicherungdurch eine entsprechende Sturmversicherung nachge-dacht werden; denn dadurch bekämpft man nur dieSymptome.
Durch eine gemeinschaftliche und vielfältige Wald-bewirtschaftung könnten die Risiken weiter minimiertwerden. Dadurch wäre eine Generationensolidarität derWaldbesitzer möglich – von den dadurch möglichenBewirtschaftungsvorteilen ganz zu schweigen.In der konkreten Situation ist kurzfristig sicherlichauch die Bereitstellung staatlicher Mittel notwendig.Warum aber wird die Mittelbereitstellung nicht mit ei-nem Programm für eine nachhaltige Waldwirtschaft unddem Umbau der Waldbestände verbunden?
Ein solches Programm könnte auch in die Debatte umdie Ausweisung von FFH-Gebieten einbezogen werden.Nicht zuletzt geht es um die Weiterentwicklung der vomSturm geschädigten Gebiete als Wirtschaftsregionen miteiner spezifischen Weiterentwicklung der Kulturland-schaft. Nachzudenken ist nicht nur über die Interessen undSorgen der Waldbesitzer, sondern auch über die Zukunftder von der Sturmkatastrophe betroffenen Regionen. DieBewältigung der Folgen der Sturmkatastrophe mussSteffi Lemke
Metadaten/Kopzeile:
8122 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
deshalb zu einem Anliegen aller Bürger der Regionwerden. Sie sind unter Leitung der Kommunalvertretun-gen in einen breiten demokratischen Diskurs über dieWeiterentwicklung der Region einzubeziehen. Ich binüberzeugt, dass sich dadurch auch noch andere Finanzie-rungsquellen erschließen lassen als der Bundeshaushaltund die Landeshaushalte.Allen ist klar, dass die Beseitigung der Sturmschädenauch eine riesige Arbeitsaufgabe ist. Aus den Presse-meldungen der letzten Jahren und Monate entnehme ichaber, dass Waldarbeiter zu Tausenden entlassen werden.In den vorliegenden Anträgen lese ich nun von Umset-zung von Arbeitskräften und – im F.D.P.-Antrag – demEinsatz von Facharbeitern aus Osteuropa. Ich lese nichtsvon Reaktivierung der arbeitslosen Waldarbeiter odervon besonders vorteilhaften Tarifverträgen und Auf-wandsentschädigungen für die Sondereinsätze in Baden-Württemberg und Bayern,
ich lese kein Wort von einer Beschäftigungspolitik, dielangfristig den Waldumbau und die effiziente Waldbe-wirtschaftung sichert. Die vorliegenden Anträge sind unseres Erachtenszum Großteil Klientelpolitik. Mit ihnen wird einseitigum die Interessen von Waldbesitzern gekämpft. Ge-samtgesellschaftliche Anliegen spielen dabei keine Rol-le. Die PDS wird sich dafür einsetzen, dass die Anträgeim weiteren parlamentarischen Verfahren nachgebessertwerden.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Marion Caspers-Merk für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde,
dass die Debatte notwendig ist und dass wir richtig da-
ran tun, dieses Ereignis zum Anlass zu nehmen, um zu
überlegen: Wie kann man der Region, wie kann man
Baden-Württemberg, wie kann man den Kommunen –
über die noch niemand geredet hat;
es gibt ja auch viele Kommunen, die betroffen sind –
und wie kann man den privaten Waldbesitzern adäquat
helfen?
Herr Kollege Weiß, Sie führen diese Debatte sehr
vordergründig. Sie haben in Ihrem Antrag nur kurz ge-
sprungene Hilfen – zum Thema Klimaschutz kein Wort,
zum Thema Förderung von Biomasse kein Wort, zum
Thema langfristige ökologische Waldwirtschaft und den
Chancen einer ökologischen Wiederaufforstung kein
Wort. Ihre Anträge sind vordergründig und polemisch
und reihen sich in eine Ebene. Wenn Sie sich hier so
empören, sollten Sie morgen zeigen, dass Sie das Thema
ernst nehmen. Sie können etwas für den Klimaschutz
tun, indem Sie unserem Gesetzentwurf zum Thema re-
generative Energien zustimmen; denn damit tun wir
ganz konkret etwas für die Nutzung von Biomasse, un-
ter anderem auch für die Nutzung des nachwachsenden
Rohstoffs Holz.
Was tut dagegen die Baden-Württembergische Lan-
desregierung? Die Baden-Württembergische Landesre-
gierung hat die Programme für regenerative Energien
zusammengestrichen. Das ist Fakt. Sie ist beim Thema
Klimaschutz Schlusslicht. Zum Beispiel hat sie das da-
malige Programm zur Photovoltaik, das die große Koali-
tion aufgelegt hatte, zusammengestrichen.
– Wir reden auch vom Klimaschutz. Der Punkt ist, dass
dieser Sturm Ursachen hatte.
Wenn wir nicht über die Ursachen nachdenken, werden
wir immer wieder über die einzelnen Schäden und deren
Regulierung reden. Wir wollen in einer proaktiven Um-
weltpolitik dafür sorgen, dass diese Orkanschäden nicht
mehr auftreten. Damit ist den Waldbauern am meisten
geholfen.
– Nein, Herr Kollege Heinrich, Sie hatten das Wort.
Ich will nur noch eines dazu sagen: Sie gebrauchen
mit Ihren kurzfristigen Anträgen dieses Thema als In-
strument im Wahlkampf.
In der heutigen Debatte über die „Pallas“ haben Sie kri-
tisiert, dass der Minister nicht vor Ort war.
Ich möchte an dieser Stelle Karl-Heinz Funke danken.
Er war sofort vor Ort. Er war in Lahr, hat sich unmittel-
bar ein Bild gemacht und die Hilfsmaßnahmen eingelei-
tet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Caspers-Merk, gestatten Sie eine Zwischenfrage desKollegen Burgbacher?Kersten Naumann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8123
Sehr gern.
Danke schön, Frau Kol-
legin.– Ich möchte Sie fragen: Reden wir heute Abend
über Soforthilfe für die betroffenen Waldbauern, die Sie
– im Gegensatz zu Ihren Vorrednerinnen – eigentlich
kennen müssten und die Ihre heutigen Aussagen als
Hohn empfinden müssten? Sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass gerade bei dieser Katastrophe alle Be-
stände, ob Buchen oder Eichen, betroffen waren und
deshalb viele Argumente völlig ins Leere gehen?
Ich darf Ihnen Fol-
gendes erwidern: Ich habe zu den unterschiedlichen An-
trägen gesprochen. Unsere Anträge beinhalten – im Ge-
gensatz zu Ihren Anträgen – diese Aspekte. So fordern
wir die Bundesregierung auf, bei der Wiederaufforstung
auf ökologisch nachhaltige Waldwirtschaft zu achten
und Elemente des Klimaschutzes zu verstärken.
Deswegen habe ich auf den Unterschied hingewiesen.
Herr Kollege Burgbacher, Sie können gerne stehen blei-
ben; ich bin noch nicht fertig. Sie verlängern meine Re-
dezeit.
Allein in meinem Wahlkreis – ich war vor Ort und
kenne die Schäden – sind 631 000 Kubikmeter Wald
zerstört worden. Der Schaden beläuft sich beim Privat-
wald auf ungefähr 15 Millionen DM und bei den Kom-
munen auf 35 Millionen DM. Ich weiß, dass wir hier
auch darüber nachdenken müssen, wie wir die Existenz
der Privatwaldbesitzer sichern können.
Deswegen finde ich zielführend, dass wir das Ganze an
die Ausschüsse überweisen und dort noch einmal da-
rüber nachdenken, ob die Maßnahmen auch zielgerichtet
sind.
– Die Bundesregierung hat in einem Sofortprogramm
geholfen. Das nehmen Sie nicht zur Kenntnis. Es wur-
den hier acht Punkte vorgetragen, die wir konkret ange-
stoßen haben. Sie negieren das einfach, indem Sie diese
Punkte nicht zur Kenntnis nehmen.
Sowohl das Land als auch wir haben geholfen und jetzt
müssen wir prüfen, ob die Maßnahmen ausreichen.
Lassen Sie uns das in den Fachausschüssen ohne Not
und Eile tun, damit die Hilfe auch wirklich dort an-
kommt, wo sie gebraucht wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Caspers-Merk, gestatten Sie eine zweite Frage des Kol-
legen Burgbacher?
Nein. – Ich will ab-
schließend aus meiner Sicht noch einmal zwei Aspekte
hinzufügen. Wir meinen, dass wir die Chance nutzen
sollten, bei der Wiederaufforstung das Thema der nach-
haltigen Waldwirtschaft in den Mittelpunkt zu stellen.
