Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröff-
net. Wir setzen nun die Haushaltsberatungen – Punkt I –
fort:
a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2000
– Drucksachen 14/1400, 14/1680 –
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus-
haltsausschusses zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 1999 bis 2003
– Drucksachen 14/1401, 14/1680, 14/1925 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
Dr. Christa Luft
Ich rufe auf:
Einzelplan 04
Bundeskanzler und Bundeskanzleramt
– Drucksachen 14/1904, 14/1922 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Lothar Mark
Antje Hermenau
Oswald Metzger
Dankward Buwitt
Steffen Kampeter
Dr. Günter Rexrodt
Jürgen Koppelin
Dr. Uwe-Jens Rössel
Es liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. und der Fraktion der PDS vor. Ich weise darauf
hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache über den
Einzelplan namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache vier Stunden vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege
Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Am letzten Wochen-ende haben sich in Florenz die Führer der europäischenLinksregierungen – Tony Blair, Massimo D´Alema,Lionel Jospin und Gerhard Schröder – mit Bill Clintongetroffen:
Vorabmeldungen über dieses Treffen haben ein ganz be-schauliches Bild gezeichnet: Gerhard Schröder mit sei-ner internationalen Toskana-Fraktion auf der Suche nachdem dritten Weg.
Mit Quellen der Inspiration – Sie sollten da auch einmalhingehen – ist die Region Florenz ja bekanntlich reichgesegnet: von Machiavelli bis Chianti, nur Brioni liegtweiter südlich.
Herr Bundeskanzler, es ist schon auffällig, wie wenignach dem Florenzer Treffen von Ihren Thesen zur Er-neuerung der europäischen Sozialdemokratie zu hörenund zu lesen war, die Sie zusammen mit dem britischenPremier Tony Blair haben verfassen lassen. Der Verfas-ser auf deutscher Seite hieß damals Hombach. Das In-
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teresse an den dort zusammengefaßten Sprechblasenscheint zumindest Presseberichten zufolge gering gewe-sen zu sein. Vor allen Dingen war Ihre eigene Sorge zugroß, die Genossen könnten Ihnen diese Thesen nocheinmal übelnehmen. Es steht ein SPD-Parteitag an, aufdem die Genossinnen und Genossen die Möglichkeit ha-ben, Noten und Quittungen zu verteilen.Es ist ganz klar: Es reicht nicht aus, den Begriff„neue Mitte“ breitzutreten, um die Wählerschaft derSPD zu vergrößern. Es reicht nicht aus, sich den Deck-mantel der Modernität umzuhängen, um die SPD mit derRealität zu versöhnen. Die eigentliche Aufgabe wäre jadie Versöhnung der SPD mit der Realität in der Welt.
Da haben Sie noch sehr viel vor sich. Ich wünsche Ihnendabei, nachdem die Mehrheitsverhältnisse im DeutschenBundestag so sind, wie sie sind, im Interesse unseresLandes viel Erfolg.
Vor allem reicht es nicht aus, immer wieder dieSchlachten von gestern zu schlagen.
Sie müssen konkret werden. Der Hinweis auf diesesBuch, das Herr Hombach geschrieben hat, reicht nicht.
Auch nebulöse Ankündigungen reichen nicht. Deutsch-land braucht eine klare, verläßliche marktwirtschaftlichePolitik erhardscher Prägung. Daran hapert es inDeutschland seit einem Jahr, meine sehr verehrten Da-men und Herren.
Wissen Sie, wie der dritte Weg, der in Florenz einge-schlagen worden ist, aussieht? Man hat offensichtlichnicht miteinander, sondern mit Hilfe von Zeitungenübereinander geredet. Das wird beispielsweise durch dasbelegt, was der „Independent“ an Kritik von Tony Blairan Ihrer Haltung zu Mannesmann/Vodafone geschriebenhat. Herr Bundeskanzler, ich sage es vorneweg, damitkein Zweifel entsteht – man weiß ja, daß sehr rasch ge-fälscht wird –: Unser aller Bestreben geht dahin, mög-lichst vielen Mitarbeitern von Mannesmann auch in Zu-kunft sichere Arbeitsplätze zu garantieren. Das geht aberimmer nur dann, wenn Unternehmungen erfolgreichsind. Wir wissen auch, daß der Mannesmann-Konzernplant, den größten Teil der Arbeitsplätze im Montan-und Maschinenbaubereich abzuspalten und in eine eige-ne Gesellschaft einzubringen, die dann entweder direktan die Börse geht oder an andere Gesellschaften ver-kauft wird oder mit anderen großen Gesellschaften ko-operiert. Deshalb gilt unsere allererste Sorge natürlichden Arbeitsplätzen außerhalb des Telekommunikations-bereichs. Der Telekommunikationsbereich ist von derSache her heute global und international verflochten.Deswegen interessiert mich, Herr Bundeskanzler –Sie haben hinterher Gelegenheit, dazu Stellung zu neh-men –, ob Sie bei solchen Gelegenheiten zu Tony Blairdasselbe wie zu den Betriebsräten sagen.
Sagen Sie bitte auch etwas dazu, wie wünschenswertInvestitionen bei uns im Land sind. Sagen Sie dannauch noch, wie Sie es mit Kapitalinvestitionen bei unsim Lande halten. Ich sage hier ganz klar: Die letztend-lich wirksamste Form, darüber mitzubestimmen, wasEigentümer tun – bei dieser Entscheidungsfindung zieltman direkt auf die Eigentümer dieser Konzerne ab –, ist,möglichst viel Investivkapital in Arbeitnehmerhand zuhaben. Das ist bisher insbesondere von der IG Metallimmer blockiert worden, weil man nie den wirklichselbständigen Arbeitnehmer wollte.
– Sie können das hinterher klarstellen.
Wir brauchen tiefgreifende Reformen dringenderdenn je in Deutschland. Statt dessen herrschen bei unsStillstand, Rückschritt und Chaos. Was bedeutet ein JahrSchröder? Ich will es Ihnen gern aufzählen, meine sehrverehrten Damen und Herren: Das heißt Stillstand amArbeitsmarkt, das heißt Stillstand bei der Steuerreform,das heißt Stillstand bei der Rentenreform – dazu kommeich noch –,
das heißt Rückschritt in der Energiepolitik, das heißtRückschritte in der Arbeitsmarktflexibilisierung, dasheißt Chaos bei den 630-DM-Jobs, und das heißt Chaosbei der Gesundheitsreform.
Seit einem Jahr leidet Deutschland unter einem „Cha-Cha-Cha-Kanzler“, wie es Helmut Herles im „General-Anzeiger“ geschrieben hat. „Cha-Cha-Cha“ bedeuteteinen chaotischen Schritt nach vorn, dann einen Nach-besserungsschritt nach hinten, schließlich drei Schritterotgrüner Kakophonie auf der Stelle.
Man kommt damit aber nicht vorwärts im Land. Das istunser eigentliches Problem. Wenn man die rotgrünenDissonanzen auf sich wirken läßt, fällt einem das Bildvon den Bremer Stadtmusikanten ein. Die BremerStadtmusikanten sind dagegen ein Kammerorchester,meine sehr verehrten Damen und Herren.
Michael Glos
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6507
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Notwendige Reformen werden nicht angepackt, Be-währtes wird sachfremd und systemwidrig verändert.Das beste Beispiel dafür ist die Rentenversicherung. Ersthatten Sie den Menschen vorgegaukelt, es gehe ohneschmerzhafte Eingriffe. Dann setzten Sie willkürlich dieRentenformel aus; Sie taten es angeblich, um denStaatshaushalt zu sanieren. Mit den unseriösen Verspre-chungen, nach zwei Jahren wieder zur nettolohnbezoge-nen Rente zurückzukehren, haben Sie immer noch nichtdie Glaubwürdigkeit bei den Menschen gefunden, weilIhre Versprechungen, Herr Bundeskanzler, eine sehrkurze Halbwertszeit haben.
Ich habe in meiner Kindheit den Spruch gelernt:„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn erauch die Wahrheit spricht.“
Das eigentliche Problem ist Ihre Glaubwürdigkeit, HerrBundeskanzler.
– Wenn es wieder ruhig ist, bin ich gerne bereit weiter-zureden.Bei Ihrem Geschrei fallen mir noch andere Kinder-reime ein. Zum Beispiel: Getroffener Hund bellt.
Bei der Rente ist es noch viel schlimmer. Hier betä-tigt sich auch noch Herr Zwickel und singt irgendwelcheSirenengesänge für eine Rente mit 60. Bei Zwickel undSirenengesängen fällt mir allerdings nicht das Bild vonOdysseus ein, sondern da fallen mir nur Feuerwehrsire-nen ein.Auch die Riestersche Rentenpolitik haben Sie, HerrBundeskanzler, zu verantworten. Sie bestimmen dieRichtlinien der Politik und können sich nicht dauerndhinter anderen verschanzen. Diese Rentenpolitik ist kei-ne Rentenpolitik mit einer demographischen Kompo-nente, sie ist eine Rentenpolitik mit ausschließlich de-magogischer Komponente, meine Damen und Herren.
In diesem Urteil weiß ich mich mit dem Sachverstän-digenrat einig, der sagt: Das ist reine Umfinanzierung;das hat nichts mit Rentenreform zu tun. Dafür hat dieseBundesregierung nach wie vor kein schlüssiges Kon-zept. Wenn Sie auf der Suche danach sind, sind wir ger-ne bereit, Ihnen dabei zu helfen. Ich werde hierauf nocheinmal zurückkommen.Das Perpetuum mobile Ihrer Rentenreform heißtÖkosteuer. Inzwischen können die Autofahrer beobach-ten, wie die Zahlen an der Tanksäule rasen. Die Digital-anzeigen sind das einzige, was heute noch auf deutschenAutobahnen rasen kann.
Denn auf den Autobahnen machen sich immer mehrStaus breit. Wir gehen jetzt einem Benzinpreis von 2DM entgegen. Das tut den Leuten weh.
Benzin und Heizöl sind 30 Pfennige teurer als vor einemJahr. Dies hat – das wissen wir auch – nur zum Teil mitder Ökosteuer zu tun. Aber Sie haben die Situation da-mit verschärft, und entgegen den Versprechungen desBundeskanzlers, die Steuer werde 6 Pfennig betragen,sind für die nächsten Jahre insgesamt 30 Pfennig Steuer-erhöhung beschlossen worden.
Herr Bundeskanzler, Sie wollen der Autokanzler sein.Ich bin dafür: Auf jede Zapfsäule gehört ein Abziehbildvon Ihnen, auf dem stehen sollte: „Autokanzler GerhardSchröder läßt grüßen.“
Unter Ihrer Führung preßt die Bundesregierung dieAutofahrer aus wie Zitronen.
Die Autofahrer werden sicherlich auch schauen, als obsie in eine Zitrone gebissen hätten, wenn sie sehen, wasan der Tankstelle vor sich geht.Ein weiteres Beispiel für Chaos ist die Energiepoli-tik. Wider alle Vernunft hält die Bundesregierung amAusstieg aus der Kernenergie fest. Drohkulissen einesgesetzlich verordneten Ausstiegs wechseln mit Harmo-niebekundungen eines Ausstieges im Konsens ab. Ein-mal Trittin, einmal Müller, oder was?
Dies ist ein unwürdiges Schauspiel. Es ist auch ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Energiewirtschaft, wobei derKater Jürgen heißt. Jürgen Trittin ist der Kater, der mitder deutschen Energiepolitik ein Katz-und-Maus-Spielversucht. Die Methode, alle Szenarien auszumalen, bei-spielsweise nach dem Motto: „Wenn du nicht so willst,verstopfe ich dir die Abtransporte von Kernbrennstä-ben“, ist im Prinzip die gleiche, als wenn der Henker ineiner großzügigen Geste den Delinquenten die Formseiner Hinrichtung frei wählen läßt.
Michael Glos
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6508 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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– Herr Trittin lacht. Das ist sein gutes Recht. Herr Trit-tin, Sie oder der Bundeskanzler können nachher etwasdazu sagen. Sie arbeiten ja insgeheim an einem Aus-stiegsgesetz.
Sie wollen nämlich den Ausstieg erpressen. Herr Bun-deskanzler, sind Sie bereit, ein solches Gesetz einzu-bringen, zu unterschreiben? Sind Sie dann auch bereit,etwaige Schadenersatzansprüche aus der Bundeskassezu regeln, also vom Steuerzahler bezahlen zu lassen?
Herr Bundeskanzler, dies ist reines Schutzgeld für Ihrengrünen Koalitionspartner. Bevor Schutzgeld gezahltwird, hat es eine Schutzgelderpressung gegeben. Daswissen wir auch.
Wie unsinnig diese Ausstiegsforderungen sind, wirdeinem klar, wenn man sieht, daß sich der europäischeEnergiemarkt immer stärker harmonisiert und daß dieStadtwerke – auch in sozialdemokratisch geführtenStädten – ihren Strom heute bei belgischen und französi-schen Konzernen einkaufen.
Es heißt doch immer, der Strom komme aus der Steck-dose, auch der Atomstrom. Aber der Atomstrom kommtdann von französischen Kernkraftwerken und solchenim Ostblock, die weniger sicher sind als deutsche. Dasist die Wahrheit.
Haben Sie in Florenz, zum Beispiel mit Jospin, ein-mal über die Öffnung des französischen Energiemarktesgesprochen? Es hätte sich gelohnt, das zu tun, denn nachdem jetzigen Stand können zwar die Franzosen unsStrom liefern, aber umgekehrt geht es nicht. Das sinddoch die Themen, die man bei solchen Treffen bespre-chen muß.Herr Trittin, wenn Sie von Ausstieg sprechen, heißtdas letztendlich Ausstieg aus der Wertschöpfung inDeutschland und Ausstieg aus den Arbeitsplätzen in die-sem Bereich.Die Bundesregierung handelt auch in anderen Berei-chen konsequent nach dem Motto: Versprochen, gebro-chen. Versprochen war eine deutliche Reduzierung derArbeitslosenzahl, statt dessen Stillstand in Deutschland.Versprochen war der Aufbau Ost in verstärktem Tempo,statt dessen steigt die Arbeitslosigkeit in den neuen Län-dern. Versprochen war, die mittelständische Wirtschaftzu fördern, statt dessen wurden den MittelständlernSteuererhöhungen, Ökosteuer, 630-DM-Chaos undRücknahme wichtiger Reformen zugemutet. Verspro-chen war, die Finanzkraft der Kommunen zu stärken,statt dessen werden milliardenschwere Lasten auf diekommunalen Haushalte abgewälzt. Und das alles nenntHerr Eichel dann Sparen!Versprochen war, innerhalb von fünf Jahren die Inve-stitionen für Forschung und Bildung zu verdoppeln, stattdessen werden diese Investitionen bis 2003 weit zurück-geführt; sie werden deutlich niedriger sein als 1998.
Versprochen war ein Verkehrssystem, das die flächen-deckende Mobilität der Menschen gewährleistet, stattdessen werden Straßenbau- und Schieneninvestitionenbis zum Jahr 2003 um 7,5 Milliarden DM gekürzt. DerVerkehrskollaps in Deutschland ist vorprogrammiert.
Ich möchte das zum Anlaß nehmen, etwas über diegegenwärtigen Schwierigkeiten der Bauwirtschaft,insbesondere des Holzmann-Konzerns, zu sagen. Diebeste Methode, Bauarbeitern Arbeit zu geben, ist, Inve-stitionen zu stärken, sowohl öffentliche als auch privateInvestitionen.
Unsere Sorge gilt natürlich in allererster Linie denmittelständischen Geschäftspartnern, den Zulieferern,denen, die darauf warten, daß ihre Projekte fertiggestelltwerden, und vor allen Dingen allen dort Beschäftigten.Es muß jeden mit Sorge erfüllen, wenn er sieht, was dortgeschieht.
Aber eines ist ganz klar: Die Kosten für Mißmanage-ment kann nicht der deutsche Steuerzahler pauschalübernehmen. Das würde unser System nicht vertragen.
Deswegen sind die Eigentümer dran. Die Eigentümersind zum großen Teil große Banken. Es sind auch dieje-nigen mit in die Verantwortung zu bringen, die im Auf-sichtsrat gesessen haben und wohl eher weniger Auf-sicht und sehr wenig Rat ausgeübt haben, wenn man dasErgebnis sieht.Herr Bundeskanzler, nach Presseberichten werden Sieheute abend Ihre Bemühungen fortsetzen, eine Rettungletztendlich der Arbeitsplätze zu erreichen. Ich glaube,Sie sollten mehr auf die Arbeitsplätze als auf die Exi-stenz eines Konzerns, und wenn er noch so traditions-reich ist, abstellen.
Michael Glos
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6509
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(D)
– Das muß kein Widerspruch sein. – Jedenfalls wünscheich Ihnen, daß Sie bei den Bemühungen, die RolandKoch und Petra Roth begonnen haben,
mehr Autorität haben. Allerdings ist am Schluß die Fra-ge zu stellen, warum bei dem gleichen Wollen allerkonkrete Angebote und Hilfen in erster Linie von derStadt Frankfurt gekommen sind.
Aber wie gesagt: Im Interesse der Arbeitnehmer dortgönne ich Ihnen herzlich den Erfolg. Es ist dann auchein Erfolg des hessischen Ministerpräsidenten Koch undder Oberbürgermeisterin Petra Roth.
– Ist das so schlimm? Es ist doch beschämend, daß esIhnen nicht in allererster Linie um die Arbeitsplätze derArbeitnehmer geht, sondern daß Sie sofort in ein billigesparteipolitisches Geheule ausbrechen, wenn man überdieses Thema spricht.
Versprochen war, die ländlichen Räume zu stärkenund die Landwirtschaft in Deutschland zu sichern. Stattdessen bringt die Regierung Schröder die Bauern um25 Prozent ihres Einkommens und die Bauern werden zuFreiwild erklärt.
Versprochen war, jedem den gleichen Anspruch aufqualitativ hochwertige medizinische Versorgung zusichern. Statt dessen bringt die rotgrüne Gesundheits-reform den Menschen Mangelverwaltung, Rationalisie-rung und eine Zweiklassenmedizin.
Herr Bundeskanzler, Sie kennen sicher den alten so-zialistischen Kampfspruch – ich habe ihn oft um die Oh-ren geknallt bekommen; als Blüm und Seehofer Ge-sundheitsreformen durchgeführt haben, wurde dies im-mer als Motto herangezogen –: „Weil du arm bist, mußtdu früher sterben.“ Daß das aber ausgerechnet unter Ih-rer Kanzlerschaft mit Inhalt erfüllt werden soll, finde ichein ganz starkes Stück. Es wäre gut, wenn Sie auch dazuetwas sagen würden.
Herr Bundeskanzler, Verteidigungsminister RudolfScharping konnten Sie nur mit der Zusage in dieses Amtlocken, daß der Wehretat bis zum Abschluß der Arbei-ten der Wehrstrukturkommission zur Mitte der Legisla-turperiode nicht gekürzt wird. Das war die öffentlich ge-gebene Zusage. Sie hatten noch zu Beginn der Legisla-turperiode eingeräumt: Die Bundeswehr stößt beim Spa-ren „mit dem Helm an die Decke“. Demnach ist baldnicht nur der Helm verbeult, sondern auch der Kopf dar-unter; so stark stößt das jetzt an die Decke, was Sie mitunserer Bundeswehr vorhaben.
Die Realität bei Gerhard Schröder ist folgenderma-ßen: bis 2003 Kürzungen von über 18 Milliarden DM imVerteidigungsbereich. Das hat zur Folge: Beim Anteilder Verteidigungsausgaben am Bruttosozialprodukt fälltDeutschland innerhalb der 19 NATO-Staaten auf den17. Platz zurück – vor Luxemburg mit seiner 1 000-Mann-Armee und allerdings auch vor Island; denn diehaben überhaupt keine Armee.
Wenn Sie noch Österreich in die NATO holen, kann essein, daß Deutschland einen Platz weiter vorrückt. Denndie Situation dort in bezug auf das, was man für dieVerteidigung ausgibt, ist noch schlimmer.Deswegen hat NATO-Generalsekretär Robertsonrecht: Wenn Deutschland als eines der größten NATO-Länder ein schlechtes Beispiel gibt, dann dient das denPartnern als Vorwand, auch ihren Verteidigungsetat zukürzen. All dies hat verheerende Folgen für die Einsatz-fähigkeit des gesamten westlichen Bündnisses, insbe-sondere der Europäer.Herr Bundeskanzler, ich fordere Sie deshalb auf:Kehren Sie beim Verteidigungshaushalt zur Finanzpla-nung von Helmut Kohl und Theo Waigel zurück!
– Ich verstehe diese Aufregung nicht. – Dies ist nötig,um das beschädigte Vertrauen unserer Partner, insbe-sondere das der USA, zurückzugewinnen. Ich hatte un-längst ein Gespräch im Pentagon. Sie sollten sich diedortigen Verantwortlichen einmal anhören. Die sagenhöflich, sie wollten nicht in die deutsche Innenpolitikhineinreden, aber als Bündnispartner seien sie von tieferSorge darüber erfüllt, was hier vor sich gehe und wasman der Bundeswehr und damit auch dem westlichenBündnis zumuten wolle.
Wir wollen auch, daß die Beschlüsse zur europäi-schen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein festesFundament haben. Wir wollen verhindern, daß „MisterGASP“, Herr Solana, ein Mann ohne Geld wird. GASPheißt nicht: Geld alle, Solana pleite.
Dieses Amt muß mit Inhalt erfüllt werden.
Michael Glos
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6510 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Wir wollen unser Gewicht in der NATO nicht verspie-len. Auch hier steht die Glaubwürdigkeit unseres Landeslängerfristig auf dem Spiel.Ihre Verteidigungspolitik ist letztendlich so unglaub-würdig wie Ihre Außenpolitik. Auch hierzu möchte ichein paar Kostproben bringen. Die WidersprüchlichkeitIhrer Außenpolitik wird am allerbesten am BeispielTürkei deutlich: Einerseits will Herr Fischer der Türkeiden Status eines EU-Beitrittskandidaten einräumen;nach Presseberichten wollen Sie das in Helsinki durch-setzen. Andererseits will die Partei des Außenministersdie Lieferung von Panzern an den NATO-Partner Türkeiverhindern. Ich sehe hier ganz gewaltige Widersprücheim Verhalten.Diese widersprüchliche Politik gegenüber der Türkeiwird nur noch durch die doppelbödige und pharisäer-hafte Haltung der Regierungskoalition zum NATO-Einsatz im Kosovo und zum russischen Militärengage-ment in Tschetschenien überboten.
Da wurde im Frühjahr dieses Jahres von einer Anti-kriegsinitiative der Grünen der NATO-Militäreinsatzzum Schutz der Menschen im Kosovo als „NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien“ gebrandmarkt. Es istauch noch nicht lange her, daß auf dem Bielefelder Son-derparteitag der Grünen Spruchbänder gezeigt wurden:„Nie wieder Krieg! Die NATO zerschlagen – Fischerverjagen!“ Jetzt, beim russischen Feldzug gegen dietschetschenische Bevölkerung, ist von den grünen Be-denkenträgern weit und breit nichts zu hören. Die sind inerster Linie da, wenn es gegen die NATO geht.
Am 19. Januar 1995 – Sie können es gerne nachlesen– sagte der damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen,Joschka – damals nannte er sich noch so – Fischer,
im Deutschen Bundestag:Bei Menschenrechtsverletzungen gibt es kein Ein-mischungsverbot … Bei Menschenrechtsverletzun-gen gibt es vielmehr nur eines: die Pflicht zurWahrheit, zur Klarheit und zur öffentlich bekunde-ten klaren Position. Da hat diese Bundesregierungschmählich versagtDies hat er damals zu Helmut Kohl gesagt.
Ich kann nur sagen – um mit Fischers Worten zu spre-chen –: Avanti, dilettanti!Ich frage Sie: Wo ist der moralische Aufschrei vonJoschka Fischer auf dem jüngsten Gipfel in Istanbul ge-blieben? Davon war wenig zu vernehmen. Hier wurdevon den Grünen keine Aktuelle Stunde dazu beantragt,wie es sonst bei solchen Gelegenheiten geschieht.
Herr Schlauch, wenn Sie mit dem Lesen fertig sind,können Sie vielleicht folgende Frage beantworten: Woist auf dem jüngsten Strategiekongreß der Grünen dieResolution zur Wahrnehmung der Menschenrechte inTschetschenien geblieben? Haben Sie das vergessen?War das ein Regiefehler, oder tauchen Sie jetzt weg?
Es zeigt sich, daß das rotgrüne Gewissen in SachenMenschenrechte nur dann anspringt, wenn es in IhrePhilosophie paßt, also immer dann, wenn es um dieNATO und ihre Mitglieder geht.Der „Spiegel“ schrieb am 15. November 1999 – dasist noch nicht lange her; es ist die Ausgabe der letztenWoche –:Die Lust verloren – Rot und Grün haben sich aus-einandergelebt, doch auseinandergehen können sienicht.Wenn sich die Ehepartner völlig auseinandergelebt ha-ben und dies alle um sie herum spüren, dann stellt mansich die Frage: Warum gehen sie nicht auseinander? Beieiner Ehe sind oft die Kinder der Grund; aber das ist indiesem Fall wahrscheinlich nicht möglich. Sehr oft gehtes auch um die Finanzen. Dies zählt hier: Offensichtlichhaben noch nicht genügend Partner ihre Ruhestandsan-sprüche ersessen.
Bei dem Auseinandergehen solcher Partnerschaften mußaber auch die Frage gestellt werden: Sind sich die Part-ner hörig?Bei dieser rotgrünen Partnerschaft muß noch eine an-dere Frage erlaubt sein: Sind der Grund dafür die politi-schen Schmuddelkinder? Als solche haben die Grünenbegonnen. Sie haben einen langen und schwierigen Weghinter sich, auch die führenden Personen der Grünen.Ich meine, sie lassen sich aus den Sesseln der Machtletztendlich nur von den Wählerinnen und Wählern ver-treiben. Es gibt keine Demütigung, die dies bewirkenkönnte. Sie können sich deswegen auch alle Schutzgeld-zahlungen sparen.
Kollege Glos, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lippelt?
Aber ja.
Herr Glos, ich möchte Sie fragen: Ist Ihnen entgangen,Michael Glos
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6511
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(D)
daß von den europäischen Außenministern der deutscheAußenminister die meisten und intensivsten Erklärungenzu Tschetschenien gemacht hat, und zwar seit vier Wo-chen?Ist Ihnen entgangen – das kann Ihnen entgehen, dennSie müssen nicht Erklärungen von Abgeordneten lesen –,daß es entsprechende Erklärungen aus unserer Fraktion,auch von mir, seit mindestens drei Wochen gibt?
Ist Ihnen entgangen, daß es gestern abend in der Aka-demie der Künste eine hochdramatische Diskussion ge-geben hat, wo sich auf der einen Seite Herr Kawaljowsehr deutlich ausgesprochen hat und auf der anderenSeite drei Tschetschenen – auf Einladung unserer Frak-tion – dort anwesend waren? Das brauchen Sie nicht zuwissen. Sie brauchen auch nicht zu wissen, daß in dieserWoche der Außenminister Maschadow hier sein wirdund daß auch dies etwas mit unserer Fraktion zu tun hat.Informieren Sie sich bitte besser, bevor Sie das näch-ste Mal solch einen Unsinn reden.
Ich bitte um Verzeihung.
Die von Ihnen aufgezählten Aktionen sind mir alle ent-
gangen – auch der breiten deutschen Öffentlichkeit.
Ansonsten wissen die Grünen sehr gut, wenn man will,
wie man sich öffentlichkeitswirksam in Szene setzt. Mir
ist vor allem die Aktuelle Stunde im Bundestag entgan-
gen. Die hätte ich nämlich wahrgenommen.
Herr Bundeskanzler, Sie können Ihrem grünen Ko-
alitionspartner noch so viele Demütigungen zumuten,
Die gehen nicht, die bleiben. Sie können ruhig fünf neue
Kernkraftwerke bauen: Die Grünen bleiben trotzdem in
dieser Koalition.
Ihre Kanzlerschaft ist ausschließlich aus Ihrer eigenen
Partei bedroht. Damit das ganz klar ist.
Bundesverteidigungsminister Scharping traut sich
ganz offen die Kanzlerschaft zu und sagt das auch je-
dem, der es hören will, und jedem, der es nicht hören
will. Unverblümt, aber zu Recht wird in diesen Hinter-
grundgesprächen vom „Vergeigen“ des Vertrauens ge-
sprochen, das der Wähler der rotgrünen Koalition bei
der letzten Bundestagswahl übertragen hat.
In der SPD werden bereits Erinnerungen an Mann-
heim 1995 wach.
Damals trauten die Sozialdemokraten schon einmal vor
ihrem Parteitag dem Vorsitzenden nicht mehr zu, die
Partei kraftvoll zu führen. Es steht ja jetzt ein Parteitag
vor der Tür, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ich verrate kein Geheimnis: Es ist einsam um den
Bundeskanzler geworden.
Auch wenn er jetzt wieder lacht, man sieht ihm an: Re-
gieren macht ihm keinen Spaß mehr.
Es ist seinem Gesicht deutlich anzumerken. Es ist auch
kein Wunder, das Amt des Bundeskanzlers verlangt
Verantwortung, es verlangt Verläßlichkeit, es verlangt
Stetigkeit, es verlangt Visionen, es verlangt harte Arbeit,
es verlangt Geschick und Durchsetzungsvermögen.
Mit Spaß allein ist es nicht getan.
Herr Bundeskanzler, Sie sind darauf angewiesen, daß
Sie das deutsche Volk überzeugen können, daß es Ihnen
ein Stück auf den Weg folgt. Sie können das deutsche
Volk nicht überzeugen, wenn es Ihnen nicht einmal ge-
lingt, Ihre eigene Partei zu überzeugen und hinter sich
zu scharen.
Deswegen kann ich nur sagen: Stellen Sie diese
Querschüsse ab, die immer wieder kommen und die
letztendlich Ihre Politik und damit die Politik Deutsch-
lands vernebeln.
Wenn Ihre Koalition und vor allen Dingen Ihre eigene
Partei Sie weiter so nervt, wie es bisher geschehen ist,
dann kann ich mir durchaus vorstellen, daß Sie einmal
von innen am Zaun des Kanzleramtes rütteln und sagen:
Ich will hier raus.
Vielen Dank.
Das Wort hat nunder Kollege Peter Struck, SPD-Fraktion.Dr. Helmut Lippelt
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6512 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Dr. Peter Struck (von Abgeordneten der SPDmit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Erlauben Sie mir zunächst eine persönliche Be-merkung: Ich möchte an dieser Stelle dem KollegenWolfgang Schäuble herzlich gute Besserung wünschen.
Ich habe ihm das auch schon schriftlich mitgeteilt. Ichhoffe, daß er bald wieder seine Arbeit für seine Fraktionaufnehmen kann, wenngleich ich seine Arbeit in vielenPunkten inhaltlich zu kritisieren habe.Herr Kollege Glos, Sie haben ja nun die Hauptrededer Opposition gehalten. Ich muß schon sagen: Ich ver-misse den Herrn Schäuble in diesem Zusammenhangdenn doch. Ein bißchen flach war das schon, was Sie ge-sagt haben.
Da ich wußte, daß Sie vor mir reden, möchte ich Ihneneinige Punkte eines Briefes vorhalten, den ich gesternvon einem Mitglied der CSU bekommen habe. Mein Bü-ro hat sich vergewissert, daß der Brief authentisch ist;wir haben auch mit dem Autor gesprochen. Dieser Brieffängt so an:Ich bin seit 25 Jahren Mitglied der CSU und Trägerderen silberner Ehrennadel,
aber trotzdem SPD-Wähler, der möchte, daß Sie Ih-re Politik fortführen können. Die derzeitige Politikder Unionsparteien, welche 16 Jahre Zeit hatten,etwas zu verbessern, finde ich abstoßend und ge-eignet, Arbeitnehmer verschiedener Alters- und Be-rufsgruppen gegeneinander aufzuwiegeln.Recht hat das Mitglied der CSU.
Wenn ich noch etwas zitieren darf:Wie viele bin auch ich der Meinung, daß die Bun-desrepublik Deutschland in den 16 Jahren der altenKoalition keine Regierung hatte, die tatsächlich re-gierte. Das Ergebnis daraus ist eine für den Nor-malbürger nicht mehr zu fassende Staatsverschul-dung, ein riesiger Verwaltungsapparat, ein Geset-zes- und Abschreibungsdschungel, 4 Millionen Ar-beitslose und wahrscheinlich ebenso viele neueMillionäre, Mißwirtschaft, Steuerverschwendung,Spekulantentum, Korruption und Schmiergeldaffä-ren.
Recht hat der Mann, das Mitglied der CSU.
Mit dem Haushalt, den wir in dieser Woche verab-schieden, machen wir Politik für das nächste Jahrtau-send. Sie, Herr Kollege Glos, haben über den Haushalt
überhaupt nicht gesprochen. Das will ich an dieser Stellenur einmal anmerken. Dieser Haushalt ist Teil einerOperation, die dem Staat am Vorabend des 21. Jahrhun-derts verlorene Handlungsfähigkeit zurückerobert; die-ser Haushalt ist eine Wendemarke.
Die Zeiten, in denen der Haushalt bestimmt war durchVerprassen von Tafelsilber, durch höhere Staatsver-schuldung und durch Mehrwertsteuererhöhungen, sindendgültig vorbei, seitdem wir diese Regierung über-nommen haben.
Wir wollen einen Fairneßpakt der Generationen; wirwollen, daß auch unsere Kinder und Enkelkinder dieChance haben, ihr Modell Deutschland zu gestalten. Siebrauchen die besten Schulen, die besten Universitäten,die beste Ausbildung, um in diesem globalisierten Wett-bewerb mithalten zu können. Wir schaffen die Voraus-setzungen dafür.
Es gibt kein Institut, keinen Verband, der diesen Kursder Regierung Schröder nicht als einen wichtigen Schrittin die richtige Richtung bezeichnet hat. Der Sachver-ständigenrat hat das in seinem Gutachten bestätigt, dieBundesbank, der Bundesrechnungshof, die Sachverstän-digen von Banken und anderen. Wir setzen diesen Kurs,den sie für richtig halten, um und werden unbeirrt andiesem Kurs festhalten.
Wir haben ein hohes Maß an internationaler Aner-kennung erhalten. Sowohl Clinton als auch Tony Blairhaben das in Florenz deutlich gemacht, übrigens auchLionel Jospin. Clinton und Blair wissen auf Grund ihrerPolitik – auch wir wissen das jetzt –, daß Kursänderun-gen und Einschnitte Wähler schon schmerzhaft treffenund sie auch schmerzhaft aufstoßen lassen. Aber beidehaben mit diesem Kurs Erfolg gehabt, und auch wirwerden mit diesem Kurs Erfolg haben.
Da bin ich ganz sicher, meine Damen und Herren.
Die Menschen spüren inzwischen, daß es zwischenWaigelscher Haushaltspolitik und unserer einen gravie-renden Unterschied gibt:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6513
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(D)
Wir sanieren nicht die eine Klientelgruppe, um die ande-ren ausbluten zu lassen. Wir haben oben Steuer-schlupflöcher in der Größenordnung von 35 MilliardenDM dichtgemacht.
Diejenigen, die von diesen legalen Möglichkeiten derSteuerreduzierung Gebrauch gemacht haben, protestie-ren natürlich dagegen. Das kann ich verstehen. Aber wirhaben die Gesetze geändert, damit derjenige, der vonseiner Leistungsfähigkeit her viel Steuern zahlen muß,dies auch tatsächlich tut.Es gibt eine wunderbare Vokabel des Ex-Finanz-ministers Waigel, nämlich „legale Steuerverkürzung“.Ich bin mit Ihnen in einem Punkte einig, Herr KollegeWaigel: Wir haben solche steuerlichen Möglichkeitenaus bestimmten Gründen, zum Beispiel wegen des Auf-baus Ost, schaffen müssen.
Wir hatten andere Vorschläge, denen Sie nicht gefolgtsind. Aber wir müssen heute feststellen: Die Situation,daß eine solche Art von Steuerverkürzung möglich seinsollte, ist heute vorbei. Wir haben daraus den entspre-chenden Schluß gezogen.
Protestiert haben natürlich nicht diejenigen, die jetztvon guten Maßnahmen profitieren. Wir alle haben dieDemonstrationen erlebt – wir sehen sie, wenn wir aufunserem Weg zum Reichstag durch das BrandenburgerTor kommen –, von Ärzten, von Bauern, vom Reichs-bund, vom Beamtenbund. An dieser Stelle will ich nurkurz einfügen – das habe ich auch dem Präsidenten desBeamtenbundes, Herrn Geyer, gesagt –: Ich finde esschon etwas eigenartig, wenn Beamte gegen angeblicheKürzungsmaßnahmen demonstrieren, aber mit einemAirbus, den sie gechartert haben, hier herkommen. Manmuß sich einmal überlegen, welchen Beigeschmack dashat.
Es ist das gute Recht von Funktionären, für ihre Klientelzu demonstrieren. Aber unsere Pflicht als Parlamentarierund als Regierungsfraktion ist, im Blick zu haben, daßwir nicht irgendeiner Interessengruppe verpflichtet sind,sondern dem Gemeinwohl, und danach auch handeln.
Das heißt für uns: Wir haben eine Einkommensteu-erreform beschlossen, mit der Normalverdiener am En-de dieser Legislaturperiode um 46 Milliarden DM entla-stet werden. Das bedeutet eine Stärkung der Kaufkraft,eine Ankurbelung der Binnenkonjunktur. So nachhaltigund gezielt sind Normalverdiener in der Geschichte die-ses Landes noch nie gefördert worden.
Wir haben die Familienförderung auf eine neue Grund-lage gestellt. Wir haben in der Zeit unserer Regierungs-verantwortung das Kindergeld um 50 DM erhöht, von220 auf 270 DM. Das ist Ihnen noch nie gelungen, undSie wollten es auch gar nicht.
Wir haben damit begonnen, endlich die Lohnneben-kosten zu senken. Wäre Herr Blüm noch heute Arbeits-und Sozialminister, würde der Rentenversicherungs-beitrag bei 21 Prozent liegen.
Bei uns liegt er bei 19,3 Prozent. Das ist eine große Lei-stung, die den Arbeitgebern und Arbeitnehmern zugutekommt.
Wir haben dafür – das ist zu Recht angesprochenworden – eine maßvolle Erhöhung der Energiepreisevorgenommen. Nur ein kleiner Hinweis in diesem Zu-sammenhang: Solange Herr Kohl und Herr Waigel Ver-antwortung für Politik und Finanzpolitik hatten, sind dieSpritpreise auf Grund von Mineralölsteuererhöhungenstetig erhöht worden, in den letzten Jahren ihrer Regie-rungszeit, zwischen 1994 und 1998, um 50 Pfennig proLiter.
Wir haben jetzt eine Mineralölsteuererhöhung von 6Pfennig pro Liter beschlossen.Herr Kollege Glos, legen Sie einmal Ihr Telefon ausder Hand, damit Sie auch hören, daß Ihre falschen Dar-stellungen korrigiert werden.
Sie haben über die Preise an den Tankstellen gespro-chen. Dazu will ich Ihnen etwas vorhalten: Die OPEChat sich mit Rußland und Norwegen auf eine Reduzie-rung der Erdölförderung um 2,1 Millionen Barrel abdem 1. April 1999 geeinigt. Die Folge war ein Preisan-stieg pro Barrel Erdöl von 10 US-Dollar auf 23 US-Dollar. Das bedeutet, daß allein die Politik der OPEC zueiner Erhöhung der Spritpreise geführt hat, die in keinerRelation steht zur Erhöhung in Folge der Ökosteuer, diewir beschlossen haben.
Wer so etwas erzählt, Herr Kollege Glos, der will dieLeute für dumm verkaufen. Ich sage: Die Benzinpreisewerden maßgeblich von den Mineralölkonzernen be-stimmt.
Wir machen mit der Senkung der Lohnnebenkostendie Arbeit billiger, damit möglichst alle wieder Arbeithaben. Das ist der große Unterschied zwischen Ihnenund uns: Wir nehmen die Sorgen der Menschen ernst.An dieser Stelle möchte ich etwas über das ThemaHolzmann sagen. Ich bestreite überhaupt nicht, daß sichDr. Peter Struck
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der hessische Ministerpräsident und die FrankfurterOberbürgermeisterin bemüht haben.
Das erkenne ich ausdrücklich an. Ich begrüße das.
Ich halte das aber nicht für einen Grund, jetzt in diesemHaus in einen Streit auszubrechen, Herr Kollege Glos.
Ich vertraue auf die Bemühungen des Bundeskanzlers.Ich wünsche ihm im Namen meiner Fraktion viel Erfolgbei der Rettung der Arbeitsplätze von Holzmann.
Wenn Sie dann über Arbeitslosigkeit klagen, dannmöchte ich Ihnen doch eines vorhalten, nämlich das,was Ihre Kollegen im Haushaltsausschuß beantragt ha-ben und was Sie in diesem Parlament – das entnehmeich dem Antrag – beantragen werden: Sie haben imHaushaltsausschuß beantragt – das werden die Haus-hälter bestätigen –, alle Bundeszuschüsse für die Bun-desanstalt für Arbeit zu streichen.
Ich habe diesen Antrag vorliegen. Die F.D.P. hat dengleichen Antrag gestellt.
Es heißt, es sollen 9,85 Milliarden DM gestrichen wer-den. Mit uns nicht! Denn die Bundesanstalt für Arbeitbraucht diese Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik.
Das ist blanker Zynismus gegenüber Arbeitslosen.Genau so zynisch haben Sie sich zum Sofortpro-gramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeitverhalten. Ich will noch einmal daran erinnern, daß Siedieses Programm – wie Frau Merkel gesagt hat – „ab-schaffen“ wollten und daß Herr Kollege Schäuble von„ruhigstellen“ gesprochen hat. Das ist eine skandalöseBemerkung, die er immer noch nicht aus der Welt ge-schafft hat.
Dieses Programm – da können Sie sagen, was Sie wol-len – ist ein großer Erfolg: Die Jugendarbeitslosigkeit istum 6,3 Prozent gesenkt worden. 199 000 Jugendlichehaben entweder einen Arbeits- oder einen Ausbildungs-platz. Das ist diesem Programm zu verdanken. Wir sindstolz auf diese Leistung.
Kollege Struck, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Auster-
mann?
Nein, bei Austermannnicht. Tut mir leid.
– Es gibt Kollegen, bei denen ich eine Zwischenfragegerne zulasse, aber er gehört nicht dazu.
Meine Damen und Herren, zu dem Fairneßpakt derGenerationen, von dem ich gesprochen habe, gehörtauch die Frage, wie sich die Rentenentwicklung ab-zeichnen wird. Ich habe Anfang der Sommerpause inAbstimmung mit der Bundesregierung – Bundesar-beitsminister und Bundeskanzler – mit dem KollegenSchäuble über die Frage gesprochen, ob es denn nichtSinn macht, gemeinsam über Rentenstrukturreformenzu reden. Dieses Angebot ist ausgeschlagen worden. Wirhaben die Gespräche wiederholt. Jetzt sind Sie – was ichbegrüße – bereit, in Gespräche über Rentenstrukturre-formen einzutreten. Aber wir haben aus parteitaktischen,aus wahltaktischen Gründen ein halbes Jahr verloren.Wir hätten schon viel weiter sein können.
Sie haben taktiert und getrickst. Das wird sich für Sieaber nicht auszahlen; ich garantiere Ihnen das.In unseren Veranstaltungen erleben wir überall, daßdie Rentnerinnen und Rentner mit der Rentenerhöhungnach der Preisentwicklung einverstanden sind, weil siedamit ihren Beitrag für den Generationenvertrag lei-sten, den man von ihnen erwarten kann. Ich bedankemich bei den Rentnerinnen und Rentnern dafür.
In der Gesundheitspolitik haben Sie keine oder –wenn überhaupt – nur die alten Alternativen vorgelegt.Das „Konzept Seehofer“ steht offenbar nach wie vor.Ihre Alternative zu unserer Gesundheitspolitik läßt sich– das stelle ich hiermit fest – wie folgt beschreiben: DieVersicherten und die Patienten müssen mehr zuzahlen.Das werden wir nicht akzeptieren. Deswegen haben wirein anderes Konzept vorgelegt. Darüber – nicht über Ih-re Lösungen – werden wir dann zu entscheiden haben.
Ihre Gesundheitspolitik ist im letzten Jahr abgewähltworden. Es macht also keinen Sinn, mit Ihnen über diealten Programme zu beraten.Wir haben in diesem Jahr – das ist wahr – ein gewal-tiges Arbeitsprogramm erledigt. Wir haben damit Spiel-räume eröffnet. Ich möchte Ihnen mitteilen, was mir einfraktionsvorsitzender Kollege aus einem anderen euro-Dr. Peter Struck
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päischen Parlament gesagt hat. Ich will das auch meinereigenen Fraktion nicht vorenthalten. Er hat mir gesagt:Was Ihr in einem Jahr gemacht habt, hätten wir in einerganzen Legislaturperiode erledigt. Das ist wahr. Wir ha-ben eine Gesundheitsreform, eine Steuerreform und eineRentenreform auf den Weg gebracht.
Wir haben viel erledigt, und wir sind stolz darauf. Wirwerden diesen Weg konsequent weitergehen.
Das Programm, das heute im Rahmen des Haushaltsverabschiedet wird, ist im Vorfeld kommentiert worden.Es hieß: Das schaffen die nicht. Jetzt, nachdem klar ist,daß wir es schaffen, lese ich in der „Frankfurter Allge-meinen Zeitung“: Der Blick zurück zeigt eine erstaun-lich glatt verlaufene Operation. Der Rat der Zeitung andie Union ist: Wer mehr will, muß sparen. Wenn Sie al-so mehr wollen, dann sagen Sie auch, wo Sie sparenwollen. Sie haben es an einer Stelle gesagt, das akzeptie-ren wir nicht.
Wenn Sie den Menschen, die von diesen Maßnahmenbetroffen sind, nach dem Munde reden, dann sagen SieIhnen bitte auch, wie Sie all das finanzieren wollen, wasSie Ihnen versprechen, sonst sind Sie ein Haufen vonScharlatanen.
Sie unterscheiden sich dabei übrigens gar nicht vonder PDS. Ich habe mir die Anträge der PDS angesehen.Die PDS hat Anträge im Rahmen der Haushaltsplanbe-ratungen zu Beginn der Legislaturperiode vorgelegt, dieein Volumen in Höhe von 50 Milliarden DM hatten. Ichmöchte gern von Ihnen wissen: Wie wollen Sie diesesGeld aufbringen? Es ist ein gnadenloser Populismus,den Menschen etwas zu versprechen, ohnen ihnen auchzu sagen, wie es bezahlt werden soll.
Da sind Sie genauso wie die CDU/CSU. Sie unterschei-den sich von ihr überhaupt nicht. Ihre Art der Moral istnicht unsere Art der Moral.
Weil ich nun einmal bei dem Thema Moral bin undZwischenrufe vom ehemaligen Finanzminister höre,möchte ich schon über die Ereignisse, die uns in denletzten Wochen bewegt haben, sprechen. Die SPD-Fraktion und die Fraktion der Grünen haben beschlos-sen, einen Untersuchungsausschuß einzurichten, dersich mit dem Finanzgebaren der CDU und damit in Zu-sammenhang stehenden Entscheidungen der alten Bun-desregierung beschäftigen wird.Es gibt offenbar eine besondere Art der Moral bei Ih-nen. Ich habe mir sehr genau die Erklärungen angese-hen, die der ehemalige Parteivorsitzende und Bundes-kanzler der CDU dazu abgegeben hat. Wir werden indiesem Untersuchungsausschuß aufzuklären haben, wiees kommt, daß der ehemalige Schatzmeister der CDU,der dieses Amt mit Ihrer Zustimmung 21 Jahre innehatte– Sie schlagen ihn vor –, erklären kann, daß es eineSpende an die CDU in Höhe von 1 Million DM gegebenhat, und wieso Sie erklären können, daß es keine Spendean die CDU gegeben hat. Das müssen Sie mir einmal er-klären, Herr Kollege Kohl.
Ich wäre Ihnen auch sehr dankbar, wenn Sie gleichklarstellen könnten, wie Sie zu der Äußerung von HerrnKiep in der gestrigen Sendung „Kulturzeit“ stehen, diewichtigsten Gremien der CDU seien stets über die Par-teifinanzen informiert gewesen,
als Schatzmeister sei er lediglich für die Geldbeschaf-fung zuständig gewesen; über die Verwendung von Gel-dern entscheide die Partei. Erklären Sie diese Aussage,Herr Kollege Kohl, nachdem Sie öffentlich das Gegen-teil behauptet haben.
Die CDU ist laut „Spiegel“ nicht nur ein Wiederho-lungstäter, sondern ein Seriensünder. Ich unterstreichediesen Satz.
Ich habe es nicht für möglich gehalten, daß nach derFlick-Parteispendenaffäre in Ihren Reihen offenbar soweitergemacht worden ist wie vorher, mit schwarzenKonten und Treuhandanderkonten gearbeitet wird, undVerstöße gegen das Parteiengesetz leichtfertig einge-gangen worden sind. Ich kann das nicht akzeptieren. Wirwerden das aufklären, und Sie, Herr Kollege Kohl, soll-ten in Ihrem eigenen Interesse dazu beitragen.
Kollege Struck, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kohl?
Selbstverständlich.
Herr Abgeordneter,Sie wissen so gut wie ich, daß dies nicht eine Situationist, um die Fragen, die Sie stellen, zu beantworten undüber die Behauptungen, die Sie aufstellen, zu debattie-ren. Ich mache Ihnen ein konkretes Angebot.
Dr. Peter Struck
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– Jetzt hören Sie bitte zu!
Das kann in der Art und Weise, wie hier verleumdetwird, nicht stattfinden, ob Sie das wollen oder nicht.
Ich fordere Sie ganz konkret auf – –
– Sie können hier mit Niederbrüllen gar nichts erreichen.
Kollege Kohl, es gilt
die Regel, eine Frage stellen zu müssen. Ich bitte Sie,
eine Frage zu formulieren.
Herr Präsident, ich
stelle die Frage. Aber Herr Präsident, nehmen Sie bitte
auch zur Kenntnis, wie hier bewußt versucht wird, die
Frage gar nicht zuzulassen.
Herr Abgeordneter, ich fordere Sie als Vorsitzenden
der SPD-Fraktion hiermit auf, dazu beizutragen,
daß der von Ihnen geforderte Untersuchungsausschuß
unverzüglich eingesetzt wird,
seine Arbeit noch vor Weihnachten beginnt und mir die
Chance gibt, dort noch vor Weihnachten Ihre Fragen zu
beantworten.
Meine Frage ist: Sind Sie bereit, hier die Erklärung
abzugeben, daß Sie genau dies tun werden?
Herr Kollege, ich möchte
Ihnen folgendes darauf antworten: Wir werden in der
nächsten Sitzungswoche, also in der nächsten Woche, in
diesem Parlament die Einsetzung des Untersuchungs-
ausschusses beschließen.
Ich höre, daß die F.D.P. dem offenbar zustimmen will.
Das finde ich sehr gut. Es ist noch besser, wenn die
Union dem auch zustimmen will. Der Ausschuß wird
sich dann konstituieren.
Die Personalvorschläge in meiner Fraktion und bei
den anderen sind fast fertig. Das heißt, um das ganz
konkret zu sagen: Ich kann mir vorstellen, daß dann,
wenn sich dieser Ausschuß konstituiert hat, die ersten
Zeugenbefragungen noch in diesem Jahr stattfinden
werden. Dann können Sie dort das sagen, was Sie mir
offenbar hier in diesem Dialog nicht sagen wollen
– lassen Sie mich doch ausreden –, weil Sie meinen, daß
dies nicht der geeignete Ort sei. In der Tat ist der geeig-
nete Ort der Untersuchungsausschuß, Herr Kollege.
Sie haben ja auch Erfahrung als Zeuge in einem Unter-
suchungsausschuß.
Ihre Frage beantworte ich wie folgt: Wir werden das
so machen, wie wir es für richtig halten.
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Kohl.
Ich stelle noch ein-
mal die Frage, ob Sie bereit sind, hier zu erklären, daß
Sie als Vorsitzender der SPD-Fraktion –
Das habe ich doch gesagt.
– nein, das haben Sie
so nicht gesagt –, persönlich dafür Sorge tragen, daß
sich der Ausschuß schnell konstituiert und daß ich die
Chance bekomme,
dort noch vor Weihnachten als Zeuge gehört zu werden.
Herr Kollege,
Dr. Helmut Kohl
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ich habe Ihnen die Frage schon beantwortet, möchte esaber noch einmal sagen: Der Ausschuß wird sich kon-stituieren.
Der Ausschuß muß – das muß man Ihnen auch einmalerklären – Akten herbeiziehen. Wir werden – das wärejedenfalls meine Empfehlung – die StaatsanwaltschaftAugsburg bitten, die Akten, die dort vorliegen, zur Ver-fügung zu stellen. Dann wird der Ausschuß seine Be-weisaufnahme beginnen. Wenn Sie darauf Wert legen,daß Sie als erster gehört werden – ich nehme an, auchder Kollege Rühe legt darauf großen Wert –, dann wirdder Ausschuß darüber entscheiden.
Man kann in den Zeitungen und Zeitschriften, die indiesem Zusammenhang viele Einzelheiten veröffentli-chen, lesen, daß der Waffenhändler, der Geschäftsmann,der Vermittler Schreiber dem „Stern“ bestätigt hat, daßer sich auch mit der einstigen CDU-SchatzmeisterinBrigitte Baumeister getroffen hat. Die Antwort auf einekonkrete Frage in einem „Stern“-Interview dazu lautet:Ja, zum Beispiel bei einem Essen mit WolfgangSchäuble in Bonn.Das ist für mich insofern sehr interessant, als es neu ist.Bisher hat Herr Kollege Schäuble geäußert, daß er denHerrn nicht kennt.Interessant finde ich auch eine Äußerung des Kolle-gen Schäuble in der „Welt am Sonntag“ von der vergan-genen Woche – wörtliches Zitat –:In der CDU sind die Dinge aber so geregelt, daß fürdie Einnahmen der Schatzmeister eine ganz eigeneVerantwortung hat. Die Aufgaben des General-sekretärs konzentrieren sich auf die Ausgaben. Fürdie Einnahmen hat der Generalsekretär keine Ver-antwortung, und er hatte auch keine Kenntnis.An Ihrer Stelle, Herr Kollege Schäuble – das ist auchan die Union insgesamt gerichtet –, würde ich mir dieseAussage noch einmal überlegen. Das ist ja nun wirklichdoppelte Moral in Reinkultur: Der Schatzmeister nimmtein – woher auch immer –, und der Generalsekretär in-teressiert sich überhaupt nicht dafür, aus welcher Quelledie Einnahmen kommen; er gibt das Geld nur aus. Wenndas Ihr Finanzgebaren ist, dann prophezeie ich Ihnen indiesem Untersuchungsausschuß Schlimmes. Das will ichIhnen sagen.
Vielleicht war diese Aussage des jetzigen CDU-Vorsitzenden eher ein Blackout. Der Blackout im Zu-sammenhang mit Parteifinanzierungen ist ja systemim-manent, wie wir wissen. Kollege Schily und ich habenda unsere Erfahrungen aus dem Flick-Untersuchungs-ausschuß.Wir haben uns mit unserer politischen Arbeit in die-sem Jahr überhaupt nichts vorzuwerfen. Wir habensachlich zu diskutieren und aufzuklären. Das hat IhrerFraktion, meine Damen und Herren von der Union,schon Herbert Wehner mit auf den Weg gegeben, als Sie1970 als Opposition im Parlament waren. Wenn ich esrichtig weiß, saß damals von Ihnen noch niemand da.Immer dann, wenn Sie in der Opposition sind, fallen Siekollektiv in den gleichen Reflex zurück: polemisieren,populisieren, obstruieren. Herr Kollege Glos hat dafürgerade ein fürchterliches Beispiel gegeben.
Klären Sie in Ihrer Spendenaffäre auf! Stellen Sierichtig, ob es denn tatsächlich so war – es entspricht derLebenswahrscheinlichkeit eigentlich überhaupt nicht –,daß ein Parteivorsitzender und ein Generalsekretär voneiner Spende in Höhe von 1 Million DM, die in einemKoffer übergeben worden ist, überhaupt nichts wußten!Ich glaube nicht, daß das der Lebenswirklichkeit ent-spricht.
Stellen Sie das in diesem Untersuchungsausschuß bitteklar! Stellen Sie auch klar, ob diese Spende einen Ein-fluß auf Ihre Regierungsentscheidungen hatte! Politik inDeutschland darf nicht käuflich werden.
Mit dem Haushalt, der in dieser Woche verabschiedetwird, wollen wir den Fairneßpakt der Generationen. Wirwollen ihn, damit unsere Kinder im Modell Deutschlandeine bessere Zukunft für sich und für ihre Familien ha-ben. Wir werden diesen Weg unbeirrt zu Ende gehen.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort dem Kollegen Austermann.
Der Kollege Glos hat ebenfalls um eine Kurzinterven-
tion gebeten.
Herr Präsident.Meine Damen und Herren! Es ist interessant, mit wel-cher Intensität sich der Fraktionsvorsitzende der SPD,der offensichtlich nur über eine geringe Souveränitätverfügt, weil er Fragen während seiner Rede nicht zu-gelassen hat,
all den Themen gewidmet hat, die mit dem Bundeshaus-halt überhaupt nichts zu tun haben. Dies hat er beimKollegen Glos kritisiert.
Dr. Peter Struck
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Angesichts der drei fröhlichen Gesichter dort vornemöchte ich Ihr Erinnerungsvermögen, Herr KollegeStruck, bemühen: Wir beide, Herr Kollege Struck, saßenzusammen mit zwei der drei Herren, die dort auf derRegierungsbank sitzen, im Untersuchungsausschuß zuden Parteispenden. Sie waren dabei. In diesem Ausschußging es unter anderem um die Frage, wie eigentlich dieFlinte, mit der damals Heinz Herbert Karry erschossenworden ist, in Ihr Auto, Herr Fischer, gelangt ist.
Dies ist bis heute nicht aufgeklärt worden. Es ging umdie Frage – Herr Kollege Struck, Sie müssen hier nichtden Blödmann machen –, wie es zu – –
Kollege Austermann,
es ist ein sehr unfreundlicher Stil, wenn Sie im Plenum
einen Kollegen einen „Blödmann“ nennen.
Das habe ich
nicht gesagt. Ich kann es auch anders ausdrücken, näm-
lich daß er Dinge, die er offensichtlich besser kennt und
besser weiß, als nicht existent darstellt. Herr Kollege
Struck, wenn ich an Ihrer Stelle wäre und mich an das
Stichwort NAFTA-Stiftung und an die 1 Million DM im
Koffer von Alfred Nau erinnerte, dann würde ich ganz
kleine Brötchen backen und wäre vorsichtig, eine ganze
Partei und insbesondere ihre Führung pauschal zu ver-
leumden.
Ich möchte jetzt nicht daran erinnern, Herr Kollege
Schily – damals waren Sie noch bei den Grünen –, was
Franz Josef Strauß zu Ihrer Art, Fragen zu stellen, gesagt
hat. Ich wäre ganz vorsichtig. Wir sind sehr dafür, Auf-
klärung herbeizuführen. Aber es muß dann bitte auch
über das hinausgegangen werden, was der Fraktionsvor-
sitzende der SPD heute gesagt hat und was ich als
Dreckschleudern bezeichne.
Wenn das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsver-
mutung gilt – davon gehen wir noch immer aus – und
gleichzeitig bestimmte Vermutungen geäußert werden
und auf Fragen, die gestellt werden, nicht geantwor-
tet wird, dann halte ich dies für demokratisch unbrauch-
bar.
Ich möchte eine letzte Anmerkung machen.
Herr Kollege Au-
stermann, Ihre drei Minuten sind vorüber. Ich bitte, die
Kurzintervention sofort zu beenden. – Herr Kollege
Glos, Sie haben jetzt die Gelegenheit zu einer Kurzin-
tervention.
Herr Kollege Struck, Sie
haben am Anfang Ihrer Rede aus einem Brief eines an-
geblichen CSU-Mitglieds zitiert.
Auch ich könnte Zitate aus ähnlichen Briefen von SPD-
Mitgliedern, die stapelweise eingehen, in die Haushalts-
debatte einbringen.
Aber ich bin der Meinung, wir sind in viel zu ernster
Sorge und die Kanzlerdebatte ist für solche Kinkerlitz-
chen nicht geeignet.
Anstatt die Politik Ihres Bundeskanzlers zu verteidi-
gen, haben Sie eine erbärmliche Rede – gespickt mit
Verdächtigungen – gehalten.
Das ist Tatsache. Ich erkläre hiermit für die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion, daß wir bereit sind, noch in dieser
Woche einen Untersuchungsausschuß zu beantragen und
einzusetzen.
Wir sollten hier zusammenwirken, damit dieser Aus-
schuß möglichst schnell seine Arbeit aufnehmen kann
und die Verdächtigungen und Verleumdungen in der Öf-
fentlichkeit aufhören.
Herr Kollege Struck,
Sie haben nun Gelegenheit zur Erwiderung.
Auf den Kollegen Auster-mann einzugehen lohnt sich nicht.
Aber ich nehme die Intervention des Kollegen Glosund auch die Zwischenfragen von Herrn Kohl zum An-laß, Sie um folgendes zu bitten – vielleicht auch gleicheine Erklärung –: Wir werden mit der Beweisaufnahmesehr schnell beginnen; diese Beweisaufnahme wird demUntersuchungsausschuß um so leichter fallen, je eherSie von der Union bereit sind, den Herrn Weyrauch vonseiner Schweigepflicht zu entbinden, was das Finanzge-Dietrich Austermann
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baren der Union angeht. Wenn Sie das noch bitte gleicherklären würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Das Wort hat nun
Kollege Wolfgang Gerhardt, Fraktionsvorsitzender der
F.D.P.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Auch ich will – wie derKollege Struck – unserem Kollegen Schäuble gute Ge-nesungswünsche übermitteln. Wir wünschen ihm, daß erbald wieder hier im Parlament mitwirken kann.
Als zweites möchte ich zu der Rede des KollegenStruck folgendes sagen: Jeder bekommt ja Briefe, sogarsehr viele. Sie, Herr Kollege Struck, haben einen Briefvorgetragen, in dem Ihnen ein CSU-Mitglied geschrie-ben hat, Ihre Politik sei richtig, und die Politik der Uni-on sei falsch.Auch ich habe Briefe erhalten. Mir hat ein Mann ge-schrieben, er habe sich bei der letzten Bundestagswahlverwählt. Er habe SPD gewählt und bedauere das. Er hateinen 500-DM-Scheck beigelegt und versichert, er wer-de das nicht wiederholen.
Ich darf diese Spende hiermit ganz offiziell anzeigen.Meine Damen und Herren, wollen wir doch einmaleines festhalten: Trotz des vielen Pulverdampfes heutemorgen spüren wir doch, daß das abgelaufene Jahr selbstbei SPD und Grünen nicht gerade als Erfolgsjahr öffent-lich bekanntgegeben wird. Das ist überall nachzulesen.
Es gibt ganz gemischte Gefühle. Ich erinnere mich anden Start. Ich habe mich schon gewundert, weil es dochKollegen waren, die lange politisch tätig waren. Sie ha-ben erklärt, man bräuchte jetzt sehr wahrscheinlich kei-ne Koalitionsgespräche mehr. Die Koalitionsvereinba-rung sei so gut. Nun gehe es voran. Es ging dann auchvoran!Bevor es aber überhaupt voranging, kam der in Aus-sicht genommene Wirtschaftsminister abhanden. Als esdann voranging, wurde die erste Phase bemäntelt mitKommunikationsschwierigkeiten. Als diese vorbei war,bequemte man sich zu der Aussage, man habe sich wohletwas übernommen. Man habe zuviel des Guten und dasalles gleichzeitig gewollt, und das sei auch alles viel zuschnell gegangen.Das haben wir auch gespürt. Der Bundeskanzler ist jaförmlich von seinem eigenen Schwung mitgerissen wor-den in den ersten Erklärungen zu den 630-Mark-Verträgen. Dann hat er gemerkt, daß es mit dieserBrummkreiselpolitik nicht weitergeht, und hat Nachbes-serungen angekündigt. Die verbale Nachbesserungspha-se hat zwei bis drei Monate gedauert. Als die Nachbes-serungsphase real wurde, wurde nichts besser. Das wareine Phase der Verschlimmbesserung aller Gesetze, dievorliegen.
Nun hatten wir nach einigen Monaten gedacht, dasSchlimmste sei nun vorüber, jedenfalls soweit es dieseKoordinationsmängel betrifft. Im letzten Plenum undauch gestern haben wir erfahren, daß der eigentlicheHöhepunkt die Gesundheitsreformgesetzgebung ge-wesen ist. Da geht es doch nicht nur um die fehlenden20 Seiten. Wenn es das nur wäre! Ihrer Politik, HerrBundeskanzler, fehlen doch nicht nur 20 Seiten. Ihr fehltdas Ziel, die Grundlage, das Konzept, das, was an politi-schen Begründungen notwendig ist.
Jetzt geht es auf das Jahresende zu. Meine Kollegin-nen und Kollegen von der SPD, erinnern Sie sich docheinmal wirklich: Was haben Sie denn in diesem Jahr al-les genannt? Den Transrapid auf einer Schiene. Dann dievoll budgetierten Patienten. Reden Sie doch nicht überdie Ärzte, deren Budget beschnitten wird. Wenn derenBudget beschnitten wird, wird die medizinische Versor-gung der Patienten in Deutschland beschnitten. Das istder Weg, den Sie gehen.
Auf gleicher Schiene liegen das Abkassiermodell Öko-steuer, ein völlig strangulierter Arbeitsmarkt, die starkeSubventionierung der Steinkohle und die Gefährdungder Braunkohle, ein Sparprogramm, das auf Verschiebe-bahnhöfen basiert, die unendliche Geschichte des Kern-energieausstiegs, die Rente nach Kassenlage und dasGesetzgebungsverfahren für die vermaledeite Gesund-heitsreform. Wenn es überhaupt jemals eine Gelegenheitgegeben hat, um den Ausdruck von Joseph Fischer an-zuwenden, dann jetzt: „Avanti, dilettanti!“ – das kenn-zeichnet die Sachlage in diesem Jahr am besten.
Der Bundeskanzler hatte in der Nacht – manche erin-nern sich vielleicht noch – nach seinem Wahlsieg er-klärt, er sei am Ziel. Das war falsch. Sie waren am An-fang. Jetzt stehen Sie da wieder. Sie waren nicht amZiel. Sie hätten wissen müssen, daß Sie Verantwortungübernehmen. Heute spüren Sie es. Sie alle, meine Da-men und Herren von der rotgrünen Koalition, wissen es:Die Arbeitslosenquote liegt nach wie vor hoch, dieZustimmung zu Ihrer Politik ist stark gesunken. Jederspürt es; das ist doch nicht nur die Wahrnehmung vondraußen.Dr. Peter Struck
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6520 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
(C)
Sie, Herr Bundeskanzler, wissen es selbst – ich sagedas hier ganz offen –, daß in diesem Jahr so manchesgewaltig schiefgelaufen ist. Ich bezweifle, ob Sie heutenoch einmal solche Gesetzvorhaben wie das zu den 630-Mark-Arbeitsverhältnissen auf den Weg bringen wür-den. Es kann Ihnen doch nicht verborgen geblieben sein,daß Sie mit diesen Gesetzen genau die kleinen Leutegetroffen haben,
als deren Schutzpatron Sie sich im Bundestagswahl-kampf ausgegeben haben.
Sie haben die Menschen getroffen, die sich anstrengenmüssen, die ein Haus gebaut haben, die noch etwasdazuverdienen müssen, die Kindern eine besonders qua-lifizierte Ausbildung geben möchten oder die eine An-schaffung getätigt haben. Diese Menschen sind doch aufZuverdienste angewiesen, sie haben doch nicht verzwei-felt nach Lücken auf dem Arbeitsmarkt gesucht, sondernwaren bereit zu arbeiten.Ich glaube auch nicht, Herr Bundeskanzler, daß Sienoch einmal den gleichen gesetzgeberischen Weg ein-schlagen würden wie bei der Bekämpfung derScheinselbständigkeit. Ihnen muß doch klargewordensein, daß das zu nichts führt, daß Sie damit Existenz-gründer treffen und Attentismus auslösen. Daß Sie dasheute nicht zugeben wollen, verstehe ich ja, aber ichunterstelle Ihnen, daß Sie das ganz genau wissen.Sie brauchen uns doch nicht zu erzählen, daß dieRente nach Kassenlage ein Erfolgsstück gewesen sei.Ich selbst habe mindestens dreimal mitverfolgen kön-nen, wie Sie sich im Fernsehen beim deutschen Volk fürdie Fehler bei der Führung Ihres Bundestagswahlkamp-fes entschuldigt haben. Herr Bundeskanzler, das war nurein Fehler, aber ich glaube, Sie sind sich heute darüberim klaren, daß Sie völlig unvorbereitet in den Bundes-tagswahlkampf und in die nachfolgenden Koalitionsver-handlungen zu den großen sozialen Fragen der Bundes-republik Deutschland gegangen sind. Das ist der Sach-verhalt. Das haben Sie nicht gesehen.
Nun wartet die Zukunft nicht, bis Sie und die SPD ih-re Gedanken sortiert haben. Das Jahrtausend wechselt.Wenn sich die SPD bis dahin nicht klar darüber ist, wiesie ihre Sozialpolitik gestalten will, werden Sie inSchwierigkeiten kommen. Die SozialdemokratischePartei Deutschlands steht vor einem zweiten Bad Go-desberg, diesmal sozialpolitischer Art. Es reicht nichtaus, daß Sie wie ein Auslandskorrespondent zusammenmit Tony Blair der SPD Signale übermitteln, über dieSie im übrigen noch vor zwei Jahren gesagt haben, daßsie aus dem Giftschrank der bösen Neoliberalen kämen.Wenn Sie die Grundgedanken aus dem gemeinsam mitTony Blair verfaßten Papier an die deutschen Verhält-nisse anpassen, kommen Sie zu Konzepten, die wirschon seit langem vertreten. Sagen Sie doch Ihren Ge-nossen, daß sie sich den Schlagabtausch mit den bösenNeoliberalen sparen können. In wenigen Jahren wird aufGewerkschaftstagen ein Themenpaket diskutiert werdenmüssen, das heute Beschlußlage der Freien Demokrati-schen Partei ist. Anders geht es nämlich nicht; die welt-weite Entwicklung wird Sie dazu zwingen.
Die alten Systeme – das hat Herr Riester schon er-kannt – tragen so nicht mehr. Ich möchte aber wissen,welche neuen tragen. In der heutigen Debatte möchte ichvon Ihnen eine Auskunft darüber haben, wie Ihr Renten-konzept wirklich aussieht. Dies möchte ich im übrigenauch von den Grünen erfahren. Deren Haltung ist javöllig gespalten: Man braucht nur die öffentlichen Äu-ßerungen und das Abstimmungsverhalten im Bundestagzu vergleichen.
Wenn man hört, was Frau Scheel zur Steuerpolitik sagt,dann frage ich mich, warum sie diesem Haushalt und derbisherigen Steuergesetzgebung zustimmen kann.
Wenn man die Jüngeren unter den Grünen zu denAltersvorsorgesystemen reden hört, dann wundert mansich, daß sie Rente nach Kassenlage überhaupt mitma-chen konnten. Es ist doch absurd, was sich bei den Grü-nen abspielt: eine komplette Identitätsverlustlinie seiteinem Jahr Regierungsbeteiligung. Sie brechen nahezujedes Wahlversprechen, das Sie Ihrer Wählerschaft ge-geben haben. Sie haben nichts von dem erreicht, wasvorher angekündigt worden ist.
Meine Damen und Herren, das ist die Situation einerRegierung nach einem Jahr, die angetreten war, vielesbesser zu machen, einen Aufbruch zu vermitteln,Deutschland nach vorne zu führen und die Fehler derVergangenheit nicht zu wiederholen. Sie sind mit einemöffentlichen Image angetreten, das im Laufe eines Jahresvöllig zu Staub geworden ist. Noch niemals in der Ge-schichte der Bundesrepublik hat eine Bundesregierungeinen derartigen Ansehensverlust innerhalb eines Jahreserlitten,
weil die Menschen spüren, daß Sie nicht vorbereitet wa-ren, daß Sie ihnen Falsches versprochen haben und daßSie Versprechen nicht halten können.Die heutige Debatte sollte sich nicht nur mit der Fra-ge beschäftigen, wann wir einen Untersuchungsaus-schuß zustande bringen können. Ich erkläre für meineFraktion, daß wir die Einsetzung dieses Ausschusses amFreitag beschließen können. Er kann sofort in Gangkommen.
Bei der heutigen Debatte möchte – neben den Tatbe-ständen, die der Untersuchungsausschuß aufzuklären hat– die deutsche Öffentlichkeit wissen, welches die Stand-orte der Parteien sind und wer für was steht, damit über-Dr. Wolfgang Gerhardt
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haupt erkennbar wird, in welche Richtung wir gehenkönnen. Das will ich jetzt beantworten.
„Die sozialen Sicherungssysteme“ – so hat Klaus vonDohnanyi, ein Mitglied der SPD, das in diesem Zusam-menhang immer zitiert wird und das ich übrigens gernzitiere, gesagt – „haben sich zu einer Barriere gegen Ar-beitsplätze entwickelt.“ Ich füge hinzu: Unser strangu-lierter Arbeitsmarkt hat sich ebenfalls zu einer Barrieregegen Arbeitsplätze entwickelt. Das weiß doch jeder.Ich kann sogar noch hinzufügen: Die hohe Steuerlast,bei der Sie überhaupt keine Anstrengung unternehmen,von ihr quer durch alle Einkommensgruppen herunter-zukommen,
hat sich zu einer Barriere gegen Arbeitsplätze entwik-kelt. Was ist denn eigentlich wirklich sozial?
Sind denn diejenigen sozial, die das meiste Geld in diesoziale Begleitung von Arbeitslosigkeit stecken? Oderhaben auch diejenigen soziales Bewußtsein, die dieKernfrage der sozialen Sicherheit in Deutschland mitdem Hinweis auf Arbeitsplätze beantworten? Im Unter-schied zu sozialpolitischen Vorstellungen der SPD sageich für die Freien Demokraten, die größte sozialeSicherheit ist ein Arbeitsplatz und nicht die Höhe derSozialhilfe, der Arbeitslosenhilfe und des Arbeitslosen-geldes.
Deshalb ist der erste Schritt moderner Sozialpolitik,Angebotsbedingungen in Deutschland so zu gestalten,daß Kapital und Technologie in Deutschland bleibenoder nach Deutschland eingeladen werden.
Anders ist soziale Sicherheit überhaupt nicht zu gestal-ten.15 Prozent Eingangssteuersatz bei der Einkommen-steuer und der Lohnsteuer, 25 Prozent mittlerer Steuer-satz und 35 Prozent oberer Steuersatz ohne Ausnahme-möglichkeiten – das ist ein Weg zu mehr Gerechtigkeitin Deutschland. Wir schlagen das vor. Wir sind bereit,das im Deutschen Bundestag zu beschließen. Der Kolle-ge Struck hat es als Weg zu mehr Gerechtigkeit be-zeichnet. Wir bitten Sie um Zustimmung, wenn wir ent-sprechende Initiativen einbringen.
Das ist ein Stück Weg für die Bundesrepublik Deutsch-land, mit niedrigen Steuern Arbeitsplätze zu sichern,neue Arbeitsplätze möglich zu machen und damit denMenschen und der Gesellschaft soziale Stabilität und so-ziale Sicherheit zu geben.Sie wissen wie wir, Herr Bundeskanzler – Sie redenja dauernd davon –, daß die mittleren und kleinen Un-ternehmen eigentlich die Wachstumsträger der Volks-wirtschaft sind, die Dynamik entfalten. Bei ihnen wer-den Existenzen gegründet, 85 Prozent der Jugendlichenausgebildet, über 60 Prozent der Steuern gezahlt undüber 50 Prozent des Bruttosozialproduktes erwirtschaf-tet. Aber Sie strangulieren die mittleren und kleinen Be-triebe doch. Sie waren ihnen doch keine Hilfe. Sie habensie mit den 630-DM-Verträgen kujoniert. Sie haben siedoch eher bedrängt, als daß Sie ihnen freie Luft zumAtmen gegeben hätten.Deshalb kann man hier auch nicht um bestimmteThemen herumreden. Diese mittleren und kleinenUnternehmen brauchen mehr Optionen, mehr Öffnun-gen, mehr Korridore im Rahmen der alten Flächentarife.Es ist einfach wahr, daß diese mittleren und kleinen Be-triebe politische Anwälte brauchen, die es ihnen auchermöglichen, Betriebsvereinbarungen zu schließen,wenn der Betrieb nicht anders gehalten werden kann.
Wenn die Tarifvertragsparteien nicht in der Lagesind, der Arbeitnehmerschaft der mittleren und kleinerenBetrieben Tarifvereinbarungen zu ermöglichen, mit de-nen sie ihre Existenz behaupten können, dann muß derDeutsche Bundestag politisch aktiv werden.Für die Freien Demokraten sage ich: Wenn die Tarif-vertragsparteien nicht in der Lage sind, den mittlerenund kleinen Unternehmen im Rahmen von Korridorenbei Tarifen und Regelungen eigene Betriebsvereinba-rungen zu ermöglichen, dann werden wir gesetzgebe-risch aktiv werden müssen. Darin steckt ein Stück Wirt-schaftskraft. Sie müssen solche Möglichkeiten erhalten.
In seinem Herbstgutachten des letzten Jahres hat derSachverständigenrat der Bundesregierung ins Stamm-buch geschrieben, daß es in den sozialen Sicherungssy-stemen keine Fairneß und auch keine Generationenge-rechtigkeit gibt. Dies gilt für das Rentensystem wie fürdas Gesundheitswesen.Um dies ganz verständlich auszudrücken, meine Da-men und Herren: Gegen große Lebensrisiken muß esimmer solidarische, gemeinschaftliche Versicherungengeben. Das steht völlig außer Zweifel. Eine schwerwie-gende Krankheit ist eines der großen Lebensrisiken, fürdie ein solidarischer Schutz unabdingbar ist. In solchenFällen steht man füreinander ein. Das ist überhaupt kei-ne Frage. Gilt das aber für jeden Husten, für jede Grip-pewelle, für jede Kur? Ich glaube, daß wir den Bürge-rinnen und Bürgern, wenn wir ihnen eine umfassendeSteuersenkung zugute kommen lassen, zumuten können,das Ausmaß ihrer Versorgung über die Absicherung vonGrundrisiken hinaus selbst zu regeln und auch selbst zubestimmen. Sie sollten Wahlmöglichkeiten haben.Es ist der große Irrtum der deutschen Linken, daßWettbewerb, Markt, freie Entscheidung und Eigenver-antwortung nicht ausreichend zur Versorgung mit Gü-tern beitragen. Ich bin der Überzeugung: Wenn man denMenschen mehr vom Ertrag ihrer Leistung beläßt undsie bittet, mit diesem Mehrertrag ihrer Leistung einStück eigene Vorsorge zu treffen, um der nachfolgendenDr. Wolfgang Gerhardt
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jungen Generation mehr Arbeitsmarktchancen zu geben,werden sie das tun.
Dies ist aber das glatte Gegenstück zu der Politik, dieSie, Herr Bundeskanzler, mit Rotgrün machen. Sie müs-sen Steuern und Abgaben senken, und Sie müssen Spiel-raum für eigenverantwortliche Altersvorsorge schaffen.Die Formel – Sie kennen sie auch; nur, Sie sollten einenGesetzentwurf vorlegen – lautet: Weniger Umlage plusmehr Vermögensbildung gleich Sicherung des Lebens-standards im Alter.Bis heute liegt diesem Haus kein Rentenreformmo-dell der SPD und keines der Bundesregierung vor. DieGenerationen in Deutschland haben aber nach einemJahr Regierung von SPD und Grünen allmählich An-spruch darauf zu erfahren, worüber bei diesem wichti-gen sozialen Thema verhandelt werden soll. Wir erklä-ren wie auch die Union unsere Bereitschaft, über einengroßen Generationenvertrag zu reden. Eine unerläßlicheVoraussetzung hierfür ist es aber, daß Sie endlich etwasvorlegen und uns sagen, wohin es mit einem der größtensozialen Sicherungssysteme gehen soll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht aber nichtnur um die traditionellen sozialen Sicherungssysteme.Sie wissen alle, daß soziale Sicherheit, gesellschaftlicheund demokratische Stabilität in Deutschland dringendvoraussetzen, daß sich dieses Land auch im nächstenJahrtausend seine technologische Höchstleistungskom-petenz bewahrt.Insoweit ist der Transrapid nur ein äußeres Beispieleines inneren Denkzustandes. Den Transrapid haben Sie,meine Damen und Herren von den Grünen, nie gewollt.Sie haben anfangs umfangreich, über alle Felder hinweg,kritisiert. Diese Kritik mußten Sie dann aber langsamzurückziehen, weil der Transrapid weniger Energie undweniger Fläche für den Fahrweg verbraucht, schnellerund leiser fährt und genauso sicher ist wie die Bahn. Siehaben sich dann auf einen Kostenrahmen von6,1 Milliarden DM eingelassen. Herr Bundeskanzler,damals war klar – und die Grünen haben es auch er-klärt –: Dies ist die stille Beerdigung des Transrapid. Ichstelle mir vor, daß sich so ungefähr auch die Gegner derersten deutschen Eisenbahnstrecke zwischen Nürnbergund Fürth verhalten haben. Mit einem solchen Verhaltenkommt ein technisches Projekt niemals zustande.
Weltweit gibt es 400 Kernkraftwerke. Viele sindgegenwärtig im Bau, im übrigen auch in den osteuropäi-schen Ländern. Nahezu alle im Bau befindlichen Kern-kraftwerke weisen nicht den Sicherheitsstandard auf,den die deutschen Kernkraftwerke haben. Wenn Sie sieabschalten wollen, müssen Sie der Bevölkerung auchklar sagen, wieviel Tausende Tonnen Schwefeldioxid,Stickoxide, Staub und Kohlendioxid mehr in die Luftgeblasen werden. Damit erreichen Sie Ihr Klimazielnicht, und Sie vernichten damit Arbeitsplätze in For-schung und Entwicklung. So vernichtet man in der Bun-desrepublik Deutschland zugunsten einer Ideologie vongestern Arbeitsplätze von morgen.
Die Kernenergie ist mehr als eine Technologie. IhreBeherrschbarkeit muß gesichert sein. Aber sie muß imInteresse der hochtechnologischen Leistungsfähigkeiteiner großen Industrienation erhalten bleiben. Deshalbist das kein Spielball für rotgrüne Vereinbarungen.Die junge Generation, verehrte Kolleginnen undKollegen von den Grünen, ist im übrigen immer eineneue junge Generation. Sie spüren das ja gegenwärtig.Sie laufen Ihnen nicht mehr scharenweise zu.
Das ist auch keine 68er-Bewegung im Nachklapp mehr.Diese junge Generation, mit der wir es heute zu tun ha-ben, ist technisch interessiert. Sie legt Wert darauf, inabsehbarer Zeit zu einem Abschluß zu kommen. Sie willverkürzte Studienzeiten. Sie war auf der Straße, um zuprotestieren, weil die Bibliotheken zu gering ausgestattetsind, die Praktika nicht ausreichend angeboten werdenund weil sie wollten, daß Vorlesungen auch freitags an-geboten werden und nicht nur dienstags, mittwochs unddonnerstags.Das ist eine sehr ehrgeizige, qualitätsbewußte jungeGeneration. Ihr ist mit Technologiefeindlichkeit, mit al-ter Bildungspolitik und mit alter Hochschulpolitik, wieSie sie betreiben, nicht mehr beizukommen. Ich wagedie Behauptung, Frau Bulmahn, daß diese junge Gene-ration gern bereit ist, an deutschen Universitäten Studi-engebühren zu bezahlen, wenn sie nur die Sicherheithätte, in einem Studiengang in absehbarer Zeit einenqualitativ hochwertigen Abschluß zu bekommen.
Deshalb ist diese Wettbewerbsfeindlichkeit im Sy-stem der Hochschulpolitik, die Rotgrün ausprägt, sofalsch. Wir brauchen mehr Autonomie, mehr Dezentra-lität, mehr Wettbewerb und Hochschulen, die sich ihreStudenten selbst aussuchen können. Wenn wir überAutonomie reden, gehört dazu: Die Hochschulen sollenselbst entscheiden können, ob sie Studiengebühren erhe-ben oder nicht.
Diese Bevormundung, diese Gängelei, dieses Bestre-ben, daß im Bildungswesen alles gleich sein muß, allesflächendeckend, alles einheitlich, alles kollektiv, daßsich da nichts an der Seite entwickelt, daß man sogareher Angst hat, wenn sich einige schneller entwickeln,daß man um den Zusammenhalt von Klassenverbändenfürchtet, daß man Neid entwickelt, wenn besondere Ta-lente auftreten – das ist das Falsche an Ihrer Politik. Siezerstören ein Stück Zukunftsfähigkeit des Landes. Dasmüssen Sie ändern.
Dr. Wolfgang Gerhardt
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Schließlich, Herr Kollege Schily: Ob Deutschland einEinwanderungsland ist oder nicht, kann man mit derUnion hin- und herdiskutieren. Tatsache ist: Es findetEinwanderung statt. Deshalb reicht mir Ihre Äußerung,daß Sie nicht glauben, daß das deutsche AsylrechtGrundlage europäischer Harmonisierungsbestrebungensein kann, ernsthaft nicht. Diesem Haus liegt ein Zu-wanderungsbegrenzungsgesetz der F.D.P. vor. Sie wis-sen wie ich, daß die Zuwanderung begrenzt werdenmuß, weil wir nicht die sozialen Probleme aller Welt inDeutschland lösen können.
Wenn Sie das wissen, müssen Sie konstruktiv denGesetzentwurf beraten, den wir eingebracht haben. Ichspreche das heute an, weil ich der Überzeugung bin, daßwir darüber ehrlich diskutieren müssen. Es ist an derZeit, nach der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts of-fen, wenn nötig streitig, aber klar über eine Begrenzungder Zuwanderung nach Deutschland zu reden, weil wirnicht die Probleme aller Welt auf dem Boden der Bun-desrepublik Deutschland lösen können. Das gesetzlichzu regeln ist notwendig und unumgänglich.
Zum Abschluß: Nachhaltige Veränderungen, die wirvor uns haben, brauchen einen Grundkonsens, aber siebrauchen auch eine Streitkultur. „Neoliberal“ ist keinSchimpfwort, sondern die klarste Positionsbestimmungfreiheitlicher und erfolgreicher Wirtschafts- und Gesell-schaftsmodelle. Als Ludwig Erhard als Neoliberaler kri-tisiert worden ist, hat er sich klar zur Schule der neoli-beralen Ordnungspolitik bekannt – wie auch ich. Esgibt weltweit kein erfolgreicheres Modell. Alle Alterna-tiven dazu sind vor einem Jahrzehnt vor unseren Augenwie ein Kartenhaus zusammengefallen.
Deshalb führt kein Weg an Eigenverantwortlichkeit,Privateigentum, Gewerbe- und Vertragsfreiheit und of-fenen Märkten vorbei. Wir gewinnen die Zukunft nichtmit einem Vorsorgestaat, nicht mit Verteilung, nicht mitgenereller Interventionsbereitschaft. Das ist bequemer,aber falsch. Ich glaube, daß wir weg müssen von einemVollkaskodenken und vom Anspruchsdenken. Das istunbequemer, aber richtig. Es ist jedenfalls das Zeichender Qualität einer Gesellschaft und die Grundlage einerfreiheitlichen Ordnung.
Kollege Gerhardt,
bitte kommen Sie zum Schluß.
Ich bin fertig.
Das ist das Programm der F.D.P. Sie sagen immer,
die Opposition habe kein Konzept. Ich lege es Ihnen vor.
Sie können sich darauf auf allen Feldern einlassen. Das
wäre besser für Deutschland.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun
der Kollege Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube,heute ist entgegen dem, was von Ihnen, Herr Glos, ge-sagt worden ist, ein guter Tag für Deutschland, und zwardeshalb, weil wir mit der Entscheidung über den Haus-halt 2000 den zweiten Schritt machen, um die Hand-lungsfähigkeit unseres Staates zurückzugewinnen unddauerhaft zu sichern.Bereits mit dem Haushaltssanierungsgesetz haben wirentschlossen begonnen, die finanzielle Erblast der altenRegierung in Höhe von 1,5 Billionen DM Schulden ab-zutragen. 14 Milliarden DM weniger Ausgaben konntenwir bereits vor zwei Wochen realisieren.Mit der heutigen Entscheidung über den Bundeshaus-halt 2000 reduzieren wir die Ausgaben um weitere16 Milliarden DM. Wir haben also geschafft, woran dieehemalige Regierung, die heutige Opposition, geschei-tert ist und was die heutige Opposition für unmöglichgehalten hat, nämlich den Abbau des strukturellen De-fizits im Bundeshaushalt.
Wir haben unser ehrgeiziges Ziel, 30 Milliarden DMeinzusparen, erreicht. Entgegen dem, was uns die Oppo-sition glauben machen will, muß ich feststellen, daß die-ser Kurs weit in Ihre Kreise hinein, und zwar in derWirtschaft, in Publikationen und in Ihren ureigenstenReihen, auf breiten Konsens stößt. Ich zitiere nur weni-ge: „Kurt Biedenkopf“ – so hieß es in der „BerlinerZeitung“ – „will den Sparkurs der Bundesregierung imBundesrat grundsätzlich unterstützen.“
Der Präsident des DIHT, Peter Stihl, sieht uns bei derHaushaltskonsolidierung auf dem richtigen Weg.
Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, der die von Ih-nen zur öffentlichen Anhörung des Haushaltsausschus-ses über das Haushaltssanierungsgesetz als Sachverstän-diger eingeladen war, meinte, daß eine Ablehnung unse-res Konsolidierungsprogrammes unverantwortlich sei.Da kann ich nur sagen: Wo er recht hat, hat er recht.
Auch Ihr Leib- und Magenblatt, die „FAZ“, kommen-tierte am vergangenen Montag:Dennoch müssen Union und F.D.P. mit ihren Krit-teleien aufpassen ... Damit drohen sie selbst in eineGlaubwürdigkeitsfalle zu laufen.
Dr. Wolfgang Gerhardt
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Herr Glos, Herr Gerhardt, es ist schon spannend, zubeobachten, wie Sie sich winden, welche Rechen- undTaschenspielertricks Sie heranziehen, um den Erfolg derRegierungskoalition kleinzureden. Erst hieß es – das isterst wenige Monate her –: Das schaffen die nie! Dannhieß es – das ist erst einige Wochen her –: Das mit demSparen ist schon recht; aber ihr schafft es nie, die glo-balen Minderausgaben titelgenau zu etatisieren! Jetztheißt es: Ob das mit dem Sparen so richtig ist, wissenwir nicht; aber auf jeden Fall habt ihr an den falschenStellen gespart!Bis heute liegt von Ihnen keine Alternative vor. HerrGlos, immer wenn Sie sprechen, ist das ein Beleg dafür.Wenn die Union keine Alternative hat, schickt sie denbayerisch-fränkischen Geschichtenerzähler hier an dasPult.
Das ist der Beleg dafür, daß von Ihnen keine Alternativezu dem, was wir vorgelegt haben, vorgebracht wordenist. Sie solidarisieren sich mit den Protesten gegen unserSparprogramm, sagen aber gleichzeitig, daß in Wahrheitnicht gespart werde. Wie das zusammenpaßt, versteheich nicht.Sie wollen Etatposten wie zum Beispiel den der Bun-deswehr und den der Landwirtschaft erhöhen, sagenaber nicht, daß der Verteidigungshaushalt unter HerrnRühe als Verteidigungsminister gnadenlos zusammen-gestrichen worden ist, ohne daß es zu einer Strukturre-form der Bundeswehr gekommen ist. Sie haben dieStrukturreform verschlafen.
Sie blinken links und bleiben rechts, mit einer Panne aufdem Standstreifen stehen.Ein besonders schäbiges Beispiel – das möchte ichhier anführen – ist Ihr Umgang mit der Aufstockung derLeistungen für die Opfer politischer Verfolgung in derehemaligen DDR. Über Jahre hinweg haben Sie die po-litischen Häftlinge hingehalten und es bei der Hälfteder westdeutschen Haftentschädigung belassen. Wir ha-ben in diesem Haushalt trotz knapper Kassen die Lei-stungen für die ehemaligen Häftlinge auf 600 DM proMonat aufgestockt. Aber jetzt, kaum sind Sie in der Op-position, haben Sie keine Hemmungen, einen Gesetz-entwurf für eine weitergehende Haftentschädigung vor-zulegen. Das ist wirklich ein Papier der Firma Scheinund Heilig.
Seien Sie sicher, meine Damen und Herren von derOpposition: Die Betroffenen wissen sehr genau, wer sieüber Jahre hinweg mit mangelhaften Gesetzen hin-gehalten hat und wer ihnen jetzt unter schwierigsten Be-dingungen so gut es geht unter die Arme greift. IhreLuftbuchung auf das Konto der Opfer von Gewalt undVerfolgung spricht Bände über die Seriosität Ihrer Poli-tik.
Ich kann nicht verstehen, wie Ihnen die Bürgerrechtlerin Ihren Reihen dazu noch die Hand reichen können.
Aus eigener Erfahrung auf Grund einer langen Zeit inder Opposition sage ich Ihnen: Wenn die eigene Strate-gie schneller Schimmel ansetzt als der Käse im Kühl-schrank, dann ist es Zeit, innezuhalten und keine Ge-schichten mehr zu erzählen, Herr Glos.
Herr Merz hat uns gestern lange Zitate aus dem Gut-achten der fünf Wirtschaftsweisen von letzter Wochezum Thema Haushaltskonsolidierung vorgelesen. Ichmöchte ebenfalls eine Stelle daraus zitieren und dies anIhre Adresse richten. Dort steht:In der Verantwortung stehen in erster Linie die Re-gierung und die sie tragende Koalition, ebenso aberauch die übrigen im Parlament vertretenen Parteien;auch sie verlieren auf Dauer an Glaubwürdigkeit,wenn sie um kurzfristiger taktischer Vorteile willendie konstruktive Mitarbeit an einem im Prinzip alsrichtig erkannten Reformkurs verweigern.So weit die fünf Weisen.
All Ihr Genörgel an den Details unseres Konsolidie-rungskurses – mehr ist Ihnen ja am Ende der Haushalts-beratungen nicht eingefallen – ändert nichts daran, daßUnion und F.D.P. mit dem heutigen Tag trotz manchentagespolitischen Erfolgs, den ich Ihnen gönne, eine lang-fristige und strategische Niederlage erleiden.Die Regierungskoalition aus SPD und Grünen, dieKoalition, die Sie so gerne als etatistische Gesellen dar-stellen, hat Sie auf Ihrem ureigenen Feld der Finanz-und Haushaltspolitik nachhaltig geschlagen!
Das ist Ihre strategische Niederlage.Freuen Sie sich nicht zu früh, Herr Kollege Rühe undHerr Kollege Rüttgers! Es ist mutig von Ihnen beiden,daß Sie sich zu Höherem berufen fühlen – bei der Bi-lanz, die Sie als ehemaliger Bundesminister vorzuweisenhaben. Es kann also sein, daß wir Sie in unseren Reihenhalten und auch weiterhin freundlich begrüßen werden.
Das ist nur der parteipolitische Aspekt. Ich sage Ih-nen aber ganz ehrlich: Hätten wir nur diesen Erfolg er-langt, hätten wir nur ein bißchen entschlossener gespartals die alte Regierung, hätten wir es nur besser und nichtauch anders gemacht, so könnte ich mich nicht darüberfreuen! Stolz bin ich darauf, daß es uns gelungen ist, dasRezzo Schlauch
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Sparen mit dem Aufbauen, das Sparen mit dem Gestal-ten zu verbinden;
denn für diese Regierungskoalition gehören solide Fi-nanzpolitik, soziale Gerechtigkeit und ökologische Er-neuerung zusammen.
Deshalb haben wir nicht nur das ehrgeizigste Konso-lidierungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepu-blik auf den Weg gebracht, sondern gleichzeitig neueAkzente für ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit ge-setzt. Wir sparen 30 Milliarden DM ein und belassendurch eine Steuerreform 20 Milliarden DM netto mehrin den Taschen der Bürgerinnen und Bürger. Wir sparen30 Milliarden DM ein und ermöglichen einer Familiemit zwei Kindern, mit 1 200 DM mehr pro Jahr ins neueJahrhundert zu starten.
– Ich weiß: Das tut Ihnen weh. Wir sparen 30 Milliar-den DM ein und haben die Sozialhilfesätze für Kindererhöht, damit unsere neue Familienpolitik wirklich allenFamilien zugute kommt.
Bereits zum 1. Januar 2000 werden die Steuersätzeerneut sinken. Wir finanzieren unsere Steuerreform seri-ös. Sie von der Opposition wollen sie wahlweise miteiner Erhöhung der Mehrwertsteuer oder – so die neue-ste Idee aus München – mit einer grandiosen Neuver-schuldung gegenfinanzieren. Ich weiß, daß es HerrStoiber in Bayern mit den Millionen nicht so genaunimmt. Aber der neueste Finanzcoup stellt die Immobi-lienaffäre des Herrn Stoiber bei weitem in den Schatten.Nicht genug damit, daß nach dem CSU-Vorschlag dieSteuersenkungen auf Pump finanziert werden sollen. DieRealisierung dieses Vorschlages wäre ein offener Ver-fassungsbruch. Mit einer solchen Höhe der Verschul-dung würden auch die Maastricht-Kriterien unterlaufen,würde die Stabilität des Euro und somit der Prozeß dereuropäischen Einigung insgesamt gefährdet.
Daß das der CSU meistens egal ist und daß es viel-leicht sogar gewollt ist, daß die Melodien der eurokriti-schen und der abwehrenden Töne zur Erweiterung derEuropäischen Union in das Bild passen, scheint mir andiesem Vorschlag auch nachweisbar zu sein. Wir haltendie Maastricht-Kriterien ein und entlasten die Bürgerin-nen und Bürger von Steuern und Abgaben. Bei uns stei-gen die Nettolöhne endlich wieder; bei Ihnen sind siegesunken, und das über acht lange Jahre hinweg. DieArbeitnehmer und Angestellten haben mit weniger Net-tolöhnen in die Röhre geschaut.
Schauen wir einmal genauer in: Was haben Sie ge-macht, und was bringen wir auf den Weg? Von 1982 bis1998 ist der Eingangsteuersatz um 4 Prozent gestiegen.Wir senken ihn in nur vier Jahren um 6 Prozent. Wäh-rend der 16 schwarzgelben Jahre ist die Mehrwertsteu-er um 3 Prozent gestiegen, bei uns bleibt sie stabil. Inder Verantwortung der heutigen Opposition – Herr Kol-lege Struck hat es gesagt – wurde die Mineralölsteuerum 58 Pfennig erhöht. Jetzt regen sich dieselben Akteu-re auf, wenn wir die Mineralölsteuer um 6 Pfennig proJahr erhöhen. Ich kann nur sagen: Scheinheiliger geht esin diesem Punkt der Auseinandersetzungen wirklichnicht.
Sie haben aber nicht nur die Steuern erhöht, Sie ha-ben auch die Schulden erhöht. Allein von 1982 bis 1990hat Schwarzgelb die Verschuldung verdoppelt, um siebis 1998 noch einmal zu verdoppeln. Das ist der konser-vative Faktor 4: mehr Schulden, weniger Nachhaltigkeit.
Noch ein Wort an die so putzmuntere bürgerlicheProtestpartei mit den drei Pünktchen. Sie fragen in Ihrerneuesten Kampagne: Bin ich denn total besteuert?
Die Antwort fällt nach 29 Jahren Ihrer Mitregierungeindeutig aus: Erhöhung des Eingangssteuersatzes um7 Prozent, Erhöhung der Mehrwertsteuer um 5 Prozent,Erhöhung der Mineralölsteuer um 73 Pfennig – das istIhre beeindruckende „Erfolgsbilanz“!
An Ihrer Stelle würde ich der Agentur, die Ihnen dasaufgeschrieben hat, das Honorar wegen des grandiosenEigentors, das Sie damit geschossen haben, verweigern.
Mit dem Kurswechsel beim Thema Rente hat dieUnion bereits begonnen, ihre Fundamentaloppositionaufzugeben, und wir begrüßen es, daß Sie zur Vernunftzurückkehren und ohne Vorbedingungen, die Sie sonstimmer gestellt haben, nun mit der Koalition über eineRentenstrukturreform reden wollen, bei der wir die Fra-ge der Generationengerechtigkeit in den Vordergrundstellen wollen.
– Da können Sie gespannt sein; ob Sie daran teilnehmen,wissen wir ja noch nicht.Ich kann nur sagen: Solide Finanzpolitik, soziale Ge-rechtigkeit und ökologische Erneuerung verhalten sichwie kommunizierende Röhren: Ein Weniger bei einemführt zu einem Weniger bei allen; umgekehrt muß einMehr des einen zu einem Mehr bei allen führen. DeshalbRezzo Schlauch
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haben wir nicht nur angefangen, den Haushalt wieder insGleichgewicht zu bringen und die soziale Fairneß in un-serer Gesellschaft wiederherzustellen, sondern wir ha-ben gleichzeitig damit begonnen, unser Land so zu ver-ändern, daß wir auch morgen noch in einer gesundenUmwelt leben können. Deshalb ist auch der Atomaus-stieg für uns unverzichtbar. Die Atomkraftbetreiberfühlen sich ihren Aktionären verpflichtet. Ob sie ange-sichts der ökonomischen Situation der Atomkraft gut be-raten sind, steht auf einem anderen Blatt. Wir fühlen unsdem Souverän des Landes, nämlich den Bürgerinnenund Bürgern, verpflichtet. Sie haben mit ihrer Wahlent-scheidung verdeutlicht, daß sie den Ausstieg aus derAtomenergie wollen.
Wenn möglich, werden wir das im Konsens durchfüh-ren; wenn nicht möglich und wenn nötig, aber auch imDissens.
Bündnis 90/Die Grünen stehen auf der Seite der neu-en innovativen Energieunternehmen. Wir schaffen dienotwendigen Freiräume für Innovationen und Investitio-nen. Es gilt, in der Energiewirtschaft Perspektiven fürdauerhaft sichere und zukunftsfähige Arbeitsplätze zueröffnen. Diese Perspektiven können nicht in der Ener-gieversorgung der Vergangenheit liegen, sondern hiermüssen neue Wege begangen werden, die wir mit denregenerativen Energien, mit dem 100 000-Dächer-Programm, mit der Stützung der Kraft-Wärme-Kopp-lung eröffnet haben.
Das Sparprogramm ist in ein Zukunftsprogramm unddas Zukunftsprogramm in eine übergeordnete Politikeingebunden. Unser Ziel ist es, in einer sich rasant wan-delnden Welt für die Menschen in unserem Land sozialeSicherheit in gesunder Umwelt zurückzugewinnen undsie heute und morgen zu sichern.Nun sagt die Union, daß wir es nicht können. Einmutiger Satz! Damit wir uns richtig verstehen: DieStartschwierigkeiten, die wir hatten, sind gern zugege-ben. Aber bevor Sie, Herr Glos, in zuviel Hochmut ver-fallen,
sei Ihnen ein Blick zurück auf den Anfang der AmtszeitIhrer Regierung gewährt. Ich zitiere aus einem Kom-mentar, der nach einem Jahr Kohl, 1983, veröffentlichtwurde:Statt dessen gehören zum RegierungsprogrammKonzeptionslosigkeit in der Wirtschafts- und Ge-sellschaftspolitik, Laiengastspiele in der Außenpo-litik – Dinge, über die „Männerfreund“ Straußmault. Helmut Kohl betreibt das politische Ge-schäft allein mit dem bescheidenen Mittel der In-tuition,
die sich aus einem schlicht-schlauen Gefühlsvorratspeist.Soweit ein Kommentar aus dem Jahre 1983 zu einemJahr Schwarzgelb.
Angesichts dessen können wir uns mit unserer Bilanz,glaube ich, sehr gut sehen lassen.
– Herr Glos, die Quelle kann ich Ihnen benennen. Daswar der „Spiegel“ vom Ende des entsprechenden Jahres.
– Ein wichtiges Publikationsorgan.
Dieser Satz „Wir können es nicht!“ sagt übrigensmehr über Sie selbst als über uns: warum wir und nichtSie die Nettoneuverschuldung gesenkt haben, warumwir und nicht Sie die Familien endlich wieder deutlichbesser gestellt und mehr in die Bildung ihrer Kinder in-vestiert haben,
warum wir und nicht Sie die Bezieher kleiner und mitt-lerer Einkommen entlasten und die Lohnnebenkostensenken. Sie haben es nicht getan, weil Sie es nicht woll-ten und weil Sie es bis heute nicht wollen.
Statt dessen wollen Sie den Menschen weismachen,es gebe einen inneren Zusammenhang zwischen denweltweiten Veränderungen und Ihrer Politik der sozialenKälte. Ihre Antwort auf die Veränderungen von außenwar und ist der Strukturkonservatismus nach innen. Sieglauben, es reiche aus, an dem Bestehenden festzuhaltenund die sozialen Sicherungssysteme durch Kürzungenbei den sozial Schwächsten zu kitten. Sie wollen diekurzfristige Sicherheit der Mehrheit auf Kosten derMinderheit und der Zukunft erkaufen.Wenn es noch eines Beweises bedurfte, welch GeistesKind Schwarzgelb war und bis heute ist, dann sind esdie Äußerungen von Ihnen, Herr Gerhardt, aus der„Süddeutschen Zeitung“ vom 8. November. Dort lesenwir: Gerhardt gegen den Begriff der sozialen Markt-wirtschaft. – Markt und Wettbewerb und VielfaltRezzo Schlauch
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reichten aus, die Versorgung der Menschen mit sozialerSicherheit und Gütern sicherzustellen.
Und weiter – das muß man sich genau anhören –: Diesoziale Funktion stelle sich dann wieder ein, wennMarktwirtschaft richtig funktioniert.
Für Sie sind also der Schutz vor Armut und die Siche-rung des Lebensstandards in Zeiten von Arbeitslosigkeitnur mehr noch eine soziale Funktion? Haben Sie eigent-lich eine Ahnung, wie viele Menschen in unserem Landauf das, was Sie „soziale Funktion“ nennen, angewiesensind?
Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie viele Menschenjetzt, zu Beginn des Winters, kein Dach über dem Kopfhätten, wenn es diese soziale Funktion nicht geben wür-de? Ich kann nur sagen: Was für Sie eine „soziale Funk-tion“ ist, das ist für uns ein Herzensanliegen.
Was für Sie soziales Beiwerk ist, ist für uns die Grund-lage für eine funktionierende soziale Marktwirtschaft.
Kollege Schlauch,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ger-
hardt?
Ja, gerne.