Ich will darüber hinaus betonen, dass es uns darum geht,
mit einer langfristigen Klimaschutzpolitik proaktiv da-
für zu sorgen, dass sich solche Naturkatastrophen nicht
wiederholen.
Ich kann verstehen, dass es Ihnen nicht gefällt, dass
wir in Südbaden vor Ort waren und geholfen haben.
Aber die Menschen vor Ort wissen die Hilfe zu schät-
zen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Heinrich-
Wilhelm Ronsöhr.
Frau Prä-sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ichwar in Baden-Württemberg – wie der Minister, wie vieleandere. Ich habe dort Waldbauern kennen gelernt: Größedes Waldes 40 Hektar; 38 Hektar davon ist – geworfen.Buchen, Eichen, Laubwälder.
– Nein, eben hat eine Dame aus der SPD-Fraktion davongesprochen, dass man doch jetzt endlich einmal mit demökologischen Waldbau beginnen müsse. Diese Wald-bauern haben das Jahrzehnte getan; sonst hätten dortnicht 250 Jahre alte Buchen gestanden!
Jetzt kommen die zu uns und fragen, was wir tun. Ichsage: Wir haben das Forstschäden-Ausgleichsgesetz er-lassen. Wir haben damit die Beschränkung des Holz-einschlages bewirkt. Das ist ja wichtig zur Marktstabili-sierung. Ich glaube, darin stimmen wir auch alle überein.Diesem Verordnungsentwurf von Baden-Württemberghaben alle Bundesländer zugestimmt. Dankenswerter-weise war das überhaupt nicht umstritten.
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8124 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Darum geht es aber nicht, sondern die Frage ist doch:Wenn jetzt so viel Wald geworfen ist, teilweise in Hoch-lagen, wo nichts anderes als eine Fichte wächst dann be-darf es eines erheblichen Geldaufwandes, diese Holz zubergen, was insbesondere in den Steillagen schwierig ist.Da sind Landwirte, die im Nebenerwerb Holzbergungbetreiben und die mit ihren Maschinen teilweise in die-ses geschmissenen Steillagen nicht hineinkommen. Dasbirgt auch ein ungeheures Gefährdungspotenzial. Daswissen wir doch alle. Wenn wir es aber wissen, dannsollten wir doch einige vernünftige Rückschlüsse darausziehen. Dann ist die Frage zu stellen: Wie kommen dennWaldbauern jetzt mit ihrer Liquidität hin? – Die brau-chen jetzt Liquidität. Ich habe mir das einmal an einem Waldstück ange-guckt. Da sind fünf Hektar geschmissen, alles schlagreif.Der Bauer hätte 150 000 DM dafür bekommen; er hättedie Bäume nacheinander schlagen können. Jetzt muss erdiesen Wald bergen, das Holz vermarkten und kriegtnoch 40 000 DM. Die gesamten fünf Hektar sind aufeinmal weg. Natürlich sind Teile der entsprechenden Vorschrifteneines ermäßigten Steuersatzes für Kalamitätsnutzun-gen erhalten geblieben – das ist ja sinnvoll und richtiggewesen –, aber Teile sind auch verändert worden. Jetztwerden die Geschädigten möglicherweise noch mit einerhöheren Besteuerung bestraft. Dabei haben sie nachhal-tig Waldwirtschaft betrieben und somit eine gesell-schaftliche Leistung erbracht. Nun können wir ihnen na-türlich auch damit kommen, dass uns möglicherweiseeine Klimakatastrophe bevorsteht. Das ist eine Frage,die wir auch in aller Ernsthaftigkeit zu erörtern haben.Ich gebe jedem Vorredner und jeder Vorrednerin Recht,dass man darüber sprechen muss. Aber was nutzt denndas jetzt einem Waldbauern, der diesen existenziellenSchaden aufzuarbeiten hat? Das ist doch die Frage, diehier einmal zu stellen ist.
Herr Staatssekretär Thalheim hat uns hier in der Fra-gestunde – wir hätten ja möglicherweise sonst unsereAnträge gar nicht gestellt – gesagt, es könne über dasjetzt Angesprochene hinaus keine weiteren Hilfen ge-ben, weil es letztlich eine regionale Katastrophe sei. Nur, dann sind alle Bundesländer – auch die SPD-regierten – anderer Auffassung,
denn die Bundesländer haben den Bund aufgefordert,mit einem Sonderprogramm zu helfen. Deshalb fordereich für meine Fraktion hier dieses Sonderprogramm. Nun sagt man, das könne man ja aus den 1,7 Milliar-den DM, die für die Gemeinschaftsaufgabe zur Verfü-gung stehen, nehmen.
Ich will das heute hier gar nicht kritisieren, weil es mirum die Hilfen für die Waldbauern geht. Aber wir wissendoch ganz genau, dass mit den Mitteln der Gemein-schaftsaufgabe immer neue Aufgaben zu bewältigensind.
Wir wissen ganz genau, dass diese Mittel häufig sehrknapp sind. Wir wissen ganz genau, dass der Struktur-wandel durch die Agenda 2000, aber auch durch denPreisverfall in der Landwirtschaft verstärkt wird, dassalso immer mehr Mittel der Gemeinschaftsaufgabe ein-gefordert werden. Nun sollen im Rahmen der Gemein-schaftsaufgabe, die teilweise ausgequetscht ist wie eineZitrone, auch noch die Mittel für die baden-württem-bergischen Waldbauern erwirtschaftet werden.Wenn ein Betrieb zum Beispiel eine einzelbetriebli-che Förderung haben möchte und gleichzeitig Hilfe be-nötigt, weil er erhebliche Waldschäden erlitten hat, dannkann es sein, dass er sozusagen mit sich selbst um dasGeld aus der Gemeinschaftsaufgabe konkurriert. Des-wegen sage ich Ihnen: Wir brauchen ein fünfjährigesSonderprogramm, das zu 40 Prozent von den Län-dern – es ist nicht nur Baden-Württemberg, sondern essind auch Bayern, Rheinland-Pfalz und Hessen etwasbetroffen – und zu 60 Prozent vom Bund finanziert wird.
Es ist eigenartig: Der Bundeslandwirtschaftsminister,der anlässlich der Grünen Woche in Berlin – das wissenwir, weil wir dort auch manchmal feiern – neulich einesehr gute Rede gehalten hat, hat dargestellt, was dieKommunen im Bereich des Naturschutzes verkehrt ma-chen. Früher, als er noch Landwirtschaftsminister inNiedersachsen war, wusste er immer, was der Bund ver-kehrt macht. Aber jetzt muss er einmal sagen, welchekonkrete Hilfe er für die Waldbauern leistet, die durchdiese Schäden so extrem betroffen sind.
Das ist entscheidend, und nicht, dass man über andereredet. Hier muss er endlich auf den Tisch legen, welchekonkreten Mittel – über das hinaus, was ohnehin schonin der Agrarpolitik eingesetzt wird –, zusätzlich zur Ver-fügung gestellt werden. Darauf erwarten wir heute eineAntwort. Ich finde es sowieso komisch, dass Karl-Heinz Funkehier immer als Letzter spricht. Wir wollen auch einmalüber das diskutieren, was er vorzulegen hat. Aber offen-sichtlich hat er nichts vorzulegen. Deswegen spricht erimmer als Letzter.Lassen Sie uns möglichst schnell und zügig ein Son-derprogramm des Bundes und der Länder beschließenund damit den Waldbauern helfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner indieser Debatte ist der Bundesminister für Landwirt-schaft, Ernährung und Forsten, Karl-Heinz Funke.Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8125
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Mit mir müssen Sienicht darüber streiten, ob ich als Erster oder als Letzterreden soll. Herr Kollege Ronsöhr, ich traue mir wie imAusschuss durchaus zu, mich mit Ihnen auch dann aus-einander zu setzen, wenn Sie noch die Chance zur Ant-wort haben. Es ist eine Binsenweisheit, dass man in einer solchenDebatte zwischen dem, was parteipolitisch zu werten ist,und dem, was die Sache selbst betrifft, trennen muss. Ichwar in der Tat dort. Ich habe gar nicht mitbekommen,dass jemand behauptet hat, ich sei gar nicht dort gewe-sen. Es mag sein, dass das jemand behauptet hat.
– In Ordnung, ich habe das eben nur aufgeschnappt.Das ist völlig egal. – Herr Kollege Weiß, ich bin am7. Januar dort gewesen. Das habe ich nachprüfen lassen;das ist mir bestätigt worden. Herr Kollege Weiß, durchIhr Kopfnicken bestätigen Sie das. Sie waren ja dabei.Man muss ja selber zusehen, dass man noch auf das Bildkommt, so drängeln die Oppositionsabgeordneten, umsich ablichten zu lassen.