Herr Kollege
Schlauch, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß
die soziale Marktwirtschaft nicht eine Addition aus
Marktwirtschaft und Sozialpolitik ist, sondern daß der
Begriff der sozialen Marktwirtschaft, wie ihn Ludwig
Erhard geprägt hat, die Versorgung einer Gesellschaft
mit Gütern und die Bewahrung vor sozialer Not meint?
Sie haben offensichtlich nicht begriffen, daß Sie sich mitdem, was ich zitiert habe, gegen den Begriff der sozialenMarktwirtschaft ausgesprochen haben. Sie wollen derreinen Marktwirtschaft bestenfalls eine soziale Funktionzukommen lassen.
Das ist nun wirklich verkürzt. Deshalb setze ich michjetzt auch nicht weiter mit Ihnen auseinander.Sie haben – das gilt für die gesamte Opposition – auskurzfristigen parteipolitischen Erwägungen heraus dieVeränderungsbereitschaft der Bevölkerung ins Leerelaufen lassen. Der Herr Kollege Schäuble, dem ich vonhier aus beste Genesung und Besserung wünsche, undauch der Herr Kollege Merz reden immer wieder vonder Veränderungsbereitschaft der Menschen in diesemLand. Sie haben diese Veränderungsbereitschaft ins Lee-re laufen lassen. Ja, schlimmer noch: Sie haben sogarden Eindruck erweckt, als brauche es diese Veränderun-gen gar nicht. Das ist neben der finanziellen Erblast dienoch größere geistig-moralische Erblast Ihrer Politik, dieSie uns hinterlassen haben.
Gestatten Sie mir einen Satz zu dem beantragten Un-tersuchungsausschuß. Wir von der Fraktion der Grü-nen haben diesen Untersuchungsausschuß von Anfangan gewollt. Wir finden gut, daß er jetzt eingesetzt wird.Aber eines muß ich Ihnen schon sagen, meine Damenund Herren von der Union: Sie verkehren die Rollen et-was. Nicht wir, sondern Sie haben etwas zu erklären.Und dazu hatten Sie Zeit genug, aber Sie haben ge-schwiegen!
Bei Herrn Kohl hat sich das vorhin etwas anders ange-hört.
Die notwendigen Veränderungen für ein dauerhaftesMehr an Sicherheit führen jedoch kurzfristig zu einemMehr an Unsicherheit. So erscheint den Menschen dasFesthalten am Status quo kurzfristig besser und sichererals der mutige Weg der Erneuerung und dauerhaften Si-cherung der Zukunft. Dieser Teufelskreis ist das größteHandicap, das die alte Regierung zurückgelassen hat.Das ist die geistig-moralische Erblast von Schwarzgelb.Sie zu überwinden ist noch schwieriger, als einen Haus-halt zu sanieren und aus der Schuldenfalle herauszu-kommen
Trotz dieses schwierigen Erbes haben wir uns für denWandel und gegen den Stillstand entschieden. Dafürzahlen wir – das zeigen die letzten Wahlen – kurzfristigeinen hohen Preis. Aber wir sind uns sicher, daß es nurso gelingen kann, den Menschen die soziale Sicherheitzurückzugeben, die die Grundlage für die individuelleFreiheit bildet, Herr Gerhardt.
Wir öffnen mit unserer Politik die Zukunft. Wir er-neuern das Land heute so, daß wir es morgen guten Ge-wissens an unsere Kinder übergeben können. Deshalbbelassen wir es nicht wie die Opposition bei der Be-schreibung der Probleme, sondern wir haben uns an dieLösung gemacht.Rezzo Schlauch
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6528 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Meine Damen und Herren, die Bilanz der letztenMonate liest sich kurz wie folgt: Wir wollten das alteStaatsbürgerschaftsrecht modernisieren, ein Unterneh-men, zu dem Sie über Jahre hinweg keine Lust hatten,an dem die F.D.P. gescheitert ist. Wir haben es getan.
Wir wollten durch die Ökosteuer Arbeit billiger undUmweltverbrauch teurer machen. Wir haben es getan.
Wir wollten Eingangs- und Spitzensteuersatz senken,meine Damen und Herren von der F.D.P. Wir haben esgetan, Sie nicht.
Wir wollten das Existenzminimum und das Kindergelderhöhen. Wir haben das getan.
Wir wollten arbeitslosen Jugendlichen endlich wiedereine Perspektive geben. In fast 200 000 Fällen haben wires getan, während Sie das Thema ignoriert haben.
Wir wollten mehr in Bildung investieren. Wir haben esgetan. Wir wollten regenerative Energien fördern. Wirhaben es getan. Und wir wollten die Staatsfinanzen inOrdnung bringen. Mit dem Haushaltssanierungsgesetzvor zwei Wochen und mit dem Haushalt heute haben wirdas in einem ersten Schritt getan. Weitere Schritte wer-den folgen.
Das alles zeigt: Diese Regierung ist handlungsfähig,meine Damen und Herren von der Opposition.
– Ja, das macht mir besondere Freude –: Sie ist trotz ge-änderter Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat handlungs-fähig. Das haben Sie über Jahre hinweg nicht geschafft.
Das zeigt auch: Wir haben unsere Probleme hinter uns.Sie von der Opposition haben sie vor sich!
Wir werden auch im nächsten Jahr unseren Kurs derfinanziellen Seriosität, der sozialen Gerechtigkeit undder ökologischen Erneuerung fortsetzen. Ich bin sicher,wir werden wie heute auch beim Haushalt 2001 sagenkönnen: Dies ist ein guter Tag für unser Land.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der PDS, Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Herr Schlauch, Sie haben viel Bei-fall von der Regierungskoalition bekommen. Es war jaauch eine erstaunliche Erfolgsbilanz, die Sie hier vorge-tragen haben.
Ich warne nur ein bißchen vor der Haltung, die dahinter-steckt: Was die Partei sagt, wird morgen sein. Das kenneich.
Ich finde, Ihre Bilanz ist sehr einseitig ausgefallen. DieSelbstkritik, die auch erforderlich gewesen wäre, fehltemir.
Ein Satz hat mich besonders stutzig gemacht, HerrSchlauch. Sie haben Ihr Sparprogramm gewürdigt undin diesem Zusammenhang darauf hingewiesen – und dasder Union vorgehalten –, daß Ihr Sparprogramm vonMinisterpräsident Biedenkopf, vom Präsidenten desDeutschen Industrie- und Handelstags, Stihl, von derDeutschen Bank und von der „FAZ“ gelobt wird. Früherhätte es die Grünen stutzig gemacht, wenn sie geradevon den vier so gewürdigt worden wären.
Heute empfinden Sie das als Bestätigung. Ich finde, Siesollten darüber nachdenken.Ich möchte eine Bemerkung zu dem machen, wasHerr Struck gesagt hat. Sie haben am Anfang Ihrer Rededen Brief eines CSU-Mitglieds als Bestätigung IhrerPolitik zitiert. Vor dieser Methode kann ich nur warnen.Was glauben Sie, wie viele Briefe ich von SPD-Mitgliedern bekomme? Ich käme aber nie auf die Idee,sie hier als Nachweis zu zitieren. Das sollten wir nichteinführen.
Sie haben auch über die Spendenaffäre der Uniongesprochen. Ich meine, alles, was damit in Zusammen-hang steht, ist schon ein starkes Stück. Es fängt mit einerSpende von einem Waffenhändler an. Es geht damitweiter, daß die Spende bar erfolgte. Ich frage: Warumwurde sie eigentlich nicht überwiesen? Warum wurdesie als Bargeld in einem Koffer überreicht? Warumwurde sie nicht auf ein normales Konto eingezahlt?Warum wurde ein eigenes Konto dafür eingerichtet?Hier ist Aufklärung wirklich dringend geboten.Rezzo Schlauch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6529
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Ich sage Ihnen aber auch: Wenn sich der Bundestagentscheidet, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen,dann ist der Untersuchungsausschuß das Gremium, indem die Fragen geklärt werden. Dann ist es nicht fair,das vorher im Plenum zu versuchen und mit Vermutun-gen zu operieren und sie als Tatsachen darzustellen.Dann lassen Sie uns das alles im Untersuchungs-ausschuß klären!An die Adresse der Union möchte ich sagen: KönntenSie sich in etwa die Überschrift in der „Bild“-Zeitungvorstellen, wenn ein führender PDS-Politiker 1 MillionDM in bar in einem Koffer bekommen hätte? Ich kannsie mir vorstellen. Glauben Sie im Ernst, daß Sie nachdem Motto vorgegangen wären, es gilt zunächst die Un-schuldsvermutung,
oder wären Sie nicht minuten- oder sogar stundenlangüber uns hergezogen? Ich bin für Fairneß und Recht-staatlichkeit. Deshalb werde ich mich an Vorverurtei-lungen nicht beteiligen. Ich bitte Sie nur, in umgekehr-ten Fällen – und nicht nur als Betroffene – diese Prinzi-pien ebenfalls gelten zu lassen.
Lassen Sie mich dazu noch eine Bemerkung machen.Die Frage, die der Kollege Dr. Kohl hier gestellt hat,kann Herr Struck überhaupt nicht beantworten. Wennwir den Untersuchungsausschuß ernst nehmen, dannentscheidet der Untersuchungsausschuß über die Be-weisaufnahme und darüber, wann welche Zeugen gehörtwerden. Es wäre schon eine Verletzung der Regeln desUntersuchungsausschusses, wenn er hier etwas zusi-chert, was der Untersuchungsausschuß zu entscheidenhat. Dort muß es geklärt werden, und das muß zügig ge-hen; da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu.Herr Struck, Sie haben uns – eigentlich der ganzenOpposition – gnadenlosen Opportunismus vorgewor-fen. Sie haben gesagt, wir fordern lauter Dinge und sa-gen nicht, wie sie finanziert werden sollen.
Zunächst will ich an folgendes erinnern: Dieser Vorwurftrifft jede Opposition. 16 Jahre lang ist Ihnen vorgehal-ten worden, daß Sie Dinge vorschlagen, ohne die Finan-zierung zu sichern. Irgendwie scheint mir das ein Dau-erthema zwischen Regierung und Opposition zu sein.
Aber in diesem Fall irren Sie sich einfach, was Ihre Kri-tik an der PDS angeht.
Wir haben zur zweiten Lesung Ihres Haushaltsgesetz-entwurfs Änderungsanträge gestellt. Wenn Sie den An-trägen stattgeben würden, würde das Mehrausgaben inHöhe von 9,907 Milliarden DM und Mehreinnahmen inHöhe von 9,933 Milliarden DM bedeuten. Die Vor-schläge sind also gegenfinanziert, ja sogar überfinan-ziert. Insofern ist Ihr Vorwurf in dieser Hinsicht unbe-gründet.
Wenn man die Gesamtbilanz Ihrer Regierungsarbeit,Herr Bundeskanzler, für ein Jahr zieht, muß man dieBeurteilung differenziert vornehmen. Ich will wenig-stens ganz kurz versuchen, etwas zur Außenpolitik zusagen. Diese war lange Zeit und wird auch noch langeZeit von der Tatsache geprägt sein, daß Deutschlandunter Ihrer Verantwortung erstmalig nach 1945 an einemvölkerrechtswidrigen Angriffskrieg teilgenommen hat.Sie wissen, daß wir ganz entschieden und – wie wirmeinen – aus sehr guten Gründen dagegen waren: alsLehre aus der deutschen Geschichte, in Respekt vor demVölkerrecht und weil wir vor allem der Meinung sind,daß Krieg kein Mittel der Politik werden darf.Heute geht es mir um etwas anderes – das ist bekannt,und ich will die Debatte nicht wiederholen –, nämlichum die Ergebnisse. Wir haben damals, vor Beginn desKrieges, gesagt: Das Schicksal der Kosovo-Albanerwird sich während des Krieges nicht verbessern, sondernverschlimmern. Dies ist leider eine traurige Wahrheitgeworden. Jetzt muß ich in den Zeitungen lesen, daß dieZahlen, die der Bundesverteidigungsminister Scharpingvor Beginn des Krieges über Massaker etc. angegebenhat, offensichtlich falsch waren. Jetzt möchte ichirgendwann Aufklärung darüber haben: Waren dieQuellen falsch? Dann muß man über die Art der Quellennachdenken. Oder hat er bewußt falsch informiert? Dannbedarf auch das der Aufklärung.Heute besteht nach wie vor eine extrem komplizierteSituation im Kosovo. Man kann eben nicht mit KriegMenschenrechte herstellen. Das zeigen auch jetzt dieVertreibung, Verfolgung und Tötung von Serben undanderen Minderheiten, die genauso zu verurteilen sind.Sie haben gesagt: Das Ganze dient der Schwächungvon Milosevic. Milosevic muß gestoppt werden. Er mußaus seinem Amt heraus. Der Krieg soll in erster Linieihn treffen. Ich stelle fest: Der sitzt immer noch im Amt.Wer friert, das ist die jugoslawische Bevölkerung. DieLebensmittelknappheit gibt es bei der jugoslawischenBevölkerung. Deshalb habe ich eine ganz entschiedeneBitte: Beenden Sie bezüglich dieser Leistungen das Em-bargo. Es trifft nicht Milosevic, es friert doch die Bevöl-kerung. Das muß aufhören.
Sie haben damals ganz häufig von Kollateralschä-den gesprochen. Wenn es denn Kollateralschäden wa-ren, dann heißt dies: ungewollte Schäden. Aber wennman ungewollte Schäden nach dem Krieg nicht besei-tigt, dann werden sie irgendwann zu gewollten Schäden.Deshalb sage ich Ihnen: Lassen Sie uns die Heizkraft-werke wiederaufbauen, lassen Sie uns dafür sorgen, daßwenigstens die einfachsten Lebensbedingungen der ju-goslawischen Bevölkerung wiederhergestellt werden.Das müßte eine Selbstverständlichkeit sein. Wir dürfendie Bevölkerung nicht in eine Art Geiselhaft für Milose-vic nehmen. Das ist einfach nicht zu verantworten, dasist nicht fair. Das schwächt auch nicht diesen Mann, dasschwächt nur die Bevölkerung.
Ich habe damals gesagt: Es wird ein Schaden für dieCharta der Vereinten Nationen, für die UNO, sein. SieDr. Gregor Gysi
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6530 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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wird geschwächt sein. Es wird weltweit eine Dominanzdes Militärischen geben. Ich glaube, daß Blicke nach In-dien, Pakistan oder in andere Regionen das bestätigen.Dies gilt übrigens auch für die neue Doktrin der NATO.Aber am schlimmsten – das habe ich damals gesagt –ist die Sache mit dem Verhältnis zu Rußland. OhneRußland gibt es keine Stabilität, keine wirkliche Ent-wicklung, keinen Frieden in Europa. Das ist, glaube ich,eine allgemein anerkannte Tatsache. Ich habe damalsgesagt: Ich befürchte, daß die Demütigung Rußlands, dieNegierung des Vetorechts, dazu führen wird, daß dasMilitärische in Rußland wieder in den Vordergrund tritt,weil man Rußland gezeigt hat, daß es nur mit entspre-chender Militärmacht eine Großmacht ist. Ich habe da-vor gewarnt, daß das Militär in Rußland das Primatübernehmen wird.Jetzt schauen Sie sich die heutige Situation in Ruß-land an! Selbst wenn es eine ernstzunehmende politischeKraft in Rußland gäbe, die diesen entsetzlichen Tsche-tschenien-Krieg beenden wollte, sie könnte das heutegegen den Willen der Militärführung überhaupt nichtmehr. So hat sich die Situation in Rußland verändert, so-sehr haben wir es jetzt mit dem Primat des Militärischenzu tun, was ich für kreuzgefährlich halte.
Es mag schon sein – ich finde, in dem Punkt hat HerrGlos recht –, Herr Lippelt, daß Sie viele öffentliche Ver-anstaltungen zu Tschetschenien durchführen. Aber derBundestag schweigt im wesentlichen. Das geht eigent-lich nicht.
Wir müssen hier viel deutlicher Farbe gegen diesenKrieg, der in Tschetschenien geführt wird, bekennen.Sie, Herr Bundesaußenminister Fischer, haben denfrüheren Außenminister Kinkel immer dafür kritisiert,daß er Menschenrechte nicht in den Mittelpunkt derAußenpolitik gestellt hat. Was hat sich denn diesbezüg-lich im Verhältnis zum Iran, zur Türkei oder zu anderenLändern in der Außenpolitik geändert? Ich kann nichtserkennen.Ich mache mir auch über etwas anderes Sorgen. Nochnie war das Verhältnis zwischen Deutschland undFrankreich so distanziert wie heute. Aber nur bei einemwirklich guten Verhältnis zwischen Deutschland undFrankreich wird es möglich sein, den europäischen Eini-gungsprozeß voranzubringen. Sie können die Beziehun-gen zu Frankreich durch Beziehungen zu Großbritanniennicht ersetzen.Was hat sich bei den Rüstungsexporten getan? Allehaben doch gedacht, daß Rüstungsexporte reduziertwerden, wenn SPD und Grüne regieren. Manche hattenvielleicht sogar die Illusion, Rüstungsexporte würdengestoppt. Diese Illusion hatte ich nicht. Jetzt muß ichfeststellen, daß es in diesem Jahr mehr Rüstungsexporteals im letzten Regierungsjahr von Kanzler Kohl gab.Das ist geradezu absurd. Es stellt die Welt doch irgend-wie auf den Kopf. Der Panzer für die Türkei ist dabei janur die Spitze des Eisberges.Wir hatten uns vorgestellt und gehofft, daß die Ent-wicklungshilfe ausgebaut wird, schon um Fluchtursa-chen zu bekämpfen. Statt dessen werden die Mittel fürdie Entwicklungshilfe zurückgeschraubt. Damit wirdauch die Bekämpfung von Fluchtursachen zurückge-schraubt.Hat sich wenigstens die Lage der Flüchtlinge inDeutschland verbessert? Sie hat sich nicht verbessert; esist maximal beim Ist-Zustand geblieben. Nun beginntauch noch der Innenminister, über das Grundrecht aufAsyl zu fabulieren. Was soll das? Wir wissen doch alle,wohin solche Asyldebatten führen. Wir erinnern unsdoch noch an die brennenden Asylheime. Lassen Sie ei-ne solche gesellschaftliche Debatte nicht zu!
Zur Innenpolitik. Die Dezembergesetze Ihrer Regie-rung gehen in Ordnung. Ich bedauere nur, daß Sie da-mals, zum Beispiel im Hessen-Wahlkampf, nicht vehe-ment damit gepowert haben. Ich hatte immer das Ge-fühl, daß sie Ihnen so richtig gar nicht gefallen haben.Aber inzwischen greifen Sie in Ihren politischen Äuße-rungen immer häufiger auf die Dezembergesetze von1998 zurück. Das geht auch in Ordnung. All das habenwir unterstützt. Es waren alles Schritte in die richtigeRichtung, auch wenn der eine oder andere vielleicht zukurz war: Aussetzung der Senkung des Rentenniveaus,Kündigungsschutzerweiterung, Reduzierung der Zu-zahlung für Medikamente, Lohnfortzahlung im Krank-heitsfall, Kindergelderhöhung etc.Wir haben zwar Bedenken gegen Ihr Jugendpro-gramm, weil es nicht so greift, wie Sie es hier immerdarstellen. Trotzdem ist auch das ein Schritt in die rich-tige Richtung. Nur lieber Herr Schlauch, in dieser Fragekommen Sie irgendwann um das Problem der Umlage-finanzierung nicht herum. Immer noch gibt es Tausen-de Jugendliche ohne Lehrstelle und ohne Ausbildung.Immer noch sind es die kleinen und mittelständischenUnternehmen, die weit über ihre Möglichkeiten ausbil-den, während sich die Großen immer mehr aus der Aus-bildung zurückziehen. Deshalb werden wir diese Umla-gefinanzierung benötigen. Wir kommen nicht umhin.Ihre Regierung hat zum Teil wichtige Probleme auf-gegriffen. Die diesbezüglichen Angriffe von CDU/CSUund F.D.P. sind, was die Problematik betrifft, regelrechtfalsch: 630-Mark-Jobs, Scheinselbständigkeit. Es be-stand doch die Tendenz, daß immer mehr Arbeitsver-hältnisse in 630-Mark-Jobs aufgegliedert wurden, daßdadurch vorwiegend die Arbeitnehmerinnen – auch ei-nige Arbeitnehmer – nicht abgesichert waren und daßdadurch die Versicherungskassen immer leerer wurden.Also bedurfte dieses Problem einer Lösung. Dasselbegilt für die Scheinselbständigkeit.Daß Sie dabei nicht konsequent waren, daß es auchzu Überziehungen kam – Stichwort Übungsleiter imSport etc. –, ist ein anderes Thema. Das hätte man aberwissen können und wissen müssen. Insofern gibt es Kor-rekturbedarf. Aber es ist richtig, daß man die Problemeim Prinzip einer Lösung zuführt.Ich möchte etwas zur neoliberalen Tendenz sagen, dieleider in allen Parteien um sich greift, nicht nur in derDr. Gregor Gysi
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6531
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F.D.P. und in der CDU/CSU, sondern auch bei den Grü-nen und zum Teil auch in der SPD.
– An dieser Stelle kommt immer der Ruf von HerrnGerhardt nach weniger Staat. Machen wir es einmalkonkret, nehmen wir einmal Holzmann! Die jetzige Si-tuation ist so, daß alle auf den Kanzler setzen. Am lieb-sten soll er die Schulden selber bezahlen. Der Staat solldie Löhne bezahlen; auf jeden Fall soll der Staat Bürg-schaften übernehmen. Herr Bundeskanzler, ich sage Ih-nen schon heute: Wir werden alles, was Sie dort zusi-chern, unterstützen, wenn es die Arbeitsplätze der Be-schäftigten rettet.
Aber eines sage ich ganz deutlich: Wenn der Staat fürdie Schulden zuständig wird, dann muß mit dem Geredeüber die Beteiligung privater Gewinne an der Finanzie-rung des Allgemeinwohls Schluß sein. Das muß aufhö-ren.
Privatwirtschaftliche Gewinne bleiben immer in privatenHänden, während privatwirtschaftliche Schulden soziali-siert werden sollen. Die Steuerzahlerinnen und Steuer-zahler müssen die Tilgung dieser Schulden auf sichnehmen. Sie sprechen davon, wie unproduktiv die Ver-mögensteuer ist usw.; aber jetzt soll die Politik helfen,jetzt soll der Staat eingreifen. Wir müssen da jetzt ein-mal eine Symmetrie herstellen.Dasselbe gilt für die Diskussion über Arbeitnehme-rinnen- und Arbeitnehmerrechte. Immer wieder höre ichvon der rechten Seite das Argument, wie kontraproduk-tiv Arbeitnehmerrechte seien. Die Arbeitnehmer dürf-ten sich nicht in die Entscheidungen des Managementseinmischen. Aber das Problem ist folgendes: Wenn dasManagement falsche Entscheidungen trifft, dann werdendie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die Straßegeschickt und haben keinen Lohn mehr. Insofern fordernwir mehr Mitbestimmungsrechte; denn die Entscheidun-gen in den Vorständen betreffen auch das Schicksal derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb müssensie stärker in diese Entscheidungen einbezogen werden.
Sie fordern immer Lohnzurückhaltung. Wissen Sieeigentlich, welche Folgen diese Forderung für die Ar-beitnehmer hat? Wenn die Arbeitnehmer auf gerechtfer-tigte Lohnsteigerungen verzichten und anschließend ar-beitslos werden, dann bedeutet dies weniger Arbeitslo-sengeld und weniger Arbeitslosenhilfe, vom Rückgangder Kaufkraft einmal abgesehen.
Warum hat die Baubranche Schwierigkeiten? DieBaubranche hat deshalb Schwierigkeiten, weil Sie, HerrGerhardt, jahrelang nichts gegen Lohndumping auf denBaustellen unternommen haben. Dies hat natürlich dieBauunternehmen, die noch nach Tarif gezahlt haben, inhöchstem Maße gefährdet. Aber Sie wollten ja Lohn-dumping. Dies ist eine der Folgen, mit der wir uns jetztauseinandersetzen müssen.
Ich möchte auch noch eine Bemerkung zu den feind-lichen Übernahmen machen. Herr Bundeskanzler, ichhabe mit großer Freude in der Presse gelesen, daß Siejetzt ganz und gar gegen feindliche Übernahmen seienund daß Sie eine europäische Regelung fordern, um sol-che Übernahmen auszuschließen. Auf Seite 17 der Ant-wort Ihrer Regierung auf die Große Anfrage der PDS-Fraktion vom 20. Oktober 1999 heißt es zu feindlichenÜbernahmen:Feindliche Übernahmen, das heißt Übernahmen ge-gen den Willen des Vorstandes der Zielgesellschaft,sind aus volkswirtschaftlicher Sicht grundsätzlichnicht negativ zu bewerten. Potentielle Übernahmenhaben eine wichtige Kontrollfunktion, weil wenigereffiziente Vorstände mit der Übernahme des Unter-nehmens mit ihrer Ablösung rechnen müssen.Weiter heißt es, daß es um den Schutz der Aktionäre ge-he. Der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer wird in Ihrer Antwort überhaupt nicht erwähnt. ZumSchluß heißt es:Gesetzliche Maßnahmen bezüglich der Verhinde-rung feindlicher Übernahmen sind von der Bundes-regierung nicht geplant.Sie wissen, es gibt einen großen Unterschied zwi-schen freundlichen Übernahmen, bei denen es um mehrEffizienz und die Gestaltung des Unternehmens geht –auch diese Übernahmen sind leider meistens mit Ar-beitsplatzverlusten verbunden –, und feindlichen Über-nahmen, in deren Folge ein Konkurrent zumindest imwesentlichen vernichtet werden soll, was mit dem Ver-lust Tausender Arbeitsplätze verbunden ist. Deshalb sa-ge ich Ihnen: Nein, so einfach ist es mit „weniger Staat“nicht getan.Jetzt regen sich alle über feindliche Übernahmen auf.Im Grunde genommen sind solche Übernahmen aber einResultat der nackten Marktwirtschaft. Wir müssen alsoschon ein bißchen regulieren, wenn wir wollen, daß dasGanze sozial verträglich abläuft und Arbeitsplätze ge-schaffen und erhalten werden.
Sie haben Gesetze initiiert, die nach dem Motto „Ja,aber“ oder „Nein, aber“ funktionieren. Zur Ökosteuer:Natürlich ist es erst einmal richtig – hierin stimme ichIhnen, Herr Schlauch, zu –, daß der Gedanke der Ökolo-gie in das Steuersystem eingeführt wird, daß der Res-sourcenverbrauch verteuert wird und daß ökologischesVerhalten steuerlich begünstigt wird. Aber schauen Siesich doch einmal Ihr Gesetz an! Die ökologische Len-kungswirkung ist gleich Null.
Dr. Gregor Gysi
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6532 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Wenn Sie eine Energiesteuer einführen und gleich-zeitig diejenigen, die die meiste Energie verbrauchen,von dieser Steuer befreien, dann müssen Sie doch damitrechnen, daß die Wirkung gleich Null ist. Sie habenLobbyismus betrieben. Die Energiesteuer ist sozial ab-solut unverträglich, weil sie im wesentlichen von denArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Rentnerin-nen und Rentnern, den Arbeitslosen und den Sozialhil-feempfängern gezahlt werden muß.Auch beim Thema Mineralölsteuer können Sie einenAspekt nicht ausklammern: Sie können zwar das Auto-fahren teurer machen, aber nur unter der Bedingung, daßSie den Menschen eine sozial verträgliche verkehrspoli-tische Alternative anbieten. Aber mit Ihrer Ökosteuermachen Sie auch Bus und Bahn teurer. Dies ist sozialextrem unausgewogen.
Im übrigen verzerren Sie durch die unterschiedlicheBehandlung der Unternehmen auch noch ganz erheblichden Wettbewerb in der Wirtschaft. Die Landwirtschaftwird diesbezüglich am meisten getroffen, auch durch Ih-re Sozialkürzungen. Die Landwirte erhalten keinen Aus-gleich. Bisher sehe ich kein Bemühen, dies zu reparie-ren.Die Gesundheitsreform ist ein interessantes Bei-spiel. Im Gesundheitswesen steigen die Kosten. Nunfordern Union und F.D.P., daß die Beiträge nicht erhöhtwerden. Sie denken dabei weniger an die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer als vielmehr an die Unterneh-mer. Das ist egal. Auf jeden Fall fordern alle Fraktionenin diesem Hause – auch SPD, Grüne und PDS –, dieBeiträge nicht zu erhöhen. Aber die Kosten im Gesund-heitswesen steigen. Was tun? Die Opposition zur Rech-ten schlägt jetzt vor, die Zuzahlungen der Patientinnenund Patienten zu erhöhen. Dies ist nun die unsolida-rischste aller denkbaren Varianten; denn damit wird dasProblem auf Kosten der Kranken gelöst.
Wir sind der Bundesregierung dankbar, daß sie diesenWeg nicht mitgeht.Allerdings macht es sich auch die Bundesregierungzu leicht, wenn sie den medizinischen Einrichtungenvorschreiben möchte, wieviel Geld sie ausgeben dürfen.Mehr sei eben nicht da, sie sollten sehen, wie sie zu-rechtkämen. Das heißt, Sie verlagern ein gesamtgesell-schaftliches Problem auf Ärztinnen und Ärzte und aufSchwestern. Das ist natürlich nicht hinnehmbar. Wosollen die denn das Problem lassen? Sie können es letzt-lich wiederum nur an Patientinnen und Patienten weiter-geben. Wir werden die Schließung von Einrichtungenerleben. Deshalb sage ich: Das ist der falsche Weg.Wir haben vorgeschlagen, die Finanzierung durch ei-ne gerechtere Beitragsbemessungsgrenze zu sichern, da-durch, daß mehr und nicht nur die abhängig Beschäftig-ten in die Kasse einzahlen müssen, und dadurch, daß dieUnternehmen nicht länger nach der Lohnsumme ein-zahlen, sondern endlich nach ihrer Wertschöpfung, dasheißt differenziert nach ihrer Leistungsfähigkeit, und in-dem wir gleichzeitig eine Strukturreform im Gesund-heitswesen durchführen, in dem es viele Spareffektegibt. Die Positivliste ist vernünftig, weil sie auch einbißchen die Gewinne der Pharmaindustrie einschränkt.Daß Sie jetzt die Polikliniken wiederentdecken, ist,finde ich, ein starkes Stück. Wir haben Ihnen schon1990 gesagt, daß sie eine sinnvolle Einrichtung sind.Man hätte sie gar nicht erst kaputtmachen sollen. DieserHinweis muß allerdings an die Adresse der ehemaligenRegierung gehen.
Sie hatten das Ziel der Bekämpfung der Arbeitslo-sigkeit und nennen jetzt als Hauptziel die Sanierung desHaushalts. Ich sage Ihnen: Sie sanieren den Haushalt amehesten, wenn Sie die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Da-für aber wäre eine ganz andere Politik erforderlich. Wirmüssen dem Umstand Rechnung tragen, daß die Ar-beitsproduktivität ständig steigt, daß immer wenigerMenschen in immer kürzerer Zeit immer mehr herstel-len. Wir müssen zu Arbeitszeitverkürzungsmodellenkommen. Wir müssen Arbeit gerechter verteilen. MitLohnzurückhaltung lösen Sie auf dieser Strecke keinProblem, ganz im Gegenteil. Wir können auch keineweitere Schwächung der Kaufkraft hinnehmen. Wirbrauchen im Non-profit-Sektor einen öffentlich geför-derten Beschäftigungssektor. Es ist doch viel sinnvoller,Arbeit zu bezahlen statt Arbeitslosigkeit.Es wird mir immer gesagt, Jugendarbeit sei teuer. Dasist wahr. Aber ich sage Ihnen: Jugendstrafvollzug ist vielteurer. Deshalb lassen Sie uns die Mittel an den richti-gen Stellen auch zur Schaffung von Arbeitsplätzen ein-setzen.
Achten Sie
bitte auf die Zeit, Herr Kollege Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir brauchen endlich einedirekte Förderung der kleinen und mittelständischenUnternehmen. Vor allem müssen wir erreichen, daß dieZahlungsunmoral aufhört. Die meisten Unternehmengehen ein, weil Kommunen und andere Kunden dieRechnungen nicht bezahlen. Dafür kann man Lösungenfinden.Wenn wir in dieser Richtung gehen und Sie dieLohnnebenkosten auf die Wertschöpfung umstellenwürden, wie wir es vorgeschlagen haben, dann könntenwir auch die Finanzierungsprobleme lösen.Wir haben Ihnen auch gesagt, wie man 30 MilliardenDM einsparen kann, ohne eine Sozialkürzung vorzu-nehmen. Indem Sie die Renten kürzen, bei den Bezügender Arbeitslosen, beim Arbeitslosengeld, bei der Ar-beitslosenhilfe, bei den Bezügen der kleinen und mittle-ren Beamten und auch in der Landwirtschaft Kürzungenvornehmen, haben Sie ein unsoziales Sparprogrammaufgelegt. Dafür werden Sie die Quittung bekommen.Das wäre überhaupt nicht nötig gewesen. Wenn Sie al-lein auf die Senkung des Spitzensteuersatzes verzichtetDr. Gregor Gysi
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6533
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hätten, hätten Sie sich die gesamte Kürzung bei Rente,Arbeitslosen und auch im Sozialbereich der Landwirt-schaft sparen können.Das wäre eine sozialere Politik gewesen. Aber dazuwaren Sie nicht bereit. Das muß eine linke Opposition indiesem Bundestag ganz deutlich kritisieren.
Das Wort hat
jetzt Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die wirt-schaftliche Kraft des Landes zu entwickeln, um sozialeGerechtigkeit unter völlig veränderten wirtschaftlichenBedingungen auch weiterhin zu ermöglichen, ist dasZiel, das sich die Koalition im Innern gesetzt hat. Siewird dieses Ziel realisieren, um den Menschen inDeutschland Perspektiven zu geben, zumal den jungen,und sie wird dieses Ziel auch deshalb realisieren, umsolidarisch mit denen in Europa und in der Welt zu sein,denen es schlechter geht als den Menschen in Deutsch-land.
Wer die Lage in Deutschland und um uns herumwirklich vorurteilsfrei einschätzen will – ich habe ver-standen, Herr Glos, daß Sie es nicht ganz wollen –, dertut gut daran, sich mit ein paar nüchternen Zahlen be-kanntzumachen – Zahlen über wirtschaftliches Wach-stum, die dieses Jahr betreffen und die das nächste Jahrbetreffen werden, Zahlen, die nicht aus der Bundesregie-rung stammen, sondern die entwickelt worden sind aufder Basis von Forschungsergebnissen der Sachverstän-digen ebenso wie der fünf großen wirtschaftswissen-schaftlichen Institute, die wir in Deutschland haben.Diese Zahlen weisen aus: Wir werden in diesem Jahrein wirtschaftliches Wachstum von 1,5 Prozent haben.Wir werden zum erstenmal seit sehr langer Zeit wiedereine Steigerung der Durchschnittseinkommen der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zuverzeichnen haben, und zwar um 3 Prozent.
Die Zahlen weisen aus, daß zunächst die außenwirt-schaftliche Schwäche überwunden werden konnte. Dashat gewiß mit positiven Entwicklungen in Asien, inSüdamerika und in anderen Bereichen der Welt zu tun.Diese Regionen sind in den letzten Monaten krisenfestergeworden. Das ist nicht das Verdienst der Bundesregie-rung. Aber sowenig wie das Festigen der Situation umuns herum das Verdienst der Bundesregierung ist, sowe-nig war es der Fehler der Bundesregierung, wenn wir imzu Ende gehenden Jahr – jedenfalls in der ersten Hälfte– leider eine gegensätzliche Konjunkturentwicklung invielen Ländern der Welt zu verzeichnen hatten, die na-türlich auch die Außenwirtschaft Deutschlands beein-flußt und zu einer Wachstumsrate in Höhe von nur1,5 Prozent insgesamt beigetragen hat. Die gleichen In-stitute prognostizieren, daß wir im nächsten Jahr mit ei-nem Wachstum von 2,5 bis 3 Prozent rechnen können.Das ist Gott sei Dank mehr, als wir brauchen, um dieBeschäftigungsschwelle, die in Deutschland unbestrittenzu hoch liegt, zu überwinden. Das ist die Situation.Angesichts der Tatsache, daß wir im nächsten Jahrmit einer Exportsteigerung von 7 Prozent rechnen kön-nen, nachdem sie in diesem Jahr bei 2 bis 2,5 Prozentlag, also mit fast 5 Prozent mehr, ist es unsere gemein-same Aufgabe, dafür zu sorgen, daß sich die Auf-schwungtendenzen, die wir Gott sei Dank beim Exporterwarten können, auch auf dem Binnenmarkt einstellen.Es ist unsere Aufgabe, miteinander dafür zu sorgen, daßdie prognostizierten Wachstumsraten auch eintreten und,wo immer es geht, auch noch gesteigert werden. Dasträgt dazu bei, das zentrale Ziel, das, wie ich glaube, alleParteien verfolgen, nämlich Massenarbeitslosigkeit zuüberwinden, auch zu erreichen.
Das ist der Grund, meine Damen und Herren, warum diePolitik dieser Koalition in drei Bereichen genau dieseWachstumskräfte auf dem Binnenmarkt stärken willund wird.Erstens. Zunächst einmal können wir auf dem Ar-beitsmarkt nicht nur auf Grund unserer Politik, aberauch als Folge unserer Politik Gott sei Dank Besse-rungstendenzen erkennen. In diesem Jahr ging die Ar-beitslosenzahl um 150 000 bis 200 000 zurück.
Die gleiche Entwicklung wird sich im nächsten Jahrfortsetzen. Wir werden im nächsten Jahr zum erstenmalseit Jahren – davon gehen alle Institute und alle Sach-verständigen aus – eine durchschnittliche Arbeitslosen-zahl von unter 4 Millionen erzielen. Das ist ein großerErfolg.
Diesen Erfolg sollte man im übrigen nicht zerreden. Wirhaben im Oktober dieses Jahres zum erstenmal seit sehrlanger Zeit – ich glaube, seit 1994 – wieder weniger als4 Millionen Arbeitslose. Darüber sollten wir uns freuen,und jeder sollte klarmachen, daß dieser Weg fortgesetztwerden muß.
Der zentrale Fehler, den die Opposition in diesem Hausmacht, ist, daß sie diesen Sachverhalt nicht positiv auf-nimmt, sondern ihn immer wieder zerredet.
Wer sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt an-schaut, stellt außerdem fest, daß wir bei der Reduzie-rung der Jugendarbeitslosigkeit, jener ArbeitslosigkeitDr. Gregor Gysi
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6534 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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von Menschen unter 25 Jahren, die beste Entwicklungaller europäischen Länder aufweisen.
Arbeitslosigkeit – das wissen wir doch alle – ist in je-dem Alter eine individuelle Katastrophe. Aber insbeson-dere dann, wenn man am Beginn des Erwerbslebenskeine Chance hat, eine Arbeit zu erhalten, stellen sichindividuelle Katastrophen mit allen Folgen wie Drogen-sucht und Abrutschen in Kriminalität ein. Deshalb ist esso wichtig, daß wir endlich mit der Reduzierung der Ju-gendarbeitslosigkeit begonnen haben und damit auch Er-folg haben.
Zweitens. Die Perspektive, die wir realisieren wollen,ist klar. Sie heißt Stärkung der Wirtschaftskraft, umunter radikal veränderten ökonomischen Bedingungen,die mit dem Stichwort der Globalisierung nur schlechtbeschrieben sind, sozialen Ausgleich auch im nächstenJahrhundert in diesem Land als selbstverständliche Er-rungenschaft beibehalten und finanzieren zu können.Wir müssen diese Politik, diesen Pfad des Wachstumsund der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der sich Gottsei Dank jetzt bei uns auftut, unterstützen.Das ist der Grund dafür, daß Konsolidierung unsereerste Maßnahme darstellt. Meine sehr verehrten Damenund Herren, nur dann, wenn wir diesen Konsolidie-rungskurs entschlossen, wie es der Bundesfinanzmini-ster angekündigt und durchgesetzt hat, weiter verfolgen,unterstützen wir die die Wachstumskräfte, die wir ge-genwärtig erkennen können.
Warum ist das so? Hier ist zu Recht viel davon gere-det worden, daß wir jene 1,5 Billionen DM Staats-schulden reduzieren müssen. Hier ist zu Recht davongeredet worden, daß es unsozial ist, wenn wir82 Milliarden DM in jedem Jahr für Zinszahlungen aus-geben. Das ist eine gigantische Umverteilung von untennach oben; denn das Geld, das wir für Zinsen ausgeben,nehmen wir aus den Steuern und Abgaben der kleinenLeute in diesem Land und geben es in die internationa-len und nationalen Kapitalsammelstellen, man kannauch sagen: den Banken und Versicherungen.
Wer sich diesem Konsolidierungskurs – ob hier imDeutschen Bundestag oder im Bundesrat – verweigert,der schadet dem Wachstum und erschwert den Abbauder Arbeitslosigkeit. Das muß in diesem Lande klar sein.
Blockadehaltungen, gleich, wo sie eingenommen wer-den, ob im Bundesrat oder hier, sind Angriffe auf dieBekämpfung der Arbeitslosigkeit. Mit diesem Vorwurfmüssen Sie sich auseinandersetzen, meine Damen undHerren von der Opposition.
Wir konsolidieren den Haushalt auch deshalb, weilwir Stabilität in der Finanzpolitik benötigen. Zu ihr ha-ben wir uns übrigens auch international verpflichtet,weil nur sie der Europäischen Zentralbank objektiv dieMöglichkeit gibt, ein Zinsniveau aufrechtzuerhalten, dasdie Wachstumskräfte stützt und ihnen nicht schadet. Ei-ne solche Stabilität in der Finanzpolitik können wir nurerreichen, wenn wir den Kurs, den wir eingeleitet haben,durch- und fortsetzen.
– Das ist ein großer, im ganzen Bundestag bekannterSchlaumeier. Das wissen wir nun alle. Das merkt manan seinen Zwischenrufen, vor allen Dingen aber daran,wenn er sich selbst am Rednerpult äußert.Drittens. Ein weiterer Punkt, der mir wichtig ist, hatetwas mit der von uns eingeleiteten Steuerpolitik zutun. Unsere Steuerpolitik ist – das wird sich mit der Un-ternehmensteuerreform noch verstärken – gleicherma-ßen nachfrage- und angebotsorientiert. Wir beenden denUnsinn, daß Angebotsorientierung gegen Nachfrageori-entierung ausgespielt wird. Wir machen einen vernünfti-gen Mix zwischen einer steuerpolitischen Angebotsori-entierung und einer Nachfrageorientierung, was ich Ih-nen gleich beweisen werde.
Meine Damen und Herren, bei diesem Mix geht esuns – das ist der Kernbestandteil unserer Steuerpolitik –insbesondere darum, jenen Menschen, die jeden Tag indie Fabriken, Verwaltungen und Dienstleistungszentrengehen und ihre Arbeit tun, also den Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern in Deutschland, von dem, was siebrutto verdienen, netto mehr in der Tasche zu lassen.Diese Aufgabe haben wir, und wir realisieren sie.
Wir realisieren sie Schritt für Schritt. Wir haben be-gonnen, den Eingangssteuersatz abzusenken, und wirwerden dies fortführen. Wir haben das steuerfreie Exi-stenzminimum erhöht, und wir werden das fortführen.Wir haben auch das Kindergeld erhöht. Der Fraktions-vorsitzende der SPD und auch der Kollege Schlauch ha-ben darauf hingewiesen, daß es einer unglaublichen An-strengung bedurft hat, das Kindergeld für das erste unddas zweite Kind innerhalb eines Jahres um 50 DM zuerhöhen. Das nutzt den Familien, und das stärkt dieNachfrage.
Die Entlastungen, die am 1. Januar 2000 eintretenwerden – gerade dann, wenn die Menschen sehen, wasBundeskanzler Gerhard Schröder
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sie mehr in der Tasche haben, werden wir noch Gele-genheit haben, über Steuerpolitik zu reden –, betreffeninsbesondere die durchschnittlich verdienenden Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land, jeneMenschen also, die es in Ihren 16 Regierungsjahren ha-ben hinnehmen müssen, daß ihnen vom Brutto nettoimmer weniger geblieben ist. Das wollten wir ändern,und das haben wir geändert.
Was die Nachfrageseite angeht, haben Sie nun gesagt:Ja, aber die Ökosteuer. Herr Glos, Herr Struck hat Ih-nen schon vorgerechnet, daß Ihre Argumentation bezüg-lich der Preissteigerungen beim Tanken eine ökono-misch unsinnige und letztlich auch unmoralische ist,weil Sie es ja besser wissen.
Sie wissen genau, daß, wie Herr Struck hier sehr deut-lich gemacht hat, jenseits der Verantwortung der Bun-desregierung der Preis je Barrel von 10 Dollar auf nun-mehr 26 Dollar gestiegen ist. Das, meine Damen undHerren, macht die Preissteigerungen an den Zapfsäulenaus! Diese gefallen mir auch nicht; das ist gar keine Fra-ge. Aber das sind die wirklichen Ursachen dafür. – Zuihrer Mineralölsteuerpolitik ist ja das Notwendige schongesagt worden.
Um eine Gruppe geht es mir besonders, nämlich umdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die jeden Tagerneut ihre Pflicht tun. Deren Einkommen wird durchdie Ökosteuer entlastet.
Diesen Zusammenhang gilt es immer wieder klarzuma-chen. Das Aufkommen aus der Ökosteuer wird zur Sen-kung der Lohnnebenkosten genutzt. Zum erstenmalwird nicht nur darüber geredet, sondern die Lohnneben-kosten werden tatsächlich gesenkt, meine Damen undHerren. Sie haben immer nur darüber geredet!
Die Lohnnebenkosten sinken, weil die Rentenversi-cherungsbeiträge nicht nur gleichbleiben, sondern sin-ken. Ich erinnere mich noch an eine Zeit, als wir nochdie Mehrheit im Bundesrat hatten und es hier im Bun-destag eine andere Mehrheit gab. Damals ging es nichtetwa um die Frage, wie man erreicht, daß die Renten-beiträge sinken. Solche ehrgeizigen Ziele hatten Sie garnicht. Sie wollten nur verhindern, daß die Rentenbeiträ-ge auf 21 Prozent steigen. Ich erinnere mich ganz genau.Sie haben seinerzeit gefragt: Können wir nicht, damitdie Rentenbeiträge nicht so hoch steigen, mir Ihrer Zu-stimmung die Mehrwertsteuer um ein Prozent erhöhen?Wir haben das gemacht. Sie haben das dann übrigens,wie ich mich erinnere, als großen Erfolg verkauft, meineDamen und Herren. Das war ein bißchen dreist, meineich. Nun gut, so sind Sie eben.
Ich sage Ihnen: Die Politik dieser Koalition erschöpftsich nicht in der Forderung, die Rentenbeiträge dürftennicht mehr steigen.
Wir haben vielmehr dafür gesorgt, daß sie zum ersten-mal sinken. Das ist unser Erfolg. Das ist der Erfolg derKoalition.
Was bedeutet das für die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer? Jeder, der uns zusieht und zuhört, weiß, daßdie Rentenversicherungsbeiträge, daß die Sozialversi-cherungsbeiträge je zur Hälfte von den Unternehmenund den Arbeitnehmern aufgebracht werden. Eine Sen-kung um einen Prozentpunkt bedeutet natürlich, daß dieArbeitnehmer entlastet werden, und zwar zusätzlich zudem, was wir steuerlich gemacht haben. Das ist der Er-folg unserer Politik.Im übrigen sage ich noch einmal: Die Senkung derBeiträge stärkt die gesamtvolkswirtschaftliche Nachfra-ge und gibt damit der Binnenkonjunktur Aufschwung.Das ist gewollt und Ziel unserer Politik, die auf Wach-stum und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit setzt.
– Sagen Sie Ihren Zwischenruf doch noch einmal laut!
– Gut, darüber wollen wir uns einmal unterhalten. DieSenkung stärkt insbesondere diejenigen, die als Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Kosten, etwa fürdas Autofahren, nicht substituieren können. Wir habenihnen gesagt: Ihr bekommt durch die Senkung derLohnnebenkosten mehr zurück, als ihr an Spritkostenausgeben müßt. Das ist der Zusammenhang.
– Natürlich ist das so! Hier wird eine Politik gemacht,die sich zum erstenmal wieder an diejenigen wendet, diein den Betrieben tatsächlich die Werte schaffen, von de-nen wir alle leben. Das ist eine Politik zu deren Gunsten,und das ist gewollt. Unsere Bemühungen sind Kernbe-Bundeskanzler Gerhard Schröder
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standteil einer Politik, die insbesondere bei den Be-schäftigten in den Betrieben und Verwaltungen ansetzt,um zu erreichen, daß sie und nicht immer nur die ande-ren von ihrem Bruttolohn am Ende netto mehr übrig ha-ben. Diese Politik werden wir fortsetzen; sie ist nämlichvernünftig.
Ich hatte eingangs gesagt: Die Politik, die dieseKoalition macht, dient der Stärkung der Wachstums-kräfte, um im nächsten Jahrhundert die objektive Mög-lichkeit zu behalten, über sozialen Ausgleich nicht nurzu reden, sondern ihn auch zu finanzieren. Zwei Punkte,die dazu dienen, habe ich genannt.Ich will noch einen dritten Punkt nennen, der wirklichschwierig umzusetzen ist. Es geht dabei um die Anpas-sung der sozialen Sicherungssysteme an völlig verän-derte ökonomische Bedingungen. Dies ist speziell fürSozialdemokraten eine schwierige Aufgabe, und zwardeswegen, weil sie mit diesem Thema natürlich beson-ders vertraut sind und man in diesem Punkt speziell aufsie sieht. Das ist gar keine Frage.Aber es führt kein Weg daran vorbei. Es geht hiernicht um Abbau, sondern um einen vernünftigen Umbauder sozialen Sicherungssysteme in einer Weise, daß siefür die Jungen und Aktiven bezahlbar bleiben und fürdie Älteren sowie für die Kranken und die Arbeitslosen,die darauf angewiesen sind, hinreichende Sicherheitbieten.
Das ist die Aufgabe, die wir haben. Wie wir sie umset-zen, möchte ich Ihnen an zwei Bereichen klarmachen.Der eine Bereich ist die Rente. Es ist doch so, daßwir den jungen Leuten in unserem Lande nicht gut sagenkönnen: Die Beitragssätze steigen uferlos – wenn es soweitergegangen wäre, wie Sie es 16 Jahre lang gemachthaben, bis zu 26 Prozent –,
und die Leistungen werden immer geringer. Das machtdoch der aktive Teil der Bevölkerung nicht mit. Wennman eine solche Politik tatsächlich betreibt, betreibt mandie Spaltung der Gesellschaft in Alt und Jung. Das darfum Gottes willen nicht sein.
Von der bitteren Situation belehrt, haben wir deshalbgesagt: Wir verlangen von den älteren Menschen einenSolidarbeitrag.
Der Solidarbeitrag besteht darin, daß die Rente in dennächsten zwei Jahren nur um den Kaufkraftausgleich er-höht wird.
– Das ist unanständig? Sie, Herr Austermann, haben inden letzten 20 Jahren doch noch nicht einmal das hinbe-kommen!
Die Leute in der Opposition, die in den letzten 20 Jahrendie überwiegende Zeit nicht einmal den Kaufkraftaus-gleich an die Rentnerinnen und Rentner gegeben haben,
verhalten sich jetzt wie die Biedermänner. In Wirklich-keit sind sie aber die Brandstifter an den Rentenkassen!
Wir schaffen mit dieser Maßnahme die Grundlage da-für, ein Rentensystem zu entwickeln, das die Jungen be-zahlen können und das den Alten hinreichend Sicherheitgibt. Ich habe mich darüber gefreut, daß Kollege Schäu-ble, dem ich von hier aus von Herzen gute Besserungwünsche,
gesagt hat: Ich akzeptiere das. – Wir sprechen jetzt mitder Oppositionspartei über die mittel- und langfristigeSicherung der Rentensysteme. Das ist auch in Ordnungso.In Ordnung ist auch, daß wir die Basis dafür geschaf-fen haben – wir haben dafür die Prügel bekommen; dasist gar keine Frage –, an die Erarbeitung eines vernünfti-gen Konzeptes der mittel- und langfristigen Siche-rung herangehen zu können. Diese Basis ist geschaffenworden, und sie darf nicht wieder in Frage gestellt wer-den.
Das wäre nicht vernünftig. Auf dieser Basis sprechenwir. Wenn wir es hinbekommen, gemeinsam ein Ren-tenkonzept zu entwickeln, das für die Jungen bezahlbarund für die Alten hinreichend sicher ist, dann werdenalle etwas davon haben, und die deutsche Politik insge-samt wird etwas davon haben.
Ich will ein weiteres Beispiel anführen. Die Arbeits-marktpolitik, die wir machen, unterstützt den Kurs, denwir zur Sicherung der Wirtschaftskraft und zum Abbauvon Arbeitslosigkeit eingeleitet haben. Wir alle wissendoch, daß man im Osten unseres Landes noch sehr langedarauf angewiesen sein wird, daß den Menschen, stattsie arbeitslos zu lassen, auf dem zweiten Arbeitsmarktbezahlte Arbeit gegeben wird. Wir wissen doch, daß dasnoch sehr lange unsere Aufgabe sein wird. Dies ist lei-der so; aber wir müssen es doch tun.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Wir sind diejenigen, die daraus keine wahlpropagan-distischen Geschichten gemacht haben. Früher wurdensechs Monate vor einer Bundestagswahl die Arbeitsbe-schaffungsmaßnahmen verstärkt und einen Monat da-nach wieder reduziert.
So kommen doch die Unterschiede in der jeweiligenArbeitsmarktbilanz zustande.Wir haben damit ein Ende gemacht. Denn wir habendiese Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verstetigt. Wirhaben in diesem Bereich in dem vorliegenden Haushalt,verglichen mit dem von 1999, 700 Millionen DM drauf-gelegt, nachdem wir schon vorher 6 Milliarden DMmehr ausgegeben hatten. Das nenne ich aktive Arbeits-marktpolitik. Die hilft den Menschen, zumal jenen imOsten, und sie soll ihnen auch helfen. Das ist unsereAufgabe.
Es ist ja nun keineswegs so, daß wir im System nichtsgeändert hätten. Wer sich das genau anschaut, wird fest-stellen – die Bewältigung dieser Aufgabe wird weiter-verfolgt werden müssen –, daß wir im Bereich der Ar-beitsmarktmaßnahmen langsam von ausschließlichenBetreuungsansätzen, von Ansätzen, die alimentieren,wegkommen hin zu dem, was wir „aktivierenden Sozial-staat“ nennen, nämlich dazu, die Menschen mehr undmehr zu befähigen, auf dem ersten Arbeitsmarkt wiederdie Chance zu ergreifen, die sich ihnen dort bietet. Wirsetzen sehr stark auf Qualifizierung derjenigen, die län-ger keine Arbeit gehabt haben. Denn deren Qualifikati-onsdefizite sind die eigentlichen Barrieren für den Ein-tritt in den ersten Arbeitsmarkt. Diese Barrieren zu be-seitigen ist Aufgabe einer modernen, einer fortschrittli-chen und einer vernünftigen Arbeitsmarktpolitik.
Mir liegt sehr viel daran, den Zusammenhang be-greifbar zu machen, der zwischen dem Kurs, den wir inDeutschland einschlagen wollen, nämlich dem, Wachs-tumskräfte zu stärken, um eine soziale Ausgewogenheitrealisieren zu können, dem Zukunftsprogramm, das wirin der letzten Woche beschlossen haben, und dem Haus-halt 2000 besteht, den wir in dieser Woche beschließenwerden. Dieser Zusammenhang ist nicht auflösbar. Werdas eine will, muß auch das andere – sowohl hier imDeutschen Bundestag als auch im Bundesrat – wollen.Dafür werden wir werben.
Lassen Sie mich vor diesem Hintergrund eine Be-merkung zu einer aktuellen Problematik machen. Ichmeine die Situation bei Holzmann. Erstens werde ichnatürlich, bevor ich heute abend mit den Bankenvertre-tern spreche, mit Frau Roth und Herrn Koch sprechen.Warum denn nicht? Es würde doch niemand verstehen,wenn wir bei dem schwierigen Versuch, diesen nachmeiner Bewertung – sie kann nur eine vorläufige sein;denn mir stehen nicht alle erforderlichen Informationenzur Verfügung – sanierungsfähigen Konzern zu retten,in einen parteipolitischen Streit verfallen würden. Daswäre doch verrückt.
Nicht nur ich, sondern auch andere glauben, daß dieserKonzern, so wie er ist, sanierungsfähig ist und nicht zer-schlagen werden muß, damit vielleicht für die einzelnenBetriebsteile Erwerber gefunden werden können. Das istdie Ausgangsposition.Zweitens. Natürlich müssen Banken betriebswirt-schaftlich denken, rechnen und agieren. Das ist gar kei-ne Frage; das wird niemals bestritten werden. Wenn manaber über die Jahre Geschäfte mit einem großen Kon-zern gemacht, ihm Kredite zur Verfügung gestellt unddaran verdient hat – das ist okay – und wenn man wich-tige Aufgaben in dem Aufsichtsrat dieses Konzernswahrnimmt, dann erwächst daraus, so glaube ich,eine Verpflichtung, die über betriebswirtschaftlicheGesichtspunkte hinausgeht.
Ich möchte diejenigen, die dort agieren, über ihre be-triebswirtschaftliche Verantwortung hinaus, die sie tra-gen und die man ihnen nicht abnehmen kann und sollte,daran erinnern, daß sie als große ökonomische Einhei-ten, als Mitglied im Aufsichtsrat und als Kreditgeber, involkswirtschaftlicher Hinsicht auch die Verantwortunghaben, sich am Versuch, diesen Konzern zusammenzu-halten, zu beteiligen.Ich möchte nicht, daß in dieser Zeit, in der wir geradeBoden unter den Füßen bekommen, was die konjunktu-relle Entwicklung angeht, Arbeitsplätze gefährdet wer-den, nicht nur die 17 000 Stellen bei Holzmann selber,sondern auch – das muß uns alle bedrücken; denn dasbetrifft jeden Wahlkreis – die Arbeitsplätze in all denkleinen und mittleren Handwerksbetrieben, die als Sub-unternehmer, manchmal nur als Sub-Subunternehmer,Material geliefert haben und noch heute auf ihr Geldwarten.
Es geht doch auch um diese Menschen, meine Damenund Herren.
Ich hoffe, daß ich es schaffen werde, den Vertreternder großen Banken, der Kreditinstitute, all denen, dieheute zusammenkommen werden, klarzumachen, daß sieBundeskanzler Gerhard Schröder
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zunächst eine Verantwortung gegenüber ihren Unter-nehmen, ihren Beschäftigten haben, daß die Verant-wortung aber in dieser Situation noch darüber hinaus-geht. Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, daß das, wasam Modell Deutschland weltweit bewundert wird, näm-lich daß man sich in Krisensituationen zusammenfindetund gemeinsam, mit Wirtschaft und Politik, nachLösungen sucht, nicht verlorengegangen ist. DieseHoffnung habe ich nicht aufgegeben. Ganz im Gegen-teil: Über Instrumente wie das „Bündnis für Arbeit“ willich dies wieder zum Kern des gesellschaftspolitischenAgierens in Deutschland machen.
Das hat übrigens nichts mit verstärkter staatlicherIntervention zu tun, was gelegentlich vorgebracht wird.Das hat auch nichts mit – wie es andere schon wieder inKommentaren mutmaßen – Verstaatlichung zu tun.Nein, es geht nicht um staatliche Intervention, schon garnicht um Verstaatlichung. Es geht um Verantwortung.Und die darf auch, aber eben nicht nur bei der Politikabgeladen werden, meine Damen und Herren!
Zu den Schwerpunkten, die wir vor dem Hintergrundkonsolidierter Haushalte und einer arbeitnehmerfreund-lichen Steuerpolitik setzen wollen und setzen werden,gehört auf der Angebotsseite die Unternehmenssteuer-reform. Darüber ist hier schon viel gesagt worden; ichwill es deshalb kurz machen: Es geht uns darum, denUnternehmen, weil sie Arbeits- und Ausbildungsplätzeschaffen, die Möglichkeit zu geben, angesichts derzunehmenden Internationalisierung und Europäisierung– dies betrifft auch die kleinen und mittleren Unterneh-men – wettbewerbsfähig zu bleiben. Das ist der Kerndessen, was wir wollen. Wir tun dies der Beschäftigungwegen und nicht wegen der blauen Augen irgendwelcherLeute.
Im Rahmen der Unternehmenssteuerreform werdenwir dafür sorgen, daß nach der Entlastung des Mit-telstands um 6 Milliarden DM in der ersten Stufe nunweitere Entlastungen in Höhe von netto 8 MilliardenDM hinzukommen. Das ist praktizierte Mittelstands-politik und nicht nur Gerede.
Der dritte Schritt um den es uns geht – das hängt mitdem Haushalt und den Haushaltsbegleitgesetzen zu-sammen –, betrifft die Schwerpunkte, die wir für dasnächste Jahrhundert setzen wollen und setzen müssen.
– Es beginnt nun mal demnächst. – Wir müssen dieseSchwerpunkte vor allen Dingen setzen, um nicht nur eineBasis für privates Wachstum zu haben, sondern auch,um das private Wachstum in geeigneter Weise zu unter-stützen. Deshalb haben wir bei aller Haushaltsenge denSchwerpunkt gesetzt, mehr in Bildung und Wissen-schaft zu investieren. Wir haben das nicht nur beredet– Rezzo Schlauch hat recht –, sondern wir haben es auchgetan, und wir werden es weiter tun, meine Damen undHerren.
Qualifikationen zu vermitteln läuft über diesen Weg.Qualifikationen vermitteln, in die Köpfe unserer Men-schen investieren, das ist das eigentliche Zukunftspro-gramm, das wir brauchen und das Rotgrün angepackt hatund weiterführen wird.
Dabei setzen wir nicht nur auf ein Mehr an staatli-chen Ausgaben. Nein, in der Initiative Deutschland 21haben wir uns zusammengetan mit jenen Unternehmen,die als Hard- und Softwareproduzenten in den Informa-tions- und Kommunikationstechnologien Deutschlandstätig sind. Das ist die gesellschaftliche Begleitung fürdas, was wir für Bildungs- und Forschungspolitik ma-chen. Diese gesellschaftliche Begleitung ist wichtig,meine Damen und Herren. Wir werden das erreichen,weil wir vereinbart haben, daß wir in diesem Bereich dieAusbildungsplatzkapazitäten von 14 000 auf 40 000 er-höhen. Wir wären heute in der Lage, wenn früher eineähnliche Politik gemacht worden wäre, die auf solcheQualifikationen setzt, 70 000 Stellen in diesem Bereichzu besetzen. Wir haben die Menschen dafür nicht, weilsie nicht qualifiziert worden sind. Das ist auch IhrVersäumnis, meine Damen und Herren von der Opposi-tion.
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, daß wir nicht nurauf das setzen, was wir kraftvoll und selbstbewußt – daskonnte man an den Reden der Vorsitzenden der Regie-rungsfraktionen spüren – im Deutschen Bundestagdurchsetzen. Nein es geht uns um die Herstellung einesneuen Konsenses in der Gesellschaft. Das ist dieBegründung, die Legitimation für das „Bündnis für Ar-beit“. Wir wollen das, was wir hier zu tun haben, beidem uns niemand die Verantwortung abnimmt, von denverschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterstütztbekommen. Deshalb ist das „Bündnis für Arbeit“ sowichtig. Deshalb werden wir es Schritt für Schritt zu ei-nem Erfolg machen und uns nicht beirren lassen, wennder eine oder andere einmal droht oder kritisiert. Wirwissen, daß wir dieses Bündnis brauchen, und wir wer-den es mittel- und langfristig zu einem Erfolg machen.Daß man keine kurzfristigen Erfolge haben kann, kannman in Holland studieren. Die haben 1982 angefangenund sehr lange Zeit gebraucht, bis sie da waren, wo sieheute sind.
Wir werden es schneller schaffen, aber wir werden be-harrlich an unsrem Ziel festhalten müssen. Der eine oderandere, der dabei droht und sagt, er komme nicht, wennnicht alles nach seiner Nase gehe, beirrt uns auf gar kei-nen Fall.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Eine weitere Bemerkung, meine Damen und Herren.Ich habe gesagt, wir wollen im Innern stark sein. Starksind wir nur, wenn wir wirtschaftlich stark sind und so-zial gerecht agieren. Das gehört zusammen. Und nachaußen wollen wir verläßliche und solidarische Partnersein. Wir waren es, die Deutschen, unter deren Präsi-dentschaft in Köln zum ersten Mal die größte Entschul-dungsaktion für die leidenden Staaten der dritten Weltgemacht worden ist, die je in Deutschland gemachtwurde.
Wir sind es, die immer wieder sagen: nicht „kontrol-letti“. Aber mehr Transparenz, eine bessere Einbezie-hung des privaten Sektors im internationalen Finanz-gebaren ist schon notwendig. Es kann nicht so weiterge-hen, daß durch Finanzspekulationen ganze Volkswirt-schaften ruiniert werden, die dann – in die Enge getrie-ben – saniert werden müssen aus Beiträgen, die nichtzuletzt auch Deutschland in die internationalen Finanz-organisationen einzahlt. Also wir brauchen hier mehrTransparenz, eine bessere Einbeziehung des privatenSektors. Das bleibt richtig, wichtig und wahr, auch wennandere das schon vor mir gesagt haben.
Ich denke, genauso klar wird langsam, daß das, waswir europapolitisch gemacht haben – das hat ja hier zu„wilden“ Diskussionen geführt; daran erinnere ich michschon –, das, was wir hier in Berlin mit der Agenda2000 zustande gebracht haben, nicht nur für Deutsch-land, sondern auch für Europa ein wirklicher Durch-bruch gewesen ist, und das in mehrfacher Hinsicht.
Es gibt – das sage ich all denjenigen, die sich wenigsachkundig über die Erweiterung der EU äußern – kei-nen Erweiterungsprozeß ohne eine materielle Basis, unddie ist mit der Agenda 2000 unter deutscher Präsident-schaft gelegt worden.
Abgesehen von den gewaltigen Staatsmännern vomSchlage eines Herrn Haussmann wird das übrigens vonallen anerkannt. Das ist inzwischen überhaupt keineFrage mehr.Daß es da noch ein bißchen hapert, sehe ich durchaus.Aber auch diejenigen, um die es sich handelt, werdenbald erkennen: Ohne die materielle Basis, die wir mitder Agenda 2000 für Europa beschlossen haben, wäre eswirklich schwierig, in Helsinki hinzubekommen, daßEuropa mit Blick auf den Beitritt der beitrittswilligenLänder sagt: Wir wollen zu dem Zeitpunkt, in dem ihrbeitreten wollt, nämlich 2003, so weit sein, daß wir euchauch aufnehmen können. Dem dient das, was jetzt in ei-ner Regierungskonferenz vorbereitet wird, nämlich dieinstitutionelle Reform; dem dient, was wir in Tamperebeschlossen haben, nämlich Rechtsvereinheitlichungherzustellen, so daß wir Europa nicht nur zu einem Ortwerden lassen, wo es einen Markt gibt, wo ökonomischinteragiert wird. Nein, Europa muß auch ein Ort – wiewir es genannt haben – des Rechts und der Freiheit wer-den. Wir werden ferner die institutionelle Reform sovorantreiben, daß wir in der Lage sind, die Staaten, diejetzt vor der Tür stehen, aufzunehmen; das geht abernur, wenn wir diese Reform durchführen.Ich will noch einmal auf die Agenda zurückkommenund dazu noch einen Satz sagen. Inzwischen ist klar, daßdas, was wir immer gesagt haben, daß wir nämlichSchritt für Schritt die Lasten Deutschlands auf ein ver-nünftiges Maß bringen werden, erreicht worden ist.
In einer Größenordnung zwischen 8 und 12 MilliardenDM – nach den Berechnungen europäischer Institutio-nen; ich bleibe deswegen etwas vage, weil ich nachprü-fen muß, ob sie richtig gerechnet haben –
werden sich die deutschen Beiträge im Finanzierungs-zeitraum verringern. Ich erinnere mich noch an hier ge-führte Debatten, in denen man das entweder nicht glau-ben wollte oder es besser wußte, aber die Unwahrheitgesagt hat.
– So ist das.
aber ich ziehe einen Strich darunter, meine Damen undHerren.Mit den Haushaltsbegleitgesetzen, die in der letztenSitzungswoche beschlossen worden sind, mit dem Zu-kunftsprogramm, das in einer unerhörten Kraftanstren-gung der Koalition – das räume ich doch ein; wiesosollte ich das nicht tun? – beschlossen worden ist, mitdem, was jetzt für den Bereich des Haushalts beschlos-sen werden wird, und mit der Kontinuität, mit der wir dasumsetzen werden, wird es uns gelingen, die Wachstums-kräfte in Deutschland zu stärken und uns objektiv dieMöglichkeit zu verschaffen, auch im nächsten Jahrhun-dert Garanten für soziale Gerechtigkeit zu sein. Damitverschaffen wir uns zugleich die Möglichkeit, daß wirnach außen zuverlässige und solidarische Partner sind.Insofern unterstreiche ich das, was Rezzo Schlauch ge-sagt hat: ein wirklich guter Tag für Deutschland!
Jetzt sprichtder Abgeordnete Volker Rühe.Volker Rühe, (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Herr Bundeskanzler, auch die Gratulation desKollegen Struck hat nichts daran geändert – auch wennBundeskanzler Gerhard Schröder
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6540 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Sie sagen: Das ist ein guter Tag für Deutschland –: Daswar ein verlorenes Jahr für Deutschland.
Sie haben hier über viele Absichtserklärungen ge-sprochen und davon, die Wachstumskräfte stärken zuwollen. Aber wenn man sich dieses Jahr ansieht, in demSie Verantwortung in Deutschland getragen haben, dannpaßt – Sie haben übrigens eine sehr selektive Art, sichmit Sachverständigengutachten zu beschäftigen; ichkomme darauf gleich noch zurück – als Überschrift fürIhre Politik des vergangenen Jahres nur – sei es bei derNeuregelung der 630-Mark-Jobs, sei es bei der Rege-lung zur Scheinselbständigkeit, sei es vor allem wegenIhrer Unfähigkeit, eine große Steuerreform auf den Wegzu bringen: Verhinderung von Wachstum in Deutsch-land.
Ich komme gleich noch auf die Schuldensituation zusprechen. Sie verweisen immer darauf, eine Erblastübernommen zu haben, also politische Rahmenbedin-gungen, die uns heute Schwierigkeiten machen. Dazumuß ich Ihnen sagen: Die Erblast, mit der wir es wirk-lich zu tun haben, besteht darin, daß Sie die große Steu-erreform 1996/97/98 blockiert haben.
Wir könnten in Deutschland heute sehr viel weiter undin Europa der Wachstumsmotor sein, wenn es nicht IhreBlockade der großen Steuerreform gegeben hätte.
Wenn Sie Wachstum wollen, dann frage ich mich, wiees denn um Ihre Fähigkeit, wenigstens in dieser Legis-laturperiode eine große Steuerreform zu machen, bestelltist. Herr Kollege Struck, Sie haben das doch im Sommergroßspurig angekündigt. Jetzt ist dieses Vorhaben wie-der auf die nächste Legislaturperiode verschoben wor-den. Nein, Sie haben es nicht verstanden, bessere Bedin-gungen für Wachstum in Deutschland zu schaffen.
Herr Bundeskanzler, ich werde nachher noch zu unse-rem Angebot sprechen,
die notwendige Rentenreform auf die breiten Schulternder Volksparteien zu stellen. Denn ich glaube, dasschulden wir den Menschen in diesem Lande.
Aber jemand, der den Rentnerinnen und Rentnern imWahlkampf die Unwahrheit über die Situation in derRentenversicherung gesagt hat, der sollte sich zurück-halten mit Formulierungen wie „Biedermann“ oder„Brandstifter“.
Sie haben dann später gesagt, Sie hätten sich im Hin-blick auf die finanzielle Situation der Rentenversiche-rung geirrt. Herr Bundeskanzler Schröder, Sie habennatürlich auch im Wahlkampf schon sehr genau gewußt,daß unsere moderate Rentenreform notwendig war, umden Generationenvertrag auf eine neue Grundlage zustellen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben eben gesagt, in die-sem Monat sei die Arbeitslosenzahl zum erstenmal un-ter 4 Millionen gesunken. Ich muß Ihnen sagen: Gott seidank hatten wir das schon im Oktober letzten Jahres er-reicht.
Im letzten Jahr konnte die Arbeitslosenzahl netto – unddas nicht in erster Linie aus demographischen Gründen– um 400 000 zurückgeführt werden. Ich fand das einegroßartige Leistung. Danach sind die Arbeitslosenzahlenwieder angestiegen – wegen der verfehlten Wachstums-politik, die die rotgrüne Regierung hier betrieben hat.
Wenn Sie sich auf das Gutachten der Sachverständi-gen berufen, dann sollten Sie auch die ganze Wahrheitsagen, Herr Bundeskanzler. In diesem Gutachten könnenSie nachlesen, daß nur 8 000 Arbeitsplätze zusätzlichauf Grund Ihrer Wirtschaftspolitik entstanden sind undder andere Teil der Verbesserung der Statistik demogra-phische Gründe hat, also darauf zurückgeht, daß mehrältere Menschen ausscheiden, als Junge nachkommen.Das ist die Wahrheit, und an der sollten Sie nicht vor-beigehen.Übrigens würde ich jetzt nicht über Schleswig-Holstein sprechen, wenn Sie, Herr Schlauch, nicht damitangefangen hätten. Wenn Sie beklagen, daß wir bis zu100 000 zusätzliche Arbeitsplätze haben könnten, wennwir die für hochtechnologische Arbeitsplätze entspre-chend qualifizierten Menschen – im Norden gibt es inso-fern besondere Probleme – hätten, dann muß ich Sie fra-gen, wo die Jungen und Mädchen denn qualifiziert wer-den. Doch in den Schulen und Hochschulen dieses Lan-des! Wer trägt denn dort die Verantwortung?
Tatsache ist: Überall dort, wo die Union die Kultus-minister stellt, ist mehr Vorsorge für die Zukunft getrof-fen worden und gibt es eine bessere Ausbildung. In die-sem Bereich gibt es einen Nord-Süd-Konflikt.
Sie können doch nicht beklagen, daß es zu wenige jungeLeute gibt, die für diese Arbeitsplätze qualifiziert sind,wenn Sie selbst mit Ihren Parteifreunden in den LändernVolker Rühe
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nicht dafür sorgen, daß die entsprechenden Modernisie-rungen des Bildungssystems endlich durchgesetztwerden. Die Innovationen im Hochschulwesen werdenmit dem Süden Deutschlands verbunden. Aber, HerrSchlauch, das wollen wir in Schleswig-Holstein ändern,damit im Norden ein Leuchtfeuer entsteht!
Die Politik von Rotgrün im letzten Jahr ist eine Poli-tik der ständigen Kehrtwendungen.
– Aus Ihrer Sicht vielleicht. Ich darf aber einmal ausdem „Independent“ zitieren, der ja nun eine angeseheneenglischsprachige Zeitung ist. Dort heißt es: „KanzlerSchröder hat in diesem Jahr schon mehr Kehrtwendun-gen vollzogen als ein Berliner Taxifahrer in seinem gan-zen Leben.“
Was haben Sie nicht schon alles vertreten, Herr Bundes-kanzler! Sie haben mit der Lafontaineschen Politik derAnkurbelung der Konsumnachfrage angefangen. Daswar ein mit ca. 30 Milliarden DM Defizit finanziertesKonjunkturprogramm à la Keynes.
– Ich habe die Faktoren genannt, durch die dasWachstum gefährdet worden ist.Zu Herrn Eichel muß man sagen: In Wirklichkeit ister die Antwort auf Lafontaine und nicht auf Waigel undStoltenberg. Das ist noch eine andere Klasse.
Aber im Vergleich zu Lafontaine gibt es natürlich einenKurswechsel. Niemand bestreitet die Notwendigkeit desSparens.
Aber, Herr Eichel, Sie sehen schon mit Unbehagen aufden Parteitag der SPD. Ich glaube, Sie fühlen sich hier –in der Gesellschaft von uns im Deutschen Bundestag –viel wohler.
– Warten Sie einmal ab! – Mit großem Unbehagenschauen Sie auf den Parteitag der SPD. Denn Ihr Kanz-ler – noch einmal: mehr Kehrtwendungen als ein Berli-ner Taxifahrer in seinem gesamten Leben – ist längstdabei, schon wieder eine Kurve zu ziehen, und zwar inRichtung Neidsteuer. Er hat ja schon entsprechendeVorschläge gemacht. Das ist doch wieder eine Kehrt-wende.
Deswegen sage ich: Die Menschen im Lande haben dasrichtige Gespür. Es sind zwei Dinge, die man immerwieder hört: Diese Regierung weiß nicht, was sie will!Und: Die können das nicht! Das ist Ihre wahre Bilanz,Herr Bundeskanzler.
Ein Politiker darf ja seine Meinung ändern.
Ich finde, er sollte sie sogar weiterentwickeln.
Jemand, der immer voller Stolz „Seit 30 Jahren bin ichder Meinung, daß …“ sagt, ist vielleicht nicht intelligentgenug, auf Veränderungen zu reagieren. Man brauchtaber schon einen roten Faden
und ein klares Ziel. Deswegen muß ich Ihnen sagen:Daß Ihnen das fehlt, das ist das Grundübel Ihrer Politik.Herr Fischer, Sie sind das beste Beispiel. WelcheKehrtwendungen haben Sie schon vollzogen! DieserOpportunismus der Grünen!
Michael Glos hat zu Recht gesagt, Sie blieben auch nochan der Regierung, wenn fünf neue Atomkraftwerke ge-baut werden würden. – Noch einmal: Ich hätte nichtüber Schleswig-Holstein gesprochen, wenn HerrSchlauch das nicht netter Weise getan hätte.
Ich kann doch nichts dafür! – Die Grünen in Schleswig-Holstein haben 20 Jahre lang dagegen gekämpft, daßman in St. Peter-Ording mit dem Auto am Strand parkenkann. Jetzt haben sie entdeckt, daß sie noch die grünenAutofahrer aus Pinneberg brauchen, und schon habensie das um 20 Jahre verlängert. Demnächst fordern sienoch die Asphaltierung der Sandbank vor St. Peter-Ording!
Das sind die Grünen: unberechenbar und opportuni-stisch, Herr Schlauch.
Der Kollege Fischer hat einmal die Wahrheit ge-schrieben, als er ausführte, sein Ziel sei es, daß die Grü-nen im Jahre 2002 eine Regierungspartei sind. Tragi-scherweise, Herr Fischer, regieren Sie schon jetzt, undman kann merken, daß Ihre Programmatik nicht dazudient, einen Staat wie die Bundesrepublik Deutschlandpolitisch zu führen. Die Menschen bezahlen die Rech-nung Ihrer Politik.
Herr Bundeskanzler, wie sieht das Gutachten desSachverständigenrats tatsächlich aus? Ich möchte dar-Volker Rühe
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aus vortragen, um zu zeigen, daß man als Bundeskanzlermit einem Gutachten so nicht umgehen kann:Zwar stärkt die Aufwärtsentwicklung der Weltwirt-schaft, die die Folgen der Finanzkrisen weitgehendüberwunden hat, die außenwirtschaftlichen An-triebskräfte, doch gefährden Unsicherheiten überden Kurs der Finanzpolitik– damit sind Sie gemeint –und über die anstehenden Lohnrunden eine nach-haltige Verstärkung der Binnenkonjunktur. Guteund verläßliche Rahmenbedingungen, die für dasInvestitionsverhalten der Unternehmen entschei-dend sind, fehlen noch.Das ist ein Auszug aus dem Gutachten des Sachverstän-digenrats. Das deckt sich völlig mit der Kritik der Unionan der Bundesregierung in diesem Bereich.
Meine Damen und Herren, worauf kommt es jetzt an?Ich finde, wir sollten diese Debatte nutzen,
um über die Sache zu sprechen, damit wir politischwirklich vorankommen.
– Geben Sie sich keine Mühe, mich bringen Sie nicht ausder Ruhe. – Das im Jahr 2000 zu erwartende Wachstummuß stabilisiert und verstetigt werden. Unser Vorbildsind die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Wach-stumsdelle dieses Jahres ist durch Ihre Wirtschafts- undFinanzpolitik verursacht worden und hätte vermiedenwerden können; denn wir hatten bereits 1998 eineWachstumsrate von 2,2 Prozent – mit der Perspektiveeines kontinuierlichen Ansteigens bei entsprechendenbinnenwirtschaftlichen Signalen.Ich sage Ihnen: Das, was geleistet werden muß, ist,insbesondere noch in dieser Legislaturperiode zur Schaf-fung von mehr Wirtschaftsdynamik zu kommen. HerrEichel, Sparen ist die eine Seite, mehr Einnahmen desStaates, mehr Wirtschaftsdynamik die andere: Das istdie große Steuerreform, das ist die Rentenreform, unddas ist die Gesundheitsreform.
Diese Reformen dürfen nicht noch weiter verschobenwerden.
Wir wissen um unsere zusätzliche Stärke im Bundes-rat,
und unsere Wähler würden es uns auf Dauer übelneh-men, wenn wir uns so verhalten würden, wie Lafontaineund die Sozialdemokraten es mit ihrer Blockadepolitikgetan haben.
Sie würden uns das nie verzeihen.
Sie erwarten von uns, daß wir unsere Stärke nutzen, umaus dem Bundesrat ein Schwungrad der deutschen Poli-tik zu machen, damit es nicht drei weitere verloreneJahre für die Modernisierung Deutschlands geben wird.Das ist die Frage, um die es geht.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Rede zur er-sten Lesung dieses Haushalts und auch jetzt wieder überdie Schuldenlast und die Erblast gesprochen und aus-geführt, daß dies Ihnen die politische Gestaltung soschwer macht. Wie ist es dann möglich, daß Sie nochvor wenigen Tagen im Deutschen Bundestag, als es dar-um ging, das zu würdigen, was die Deutschen für dieEinheit in den letzten 10 Jahren erreicht haben, völlig zuRecht zuerst die große Aufbauleistung der Menschen inden neuen Bundesländern gewürdigt und dann ebensovöllig zu Recht von der Solidarität der Westländer undvon den wichtigen öffentlichen Leistungen des Bundesfür den gemeinsamen Aufbau in Deutschland gespro-chen haben? Es paßt doch nicht zusammen, wenn mansich auf der einen Seite in der Debatte ständig darüberbeschwert, daß man sich in einer schwierigen Verschul-dungssituation befindet, auf der anderen Seite aber weiß,daß die größten Kosten im Zusammenhang mit der deut-schen Einheit entstanden sind.
Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt: Natürlich wares die SED-Herrschaft – das gilt es festzuhalten –, diefür den desolaten Zustand des Wirtschaftsraumes Ost-deutschland am Ende der 80er Jahre verantwortlichgewesen ist. Darin und nirgendwo anders liegen diewesentlichen Ursachen für die ökonomischen Folgen derVereinigung.Ich muß Ihnen sagen: Sprache ist manchmal sehr ver-schleiernd. Wir alle sollten nicht davon sprechen, daßdas Kosten der deutschen Einheit sind, sondern sagen:Das sind Folgekosten der SED. Das sind Folgekostender widernatürlichen Teilung Deutschlands, und die ha-ben zu dieser Verschuldung geführt.
Wir haben diesen Preis bezahlt. Das war nicht leicht,denn – das ist keine Frage – die deutsche Einigung wareine Überraschung in der deutschen Geschichte. Sie sindwirklich die letzten, die das bezweifeln sollten. Anderssind Ihre Äußerungen nicht zu verstehen. Es gab zwarkeine Rücklagen für die Kosten der deutschen Einheit.Ich muß allerdings auch sagen: Wenn Helmut Kohl undVolker Rühe
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Gerhard Stoltenberg – damals wußten sie allerdingsnoch nicht, daß es so bald zur deutschen Wiedervereini-gung kommen würde – nicht schon von 1982 bis 1989die Konsolidierung der Staatsfinanzen in Deutschlandbetrieben hätten, wären wir noch sehr viel schlechter ge-rüstet gewesen, die Einheit durchzusetzen.
Ich sage noch einmal: Die deutsche Einheit war eineÜberraschung. Es gab dafür keine Rücklagen. Deswegenkonnte die Finanzierung nur mit Krediten erfolgen. Ichsage mit aller Deutlichkeit: Wir haben diesen Preis alsein gern gebrachtes Opfer, als eine gute Investition inDeutschland und in die gemeinsame Zukunft empfun-den.
Wir haben dies übrigens auch als eine Investition in einegemeinsame Zukunft in einem europäischen Haus emp-funden.Lothar de Maizière – das will ich in diesem Zusam-menhang hinzufügen – hat vor einigen Tagen gesagt, eshabe immer nur ein Ministerium für gesamtdeutscheFragen, aber nie eines für gesamtdeutsche Antwortengegeben. Jetzt möchte ich Sie, Herr Bundeskanzler, inIhrer Eigenschaft als SPD-Politiker fragen: Was hättenSie denn gesagt, wenn wir in den 80er Jahren Rücklagenfür die deutsche Einheit gebildet oder ein Ministeriumfür gesamtdeutsche Antworten geschaffen hätten? Wennman sich Ihre schon damals erteilte Absage an die deut-sche Einheit in Erinnerung ruft, wird klar, wie absurd IhrVorwurf in dem Zusammenhang ist.
Das war auch damals schon im Bundestag so. Dahätte ich wirklich erleben mögen, wie Sie, die Sozial-demokraten, dann, wenn die Regierung Kohl zwischen1982 und 1989 angefangen hätte, Rücklagen für diedeutsche Einheit zu bilden, auf die Barrikaden gestiegenwären. Deswegen sage ich Ihnen: Seien Sie ruhig, wennes darum geht, daß wir diese Zukunftsinvestitionen ge-tätigt haben.
– Wenn das Protokoll die augenblickliche Situationrichtig wiedergibt, muß darin stehen: Erhöhte Aufge-regtheit bei der SPD; dies nur als kleiner Hinweis.Es ist völlig in Ordnung, Herr Eichel, daß man ganznüchtern beschreibt, welche Konsequenzen diese hoheVerschuldung hat. Hier bin ich voll auf Ihrer Seite. Wasaber nicht hingenommen werden kann, sind die Degene-rierung und die Instrumentalisierung dieses Prozesses,wie Sie das betreiben. Was Sie machen, ist folgendes:Sie verschweigen, daß das im wesentlichen Kosten fürdie deutsche Einheit sind. Um zu begründen, warum Sieeinen Kurswechsel zu vollziehen haben, bilden Sie dieseErblastlegende. Das werden wir Ihnen nicht durchgehenlassen.
Herr Kollege
Rühe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Büttner?
Bitte.
Herr Rühe, Sie
haben gerade erklärt, daß die Kosten der Wiederverei-
nigung einen erheblichen Teil der Schulden ausmachen,
die wir jetzt abzutragen haben. Würden Sie mir auch
darin zustimmen, daß Sie 1990 die Bevölkerung in
Deutschland belogen haben, indem Sie gesagt haben, die
Kosten der Wiedervereinigung seien praktisch aus der
Portokasse zu bezahlen?
Nein, darin würde ich Ih-nen nicht zustimmen. Wir haben die Kosten unter-schätzt; aber das ehrt uns.
– Natürlich haben wir die Kosten unterschätzt. Das istüberhaupt keine Frage. Das ist auch keine Schande.Aber wir haben die politische Kraft aufgebracht, eineenorm große Summe in die deutsche Einheit zu investie-ren.
Jetzt sage ich Ihnen noch eines: Ich habe die Haus-haltsberatungen der letzten Wochen intensiv verfolgt. Somanches Mal habe ich mich darüber geärgert, daß wirjedesmal, wenn Sie diese Schuldenlastlegende gebildethaben, nicht darauf geantwortet haben.
Intellektuell ist das auch nicht so befriedigend. Ich mußeinmal selbstkritisch sagen: Wir sind manchmal etwaszu vornehm,
weil man davor zurückscheut, bestimmte Argumenteimmer zu wiederholen.Herr Bundeskanzler, eines verspreche ich Ihnen:Wenn Sie weiterhin in dieser Weise über die Erblastle-gende sprechen, dann werden Sie jedesmal eine entspre-chende Antwort von uns bekommen, und dann wirddeutlich werden, daß, wer in dieser Weise über die zurÜberwindung der Teilung Deutschlands eingegangeneVerschuldung spricht, möglicherweise noch Erinnerun-gen an die Probleme hat, die er selbst mit der deutschenEinheit gehabt hat.
Volker Rühe
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6544 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Herr Kollege
Rühe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Urbaniak?
Bitte.
Herr Kollege Rü-
he, Sie sagten, Sie hätten die Kosten für die deutsche
Einheit unterschätzt. Sie werden mir sicherlich bestäti-
gen können, daß Sie sich ein zweites Mal verschätzt
oder den Menschen etwas Unwahres gesagt haben, als
Sie ihnen „blühende Landschaften“ versprochen haben.
Was ist tatsächlich daraus geworden? Haben Sie nicht
Oskar Lafontaine, nachdem er auf die Schwierigkeiten
des Einheitsprozesses aufmerksam gemacht hatte, nach
Strich und Faden verurteilt?
Herr Kollege, zunächst
einmal gratuliere ich Ihnen zu dem Mut, aus den Reihen
der SPD heraus den Namen Oskar Lafontaine hier aus-
zusprechen.
Ich hoffe, den Mut zu dieser Erfahrung finden Sie auch
auf dem Parteitag der SPD.
Herr Kollege
Urbaniak, wenn eine Frage beantwortet wird, dann müs-
sen Sie stehen bleiben, bitte.
Sie sollen stehen bleiben,
um meinen Dank für die Erwähnung Lafontaines entge-
genzunehmen.
Es gab kein Lehrbuch über die Herbeiführung der
deutschen Einheit. Ich möchte einmal wissen, wie sich
der Ministerpräsident von Niedersachsen geäußert hätte,
wenn wir in die Schulbücher gebracht hätten, wie man
die deutsche Einheit herbeiführt. In den Schulbüchern
stand nämlich überall, wie unterschiedlich die Menschen
in Ostdeutschland und in Westdeutschland sind und daß
sie niemals wieder zusammenleben können. Es gab kein
Rezept, wie man aus einem kommunistischen Land ein
Land mit sozialer Marktwirtschaft macht.
Deswegen – Herr Kollege, das wissen auch die Men-
schen draußen – gab es keine fertigen Rezepte. Für das
Stichwort „blühende Landschaften“ – diesen Beifall
sollten Sie ruhig noch stehend entgegennehmen – bin
ich Ihnen ausgesprochen dankbar.
Sie müssen
allerdings auch die Frage beantworten.
Sie sollten die Gelegen-heit nutzen, von Berlin aus möglichst viel in die neuenBundesländer zu fahren. Natürlich muß in einer ganzenGeneration noch vieles getan werden. Wenn Sie michgefragt hätten, was dort in zehn Jahren geschaffen wer-den könnte, dann hätte ich Ihnen geantwortet, daß ich alldas, was an Investitionen und Modernisierungen im Zu-ge der deutschen Einheit geschehen ist, nicht für mög-lich gehalten hätte.
In diesem Zusammenhang – Helmut Kohl ist zuRecht besonders gewürdigt worden – möchte ich einmalein Wort des Dankes an Theo Waigel richten. Er ist derFinanzminister der deutschen Einheit.
Später war er auch der Finanzminister der europäischenEinheit. Ich erinnere mich noch gut daran, welche Pro-phezeiungen es auch von Wirtschaftsgurus gegeben hat:Wenn ihr diese Einheit herbeiführt, dann wird die Infla-tionsrate auf 10, 11 oder 12 Prozent steigen usw. Eichelist die Antwort auf Lafontaine, aber nicht auf Waigel.Der ist eine andere Gewichtsklasse.
Herr Eichel, daß es nicht nur um Sparen, sondernauch um Investieren geht, das hat auch Theo Waigelimmer deutlich gemacht. Übrigens, Sparen ist nicht IhreErfindung. Wie hätten wir denn sonst die Maastricht-Bedingungen erfüllen können?
Im Vergleich zu Lafontaine muß man anerkennen,daß Sie niemand für das Sparen an sich schilt. Wir kriti-sieren zum Beispiel, daß vielfach bei Investitionen ge-spart wird. Der Bundeskanzler wird mir nach 20 Minu-ten Rede zustimmen, wenn ich behaupte, daß es fürHolzmann ganz gut gewesen wäre, wenn das Ems-Sperrwerk durch grüne Widerstände nicht blockiertworden wäre. Dasselbe gilt für andere Investitionen.
Sparen und Investieren, das ist der Punkt. Der jetzigeSparkurs ist rein fiskalisch orientiert.
– Für eine schwache Rede sind Sie aber ziemlich aufge-regt, Herr Kollege Poß.
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Es ist unbestritten, daß für eine qualitative Konsoli-dierung die Initiativen notwendig sind, die ich angespro-chen habe, allen voran eine Steuerreform.
Herr Bundeskanzler, liebe Kolleginnen und Kollegen,lassen Sie mich noch ein Wort zur Rente sagen. Nachmeiner Meinung wäre es ein großer Fehler, wenn Sie imRahmen der politischen Auseinandersetzung das unge-wöhnliche Angebot ausschlagen, das die Opposition Ih-nen ungeachtet unserer unterschiedlichen Auffassungenüber Ihre willkürlichen Eingriffe in die Rentenversiche-rung in den letzten beiden Jahren gemacht hat. Wir sindbereit, mit Ihnen auf höchster politischer Ebene über diekonkreten Probleme zu sprechen und in dieser Legisla-turperiode Beschlüsse im Deutschen Bundestag zurSicherung der Sozialversicherungssysteme zu verab-schieden. Ich möchte festhalten: Es geht um das Ange-bot einer Arbeitsgemeinschaft.
Der Vertrauensverlust ist riesig. Sie, Herr Bundes-kanzler, werden registriert haben, wie völlig einheitlichdie junge Generation auf das Hin und Her um die Rentemit 60 reagiert hat, die jungen Gewerkschaftsmitglieder,die Mitglieder der Jungen Union, die Jungsozialistenund die jungen Banker
– natürlich auch die jungen Liberalen; dies ist doch klar;diese hatte ich in meiner Aufzählung indirekt schonerwähnt, weil es überall Liberale gibt.
– Glückwunsch! Wir werden dafür sorgen, daß wir auchin Schleswig-Holstein gemeinsam die Mehrheit haben.
– Ich habe Schleswig-Holstein nicht angeführt. – Dannmuß Ihnen klar sein, daß das Mißtrauen bezüglich derZukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme großist. Ich glaube, die Aufgabe, dieses Mißtrauen abzubau-en, läßt sich nur schultern, wenn sich neben den kleine-ren Parteien auch die beiden großen Volksparteien mitallem Ernst um eine Vertrauensgrundlage für dieZukunft bemühen. Dieses Angebot sollten Sie, HerrBundeskanzler, nicht leichtfertig ausschlagen.
Herr Struck, wir haben kein halbes Jahr verloren;denn Sie haben unsere moderate Rentenreform rückgän-gig gemacht, weil sie Ihnen zu weit ging. Das, was Siejetzt machen, ist zum Teil nicht zustimmungspflichtig.Wir haben Sie nicht daran hindern können, unsereReform rückgängig zu machen. Deshalb haben wir keineZeit verloren. Ich möchte nicht weiter über das rechten,was Sie gemacht haben. Ich sage nur: Es ist hohe Zeit,wenn wir eine Reform noch in dieser Legislaturperiodeschaffen wollen. Es wäre für die Demokratie und fürunseren Staat ungeheuer wichtig, daß wir hier vorankä-men.
Ich möchte jetzt nichts zur Gesundheitsreform sagen,obwohl dieses Thema sehr wichtig ist.
Mir bleibt nur übrig, das aufzugreifen, was Hans-PeterRepnik gestern so wunderbar geschildert hat: Wenn dieReform schon formal so schwach ist, daß im Gesetzes-text von einem „maoistischen“ System gesprochen wird,dann zeigt dies: Diese Reform ist gescheitert. Herr Bun-deskanzler, wir brauchen einen Neuanfang in der Ge-sundheitspolitik! Wir sind bereit, darüber zu sprechen,wie ein modernes Gesundheitssystem geschaffen werdenkann. Jeder könnte von einem solchen System profitie-ren, wenn er in eine schwierige gesundheitliche Situati-on gerät. Dies kann einem schneller passieren, als einemlieb ist. Deswegen ist dies ein sehr ernstes Thema. Esgibt kaum einen anderen Bereich in der Politik, von demdie Menschen so existentiell betroffen sind. Deswegenfordere ich: Kehren Sie von Ihrem falschen Weg ab!Seien Sie bereit, das Gesundheitswesen so zu moderni-sieren, daß es dort mehr Selbstverantwortung, mehrEigenständigkeit und mehr Freiheit gibt. In einem sol-chen System darf es keine obrigkeitstaatliche Regle-mentierung mehr geben.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einige Bemerkun-gen zur Außen- und Sicherheitspolitik machen. Ichmöchte mit der Bundeswehr beginnen. Als ehemaligerVerteidigungsminister weiß ich aus eigener Erfahrung,Herr Kollege Scharping, wie schwer das Amt ist. Des-wegen respektiere ich meine Vorgänger und Nachfolger.Dies ist eine gute Tradition der Verteidigungsministerder Bundesrepublik Deutschland. Das beste für dieStreitkräfte ist, wenn sie die nötige Finanzierung undKlarheit über den zukünftigen konzeptionellen Kurshaben. In der rotgrünen Regierung scheint es keineMehrheit für eine solche finanzielle Ausstattung derBundeswehr zu geben. Ich bestreite gar nicht, daß TheoWaigel und ich harte Auseinandersetzungen hatten. Du,Theo, warst genauso für die Bundeswehr wie ich. Duhattest nur ein anderes Amt inne. Aber am Ende unsererAuseinandersetzungen stand immer eine berechenbareFinanzplanung, die der Bundeswehr den Weg in die Zu-kunft ermöglicht hat.
Eines geht nicht: Wenn man der Bundeswehr schondas Geld verweigert, dann darf man ihr nicht die Klar-heit verweigern.
Volker Rühe
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Woche für Woche, Monat für Monat geht Zeit für dieBundeswehr verloren, sich auf die Zukunft einzustellen.
Deswegen sage ich Ihnen – fragen Sie die Soldaten –:Das hat einen enormen Vertrauensverlust zur Folge, undes hat schon zu viel Resignation geführt. Deswegen,Herr Bundeskanzler, ist das ein Thema, das auch Sie an-geht; denn die Bundeswehr ist nicht irgendeine Instituti-on in unserem Staat. Wir alle haben ein großes Interessedaran, daß sie für das 21. Jahrhundert zukunftssichergemacht wird.
Im übrigen, Herr Bundeskanzler, lieber GerhardSchröder:
Über die Rollenverteilung zwischen Ihnen und demVerteidigungsminister, wenn der Crash eingetreten ist,dürfen Sie sich keine Illusionen machen. Er hat sehr fe-ste Vorstellungen darüber, wo die Schurkenrolle liegt.Er sieht sich in dieser Situation doch mehr als RobinHood und Sie so ein bißchen mehr als Sheriff von Not-tingham. Ich glaube, es ist hohe Zeit, den Vertrauens-verlust zu stoppen.
Sehen Sie, nach dem Kosovo-Krieg gab es doch eineChance für einen neuen Konsens für die Bundeswehr inDeutschland. Das Verständnis der Menschen auch fürmilitärische Ausgaben ist gewachsen. Deswegen ist esjetzt in Ihrer Verantwortung, die notwendigen finanzi-ellen, aber auch die notwendigen konzeptionellen Ent-scheidungen zu treffen, damit wir Streitkräfte haben, dieden Herausforderungen der Zukunft gewachsen sind.
Was man nicht machen kann, ist folgendes: übereuropäische Identität und von einer größeren Rolle derEuropäer gegenüber den Amerikanern zu sprechen, zuHause aber in dieser Weise zu versagen. Wir müssenuns darauf vorbereiten, daß wir im 21. Jahrhundert einanderes Verhältnis zwischen den USA und Europahaben werden. Ich denke, wir stimmen – bis auf wenigeAusnahmen – vielleicht alle darin überein, daß wir dieAmerikaner auch im 21. Jahrhundert in Europa habenwollen. Aber Sie werden nur in Europa bleiben, wennwir ein relevanter Partner sind, wenn wir ein strategischinteressanter Partner sind,
wenn es eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischenEuropa und Amerika gibt. Eine solche kann es nichtgeben, wenn in Deutschland in dieser Weise Sicher-heitsstrukturen abgebaut werden. Darum geht es.
Wir werden auch im 21. Jahrhundert ungleicheFähigkeiten haben. Das will ich einmal einigen sagen,die immer so tun, als ob es notwendig wäre, daß wir die-selben militärischen Fähigkeiten wie die Amerikanererwerben und dringend jeglichen technologischen Rück-stand aufholen müßten. Nein, wir werden ungleiche mi-litärische Fähigkeiten haben. Die Amerikaner sind einemilitärische Weltmacht.
Europa ist es nicht, sollte es im 21. Jahrhundert auchnicht sein.Aber die Arbeitsteilung – das hat es auch schon ineinigen Situationen im Kosovo-Krieg gegeben –, daß dieAmerikaner für den Krieg und die Europäer für Friedenund seine Absicherung verantwortlich sind, funktioniertnicht. Deswegen muß das größte Land in Europa, mußDeutschland mit seiner Bundeswehr den Beitrag leisten,der von uns zu Recht erwartet werden kann.
Herr Bundeskanzler, ich möchte mich in einer ande-ren Frage direkt an Sie wenden. Das ist der Punkt, dervon den Grünen, heute morgen aber auch von HerrnStruck angesprochen worden ist, nämlich daß behauptetwird, Entscheidungen der Organe dieses Staates – Bun-deskanzler, Bundessicherheitsrat – zur Lieferung vonWaffen nach Saudi-Arabien seien käuflich gewesen.Wenn das ein Herr Ströbele von den Grünen sagt, dannist das eine Sache. Aber wenn das der Fraktionsvorsit-zende der Volkspartei SPD macht, dann muß ich Ihnensagen: Wenn es darum geht, das Ansehen dieses Staateszu beschädigen, dann ist auch der Bundeskanzler undder Parteivorsitzende der SPD gefordert, hier ein deutli-ches Wort zu sprechen.
Wir werden auch nicht zulassen, daß in einer uner-träglichen Weise versucht wird, das Ansehen IhresAmtsvorgängers zu beschädigen, Herr Bundeskanzler.Ich bin fest davon überzeugt
– jetzt lassen Sie mich das einmal sagen –, daß die vonHelmut Kohl im September 1990 vorgenommenen Wei-chenstellungen richtig gewesen sind. Wir haben mitbestimmten Systemen nicht nur Israel und der Türkeimilitärisch enorm geholfen, sondern auch den arabi-schen Opferstaaten des Iraks.
Volker Rühe
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Diese Weichenstellungen waren richtig.
Ich bin auch davon überzeugt, daß der Bundessicher-heitsrat die außen- und sicherheitspolitischen Interessender Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen hatund sonst gar nichts. Herr Bundeskanzler, ich wäre sehrdaran interessiert von Ihnen zu hören, wie Sie das Ver-halten der Organe dieses Staates in einer so wichtigenFrage einschätzen.
Das ist ganz wichtig.
Ich möchte hier auch eine persönliche Bemerkung an-fügen. Ende Januar 1990, als der Golf-Krieg in seinerheißen Phase war, bin ich in einer Delegation mit Bun-desaußenminister Genscher und Bundesminister Spran-ger – wir haben uns eben noch einmal vergewissert undglauben, es war am 25./26. Januar 1990 – in Jerusalemund Tel Aviv gewesen.
Wir haben die Wirkung der eingeschlagenen Raketengesehen und mitbekommen, daß die Menschen in TelAviv nicht in die Keller gegangen sind, weil die Spreng-kraft der Raketen weniger gefährlich war als die mögli-cherweise von ihnen freigesetzten chemischen Kampf-stoffe, sondern statt dessen die obersten Stockwerkeaufgesucht haben.
– Einen Moment, hören Sie doch einmal zu und verge-genwärtigen Sie sich, was für eine existentielle Bedro-hung in der damaligen Situation bestand! – Als wir dannbei einem offiziellen Abendessen mit den Israelis in Je-rusalem zusammensaßen – Sie können sich das vomKollegen Genscher bestätigen lassen –, hatte jeder vonuns eine Gasmaske dabei. Während dieses Essens gab esAlarm, die Warnung vor einem Angriff auf Jerusalem.
Wir haben das Essen verlassen und sind gemeinsam mitunseren israelischen Gastgebern – –
– Ich finde es schon ziemlich unerträglich, wie Sie dar-auf reagieren.
Am nächsten Morgen haben wir das Ergebnis derEinschläge der Scud-Raketen gesehen. All das läßt sichnachvollziehen. Sie können sich gerne die Bilder an-schauen. Ebensolche Scud-Raketen sind auch auf Saudi-Arabien abgefeuert worden, dort aufgeschlagen und ha-ben dort Menschen getötet. Hier hat – ich war damalsnoch nicht Verteidigungsminister – unser Land seineaußen- und sicherheitspolitische Verantwortung wahr-genommen.Streiten Sie über Parteienfinanzierung! Wir haben anallererster Stelle Interesse an der Aufklärung – das wur-de hier schon gesagt – und wollen, daß dieser Fallschnell aufgeklärt wird. Im übrigen erinnere ich michauch noch an den Schmuddelwahlkampf in Schleswig-Holstein, bei dem es Ausforschungen auch des persönli-chen Bereiches durch sozialdemokratische Pressespre-cher gab.
Ich hätte das unter anderen Umständen nicht angespro-chen, aber ich lasse mir von Ihnen nichts gefallen, son-dern erwarte, daß Sie mit Anstand verlieren, wenn dieWähler in Schleswig-Holstein das so entscheiden.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist sehrwichtig, daß wir uns in dieser Haushaltsdebatte nebenden politischen Auseinandersetzungen immer bewußtmachen, welche Verantwortung wir für unseren Staattragen – jeder an seiner Stelle. Deshalb begrüße ich dieBereitschaft, gemeinsam eine Rentenreform durchzufüh-ren.
Lassen Sie uns hart über Politik streiten,
aber unfaire Angriffe werden auf die geschlossene Ab-wehr der Union stoßen. Das gilt insbesondere dann,wenn Sie unseren Bundeskanzler Kohl angreifen. Daraufkönnen Sie sich verlassen.
Herr Kollege
Rühe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Ströbele?
Nein, denn ich kommezum letzten Satz. – Es ist gar keine Frage, daß es hartepolitische Auseinandersetzungen geben muß. Das nütztauch der Demokratie.