– Herr Kollege Ronsöhr, worüber ich rede, entscheidennicht Sie. Da kann ich Sie beruhigen. Sie müssen sichgar nicht aufregen.
– Eben wollte mir der Kollege Ronsöhr vorschreiben,was ich hier sagen darf. Die Meinungsfreiheit ist seiner-seits und nicht meinerseits infrage gestellt worden.Am 7. Januar bin ich also da gewesen. Schon am10. Januar stand eine Pressemitteilung von Herrn Weißin der Zeitung:Weiß fordert 300 Millionen DM für Sonderpro-gramm – Ergebnisse des Funke-Besuchs als völligungenügend bezeichnet.
– Ja, am 10. Januar. Entschuldigung, da hatte das Lan-deskabinett in Baden-Württemberg noch nicht einmaleinen Beschluss über ein Landesprogramm herbei-geführt; trotzdem stellte Herr Weiß das schon am10. Januar fest. Dabei geht es nicht um die Sache, das istreine Parteipolitik und nichts anderes.
– Nein, so wird das gemacht. Es liegt völlig neben derSache. Sie tun es nur, um daraus irgendwie parteipoli-tisch Honig zu saugen. Aber die Menschen merken das.Wir waren uns einig, dass wir die ersten Maßnahmenmöglichst schnell umzusetzen haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Ja, von mir aus gerne, wenn
er möchte.
Herr Mi-nister Funke, können Sie bestätigen, dass Sie bereits beiIhrem damaligen Besuch am 7. Januar 2000 in Lahrvorgetragen haben, dass Sie die Voraussetzungen für einBund-Länder-Sonderprogramm für nicht gegeben anse-hen und dass ich deshalb mit meiner Pressemitteilungvollkommen richtig reagiert habe?Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Ich will gerne auf Folgen-des hinweisen – ich hätte es später noch gesagt –: Trotzallen möglichen Diskussionen, die wir veranstalten kön-nen, war auch in der Vergangenheit unstrittig, dass zweiVoraussetzungen notwendig sind, wenn der Bund eintre-ten soll.Erstens. Soweit Regionalität und nicht Überregionali-tät, also nationales Ausmaß, gegeben ist, ist die Angele-genheit Ländersache.Zweitens. Der Unterschied etwa zu den Geschehnis-sen beim Hochwasser im Oderbruch liegt darin, dass zu-allererst das Land gefragt ist. Der Bund ist dann gefor-dert, Hilfe zu leisten, wenn das Land dazu nicht in derLage ist. Das ist die Grundlage für die Zusammenarbeit zwi-schen Bund und Ländern seit eh und je. Das bedeutet,dass Ihre Wertung am 10. Januar völlig daneben war. Ih-re Pressemitteilung stand schon fest, bevor ich kam.Auch ich weiß aus früheren Zeiten, wie so etwas ge-macht wird.Unstrittig ist doch – ich weiß nicht, warum man somanche Debatte darüber aufführt –, dass der Orkan „Lo-thar“ am 26. Dezember diejenigen Schäden herbeige-führt hat, die hier erwähnt worden sind. Ich will daraufim Einzelnen überhaupt nicht mehr eingehen. Ich anerkenne ausdrücklich auch die Hilfsprogram-me, die Bayern und Baden-Württemberg gestartet ha-ben. Wir haben dabei die notwendige Unterstützung ge-leistet. Es ist im Übrigen vom Land Baden-Württembergausdrücklich anerkannt worden, dass der Bund demLand sofort zur Seite gesprungen ist und dass die vonuns zu erbringenden Maßnahmen möglichst schnelldurchgeführt worden sind.Weil insbesondere Herr Heinrich die Zinsen der Pro-gramme angesprochen hat, sage ich gerne, dass dasSonderprogramm natürlich über die LandwirtschaftlicheRentenbank gestartet worden ist, um möglichst schnellSchäden zu beseitigen. Dies war als erste Maßnahme
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gedacht, die man sofort umsetzen wollte und konnte. Esgeschah, nebenbei bemerkt, in Übereinstimmung mit derbaden-württembergischen Landesregierung. Man kanndarüber diskutieren, ob die Zinsbelastung nicht trotz derZinsvergünstigung so ist, dass unter Umständen dieWirkung nicht so eintritt, wie wir es gerne hätten. Daringebe ich Ihnen ausdrücklich Recht. Aber als notwendigeerste Maßnahme war dieses Vorgehen richtig.Was die Bundesratsinitiative zur Holzeinschlagsbe-schränkung anbelangt: Wir haben wiederum mit demLand Baden-Württemberg sehr zügig zusammengearbei-tet, um eine Stabilisierung der Holzpreise zu erreichen.Ich hoffe, das tritt ein. Diese Verordnung ist am12. Februar in Kraft getreten. Keiner wird sagen können,dass es an irgendeiner Stelle hätte schneller gehen müs-sen. Ich lege ausdrücklich Wert darauf, dass es immereine entsprechende Zusammenarbeit gegeben hat.Hier ist auf das Forstschäden-Ausgleichsgesetz hin-gewiesen worden. Das, was wir seitens der Bundesforst-verwaltung tun können, um uns auch im Einschlag zu-rückzuhalten, ist ebenfalls geleistet worden. Das giltauch dort, wo es um verkehrsrechtliche Ausnahme-regelungen ging.
– Ja, Herr Kollege Weiß, ich sage das nur einmal: Allediese Dinge sind bei meinem Besuch damals angespro-chen worden. Trotzdem sagten Sie am 10. Januar: „kei-ne Ergebnisse“.
– Entschuldigung, ich will es noch einmal zitieren: „völlig ungenügend.“ Wenn Zensuren noch Sinnhaben heißt das, es hat nichts gegeben. Oder mei-nen Sie, es hat doch etwas gegeben? Ansonstenlässt das ja nur diesen Schluss zu, wenn Sie es sosagen. Im Übrigen werde ich mich einmal sehr intensiv,auch mit Kommissar Fischler, darüber unterhalten, wasdamit gemeint war. Sowohl der französische KollegeGlavany als auch ich haben uns getrennt mit dem Kom-missar darüber unterhalten, was angesichts der Umstän-de möglich und nötig ist. Im Agrarrat hatten wir unsdarüber unterhalten, nachdem sich Deutschland undFrankreich abgesprochen hatten. Dort waren wir uns imGrunde schon einig. Mir scheint, ohne dass ich das end-gültige Ergebnis des Gespräches kenne, dass der Kom-missar auch noch einmal an Ort und Stelle deutlich ge-macht hat, dass im Rahmen der so genannten zweitenSäule der Agenda Mittel bereitgestellt und zugeführtwerden können, wenn sie woanders nicht abfließen. Da-zu müssen im Strukturfonds „Ländlicher Raum“ ge-nauso wie bei der Gemeinschaftsaufgabe die Fördertat-bestände bzw. die Programmteile so umgestaltet werden,dass man auch in der Lage ist, zu helfen. Im Übrigenkann man es auch von den Ländern erwarten, egal umwelches es sich handelt, dieses so umzugestalten undfortzuschreiben, dass Hilfe möglich ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Ja, sie lasse ich noch zu,
obwohl ich gleich zum Schluss kommen möchte.
Können Sie bestätigen,Herr Minister Funke, dass über die Bereitstellung vonMitteln aus der zweiten Säule allerfrühestens im Herbstentschieden werden kann? In der Zwischenzeit müssendie Bauern natürlich wissen, was sie erwartet. Ich bittedoch, dass hier der Bund einspringt. Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Jawohl, das bestätige ichausdrücklich, dass es sich so verhält. Wir haben auchdarüber gesprochen, dass man unter Umständen das eineoder andere vorziehen könne. Da es hier um Fragen deseuropäischen Haushaltes geht, ist auch die für Finanzenzuständige Kommissarin damit befasst worden. Ich be-stätige Ihnen ausdrücklich, dass der Herbst angesichts derüblichen Abläufe wahrscheinlich der früheste Terminsein wird. Das ist gar keine Frage.Insgesamt sind auf europäischer Ebene die Vorarbei-ten geleistet, um das Bestmögliche zu erreichen. Bei denGesprächen, die wir geführt haben, habe ich nie gehört,dass für die Gewährung von europäischen Hilfen auf derGrundlage, wie ich sie jetzt geschildert habe, ein Junk-tim mit einem Bund-Länder-Programm gefordertworden ist.
Es steht ja im Protokoll und ist somit nachprüfbar. Ichwerde das auch tun. Da Kommissar Fischler und ich unsdurchaus offen über solche Dinge unterhalten, bin ichsicher, dass ich auf meine diesbezügliche Frage auch ei-ne offene und ehrliche Antwort bekommen werde. Inden Gesprächen, die wir in Brüssel darüber geführt ha-ben, ist ein solches Junktim oder eine solche Beziehung,um es etwas weniger tiefgründig zu formulieren, da Sienicht von Junktim sprechen wollen,
nicht hergestellt worden. Vielleicht gefällt Ihnen dieserBegriff ja eher, Herr Kollege Weiß.
Dieser Begriff ist etwas schwächer, der Begriff Junktimpasste ihm ja nicht. In der Begrifflichkeit bin ich aberBundesminister Karl-Heinz Funke
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immer zu Zugeständnissen bereit; da gibt es gar keineFrage.
– Das trifft unter Umständen auch zu.Meine Damen und Herren, ich bin dankbar, dass wirim Ausschuss noch einmal darüber reden. Dann könnenwir auch Schlussfolgerungen ziehen. Ich bestätige dabeiausdrücklich das, was die Vertreter der Fraktionen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen dazu gesagt haben. Esbraucht überhaupt nicht lange zu dauern, um Schlussfol-gerungen aus den Sofortmaßnahmen, die wir ergriffenhaben, zu ziehen. Wir können abwarten, wie sich derHolzmarkt entwickelt. Das ist eine ganz entscheidendeSache. Hierüber muss man Bescheid wissen, aber auchdas braucht nicht lange zu dauern. Sie können sichersein, dass uns das Schicksal vieler Einzelfälle – das ge-stehe ich ausdrücklich zu und freue mich, dass das hiererwähnt wurde – genauso wie Ihnen am Herzen liegt.Darüber gibt es keinen Zweifel.
Auch Ihre Äußerungen, Herr Kollege Heinrich, habe ichdahin gehend verstanden, dass man mit herkömmlichaufgelegten Programmen unter Umständen Einzel-schicksalen überhaupt nicht gerecht werden kann, weilsolche Situationen meistens in überhaupt kein Rasterpassen.Auch das ist mir bei der Besichtigung an Ort und Stelledeutlich geworden. Manchmal kommt man mit her-kömmlichen Instrumenten nicht zurecht. Dann müssenwir unter Umständen auch mit unkonventionellen Mit-teln arbeiten. Das wird die Ausschussberatung aufgrundder Anträge, die gestellt sind, ergeben. Wir werden ge-meinsam daraus die entsprechenden Schlussfolgerungenzu ziehen haben. Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr.
Herr Mi-
nister, die Kritik an Ihnen besteht nicht darin, dass das
Forstschäden-Ausgleichsgesetz nicht in Kraft gesetzt
worden wäre. Vielmehr haben wir gesagt, dass die Ba-
den-Württemberger dazu Vorleistungen erbracht haben
und es deswegen auch ging. Die Kritik an Ihnen besteht
darin, dass Sie nicht bereit sind, separate Mittel in die
Hand zu nehmen und ein Bund-Länder-Programm
aufzulegen.
– Ich habe Ihnen ganz schwer zuhören können, anderen
besser.
Ich habe auch heute noch kein Signal vernommen,
dass Sie dazu bereit sind. Ich finde, dass das, was Herr
Weiß hier gesagt hat, gilt: Eine sehr schnelle Hilfe ist
möglicherweise eine wirksame Hilfe. Denn die Bestände
müssen jetzt aufgearbeitet werden. Deswegen brauchen
die Waldbesitzer, ob kommunale oder private – für mich
sind die privaten immer wichtiger –, jetzt politische Sig-
nale. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie am Ende
dieser Debatte endlich ein politisches Signal geben
könnten, dass es ein Bund-Länder-Sonderprogramm ge-
ben wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung HerrMinister Funke, bitte. Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Herr Kollege Ronsöhr, dassalle Länder bei der Amtschefskonferenz den Bund auf-fordern, endlich schnell, großzügig und möglichst unbü-rokratisch und unkonventionell – mir fallen noch mehrAttribute ein – zu handeln, ist doch selbstverständlich.Wäre ich niedersächsischer Minister, hätte ich an derBeschlussfassung genauso mitgewirkt. Das will ich Ih-nen offen sagen. Aus anderer Leute Leder ist gut Rie-men schneiden. Da machen es sich solche Konferenzenvon München bis Kiel und von Potsdam bis Stuttgartmanchmal etwas einfach. Ich sage das parteipolitischvöllig neutral, sehr objektiv, wie wir als Regierung sosind. Wer wollte das bestreiten?Zum anderen haben alle Redner der Koalitionsfrakti-onen und auch ich gesagt – das konnte man hören, wennman zuhören wollte –, dass wir anhand der Anträge, diejetzt an die Ausschüsse überwiesen werden, und imLichte der eingeleiteten Maßnahmen – ich bin dankbar,dass Sie die nicht kritisieren – gucken wollen, was bis-her gelaufen ist, wie es sich entwickelt hat und was unterUmständen noch zu tun ist. Ich glaube, das ist sachlich,das ist richtig und das ist auch vernünftig. Im Übrigen habe ich genau das auch bei meinem Be-such am 7. Januar gesagt. Ich habe mich nicht hingestelltund gesagt: Jetzt fließen Millionen. Das wäre auch un-verantwortlich gewesen. Ich habe aber sehr wohl gesagt,dass wir angesichts der bestehenden Nöte bereit sind, ineine Einzelfallprüfung einzutreten und zu gucken, wel-che Hilfe notwendig ist und wo das Land – oder werauch immer – überfordert ist. Ich habe auch, Herr Ron-söhr, genau den Standpunkt vertreten, dass Kommunenin der Lage sein müssen, sich unter Umständen selbst zuhelfen,dass es also in erster Linie um die privaten Wald-besitzer geht.
Bundesminister Karl-Heinz Funke
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8128 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Das ist der Sachverhalt und nichts anderes, und sowird es kommen. Insoweit freue ich mich auf die ent-sprechenden Ausschussberatungen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2570, 14/2583 und 14/2685 zur fe-
derführenden Beratung an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den
Ausschuss für Tourismus und den Haushaltsausschuss
zu überweisen. Die Vorlagen auf den Drucksa-
chen 14/2570 und 14/2583 sollen zusätzlich an den Fi-
nanzausschuss und an den Ausschuss für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen überwiesen werden. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich nicht
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Dr. Evelyn Kenzler, Roland Claus, Ulla
Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über Volksinitiative, Volksbegehren
– Drucksache 14/1129 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 14/2151–
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Enders
Erwin Marschewski
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
PDS sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Als ich unseren Gesetzent-wurf zur dreistufigen Volksgesetzgebung im Sommerletzten Jahres vorstellte, war die Parteiendemokratiescheinbar noch in bester Bonner Ordnung. Keiner vonuns hätte sich einen Finanzskandal dieses Ausmaßesvorstellen können. Dass es ausgerechnet jene Partei undjene Law-and-order-Männer betrifft, die keine Gelegen-heit ausließen, den Rechtsstaat besonders dann hochle-ben zu lassen, wenn es gegen die PDS ging, ist schon ei-ne Ironie des Schicksals.
Wer das Recht als scharfe Waffe gegen den politi-schen Gegner wie auch gegen Kleinkriminelle gebrauchtund beim Wirtschaftskapital „höhere“ Interessen undEhrenworte gelten lässt, der hat eben leider Nachholbe-darf in Sachen Demokratie, Rechtsstaat und Moral. Las-sen Sie mich auch das noch sagen: Irgendwie fühle ichmich bei dem Gebaren von Helmut Kohl, das seine poli-tischen Kampfgefährten mitgetragen oder miterduldethaben – je nachdem –, an den berüchtigten Aussprucherinnert, der Ulbricht zugeschrieben wird: „Es muss de-mokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Handhaben.“
Der Spendenskandal hat auf drastische Weise ge-zeigt, dass eine Beschränkung der Parteienherrschaftdurch eine Kombination aus effizienter repräsentativerDemokratie und direkter Mitbestimmung der Bürgerdringend notwendig ist. Davon war ich auch schon vorder Spendenaffäre überzeugt, als wir unseren Gesetz-entwurf einbrachten. Es sei mir in diesem Zusammen-hang gestattet, mich kurz an diese erste Lesung zu erin-nern.Grundsätzlich: Die PDS versteht sich weder alsGralshüterin der Demokratie, wie der Herr Kollege Frie-se damals meinte, und schon gar nicht als „Hüterin desVolkes“, wie der Kollege Enders in der Debatte äußerte.Auch ist unser Gesetzentwurf kein „Ladenhüter“ aus derletzten Wahlperiode. Wir setzen uns lediglich kontinu-ierlich für eine Stärkung der plebiszitären Demokratieein. Dabei brauchen Sie keine Angst um das parlamenta-rische System zu haben. Hier soll auch nichts ausgehöhltwerden.Auf die „traditionell“ ablehnenden Argumente desHerrn Kollegen Marschewski kann ich aus zeitlichenGründen nicht eingehen.