Volker Rühe
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6548 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Meine herzliche Bitte ist aber, dabei Anstand zu bewah-ren.Ich habe noch in Erinnerung, wie Herr Ströbele undseine Kollegen während des Golf-Krieges durch Berlingezogen sind und eine Blutspur gelegt haben. Ihre Pa-role lautete damals: „Blut für Benzin“. Herrn Außen-minister Fischer, der leider gerade nicht da ist, möchteich sagen, daß die rechtliche Grundlage für das Eingrei-fen im Golf-Krieg besser war als die für das Eingreifenim Kosovo. Dazu will ich aber nichts weiter sagen, daauch ich letztlich ja dazu gesagt habe. Damals hat maneinen Staat von der Landkarte getilgt, nämlich Kuwait.Daraufhin haben die Vereinten Nationen eingegriffen,und auf dieser Grundlage ist gehandelt worden. HerrSchlauch, Sie und Ihre Genossen
haben damals noch gesagt, das sei „Blut für Benzin“.Dafür sollten Sie sich schämen.
Meine herzliche Bitte
ist, daß Sie sich noch einmal überlegen, welche Rolleder Fraktionsvorsitzende Struck heute morgen gespielthat. Greifen Sie uns als Partei an; das ist normal. Wirkönnen uns verteidigen. Aber hören Sie auf, den Ein-druck zu erwecken, als sei in unserem Staat eineso schwerwiegende außenpolitische Entscheidung käuf-lich!
Leisten Sie Ihren Beitrag dazu, daß solche infamen Ver-dächtigungen zurückgewiesen werden!Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Antje Hermenau.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Ab-geordneter Volker Hase, der von nichts weiß, Sie habendie Möglichkeit, zur Aufklärung der Sachverhalte, dieSie angeschnitten haben, beizutragen, indem Sie erlau-ben, daß Herr Weyrauch aussagt.
Damit möchte ich aber die nostalgische Debatte überWehrertüchtigung und andere Fragen beenden und überdas reden, was Gegenstand der heutigen Debatte ist,nämlich über den Bundeshaushalt.
Je mehr Sie solche Geschichten erzählen, je mehr Siedaran erinnern, wie schön früher alles war, desto mehrerwecken Sie in mir den Eindruck, wie sehr es Ihnen ab-geht, daß Sie durch den Machtwechsel die Gestaltungs-hoheit auch in der Sache an uns haben abgeben müssen.
Der Ernüchterungsschock bei der CDU/CSU – auchbei der F.D.P., dort aber weniger – wird in dem Momentkommen, in dem die Mehrheiten, die Sie jetzt bei Kom-munalwahlen in NRW und bei Landtagswahlen aufge-baut haben – Sie hoffen darauf auch, Herr Rühe –, Sie inIhren eigenen Reihen politisch ganz massiv unter Drucksetzen werden. Sie werden sich eine solche an der Sachevorbeigeführte Rede über Bundesfinanzen in Zukunftnicht mehr leisten können, weil Ihre eigene Basis Ihnendie Hölle heiß macht, wenn Sie versuchen, mit solchenPlatitüden Bundespolitik zu gestalten.
Da das Thema der deutschen Einheit auf eine, wie ichfinde, nicht ganz zutreffende Art und Weise angespro-chen worden ist, mache ich dazu ein paar kurze Ausfüh-rungen. Man kann leicht entlarven, wie falsch die Be-hauptung ist, daß sich Rotgrün den Herausforderungender deutschen Einheit nicht stellen würde. In den neu-en Ländern ist in nächster Zeit keine einzige Wahl zuerwarten: keine Bundestagswahl, keine Landtagswahl.Trotzdem haben wir in Ostdeutschland finanzielleSchwerpunkte gesetzt. Trotz eines 30-Milliarden-DM-Sparpaketes wird man hier ganz verstärkt in die wichti-gen Zukunftsfelder investieren.
Wie sehr Sie falsch gelegen haben, können wir ein-mal aufdröseln. Herr Waigel wurde heute als der großefinanzpolitische Architekt der deutschen Einheit gelobt.Sehen wir uns seine Kunst doch einmal an: 1993 warenSie, Herr Waigel, einer groben Fehleinschätzung unter-legen, als es um das Vorangehen zwar nicht der deut-schen Einheit, aber der europäischen Einheit ging. Siehaben maßgeblich Einfluß darauf genommen, welcheKriterien für die Teilnahme an der europäischen Wäh-rungsunion festgelegt wurden. Sie selber haben bei-spielsweise hinsichtlich der Gesamtverschuldung davonVolker Rühe
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gesprochen, daß 60 vom Hundert des Bruttoinlandspro-dukts eine leicht einzuhaltende Grenze sei. Damals wardas auch leicht versprochen. Da lag der Anteil noch bei48 vom Hundert, da schien das ein leichtes Ziel. Auchdie 3-Prozent-Grenze bei der Neuverschuldung schiensehr einfach zu erreichen. Und dann stellten Sie fest, daßIhnen alle Fehler, die Sie am Anfang gemacht haben, in-dem Sie die Kosten der deutschen Einheit nicht vonvornherein über die Steuerfinanzierung sichergestellt,sondern versucht haben, sie über die Beitragsfinanzie-rung auf die Versicherungsträger abzuwälzen, auf dieFüße fielen. Schon drei Jahre später, 1996, fiel es Ihnenunglaublich schwer, die von Ihnen mit aufgestelltenMaastricht-Kriterien tatsächlich zu erfüllen.
Wir sitzen jetzt mit dem ganzen Schlamassel da, undhaben ihn aufzuräumen, und zwar, wenn es geht, zügig.Wir müssen uns in jede Richtung umschauen. Denn injeder Richtung liegt etwas Schweres, etwas Kompli-ziertes, das nicht gelöst ist. In unserer Fraktion kursiertschon der Spruch von den drei V: Man möchte alles ver-schieben, man möchte alles verdrängen, man möchtealles verleugnen.
So läuft das die ganze Zeit. Wir müssen das jetzt auf-räumen. Das machen wir.Hätte Schwarzgelb weiterregiert, hätten wir laut Ihrereigenen Finanzplanung im Jahre 2000 eine Nettoneu-verschuldung von mindestens 54,5 Milliarden DM zuverzeichnen. Wo steht Rotgrün? Bei 49,5 MilliardenDM. Wir liegen glatt darunter.
Wie ist denn 1998 gelaufen? Darüber kann man jetztgroße Reden schwingen. Aber Sie haben fast 20 Milliar-den DM an Privatisierungserlösen hineinbuttern müssen,um den Haushalt überhaupt aufstellen zu können,
während wir jetzt auf lächerliche 3,5 Milliarden DMsehen. Übrigens wird alles, was aus diesen Privatisie-rungserlösen kommt, in die Tilgung der Schulden gehenund nicht zum Stopfen von Haushaltslöchern verwendetwerden, so wie Sie das gemacht haben.
Es war zu schaffen, einen verfassungsgemäßen Haus-halt aufzustellen. Es war möglich, den Stabilitätspakt inEuropa einzuhalten. Dies war also nicht, wie Sie immerbehauptet haben, ein Ding der Unmöglichkeit. Aber eswar auch nicht, wie es der Kollege Rexrodt gestern sag-te, ein Routinehaushalt. Das kann man nun wirklichnicht sagen. Die Anstrengungen, die unternommen wer-den mußten, waren enorm. Sie haben sich auf der innen-politischen Debatte ausgeruht, die natürlich im Gefolgedieser Kraftanstrengungen geführt wurde.Ich sage es Ihnen noch einmal: Trotz der guten Wahl-ergebnisse, auf denen Sie sich jetzt ausruhen, werdenSie davon eingeholt, daß Ihnen seitens der Länder undvon kommunaler Seite die Hölle heiß gemacht wird,wenn Sie versuchen, einen Haushalt mit solchen Platitü-den zu diskutieren. Wo sind denn Ihre Vorschläge? Dereinzige Vorschlag, den ich im Ohr habe, bezieht sich aufdie Herabsetzung des Zuschusses an die Bundesanstaltfür Arbeit auf Null. Da lachen ja die Hühner! Das be-deutet im Klartext auf einen Schlag 200 000 Arbeitslosein den fünf neuen Ländern mehr.Sie verbreiten vergiftete Vorschläge. Stellt sich dochein Kollege aus dem Haushaltsausschuß hierher undmeint, wir hätten außerordentlich viel Geld übrig. Diesesliege bei den Postunterstützungskassen. Wir seien nur zublöd, die Aktien zu verkaufen. – Das kann ich nichtmehr hören! Sie hatten bereits angefangen, diese Aktienzu verkaufen. Wir halten dies für eine sehr kurzsichtigeDenkweise und für kurzatmiges Handeln. Sie wissenganz genau, daß wir das Volumen und die Erlöse ausdiesen Aktien angesichts steigender Zahlungen für diePensionen der ehemaligen Postbediensteten benötigenwerden. Oder wollen Sie das auch wieder auf den Steu-erzahler abwälzen?
Auch ein Volker Rühe kann sich nicht hierherstellenund sagen, unter seiner sechsjährigen Ägide als Bundes-verteidigungsminister habe es keine drastischen Proble-me beim Verteidigungsetat gegeben. Wenn ich es richtigweiß, ist dieser in den sechs Jahren um circa 11 Prozentabgesenkt worden, und zwar ohne eine Wehrstruktur-reform. Er wurde einfach gesenkt.
Worin die Berechenbarkeit bestehen soll, weiß ichnicht. Wahrscheinlich besteht sie im stetigen Absinken.Wir sind immerhin aufgestanden und haben gesagt: Wirführen eine Wehrstrukturreform durch. Dies hatte nichtnur etwas mit Einsparbemühungen zu tun, sondern auchmit den Anforderungen, die an die WehrfähigkeitDeutschlands als Partnerstaat der NATO gestellt wer-den. Wir müssen uns diesen neuen Aufgaben stellen.Auch das wird im Zusammenhang mit der Wehrstruktur-reform zu debattieren sein.Wir können uns nicht einfach durchwurschteln, ohneeine Wehrstrukturreform zu machen, ohne eine Gesund-heitsstrukturreform zu machen, ohne eine Rentenreformzu machen, ohne eine Steuerreform zu machen. Es kanndoch wohl nicht wahr sein, daß Sie sich, wenn all dieseDinge angepackt werden, hinstellen und sagen: Da ma-chen wir nicht mit. Bei der Rentenreform haben Sie ge-merkt, daß Sie sich der Verantwortung nicht weiter ent-ziehen können, wenn Sie das Attribut einer Volksparteibehalten wollen. Wir nehmen diesen Vorschlag auch an.Die rotgrüne Koalition hat das signalisiert. Ich sagefür die Grünen, daß wir der Auffassung sind, in dieserFrage vielleicht sogar vermittelnd fungieren zu kön-nen, denn unsere Vorschläge zur Rentenreform glei-Volker Rühe
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chen teilweise denen der SPD und teilweise denen derCDU/CSU.
Es wird also eine interessante Debatte werden, bei derich davon ausgehe, daß die Grünen die richtigen Impulsemit einspeisen werden. Ich bin sehr zufrieden, daß Sieerkannt haben, daß Sie sich aus der Debatte nicht mehrherausmogeln können.Noch ein Wort zum Haushalt. Wo sind wir mit IhrerHaushaltspolitik der letzten Jahre denn gelandet? Bei ei-nem strukturellen Defizit, das sich dauernd um die20 Milliarden DM bewegte, mal etwas darüber, mal et-was darunter, über Jahre hinweg. Da Sie immer der Auf-fassung sind, das sei eine Chimäre – wie das hier ge-nannt wurde –, irgendein Hirngespinst, will ich das ein-mal klarstellen. Im Jahresbericht des Bundesrech-nungshofes vom Oktober 1999 – der ist also noch warmvom Druck – steht:Die wachsenden strukturellen Deckungslücken sindin erheblichem Umfang durch zunehmende Erlöseaus Vermögenswerten ausgeglichen worden.Das war 1998 und 1997. Das war Theo Waigel, um daseinmal klarzustellen. Er hat das Tafelsilber verjuxt.
Der Bundesrechnungshof sagt weiter:Diese Entwicklung ist bedenklich, da Vermögen fürkünftige Verpflichtungen aufgebraucht werden undVermögensminderungen dann natürlich auch künf-tigen Generationen nicht mehr zur Verfügung ste-hen.Sie haben die Bundesfinanzen an die Wand gefahren.Sie haben die Strukturreformen versäumt. Sie sprechenseit einer Dekade dauernd von den Schwierigkeiten derdeutschen Einheit und versuchen, Ihre Handlungsunfä-higkeit dahinter zu verstecken. Sie haben recht, wennSie sagen, Sie hätten die deutsche Einheit willkommengeheißen. Aber Sie haben die Chancen nicht genutzt.Die deutsche Einheit wäre die Möglichkeit gewesen, alldiese Strukturreformen, die im Westen längst fällig wa-ren, durchzuführen.
Diese Chance haben Sie nicht genutzt. Aber Sie nutzennatürlich gerne die deutsche Einheit, durch die der Auf-bau der neuen Länder finanziert werden muß, als Deck-mantel dafür, daß Sie nicht handeln konnten.
Das ist eine Aussage über Ihre eigene Unfähigkeit. Aberes hat nichts mit dem zu tun, was Rotgrün in einem Jahralles auf die Beine gestellt hat.Ich bedanke mich.
Ich gebe der Kolle-
gin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat seineRegierung dafür gerühmt, daß es im kommenden Jahr500 000 Arbeitslose weniger in Deutschland geben wer-de. Sie haben das mit Ihrer Politik in Zusammenhanggebracht.Ich will hier richtigstellen: Jeder Arbeitsplatz, der zu-sätzlich geschaffen wird, wird durch die Wirtschaft, dieExistenzgründer, die Freiberufler, die Handwerker, diekleinen und mittelständischen Betriebe geschaffen, aberauf keinen Fall durch Ihre Politik, die Desorientierungund Planungsunsicherheit in Deutschland hervorge-bracht hat, insbesondere für die Unternehmen in diesemLand.
Ich will noch einmal klarstellen: Das neueste Jahres-gutachten der fünf Wirtschaftsweisen hat in der Tat einhöheres Wirtschaftswachstum für Gesamtdeutschlandprognostiziert. Aber der Vorsitzende des Sachverständi-genrates, Herbert Hax, hat fast wörtlich gesagt, derRückgang der Arbeitslosigkeit basiere vor allem aufdemographischen Faktoren und habe verhältnismäßigwenig mit dem Konjunkturaufschwung zu tun. Bitteschreiben Sie sich das endlich hinter die Ohren, undverdrehen Sie hier nicht die Tatsachen!
3 Prozent Einkommenssteigerung für die Bevölke-rung – was hat denn diese letztlich bewirkt, wenn Sieden Menschen in diesem Land das Geld in die eine Ta-sche stecken und es aus der anderen Tasche wieder he-rausziehen? Wir wissen doch alle, daß die ökologischeSteuerreform eine Belastung der privaten Haushalteund der Wirtschaft in diesem Land bedeutet.
Deswegen kann man sich damit überhaupt nicht rühmen,denn Sie vernichten Arbeitsplätze mit der ökologischenSteuerreform. Das ist die Wahrheit.
Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, daß das Brut-tosozialprodukt im nächsten Jahr im Osten weit unterdem der alten Bundesländer liegen wird. Die Arbeitslo-senquote steigt; das wurde schon gesagt. Die ostdeut-schen Arbeitgeberverbände haben sich in der vergange-nen Woche an Bundeskanzler Schröder mit einemSchreiben gewandt und ihn aufgefordert, endlich dieTrendwende für den Osten herbeizuführen, für eine sta-bile Förderung in den neuen Ländern zu sorgen und zuverhindern, daß die Entwicklung in Ost und West wei-terhin auseinanderdriftet.
Antje Hermenau
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Der Bundeskanzler – Frau Kaspereit, zu dieser Regie-rung stehen Sie ja – hat in seiner Regierungserklärunganläßlich seines Amtsantrittes gesagt, für ihn sei derAufbau Ost Chefsache.
Mir klingen diese Worte in den Ohren. Chef ist er seitlangem; aber für ihn ist die Chefsache nur eine Worthül-se geblieben. Sie haben doch keine neuen, innovativenIdeen im Hinblick auf den Aufbau Ost eingebracht. Sienennen immer wieder das Programm Inno-Regio.
Das ist das einzig neue Programm.
An anderer Stelle haben Sie gekürzt.
Insgesamt wurde bei den neuen Bundesländern um rund3 Milliarden DM gekürzt, und zwar bei Haushaltsposi-tionen, bei denen es besonders weh tut, bei denen es umInvestitionen und Arbeitsplätze geht.
– Konkret zum Beispiel bei der Gemeinschaftsaufgabe„Regionale Wirtschaftsstruktur Ost“ um 285 MillionenDM,
bei dem Eigenkapitalhilfeprogramm um zirka 500 Mil-lionen DM und bei den StrukturanpassungsmaßnahmenOst um 800 Millionen DM. Das ist keine Politik, dieman als Chefsache bezeichnen kann. Hier werden Ein-schnitte vorgenommen, die zu Lasten der Menschen ge-hen.
Ich möchte auch auf das Thema Infrastrukturaus-bau zu sprechen kommen. Staatsminister Schwanitz hatin der gestrigen Debatte deutlich gemacht, daß es beimVerkehrswegebau im Osten Planungssicherheit gebe.Darüber kann ich nur lachen. Wir alle wissen doch, daßauch über den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“das Damoklesschwert einer globalen Minderausgabe inHöhe von 5 Milliarden DM schwebt.
Es geht um 5 Milliarden DM, die nicht finanziert sind.
Angesichts dessen kann man doch nicht von Planungssi-cherheit sprechen. Sie haben überhaupt kein Interesse,den Osten an das Schienenverkehrswegenetz in Europaanzubinden. Sonst würden Sie den ICE von Nürnbergnach Berlin, der über den Thüringer Wald und durchSachsen-Anhalt führt, bauen. Statt dessen schieben Sieihn auf das Abstellgleis. Das ist doch die Wahrheit.
Weiterhin ist zu erwähnen, daß Kürzungen bei Inve-stitionen und beim Infrastrukturausbau immer zu Lastenvon Wirtschaft und Arbeitsplätzen gehen.
Das Frankfurter Institut, die Stiftung für Marktwirtschaftund Politik, hat in seinem letzten Bericht zur wirtschaft-lichen Lage in Ostdeutschland deutlich gemacht – ichzitiere –:Auch mit Blick auf das Ziel des Subventionsabbau-es wäre eine Rückführung der Investitionen in diewirtschaftsnahe Infrastruktur völlig kontraproduk-tiv.Meine Damen und Herren, die haben recht.
Allein im letzten Jahr sind die Investitionen in ost-deutsche Unternehmen um rund 6 Prozent zurückgegan-gen. So schaffen wir es doch nicht, die Arbeitslosigkeitin den neuen Bundesländern zurückzuführen. Sie habenbei Ihrer Politik die falsche Zielrichtung.
Als letztes möchte ich an dieser Stelle auf Frau Her-menau eingehen, die mich aufgefordert hat, darzulegen,was die Opposition bzw. die F.D.P.-Bundestagsfraktioneigentlich in bezug auf das Thema Aufbau Ost tut undwelche Vorschläge zur Angleichung der Lebensverhält-nisse wir haben.
Wir haben in den Haushaltsberatungen konkrete Vor-schläge gemacht. Stimmen Sie doch endlich unserenAnträgen zu, wenn es darum geht, den Bundeswehrsoldin Ost- und Westdeutschland anzugleichen.
Es besteht überhaupt kein Grund dafür, daß die Soldatenim Osten, die wie ihre Kollegen aus dem Westen inden Kosovo geschickt werden, wenn sie nach Hausekommen, weiterhin 86,5 Prozent des Westsoldes be-kommen.
Frau Kollegin Pie-per, Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überschrit-ten. Wenn Sie die Frage des Kollegen Tauss noch be-Cornelia Pieper
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antworten möchten, dann will ich Ihnen dazu Gelegen-heit geben.
Vielen Dank, Herr Präsi-
dent. – Es besteht überhaupt kein Grund, die Anglei-
chung der Lebensverhältnisse zu verschieben.
Ich wollte in diesem Zusammenhang die Gebühren
der Rechtsanwälte in Erinnerung rufen.
Die Rechtsanwälte im Osten werden doppelt bestraft da-
durch, daß der Streitwert in den neuen Ländern viel ge-
ringer ist. Es gibt viele Ansatzpunkte, die man in diesem
Zusammenhang vorantreiben könnte.
Herr Tauss, jetzt können Sie Ihre Frage stellen.
Bitte schön, Herr
Kollege Tauss.
Frau Kollegin, ich wollte hin-
sichtlich des Stichwortes „Damoklesschwert“, das über
den neuen Ländern schweben soll, fragen, wie Sie in
diesem Zusammenhang Äußerungen aus den Reihen der
Union, speziell des baden-württembergischen Minister-
präsidenten Teufel, beurteilen, der fordert, die Ver-
kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ drastisch zugunsten
der alten Bundesländer zurückzuführen und mit be-
gonnenen Investitionen aufzuhören. Ist das nicht das ei-
gentliche Damoklesschwert, über das wir sprechen soll-
ten?
Entziehen Sie sich doch
nicht der Verantwortung! Es geht hier in erster Linie um
die Politik der Bundesregierung für die neuen Bundes-
länder.
Sie können sich darauf verlassen, daß auch die F.D.P. in
der Landesregierung von Baden-Württemberg, wenn es
um die deutsche Einheit geht, immer die richtigen
Schwerpunkte setzen
und diese Politik korrigieren wird.
Herr Tauss, summa summarum ist Ihr Sparpaket nicht
nur eine Mogelpackung. Sie betreiben damit auch eine
Steinbruchpolitik für den Osten. Tun Sie etwas für die
neuen Länder! Dabei werden wir Sie unterstützen. Um
es mit Erich Kästner zu halten: Es gibt nichts Gutes, au-
ßer man tut es. Viel Erfolg dabei!
Als nächster Red-
ner spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Lothar
Mark.
Herr Präsident! Verehrte Kolle-ginnen! Liebe Kollegen! Die bisher von seiten derCDU/CSU gehaltenen Reden zeichnen sich durch kol-lektiven Gedächtnisschwund aus.
Ich möchte zunächst auf die Äußerungen von HerrnGlos und Herrn Rühe, insbesondere aber auf die vonHerrn Rühe Bezug nehmen.Kollege Rühe trauerte den verpaßten Chancen nach.
Aktuell monierte er nur Dinge, die er in den zurücklie-genden 16 Jahren mit seiner Fraktion hätte umsetzenkönnen.Es wurde schon darauf hingewiesen: Sie habenDeutschland in der Phase der Wiedervereinigung ge-täuscht. Damals haben Sie gesagt: Das zahlen wir ausder Portokasse. Das hat Ihnen niemand geglaubt. Ichmuß hier ganz klar feststellen: Entweder wußte die Bun-desregierung tatsächlich nichts über die Situation in derDDR, oder sie hat bewußt ihr Wissen verschwiegen –beides ist schlimm.
Man kann nicht sagen, wie es Herr Rühe heute getanhat, man habe die Situation einfach unterschätzt. WelcheInformation haben denn der Bundesnachrichtendienstund andere Organisationen in der Vergangenheit überdie Situation der DDR geliefert, wenn doch schon jederBürger, der durch die DDR gefahren ist, wußte, in wel-chem Zustand sich die DDR befindet?Herr Rühe hat von der Schuldenlegende gesprochen.Dies ist zurückzuweisen. Hier ist auch mehrfach ausge-führt worden, daß die damalige Bundesregierung dieSchulden innerhalb von acht Jahren, also bis 1990, mehrals verdoppelt hat.
Hinzu kamen dann die vereinigungsbedingten Schulden;das räumen wir ein. Es muß aber klar gesagt werden,daß die Finanzierung der deutschen Einheit unter völligfalschen Bedingungen in Angriff genommen worden ist.– Wenn wir das feststellen, bedeutet es nicht, daß wirgegen die Einheit seien – ganz im Gegenteil.
Ferner möchte ich darauf hinweisen, daß Herr Rüheüber alles geredet hat, nur nicht über den Bundeshaus-halt.
Vizepräsident Rudolf Seiters
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Er hätte hier die Chance gehabt, etwas über denVerbleib des ehemaligen Staatssekretärs Pfahls zu sa-gen,
insbesondere darüber, weshalb er untergetaucht ist.Wenn Sie meinen, Herr Rühe, mit unseriösen Angriffendie Problematik lösen zu können und wir dazu schwei-gen, dann täuschen Sie sich gewaltig.
Herr Rühe hat die Maastricht-Kriterien angespro-chen, dabei aber vergessen, daß die damalige Regierungdiese Kriterien nur durch den Verkauf des Tafelsilberseinhalten konnte. Diese Möglichkeit ist heute nicht mehrgegeben.Bevor ich zu meinem eigentlichen Thema komme,
möchte ich sagen, daß wir sehr wohl mit Anstand verlie-ren können, wenn es um Landtagswahlen und auch umKommunalwahlen geht. Wenn man aber sieht, mit wel-chen Methoden die Opposition vor diesen Wahlen gegenuns gearbeitet hat, dann beginnt man zu zweifeln, ob diechristdemokratischen Grundsätze noch ihre Rechtferti-gung haben.
Für mich ist es erstaunlich, daß von beiden CDU-Rednern bisher kein Wort zur Kultur gesagt wurde. DerKulturhaushalt gehört zum Einzelplan 04.
Wenn ich daran denke, daß in den jeweiligen Ausschüs-sen die CDU sehr starke Muskeln macht, wenn es umKultur geht und hier kein Wort darüber verloren wird,dann ist dies symptomatisch für die Glaubwürdigkeit,die die CDU präsentiert.Meine Damen und Herren, der Haushalt für Kulturund Medien ist mit knapp 1,8 Milliarden DM ausge-stattet und ist damit in finanzieller Hinsicht ein winzigerEtat. Auch im Vergleich mit den Ländern und Kommu-nen spielt das kulturelle Engagement des Bundes keinegroße finanzielle Rolle. Sein Anteil an den Ausgabender öffentlichen Hand für Kultur beträgt in Deutschlandgerade einmal 2 Prozent.Demgegenüber wird der Kulturpolitik des Bundes ei-ne ungleich größere symbolische Bedeutung zugemes-sen. Dies zeigt sich exemplarisch im Kampf um denvergleichsweise kleinen Betrag von 239 000 DM undvielleicht auch mehr, der von der Bayreuther FestspieleGmbH als Konsolidierungsbeitrag eingefordert wurde.Die CDU hat in der Haushaltsbereinigungssitzung gegendie Erhöhung um 239 000 DM gestimmt.
Bayreuth verfügt im Jahr 2000 über die gleichen Mittelwie 1999. Wir können sagen, daß dies allein das Ver-dienst der SPD und der Grünen im Haushaltsausschußist.
Meine Damen und Herren, warum ist das Interesseder Bevölkerung an Fragen der Kultur, der Kunst undder Medien derzeit so groß wie selten zuvor? Wie schonlange nicht mehr, wird in der Bevölkerung heute inten-siv über Kultur gestritten, werden Zuwendungsempfän-ger, Instrumente und Konzepte der Kulturförderunghinterfragt, die zuvor jahrelang unbemerkt und unbehel-ligt blieben.Ich glaube, immer mehr Menschen haben verstanden,daß Kultur die Grundlage ihres gesamten Wesens ist,daß die Bedeutung von Kultur daher in einer sich radikalverändernden Welt mit permanentem Wandel von Ge-wißheiten und anderen Grenzen sehr groß ist.Dies waren auch die Gründe, warum wir Sozialde-mokraten nach der Regierungsübernahme vor einemJahr die Einsetzung eines Ausschusses für Kultur undMedien und die Benennung eines Staatsministers fürKultur und Medien durchgesetzt haben
und warum wir systematisch die kulturellen Programme,Zielsetzungen und Bedürfnisse mit globalen Verände-rungen abstimmen.Die Umsetzung unseres Zukunftsprogramms erfordertauch im Bereich Kultur und Medien einerseits gezieltefinanzielle Eingriffe und Prioritäten sowie andererseitsneue konzeptionelle Gestaltungen anstatt der unkoordi-nierten Verteilung von Steuergeldern. Es versteht sichvon selbst, daß wir nicht bei allen Zuwendungsempfän-gern ohne Unterschied die Mittel um 7,4 Prozent kürzen,sondern im besten Sinne Politik machen, Zukunft ge-stalten.
So haben wir die Zuwendungsempfänger mit einemFördervolumen von unter 1 Million DM in der Regelvon Einsparungen ausgenommen, da diese sonst nichtmehr lebensfähig wären.
In zentralen Bereichen, wie der Gedenkstättenkultur,der Vertriebenenkultur und der auswärtigen Kulturpoli-tik setzen wir zudem schrittweise und in Kontakt mitden betroffenen Gruppen Konzeptionen um, die denheutigen Erfordernissen gerecht werden müssen. Muß esangesichts begrenzter Mittel nicht darum gehen, diese soeffizient wie möglich und nach transparenten Kriterieneinzusetzen? In einer bestimmten historischen Situationgewährte Mittel berechtigen nicht dazu, die Steuern derBürgerinnen und Bürger in alle Ewigkeit progressiv zubeanspruchen.
Lothar Mark
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Um die Frage zu beantworten, welche kulturellenEinrichtungen und Projekte der Staat fördern soll, müs-sen wir in einer veränderten und sich ständig änderndenWelt Entscheidungen von früher überprüfen und gege-benenfalls revidieren. So kann ich heute zum Beispielkeinem professionellen Orchester in Deutschland ver-mitteln, warum die Förderung der ehemaligen Emigran-tenorchester nach dem Ende des kalten Krieges weiter-hin durch den Bund erfolgen soll, während alle anderenOrchester durch Länder, Gemeinden und sonstige Trägerfinanziert werden. Die Mittel werden daher stetig, abersozial verträglich gegen Null geführt werden. Über denZeitrahmen muß noch gesprochen werden, genauso wieüber die Konzeptionen der Orchester. Die BambergerSymphoniker und die Philharmonica Hungarica müssennun endlich ihre Hausaufgaben machen, damit sie ihrÜberlebenskonzept selbst mitgestalten.Auch die Instrumente der Förderung von Kultur undKünstlern müssen an veränderte Bedingungen angepaßtwerden. So wollen wir zum Beispiel die Künstlersozi-alversicherung novellieren. Wir haben die Bundesre-gierung gebeten, bis zum 31. März nächsten Jahres ei-nen Bericht über die soziale Lage der Künstlerinnen undKünstler in Deutschland anzufertigen. Der Entwurf derNovelle soll dann bis Ende April vorliegen. Bis dahinbleibt der Zuschuß des Bundes an die Künstlersozialkas-se, wie beschlossen, bei 20 Prozent; der Abgabesatzwird für alle Kulturbereiche auf 4 Prozent vereinheit-licht.Verantwortungsbewußte Politik muß den Mut haben,zum Wohle des Ganzen zu handeln, auch wenn dies ein-zelnen Interessengruppen nicht gefallen mag. Natürlichhätte ich gern einige Millionen DM mehr für die Kultur-förderung im Bund zur Verfügung. Der von der altenRegierung hinterlassene Schuldenberg verpflichtet unsjedoch dazu, den Gürtel enger zu schnallen, wenngleichwir für Kultur immer noch mehr Mittel bereitstellen alsunter Kanther.In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem dasAufbauprogramm Kultur in den neuen Ländern inHöhe von 60 Millionen DM herausstellen.
Mit dieser zusätzlichen Förderung zu bestehenden Pro-grammen unterstützt die Bundesregierung Länder undGemeinden in den neuen Ländern bei der Modernisie-rung ihrer Kultureinrichtungen. Durch eine Verbesse-rung der Infrastruktur, durch Sanierung, Rekonstruktionund Neubauten soll die große Bedeutung ostdeutscherKulturstandorte wieder deutlicher in das öffentliche Be-wußtsein gelangen.Einen hohen ethischen Symbolwert hat auch die För-derung der Gedenkstätten. Von „Schluß machen“ und„Strich ziehen“ kann hier keine Rede sein, im Gegenteil:Durch die Übernahme der nationalen Mahn- und Ge-denkstätten der DDR hat sich die deutsche Gedenk-stättenlandschaft gravierend verändert. Bei den ehemali-gen großen Gedenkstätten der DDR, Buchenwald, Ra-vensbrück, Sachsenhausen, handelte es sich um relativpersonalintensive staatliche Einrichtungen mit differen-zierter institutioneller Struktur, wie etwa Archiven, Bi-bliotheken, wissenschaftlichen und pädagogischen Ab-teilungen. Im Gegensatz dazu waren und sind die Ge-denkstätten in Westdeutschland im besten Fall von denbetreffenden Ländern getragene unselbständige Ein-richtungen, meistens angeschlossen an übergeordneteInstitutionen, wie zum Beispiel Landeszentralen fürpolitische Bildung. Während dort bei mangelhafter In-frastruktur die Vergangenheit beispielhaft aufgearbeitetwurde, waren die Einrichtungen der DDR inhaltlich oftmehr als fragwürdig.
Unsere neue Gedenkstättenkonzeption sieht deshalbdie exemplarische Einbeziehung der Konzentrationsla-ger Bergen-Belsen, Neuengamme und Dachau in dieFörderung vor sowie eine stärkere Vernetzung der ge-samten Gedenkstättenarbeit. Ohne Wissen wird Geden-ken zum leeren Ritual. Die Mittel für die Förderung derGedenkstätten und ihrer pädagogischen Arbeit stockenwir daher um 4 Millionen auf 44 Millionen DM auf,damit die nachfolgenden Generationen nach dem Able-ben der Erlebnisgeneration aus der Vergangenheit Leh-ren für ihre Gegenwart ziehen.
Gleiches gilt für die Förderung kultureller Maßnah-men im Rahmen des § 96 des Bundesvertriebenengeset-zes. Die Gelder dafür hat die alte Regierung einseitigund teilweise nach dem Gießkannenprinzip verteilt. DieFörderung wurde seit 1982 exorbitant ausgeweitet. ZehnJahre nach den revolutionären Umbrüchen in Mittel- undOsteuropa ist es an der Zeit, gemeinsam mit den Ver-triebenen- und Aussiedlerverbänden nach neuen Kon-zepten für die Förderung der deutschen Kultur östlichvon Oder und Neiße zu suchen. Die alte Regierung warhier ebenfalls untätig und ließ vieles laufen.Wir wollen die bestehenden Institutionen von Über-flüssigem und Doppelarbeit befreien. Wir wollen sie mitUniversitäten und Forschungseinrichtungen, aber auchuntereinander stärker vernetzen. Dadurch kann auch hierdie Erinnerung an die deutsche Kultur im Kontext unse-rer Nachbarländer, wie Polen, Tschechien, Rumänienoder Rußland, nach dem Ableben der Erlebnisgenerationwissenschaftlich fundiert und lebendig erhalten werden.Es geht aber nicht um die museale Aufbereitung vonVergangenheit. Daher wollen wir eine Kulturstiftung„Östliches Europa“ errichten und die Arbeit der ein-zelnen Museen und Forschungsinstitute besser koordi-nieren. Die wissenschaftliche Koordinierung soll aber inden Händen des Instituts für ostdeutsche Kultur und Ge-schichte bleiben.Mit Blick auf die Zeit muß ich versuchen, einigesstärker zusammenzufassen. – Ich weise darauf hin, daßwir die Minderheitenpolitik in Deutschland wieder ver-stärkt fördern. Zum Beispiel erhält die Stiftung für dassorbische Volk wie ehedem 16 Millionen DM, obwohldie alte Regierung die Mittel bis zum Jahr 2007 halbie-ren wollte. Wir werden hier neue Akzente setzen.Ich möchte noch erwähnen, daß wir auch in der aus-wärtigen Kulturpolitik neue Akzente setzen, indem wirLothar Mark
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6555
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versuchen, die Arbeiten der europäischen Länder ver-stärkt zusammenzuführen.Schließlich will ich betonen, daß die Deutsche Wellefür die Außenpolitik eine große Rolle spielt. Sie mußnun versuchen, die Kürzungen mit intelligenten Kon-zepten umzusetzen und Deutschland dennoch nachaußen gut zu vertreten.Die Hauptstadtförderung Berlin und die Bundes-stadtförderung Bonn will ich nur erwähnen, um ab-schließend kurz noch etwas zur Stiftung PreußischerKulturbesitz sagen zu können. Nur noch zwei Sätze,Herr Präsident.Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz nimmt beiuns einen hohen Stellenwert ein. Wir haben den Inve-stivbereich um 45 Millionen DM erhöht, so daß derzeitfür das Jahr 2000 295 Millionen DM zur Verfügung ste-hen. Wir wollen damit erreichen, daß die Museumsinselwesentlich schneller voll bezugsfertig ist, als dies ur-sprünglich geplant war.Ich bitte Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,dem Einzelplan 04 zuzustimmen, besonders auch ausGründen der Kulturpolitik.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich das Wort dem Kollegen Nobert Lam-
mert.
Der Kollege
Mark hat seinen Überblick über die Kontinuitäten und
Diskontinuitäten bundesdeutscher Kulturpolitik in der
Verantwortung der rotgrünen Koalition sinngemäß mit
dem Hinweis begonnen, erstmals seit vielen Jahren wür-
den liebgewordene Besitzstände der Kulturpolitik auf
den Prüfstand gestellt, einer Überprüfung und Evaluie-
rung unterzogen.
Dies ist eine fröhliche Beschreibung dessen, was in
der Kulturpolitik seit einem Jahr stattfindet bzw. nicht
stattfindet. Jeder, der in diesen Tagen in den Feuilletons
die Berichterstattung über die Bilanz nach einem Jahr
liest, der wird nicht übersehen können, daß sich nach
den hohen, ausdrücklich geweckten Erwartungen nun
weithin mindestens Ernüchterung, in vielen Fällen auch
große Enttäuschung breitmacht.
Denn aus dem, was mit großer Geste angekündigt war,
ist entweder nichts oder sehr viel weniger geworden, als
vernünftigerweise erwartet werden konnte. Schröders
neue Kleider sind entweder gar nicht vorhanden oder
weit weniger eindrucksvoll als angekündigt.
Nun wissen auch wir, daß sich in Zeiten knapper
Kassen die Kulturpolitik nicht ihrem Beitrag zur Stabili-
sierung öffentlicher Haushalte entziehen kann.
Um so ernster hätte man nehmen müssen, was von sei-
ten der Bundesregierung an Überprüfungen und Be-
standsaufnahmen angekündigt war.
Das ist aber entweder gänzlich ausgeblieben oder hat
sich in eine Richtung lapidarer Auflistung von Maß-
nahmen ohne jede Perspektive und Vision entwickelt.
Meine Damen und Herren, wir haben nicht nur die
berühmte Diskrepanz zwischen Hoffnungen auf die
Ausstattung von Kulturtiteln und tatsächlich verfügbaren
Mitteln,
sondern vor allen Dingen eine politisch zu vertretende
Diskrepanz zwischen Ankündigungen, die die Bundes-
regierung selber vorgenommen hat, und dem, was dar-
aus geworden ist. Dazu zählt insbesondere die Ankündi-
gung, man wolle die mediale Außendarstellung Deutsch-
lands verbessern; daraus ist eine massive Kürzung der
Mittel für die Deutsche Welle geworden. Dazu zählt die
Ankündigung, man wolle die soziale Absicherung der
Künstler verbessern; daraus ist eine massive Streichung
des Bundeszuschusses zur Künstlersozialversicherung
geworden. Ähnliches läßt sich für die Ausstattung vieler
einzelner Institutionen sagen. Das macht den Kern der
Verbitterung und Enttäuschung aus, die bei vielen Be-
troffenen eingetreten sind. Es gehört zur Redlichkeit
einer solchen Haushaltsdebatte, festzuhalten, daß nach
der Verankerung der Zuständigkeit für Kulturpolitik im
Kanzleramt – –
Herr Kollege La-
mert, Sie müssen innerhalb der drei Minuten, die Ihnen
zustehen, zum Schluß kommen. Der Kollege Mark kann
noch etwas erwidern, aber Sie müssen jetzt bitte zum
letzten Satz kommen.
Ja. – Es gehörtzur Redlichkeit einer solchen Haushaltsdebatte, festzu-halten, daß mit der Veränderung der Zuständigkeit fürdie Kulturpolitik und ihrer Ansiedlung im Kanzleramtdie Kulturpolitik zur Sparkasse des Bundes, jedenfallsdes Kanzleramtes, geworden ist. Auf jeden Fall ist derLöwenanteil der vom Kanzleramt zu erbringenden Ein-sparungen ausgerechnet bei den Kulturtiteln erfolgt.
Lothar Mark
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6556 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Das ist das präzise Gegenteil dessen, was die Kultur-politik vernünftigerweise erwarten konnte. Kulturpolitikist eben nicht die Fortsetzung der Politik mit den Mittelnder Kultur, –
Herr Kollege Lam-
mert, Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.
– sondern hätte
die Fortsetzung der Kultur mit den Fördermöglichkeiten
der Politik sein müssen. Das bleibt festzuhalten.
Ich gebe dem Kol-
legen Mark das Wort zu einer Erwiderung.
Herr Lammert, eigentlich bin
ich Ihnen sehr dankbar, daß Sie noch einmal auf diese
Punkte eingingen, weil Sie mir damit die Möglichkeit
bieten, zu sagen, daß alles, was in Ihren Köpfen vor sich
geht, unzutreffend ist.
Wenn Sie die Künstlersozialversicherung ansprechen,
so muß ich sagen, daß ich dazu Ausführungen gemacht
habe.
Damit ist klar und deutlich geworden, daß wir Mitte des
nächsten Jahres eine neue Entscheidung fällen werden –
je nachdem, was uns an Gutachten vorgelegt wird.
Das Thema Deutsche Welle hatte ich angesprochen,
und in Ermangelung der Zeit konnte ich nicht darauf
hinweisen, daß wir unter anderem für die Sonderbericht-
erstattung der Deutschen Welle im Kosovo noch einmal
10 Millionen DM aus dem Einzelplan 60 bereitstellen
konnten.
Ich muß Ihnen eine ganz herbe Enttäuschung berei-
ten, wenn Sie sagen, die Kultur sei die Sparkasse im
Kanzleramt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
diese Bundesregierung hat die Kulturförderung für Ost-
deutschland zu den zusätzlich etatisierten Bereichen im
Jahre 1999 um 90 Millionen DM erhöht bzw. neu etati-
siert. Im Jahr 2000 werden es 60 Millionen DM sein.
1999 betrug die Kulturhauptstadtförderung für Berlin
120 Millionen DM, und im Jahr 2000 werden es
100 Millionen DM sein. Das sind zusätzliche Millionen-
beträge. Wenn Sie dann die sonstigen Kürzungen be-
trachten, die in dem Einzelplan 04 vorgenommen wer-
den, so werden Sie trotzdem ein riesiges Plus im Kultur-
bereich feststellen.
Ich denke, daß mit der neuen Akzentuierung in der
Kulturpolitik insbesondere auch Ostdeutschland sehr
vorteilhaft bedient wird.
Ich gebe nunmehr
dem Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen, Dr.
Bernhard Vogel, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Bitte erlauben Sie, daß ich mich in dieser General-debatte zum Haushalt 2000 zu Wort melde; denn derHaushalt des Bundes ist von spürbarem großen undwesentlichen Einfluß auf die Länder, nicht zuletzt na-türlich auf die jungen Länder. Ich ergreife heute aberauch deswegen gern das Wort, weil Thüringen wie-der eine Stimme hat. Die Zeit des Schweigens unddes Sichenthaltens ist vorbei. Wir haben klare Verhält-nisse.
Weil wir diese klaren Verhältnisse haben, weiß ichauch, daß Vertrauen verpflichtet, und zwar nach meinerÜberzeugung zu konstruktiver Mitarbeit. Es verpflichtetuns, über unsere Interessen, über die Länderinteressenzu wachen und dazu einiges hier zu sagen.Wir werden die wiedergewonnene Stimme nicht miß-brauchen. Für eine Blockadepolitik stehen der Freistaatund ich nicht zur Verfügung. Bei meinem Verständnisvon Mitwirkung und Mitgestaltung ist das selbstver-ständlich. Gerade weil wir in der letzten Legislaturperi-ode des Bundestages andere Erfahrungen gemachthaben, stelle ich fest: Das war von Schaden für dasLand, und das darf sich nicht wiederholen.
In seiner Regierungserklärung vom November letztenJahres hat der Herr Bundeskanzler gesagt – ich zitiereihn –:Gerade in den neuen Bundesländern haben dieBürgerinnen und Bürger ihre ganz speziellen Erfah-rungen mit Dichtung und Wahrheit in der Politikgemacht.
Das ist ein Satz von Gerhard Schröder, der richtig ist.Daran müssen sich aber nicht nur die Landesregierungenin den jungen Ländern, sondern daran muß sich nacheinem Jahr auch die Bundesregierung messen lassen.Unsere Leitlinie für Thüringens Verhalten in Bun-destag und Bundesrat ist klar: Wir akzeptieren selbstver-ständlich, daß die Mehrheit der Wählerinnen und Wäh-ler im September 1998 dieser Bundesregierung eineneindeutigen Auftrag erteilt hat. Nehmen Sie diesen Auf-trag bitte wahr. Wir werden Sie daran nicht hindern undauch nicht hindern können. Sie tragen die Verantwor-tung und haften für die Fehler, die Sie machen.
Wir sagen aber auch klar und eindeutig, was wir fürfalsch halten. Wir sagen ebenso klar und eindeutig un-Dr. Norbert Lammert
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sere Meinung, wenn Sie einen Fehler machen. Es mußaber deutlich sein, wer am Steuer sitzt, auch wenn er dasLenkrad nicht benutzt.
Bei Einspruchsgesetzen – um das ganz klar zu sagen– werden wir unsere Meinung sagen, aber wir werdenSie in der Regel nicht aufhalten. Einspruchsgesetze lie-gen in Ihrer Verantwortung und gehören deswegen inder Regel nicht in den Vermittlungsausschuß. Beizustimmungspflichtigen Gesetzen ist die Lage anders;denn hier sind wir für das Ergebnis mitverantwortlich.Hier dürfen wir Fehler, wie sie Ihnen unterlaufen, undZielvorstellungen, die wir nicht billigen, nicht durchge-hen lassen.
Hier werden wir alle uns gegebenen Chancen für eineGesetzesverbesserung nutzen. Nach einem Jahr rotgrü-ner Regierung ist ein reiches Betätigungsfeld dafür vor-handen, und zwar nicht allein, was den Inhalt der Geset-ze betrifft, so ist mein Eindruck.Die Bundesregierung will sparen. Das ist richtig.
– Mancher müßte sparen und tut es nicht.
Die Bundesregierung will sparen.
– Wenn sie mußte, hätte der Bundeskanzler seine Redeso nicht halten dürfen; denn er hat so getan, als sei essein freier Entschluß gewesen, diese Politik zu betrei-ben.
Die Bundesregierung will sparen, das ist richtig undverdient unsere Unterstützung. Wir in den Ländern – derKollege Eichel weiß das – müssen nicht weniger sparen,und wir machen große Anstrengungen dazu. Sehen Siesich bitte unsere Haushalte einmal an. Ihr Ziel, HerrBundesfinanzminister, verdient insoweit unsere Unter-stützung.
Ich kritisiere nicht, daß Sie ein Sparpaket vorgelegthaben.
Ich hätte mir nur gewünscht, daß in den letzten Monatenweniger vom Paket und mehr vom Sparen die Redegewesen wäre.
Sparpaket heißt nicht, Lasten auf andere verteilen.
Geld, das man nicht hat, nicht auszugeben, aber anderezu zwingen, welches auszugeben, obwohl die es auchnicht haben, ist noch kein Sparen.
Wer glaubt, schon gespart zu haben, wenn man ein paarMillionen aus dem Haushalt des Bundes herausnimmtund sie den Ländern und Kommunen zuschiebt, hatunrecht. Das ist noch kein Sparen.Inzwischen ist geschehen, was Kenner der Materievon Anfang an vorausgesagt und die Bundesregierungund insbesondere Sie selbst, Herr Finanzminister, inAbrede gestellt haben: Das Paket ist aufgeschnürt.Rechtlich ist das natürlich möglich, guter Stil ist esnicht. Man fühlt sich an der Nase herumgeführt.
– Man muß alte Fehler nicht nachmachen. Sie wollen esdoch besser machen.
Sie sind doch nicht gut, wenn Sie es nicht bessermachen.Ich halte beispielsweise die Rentenerhöhung nachKassenlage für eine Ungerechtigkeit. Ich lehne sie ab.Aber nach der Aufschnürung werden wir sie im Bundes-rat nicht verhindern können.Über das Gesetz zur Änderung des Wohngeldgeset-zes und anderer Gesetze – also den anderen Teil desSparpakets – werden wir streiten. Wir von Länderseitekönnen es nicht hinnehmen, daß Sie Sparen nennen, wasLastenverlagerung auf die Kommunen bedeutet.
Oder das Gesetz zur Familienförderung: Natürlichgeht es in Ordnung, meine Damen und Herren, dasmonatliche Kindergeld für das erste und zweite Kindanzuheben. So verlangt es übrigens das Bundesverfas-sungsgericht. Allerdings geht es nicht, daß die einengute Dinge beschließen und sich dafür hier feiern lassenund die anderen zahlen müssen. Nicht die Erhöhung desKindergeldes, aber die Finanzierung der Mehrausgabenmuß im Vermittlungsausschuß diskutiert werden.
Zur Rente habe ich schon gesagt, daß wir darüber imRahmen des Sparpakets nicht mehr sprechen können.Diese Möglichkeit haben Sie uns genommen. Um somehr scheint es mir notwendig zu sein, daß jetzt alleVerantwortlichen an einen Tisch kommen und ohneVorbedingungen darüber sprechen, wie wir die Rentefür die nachwachsenden Generationen und die altenLeute von heute sichern können.Aber, meine Damen und Herren, als Ministerpräsi-dent eines jungen Landes füge ich hinzu: Wenn dieRenten um 1 oder 1,5 Prozent erhöht werden – Infla-tionsausgleich –, erhöhen sich die Renten der BezieherMinisterpräsident Dr. Bernhard Vogel
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von 100 Prozent natürlich stärker als die Renten von de-nen, die nur 85 Prozent bekommen.
Das ist ein Spezifikum des gesamten Sparpakets. Esstellt die jungen Länder auf Grund der bestehenden Dis-parität bei den Einkommen generell schlechter als diealten Länder.
Das führt dazu, daß sich die Schere, die wir doch alleschließen wollen, nicht schließt, sondern weiter öffnet.Auch die Ökosteuer ist dafür ein Musterbeispiel. Ichhabe heute früh den Eindruck gehabt, daß es dann, wenndie Ölpreise steigen, gar nicht mehr darauf ankommt:Dann kann man auch die Steuern erhöhen.
Man könnte auch auf die Idee kommen, zu überlegen, obnicht umgekehrt ein Schuh daraus wird. Also werdenentgegen den Ankündigungen, die Steuern würdengesenkt, die Steuern erhöht. Die Ökosteuer belastet unsin den jungen Ländern natürlich stärker als die Men-schen in den alten Ländern, weil wir im Schnitt – wiejeder weiß – noch immer deutlich niedrigere Einkom-men als der Westen haben.Wir haben aber nicht nur niedrigere Einkommen,sondern auch niedrigere Lohnnebenkosten. Mit der Öko-steuer finanziert der Osten bei niedrigerem Einkommendie Senkung der höheren Lohnnebenkosten des Westens.Zum erstenmal gibt es einen Finanztransfer von Ostnach West. Ich glaube, das muß wenigstens festgehaltenwerden.
Am Freitag – übermorgen – steht unter anderem auchdas Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz aufder Tagesordnung des Bundesrates. Thüringen undSachsen werden gemeinsam dafür werben, eine Verlän-gerung bis 2010 zu erreichen, weil uns die jetztbeschlossene Verlängerung bis 2002 nicht hilft. Geradejetzt ergibt sich aus dem Investitionsprogramm des Bun-desverkehrsministers die Verschiebung wichtiger Maß-nahmen auf die Zeit nach 2002. Wer uns helfen will, dermuß die Fristen verlängern. Bitte, haben Sie für unserEintreten Verständnis.
Im übrigen höre ich, die Bahn wolle den Akzent aufAusbau und nicht mehr auf Neubau setzen. Nur, wennman ausbauen will, dann muß man etwas zum Ausbauenhaben. In den jungen Ländern brauchen wir den Neubauvon Verkehrswegen, von Straßen und Schienen, weilsie die strukturelle Voraussetzung dafür sind, daß wirvom Tropf weg- und auf eigene Beine kommen.
Zur Arbeit der Bundesregierung, die heute zurDebatte steht, gehört auch ihr Bemühen um eine Ge-sundheitsreform. Weil ich optimistisch veranlagt bin,gehe ich einmal davon aus, daß wir bis Freitag wissen,was der Bundestag beschlossen hat, und daß wir imBundesrat wissen, was wir beschließen sollen.
Das vorausgesetzt, kann ich dem, was hier in Rede steht,nicht zustimmen, weil ich nicht möchte, daß den Län-dern die Mitsprache bei der Krankenhausplanung weit-gehend entzogen wird. Das würde über kurz oder lang invielen Ländern schlimme Folgen haben. Vor allem abermöchte ich nicht, daß wir mit einer Rationierung derVersorgung und mit einer Budgetierung der Leistungenzu einer Zweiklassenmedizin kommen. Der Gesund-heitsbereich ist – auch für Beschäftigung – ein zu-kunftsträchtiger Wachstumsbereich, den man nicht ab-würgen darf.
Zur Verwirklichung der langfristigen Strukturrefor-men mit der Notwendigkeit einer Entlastung hochver-schuldeter Ost-AOKs äußere ich mich nicht. Eine solcheVerquickung ist unseriös. Wir im Osten sind zwar armund auf Hilfe angewiesen; aber wir sind in Strukturfra-gen nicht käuflich, und darum geht eine solche Verquik-kung nicht.