Ich kann ihm nur die Homepage von „Mehr Demokra-tie e. V.“ empfehlen. Da findet er haarklein auf genaujede seiner Fragen eine überzeugende Antwort; da wirder aufgeklärt.Aber eines lasse ich mir nun doch nicht nehmen. DerKollege hat in der damaligen Debatte über Ursachen derPolitikverdrossenheit spekuliert und dabei natürlichweder die PDS noch das Handeln der Bundesregierungverschont. Einer der schlagenden Einwände gegen diePlebiszite war die fehlende Allgemeinwohlorientierung,nämlich die Durchsetzung egoistischer Interessen Ein-zelner. Es fragt sich jedoch: Wer hat denn nun partei-egoistisch die Demokratie in einer Weise beschädigt,dass man von einer in der Bundesrepublik bisher nichtgekannten politischen Krise sprechen muss? Heutige Po-litikverdrossenheit ist deshalb nicht zuletzt das zweifel-hafte Verdienst der CDU. Sie haben etwas gutzumachen.Bundesminister Karl-Heinz Funke
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Deshalb rechne ich mit Ihrer Stimme, die Sie letztlichnicht der PDS, sondern den enttäuschten Bürgerinnenund Bürgern geben.
Wenn die Kollegin Deligöz davon spricht, dass sieseit über 10 Jahren über das Problem der Verfassungs-mäßigkeit der Volksgesetzgebung nachdenkt und dasssie nun zu dem Schluss gekommen ist, es ginge partoutnicht ohne Grundgesetzänderung und wir hätten diesnicht berücksichtigt, stimmt das einfach nicht. Erstenskommen auch andere zu dem Ergebnis, dass „Abstim-mungen“ nach Art. 20 des Grundgesetzes keine generel-le Ablehnung plebiszitärer Elemente zulassen. DasGrundgesetz lässt es offen, wie viele Kompetenzen dasVolk in den Wahlen und wie viele in Abstimmungenwahrnehmen soll.Ich halte deshalb eine Grundgesetzänderung nicht fürzwingend. Ich bin jedoch sehr damit einverstanden, dassman das Grundgesetz im Interesse der Klarheit entspre-chend ändern sollte. Genau das haben wir auch in unse-rem Gesetzentwurf vorgeschlagen. In diesem Zusam-menhang verweise ich auf Art. 1 „Änderung und Ergän-zung des Grundgesetzes“.Herrn Funke bin ich sehr dankbar dafür – er ist heuteAbend leider nicht da –, dass er in der damaligen Debat-te kritisiert hat, dass grundlegende Fragen unserer De-mokratie in einer halbstündigen Debatte zu später Stun-de diskutiert werden mussten. Aber daran ist die PDSmittlerweile schon fast gewöhnt, dass ihr das Nachtpro-gramm für kurze Beiträge zur Verfügung steht.
Im Übrigen auch Dank für die zugesagte Unterstüt-zung bei der rechtlichen Ausgestaltung der Volksinitia-tive. Die größte Zustimmung hätte ich mir allerdingsvonseiten der Regierungsparteien erhofft. Steht doch inihrem Koalitionsvertrag unter der magischen Ziffer 13ein Passus zur Einführung der Volksgesetzgebung insGrundgesetz.Die Parteispendenaffäre hat dieses Vorhaben nach-drücklich in Erinnerung gerufen. Kollege WilhelmSchmidt regt nun zum Beispiel an, eine neue Verfas-sungskommission zu bilden, in der auch über die Ein-führung von Volksbegehren und Volksentscheid dis-kutiert wird. Rita Süssmuth plädiert für die bundesweiteEinführung von Bürgerbegehren. Jürgen Rüttgers for-dert, dass die CDU ihr Verhältnis zur Bürgerbeteiligungüberdenkt, da Volksentscheide auf Bundes- und Landes-ebene einem Machtmissbrauch entgegenwirken könnten.Und auch Guido Westerwelle tritt unter der Überschrift„Mehr Demokratie wagen“ für eine Ausdehnung vonBürgerentscheiden, Bürgerbegehren und Bürgerbefra-gungen auch auf Landes- und Bundesebene ein. Wört-lich: Es ist kein Schaden für die repräsentative Demo-kratie, wenn Schlüsselentscheidungen für das deut-sche Volk auf allen Ebenen von ihm selbst unmit-telbar getroffen werden können. Selten war die Übereinstimmung in dieser Frage sogroß. Nichtsdestotrotz werden Sie unseren Gesetzent-wurf ablehnen, weil er eben von uns kommt.
– Das sagen Sie immer. –Wir bleiben dabei: Die direkte Demokratie ist ein Motorfür die dringend notwendigen Reformen des politischenSystems. Die gegenwärtige Parteienkrise darf sich nichtzu einer Demokratiekrise ausweiten. Da stehen alle de-mokratischen Parteien in der Verantwortung. Da sollteman keiner Partei Populismus unterstellen oder gar überein Urheberrecht auf das Thema „Demokratie“ streiten.Uns sollte die Demokratie so wertvoll sein, dass wir beiihrer Thematisierung nicht in ein unwürdiges Parteien-gezänk verfallen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Peter Enders.
Frau Präsidentin! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Es ist eigentlich bedauerlich,dass diese Sache im Innenausschuss nicht etwas ausführ-licher besprochen worden ist, insbesondere was die Fra-ge der Grundgesetzänderung angeht. Ich möchte an die-ser Stelle wie bereits bei der ersten Lesung darauf hin-weisen, dass es eine rot-grüne Koalitionsvereinbarunggibt und dass insofern genau dieses auf Bundesebenevorgesehen ist.
Insoweit brauchen wir uns über die Urheberfrage nichtzu streiten. Ich darf besonders daran erinnern, dassschon Willy Brandt in seiner Regierungserklärung vom28. Oktober 1969 ein Zeichen gesetzt hat, als er davonsprach, dass wir mehr Demokratie wagen würden.
Ich darf an diese historische Zeit erinnern. Im Klartext hieß dies damals, dass wir die Bürger eben nicht nur alle vier bis fünf Jahre zur Wahlurne ru-fen, sondern dass wir auch in der Zwischenzeit, wennEntscheidungen getroffen werden müssen, den Wählerhieran stärker beteiligen können. Wir sind als Sozialdemokraten für mehr direkte De-mokratie. Dafür gibt es viele Gründe. Das Instrumenta-rium selbst ist natürlich nicht neu. Das Bedürfnis lässtsich unter anderem an der vermehrten Gründung vonBürgerinitiativen und auch an der Vielzahl von Leser-briefen zu bestimmten öffentlichkeitswirksamen The-Dr. Evelyn Kenzler
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8130 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
men ablesen. Hierbei denke ich insbesondere auch andas Thema der Parteienfinanzierung. Ich kann durchaus verstehen, dass Bürgerinnen undBürger bei neu aufgekommenen Themen ein Interessedaran haben, auch zwischen den Wahlterminen mitzube-stimmen. Insoweit verstehe ich den PDS-Antrag, dieVolksentscheide mit Bundestagswahlterminen zu ver-binden, überhaupt nicht; denn dies ist ein Widerspruchin sich. Ein besonderes Bedürfnis bezüglich der Volksent-scheide besteht, wie wir es 1982 erlebt haben, natürlichauch nach Koalitionswechseln. Da gab es einige Punkte,die durchaus in dieses System gepasst hätten. Wir wollen direkt-demokratische Ansätze in unserSystem der repräsentativen Demokratie einbauen unddiese nicht abschaffen, obwohl ich zugebe, dass michdie Abstimmungsbeteiligung in anderen Ländern auchnicht gerade vom Stuhl reißt. Ich möchte der PDS ausdrücklich widersprechen,wenn sie in ihrem Antrag sehr pauschal und undifferen-ziert von Politikverdrossenheit spricht. Ich will jetztnicht auf die einzelnen Gründe eingehen, die dazu füh-ren. Aber ich glaube nicht, dass sich permanente Nicht-wähler – ich grenze diese sehr wohl gegenüber denenab, die manchmal aus Protest nicht zu einer Wahl ge-hen – an einem Mehr an direkter Demokratie wie Volks-entscheid usw. beteiligen werden. Auch ist es nicht hin-nehmbar, dass in der Begründung des Gesetzentwurfesvon einer „mangelhaften Repräsentanz der Bürgerinnenund Bürger durch die Abgeordneten“ gesprochen wird.Schauen Sie sich doch den Terminkalender vieler Politi-ker an! Vor allen Dingen auch am Wochenende habensie viele Termine. Lassen Sie mich noch zwei Sätze zu den immer wie-der zitierten Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Re-publik sagen: Der nötige Sachverstand der Bevölkerungist grundsätzlich vorhanden, um die vorhandenen Infor-mationen zu verarbeiten. Wenn Sie sich unsere Vor-schläge im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Ver-fassungskommission von 1993/94 ansehen, die nach derdeutschen Wiedervereinigung das Grundgesetz refor-mieren sollten, erkennen Sie, dass man viele Hürdeneinbauen kann, um der Gefahr der Verführung derWahlbevölkerung zu begegnen. Prinzipiell ist im PDS-Antrag richtig erkannt worden,dass solche Verfahren die direkte Demokratie viel Geldkosten. Also müssen wir uns darüber unterhalten, wiedas erforderliche Geld aufzubringen ist, und zwar so-wohl auf seiten der Antragsteller wie auch auf seiten derGegner eines Referendums. Dies ist umso wichtiger, alswir wissen, dass Unterschriftenaktionen durchaus geeig-net sind, politische Trends umzukehren; siehe Unter-schriftenaktion zum Staatsbürgerschaftsrecht in Hessen.Da alle Anzeichen darauf hindeuten, wie diese Ge-schichte finanziert worden ist, ist es sehr wichtig, sichüber die Finanzierung zu unterhalten.
Der Finanzierungsvorschlag der PDS ist eine einzigeFrechheit. Da wird doch allen Ernstes gefordert, dass dieMittel durch Kürzungen beim Verfassungsschutz, beimBundesnachrichtendienst – und besonders dreist – beimBundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicher-heitsdienstes der ehemaligen DDR aufzubringen sind.Da kann ich nur sagen: Das könnte einigen von Ihnen sopassen. Für die Arbeit der Gauck-Behörde brauchen wirin Zukunft noch viel Geld. Deshalb kommt das über-haupt nicht in Frage. Ich möchte an dieser Stelle auf etwas eingehen, waseineinhalb Jahre zurück liegt. Ich habe mich damals ge-wundert, wieso sich die PDS bei der Frage der Erhö-hung der Parteienmittel von 230 Millionen DM auf245 Millionen DM so vornehm zurückgehalten hat, sichder Stimme enthalten hat. Wenn ich davon ausgehe, dasses Volksinitiativen kaum ohne Unterstützung von Par-teien gibt, werden Sie mit Sicherheit fast ständig dabeisein. Ich kann mir also gut vorstellen, dass Sie auf dieseWeise versuchen, an die gewünschten Finanzmittel he-ranzukommen. Ich kann nur fragen: Glauben Sie, dassSie die anderen demokratischen Parteien im Hause soüber den Tisch ziehen können? Das wird wohl nicht ge-hen. Allein schon wegen der Finanzfrage gibt es jedenGrund der Welt, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich möchte noch auf einige Einzelheiten eingehen,weil heute die Gelegenheit dazu vorhanden ist. Wir wol-len eine Erweiterung und keinen Ersatz der repräsentati-ven Demokratie.
– Natürlich, aber Qualität braucht Zeit. Ich will Ihnen aneinigen Beispielen vorführen, dass Ihr Gesetzentwurfsehr schludrig gemacht worden ist. Wenn Sie mir bittezuhören wollen. Wenden wir uns einigen Problemen im Detail zu. Ei-ne wichtige Frage ist natürlich die der Mindestbeteili-gung. Wenn Sie angeben, dass bei einem Volksbegehreneine Million Wahlberechtigte ausreichend seien – einesolche Anzahl von Stimmen wäre schon aus der PDS-Klientel zu beschaffen –, so ist das inakzeptabel. Wennich mir aber, eine Konfliktsituation zwischen Parla-mentsmehrheiten, die von über 50 Prozent der Wahlbe-völkerung getragen werden, und den im Einzelfall auf-gebrachten Stimmen vorstelle, dann muss man darüberschon etwas intensiver nachdenken. Was die Kosten angeht, so sagen Sie, dass Sie diesenicht ermitteln können, da die Anzahl der Volks-begehren offen ist. Das heißt also, Sie sind bereit,durchaus über jedes Thema eine Volksinitiative, einVolksbegehren und einen Volksentscheid herbeizufüh-ren. Man muss sich einmal darüber unterhalten, nachwelchen Kriterien so etwas geschen soll. Dann noch ein Punkt, über den ich mich besondersgewundert habe: Thema Föderalismus. Sie gehen überdie Fragestellung, inwieweit die Länder zu beteiligensind, vollkommen hinweg. Wollen Sie ein duales Sys-tem haben oder wollen Sie bei zustimmungsbedürftigenGesetzen einen unmittelbaren Volksentscheid, der vomPeter Enders
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8131
normalen Bundesratsverfahren ergänzt wird? Beides zu-sammen geht nicht. Wir haben 1993/94 dazu einen de-taillierten Vorschlag gemacht, der darauf hinausläuft:Wenn ein Volksentscheid durchgeführt wird, muss esqualifizierte Mehrheiten in den einzelnen Bundesländerngeben, sodass damit regionale Besonderheiten, regionaleSonderinteressen in den Griff zu bekommen sind. Ich will es bei diesen Beispielen belassen, die zeigen,dass dieser Entwurf überhaupt nicht durchdacht ist. Ich will zum Schluss kommen und heute die Zeitnicht voll ausnutzen. Ich will nur darauf hinweisen, dassdas wieder einmal ein typisches PDS-Produkt ist:Schnellschuss, populistisch, aber nicht durchdacht.
– Und das noch schlecht abgeschrieben.
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Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Norbert Röttgen.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Richard vonWeizsäcker hat vor einigen Wochen in der „FAZ“ seineAblehnung hinsichtlich der Einführung von plebiszitärenElementen kurz und prägnant mit der Feststellung be-gründet: Das Volk ist zu groß und die Probleme sind zukomplex. Ich glaube, dass Richard von Weizsäcker da-mit auf den Punkt gebracht hat, dass Plebiszite undVolksentscheide keine praktische, keine realistische Al-ternative zur repräsentativen Demokratie sind. Wir ha-ben darüber in der ersten Lesung sehr ausführlich und,wie ich glaube, auch sehr sachlich gestritten und disku-tiert, und auch damals war das die überwiegende Mei-nung hier im Plenum.Ich will darum die Argumente, die sehr ausführlichdargelegt worden sind, gar nicht mehr im Einzelnenwiederholen. Es sind auch keine neuen dazugekommen,weder in den Ausschussberatungen noch heute von derPDS. Ich glaube nicht, dass man die Argumente heuteredundant wiederholen muss.Ich möchte nur auf einen Gesichtspunkt eingehen,nämlich auf den, ob die verschärfte – auch akute – Ver-trauenskrise gegenüber der Politik – da ist natürlichdie CDU in besonderer Weise betroffen, das ist nicht zubestreiten und wird auch von keinem bestritten; aberauch andere Parteien sind betroffen, zum Beispiel dieSPD – für uns Anlass ist, über die Frage der Einführungvon Plebisziten neu nachzudenken und sie neu zu be-werten.Ich nehme das zum Anlass, um genauer zu fragen:Was macht denn die grundlegende Vertrauenskrise ge-genüber den politischen Institutionen und gegenüber derParteiendemokratie aus? Was ist das wirklich? Nachmeiner Einschätzung haben die Menschen ihr Vertrauenin erschreckendem Umfang verloren, weil sie erkennen:Die großen Probleme sind schon seit Jahren bekannt –ob es die Arbeitslosigkeit ist oder die Frage, wie wir inder Zukunft soziale Sicherheit finanzieren, ob es Büro-kratieexzesse sind, ob es die Gesetzgebungsflut ist oderwas auch immer –, aber es kommt in diesem politischenSystem nicht zu Entscheidungen, die angesichts dieserProbleme auch nur halbwegs angemessen wären, ge-schweige denn, dass sie die Probleme lösen würden. DieBürger sagen: Ihr löst unsere Probleme nicht, ihr löst dieProbleme der Gesellschaft nicht. Das ist der Kern desVertrauensproblems, das wir sehr ernst nehmen müssen.