Sparen tut not, aber es muß fair und gerecht zugehen.Wenn Ausgaben nur verschoben werden, dann wird dieWirtschaft nicht belebt. Sparen allein – das hat derSachverständigenrat deutlich gesagt – macht es nicht.„Sparen und gestalten“ muß das Motto sein. Es gehtnicht an, daß wir in den jungen Ländern bei einemAnteil von etwa einem Fünftel der Bevölkerung einViertel der vorgesehenen Einsparungssumme erbringen.Das ist nicht richtig.
Der Finanzminister hat gestern hier im Bundestagwiederholt, was er in den letzten Monaten landauf, land-ab und auch im Bundesrat gesagt hat: Der hohe Schul-denstand ist die Folge einer unsoliden Finanzpolitik dervorherigen Bundesregierung.
Als Ministerpräsident eines jungen Landes wider-spreche ich: Ein Großteil der Schulden, von denen dieRede ist, ist nach 1989 entstanden, um uns so rasch undunbürokratisch wie möglich zu helfen.
Diese Schulden sind beispielsweise entstanden, um dieZustimmung unserer Nachbarn zur Wiedervereinigungzu erreichen. Diese Schulden sind gemacht worden, weilein Ereignis eintrat, das viele sehnlichst erhofften, abermit dem niemand kurzfristig rechnen konnte. Die Zahlensind eindeutig: Der Schuldenstand am 31. DezemberMinisterpräsident Dr. Bernhard Vogel
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1989 betrug 490 Milliarden DM. Wir hatten eine Staats-quote von unter 46 Prozent.Ich bedanke mich beim Parlament der Bundesrepu-blik Deutschland der 13. Legislaturperiode, ich bedankemich bei der damaligen Bundesregierung, und ichbedanke mich beim damaligen Bundeskanzler, daß dieseSchulden gemacht worden sind und daß es Anlaß gab,sie zu machen.
Wir danken für diese Hilfe. Wir wissen, daß wir weitereHilfe benötigen.Die Arbeitslosenquote liegt in Thüringen bei14,7 Prozent. Niemand wird behaupten, daß dies sobleiben kann. Dabei haben wir in Thüringen noch dieniedrigste Arbeitslosenquote aller neuen Länder. DieArbeitslosigkeit bleibt unsere größte Sorge. Das Spar-paket und eine Reihe weiterer jetzt vom Bundestagbeschlossener Gesetze führen zu einer finanziellenSchlechterstellung der jungen Länder. Wir werdenweniger in der Lage sein, den Menschen Perspektiven zugeben.Der Bundeskanzler hat im letzten Jahr gesagt: Wirwollen uns jederzeit – nicht erst in vier Jahren – daranmessen lassen, in welchem Maße wir zur Bekämpfungder Arbeitslosigkeit beigetragen haben. Ich stelle fest,die Arbeitslosigkeit in den jungen Ländern ist nach demAmtsantritt der neuen Regierung vor einem Jahr höherals zuvor.
Deswegen wäre ich ganz dankbar, wenn die Freudenbe-kundungen, die ich heute gehört habe, gelegentlich dieFußnote enthalten hätten: Trifft leider nicht zu für diejungen Länder. Dies trifft tatsächlich nicht zu. Darumsorgen wir uns gemeinsam.Wenn sich, wie ich hoffe, der Aufschwung einstellt,dann müssen wir an ihm beteiligt werden.
– Sie machen es sich mit Ihrem Zuruf zu einfach. Diehöchste Arbeitslosigkeit herrscht dort, wo die PDS ander Regierung beteiligt ist. Die niedrigste Arbeitslosen-rate gibt es dort, wo wir allein regieren.
Wir brauchen Reformen und eine baldige gemeinsa-me Beratung über die Folgen des Karlsruher Urteils. Wirmüssen einen zweiten Solidarpakt auf den Weg brin-gen, der erfreulicherweise von allen Verantwortlichen –sowohl vom Finanzminister als auch vom Bundeskanz-ler – für notwendig erkannt worden ist. Wir haben mitden Vorarbeiten begonnen. Wir brauchen Hilfe, nichtum uns an Subventionen zu gewöhnen, sondern um einegesamtstaatliche Aufgabe zu bewältigen; denn der Auf-bau Ost ist nicht allein unsere Angelegenheit, sonderneine gesamtstaatliche Angelegenheit. Der Krieg ist nichtvon Sachsen und Thüringen verloren worden, sondernvon ganz Deutschland.
Der Bundeskanzler hat vor einem Jahr gesagt: „Wirwerden die Solidarität mit den Menschen im Osten desLandes auch weiterhin brauchen. Wer die dafür nötigenLeistungen zurückfährt, der gefährdet das Erreichte.“Der Satz hat vor einem Jahr gestimmt; dieser Satzstimmt auch heute. Ich bitte Sie, uns zu helfen und nichtdas aufs Spiel zu setzen, was wir in den jungen Ländernerreicht haben. Alle Länder brauchen die Solidaritätzwischen Bund und Ländern. Wir in den jungen Ländernbrauchen sie ganz besonders, damit wir auf eigenen Bei-nen stehen können. Wir bieten unsere Mitarbeit an, umRahmenbedingungen zu schaffen, die uns alle voran-bringen; denn unser Ziel ist ganz einfach: Wir wollenwieder den Platz in Deutschland einnehmen, den wirohne deutsche Teilung längst eingenommen hätten. Diesist unser Ziel und auch, glaube ich, eine berechtigteBitte.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich das Wort Rolf Schwanitz.
Herr Ministerpräsident, ichmöchte kurz auf das eingehen, was Sie zum Infrastruk-turausbau gesagt haben. Ich bin immer dann besondersaufmerksam, wenn Mitglieder Ihrer Staatsregierung imBundestag reden. Am 9. September hat Ihr Finanzmini-ster hier von angeblichen Problemen bei der Finanzie-rung der Strecke A 4 berichtet. Ich habe ihn danach an-geschrieben, um ihn zu korrigieren und ihm mitzuteilen,daß dies nicht stimme. Er hat nicht reagiert. Das ist dieVorgeschichte.Nun haben Sie sich hier als Hüter der Interessen derneuen Länder und als Kritiker von angeblichen Spar-maßnahmen im Hinblick auf den Infrastrukturausbaupräsentiert. Ich habe in Vorbereitung – weil ich natürlichwußte, daß Sie heute kommen – extra noch einmal dieZahlen über die Höhe der Mittelansätze herausgesucht.Ich denke, man muß die Zahlen einfach einmal nennen.Bei den Neu- und Ausbaumaßnahmen im Bereichder Bundesfernstraßen lag der Anteil Thüringens inOstdeutschland 1998 bei 21 Prozent. Dieser wird nunmit dem Investitionsprogramm auf 28 Prozent an-gehoben. Aber lassen wir einmal die relativen Zahlenweg.1998 standen unter der letzten Regierung für Neu-und Ausbaumaßnahmen 560 Millionen DM zur Verfü-gung. Wir haben jetzt ein Investitionsprogramm fürden Zeitraum 1999 bis 2002 verabschiedet, in demfür Ausbau- und Neubaumaßnahmen in Thüringeneine Gesamtsumme von 2,95 Milliarden DM verankertist.
Das sind 740 Millionen DM pro Jahr – ich sage es nocheinmal: 740 Millionen DM pro Jahr – gegenüber 560Millionen DM im Jahre 1998 unter der Regierung Kohl.Diese Mittel stehen in den nächsten drei Jahren für Neu-und Ausbaumaßnahmen in Thüringen zur Verfügung.Das sind 30 Prozent mehr, Herr Ministerpräsident. SieMinisterpräsident Dr. Bernhard Vogel
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haben überhaupt keinen Grund, sich hier zum Kläger zumachen.
Herr Ministerpräsi-
dent, möchten Sie erwidern? – Dann haben Sie das
Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Schwanitz, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie bei mir
besonders aufmerksam zuhören. Das hat ja auch einen
guten Grund: Sie sind in Thüringen geboren; den Vorteil
hat nicht jeder.
Ich finde es auch sehr beruhigend, daß Sie sich auf
Dinge vorbereitet haben, die ich hätte sagen können, die
ich aber – wenn Sie genau zugehört hätten, hätten Sie es
gemerkt – nicht gesagt habe.
– Nein. Sie können das noch einmal nachlesen. – Ich
weiß, daß Sie immer damit rechnen, daß ich das sage,
und ich sage das auch oft. Aber ich habe lediglich darauf
hingewiesen, daß wir in den neuen Ländern nicht auf
den Ausbau vorhandener Strecken setzen können, weil
wir solche Strecken, wie sie im Westen in 50 Jahren ge-
baut worden sind, noch nicht haben – daher können wir
sie auch nicht ausbauen –, sondern daß wir neben dem
Ausbau auch den Neubau brauchen.
Wenn Sie mir jetzt antworten, daß der Beitrag in ir-
gendeinem Jahr höher ist – das mag ja richtig sein; ich
kann die Zahlen nicht überprüfen –, dann sage ich Ih-
nen: Lieber Herr Schwanitz, wir haben doch nicht so
gewettet, daß es dann, wenn die Bundesregierung von
einem sozialdemokratischen Kanzler geleitet wird, keine
Gerechtigkeit mehr gibt. Wir erhalten mehr, weil wir ei-
nen Anspruch darauf haben,
weil nämlich bei uns 1940 der letzte Kilometer Auto-
bahn gebaut worden ist. Wenn ich mich recht erinnere,
ist das in einigen anderen Ländern anders.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Aber der
Streit um die nicht verwirklichten Verkehrswege geht
weiter.
Nun spricht für die
SPD-Fraktion der Kollege Klaus Hagemann.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Zwischenzeitlich istes ein geschichtlicher Fakt, daß während der 13. Legis-laturperiode, in der Zeit, als CDU/CSU und F.D.P. diepolitische Verantwortung getragen haben, der höchsteStand der Arbeitslosigkeit in unserem Land erreichtwurde. Ich erinnere mich noch daran, daß der KollegeRexrodt zum Jahreswechsel 1996/97 auf die Zahl von 5Millionen Arbeitslosen hingewiesen hat.Wir hatten in dieser Zeit die höchsten Steuersätze inunserem Land. Wir erinnern uns auch, daß Steuererhö-hungen nicht vorgesehen waren, daß von der Bundesre-gierung eigentlich versprochen worden war, die Steuernnicht zu erhöhen. Es waren in der 13. Legislaturperiode,als Sie die Verantwortung getragen haben, die höchstenAbgabensätze und die höchste Verschuldung festzustel-len. Das ist, wie gesagt, ein geschichtlicher Fakt.Ursache hierfür ist nicht nur die deutsche Einheit; dieSchulden wurden vielmehr schon in der Zeit zwischen1983 und 1989 von fast 300 Milliarden DM auf über500 Milliarden DM erhöht.
Meine Damen und Herren, durch diese Regierung,durch den Haushalt, den wir in dieser Woche verab-schieden werden, wird ein Paradigmenwechsel eintreten.Wir werden – das hat sich schon gezeigt – die Arbeitslo-sigkeit verringern. Sie hat sich bereits verringert. Dabeiist es mir egal, aus welchem Grunde das geschieht.Wichtig ist, daß abgebaut wird, daß Arbeitslose wiederin Arbeit und Brot gekommen sind.
Die Steuern sind gesenkt worden und werden weitergesenkt. Familien werden entlastet, Arbeitnehmer wer-den entlastet, kleine Betriebe werden entlastet. Bis zumJahre 2003 beträgt die Summe dieser Entlastungen46 Milliarden DM.Auch die Sozialabgaben sind erstmals seit vielenJahren gesenkt worden. Die Senkung der Beiträge zurRentenversicherung wurde durch die Ökosteuer finan-ziert. Lassen Sie mich hier noch einen Punkt klarstellen,auf den der Kollege Glos heute morgen hingewiesen hat:In den Jahren zwischen 1989 und 1994 wurde die Mine-ralölsteuer um 50 Pfennige erhöht; das Geld floß abernicht wie jetzt bei der Ökosteuer in die Rentenkasse,sondern in die Staatskasse, damit Theo Waigel die Lö-cher stopfen konnte. Auch das muß man immer wiederdeutlich herausstellen.
Wir sind auch das Hauptproblem, die Nettoneuver-schuldung, angegangen und haben sie zum erstenmalseit Jahren wieder zurückgeführt. Wir haben es dabeigeschafft, die 50-Milliarden-DM-Grenze zu unter-schreiten.
Meine Damen und Herren, die Politik, von der ichhier spreche, hat auch in der Anhörung bei den Sachver-ständigen – darauf wurde schon mehrfach hingewiesen –deutliche Anerkennung gefunden. Ich möchte hier nurdrei Stimmen erwähnen: Professor Eekhoff – ich glaube,er ist CDU-Mitglied, zumindest war er Staatssekretär ineiner CDU/F.D.P.-Regierung – bezeichnete diese Politikals einen Schritt in die richtige Richtung. ProfessorRolf Schwanitz
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Walter von der Deutschen Bank warnte davor – er sagtedas an die Adresse der Opposition –, die Bemühungender Bundesregierung zu torpedieren. Recht hat er.
Auch der Bundesrechnungshof – meiner Meinungnach das wichtigste Kontrollorgan in unserem Lande –erkannte die Absicht der Bundesregierung an, den Bun-deshaushalt dauerhaft zu konsolidieren und die Neuver-schuldung bis zum Ende der nächsten Wahlperiode aufNull zurückzuführen. Auch von seiten des Bundesrech-nungshofes fand unsere Politik deutliche Anerkennung.In der Sachverständigenanhörung des Haushaltsaus-schusses hat der Bundesrechnungshof auch noch einmaldeutlich davor gewarnt, jedes Jahr mehr Geld aus-zugeben, als eingenommen werde, weil die Gestal-tungsmöglichkeiten der nächsten Generation – Genera-tionen müßte man schon bald sagen – stark einge-schränkt oder ganz behindert würden, wenn wir ihr ei-nen solchen Berg an Schulden hinterließen.Nur durch Einsparungen bei den Zinszahlungen gibtes Spielraum für die Haushaltsgestaltung und kann wie-der mehr Geld für Bildung, Forschung, Wissenschaftund für eine aktive Arbeitsmarktpolitik freigeschaufeltwerden. Das ist unser Ziel.
Wenn wir die Zukunft gestalten wollen, dann brauchenwir Mittel für solche Zukunftsaufgaben.
In den nächsten Jahren bleibt sicherlich noch Erhebli-ches zu tun. Wir haben den Weg und die Richtung geän-dert, aber es ist wichtig, weitere Schritte zu gehen. Diesewurden in Angriff genommen. Wir müssen den Para-digmenwechsel, der mit dem Haushalt 2000 begonnenwurde, fortsetzen.
Meine Damen und Herren, gestern und heute war inder Debatte deutlich zu beobachten, daß CDU/CSU undF.D.P. immer sehr nervös und gereizt reagierten, wennüber die hohe Staatsverschuldung gesprochen wurde.Stimmt etwa hier das Sprichwort: Getroffene Hundebellen?
Wenn man genau zugehört hat, stellte man fest, daß invielen Diskussionsbeiträgen der Eindruck vermitteltwurde, als seien für die objektiv vorhandenen Bundes-schulden in Höhe von 1,5 Billionen DM, das entspricht1 500 Milliarden DM, Honecker und seine SED bzw.Helmut Schmidt verantwortlich. Dazwischen scheint eskeine Schuldenmacher gegeben zu haben. Ich habe javorhin schon dargelegt, wie die Situation aussieht: Ge-rade in der Zeit zwischen 1982/83 und 1999 wurden ent-sprechende Entscheidungen getroffen.Fast alle begrüßen die deutsche Einheit. Auch wirsind glücklich darüber, daß sie gekommen ist. Gleich-wohl ist festzustellen, daß sie falsch finanziert wordenist. Man hat das süße Gift der Verschuldung gewähltund in die Sozialkassen gegriffen. Die Kosten der deut-schen Einheit sind über die Lohnnebenkosten finanziertworden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Nervositätund Unruhe sind bei Ihnen auch zu beobachten, wenn esum die Gestaltung und um die Auswirkungen des Spar-und Zukunftprogramms geht, das wir Ihnen vorgelegthaben. Von Ihnen wird – das haben wir heute wieder hö-ren können – vieles schlechtgeredet und herabgewürdigt.Auch wird von Chaospolitik gesprochen. Ihre Nervosi-tät, weil unsere Vorlagen bei der Fachwelt im GrundsatzAnerkennung finden, ist nicht zu übersehen.
Wie wird Ihr Verhalten in der Ihnen nahestehendenPresse kommentiert? Auch ich möchte den Kommentarder „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 22. No-vember im Wortlaut zitieren, der heute morgen schonerwähnt worden ist:Dennoch müssen Union und FDP mit ihren Kritte-leien aufpassen. Sie können nicht jedes Bauernop-fer aufspießen und gleichzeitig so tun, als wennnicht oder zu wenig gespart wird. Damit drohen sieselbst in eine Glaubwürdigkeitsfalle zu laufen.
– Recht hat der Kommentator.Lassen Sie mich die Beispiele, die heute zum ThemaGlaubwürdigkeitsfalle schon genannt worden sind, nochum einige wenige ergänzen. Mein erstes Stichwort istdie Förderung der ehrenamtlichen Arbeit unsererVereine und der in ihnen Tätigen. Viele Jahre und Jahr-zehnte, meine Damen und Herren von der Union und derF.D.P., ist nichts geschehen. Über Mittel zur Förderungder Vereine durfte nicht geredet werden. Jetzt, seitdemCDU und CSU Oppositionsparteien sind, haben sie dasEhrenamt entdeckt und bringen Anträge ein, die zuSteuerausfällen von mehr als 1 Milliarde DM führenwürden. Wenn es um Glaubwürdigkeit geht, muß manfragen, warum Sie nicht schon in Ihrer Regierungszeitgehandelt und die Vereine entsprechend unterstützt ha-ben. Das war ja auch früher schon dringend notwendig.
Was die Finanzierung der Maßnahmen angeht, so le-gen Sie in Ihrem Antrag nicht dar, wie Sie sich vorstel-len, die Steuerausfälle zu kompensieren. Wir von derSPD und den Grünen haben zwischenzeitlich in diesemBereich Entscheidungen getroffen, die den Vereinen undden ehrenamtlich Tätigen etwas bringen. Es wird jetztgehandelt und nicht nur über Anträge geredet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch ichmöchte noch einmal auf die Debatte zur Steuerreformeingehen. Sie von der Opposition überbieten sich gegen-seitig bei der Höhe der angeblichen Nettoentlastung.30 Milliarden DM, 50 Milliarden DM, sogar 80 Milliar-den DM wurden hier genannt. Aber niemand von Ihnensagt etwas dazu, wie die entstehenden Haushaltslöcherbei Bund, Ländern und Gemeinden geschlossen werdenKlaus Hagemann
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können. Das richtet sich auch an Sie, Herr Ministerprä-sident: Zu der Frage, wie weitere Löcher in Ihrem Lan-deshaushalt und in den Haushalten Ihrer Gemeinden ge-schlossen werden können, haben Sie sich nicht geäußert.Wer eine deutliche Steuerentlastung will, muß aber auchsagen, wo auf der Ausgabenseite der Haushalte gespartwerden soll. Hier war leider Fehlanzeige.
Der Sachverständigenrat – hier haben wir wiederdie fachliche Kompetenz auf unserer Seite – hat bei-spielsweise das Konzept der CSU zerrissen. Von Ihnenist nichts Konkretes gesagt worden, wie im Haushalt2000 gespart werden soll. Sie haben nur eine Mengepopulistischer Erhöhungsanträge eingebracht: im Ver-kehrsbereich, in der Landwirtschaft, bei der Bundes-wehr, bei der Deutschen Welle, im Bereich Kultur undin vielen anderen Bereichen. Die Forderungen mögen imEinzelfall richtig gewesen sein. Aber man muß auch de-ren Finanzierung deutlich darlegen. Denn das süße Gifteiner immer stärkeren Verschuldung darf nicht weiter-wirken. Deswegen haben wir diese Anträge ablehnenmüssen.
Ich glaube, daß diese Entscheidung richtig war, damitwir aus der Schuldenfalle herauskommen, in die Sie unsgebracht haben.Steuersenkungen in erheblichem Umfang, deutlicheMehrausgaben im Haushalt, Klagen, daß nicht genügendgespart werde, und auch noch Klagen über abnehmendeLeistungen des Staates – es ist unmöglich, dem gerechtzu werden. Dies ist die Quadratur des Kreises, und diesmüssen alle, die die Dinge objektiv sehen, bestätigen.
Fairerweise muß ich sagen, daß auch Sie Einsparvor-schläge vorgelegt hatten. Sie hatten vorgeschlagen, dasProgramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeitund die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik herun-terzufahren. Jetzt ist Ministerpräsident Vogel leiderweggegangen. Es hätte in erster Linie den jungen Län-dern geschadet, wenn die Mittel für die aktive Arbeits-marktpolitik gestrichen worden wären und wenn dievielen Stellen aus Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen undden Förder- und Unterstützungsprogrammen nicht ge-schaffen worden wären. Dies möchte ich noch einmalherausstellen.Nun zur aktiven Arbeitsmarktpolitik. Auch hierzufällt mir eines auf. Dies wurde schon unterstrichen, undich wiederhole es: Es ist schon seltsam, daß Gelder fürdie aktive Arbeitsmarktpolitik, die im Wahljahr 1998auch von Ihnen anerkannt, beantragt und ausgegebenwurden und – dies unterstreiche ich – richtig waren, jetztplötzlich falsch sein sollen und Ihrer Meinung nachwegfallen können. Nein, hier ist Stetigkeit gefragt. Esmuß so gehandelt werden, daß die Gelder zur Verfügunggestellt werden.Es ist der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit inNürnberg, Herr Jagoda, gewesen, der im Haushaltsaus-schuß noch einmal deutlich unterstrichen hat, daß dierichtige Richtung eingeschlagen worden ist und daß die-ses Geld auch gebraucht wird.Meine Damen und Herren, als Kommunalpolitiker,der ich auch bin, möchte ich hinzufügen: Ich würdemich auch über den Wegfall des Jugendprogramms imRahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik beschweren;denn durch diese Maßnahmen gelingt es doch auch,Menschen aus der Sozialhilfe herauszuholen, sie aus derArbeitslosigkeit herauszuholen, wodurch auf der ande-ren Seite kommunale Mittel eingespart werden. Außer-dem kann den Menschen geholfen werden, damit siewieder Selbstbewußtsein bekommen.
Ich bin selbst Vorsitzender eines Jugendhilfeaus-schusses im Landkreis Alzey-Worms, und ich muß sa-gen: Auch wir sind dankbar, daß es dieses Jugendpro-gramm gibt und daß die Jugendlichen nicht in eine Ent-wicklung abgleiten, die wir nicht begrüßen würden.Meine Damen und Herren, weitere Finanzierungensind notwendig. In diesem Zusammenhang sind Kinder-geld, Wohngeld und Erziehungsgeld zu nennen. Allediese Mittel tragen mit dazu bei, die Kommunen zu ent-lasten und ihnen wieder Spielraum zu geben.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zumSchluß kommen. Alle Fachleute sagen, daß wir im Jahr2000 ein deutliches Wachstum von 2,5 Prozent bis3 Prozent haben werden. Unter diesen Voraussetzungenlassen sich die von uns eingeleiteten dringenden Refor-men besser verwirklichen. Dies kann, so schreibt die„Frankfurter Allgemeine Zeitung“, nur gelingen, wennsich alle daran beteiligen.Ich habe heute morgen die Rede von Herrn Glos ge-hört.
Ich muß sagen: Meine Damen und Herren, Sie habenleider kein Programm, keine Ziele vorgetragen. Sie ha-ben Ihre Politik nicht dargelegt.
Wir haben ein Programm. Das legen wir Ihnen heutevor. Machen Sie mit, um die Zukunftsfähigkeit unseresStaates weiter zu stärken.
Ich gebe nun dem
Staatsminister im Bundeskanzleramt, Dr. Michael Nau-
mann, das Wort.
D
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Herr Abgeordneter Lammert, Sie werfen der neuen In-stitution des Staatsministers für Kultur und Medienpoli-tik beim Bundeskanzleramt vor, ein Kaiser ohne Kleiderzu sein. Ich weiß nicht, wo Sie sich einkleiden und wieKlaus Hagemann
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teuer Ihre Kleider sind. Aber Tatsache ist, daß dieseMetapher, die aus einem Märchen stammt, nichts damitzu tun hat, daß diese neue Institution im laufendenHaushaltsjahr um 180 Millionen DM über dem Etatliegt, den Sie in der vorherigen Regierung in der Summederselben Etatposten bei den diversen Ministerien habenerreichen können.
Auch im nächsten und im übernächsten Jahr werden wirüber dem Haushaltsansatz liegen, den die frühere Bun-desregierung zur Verfügung gehabt hat.
– Das stimmt, Herr Kampeter. Sie selber wissen dasganz genau, denn Sie haben diesen Haushalt, so gut esging, zu zerpflücken versucht. Das ist Ihnen jedoch nichtgelungen.
Ich wollte hier aber etwas ganz anderes kurz zurSprache bringen. Ich bedaure es, daß MinisterpräsidentVogel wieder gegangen ist, denn er hätte Sie darüberaufklären können, wie diese neue Institution und diePolitik des Bundeskanzleramtes – insofern auch meinePolitik – in den neuen Ländern beurteilt werden. Tatsa-che ist, daß bis zum Jahre 2003 auf Grund unserer Poli-tik eine Gesamtsumme von einer halben Milliarde DMmobilisiert wird, um daniederliegende Kulturinstitu-tionen der ehemaligen DDR zu renovieren. Darauf sindwir stolz.
Sie haben vergessen, daß der Bund 1993 in den neuenLändern den Kulturförderungsvorhang hat fallen lassen.Das haben wir geändert.Noch etwas: Als dieses Amt geschaffen wurde, gabes vor allem aus den CDU-regierten Ländern, ganz be-sonders aus Bayern, lebhaften Protest bezüglich der Ver-fassungsmäßigkeit dieser Institution. Diesen Protest hörtman nicht mehr. Allerdings erinnere ich mich sehr wohlnoch daran, wie sich zum Beispiel mein Kollege Zehet-mair über den Einsatz der Bundesregierung hinsichtlichder Aufrechterhaltung der Buchpreisbindung bei derKommission in Brüssel geäußert hat.
Das seien, so sagte er, die Ritte eines Don Quichotte ge-gen die Windmühlen der Kommission. Aber eines stehtfest: Sancho Pansa habe ich in den letzten Wochen inBrüssel nicht mehr gesehen.
Die Wahrheit ist: Ohne den Einsatz der Bundesregierungwäre der gebundene Ladenpreis gefallen, und Sie hättenbereits heute eine Konzentrationsbewegung im Buch-handel, durch die ein Verlust von über 10 000 Arbeits-plätzen binnen eines Jahres zu beklagen gewesen wäre.Die Verhinderung ist unter anderem dem bundespoliti-schen Einsatz zu verdanken.
Ich habe es sehr bedauert, daß bei der letzten Ratssit-zung der Kulturminister Europas der Vertreter der Län-der – die im übrigen Mitsprache, ja sogar Sachkompe-tenz beanspruchen – gar nicht erst gekommen ist. Sosieht es in der Wirklichkeit aus.
– Herr Zehetmair. – Weil das so ist, empfehle ich dochsehr, Herr Abgeordneter, sich bei der Beurteilung diesesAmtes nicht auf die Feuilletonausschnitte des CDU-Parteivorstands zu verlassen. Lesen Sie die ganzen Arti-kel, zum Beispiel in der „Zeit“! Das ist sehr erfreulichund sehr schön.
Außerdem empfehle ich Ihnen – wenn wir uns schonZeitungen vorhalten – die Sonntagsausgabe des „Tages-spiegels“, in der klar und deutlich zu lesen ist: „DieseBilanz lässt sich sehen“.
Aber, Herr Abgeordneter, es gibt auch zahllose Ge-biete, auf denen es – gottlob – im Kulturausschuß desBundestages Einheit, Eintracht, ja sogar dieselben Vor-stellungen über die Richtigkeit der Bundespolitik gibt.Da möchte ich ganz besonders das Bündnis für denFilm erwähnen. Vor wenigen Wochen sagte Ihr Frakti-onsvorsitzender, von dem Bündnis für den Film seinichts mehr zu hören. Ich habe ihm damals gesagt: län-gere Antennen, dann würde er etwas davon hören, undzwar aus seiner eigenen Fraktion.Das Bündnis für den Film wird – und es hat das be-reits getan; das steht fest – die Situation der freien Pro-duzenten in Deutschland verbessern. Das wird, falls dasnicht konsensual zwischen den öffentlich-rechtlichenAnstalten und den Filmproduzenten möglich ist, mit ei-ner auch von Ihrer Fraktion begrüßten Novellierung desFilmförderungsgesetzes geschehen. Am Ende diesesBündnisses für den Film wird – auch mit Ihrer Hilfe –eine verbesserte Filmlandschaft in Deutschland, die einegrößere Exportfähigkeit vorweisen kann, stehen.Danke schön.
Ich schließe dieAussprache.Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zu-nächst zur Abstimmung über den Änderungsantrag derStaatsminister Dr. Michael Naumann
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Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2143. Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Darf ich fragen, wie die Fraktion der PDS ab-stimmt?
Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitiongegen die Stimmen der CDU/CSU, der F.D.P. und derPDS abgelehnt.Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksa-che 14/2141. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen?– Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit denStimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abge-lehnt.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über denEinzelplan 04 in der Ausschußfassung. Die Fraktion derSPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenenPlätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Das istder Fall. Ich eröffne die Abstimmung. –Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht derFall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen.Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-kanntgegeben.*) Wir setzen die Beratungen fort.Ich rufe auf:Einzelplan 05Auswärtiges Amt– Drucksachen 14/1905, 14/1922 –Berichterstattung:Abgeordnete Uta Titze-StecherAntje HermenauHerbert FrankenhauserDr. Werner HoyerDr. Barbara HöllEs liegt ein Änderungsantrag der Fraktion CDU/CSUvor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Red-ner dem Kollegen Herbert Frankenhauser für dieCDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!Da wir gestern und heute, aber auch in den vergangenenWochen ausführlich über die Haushaltsgrundsätze unddie tatsächliche und vermeintliche Sparpolitik diskutierthaben, kann ich mich unmittelbar dem Einzelplan 05 –Auswärtiges Amt – zuwenden, einem kleinen, aberdurchaus feinen Einzeletat.*) Seite 6566 CAuf dem Strategiekongreß – besser gesagt: Beruhi-gungskongreß – der Grünen am vergangenen Sonntag inKassel hat der Außenminister zu mehr Kampfgeist auf-gerufen. Mehr Kampfgeist, Herr Außenminister, hättenwir von Ihnen erwartet, als Ihr Finanzminister mit sei-nem Rasenmäher auch und insbesondere den Einzelplandes Auswärtigen Amtes schwer verunstaltet hat.
Dabei handelte es sich leider nicht um eine einmaligeUnglücksaktion. Besorgniserregend ist auch der Finanz-plan, der beinhaltet, daß dieser Einzelplan im Jahr 2003vom Ansatz her auf dem Stand von 1990 sein wird. InAnbetracht der seit 1990 objektiv erheblich gewachse-nen außenpolitischen Aufgaben und Verantwortlichkei-ten der Bundesrepublik Deutschland, vor allem aberunter Einbeziehung der von dieser Regierung postulier-ten außenpolitischen Zielsetzungen und Beteiligungenist eine solche Finanzplanung nicht sachgerecht, ja gera-dezu widersinnig.In bezug auf das natürliche und berechtigte Anliegen,unsere Interessen bei ständig wachsenden Herausforde-rungen durch die Globalisierung weltweit wahrzuneh-men, ist die rote Grundstruktur dieses Haushaltesschlichtweg falsch. Im Prinzip ist es so wie beim Knöp-fen einer Weste: Wenn man am Anfang falsch ein-knöpft, geht´s am Ende beim besten Willen nicht aus.Das wird der Herr Außenminister als mittlerweile ambi-tionierter Westenträger wohl bestätigen können.Neben der verkehrt angelegten Grundstruktur ist auchdie detaillierte Ausgestaltung dieses Einzelplans kontra-produktiv und widerspricht im übrigen in weiten Teileneklatant früheren Aussagen, Anträgen und Forderungender jetzigen Regierungsparteien.Um die haushaltspolitische Berg- und Talfahrt vonSPD und Grünen zu verdeutlichen, sind ein paar Eck-punkte in Zahlen ausreichend: Gegenüber dem Haus-haltsjahr 1998 mit Ausgaben in Höhe von 3,532 Milliar-den DM haben Sie die Ausgaben im Haushalt des kom-menden Jahres auf 3,471 Milliarden DM, also um 61Millionen DM – das entspricht etwa 1,7 Prozent –, zu-rückgefahren. Die Einnahmen erhöhen sich um 47,7Millionen DM; das entspricht 25,5 Prozent. Ein Ver-gleich mit dem Haushalt 1999 wäre insoweit irrefüh-rend, als Sie im Prinzip lediglich die LafontaineschenEinmalzugaben dem Eichelschen Rasenmäher geopferthaben.In aller Kürze eine einfache Rechnung: Sie haben denHaushalt 1999 gegenüber dem Haushalt 1998 um zirka109 Millionen DM erhöht und kürzen nun den Haushalt2000 gegenüber dem Haushalt 1999 um zirka 170 Mil-lionen DM; das heißt: Sie reduzieren hier um zirka61 Millionen DM.
Wenn Sie davon den Einmalposten von 38,5 MillionenDM für die EU-Ratspräsidentschaft und die rund23 Millionen DM, um die Sie die Demokratisierungs-Vizepräsident Rudolf Seiters
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und Ausstattungshilfe verringert haben, indem Sie sieeinfach undotiert auf andere Einzelpläne abgeschobenhaben, abziehen, sind Sie – nicht nur symbolisch –praktisch auf Null.
Diesen Vorgang können Sie als alles mögliche bezeich-nen, nur nicht als Sparen.
Wenn allerdings die Erhöhungsanträge von SPD undGrünen für die zurückliegenden Haushalte der Jahre1997 und 1998 seinerzeit eine Mehrheit gefunden hät-ten, wären Sie nun tatsächlich zum Sparen gezwungen,und zwar in dreistelliger Millionenhöhe.Wenn wir den Blick auf einzelne Titel werfen, wirddie haushaltspolitische Achterbahnfahrt der Regierungs-parteien besonders offenkundig. So haben Sie, die jetzi-gen Regierungsparteien, als Opposition zum Beispiel ge-fordert und beantragt, im Haushalt 1997 22,5 Millio-nen DM mehr für humanitäre Hilfe und Flüchtlingshilfeeinzustellen. Das Ergebnis heute ist eine Kürzung um11 Millionen DM. Im übrigen haben dem nicht einmaldie Koalitionsfraktionen im Ausschuß für Menschen-rechte zugestimmt.
Im Haushalt 1998 haben Sie 4,9 Millionen DM bzw.14,1 Millionen DM mehr für Organisationen im interna-tionalen Bereich gefordert. Dies betrifft zum Beispieldas Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, das Hilfs-werk des Hohen Flüchtlingskommissars der VereintenNationen und das Hilfsprogramm der UNRWA. Heuteist das Ergebnis eine Kürzung um mehr als 4 Millio-nen DM. 4,3 Millionen DM mehr für die Unterstützungvon Maßnahmen der OSZE war Ihre seinerzeitige For-derung. Das Ergebnis heute ist eine Kürzung um 5 Mil-lionen DM.Dies ist nur ein minimaler Auszug aus Ihrer falschangelegten Streichliste, der aber schon deutlich macht,daß Sie weniger ein Problem mit Haushaltsmitteln alsvielmehr ein Problem mit Ihrer eigenen Glaubwürdig-keit haben.
Völlig unverständlich und inakzeptabel sind aber bei-spielsweise die überproportionalen Mittelkürzungen beiden Zuwendungen an den Volksbund Deutsche Kriegs-gräberfürsorge, die langfristig zu dessen Existenzge-fährdung führen würden, die Schließung zahlreicherAuslandsvertretungen des AA und quasi als „Geschenk“zum 250. Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethedie Schließung von zahlreichen – die Zahlen widerspre-chen sich zwischenzeitlich laufend – Goethe-Institutenim Ausland.
Meine Fraktion hat durch entsprechende Anträge ver-sucht – wir tun das auch heute wieder –, den Haushaltdes Auswärtigen Amtes im Rahmen der vorgegebenenEckdaten einigermaßen wieder ins Lot zu bringen, wasbislang von Ihnen leider abgelehnt worden ist.
Daß Sie im parlamentarischen Verfahren den Etatinsgesamt aber um 20,5 Millionen DM erhöht haben,macht deutlich, wofür Sie letztendlich Geld einsetzenwollen. Die Mehrmittel, nicht nur im Einzelplan 05, lan-den alle in dem Bereich Konfliktprävention und zivileKonfliktbearbeitung.
Herr Staatsminister Dr. Volmer feiert dies
in einer Presseerklärung vom 22. November dieses Jah-res als – ich zitiere – „großen Erfolg der grünen Ver-handlungsstrategie im Koalitionsausschuß“.
Das mag so sein. Wahr ist aber offensichtlich auch, daßdiese 20 Millionen DM Zusatzmittel eine nachgereichteBeruhigungsspritze für die Grünen im Zusammenhangmit der türkischen Panzererprobung darstellt.
Sehr bemerkenswert ist, daß bislang – vielleicht außerden Initiatoren und den eigentlichen Geldempfängern –niemand so recht weiß, was mit diesen Mitteln genaugeschehen soll. Ist es als große AB-Maßnahme für grün-rote Personalunterbringungsfälle gedacht, oder wirdnach dem Motto verfahren – wie es in der „Welt“ hieß –:„Und nutzt es nichts, so wird es auch nicht schaden“?Ich meine, daß über die genauen Inhalte und Zielvor-stellungen in den zuständigen Ausschüssen endlich ein-mal beraten werden muß.Um weiteren Schaden von der Europäischen Unionabzuwenden, der durch das unkontrollierte, ja hanebü-chene Finanzwesen der EU schon entstanden ist, ver-weise ich auf den jüngsten Bericht des EuropäischenRechnungshofes. Ich fordere Sie, Herr Außenminister,dringend auf, endlich der Steuerverschwendung unddem Subventionsbetrug geeignete Abwehrmaßnahmenentgegenzusetzen.
Das erfordert zum Beispiel eine wirklich unabhängigeBetrugsbekämpfungsbehörde, OLAF, die nicht derKommission, sondern dem Europäischen Rechnungshofangegliedert wird.
Es ist weiterhin unabdingbar, daß verstärkt nationaleKofinanzierungen, eine Umschichtung von Subventio-nen zu Darlehen und bei Mißbrauch oder Betrug drasti-Herbert Frankenhauser
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sche Kürzungen der Zuwendungen vorgenommen wer-den müssen. Auch hier, Herr Außenminister, ist mehrKampfgeist gefordert.
Wir könnten ja auch einmal – bei allen rechtlichenSchwierigkeiten – mit der Aussetzung unserer Zahlun-gen an die EU drohen. Sie wissen durch das Beispiel Ih-res Finanzministers, daß so etwas wirkt – nach demMotto: Ohne Moos nix los.
In der ersten Lesung des Haushaltes 2000 haben Sie,Herr Außenminister – wohl in Vorahnung des „Leidzu-fügungspotentials“ Ihrer Koalition – gesagt – ich darfSie zitieren –:Ich fürchte, daß wir sehr beten müssen, damit vielesvon dem, was versprochen wurde,– von Ihrer Koalition –auch eingehalten wird.Herr Außenminister, ganz offenbar haben Sie auch zu-wenig gebetet;
denn eingehalten wurde eigentlich nichts.
Dieser Haushalt wird den Interessen Deutschlandsund seiner Bürger nicht gerecht. Wir lehnen ihn deshalbab.Vielen Dank.
Bevor wir in derAussprache fortfahren, gebe ich das von den Schriftfüh-rern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis dernamentlichen Abstimmung über die Beschlußemp-fehlung des Haushaltsausschusses zum Geschäftsbereichdes Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes be-kannt. Abgegebene Stimmen 614. Mit Ja haben ge-stimmt 331, mit Nein haben gestimmt 283, Enthaltungenkeine.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 614;davon:ja: 331nein: 283JaSPDBrigitte AdlerGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauWolfgang BehrendtDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Peter Wilhelm DanckertDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagLilo Friedrich
Harald FrieseArne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnAchim GroßmannWolfgang GrotthausKarl-Hermann Haack
Hans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Ulrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerKlaus LennartzDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherErika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Herbert Frankenhauser
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Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesVolker Neumann
Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanGünter OesinghausLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Willfried PennerDr. Martin PfaffGeorg PfannensteinJohannes Andreas PflugDr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyDieter SchlotenHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz
Ilse SchumannEwald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenErnst SchwanholdRolf SchwanitzBodo SeidenthalDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseReinhold Strobl
Dr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerHans-Joachim WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekJürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützHeino Wiese
Klaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGila Altmann
Marieluise Beck
Angelika BeerMatthias BerningerAnnelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauKristin HeyneUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheDr. Angelika Köster-LoßackSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKlaus Wolfgang Müller
Kerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Christian SimmertChristian SterzingHans-Christian StröbeleJürgen TrittinDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
NeinCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtHans-Dirk BierlingDr. Joseph-Theodor BlankRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserFriedrich BohlDr. Maria BöhmerSylvia BonitzJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyGeorg BrunnhuberHartmut Büttner
Dankward BuwittCajus CaesarManfred Carstens
Peter H. Carstensen
Leo DautzenbergWolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke EymerIlse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelUlf FinkIngrid FischbachDirk Fischer
Herbert FrankenhauserDr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisDr. Heiner GeißlerGeorg GirischMichael GlosPeter GötzDr. Wolfgang GötzerKurt-Dieter GrillHermann GröheManfred GrundVizepräsident Rudolf Seiters
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Horst Günther
Gottfried Haschke
Gerda HasselfeldtNorbert Hauser
Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen HedrichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithDr. Karl-Heinz HornhuesSiegfried HornungJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkDr. Harald KahlBartholomäus KalbSteffen KampeterDr. Dietmar KansyIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertManfred KolbeNorbert KönigshofenEva-Maria KorsHartmut KoschykRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertDr. Paul LaufsVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus Lippold
Dr. Manfred LischewskiWolfgang Lohmann
Julius LouvenDr. Michael LutherErich Maaß
Erwin MarschewskiDr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierFriedhelm OstEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerThomas RachelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Katherina ReicheErika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerHannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseKurt RossmanithAdolf Roth
Dr. Christian RuckVolker RüheAnita SchäferHartmut SchauerteKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuNorbert SchindlerDietmar SchleeBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt
Michael von SchmudeBirgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffDr. Rupert ScholzReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffDiethard W. Schütze
Clemens SchwalbeDr. Christian Schwarz-SchillingWilhelm-Josef SebastianHorst SeehoferHeinz SeiffertRudolf SeitersBernd SiebertWerner SiemannJohannes SinghammerMargarete SpäteCarl-Dieter SprangerWolfgang SteigerAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerMatthäus StreblThomas StroblDr. Rita SüssmuthEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlGunnar UldallAngelika VolquartzDr. Theodor WaigelPeter Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Gert WillnerKlaus-Peter WillschWilly Wimmer
Matthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfElke WülfingPeter Kurt WürzbachBenno ZiererWolfgang ZöllerF.D.P.Hildebrecht Braun
Rainer BrüderleErnst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherKlaus HauptDr. Helmut HaussmannUlrich HeinrichWalter HircheBirgit HomburgerDr. Werner HoyerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich LeonhardKolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeJürgen W. MöllemannDirk NiebelGünther FriedrichNoltingHans-Joachim Otto
Cornelia PieperDr. Günter RexrodtDr. Edzard Schmidt-JortzigGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwellePDSMonika BaltPetra BlässMaritta BöttcherEva Bulling-SchröterRoland ClausDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsWolfgang GehrckeDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiDr. Barbara HöllCarsten HübnerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzHeidi Lippmann-KastenUrsula LötzerDr. Christa LuftAngela MarquardtKersten NaumannRosel NeuhäuserPetra PauDr. Uwe-Jens RösselChristina SchenkGustav-Adolf SchurEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungendes Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPUAbgeordnete(r)Bühler , Klaus, CDU/CSU Neumann (Gotha), Gerhard, SPDVizepräsident Rudolf Seiters
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Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Wir fahren in der Aussprache fort. Ich gebe das Wortfür die SPD-Fraktion der Kollegin Uta Titze-Stecher.
Ja, wir haben keine Druk-kerei im Keller.
– Und vor allem kein Geld im Koffer, Herr Kollege.Vielen Dank für den Zwischenruf.Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Frankenhauser, wenn ich Ihre Hauptbot-schaft richtig verstanden habe, so haben Sie gesagt, daßder vorliegende Einzelplan durch Streichlisten und Kür-zungen verunstaltet worden ist, ein Einzelplan, der aufGrund der Streichungen symbolisch und praktisch aufNull gefahren wurde, in dem an den falschen Stellen ge-spart wurde und der deswegen Probleme der Glaubwür-digkeit mit sich bringt. Dazu muß ich sagen: Ich weisedieses strikt zurück, und ich werde Ihnen im Verlaufmeiner Rede bei den Punkten, die Sie als Belege für die-se Bewertung gebracht haben, nachweisen, daß es sichnicht so verhält, wie Sie dies hier dargestellt haben.
Im übrigen denke ich, daß ein Einzelplan, der über eineSumme von knapp 3,5 Milliarden DM verfügt, nunwahrhaftig nicht das Etikett verdient, er sei auf Null ge-fahren worden.
Die konkrete Veranschlagung in den vier großen Ka-piteln dieses Einzelplans 05, Geschäftsbereich Auswär-tiges Amt, hat allerdings Schwierigkeiten bereitet. Dasgeben wir unumwunden zu. Aber in den Kraftakt, denMarsch in den Schuldenstaat zu stoppen und die Staats-finanzen zu sanieren, waren alle Ressorts einbezogen.Das heißt, jedes Ressort mußte seinen Teil dazu beitra-gen, um diese Ziele zu verwirklichen. Ich kann Ihnen,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,versichern: Sparen bereitet auch uns weder geistige undmentale noch emotionale Befriedigung. Es ist mühsam,es ist schwierig, es ist schmerzlich. Wie die „Süddeut-sche Zeitung“ heute schreibt: Der Weg wird langsam zu-rückgelegt, bis man die Ernte einfahren kann.Deswegen muß man immer wieder die Ziele nennen,die die Einsparungen auch rechtfertigen, Herr KollegeFrankenhauser.
Es handelt sich um dreierlei Ziele. Wir wollen zum ei-nen die Belastung künftiger Generationen Schritt fürSchritt abbauen. Wir wollen zweitens die Belastung derjetzigen arbeitenden Bevölkerung durch Steuern undAbgaben minimieren. Wir wollen drittens für die Zu-kunft Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit gewinnen,die ja erst die Voraussetzungen nicht nur für die schönenDinge des Lebens sind, Herr Kollege Frankenhauser,sondern auch für solch profane Dinge wie Wachstumund Beschäftigung.
Im ersten Schritt haben wir das Haushaltssanierungs-gesetz verabschiedet. Am Ende dieser Woche verab-schieden wir den Bundeshaushalt 2000 und tun damiteinen weiteren gigantischen Schritt.
Die Regierung hat bei der Aufstellung des Haushalts-entwurfs immerhin vor dem großen Problem gestanden,ein strukturelles Defizit in Höhe von 30 Milliarden DMabzubauen. Außerdem mußte in der mittelfristigenFinanzplanung berücksichtigt werden, daß sich im Zeit-raum 2000 bis 2003 ein zusätzliches Defizit in Höhe von50 Milliarden DM auftürmt. Konkret auf das AuswärtigeAmt bezogen bedeutet das, daß im Bundeshaushalt 2000Einsparungen von über 270 Millionen DM und in jedemFolgejahr von weiteren 60 Millionen DM zu leisten sind.Summa summarum ergibt sich so für den Zeitraum2000 bis 2003 die stattliche Summe von 450 Millio-nen DM.Dies ist kein leichtes Unterfangen. Erschwerendkommt hinzu, daß der Etat des Auswärtigen Amtes zu-nehmend ein Verwaltungshaushalt ist, der über sehr we-nig disponible Mittel verfügt, eigentlich nur in der Höhevon rund 900 Millionen DM. Schließlich kommt – fürdiesen Haushalt wie für andere Ressorts; das ist mirklar – der hohe Dollarkurs erschwerend hinzu. Außer-dem gibt es Unwägbarkeiten im Bereich des politischenund humanitären Geschehens.Diese Perspektive macht aber um so deutlicher, daßdas Auswärtige Amt um strukturelle Veränderungenin allen Bereichen – politische Aufgaben, Kulturpolitik,Auslandsvertretungen, Personalpolitik und alle dazuge-hörigen Instrumente – nicht herumkommen wird. Ange-sagt ist also eine neue Sparkultur auf der Grundlage ei-ner längerfristigen, intelligenten Sparkonzeption. Daswird nicht möglich sein ohne einschneidende Verände-rungen. Zum Teil sind verkrustete Strukturen abzubau-en, zum Teil Aufgaben neu zu justieren.Herr Kollege Frankenhauser, wenn Sie schon die ge-setzlichen Aufgaben des Auswärtigen Amtes anspre-chen: Ich denke, man wird alle Aufgaben neu gewichtenmüssen. Wir haben selbst mit diesem knapp bemessenenund dennoch ausreichenden Haushalt dafür gesorgt, daßden Kernaufgaben des Auswärtigen Amtes in den näch-sten Jahren sehr wohl nachgekommen werden kann, alsda sind: die Vertretung der Interessen der Bundesrepu-blik im Ausland, die Pflege und Förderung der auswärti-gen Beziehungen, Informationen der Bundesregie-rung über hiesige Verhältnisse und Entwicklungen imAusland, Hilfe und Beistand für Deutsche im Auslandusw.Vizepräsident Rudolf Seiters
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6570 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Angesichts der Fülle und Bedeutung dieser genanntenAufgaben ist das vorgesehene Finanzvolumen ausrei-chend und gerechtfertigt.
Da der Minister im übrigen – das soll ein Komplimentsein – selbst das beste Vorbild für einen schlankeren,dabei gesünderen und effizienteren Organismus bietet,denke ich, daß auch das Haus mit einem schlankerenMenü wird leben können.
– Ob Rennerei gesund ist, muß man den Minister selberfragen. Er macht aber diesen Eindruck.Die Einsparung von 270 Millionen DM für das Haus-haltsjahr 2000 erklärt sich auf der Grundlage der7,43prozentigen Kürzung des gesamten Finanzplans.Dieser sah für das Auswärtige Amt ein Volumen von3,665 Milliarden DM vor. Das Auswärtige Amt hat be-reits im Regierungsentwurf Einsparungen vorgenom-men, speziell im Kulturbereich, der im Haushaltsjahr1999, also im laufenden Jahr, auf Wunsch des Ministersbesonders geschont worden ist. Diesmal konnte kein Be-reich außen vor bleiben. Abzüglich zu erwartenderMehreinnahmen blieb dem Haus die Vorgabe, eine glo-bale Minderausgabe in Höhe von 170 Millionen DMumzusetzen.Das, was Sie uns nie zugetraut haben, haben wir ge-schafft, nämlich die titelgenaue Umlegung von 170 Mil-lionen DM. Daß das der Opposition nicht paßt, kann ichmir denken. Aber als wir in der Opposition waren undich die Kollegen der anderen Seite öfter bat, auf Wün-sche der Opposition Rücksicht zu nehmen,
sagte mir der Kollege Uelhoff knapp, kurz und trefflich– das ist unvergessen –: „Uta, wir regieren.“ So ist das,Herr Frankenhauser.
Diesmal regiert die andere Truppe, und die andere Trup-pe hat andere Schwerpunkte und andere Prioritäten ge-setzt, innerhalb derer sehr klug gespart wurde.Wir haben im parlamentarischen Verfahren die gro-ßen Sparpotentiale auf folgende drei Kapitel einiger-maßen gerecht aufgeteilt: 35 Millionen DM im Bereichdes Ministeriums, 52 Millionen DM im politischen Be-reich – bei den Bewilligungen –, 60 Millionen DM beider auswärtigen Kulturpolitik. Die Kürzungen hörensich zwar harmlos an, im Vorfeld haben wir aber öffent-liche Protestreaktionen zu spüren bekommen. Es istdoch klar, daß es im Ausland, an Standorten, in Städtenund Regionen Proteste gibt, wenn nicht nur Goethe-Institute, sondern sogar Botschaften – insgesamt fünf –,Generalkonsulate – zwölf an der Zahl – und drei Außen-stellen vor der Schließung stehen.
– Herr Kollege, wenn Sie dazwischenfragen – ich sehedas als Frage –, dann muß ich Ihnen sagen: Nach demEnde des Ost-West-Konflikts war das Auswärtige Amtsowieso gezwungen, Neujustierungen vorzunehmen, dasheißt, im Netz der Auslandsvertretungen Prioritäten zuschaffen. Man kann nicht auf der einen Seite 40 neueAuslandsvertretungen mit all ihren Kosten schaffen undauf der anderen Seite das sehr dicht – für uns zu dicht –geknüpfte Netz in der westlichen Hemisphäre so belas-sen.