Nun ist die Frage: Kann die Einführung von Plebiszi-ten an dieser Situation etwas ändern, von der ich meine,dass wir sie ändern müssen? Wenn wir die Krise fest-stellen, folgt, glaube ich, zwingend daraus, dass wir eineModernisierung, eine Veränderung unseres politi-schen Systems brauchen. Das ist meine feste Überzeu-gung. Ich halte das auch für die große Herausforderung,die vor uns allen liegt. Das ist kein parteipolitischesProblem, sondern ein Problem derjenigen, denen an un-serem Staat, an unserem Gemeinwesen liegt. Ich glaube,dass auch die Frage des Ethos der Politik dabei eineneue Rolle spielen muss, dass wir nach 50 Jahren Partei-endemokratie eine Diskussion über das Ethos von Poli-tik und Politikern führen müssen, und zwar parteiüber-greifend. Ich glaube, dass die Gewichte zwischen Partei-taktik, Parteiinteresse, Allgemeinwohl und Staatswohlinzwischen nicht mehr stimmen, dass wir mehr All-gemeinwohlverpflichtung und mehr Sachorientierungbrauchen, viel mehr, als es gegenwärtig praktiziert wird,und zwar von allen Parteien. Das parteitaktische Denkenmuss zurückgedrängt werden, wenn wir insgesamt wie-der überzeugen wollen.
Ich glaube, dass Plebiszite der falsche Weg sind, undzwar aus drei Gründen. Darauf will ich mich heute Abend beschränken.
– Genau, am Abend oder fast schon am Morgen. Es istübrigens für diese Debatte typisch; wir reden immer amAbend im kleinen Kreise darüber. Aber das ist ja nichtweiter schlimm.Das Wichtigste, was wir brauchen, ist ein vernünfti-ger öffentlicher Diskurs über die Probleme. Dies ist dieerste Aufgabe, die wir lösen müssen. Wir müssen überdie Sache reden, und zwar in vernünftiger Weise. Heutefehlt es am öffentlichen Gebrauch der Vernunft. Nachmeiner festen Überzeugung ist das parlamentarischeVerfahren mit seinen vielfältigen Rationalität stiftendenElementen – mit Sachverständigenanhörungen, Pro undContra der Diskussion, Folgenabschätzung, Kompro-misssuche – der auf die Ja-Nein-Alternative reduziertenplebiszitären Fragestellung weit überlegen. Sie ist diePeter Enders
Metadaten/Kopzeile:
8132 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
große Chance der Vereinfacher, aber nicht die der Diffe-renzierer.
Meine Befürchtung ist, dass der Diskurs nicht rationaler,sondern irrationaler wird.
Zweiter Grund: Wir brauchen Entscheidungsfreu-digkeit der Institutionen, Flexibilität und die Fähigkeitzur Reaktion auf veränderte Situationen. Wir leben ineiner Zeit permanenter und rasanter Veränderungen.Nach meiner Einschätzung und Bewertung bedeutenPlebiszite eine ganz langwierige, mühsame Art der Ent-scheidungsfindung. Wer kritisiert eigentlich die Volks-entscheide? Noch mehr: Wer korrigiert sie, wenn einmaleine Entscheidung getroffen worden ist? Das ist nochmühsamer und langwieriger. Mit anderen Worten: Wirwürden die politische Entscheidungsfindung in Zeiteneiner rasanten Veränderung der Wirklichkeit betonieren.Das Gegenteil aber ist nötig.Den dritten Grund habe ich eben schon angespro-chen: Zu den Erfordernissen eines Politikwandels in un-serem Land gehört eine stärkere Allgemeinwohlorien-tierung. Ich will hier nicht predigen. Ich glaube auchnicht, dass Predigen hierüber nötig ist; vielmehr ist eineveränderte Praxis erforderlich. Natürlich müssen Plebis-zite organisiert werden. Dafür wird Geld gebraucht.Meine Befürchtung ist, dass Plebiszite die Gefahr ber-gen, dass Partikularinteressen mit entsprechenden Fi-nanzmitteln auf Kosten des Allgemeinwohls durchge-boxt werden.
Das Parlament ist dem Allgemeinwohl verpflichtet,nicht dem Teil. Ich fürchte, dass Partikularinteressendann noch stärker werden. Wir haben keinen Mangel anPartikularinteressen, sondern einen Mangel an Allge-meinwohldenken.Diese drei Gründe sprechen dafür, dass Plebiszite eher eine Verschärfung der Krise herbeiführten als einBeitrag zu ihrer Lösung wären. Wir brauchen nicht ei-nen Wechsel des politischen Systems, sondern müssendas politische System verbessern. Das ist nötig, aberauch möglich. Dafür, dass wir es können, nenne ich nurein Stichwort, ohne inhaltlich weiter darauf einzugehen.Ich denke zum Beispiel an die überfällige Reform desFöderalismus mit der Auszehrung der Länderkompeten-zen. Wir brauchen eine klare Kompetenzverteilung zwi-schen Bund und Ländern, eine Auflösung der Mischver-antwortungen mit ihrem enormen Brems- und Blocka-depotenzial. Die einzelnen Ebenen müssen klare Ent-scheidungsmöglichkeiten und Kompetenzen haben. Daswäre ein Beitrag zur Effizienzsteigerung des politischenSystems; es gibt auch andere Beispiele.Ich glaube also, dass diese Diskussion geführt werdenmuss. Wir verschließen uns ihr nicht, sind als CDU/CSU-Bundestagsfraktion aber der klaren Überzeugung,dass Plebiszite das politische System in Deutschlandnicht verbessern, sondern verschlechtern würden.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Cem Özdemir für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist sicherlichZufall, dass wir uns am heutigen Tage mit diesem The-ma beschäftigen. Trotzdem passt es ein bisschen zu derUmgebung, in der wir diese Diskussion führen: zu demParteispendenskandal und allem, was damit zu tun hat.Die Vertrauenskrise, die die Parteien, insbesondere dieehemalige Regierungpartei CDU/CSU, zurzeit zu bewäl-tigen haben, ist ein Anlass, darüber nachzudenken – ichhabe durchaus ernst genommen, was der Kollege Rött-gen gesagt hat –, mit welchen Formen wir dieser Ver-trauenskrise begegnen können. Wir alle werden sie aus-zubaden haben. Das gilt in stärkstem Maße für diejeni-gen, die vorhaben, noch längere Zeit in der Politik zubleiben. Deshalb ist jeder Ansatz von jeder Fraktion,sich hierüber Gedanken zu machen, zu begrüßen.Eine moderne Zivilgesellschaft muss – das gilt mitSicherheit für alle Fraktionen – einen entschlossenenSchlussstrich unter jede Art von Bunkermentalität zie-hen. Macht, die wir übertragen bekommen, ist auf Zeitgeliehen. Wir sollten im Bewusstsein dessen handeln.Wir wollen keinen Obrigkeitsstaat, sondern den mündi-gen Bürger. Auch das sollte für alle Fraktionen diesesHauses gelten. Deshalb wird man sich über direkte De-mokratie hinaus, auf die ich gleich zu sprechen komme,beispielsweise auch Gedanken über Akteneinsichtsrech-te machen müssen. Das steht übrigens bereits in der Ko-alitionsvereinbarung. Auch das ist ein sehr wichtigerPunkt, der, wenn man so will, ebenfalls zum Thema „direkte Demokratie“ gehört. Ich möchte eines klarmachen – das nehme ich sehrernst –: Jeder falsche Zungenschlag, der in Richtung An-tiparlamentarismus geht, ist in dieser Debatte dringendzu vermeiden. Es geht nicht darum, dass wir Parlamentemit demokratisch gewählten Volksvertretern schwächenwollen. Wir müssen uns vielmehr Gedanken darübermachen, wie wir die Bürgerinnen und Bürger zwischenden Wahlen „abholen“ können,
wie wir dazu beitragen können, dass klar wird, dassDemokratie mehr ist, als alle vier oder, wie in manchenBundesländern, alle fünf Jahre ein Kreuz zu machen.Das ist es, worum es uns geht. Wir wollen die parlamen-tarische Demokratie nicht ersetzen oder abschaffen,sondern den im Grundgesetz bestehenden Art. 20 – dieVäter und Mütter des Grundgesetzes haben sich damalsetwas dabei gedacht – ausbauen, ergänzen.Norbert Röttgen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000 8133
Meine Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich, seitsie im Bundestag sitzt, immer wieder dafür eingesetzt,Elemente direkter Demokratie, Volksinitiativen,Volksbegehren und Volksentscheide, in unsere Verfas-sung aufzunehmen. Insofern hat die PDS dafür mit Si-cherheit nicht das Urheberrecht. Vieles von dem, wasSie schreiben – ich würde sagen, die besseren Teile –,haben Sie von uns.