Es mußte also ein Gleichgewicht hergestellt werden.Angesichts weiterer bevorstehender Schließungenvon Auslandsvertretungen – denn die Sparaktionenwerden ja weitergeführt – habe ich die Bitte an Sie, HerrMinister, ein insgesamt stringentes Abwicklungskonzeptfür die Schließung von betroffenen Auslandsvertretun-gen zu entwickeln. Dabei darf nicht nur eine Rolle spie-len, wie umfangreich das Rechts- und Konsularwesen –auf deutsch: die Erteilung von Visa – ist, wie hoch dieKriminalität ist, wie gefährlich das Umfeld ist und wiegroß der Handelsaustausch bzw. die wirtschaftliche Be-deutung ist.Ich möchte auch nicht verhehlen, Herr Minister, daßes im Zusammenhang mit der beabsichtigten Schließungeiniger Auslandsvertretungen – ich nenne nur Stich-worte: Apenrade, Stettin, Oppeln oder Temesvar – auchim parlamentarischen Raum selbst Irritationen gegebenhat. Speziell bei Temesvar bitte ich Sie, da Temesvar –und nicht Siebenbürgen mit Hermannstadt; dafür sprichtschon die Zahl von 40 000 Visa – das kulturelle undwirtschaftliche Zentrum der Rumäniendeutschen ist, zuprüfen, ob es nicht möglich ist, das Angebot des Bi-schofs von Temesvar anzunehmen, die Visastelle, diezugegebenermaßen in unwürdigsten Räumen unterge-bracht ist, in einem Haus, das dem Bischof gehört, un-terzubringen, das heißt, den Konsularbetrieb für die dor-tigen deutschen Unternehmen und die deutsche Minder-heit aufrechtzuerhalten.
Ich bitte zudem, bei einem Streichungskonzept zu be-achten – auch das mit vorsichtiger Kritik ans Haus –,daß nicht der Eindruck entsteht, daß Afrika ein besonde-res Opfer wird.
Denn die Signale könnten in die Richtung interpretiertwerden: Na ja, wir sind sowieso der fünfte, der letzte,der vergessene Kontinent. – Ich bitte Sie, mit besondererUta Titze-Stecher
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Sensibilität, die ich Ihnen ja zutraue, an die Aufgabeheranzugehen.
Das Auswärtige Amt muß allerdings – das hat dieKollegin Hermenau in der allgemeinen Debatte betont –auch selbst seine Bemühungen verstärken, gemeinsameEU-Botschaften im Ausland zu errichten. LeuchtendesBeispiel sind hier in der Nähe die nordischen Botschaf-ten.
– Ich weiß, Herr Haussmann, verfassungsmäßige Hür-den usw. Hürden sind dazu da, übersprungen zu werden.Alle EU-Mitglieder unterliegen denselben Maastricht-und Amsterdam-Kriterien. Das heißt, jeder Staat mußmit dem Geld seiner Bürger sparsam und effizient um-gehen. Das bedeutet, daß es zwar mühsam, aber nichtverboten ist, auf allen Gebieten um Kooperation mit deneuropäischen Nachbarn bemüht zu sein. Ich denke, daßdie gemeinsame europäische Außen- und Sicherheits-politik gemeinsame Strukturen wird entwickeln müssen;denn Inhalt und Form sind nur die zwei Seiten einerMedaille.
Ich komme zum zweiten Bereich, nämlich zum gro-ßen Bereich des Politischen. Das ist der Bereich „All-gemeine Bewilligungen“, auf dem Sie sich, Herr Fran-kenhauser, mit Ihren Vorwürfen ja ausgetobt haben. Da-bei sind in diesem Bereich nur 20 Prozent der Ersparnisaufgebracht worden. Bei vielen Titeln wurde sehr maß-voll gekürzt. Interessanterweise haben Sie die überhauptnicht genannt. Das sind nämlich die Bereiche, wo sichdas Haus selbst ins Bein hackt. Beim Gästeprogrammder Bundesrepublik wurden beispielsweise mehrerehunderttausend Mark gespart. Bei den Kosten fürStaatsbesuche sind es satte 700 000 DM. Bei der Förde-rung des europäischen Gedankens, der uns lieb und rechtund teuer – aber nicht so teuer – ist, wurde gespart. Dasheißt, daß das Haus im Vorfeld schon eine ganze Mengedafür getan hat, die Einsparungen gerecht zu verteilen,so daß es nirgends zu weh tut.Das von Ihnen angesprochene Gebiet der Kriegsgrä-berfürsorge hat auch mich, wie Sie wissen, beschäftigt.Wir haben dafür gesorgt, daß die Bedenken des Präsi-denten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge,daß nämlich die Gräber- und Gedenkstätte in Riga nichtrechtzeitig zum 60. Jahrestag der Deportation und Er-mordung jüdischer Bürger aus Deutschland, Österreichund Tschechien im Jahre 2001 fertig wird, unnötig sind.Es ist dafür gesorgt worden, Herr Nachtwei, daß in die-sem Jahr die Hälfte des dafür notwendigen Zuschussesin Höhe von 550 000 DM fließt und der Rest für dasnächste Jahr etatisiert wurde. Auch hier gab es im Vor-feld viel Wind, und Sie sehen, wir haben den Sturm ab-wenden können.
Der Ansatz für humanitäre Hilfsmaßnahmen imAusland – Sie haben ihn erwähnt – ist, Herr KollegeFrankenhauser, um 11 Millionen DM von 69 MillionenDM auf 58 Millionen DM gesenkt worden. Für michist es schon erstaunlich, daß Sie als Haushälter nichterwähnen, daß das durch die Einstellung von300 Millionen DM im Einzelplan 60 für Ausgaben imhumanitären Bereich im Zusammenhang mit der Koso-vo-Krise mehr als kompensiert wurde. Das tun wir Jahrfür Jahr mit 300 Millionen DM. In der Finanzplanungbis 2003 sind dafür insgesamt 1,2 Milliarden DM vorge-sehen. Über die Verwendung von 50 Millionen DM ausdiesem Titel kann das Auswärtige Amt alleine entschei-den.Das heißt, man kann nicht einfach eine Mittelkürzungnennen, ohne die andere – wie bei kommunizierendenRöhren – zu erwähnen. Da können Sie ruhig den Kopfschütteln; es ist so, wie ich sage.Die Mittelverteilung auf die einzelnen Ressorts istzwar noch nicht ausgehandelt, aber durch die kontinu-ierlichen Berichte werden wir im Rahmen des Haus-haltsvollzugs über die Einzelverwendungen regelmäßiginformiert. Damit hier Klarheit herrscht, möchte ich be-tonen, daß die Mittel für humanitäre Maßnahmen insbe-sondere für das Auswärtige Amt und das BMZ zur Ver-fügung stehen.
Ein besonderes Kapitel und deshalb erwähnenswert –ich bin Ihnen, Herr Kollege von der Opposition, dafürdankbar, daß Sie das getan haben – ist die Ausstat-tungs- und Demokratisierungshilfe für ausländischePolizeien und Streitkräfte. Ich bin überzeugt, Herr Mi-nister, daß dies ein äußerst wirksames außenpolitischesInstrument ist. Die Frage ist nur, wer in Zukunft überdieses Instrument verfügt und die Mittel bereitstellt. Ichdenke nicht, daß der generelle Verzicht durch die Bun-desregierung auf die Anwendung dieses Instruments an-gesagt ist.
Man muß sagen, daß in diesem Bereich einer der we-nigen Titel vorhanden ist, in dem überhaupt disponibleMittel verfügbar sind, so daß die Kürzung natürlich die-sen Bereich hat treffen müssen. Das Auswärtige Amt hatin kooperativer Zusammenarbeit mit dem BMVg dafürgesorgt, daß Projekte abgewickelt werden können und inanständigem Zustand Ende 2000 den jeweiligen Ländernzur Verfügung gestellt werden können. Dafür sind5 Millionen DM aus dem Etat des Auswärtigen Amtesund 10 Millionen DM aus dem Etat des Einzelplans 60vorgesehen.Mit dem BMI ließ sich noch kein Konzept über dieZusammenarbeit mit ausländischen Polizeien entwik-keln. Ich denke, Herr Minister, das wird eine Sache sein,die Sie innerhalb der Ressorts konzeptionell entscheidenmüssen. Wir haben Sie in der Bereinigungssitzung desHaushaltsausschusses darum gebeten, ein zwischen denRessorts abgestimmtes Konzept zur Weiterführung die-Uta Titze-Stecher
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ses Bereiches vorzulegen, und zwar für den übernäch-sten Haushalt.Eine erfreuliche Sache, auf die bereits der Vorrednereingegangen ist, ist die Anhebung des bisherigen Ansat-zes für die Unterstützung internationaler Maßnahmenauf den Gebieten Krisenprävention, Friedenserhaltungund Konfliktbewältigung von 8,6 Millionen DM um 20Millionen DM auf 28,6 Millionen DM. Dazu muß ichsagen, Herr Frankenhauser: Das hat nichts mit Ideologiezu tun. Mit dem Titel „Unterstützung von Maßnahmenzur Förderung der Menschenrechte“ baut die Bundesre-gierung bewußt die operativen Möglichkeiten für eineaktive Menschenrechtspolitik aus.
Nicht nur die Einrichtung eines eigenständigen Aus-schusses oder die Ansiedlung eines Beauftragten für dieMenschenrechte machen deutlich, daß die Bundesregie-rung Menschenrechtspolitik als Querschnittsaufgabebetrachtet.Wir denken, daß dies auch langfristig zu einer Ver-stärkung der Rolle der OSZE als politischer Vermittlerführen wird. Das ist etwas, was auch Sie begrüßenmüßten, meine Damen und Herren von der Opposition.
Ich komme zur auswärtigen Kulturpolitik. Die po-litische Neuakzentuierung der Außenpolitik seit demRegierungswechsel hat unmittelbare Auswirkungenauch auf die auswärtige Kulturpolitik. Das bleibt nichtaus. Das Auswärtige Amt stellt seine Kulturarbeit imAusland seither verstärkt in den Dienst von Menschen-rechten, Demokratie und Kulturdialog. Dies geschiehtauf der Grundlage der Koalitionsvereinbarung, in dervon einem gemeinsamen, weltweiten Handeln und vonVerständigung über kulturelle Unterschiede hinweg ge-sprochen wird. Ich denke, diese Weichenstellung istsinnvoll und notwendig. Ich sage nicht, daß das unterfreidemokratischen Außenministern nicht getan wurde,aber wir verstärken diese Tendenz. Mit der neuen Regie-rung ist nicht nur ein Regierungswechsel, sondern auchein Politikwechsel verbunden, Herr Haussmann.
In die Sparmaßnahmen – das wurde hier erwähnt –sind natürlich auch die Mittler wie der Schulfonds, dieStiftungen und Stipendienträger einbezogen. Das bleibtnicht aus. Wir haben uns aber bemüht, die Empfängerkleiner Zuwendungen in Höhe von weniger als1 Million DM etwas zu schonen sowie den größtenMittler, nämlich das Goethe-Institut, unverhältnismä-ßig stark zu schonen, weil wir zu schätzen wissen, daßsich dort bereits acht Arbeitsgruppen mit einer Reformder Struktur des weltweiten Institutsnetzes, der Arbeits-formen in den westlichen Weltstädten, mit der Konkur-renzfähigkeit von Sprachunterricht gegenüber anderenAnbietern, ja sogar mit der Möglichkeit beschäftigen,andere Einnahmequellen zu erschließen und Sponsoren-gelder zu bekommen.Das alles wird nicht reichen, weil die Anstrengungenin Form von Sparbeiträgen erst mit Zeitverzug Wirkungzeigen. Weil die Zentralverwaltung der Goethe-Institutebereits entschieden hat, dem Vorschlag des Bundesrech-nungshofs und der Parlamentarier zu folgen, die Fusionvon Inter Nationes und Goethe-Institut zu vollziehen,haben wir zur Erleichterung dieser Umstrukturierungs-maßnahmen 11 Millionen DM über eine Verpflich-tungsermächtigung im Jahre 2001 zur Verfügung ge-stellt.Ich denke, dem Antrag der CDU/CSU – ich teile Ih-ren Sinn für „Tribunismus“, Herr Kollege Frankenhau-ser; die Zentrale sitzt in München, und auch mein Wahl-kreis liegt ganz in der Nähe – stattzugeben und demGoethe-Institut jetzt 20 Millionen DM zu geben ist einefalsche Entscheidung, auch wenn man es außerordent-lich stark schont und honoriert, was es schon getan hatund noch vorhat. Das ist so, als wenn Sie einem Kind imRahmen der Erziehung eine Belohnung geben, bevor esüberhaupt eine Leistung erbracht hat. So geht es nicht.Das ist pädagogisch ausgesprochen sinnlos.Nicht nur die Kulturinstitute, sondern auch das Hausselbst ist gefordert, eine Prüfung seiner Kulturarbeitvorzunehmen, und zwar besonders unter dem Aspekt,Herr Minister, daß in Ihrem Etat nicht nur die erwähntenMittlerorganisationen im großen Stil bedient werden,sondern daß an der Kulturarbeit auch andere Ministerienkonzeptionell und finanziell beteiligt sind. Vielleichtkönnte in diesem Zusammenhang auch ein neues Stif-tungsrecht Hilfestellung leisten.
Ich komme mit dem zum Schluß, womit Sie angefan-gen haben, Herr Kollege Frankenhauser. Die „Süddeut-sche Zeitung“ hat den Strategiekongreß der Grünen mit„Antworten statt Visionen“ betitelt. Ich kann Ihnen sa-gen, daß mit den Vorhaben der Koalitionsfraktionen undder Regierung die beiden Punkte, nämlich Sparen undGestaltungsfähigkeit zu gewinnen, erfüllt werden. Wirgeben Antworten auf 16 Jahre Kuddelmuddel vor allemin der Finanz- und Haushaltspolitik.
Unsere Vision heißt: Wir sanieren die Staatsfinanzen,um Generationengerechtigkeit herzustellen, den Sozial-staat zu reformieren und um damit eine Politik zu ent-wickeln, die die Deutschland AG auch unter den Bedin-gungen des globalen Marktes leben läßt.Ich bitte um Zustimmung für den Haushalt des Aus-wärtigen Amtes und bedanke mich bei dem Haus undden Kollegen für die Zusammenarbeit.
Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Dr. Helmut Haussmann.Uta Titze-Stecher
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Verehrter HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einemJahr war man mit viel Schwung gestartet. Ich zitiere dierotgrüne Koalitionsvereinbarung:Die neue Bundesregierung wird die Grundlinienbisheriger deutscher Außenpolitik weiterentwik-keln. Sie wird den notwendigen Wandel der Welt,der internationalen Beziehungen mit eigenen Vor-schlägen, mit eigenen Impulsen mitgestalten.Blickt man auf das erste Jahr zurück, so erkennt man,daß auch der Star des Bundeskabinetts inzwischen aufdem Boden angekommen ist.
Seit der Kosovo-Krise herrscht ein Erschöpfungszu-stand. In der Außen- und Europapolitik gibt es eigentlichkeinen neuen Impuls mehr. Herr Fischer muß zuneh-mend mehr Zeit und mehr Engagement für Parteiinter-nes aufwenden. Man sieht: Es kann auf Dauer nichtgutgehen, wenn außenpolitische Realitäten und ideolo-gisches Denken der Grünen so weit auseinanderklaffen.
– Hören Sie einmal ganz ruhig zu.
Erstes Beispiel: Türkeipolitik. Man kann nicht einer-seits Vertrauen in die innere Entwicklung der Türkeisetzen und ihr einen Beitrittskandidatenstatus – wohl-gemerkt: ohne konkrete Verhandlungen – anbieten, an-dererseits aber aus Mißtrauen in die innere Entwicklungder Türkei eine NATO-interne Gleichbehandlungverweigern. Das ist eine unglaubwürdige Türkei- undEuropapolitik.
Zweites Beispiel: Menschenrechtspolitik. Was hat derOppositionspolitiker Joseph Fischer die frühere Bundes-regierung kritisiert!
Heute hat die rotgrüne Bundesregierung – entgegen dervollmundigen Ankündigung, die Menschenrechte zurobersten Priorität zu erklären – nicht einmal die Kraftgefunden, im Kreise der Europäischen Union einenKonsens für eine China-Resolution der UN-Men-schenrechtskommission in Genf zustande zu bringen –eine äußerst schwache Leistung.
Vom Bundesbeauftragten für Menschenrechte, demgeschätzten Kollegen Poppe, hört und liest man so gutwie gar nichts.
– In der außenpolitischen Debatte sollten wir es nichtganz so billig machen. Wir können uns ja einmal dieWahlergebnisse vor Ort anschauen. Da kann ich mitvielen SPD-Kollegen mithalten.
In den für Menschenrechte relevanten Bereichen wirddrastisch gekürzt: bei der Entwicklungspolitik, bei derhumanitären Hilfe, bei den freiwilligen Leistungen fürUNICEF, beim Flüchtlingswerk der Vereinten Nationenund bei den Beiträgen für die OSZE.Drittes Beispiel – es ist unter globalen Bedingun-gen von besonderer Bedeutung –: Außenpolitik undAußenwirtschaft. Ich kann heute nach einem Jahr fra-gen: Wo ist die angekündigte neue Asienpolitik nachBeilegung der Asien-Krise, Herr Außenminister? Gibt esdenn überhaupt Schwerpunkte in der groß angekündig-ten Afrikapolitik? Wo liegen die neuen Ansätze in derLateinamerikapolitik? Botschaftsschließungen und Per-sonalreduktion können meines Erachtens nicht die Ant-wort sein. Darauf ist vorhin zu Recht hingewiesen wor-den. Zusammenlegungen von EU-Außenvertretungenaußerhalb Westeuropas wären ein Instrument kreativerund intelligenter Sparpolitik.
Außenwirtschafts- und Außenpolitik sind der besteBeitrag, deutsche Arbeitsplätze unter globalen Bedin-gungen zu sichern.
Der Mittelstand braucht vor Ort aktive, kompetenteMenschen bei der Erschließung neuer Märkte. Die deut-sche Wirtschaft braucht verbindliche Regeln für geisti-ges Eigentum und für Direktinvestitionen. Sie brauchtkeine unendlich breite Agenda für die nächste WTO-Runde. Schon jetzt setzen wir uns dort unsinnigerweisein Gegensatz sowohl zu allen Entwicklungsländern alsauch zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Dienächste WTO-Runde ist für Arbeitsplätze in Deutsch-land von ganz entscheidender Bedeutung.Wir brauchen eine Stärkung der transatlantischenBeziehungen. Die Europäer und die Vereinigten Staatenvon Amerika haben eine enorme globale Verantwortungfür weltweit über zwei Drittel der Arbeitsplätze und fürüber zwei Drittel des Bruttosozialprodukts. Sie könnensich eine Fortsetzung der Handelskonflikte – Hormon-fleisch, Bananen, Gentechnik, Airbus/Boeing, audiovi-suelle Produkte – eigentlich nicht leisten. Wir habeneinen Antrag zur Verbesserung der transatlantischenBeziehungen im Deutschen Bundestag eingebracht, derleider abgelehnt worden ist.
Die deutsche Wirtschaft und der deutsche Mittelstandbrauchen verbindliche Daten über die Osterweiterung,Herr Außenminister. Rechtssicherheit – auch bezüglichder Daten – ist der beste Schlüssel für Direktinvestitio-nen, für die Aufbauhilfe in Osteuropa und damit gleich-
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zeitig auch für neue Arbeitsplätze. Entweder exportierenwir zu bestimmten Zeitpunkten Stabilität nach Osteuro-pa, oder wir werden – wenn dies nicht geschieht – Insta-bilität von Ost- nach Westeuropa importieren. An demRückgang der Zustimmung zu Europa in der Tschechi-schen Republik und in Polen ist deutlich zu sehen: Auchdas Zeitfenster für die reformerischen Kräfte in Mittel-und Osteuropa steht nicht beliebig lange offen.
Der frühere Staatsminister Verheugen hat sich in sei-ner letzten Rede im Europaausschuß und bei seiner Ab-schiedsrede hier im Plenum – er war als EU-Kommissarin Brüssel noch nicht bestätigt – für verbindliche Datenab 2002/2003 konsequent eingesetzt. Meine Gesprächein Brüssel in der vergangenen Woche haben aber ge-zeigt, daß die Bundesregierung bisher nicht in der Lagewar, mit wichtigen Partnern wie Frankreich oder Groß-britannien hierüber eine Verständigung herbeizuführen.Herr Fischer, Sie werden auf Dauer um konkrete Zeit-pläne nicht herumkommen.
– Nein, dies ist ein ganz entscheidender Punkt. Sie sehenauch an Österreich und der Schweiz: Wenn man nichtkonkrete Zeitpunkte – etwa für die Einführung des Eurooder für den Beitritt zum Binnenmarkt – nennt, dannnehmen rechte und linke Kräfte an Bedeutung zu. Euro-einführung, Binnenmarkt und Osterweiterung gehörenzu den Aufgaben, bei denen politische Führung gefragtist. Man muß sich für sie einsetzen. Für ein solchesEngagement erhält man Zustimmung.
– Das ist arg billig. Das bin ich von Ihnen, Herr Bindig,gar nicht gewohnt. Das ist ein bißchen schade.Das vierte Beispiel liegt der F.D.P.-Bundestags-fraktion besonders am Herzen. Tun Sie mehr für dasdeutsch-französische Verhältnis.
Das deutsch-französische Verhältnis ist und bleibt derMotor für die europäische Integration. Der groß ange-kündigte Schwung der „reliance de la relation“ ist aus-geblieben. Intellektuelle Symposien und Fototerminesind kein Ersatz für Verständnis und Pflege. HerrFischer, wenn schon für den Bundeskanzler das deutsch-französische Verhältnis keine Herzensangelegenheit ist,dann muß es vorrangige Aufgabe des Außenministerssein, dieses Verhältnis auch emotional dynamischvoranzubringen.
Die Konflikte häufen sich. Jeder, der die Franzosenkennt und vielleicht auch französisch spricht,
weiß, daß der Alleingang von Herrn Schröder beimSchröder/Blair-Papier
ohne Abstimmung mit Frankreich und daß der Allein-gang von Herrn Trittin hinsichtlich der entschädigungs-losen Kündigung der Nuklearverträge wertvolles politi-sches Kapital in Frankreich zerstört haben, HerrSchlauch.
Die weiteren Konflikte sind längst vorprogrammiert.Es gibt nach wie vor keine Übereinstimmung zwischenDeutschland und Frankreich in der Agrarpolitik.
– Herr Fischer, ich gebe zu, das war mit der CDU/CSUauch sehr schwer.
Ich mußte damals während der GATT-Verhandlungennachts den Bundeskanzler anrufen, weil ohne französi-sche Zustimmung nichts ging, Herr Fischer. Aber es gibteinen Unterschied: Damals war das emotionale Grund-verhältnis zu den Franzosen so gut, daß die Franzosenzum Schluß Kompromissen zugestimmt haben. Diespassiert derzeit nicht, weder bei der Osterweiterungnoch bei den WTO-Verhandlungen.
Die entscheidende Nagelprobe steht bei der Beset-zung internationaler Schlüsselpositionen bevor. Ich halteaus deutscher Sicht Herrn Koch-Weser als Chef desIWF für eine ausgezeichnete Besetzung. Seit 20 Jahrenist die Besetzung dieses Postens ein Vorrecht der Fran-zosen. Jetzt wird sich zeigen, ob das deutsch-französische Verhältnis so gut ist, daß das wichtigsteLand in Europa nach über 20 Jahren erstmalig eine derentscheidenden Positionen der internationalen Wäh-rungs- und Finanzpolitik besetzen kann. Ich befürchte,das wird dieser Bundesregierung wieder nicht gelingen.Da schließt sich der Kreis, meine Damen und Herren.Internationaler Einfluß unter globalen Bedingungen be-deutet eben auch: personelle Vertretung Deutscher inwichtigen Gremien.
Schon die Ernennung der Kommissare in Brüssel warein Rückschritt.
Weder das Ressort von Herrn Verheugen noch das Res-sort von Frau Schreyer sind Schlüsselressorts.
Dr. Helmut Haussmann
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Deutschland hat in der EU-Kommission bisher sechsGeneraldirektorenposten besetzt. Wir werden nach Ab-lauf von zweieinhalb Jahren nur noch drei Generaldi-rektoren in Brüssel stellen.
Kollege Hausmann,
Sie müssen zum Schluß kommen.
Wir werden spü-
ren, wie der Einfluß zurückgeht. Deshalb schließt sich
hier der Kreis. Deutsche Außen- und Europapolitik er-
fordert die volle Konzentration des Außenministers. Wir
halten die Bilanz für eher bescheiden und werden dem
Etat des Außenministeriums nicht zustimmen.
Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollege Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Probleme des Einzelplans 05 haben wir in denletzten Monaten hinreichend diskutiert. Deutlich gewor-den ist in meinen Augen zweierlei:Erstens. Die prozentualen Kürzungen – wir bejahensie; denn anders wäre das Ziel bei notwendigerweisewiderstreitenden Ressortinteressen kaum zu erreichengewesen –
haben den Haushalt des Auswärtigen Amtes besondersschwer getroffen, weil dieser Einzelplan, bezogen aufden prozentualen Anteil am Gesamtbudget – das muß inIhre Richtung gesagt werden, Herr Frankenhauser –,schon in den Jahren zuvor, zu Zeiten Ihrer Regierung,immer mehr an Boden verloren hat, nämlich von0,93 Prozent Anfang der 80er Jahre auf 0,77 Prozent.Das ist die traurige Bilanz Ihrer Regierungszeit.Deshalb ging die gleichmäßige Kürzung gerade beidiesem Haushalt natürlich an die Substanz; das ist dochvöllig klar. Schließung von Botschaften, von Konsulatenund Goethe-Instituten, Kürzungen vieler freiwilli-ger Beiträge zu internationalen Organisationen – allesdas hat die deutschen Außenbeziehungen natürlich bela-stet.Ich erwähne das, weil dieser Einzelplan in den näch-sten Jahren einen deutlichen Nachholbedarf hat. Da tref-fen wir uns wieder. Ich freue mich, daß Sie es unterstüt-zen, daß wir das dem Finanzminister heute sehr deutlichins Haushaltsbuch zu schreiben haben.Zweitens. Kürzungsnotwendigkeiten bieten auch Re-formchancen. Das Amt hat diese genutzt. Ich erwähnenur einiges, so etwa, daß die schon erwähnte, lange vomRechnungshof geforderte und von der früheren Regie-rung immer wieder verschleppte Fusion von Inter Natio-nes und Goethe-Institut endlich in Angriff genommenwird, so auch, daß trotz Schließung von Goethe-Instituten jetzt ein sehr wichtiges Goethe-Institut, näm-lich eines in Sarajevo, neu eröffnet wird. Auch das istGestaltungspolitik.
Als letztes erwähne ich, daß es trotz dieser Kürzun-gen gelungen ist, Mittel für den Auf- und Ausbau vonMaßnahmen für präventive Außenpolitik bereitzustellen.Das alles sind sehr anzuerkennende Leistungen.
Jetzt legen wir einmal das Haushalterische beiseiteund sprechen über das, was der Kollege Glos heute frühangesprochen hat, allerdings in einer sehr oberflächli-chen Weise.
Herr Kollege Glos, jetzt sprechen wir einmal über dieIstanbuler Konferenz und über Rußlands Krieg inTschetschenien.Zunächst Herr Glos, zu Ihrer Aussage, die Grünenprotestierten nicht: Beim ersten Tschetschenien-Krieghaben eine Reihe von Grünen, auch ich, mit Lew Kope-lew vor der russischen Botschaft gestanden. Ich habedort nie einen CSU- oder CDU-Abgeordneten gesehen.
Jetzt sagen Sie, das sei immer Sache der Grünen gewe-sen, sie seien die Protestpartei usw. Sie übersehen dabeiaber einen entscheidenden Punkt, nämlich den völligenUnterschied zwischen dem ersten und dem zweitenTschetschenien-Krieg.Die Bundesregierung hat in Istanbul eine schwierigeGratwanderung bestanden. Dafür gebühren dem Außen-minister und dem Bundeskanzler Anerkennung.
Auf eine politische Lösung für Tschetschenien wurdenachdrücklich gedrungen. Schließlich gelang es auch,den Punkt 23 in die Abschlußerklärung aufzunehmen.Das heißt, es wurde zugestanden, daß der Vorsitzendeder OSZE jetzt nach Tschetschenien reist
und die OSZE-Mission nach wie vor ihrer Arbeit nach-gehen kann. Diese Bilanz konnte in schwierigen Ver-handlungen unter Einbindung Rußlands erreicht werden;es kam nämlich zu keinem Eklat. Vielmehr wurden dieNeufassung des KSE-Vertrages und die Sicherheits-charta verabschiedet.Dr. Helmut Haussmann
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Es gelang also, heftige Kritik zu üben und gleichzei-tig Rußland weiter einzubinden, und zwar im Gegensatzzu früheren Gipfelkonferenzen.
Ich erinnere einmal an den OSZE-Gipfel in Budapest imJahre 1992. Dort kam es zum Eklat, als die Russen aus-zogen. Nicht Sie allein tragen dafür die Verantwortung,
aber die damalige Regierung war mit daran beteiligt.Ganz nebenbei erinnere ich auch an den EU-Gipfel inBrüssel, auf dem Duisenberg berufen wurde. Einen grö-ßeren Eklat hätten Sie doch gar nicht veranstalten kön-nen.
Nun zurück zu Tschetschenien: Wenn man vor demHintergrund dessen, was in Tschetschenien geschieht,die Sicherheitscharta liest, dann ist ganz klar, daß dieCharta das Papier nicht wert ist, auf dem sie geschriebenwurde. Wenn die Charta nicht zu einem Stück beliebigerKonferenzrhetorik verkommen soll, muß intensiv an derEntfaltung ihrer Wirkung, also an ihrer schleunigen Ra-tifizierung, gearbeitet werden.Was immer die Motive eines islamistischen Extremi-sten wie Bassajew – jetzt komme ich inhaltlich auf IhreKritik zu sprechen, Herr Glos – gewesen sein mögen,sein Einfall nach Dagestan ist durch die Abriegelungabgewehrt worden. Wer auch immer hinter den terrori-stischen Anschlägen auf Hochhäuser in Moskau und an-derswo stehen mag – die Hinweise lassen eher islamisti-sche Extremisten als tschetschenische Extremisten da-hinter vermuten; auch das muß man sehen –: Die Atten-täter sind zu verfolgen, aber ein ganzes Volk, insbeson-dere die Zivilbevölkerung, selbst wenn die Attentäteraus Tschetschenien kämen, kann nicht umgekehrt alsGeisel genommen und mit systematischem Terror in dieFlucht getrieben werden.
All dies geht offensichtlich mit erweiterten russischenKriegszielen einher: zunächst Abriegelung Tschetsche-niens, jetzt totale Unterwerfung Tschetscheniens und ei-ne totale Revision des Friedens von 1996. Zugleich trittdrohend hinter Putin die russische Generalität mit derAuffassung hervor, daß man sich nicht ein zweites Malvon der Politik den Sieg stehlen lassen dürfe, und sprichtvon einer Wiedergeburt der russischen Armee in diesemKriege. Plötzlich erscheint das Erreichen demokratischerWahlen zur Duma und danach zum Präsidenten vor ei-nem vom Präsidenten eventuell ausgerufenen Notstandoder einem gegen den Präsidenten gerichteten Staats-streich als ein Ziel mit äußerster Prioriät.Klar ist: Die EU hat zwar eine gemeinsame Rußland-Strategie beschlossen, aber wir betreiben keine Rußland-Politik. Es gibt zwar Beziehungen zwischen den politi-schen Klassen, Reisen parlamentarischer Delegationen,aber kaum Freunde. Die NATO- und EU-Erweiterung,die in Richtung Rußland vorangetrieben wurde undwird, hat in Rußland Gefühle der Isolation hervorgeru-fen, aber dort nicht für Stabilität gesorgt. Deshalb müs-sen wir jetzt die Jugoslawisierung Rußlands befürchtenund können Rußland im Tschetschenien-Krieg nicht vorsich selbst schützen.Dabei muß auch eine andere Hypothek angesprochenwerden, die unsere außenpolitischen Beziehungenschwer belastet und verhindert hat, daß wir Freunde imrussischen Volk gewonnen haben. Das hätte erreichtwerden können, wenn wir ehrlich vor ihnen gehandelthätten. Ich spreche von dem Gezerre um die Entschädi-gung für die Zwangsarbeiter.
In diesem Zusammenhang möchte ich zugleich demGrafen Lambsdorff, der sich redlich um dieses Problembemüht, danken.
Aber gerade in diesen Tagen wird der Unterschiedder Welten, in denen wir und die Opfer deutscher Ge-schichte leben, besonders deutlich. Wir verfolgen denersten Versuch einer sogenannten feindlichen Übernah-me in unserer Wirtschaft. Mannesmann ist Vodafone242 Milliarden DM wert. Zugleich hat der Verein „Wi-der das Vergessen“ unter dem Vorsitz von Hans-JochenVogel eine Liste von 1 900 Firmen veröffentlicht, dieZwangsarbeiter beschäftigten, und aus dieser wiederumeinen Auszug von 29, die in wesentlichem UmfangZwangsarbeiter beschäftigten und bis heute dem Ent-schädigungsfonds der Industrie nicht beigetreten sind.Unter ihnen sind sechs Firmen, die mehr als 10 000Zwangsarbeiter beschäftigten; die Liste reicht vonDynamit Nobel über Hochtief, Philipp Holzmann, dieDeutsche Solvay und die Klöckner-Werke eben bis zuMannesmann. Bundes- und Landespolitiker stellen sichjetzt zu Recht vor Mannesmann; die Belegschaft fordertzu Recht unsere Solidarität ein.
Aber über deren Schultern blicken die Überlebendenvon 10 035 Zwangsarbeitern, die auch Anspruch aufSolidarität haben. Herr Haussmann, wirken Sie doch aufdiese Firmen so ein, wie es viele von uns auch tun.
Ich erteile das Wortzu einer Kurzintervention dem Kollegen Pflüger.Dr. Helmut Lippelt
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Herr Kollege
Lippelt, ich möchte erstens etwas zum Thema Tsche-
tschenien sagen. Sie haben hier behauptet, es sei wäh-
rend der Regierungszeit Helmut Kohls nichts oder so gut
wie nichts gemacht worden. Ich kann mich daran erin-
nern, daß wir immerhin eine gemeinsame Bundestags-
resolution zu diesem Thema verabschiedet haben. Das
heißt, von einem Schweigen des Bundestages in dieser
Situation kann wirklich nicht die Rede sein. Nicht nur
Sie haben demonstriert. Vielmehr sind zum Beispiel
auch meine Kollegen Schmidt und Koschyk in jener Zeit
in Moskau gewesen und haben dort ganz deutliche
Worte zum Tschetschenien-Krieg gefunden. Daß wäh-
rend der Regierungszeit Kohls beim ersten Tschetsche-
nien-Krieg die Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes nicht
kritisiert worden sei, möchte ich also zurückweisen.
Zweitens. Es ist völlig richtig, daß wir zwar – auch
auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul – Kritik an Rußland
geübt haben, daß wir die Kritik aber auch in einem
gewissen Rahmen belassen haben. Das ist notwen-
dig, weil es neben dem Ziel, die Menschenrechte in
Tschetschenien zu erhalten – ich glaube, daß dieses Ziel
uns allen hier im Parlament sehr wichtig ist –, auch an-
dere moralische Ziele gibt, die wir im Verhältnis zu
Rußland bedenken müssen. Wir wollen Rußland als
Partner für Abrüstung haben. Wir wollen verhindern,
daß Rußland Massenvernichtungswaffen weltweit ver-
breitet. Wir wollen Moskau als Partner für eine europäi-
sche Sicherheitsarchitektur. Deshalb ist es richtig – und
auch früher wie heute von den Bundesregierungen prak-
tiziert worden –, Kritik an Rußland zu üben, aber sie in
einer Art und Weise zu üben, die Rußland nicht weiter
in die Isolierung treibt und uns der Einflußchancen in
Moskau ganz beraubt.
Der eigentliche Unterschied zwischen früher und
heute besteht nicht im Regierungsverhalten, sondern –
verzeihen Sie – im Verhalten der Grünen. Sie haben frü-
her mit einem, wie ich durchaus fand, sehr erfrischenden
Rigorismus und Idealismus für Menschenrechte gestan-
den und sich gegen solche realpolitischen Überlegungen
gewandt. So etwas hat eine wesentliche Bedeutung in
einem Regierungssystem wie dem unseren; ich erinnere
in diesem Zusammenhang etwa daran, daß Präsident
Jimmy Carter eine Menschenrechtsbeauftragte in seiner
unmittelbaren Umgebung hatte, die ständig dafür gesorgt
hat, daß das Thema Menschenrechte richtig gewichtet
worden ist. Heute ist bei Ihnen – das hat natürlich mit
dem grünen Außenminister zu tun und stellt Ihr gene-
relles Strukturproblem dar – von dieser deutlichen Kritik
weniger zu spüren. Darüber freut sich ja Herr Gysi; er
schlägt bei jeder Gelegenheit, angefangen vom Kosovo
bis hin zu Tschetschenien, in diese Kerbe. Mit diesem
Problem müssen Sie fertig werden. Der Unterschied zur
Situation des ersten Tschetschenien-Krieges liegt nicht
in den Regierungen Kohl bzw. Schröder, sondern liegt
eindeutig in der Tatsache begründet, daß die Grünen
sehr schwach sind, wenn es jetzt darum geht, eindeutig
moralisch Position zu beziehen.
Kollege Lippelt!
Herr Kollege Pflüger, ich bedaure, daß Sie heute morgen
nicht dagewesen sind. Heute morgen habe ich dem Kol-
legen Glos eine kurze Frage gestellt.
Vor dem Hintergrund der Debatte von heute früh wür-
den Sie vielleicht meine Polemik ein wenig besser ver-
stehen.
Nun sprechen Sie das Verhalten der Grünen an. Sie
meinen, wenn Sie in Moskau etwas sagten, brauchten
Sie nicht zu protestieren. Aber uns sagen Sie: Ihr sagt
zwar auch in Moskau etwas, aber ihr solltet weiter pro-
testieren. – Damit verkehren Sie die Rolle von Regie-
rung und Opposition.
Sie sind jetzt in der Opposition. Sie können sehr viel
deutlicher protestieren.
– Herr Kollege Pflüger, ich weise darauf hin, daß der
Kollege Kowaljow, der gerade hier war, natürlich auch
in unserer Fraktion war. War er bei Ihnen auch? Die
tschetschenischen Politiker, die jetzt hier sind und die
gestern abend mit dem Kollegen Kowaljow in der Aka-
demie der Künste diskutiert haben, waren sie auf Ihre
Einladung hier? Waren sie nicht vielmehr auf unsere
Einladung da? Und auf wessen Einladung wird dem-
nächst der tschetschenische Außenminister kommen?
– Ich hatte erst gedacht, Herr Pflüger sei nicht dabeige-
wesen. Dann hat er aber genickt. Deshalb sage ich: Er
war zwar dabei, er hat aber nichts verstanden. Das ist
der Punkt.
Ich erteile dem Kol-
legen Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Auch bei diesem Haushaltgeht es nicht nur darum, wieviel wofür ausgegeben wird.Vielmehr geht es auch um die politische Richtung, diedamit befördert werden soll. Ich muß ganz offen sagen:Die ganze Richtung paßt mir nicht.
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6578 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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– Das verwundert, offen gesprochen, auch nieman-den.
– Komm doch nach vorn. Dann versteht man dich.Die PDS-Bundestagsfraktion wird dem Haushalt desAuswärtigen Amtes nicht zustimmen, weil wir die au-ßenpolitische Linie der Bundesregierung für grundsätz-lich falsch halten. Dies will ich begründen.Scheidelinie und Bruchpunkt zu uns war das Ja derBundesregierung zum Krieg der NATO in Jugoslawi-en. Als von deutschem Boden wieder Krieg ausging,sind auch Risse zwischen der Regierung und weitenTeilen der Bevölkerung aufgebrochen. Im Krieg gegenJugoslawien wurden Völkerrecht und Grundgesetz ge-brochen, der Zwei-plus-Vier-Vertrag beiseite gescho-ben, die UNO herabgesetzt und – das wollen wir nichtvergessen – über viele Menschen Leid gebracht.Wir als PDS können heute, weil wir die Bomben aufJugoslawien kritisiert haben, vorurteilsfrei und glaub-würdig die russischen Bombenangriffe auf Tsche-tschenien kritisieren.
Die Bundesregierung kann dies nicht. Sie muß sich vonrussischen Politikern vorhalten lassen, sie messe mitzweierlei Maß. Das Problem der Bundesregierung be-steht darin, daß sie dies nicht erklären kann.
Die militärische Interessenpolitik im Kosovo hat derBundesregierung die Freiheit und Souveränität genom-men, in Europa und in der Welt die Rolle eines beson-nenen Mittlers einzunehmen. Dieses Ziel verfolgt diePDS für die deutsche Außenpolitik. Wir wollen, daßsich Deutschland strikt auf friedliche Mittel beschränkt.Diese Selbstbeschränkung wäre verantwortlich und wir-kungsvoll, und nicht zuletzt wäre mit ihr den Menschen-rechten mehr gedient als mit der militärischen Karte.Weil die Bundesregierung die militärische Karte inpetto haben will, hat sie auch der neuen NATO-Konzeption zugestimmt. Zuvor hatte sich die NATO alsterritoriales Verteidigungsbündnis definiert. Heutenimmt sie für sich in Anspruch, für ihre Interessenweltweit intervenieren zu können. Diese neue NATObringt aus der Sicht meiner Fraktion nicht mehr, sondernweniger Sicherheit.Daß jetzt auch noch die bislang zivile EuropäischeUnion militarisiert werden soll, ist für die PDS ein wei-terer Grund zur Opposition. Die Bundesregierung willdie Europäische Union mit militärischen Mitteln aus-statten und mit der NATO verbinden. Die Folge wird ei-ne qualitative Aufrüstung sein. Dies wird das Verhältniszu den europäischen Ländern belasten, die sich bewußtfür die Europäische Union und nicht für die NATO ent-schieden haben. Eine militarisierte Union wird darüberhinaus die zivilen, sozialen und politischen Strukturender EU deformieren. Sie kann von anderen Ländern,namentlich von Rußland, als Bedrohung empfundenwerden. Das will die PDS ganz und gar nicht.Wer notfalls drohen will, rüstet die Länder mit auf,die in seinem Interessenbereich liegen. Die rotgrüneBundesregierung hat mit Rüstungsexporten genau daweitergemacht, wo die alte stehengeblieben ist. EinemLeopard 2 für die Türkei werden 999 weitere folgen.Das weiß jeder hier im Hause.Herr Außenminister, daß Sie ein schlechtes Buch ei-nes Ihrer Ministerkollegen öffentlich präsentieren, ist Ih-re Sache. Ich finde aber, die Außenpolitik sollte nichtauf der Hardthöhe gemacht werden.
Wo bleibt gegenüber der Türkei das, was Rotgrünzum letzten Maßstab deutscher Außenpolitik erkorenhat, nämlich Menschenrechte in aller Welt zu wahren?Die deutsche Außenpolitik hat ein gebrochenes Ver-hältnis zur UNO. Nachdem sie der UNO mit dem NA-TO-Krieg gegen Jugoslawien ihren „schwärzesten Tag“beschert hat, merkt nun auch die deutsche Außenpolitik,nicht zuletzt auf dem Balkan: Ganz ohne UNO geht esnicht. Deswegen spricht der Außenminister in letzterZeit mehr über die UNO. Aber das sofort mit dem An-spruch auf einen Platz im Sicherheitsrat und mit Vor-schlägen, das Vetorecht zumindest einzuschränken, zuverbinden halte ich für falsch. Ich bin dafür, daß dieMacht im Sicherheitsrat mit Ländern aus Afrika, Asienund Lateinamerika geteilt wird.Bei Meinungsverschiedenheiten en detail in der Au-ßenpolitik kann sich die Bundesregierung auf einegrundsätzliche Übereinstimmung mit CDU/CSU undF.D.P. verlassen. Das tut sie auch. Bei allen wichtigenEntscheidungen betont sie die Kontinuität zur Vorgän-gerregierung. Bis auf die PDS ziehen in der Außenpoli-tik alle Parteien an dem sprichwörtlichen gemeinsamenStrang. Doch ich sage Ihnen aus Erfahrung, Herr Au-ßenminister: Mehrheiten im Bundestag sind nicht unbe-dingt Mehrheiten im Leben. Das weiß ich sehr gut. AuchSie haben das bereits bei Wahlen in den letzten Monatenerfahren. Die Wählerinnen und Wähler von SPD undGrünen wollten einen Politikwechsel und nicht die Fort-setzung der alten Außenpolitik mit anderen Argumenten.Was ich Ihnen vorhalte, Kolleginnen und Kollegenvon SPD und Grünen, ist, daß Sie dabei sind, eine histo-rische Chance zu verspielen. Vielleicht haben Sie sie so-gar bereits verspielt. Die Chance wäre gewesen, inDeutschland einen politischen Kurswechsel einzuleitenund ihn gemeinsam mit Mitte-links-Regierungen andererLänder europäisch zu gestalten. Bei dieser Aufgabe hatdie Bundesregierung aus meiner Sicht versagt.Uns als PDS ist dadurch die Aufgabe zugefallen, zuverhindern, daß Menschen, die sich enttäuscht von Ihnenabwenden, bei der rechten Opposition landen; denn dasmöchten wir auf keinen Fall.
Wolfgang Gehrcke
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– Wir warten, was da kommt. Sie können ja mit uns aufdiesem Felde konkurrieren.Die Grundlinie unserer Außenpolitik heißt Verant-wortung durch Selbstbeschränkung. Wir halten an demfest, was die beiden Deutschlands im Zwei-plus-Vier-Vertrag bekräftigt haben, nämlich „daß von deutschemBoden nur Frieden ausgehen wird …“ Wir halten daranfest, „daß die beiden Deutschlands völkerrechtlich er-klärt haben, „daß das wiedervereinigte Deutschland kei-ne seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn inÜbereinstimmung mit seiner Verfassung und der Chartader Vereinten Nationen“. Wir wollen eine eindeutigeErklärung, daß Deutschland sich künftig daran und andas Gewaltmonopol der UNO hält, und zwar ohne Grau-zonen.Von Grauzonen redet die Regierung immer, wenn esum das Völkerrecht geht. Leider bewegt sich diese Re-gierung in Grauzonen. Man kann zum Beispiel nicht inWashington die Selbstmandatierung der NATO unter-schreiben und sich gleichzeitig in New York zur Chartader Vereinten Nationen bekennen. Der Widerspruchzwischen neuer NATO-Strategie und UNO-Charta isteine Grauzone, in der jeweils nach eigenem Interessegehandelt wird.Ich wiederhole unseren Vorschlag, die OSZE weiterauf- und die NATO abzubauen. Die Sicherheitspartner-schaft mit Rußland liegt ebenso im deutschen Interessewie eine Partnerschaft mit den USA, beides bitte ohneUnterordnung. Da gibt es in bezug auf Rußland wohlauch kein Problem.Europa hat viele drängende Aufgaben: gemeinsamsoziale wie ökologische Standards herzustellen, die Er-weiterung der EU zu befördern und gezielte Stabilitäts-hilfe für alle Länder des Balkans zu leisten, einschließ-lich Jugoslawiens. Das gemeinsame Haus Europa wirdviele Räume haben. Eine Waffenkammer jedoch, someine ich, braucht es nicht.
Ich höre schon jetzt Ihren Einwand – einige Einwän-de sind schon vorgebracht worden; auch dieser wirdnoch kommen –, daß ich Vorschläge unterbreite, diesich früher in den Programmen der SPD und der Grünenbefunden haben sollen. Selbst wenn dem so sein sollte,ist das kein Argument gegen diese Vorschläge.
Es war mehr Richtiges an dem, was die Koalitionspar-teien vor der Wahl vertraten, als an dem, was sie seithertun.
Ich erteile das Wortnun dem Kollegen Christian Schmidt, CDU/CSU.Christian Schmidt, (CDU/CSU) (von Ab-geordneten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): HerrPräsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-gen! Kuddelmuddel war ein Wort, das Sie, Frau Kolle-gin Titze-Stecher,
in einem Zusammenhang verwendet haben, der einigeFragen zum gegenwärtigen Haushalt aufwirft. KollegeFrankenhauser hat dazu schon einiges gesagt.
Ich will nicht alles noch einmal beleuchten. Aber einpaar Punkte sind anzusprechen: Frau Kollegin Titze-Stecher, ich habe es sehr begrüßt, daß Sie die Frage derSchließung der Generalkonsulate – namentlich Apen-rade, Stettin, Oppeln und Temesvar – problematisierthaben. Wir werden uns einer sinnvollen Lösung, dienicht weiße Salbe darstellt, sondern die vorhandenenBedürfnisse – und zwar nicht nur die von Ihnen ange-sprochenen Visabedürfnisse – befriedigt, sicherlich nichtverschließen.Nur, ich habe den Eindruck – das ist keine Frage derHaushälterei, sondern eine Frage der politischen Grund-linien –, daß es hier um etwas anderes geht, nämlich umdie Beantwortung der Frage, wie wir im Jahre 2000 mitdeutschen Minderheiten außerhalb der Grenzen derBundesrepublik Deutschland umgehen. Sie haben daraufhingewiesen, daß das Verschwinden des Ost-West-Konfliktes andere Prioritäten verlangt. Ja, wir kommenzu einem Europa der Regionen. Gerade angesichts des-sen halten wir es für unabdingbar, daß wir uns – so wieum viele andere – auch um diejenigen kümmern, diesich uns besonders verbunden fühlen.Herr Bundesminister, die Worte, die Erzbischof Nos-sol in diesem Zusammenhang an Staatssekretär Ischin-ger gerichtet hat, sind sehr eindrucksvoll und deutlichgewesen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß das auchWirkung zeigt und daß die deutsche Minderheitenpolitiknicht dazu führt, daß sich beispielsweise die dänischeMinderheit in Schleswig-Holstein fragt, was mit ihremdänischen Generalkonsulat in Flensburg passiert. Daswäre wahrlich keine wünschenswerte Entwicklung ineinem Bereich, in dem sich nach dem Krieg zwischenDänemark und Deutschland ein Musterbeispiel angrenzüberschreitender Minderheitenpolitik entwickelthat, die schweren Schaden nehmen könnte.Auch ein anderer Punkt stößt mir sehr auf. Er hatzwar nicht unmittelbar mit dem Einzelplan 05 zu tun,muß aber einmal angesprochen werden: Herr KollegeVolmer, Sie haben in einer Presseerklärung, die Sie –ohne Ihren Titel als Staatsminister zu bemühen – für dieFraktion der Grünen abgegeben haben, von 50 MillionenDM für die Stiftung für Friedens- und Konfliktforschunggesprochen. Wenn man gleichzeitig der Stiftung Wis-senschaft und Politik – die auch nicht Bestandteil die-ses Haushaltes ist – nur mit Mühe ein Domizil in Berlinverschaffen kann, dann stimmt etwas nicht in der Grund-frage, wie sich Außen- und Sicherheitspolitik begrün-Wolfgang Gehrcke
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det, wer beraten werden soll und wie er beraten werdensoll.
– Herr Kollege Schlauch, vielleicht nehmen Sie dieDienste der Stiftung Wissenschaft und Politik nicht inAnspruch, weil Sie sich mit den Dingen, mit denen sichdiese Stiftung befaßt, nicht beschäftigen. Aber es gibtbei solchen Stiftungen durchaus noch viel Finanzbedarf,der nicht befriedigt werde kann, weil er für eine grüneSpielwiese gebraucht wird. Dafür habt ihr 50 MillionenDM übrig. Darum müßt ihr euch meine Einwände schonanhören.
Wenn man sich die Arbeit der Stiftung Wissenschaftund Politik genauer anschaut, dann wird man an der Dis-kussion, was die Grundausrichtung der deutschen Außen-politik sein soll, nicht vorbeikommen. An dem Disputzwischen Herrn Lippelt und Herrn Pflüger haben wir ge-merkt, um was es eigentlich geht. Es gibt Unbehagen dar-über, daß Joschka Fischer in Kassel gesagt hat: Ich machekeine grüne Außenpolitik, ich mache deutsche Außen-politik. Von manchen Grünen wird dies als Realpolitikbeschrieben – mit dem dazugehörigen Hautgout. Es mußdennoch gefragt werden: Sind die Axiome der deutschenAußenpolitik von grünem Denken geprägt? Es gibt einsehr nobles Denken in Sachen Menschenrechte. HerrKollege Lippelt, ich stimme mit Kowaljow und Memori-al, die Herr Poppe während des ersten Kosovo-Kriegesintensiv betreut hat, überein; ich nehme für mich und unsein klein wenig in Anspruch, auch etwas getan zu haben.Aber es ist nicht zu übersehen, daß die Einhaltung derMenschenrechte nicht das einzige Axiom ist. Das ist fürviele Grüne ein bitterer Erkenntnisprozeß. Man fragt sich,ob er wirklich stattgefunden hat.Wir haben damals im Auswärtigen Ausschuß heftigüber die Mitgliedschaft Rußlands im Europarat debat-tiert. Wir waren überwiegend der Meinung, daß es bes-ser ist, Rußland im Europarat zu haben, um Überzeu-gungsarbeit leisten zu können. Wir wußten aber genau,daß dafür auch andere Mittel notwendig sind. Dazu ge-hört ein Vertrauensverhältnis. Und in diesem Punkt willich Ihnen entschieden widersprechen: Das Vertrauens-verhältnis zwischen Deutschland und Rußland, zwischender damaligen Bundesregierung und dem Bundeskanzlerund der russischen Führung, war zu Zeiten des erstenKosovo-Krieges sehr viel besser, wir waren sehr vieleinflußreicher, als wir es heute sind.
Dieses Defizit kann man nicht auf einem OSZE-Gipfelausgleichen.Ich gestehe zu, daß die Spätphase mit Jelzin viel pro-blematischer ist, als die Zeit mit Jelzin in den Jahren1994 und 1995 war.