Wenn man allerdings den konkreten Gesetzentwurf derPDS betrachtet, muss man feststellen: Die Zielsetzungist richtig, die Form aber, in der dies verankert ist, istkeinesfalls zustimmungsfähig. Der Entwurf fällt weithinter den Stand der Debatte zurück, und zwar nicht nurin unserer Fraktion oder in der Bundesregierung, son-dern auch bei allen Initiativen, die sich damit beschäfti-gen. Wir müssen über Art. 20 hinaus die grundlegendenVerfahrensschritte, die Rechte der Initiativen und dasZustandekommen der Gesetze genau im Grundgesetzregeln. All dies aber geht bei Ihnen durcheinander undist lückenhaft. Ein einfaches Bundesgesetz, in dem allesfestgeschrieben werden soll, reicht nicht aus. Wir müs-sen fein säuberlich trennen, wie eine Grundgesetzän-derung aussehen muss und was in das Ausführungsge-setz gehört.Seit dem Verfassungsentwurf des Kuratoriums für ei-nen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder ausdem Jahre 1991, seit den Grundgesetzentwürfen meinerFraktion aus der 12. und 13. Legislaturperiode, seit denAnträgen in der Gemeinsamen Verfassungskommission –daran wurde heute schon erinnert – und – damit klarwird, dass wir die Weisheit nicht gepachtet haben –, seitdem Entwurf aus der Evangelischen Akademie in Hof-geismar ist es Konsens, dass wir in einem eigenen Ver-fassungsartikel die drei Stufen festlegen müssen: erstensdie Initiative, zweitens das Begehren, drittens denVolksentscheid. Diese drei Punkte müssen durch eineGrundgesetzänderung geregelt werden. Beispielsweisemuss klar sein, wie viele Unterschriften nötig sind, umdie einzelnen Verfahrensschritte einzuleiten. Derartgrundlegende Dinge kann man nicht erst in einem Bun-desgesetz festschreiben. Die innere Beziehung der ein-zelnen Verfahrensschritte verschwimmt ansonsten völ-lig. Wenn man schon abschreibt, so hätte man – das istmeine Empfehlung – an dieser Stelle vollständig ab-schreiben sollen.Es gibt aber einen Punkt, der vielen auch in meinerFraktion, die sich damit beschäftigen, sehr wichtig ist.Es geht darum, Leuten wie Herrn Frey Möglichkeitendes Missbrauchs des Verfahrens zu entziehen. Ich weiß,dass das ein ganz sensibler Punkt ist und dass es höchstkompliziert ist, dies verfahrenstechnisch zu regeln. Manwird sich auch der Frage stellen müssen, wie es möglichist, in der Antragsprozedur ein Instrumentarium zu ha-ben, um solche Abstimmungen von vornherein zu ver-hindern.Da meine Redezeit praktisch schon abgelaufen ist,möchte ich zum Schluss sagen: Die Vertrauenskrisezwingt uns dazu, einmal andere Wege zu gehen als die,die wir bisher eingeschlagen haben. Ich weiß, dass dasThema „direkte Demokratie“ nicht unumstritten ist. Wirals neue Regierung wissen, dass wir die Mehrheit imBundestag und auch im Bundesrat brauchen. Dahermein Appell an die Opposition, an die VolksparteiCDU/CSU, aber natürlich auch an die F.D.P. und diePDS: Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken,ob der Weg „mehr direkte Demokratie“ nicht ein Wegist, den wir gemeinsam gehen können! Wir brauchen dieMehrheit in beiden Häusern. Ich glaube, dass man sichüber die einzelnen Verfahrensschritte sicher noch unter-halten kann. Die Bundesregierung hat bewusst keinendetaillierten Antrag vorgelegt, weil uns klar ist, dass wirdas Gespräch mit der Opposition suchen müssen. Wir wollen eine lebendige Demokratie, mehr als eine„Zuschauerdemokratie“. Wir laden Sie ein, mit uns ge-meinsam daran zu arbeiten. Tragen wir gemeinsam dazubei, dass wir dieses Projekt in dieser Legislaturperiodeein gehöriges Stück voranbringen!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Max Stadler für die
F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Röttgen hat als „Kron-
zeugen“ für seine Auffassung einen früheren Bundes-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Richard von Weizsäcker. Lieber Kol-lege Röttgen, Sie wissen natürlich ganz genau, dass maneinen weiteren Bundespräsidenten für die Gegenauffas-sung, nämlich für mehr plebiszitäre Elemente, nennenkann, der auch der CDU angehört: Roman Herzog.
Es ist nicht neu, dass beide Auffassungen prominenteBefürworter haben. Auch die Argumente, das Pro undContra, wurden oft ausgetauscht. Sie haben Recht: Esgibt keine neuen Argumente zu der Problematik; aber esgibt eine neue Situation.
Diese besteht darin, dass man sich, wenn die Repräsen-tanten nicht mehr das Vertrauen genießen, nicht wun-dern darf, wenn die Repräsentierten die Entscheidungenstärker in die eigene Hand nehmen wollen. Obwohl dasThema schon so oft Gegenstand parlamentarischer Bera-tungen im Bundestag war und obwohl es stets zur Ab-lehnung sämtlicher Initiativen gekommen ist, wissen wiralle ganz genau, dass das Thema seit der Vertrauens-krise, die die CDU mit dem Parteispendenskandal aus-gelöst hat, neu auf der Agenda ist. Deswegen ist es legitim, dass man über vielfältigeMöglichkeiten der stärkeren Beteiligung von Bürgerin-nen und Bürgern an politischen Entscheidungen nach-denkt. Dazu gehört zum Beispiel die Direktwahl vonBürgermeistern und Landräten in allen Bundesländern.Dazu gehören die Einführung von Bürgerbegehren undCem Özdemir
Metadaten/Kopzeile:
8134 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2000
Bürgerentscheid auf der kommunalen Ebene sowie dieEinführung von Volksbegehren und Volksentscheid inallen Bundesländern.Damit komme ich zu der praktischen Nagelprobe deransonsten ja nur theoretisch hin- und hergewendetenArgumente. Herr Kollege Stiegler, ich spreche Sie ganzbesonders an: Sind denn die Erfahrungen in Bayern mitVolksbegehren und Volksentscheid wirklich so schlecht,
dass man auf der Bundesebene leichter Hand darüberhinweggehen könnte? Richtig ist, dass für ein so großesGebilde wie die Bundesrepublik Deutschland – das istnoch einmal ein Unterschied zur Länderebene – nichtleicht zu entscheiden ist, wie man die Grenzen richtigaustariert. Einen Punkt hat der Kollege Röttgen sehr zutreffendbeschrieben: Der Volksentscheid hat einen kardinalenStrukturfehler, nämlich die Reduzierung auf die Ja-Nein-Frage. Das ist aber noch gar nicht das ganz Ent-scheidende. Es fehlt vor allem der Diskussionsprozess,der im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren mög-lich ist und der zu Veränderungen von Vorlagen führt.Ein gängiger Spruch lautet: Kein Gesetz verlässt denBundestag so, wie es hineingekommen ist.
In diesem Prozess steckt ein Innovationspotenzial, dasder Volksentscheid, so wie er von der PDS vorgeschla-gen wird, nicht hat. Die PDS bleibt bei einem traditio-nellen Modell des Volksentscheids und ist insofern mitihrem „revolutionären Vorstoß“ ein wenig zu konserva-tiv geblieben.
Man muss nach flexibleren Lösungsmöglichkeiten su-chen. Die Referendumsdemokratie der Schweiz bietetentsprechende Vorbilder, die der Kollege Enders, ichund andere uns in der nächsten Zeit einmal näher an-schauen wollen, denn die Diskussion wird auch inDeutschland weitergehen.Ich fasse zusammen. Der vorliegende Entwurf istnicht in allen Punkten der Weisheit letzter Schluss. Erentspricht aber – das will ich betonen – vor allem in demMoment der Einführung der Volksinitiative langjährigerliberaler Programmatik, sodass es eigentümlich wäre,wenn die F.D.P. bei einem Kernpunkt des Entwurfs, densie selber seit langem fordert, nämlich bei der Volksini-tiative, mit Nein stimmen würde. Andererseits halten wirden Entwurf auch nicht für zustimmungsfähig. Daherbringen wir mit unserer Enthaltung zum Ausdruck: Eshandelt sich um einen teilweise richtigen Ansatz, der aber in manchen Bereichen, nämlich bei der Ausgestal-tung des Volksentscheids, zu konventionell geraten ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der PDS zur dreistufigen Volksge-
setzgebung auf Drucksache 14/1129. Der Innen-
ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/2159, den Ge-
setzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzent-
wurf der PDS auf Drucksache 14/1129 abstimmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei Enthal-
tung der F.D.P.-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 18. Februar 2000,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen allen
eine geruhsame Nacht.