Aber die Verläßlichkeit der deutschen Politik – alleAbmachungen wurden eingehalten, bis die letzten russi-schen Soldaten durch das Brandenburger Tor abmar-schiert sind – war eine Grundkonstante. Sie wurde gebo-ren aus dem deutschen Interesse.Ich habe den Eindruck, daß die Definition des deut-schen und europäischen Interesses das heiße Eisen ist,
um das die grüne Katze wie um den heißen Brei herum-schleicht.
Man sollte sich eingestehen, daß es Problemfälle gibt,die man nicht allein mit dem Argument der Menschen-rechte beantworten kann. Frau Roth wird ihre Schwie-rigkeiten haben,
wenn sie erklären muß, wieso in Helsinki Verhandlun-gen über den Beitritt der Türkei beschlossen werdensollen, obwohl das 4. Finanzprotokoll im EuropäischenParlament – zu einer Zeit, als sie ihm angehörte – nichtbeschlossen worden ist. Es hat damals keine Mehrheitengefunden. All diese Fragen sind doch nur ein Symptomfür die Probleme, die Sie haben.Nun zu den Vereinten Nationen; der Kollege Brechtwird anschließend noch sprechen. Wir befinden uns inder Frage der Mitgliedschaft Deutschlands im Sicher-heitsrat in einer Kontinuität. Nur fragt sich, mit welcherIntensität man dieses Ziel verfolgt. Jedenfalls werdendie Stand-by-Arrangements Herr Bundesminister, in derdeutschen Öffentlichkeit nie breit diskutiert.
Wenn sozusagen angeboten wird: Wir stehen zur Verfü-gung, wir sind immer gern bereit, etwas zu tun, dannkommt Osttimor dabei heraus. Das ist der Punkt, überden wir jenseits aller Polemik in diesem Parlament undin camera caritatis reden müssen. Wir müssen fragen,wie wir uns definieren, und zwar an Hand der von derGröße her reduzierten – wenn es nach uns ginge, wäredas nicht geschehen – Bundeswehr und unter Beachtungunserer Interessen. Wir müssen fragen, wie, wo und inwelchem Umfang wir bereit sind, uns politisch und ge-gebenenfalls auch militärisch zu beteiligen. Diese Frageist sehr wichtig, weil wir unsere Entscheidung vor jedemSoldaten, den wir in den Einsatz schicken, verantwortenmüssen. Wir müssen sagen können: Du tust das, weil esder Interessenlage unseres Landes entspricht. Deswegenist hier Nachdenken angesagt.
Zum Thema Orientierung möchte ich einen weiterenPunkt – nicht einmal kontrovers – in die Diskussion ein-bringen. Wir hatten vor kurzem eine Debatte über einfür uns nicht erfreuliches Thema: das StimmverhaltenChristian Schmidt
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des US-Senats zum Atomteststoppabkommen. Wir allewaren darüber nicht sehr erbaut. Unsere Debatte zu die-sem Thema war sehr konstruktiv. Wir haben auf ver-schiedenen Ebenen, in verschiedenen Kreisen darübergesprochen, welches die amerikanischen Beweggründesind. Ich halte eine kurzfristige taktische Überlegungnach wie vor für einen Beweggrund. Aber in der Tat:Wenn eine Tendenz bestehen sollte, aus dem Vertrags-regime der Rüstungskontrolle herauszugehen, weil man-che in den USA der Meinung sind, es ließe sich mitBlick auf die sogenannten Schurkenstaaten nicht mehrrechtfertigen, dann stellen sich für uns ganz entschei-dende Fragen, die in den nächsten Jahren diskutiert wer-den müssen.Ad eins: Welchen Weg gehen wir? Ich bin der Mei-nung, wir müssen beim Vertragsregime bleiben, soweites nur geht. Ad zwei: Wenn es so ist, daß in den USAdie Befürchtung besteht, es werde eine Verletzung ihreseigenen Territoriums durch sogenannte Schurkenstaaten,das heißt durch Raketen, möglich sein, und wennman beginnt, eine nationale Raketenverteidigung aufzu-bauen – das gehört in diesen Kontext hinein –, dannstehen wir vor Fragen wie im Jahre 1979, nämlichvor der Frage – –
Herr Kollege, bevor
Sie weiter fortfahren:
Ihre Redezeit ist erstens deutlich überschritten, und
zweitens will Kollege Brecht Ihnen durch eine Zwi-
schenfrage noch die Gelegenheit geben, weiterzureden.
Vielleicht nehmen Sie diese Möglichkeit wahr?
Herr Präsi-
dent, ich nehme diese Möglichkeit sehr gerne wahr.
Herr Kollege Schmidt,
ich muß noch einmal auf den vorherigen Punkt, den Sie
angesprochen haben, zurückkommen. Das Präsidium hat
mich leider nicht eher bemerkt.
Ich bedan-
ke mich dafür, daß Sie darauf zurückkommen. Das ist
eine kollegiale Geste.
Sie haben kritisiert,
daß es in der deutschen Außenpolitik offensichtlich Un-
klarheiten über die Ausdehnung ihres Engagements gibt.
Speziell haben Sie unser Engagement in Osttimor kriti-
siert. Sind Sie bereit, solche Aussagen auch gegenüber
den Japanern, den Australiern oder anderen Staaten
vorzubringen, die sich zum Beispiel durch die Aufnah-
me von Bürgerkriegsflüchtlingen oder durch aktive
finanzielle Hilfe im früheren Jugoslawien engagiert ha-
ben?
Das habe
ich beispielsweise gegenüber australischen Politikern
getan, aber nicht, weil ich grundsätzlich der Meinung
bin, daß wir in Osttimor nie etwas verloren hätten.
Vielmehr müssen wir uns schon die Frage beantworten,
ob wir symbolische Politik zu unserem etwaigen eigenen
Nutzen, Mitgliedschaft im Sicherheitsrat, betreiben. Das
Wort „symbolische Politik“ ist übrigens auch in Ihren
eigenen Reihen mehrfach benutzt worden. Das zeigt mir,
daß wir in dieser Frage Anlaß zur Diskussion haben.
Wir haben das für uns mit großer Mehrheit beschlossen.
Die Geschichte wird dadurch hoffentlich sehr bald be-
endet sein. Ein zweites Mal wird das in dieser Form
nicht laufen können. Darüber müssen wir vorher disku-
tieren.
Sie haben gemeint, daß ich die Frage, die Sie gestellt
haben, dahin gehend ergänzen sollte, zu sagen, was 1979
gewesen ist. Damals war das Argument für den NATO-
Doppelbeschluß die Frage, ob ein Abkoppeln amerika-
nischer von europäischen Sicherheitsinteressen droht
oder nicht. Ich sehe, daß eine solche Gefahr potentiell
nicht von Europa her droht und daß die deutsche Politik
erhebliche Anstrengungen unternehmen muß, um zu
verhindern, daß sich in den transatlantischen Beziehun-
gen unterschiedliche Sicherheitsphilosophien entwickeln
und Orientierungen nur auf den eigenen Bereich Platz
greifen. Ich befürchte, das ist eine Grundfrage der politi-
schen Diskussion in den nächsten Jahren. Die wird für
uns nicht leicht zu beantworten sein.
Herr Präsident, ich bedanke mich.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Gert Weisskirchen, SPD.
Herr Präsi-dent! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! ChristianSchmidt, Sie haben eben einen wichtigen Punkt ange-sprochen, über den in der Tat weiter zu debattieren seinwird, weil wir in den USA – wir haben noch etwa einJahr bis zur Präsidentenwahl in den USA – wohl eineVerstärkung von unilateralen Tendenzen erleben wer-den. Das ist genau der Punkt. Im europäischen Interesseliegt es, daß multilaterale Schritte weiter vollzogen wer-den, und diese Bundesregierung hat dafür gesorgt, daßdas geschehen kann.
Weil Sie die Kritik geäußert haben, es sei symbolhaftgewesen, was die Bundesregierung an vielen Punktengemacht hat, will ich dazu kurz etwas sagen. Ich greifeeinmal das heraus, was Sie zu dem Thema eines dergroßen Konflikte, den wir in diesem Jahr erlebt habenund der noch nicht zu Ende ist, gesagt haben. Ich meineden Kosovo-Krieg. Wer war es denn, der dafür gesorgthat, daß es nicht allein um die militärische Logik ging,der dafür gesorgt hat, daß von Beginn an diese militäri-Christian Schmidt
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sche Logik unter den Zwang der politischen Logik ge-stellt wurde, der dafür gesorgt hat, daß nicht ein Krieggegen Serbien als solches geführt wurde, der vielmehrherausgestellt hat, daß es darum ging, eine drohende fa-schistische Diktatur zu brechen? Ferner ging es darum,dafür zu sorgen, daß die zivilen Kräfte in Serbien eineneue Perspektive bekommen.
Der Stabilitätspakt stellt keine Symbolpolitik dar, son-dern ist ein Angebot der Europäisierung an diesenschwierigen Raum in Südosteuropa.
Das ist konkrete Politik, mit der wir das, worum esgeht, vorantreiben, nämlich die zivilen Kräfte überall inEuropa zu stärken, unabhängig davon, ob sie im ver-dichteten Raum der westeuropäischen Integration le-ben. Das ist der zentrale Punkt, auf den es ankommt. DerGewinn von Frieden, der Gewinn von Stabilität kann nurgelingen, wenn die Kräfte der zivilen Gesellschaft vonunten gestärkt werden. Wir Westeuropäer – das dürfenwir mit Stolz sagen; jeder, der hier ist, hat seinen Beitraggeleistet – haben aus der Vergangenheit genau die Leh-ren gezogen, auf die es ankam, nämlich Prozesse derIntegration, des Zusammenwachsens, des Zusammenle-bens von Menschen und Gesellschaften, von nationalenOrientierungen voranzutreiben. Das ist das aktive Mo-dell, das Europa anbieten kann.Nun kommt es darauf an, all den europäischen Re-gionen, die bisher die Chance zur Integration, zur Öff-nung nach Westeuropa noch nicht bekommen haben,diese Chance zu bieten. Südosteuropa ist dafür eine derzentralen Regionen. Diese Bundesregierung, GerhardSchröder und Joschka Fischer, haben in diesem Jahr be-wiesen, daß sie das können, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Opposition.
Vielleicht darf ich noch eine Bemerkung zu diesemersten kriegerischen Konflikt machen. Wir haben ihn jaalle selbst erlebt und erlitten. Dieser Krieg hat uns auchgezeigt, daß wir an die Grenze unserer politischenMöglichkeiten gedrängt worden sind. Ich meine dasauch im Hinblick darauf, daß die inneren Kräfte dafüraufgebracht werden mußten, damit dieser Krieg in dieserForm – mit allen seinen Schrecknissen – durchgestandenwerden konnte. Das hat mit dazu geführt, daß der Kriegim Juni eingestellt und dann eine politische Perspektiveeröffnet werden konnte. Diese Grenze unserer Möglich-keiten haben wir erfahren. Es ist wichtig, daß es einepolitische Öffentlichkeit gibt, die diese Grenzen, dieseRänder der politischen Möglichkeiten ausleuchtet undkritisisch betrachtet. Ich bin dankbar dafür, daß dieseDebatte und diese Kritik auch in diesem Parlament eineRolle haben spielen können.Ich möchte jetzt auf einen weiteren kriegerischenKonflikt dieses Jahres zu sprechen kommen. Ich setzedarauf, daß auch in der russischen Öffentlichkeit diekritischen Fragen, die bereits jetzt gestellt werden,Widerhall finden. Sergej Adamovitsch Kowaljow wargestern hier, und heute ist ein Kollege aus dem tsche-tschenischen Parlament anwesend, der auf der Besu-chertribüne sitzt und uns zuhört. Ich hoffe sehr, daß die-se Kritik in der russischen Öffentlichkeit stärker Platzgreift. Denn es war die wichtigste Lehre aus dem erstenKrieg in Tschetschenien, daß es eine kritische, auf-merksame, harte Debatte in der russischen Öffentlichkeitgegeben hat. Wir müssen dafür sorgen und dabei mithel-fen, daß unsere Kollegen in der Duma und die russi-schen Intellektuellen mit dazu beitragen können, daßdieser zweite Tschetschenien-Krieg genauso beendetwerden kann wie der erste Tschetschenien-Krieg. LiebeKolleginnen und Kollegen aus Tschetschenien, bittesorgen Sie dafür, daß man die Gründe, die es gibt, kri-tisch gegenüber Ihrer eigenen Region zu sein, selbst er-kennt. Terrorismus kann und darf kein Instrument sein,auch nicht, wenn vorgetäuscht wird, daß es um einenBefreiungskampf geht. Terrorismus darf überhaupt keinInstrument sein!
Deshalb war es gut, daß auch die Bundesregierung fürdie Durchsetzung des Punktes 23 der OSZE-Erklärung –er ist ja vorhin schon zitiert worden – gesorgt hat. DieOSZE hat gute Möglichkeiten. Das Mandat der OSZE isterneut eröffnet, bestätigt und gestärkt worden. Jetztkommt es darauf an, daß die OSZE es nutzt, daß sie aufbeide Seiten einwirkt und beiden Seiten deutlich macht:Mit kriegerischen Aktionen läßt sich niemals Friedenherstellen. Es kommt darauf an, daß innerhalb dieser Re-gion die sozialen Interessen, die territorialen Interessen,die demokratischen und verfassungsmäßigen Interessenzu einem Ausgleich geführt werden. Ich bitte Sie darum,liebe Kolleginnen und Kollegen aus Tschetschenien, mit-zuhelfen, daß es einen konstruktiven Dialog zwischenRußland und Tschetschenien gibt. Das wäre eine Hilfe,damit dieser zweite schreckliche Krieg, den wir 1999 er-leben, rasch beendet wird.
Am 19. Dezember sind die Wahlen zur Duma. Es istschon erforderlich – der Kollege Pflüger und andere ha-ben schon darauf hingewiesen –, daß wir Parlamentariereine härtere Sprache an den Tag legen als die Regierung.Ich möchte auch bitten, alle zur Verfügung stehendenInstrumente – ich höre, das geschehe bereits, das werdebereits in die Wege geleitet – zu nutzen, auch die derOSZE-Parlamentarierversammlung.Wer könnte uns, die OSZE-Parlamentarier, denndaran hindern, den Beschluß, den wir in Petersburg – Sieerinnern sich, Frau Grießhaber – gefaßt haben, umzuset-zen, wonach laut Ziffer 111 der Deklaration ein Forumin der Nähe der Konfliktregion eingerichtet werden soll,auf dem all diejenigen, die etwas zu sagen haben, dieüber die Lage der Flüchtlinge informieren können, We-ge aufzeigen können, wie dieser Konflikt politisch ge-löst werden kann? Wer hindert uns daran, daß die OSZEein solches Forum in der Region eröffnet?Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir Unterstützungdafür finden könnten, daß der 3. Ausschuß der OSZE-Gert Weisskirchen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6583
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Parlamentarierversammlung, zuständig für Demokratie,Menschenrechte und humanitäre Fragen, vielleicht inZusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen ausdem Europarat, den Betroffenen die Chance gibt, mit-einander zu debattieren, vielleicht Lösungswege aufzu-zeigen und diese in die Duma hineinzutragen. SergejAdamovitsch Kowaljow hat mir gestern zugesagt, daß ernach der Wahl diesen Vorschlag aufgreifen werde. Ichfinde es gut, wenn die Duma bereit wäre, einen solchenWeg zu gehen. Er könnte mit dazu beitragen, daß diesesProblem anders behandelt wird als bisher.Militärische Logik – das sagt Grigorij Jawlinskij inseinem Aufsatz, den er kürzlich, am 23. November, inder „Welt“ veröffentlicht hat – führt zur geopolitischenKatastrophe Rußlands. Das sagt Grigorij Jawlinskij, undwir teilen seine Auffassung. Wir hoffen, daß die Demo-kraten in Rußland die Chance haben, in der Duma sostark zu werden, daß diese militärische Logik in Ruß-land endlich keine Geltung mehr besitzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt also in Ge-samteuropa einen sich verdichtenden Raum der Integra-tion. Wir Westeuropäer haben die Lektionen der Ge-schichte gelernt. Die Präsidentschaft dieser Bundesre-gierung in der Europäischen Union hat an ebendiesemProjekt gearbeitet. Ich finde, die Bundesregierung hatdie Präsidentschaft konstruktiv genutzt. Sie hat mit dazubeigetragen, daß die EU gestärkt worden ist.Wir danken der Bundesregierung dafür, daß sie das ge-tan hat.
Ich sage das mit aller Deutlichkeit, weil Sie, HerrHaussmann, vorhin die Bundesregierung kritisiert ha-ben. Sonst hätte ich diese etwas überzogene Positionnicht bezogen.
Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zu dem ma-chen, was Sie gesagt haben, Herr Haussmann. Sie habendie WTO angesprochen. In diesem Zusammenhang ha-ben Sie zu berücksichtigen, daß der amerikanische Prä-sident, als die WTO in Marrakesch in neuer Form ge-gründet worden ist, dafür hat werben wollen und es hatdurchzusetzen versucht, daß in der WTO soziale Min-deststandards und Umweltmindeststandards einzubezie-hen sind. Ihre Regierung hat das damals verhindert. Dashat mit dazu beigetragen, daß die WTO einen Kernbe-stand von sozialen und Umweltstandards nicht berück-sichtigt hat. Diese Bundesregierung will in Seattle dafürsorgen, daß diese grundlegenden Standards in die WTOeinbezogen werden. An diesem Punkt sehen Sie, daß esnicht um Symbolpolitik, sondern um die klare Vertre-tung der sozialen Interessen der Arbeitnehmerschaft beiuns in Deutschland und in Europa geht.
– Lieber Kollege Haussmann, darüber werden wir, wennSeattle vorbei sein wird, noch einmal reden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Jahr 1999 ist dieFurcht, die Ossip Mandelstam geäußert hat, als er amEnde des letzten Jahrhunderts in das neue Jahrhundertgeblickt hat, nicht in Erfüllung gegangen. Er hat gesagt,es komme ein „Wolfshundjahrhundert“. Ja, viele Zügein diesem Jahrhundert haben dieses Wolfshundgesichtgehabt. Aber am Ende dieses Jahrhunderts gibt es posi-tive Perspektiven: einen europäischen Verdichtungs-raum der Integration und Angebote für andere Räume,die noch nicht in diesen Integrationsprozeß einbezogensind. Ich wünsche mir, daß diese Bundesregierung – dashat sie in diesem Jahr auch schon gezeigt – auf diesemWeg des Angebotes einer erweiterten Integration voran-schreitet, damit Europa ein Kontinent des Friedens wird.
Als nächster Redner
spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Peter
Hintze.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir führen diese Debatte indem Bewußtsein, daß es die letzte Haushaltsdebatte imzu Ende gehenden 20. Jahrhundert ist und es zugleichum den ersten Haushalt im anbrechenden 21. Jahrhun-dert geht.
Mit dem neuen Millennium erleben wir einen Datums-wechsel. Eine Zeitenwende ist es nicht. Politisch undökonomisch ist sie schon geschehen. Seit 1989 leben wirin Europa in einem neuen Zeitalter.
Das verdanken wir dem Freiheitswillen der Menschen,und nicht zuletzt verdanken wir das der Standfestigkeitder westlichen Politik.
Der Weg einer verstärkten wirtschaftlichen und poli-tischen Integration im Westen Europas war erfolgreich.Dagegen erschien der politische und ökonomische Miß-erfolg des Kommunismus und seiner Idee vom Zusam-menschluß unter Führung der Sowjetunion um so drasti-scher. Der Wunsch, zum freien Teil Europas zu gehören,hat die Menschen von Tallinn bis Sofia auf die Straßegebracht. Unsere offene Sympathie für ihren Mut hatihnen einen guten Teil der Kraft gegeben, die friedlichenRevolutionen zum Erfolg zu führen.Das Wissen um das Privileg, für Europa dauerhaftund umfassend Stabilität in Frieden und Freiheit schaf-fen zu können, macht auch Enttäuschungen auf demschwierigen Weg der Einigung Europas leichter ver-Gert Weisskirchen
Metadaten/Kopzeile:
6584 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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kraftbar und rechtfertigt den materiellen Aufwand alseine Investition in eine gemeinsame gute Zukunft. AmEnde des dramatisch verlaufenden 20. Jahrhunderts – dastimme ich mit meinem Vorredner überein – leben wirim besten Europa, das es je gab. Daß wir an diesemProjekt weiterarbeiten können, ist eine Sache, die unsverbindet und die uns auch stärken kann.
West und Ost waren in Europa nicht nur geographi-sche Kategorien. West und Ost symbolisierten über vierJahrzehnte hinweg gegensätzliche politische Begriffe:frei gegen unfrei, demokratisch gegen diktatorisch,marktwirtschaftlich gegen planwirtschaftlich, erfolg-reich gegen erfolglos und menschlich gegen unmensch-lich. Wie in Deutschland muß auch in Europa dieschwere kommunistische Erblast abgetragen werden.Das wirtschaftliche Desaster, die ökologische Katastro-phe und die menschliche Tragödie als Ergebnis der lin-ken Diktatur haben tiefe Wunden auf unserem Kontinentgerissen.Die Europäische Union leistet bereits heute erhebli-che Unterstützung für den Reformprozeß in den mittel-und osteuropäischen Staaten, damit dieser gelingt. Dieerfolgreichen Programme Phare und Tacis sind hier zunennen. Doch die wirksamste Wirtschaftshilfe ist eineklare Perspektive für den Beitritt zur Europäischen Uni-on.
Sie bietet Sicherheit für die Investoren, stärkt die demo-kratischen Regierungen in den Beitrittsländern und gibtden Menschen dort Hoffnung für eine dauerhaft bessereZukunft in ihrer Heimat in Europa.
Nun haben wir auch in dieser Debatte immer wiederdas Thema des richtigen Datums erwähnt. Der KollegeHaussmann hat es gerade dazwischengerufen. Ich findeeines wichtig: Die Qualität dieses Prozesses und dasTempo dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.Die Beitrittskandidaten brauchen eine klare Perspektive,um bei sich zu Hause die Reformen, die sie beitrittsfähigmachen, durchzusetzen. Wir haben die Pflicht undSchuldigkeit, alles daranzusetzen, um unsere Erweite-rungsfähigkeit zügig herzustellen und diesen Prozeß zueinem guten Ergebnis zu bringen.
Als unglücklich empfinde ich die Leichtfertigkeit, mitder die Bundesregierung immer neue EU-Mitglied-schaften in Aussicht stellt. Ich erinnere an die Worte inRichtung Balkan, aber auch an die Hoffnungen, die jetztvoreilig in der Türkei geweckt werden. Vor der Fragenach dem „wann“ muß immer auch die Frage nach dem„ob“ gestellt werden. Die Frage nach dem „ob“ ist anklare Kriterien gebunden. Das ist doch wohl klar. Obdiese Kriterien erfüllt werden, ist zunächst einmal imFalle der Türkei eine Frage an die Türkei selbst. Zur Zeiterfüllt sie diese Kriterien nicht. Politische Defizite, etwain der Menschenrechtspolitik oder in der Frage nach derRolle des Militärs, aber auch in wirtschaftlichen Fragenmüssen vor der Einleitung einer wie auch immer gear-teten Beitrittspolitik klar ausgeräumt sein.
Das Dilemma, das wir dem Bundesaußenminister, Ih-nen, Herr Fischer, verdanken, liegt darin, daß in derTürkei eine Nichtgewährung des offiziellen Kandidaten-status nach Ihren Einlassungen beim Europäischen Ratin Helsinki als schwerer Affront empfunden würde. Siehaben dadurch die Entscheidungsfreiheit der Europäi-schen Union deutlich beschädigt. Wir wollen der Türkeikeine unhaltbaren Versprechungen machen, die uns vor-eilig binden. Die Fairneß gegenüber dem Nato-Partnerverlangt allerdings die Einlösung der in der Vergangen-heit gegebenen Zusagen. Im Finanzprotokoll wird im-mer auf Griechenland verwiesen, wir verweisen hier aufdie Grünen und auf die Sozialdemokraten im Europäi-schen Parlament, die unserem Bündnispartner bisher dieZustimmung verweigert und das Finanzprotokoll blok-kiert haben. Diese Blockade muß aufgehoben werden.Ziel der nächsten Reform der EU-Verträge ist es,die Europäische Union baldmöglichst erweiterungsfähigzu machen. Alle Fragen, die für die Erweiterung wichtigsind, müssen deswegen rasch auf den Tisch. Das be-deutet für die Regierungskonferenz die Konzentrationauf die wichtigsten Themen, aber nicht die Beschrän-kung auf die „left overs“.Wir müssen jetzt Europa definieren, das heißt, wirmüssen über die Grenzen und darüber sprechen, wie wiruns Europa vorstellen. Wir müssen die Institutionenhandlungsfähig machen, um dieses Europa wirksam zugestalten.
Ich persönlich finde den Vorschlag von Jean-Luc De-haene, Richard von Weizsäcker und Lord Simon über-zeugend, die bestehenden Verträge aufzuteilen. Ein kur-zer, leicht verständlicher Text sollte Vorläufer eines eu-ropäischen Verfassungsvertrags sein, der die Grund-rechte enthält, institutionelle Fragen klärt und die Kom-petenzabgrenzung vornimmt. Ein zweiter Vertragsteil,der einfacher zu handhaben ist als das bisherige kompli-zierte Ratifizierungsverfahren, sollte die Regelungen dereinzelnen Politiken beinhalten. Dazu gehört auch einweitgehender Übergang zu Mehrheitsabstimmungen imMinisterrat. Nur so können Blockaden und unangemes-sener Druck verhindert werden.Das Europäische Parlament sollte das Recht erhalten,den Präsidenten der Kommission zu wählen und künftigüber den gesamten Haushalt der Europäischen Unionmit zu entscheiden.
Die Europäische Union würde sich dadurch in Richtungauf ein parlamentarisches System weiterentwickeln. Inihm wäre ein in seinen Legislativrechten gestärktes Eu-ropäisches Parlament als Vertretung der Bürger EuropasPeter Hintze
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die erste Kammer und der Rat als Vertretung der Staatendie zweite Kammer.Das Europäische Parlament hat die nationalen Parla-mente eingeladen, Vertretungen in Brüssel und Straß-burg, also Kontaktbüros der nationalen Parlamente beimEuropäischen Parlament, zu errichten. Der Vorsitzendedes Europaausschusses, Friedbert Pflüger, hat hier dieAnregung gegeben, daß wir als Deutscher Bundestagdas tun.
Ich möchte das für die CDU/CSU-Fraktion nachdrück-lich unterstützen und rufe die anderen Fraktionen auf,sich daran zu beteiligen.
Wir können uns nicht darüber beschweren, daß mancheDinge in Brüssel oder Straßburg an uns vorbeigehen,wenn wir die Chancen und Möglichkeiten zu einer sol-chen Verknüpfung nicht nutzen.Nun hat mein verehrter Vorredner, wie auch heutemorgen der Bundeskanzler, die Agenda 2000 als einegroße Grundlage für eine positive Gestaltung des Er-weiterungsprozesses gepriesen. Liebe Kolleginnen undKollegen, der Bundeskanzler hat sogar gesagt, dieAgenda 2000 wäre ein Durchbruch für Europa. Ich mußsagen: Es war eher ein Einbruch für Europa,
nämlich eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamenNenner mit schwerwiegenden Folgen, nämlich mit derFolge, daß weder in der Agrarpolitik noch in der Struk-turpolitik, noch in der Finanzpolitik die Voraussetzun-gen für die Erweiterung wirklich gelegt sind. Die mate-rielle Basis ist mehr als fragil.Zu der ganzen Kette von Pannen und Fehlern dieserRegierung gehört, daß im Vorfeld dieser Konferenz inBerlin etwa die Kofinanzierung bei den Direktbeihilfenfür die Einkommen der Landwirte ohne jede Gegenlei-stung fallengelassen und damit die Chance, hier einengrundlegenden Ausgleich sicherzustellen, aufgegebenwurde. Das war ein schwerer Fehler, der uns im Erwei-terungsprozeß noch zu schaffen machen wird.
Wenn am 17. Dezember dieses Jahres in Brüssel mitder Ausarbeitung der Grundrechtscharta der Europäi-schen Union begonnen wird, bedeutet dies nicht nur dieErfüllung einer seit langem bestehenden Forderung desDeutschen Bundestages. Die Grundrechtscharta bietetdie große Chance, uns am Ende dieses JahrhundertsKlarheit über den weiteren Fortgang der europäischenIntegration und über die künftige Gestalt der Union zuverschaffen. Der Deutsche Bundestag wird morgen fürdie Sozialdemokraten Professor Meyer als ordentlichesMitglied und für die CDU/CSU-Fraktion Peter Altmaierals stellvertretetendes Mitglied des Konvents entsenden.Das sind zwei in europäischen Grundrechtsfragen aus-gewiesene Kollegen. Ich habe für uns die Anregung, daßwir diese Debatte über die Grundrechte in Europa undüber die zukünftige Gestalt Europas nicht allein diesemKonvent überlassen, sondern daß wir die Mitwirkungunserer Kollegen nutzen, um diese Debatte auch hier imDeutschen Bundestag parlamentarisch zu begleiten.
Wo ich gerade bei den Anregungen bin: Meine sehrgeehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, am 6. Dezember
– ist nicht nur der Nikolaustag, wie Frau Kollegin Rothzutreffend reinruft. Am 6. Dezember muß der Rat dar-über entscheiden, ob er dem derzeitigen Inhaber desAmtes des Koordinators für den Stabilitätspakt auf demBalkan, Herrn Bodo Hombach, einen neuen Auftrag fürdas kommende Jahr erteilt.
Ich habe von zwei führenden, nein, führend sind sienicht mehr: von zwei prominenten Sozialdemokratengelesen bzw. gehört, Hombach sei im Kanzleramt eineKatastrophe gewesen. Ich kann das nur teilweise beur-teilen. Ich kann nur sagen:
– Er meint, er war total eine Katastrophe; in Ordnung. –Die Regierung hätte die Chance, Europa einen Dienst zuerweisen, dem Balkan einen Dienst zu erweisen, einenschwerwiegenden Fehler zu korrigieren und einmal einevernünftige Personalentscheidung zu treffen und diesesMandat für Herrn Hombach nicht zu verlängern unddamit Europa wirklich etwas Gutes zu tun.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun-
mehr der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fi-
scher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Opposi-tion hat heute in ihrer Kritik am Einzelplan 05 ein weitesFeld aufgetan: von der wuchtig vorgetragenen Eröff-nungskritik des Kollegen Frankenhauser – er ging sehrin die Details des Einzelplans – bis hin zu den die Zei-tenwende beschwörenden Ausführungen des KollegenHintze, der sich noch schwertut. In der Beurteilung derPeter Hintze
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Frage, wieweit jemand politisch eine Katastrophe ist,sind Sie ohne jeden Zweifel besonders berufen und be-fugt, Herr Kollege Hintze.
Sie haben im bekannten Tremolo einer Predigt alsparlamentarischer Sendbote der Zeitenwende vom zuEnde gehenden 20. Jahrhundert – man könnte noch hin-zufügen: vom sich wendenden zweiten christlichenJahrtausend, das sich ebenfalls anschickt, sich zu verab-schieden – gesprochen. Wenn man Ihr Niveau aufneh-men würde, Herr Kollege Hintze, dann würde man sa-gen: Es gibt doch tatsächlich so etwas wie Fortschritt:Früher war es Nostradamus, der diese unheilsschwange-ren Prophezeiungen ausgesprochen hat; heute sind Siees. Dies begreife ich als echten Fortschritt.
Sie merken: Es juckt mich, in die politische Ausein-andersetzung mit einzusteigen; zumal hinter Ihnen derverehrte, nein: Herr Austermann sitzt.
Ich will mir weitere Bemerkungen aber verkneifen.Ich möchte mich in aller Kürze auf die wichtigenpolitischen Fragen, beginnend mit dem Einzelplan, kon-zentrieren. Ich möchte mich bei allen Berichterstattern –bei Ihnen, Herr Kollege Frankenhauser, bei den anderenBerichterstattern der Opposition und bei denen derKoalition – für die gute Zusammenarbeit, die wir im Zu-sammenhang mit dem Einzelplan 05 hatten und, wie ichhoffe, auch in Zukunft haben werden, bedanken.Natürlich ist der Einzelplan kein Haushaltsentwurf,der mich mit Freude erfüllt. Ich würde aber nicht sagen,daß uns der Finanzminister mit einem Einspardiktatmißhandelt. An diesem Punkt sage ich Ihnen klipp undklar: Wir stehen zu der Konsolidierungspolitik, weil siealternativlos ist.
Auf der anderen Seite müssen wir hier klar sagen: Eswar notwendig, jetzt die Einsparleistung von über7 Prozent zu erbringen. Sie kennen den Einzelplan vielbesser als die meisten anderen Kollegen. Wir mußten beidieser Einsparleistung von über 7 Prozent und bei dengeringen uns zur Verfügung stehenden Programmittelnans Eingemachte gehen. Wir mußten Entscheidungennicht zwischen Gut und Schlecht, sondern zwischenSchlecht und Schlechter treffen. Wir mußten Entschei-dungen über Schließungen und über Einsparleistungenbei Programmitteln treffen, deren Entwicklung ich, mitVerlaub gesagt, gerne in eine andere Richtung – anstei-gend und nicht abnehmend – sehen würde. Ich würdegerne Generalkonsulate genauso wie Goethe-Institutenicht schließen, sondern offenhalten. Ich würde gernefür die Auslandsschulen und für die auswärtige Kultur-politik mehr Mittel haben. Aber angesichts dessen, waswir vorgefunden haben, führt am Konsolidierungskurskein Weg vorbei.
Ihre Kritik darf sich nicht darin erschöpfen – das kannman bei jeder Einzelplanberatung nachvollziehen –, daßSie hier das Beklagenswerte feststellen – eine Oppositi-on muß das tun –, aber keine Alternativen – außer der,daß man nicht mit dem Rasenmäher sparen soll – auf-zeigen. Hinsichtlich unserer Kürzungsvorstellungenwürde ich mir etwas mehr Konstruktivität auch in derDebatte wünschen. Sie haben bei den Berichterstatterge-sprächen durchaus Konstruktivität an den Tag gelegt.Dort waren unsere Ansichten in wesentlichen Punktengar nicht so kontrovers, wie es jetzt den Anschein hat.
Was die Schließung der Konsulate angeht, möchte ichnochmals betonen: Wir wollen alles versuchen, um denBedürfnissen der Minderheiten gerecht zu werden. DieEntscheidungen werden ausschließlich nach Kürzungs-kriterien getroffen und sind nicht Ausdruck einer gegenMinderheiten gerichteten Politik. – Bitte schön.
Vielen Dank, daß
Sie mir die Arbeit abnehmen, Herr Außenminister. Sie
haben das Wort zu einer Zwischenfrage erteilt.
So sind wir, Herr Präsident.
Ihre Aussage, es habe keineAlternativvorschläge gegeben, hat mich etwas verletzt.Ich habe Ihnen, Herr Bundesaußenminister, im Aus-schuß und auch in der Öffentlichkeit die Frage gestellt,ob es nicht eine Alternative gewesen wäre, zu prüfen,inwieweit die Großbotschaften in den europäischenHauptstädten ausgedünnt werden können.
Wir leisten uns Großbotschaften im Stile des19. Jahrhunderts, obwohl es längst eine europäisch-politische Zusammenarbeit und eine GemeinsameAußen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Uniongibt. Wäre es nicht besser gewesen, die Mittel für dieBotschaften in Paris, in London, in Rom und in Madridum jeweils 10 bis 20 Prozent zu kürzen, anstatt Bot-schaften, Goethe-Institute und Konsulate in Afrika zuschließen? Die deutsche Wirtschaft unterhält heute inder EU Wirtschaftsbeziehungen zu ihren Partnern aufbilateraler Ebene. Für ihre Unterstützung sind keineGroßbotschaften mehr notwendig.Ich möchte nicht den Vorwurf auf mir sitzen lassen,nicht auf Alternativen, die sich uns bieten, aufmerksamgemacht zu haben. Ich habe den Eindruck, daß unsereAnregungen von Ihnen lediglich nicht aufgegriffen wor-den sind und daß deswegen überhaupt nichts geschehenist. Natürlich ist es einfacher, irgendeine Botschaft inBundesminister Joseph Fischer
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Afrika zu schließen, als einem Botschaftbedienstetenoder einem Diplomaten in Paris klarzumachen, daß seinPosten gestrichen wird; denn jeder Mitarbeiter des Aus-wärtigen Amtes geht lieber nach Paris als nach Ouaga-dougou. Dafür habe ich Verständnis. Aber man sollteanfangen, dort zu kürzen, wo es notwendig und möglichist.
Das war eine
Kurzintervention und keine Zwischenfrage. Dies sollten
wir künftig vermeiden.
Bitte schön, Herr Minister.
Dies war eine sehr umfängliche Frage. Wenn die Kür-
zungsvorschläge proportional zur Länge der Frage sind,
dann müßten die Mittel für die Botschaften sogar aufge-
stockt werden.
Ich möchte Ihnen Ihre Frage klipp und klar und in
aller Kürze beantworten: Die von Ihnen angesprochenen
Botschaften haben bereits ganz erhebliche Ausdünnun-
gen hinter sich. Herr Kinkel, der vor Ihnen sitzt, weiß
dies ganz genau. Die Frage der Kürzung werden wir
weiter diskutieren müssen, vor allem im Zusammenhang
mit dem Zusammenwachsen Europas. Natürlich steht
die Frage, was mit den Generalkonsulaten im EU-Raum
geschehen soll, an erster Stelle, Apenrade als Stichwort;
allerdings gibt es hier ein Minderheitenproblem, das erst
gelöst werden muß. Ich sage Ihnen hier klipp und klar:
Wir müssen die vorhandenen Möglichkeiten, weitere
Einsparungen vorzunehmen, in den kommenden Jahren
nutzen. Wir stehen erst am Beginn dieser Phase.
Mich bedrückt viel mehr, daß wir angesichts der Be-
deutungszunahme der Außenpolitik des vereinigten
Deutschlands und angesichts des Bildes, das sich die
Welt von uns macht, diese Sparpolitik in den kommen-
den Haushaltsjahren werden überdenken müssen. Wir
werden auf Dauer nicht mit weniger Mitteln mehr lei-
sten können. Dies wird nicht gutgehen. Deswegen sage
ich Ihnen: All dies wird bedacht und ist auch schon teil-
weise bedacht worden. Aber eine Ausdünnungspolitik
ist bereits in den vergangenen Jahren betrieben worden.
Selbst dann, wenn wir nur den Ist-Zustand in unserem
Haushalt fortgeschrieben hätten, hätten wir die eine oder
andere Botschaft schließen müssen, weil es nicht ver-
tretbar gewesen wäre, sie auf Dauer in ausgedünnter
Form aufrechtzuerhalten.
Gestatten Sie, Herr
Minister, eine Zwischenfrage des Kollegen Hornhues?
Bei Herrn Hornhues kann ich nicht nein sagen.
Das ist nett
von Ihnen, Herr Außenminister. Nicht Apenrade, sondern
Afrika war angesprochen. Sie schließen Botschaften in
Ländern, die nachweislich zu den problematischsten Kri-
senregionen gehören und wo ständig mit der Ausweitung
von Krisen gerechnet werden muß. Glauben Sie nicht,
daß die Einsparungen besser woanders vorgenommen
worden wären? Erinnern Sie sich nicht an Ihre eigenen
Vorstellungen zur Krisenprävention, die Sie bei anderen
Diskussionen vertreten haben? Sind Sie wirklich über-
zeugt, daß Ihre Streichungen alternativlos waren?
Herr Vorsitzender – Sie sind Vorsitzender der Afrika-Gesellschaft –, dies ist eine verdienstvolle Arbeit. Inso-fern verstehe ich Ihre Zwischenfrage. Ich würde amliebsten gar keine Botschaft schließen, vielleicht voneiner Ausnahme abgesehen, die ich jetzt nicht nenne. Ichhabe großen Wert darauf gelegt, daß in Sarajevo einGoethe-Institut eröffnet wird, obwohl eine Vielzahl vonGoethe-Instituten angesichts des strukturellen Bedarfsgeschlossen werden mußte. Hier befinde ich mich in ei-nem inneren Widerspruch.Wenn Sie ehrlich sind und von der Parteipolitik ein-mal absehen, dann müssen Sie zugeben, daß die Beiträ-ge der Opposition nicht sehr hilfreich waren. Wir müs-sen feststellen, daß es auf der einen Seite einen unab-weisbaren Haushaltssanierungsbedarf und auf der ande-ren Seite ein Mehr an politischen Aufgaben gibt. Mitdiesem Widerspruch muß die Koalition, muß diese Bun-desregierung fertig werden. Wir werden diesen Wider-spruch lösen, indem wir unsere Hausaufgaben im Inlandmachen, so daß wir nicht nur in bezug auf diesen Ein-zelplan, sondern auch in bezug auf den Verteidigungs-haushalt und die Entwicklungshilfe, also für den ge-samten Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, inden kommenden Jahren die notwendigen Aufwüchsewerden haben können.
Lassen Sie mich in den zehn Minuten, die mirzur Verfügung stehen, noch auf einige Substanzpunkteeingehen. Ich denke, das ist in dieser Debatte sehr wich-tig.Bedauerlicherweise hat Istanbul in der heutigen De-batte nur am Rande eine Rolle gespielt. Ich möchte Ih-nen nochmals klarmachen: Die Situation in Istanbul warunter vielen Gesichtspunkten eine sehr schwierige. Ichbin sehr froh, daß es gelungen ist, eine solche Lösungherbeizuführen. Sie war überschattet durch den Krieg inTschetschenien.Zu dem Vorwurf, daß die Bundesregierung es anKlartext habe fehlen lassen, kann ich nur sagen: Wir wa-ren diejenigen im Bündnis, die in den öffentlichen undinternen Diskussionen darauf gedrängt haben, daß wirmehr Klartext mit Rußland sprechen, daß wir nicht nurdarauf hinweisen, daß eine humanitäre Katastrophe da-mals im Anlaufen war – heute ist sie da – und daß esnicht geht, unter dem Banner der Terrorismusbekämp-fung einen Krieg gegen ein Volk zu führen. Es ist viel-mehr auch darauf hinzuweisen, daß Rußland dabei ist,sich dort in einen Kolonialkrieg zu verstricken, der diegesamte Region destabilisieren wird und meines Erach-Ulrich Irmer
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tens auch destabilisierende Auswirkungen auf die Ent-wicklung der russischen Demokratie haben wird.
Wir haben in den Gesprächen mit der russischen Seitedaran niemals auch nur einen Zweifel aufkommen las-sen. Umgekehrt aber haben wir auch ein Interesse an derEntwicklung der russischen Demokratie. Bisher war esKonsens deutscher Politik, parteiübergreifend hier indiesem Hause, daß wir ein elementares Interesse an Sta-bilität, Demokratie und Marktwirtschaft in Rußland ha-ben. Insofern stehen hier zwei Interessen im Wider-spruch. Das muß man auch so offen sagen.In diesem Rahmen ist es uns gelungen – der deutscheAnteil war da nicht unerheblich –, einen Zusammen-bruch des OSZE-Prozesses zu verhindern, der durchausfür einen längeren Augenblick drohte, und die konven-tionelle Rüstungsbegrenzung, die KSE-Adaption, zu er-reichen, und zwar mit erheblichen Fortschritten. So ha-ben wir jetzt einen Abzugsplan für Moldawien und fürden Abzug der russischen Truppen aus Georgien. Aser-baidschan und Armenien werden sich wieder an einenTisch setzen, und wir haben die Adaption des Rüstungs-kontrollregimes auf die neuen Bedingungen hin. Vorallem die baltischen Staaten und andere ost- und mittel-europäische Staaten hatten ein massives Interesse daran,daß wir die Charta mit einem klaren Bekenntnis dafürhaben, daß es legitim ist, sich in die inneren Angelegen-heiten der Mitgliedstaaten seitens der OSZE einzumi-schen, wenn es dort Entwicklungen gibt, die sicherheits-relevant sind.
Schließlich ist es gelungen, der OSZE eine politischeund nicht nur eine humanitäre Rolle bei der Lösung desTschetschenien-Konflikts – inklusive einer Reise desVorsitzenden Vollebæk, des norwegischen Außen-ministers, dorthin – zukommen zu lassen.Das war alles schwer genug. Ich bedaure, daß es nichtgelungen ist, Rußland von einer Abkehr von der bisheri-gen Politik zu überzeugen und davon, zu einer politi-schen Lösung zurückzukehren.Wenn hier der Vergleich mit Kosovo gezogen wird –diesen Vergleich haben wir überhaupt nicht zu scheuen –,dann sage ich Ihnen: Im Kosovo war das Ziel, einerPolitik des Nationalismus, der ethnischen Säuberungentgegenzutreten und sie zu beenden und eine Perspek-tive der Demokratie, der Kooperation, des Heranführensan das Europa der Integration zu erreichen. Das habenwir erreicht und werden es mit dem Stabilitätspaktdurchsetzen.
Ich frage Sie: Was ist das politische Ziel im Kauka-sus? Sehen Sie hier nicht die Substanzunterschiede?
– Sehen Sie, er ist wenigstens ehrlich – im Gegensatz zumanch anderem. Er sagt, daß er natürlich den Unter-schied sieht.Ich möchte hier nochmals eindeutig darauf hinwei-sen: Der Konflikt auf dem Balkan, in Südosteuropa wirderst dann zu Ende sein, wenn sich die Demokratie inBelgrad durchgesetzt hat. Deswegen werden wir alle un-sere Kräfte darauf konzentrieren, gemeinsam mit derdemokratischen Opposition diesen Prozeß hinzube-kommen.
Lassen Sie mich kurz noch zwei andere Punkte an-sprechen. Zunächst zum Thema Europa. Auf Grund derKürze der Zeit kann ich es nur im Telegrammstil ma-chen. Herr Haussmann,
ich kann Ihnen nur sagen: Daß Sie die Qualität der neuenKommissare ansprechen – ich hatte mit Romano Prodijüngst ein Gespräch; da klang das völlig anders –, daßausgerechnet die F.D.P. sich über die Qualität derKommissare ausläßt, ist schon bemerkenswert.
Zur Frage der Generaldirektoren: An Stelle der F.D.P.würde ich im Zusammenhang mit Kommissaren denBegriff „Direktor“ gar nicht in den Mund nehmen, denn,wenn ich es richtig sehe, ist Herr Bangemann nochF.D.P.-Mitglied. Sie dürften sich nur zu gut erinnern,daß dieses Jahr keinesfalls ein Ruhmesblatt Ihrer euro-päischen Personalpolitik darstellt. Ich bitte Sie, HerrHaussmann!Bei dem, was Sie als Zweites in diesem Zusammen-hang angesprochen haben, haben Sie fast das Niveauunterschritten, das Herr Hintze vorgegeben hat. Das zuunterschreiten ist eigentlich eine Kunst.
Das hätte ich von Ihnen, Herr Haussmann, nicht erwar-tet. Herr Hintze hat ja selber zugegeben, daß er es mitder Logik nicht so hat.
Als Theologe muß man auch nicht unbedingt Logikersein.
Auf der einen Seite sagt Herr Hintze nämlich, die Er-weiterung der EU solle möglichst schnell kommen.Darin stimme ich ihm völlig zu. Gleichzeitig sagt eraber: Ihr habt die Voraussetzungen für die Erweiterungbeim Gipfel in Berlin nicht geschaffen. Trotzdem forderter, sie soll möglichst schnell kommen. Diese beidenAussagen kann man nur mit theologischer Intuitionzusammenbringen.Bundesminister Joseph Fischer
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Das, was Sie hier zum besten gegeben haben, hat mitLogik nichts zu tun. Ich rate Ihnen, Herr Hintze: FahrenSie nach Warschau, Prag und Budapest, und fragen Sieeinmal dort die Vertreter der Parlamente, die proeuro-päisch orientiert sind, oder gar die Regierungen, was sievon der Agenda 2000 und vom Ergebnis der deutschenPräsidentschaft halten. Wenn Sie ehrlich sind, werdenSie nach Ihrer Rückkehr sagen: Mit diesen Vorhaben istder erste Schritt für die Erweiterungsfähigkeit der EUgetan worden. Der zweite Schritt wird auf der Regie-rungskonferenz getan werden.
Dann sind wir da, wohin diese Bundesregierung immerwollte. Die Bundesregierung hat immer gesagt, wir soll-ten den 1. Januar 2003 als konkretes Datum festsetzen –nicht als visionäres, sondern als konkretes Datum –, zudem wir erweiterungsfähig sind. Wenn dann die Ver-handlungen mit den Beitrittsländern abgeschlossen sind– das hängt ja von diesen ab –, werden wir denErweiterungsprozeß, den ich für dringend notwendighalte, so schnell wie möglich zu einem Abschluß brin-gen.
– Nicht „na also“, das war schon immer unsere Position.
Dazu bedurften wir nicht der Hilfe von Herrn Hauss-mann.Lassen Sie mich in dem Zusammenhang noch einenzweiten Punkt ansprechen.
– Richtig, die Türkei. – Daß Sie sich hier nach dem De-bakel, das Sie in der Türkei-Politik verursacht haben,hinstellen! Man sieht doch, wohin Ihre Türkei-Politik inden letzten drei Jahren geführt hat.
Ich will Ihnen gerne einmal die Frage der Menschen-rechte in diesem Punkt durchdeklinieren. Hat die Tür-kei-Politik der damaligen Bundesregierung, die von demGrundsatz ausging, daß die EU eine Organisation deschristlichen Abendlandes sei – was in der Türkei alsschwerste Zurückweisung empfunden wurde –, dazu ge-führt, daß die Menschenrechtsbedingungen in der Türkeiverbessert sowie ökonomische und politisch-demo-kratische Modernisierung vorangebracht wurden? Ichkann nur sagen, all dieses ist schlechter geworden.
Die Lage in der Türkei schätzen wir doch völlig reali-stisch ein. Sie müssen mich nun wirklich nicht belehren,wie die Realitäten aussehen. Vergleichen Sie einmal Ih-ren Länderbericht Türkei mit unserem LänderberichtTürkei. Dann finden Sie auch gleich eine Antwort aufIhre Frage nach den Menschenrechten.
Ich habe im Gegensatz zu anderen auch nicht dasZipperlein bekommen, als ich dem Dalai-Lama gegen-überstand. Das wollte ich Ihnen an dieser Stelle aucheinmal ins Stammbuch schreiben. Für Peking ist klar,daß man mit uns in der Menschenrechtsfrage nicht soSchlitten fahren kann wie mit einigen Mitgliedern derVorgängerregierung. Auch das möchte ich Ihnen insStammbuch schreiben.
Bei der Türkei-Politik geht es doch darum, ob wir derTürkei eine europäische Perspektive eröffnen, die zu ei-ner inneren, nicht nur ökonomischen, sondern auch de-mokratischen und rechtsstaatlichen Modernisierungführt – diese Perspektive kann nur die EU bieten –, oderob wir darauf verzichten. Das würde bedeuten, daß dieTürkei isoliert bleibt, und hätte fatale Konsequenzen, dadas EU-Mitglied Griechenland direkter Nachbar derTürkei ist. Wir reden hier doch nicht nur über Theorien.Schauen Sie sich doch die Entwicklung des griechisch-türkischen Verhältnisses im Zusammenhang mit derveränderten Türkei-Politik der Europäischen Union an.Sie können doch schon feststellen, daß es positive Er-gebnisse bis hin zur Wiederaufnahme der Gesprächeüber Zypern gibt.
Daß Sie, Herr Hintze, diese Ausrichtung der Politikmir persönlich zuschreiben, ist zwar schön, zeigt abernur, wie schlecht oder unvollständig Sie informiert sind.Der Bundeskanzler hatte einen Briefwechsel mit Pre-mier Ecevit; der französische Präsident Chirac hat ge-genüber der türkischen Regierung gerade erklärt, er seischon immer dafür gewesen. Ich würde für mich nie inAnspruch nehmen wollen, daß ich Erfinder dieser Poli-tik bin. Ich halte sie für richtig und bemühe mich inmeiner Funktion als Außenminister der BundesrepublikDeutschland, diese von der Bundesregierung, vom Bun-deskanzler und von unseren Verbündeten als richtig er-kannte Politik entsprechend zügig voranzubringen.Darin sehe ich meine Aufgabe.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmalauf die allgemeine Entwicklung zu sprechen kommen.Sie haben die Frage der transatlantischen Beziehungenangesprochen. Ich gehe auf sie in einem weiteren Um-feld ein. Wenn wir nicht achtgeben, werden dunkleWolken auf uns zu ziehen.
Wir müssen aufpassen, daß es nicht zu einer Auseinan-derentwicklung kommt. Dazu muß es nicht kommen.Bundesminister Joseph Fischer
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Aber jenseits aller taktischen Argumente, die in Wa-shington auch eine Rolle gespielt haben, war mein Ein-druck, daß sich unterschiedliche Perspektiven der Welt-sicht und unterschiedliche Rollendefinitionen ergeben.Sie haben das Jahr 1979 angesprochen. Ich sehe inder Tat mit großer Sorge, daß die negative Entscheidungbeim Teststopp-Vertrag durchaus mehr als nur ein tak-tischer Fehler oder eine innenpolitisch gewollte Ent-scheidung sein kann. Wenn dem so wäre, dann meineich, daß die Bundesrepublik Deutschland bei aller Prio-rität der europäischen Einigung immer auch ein Interes-se an transatlantischer Rückversicherung haben muß,
und zwar nicht nur aus sicherheitspolitischen Gründen;da spielt auch die Stabilität in Europa insgesamt einesehr große Rolle.
– Jetzt hat man einmal einen Diskussionspartner beiIhnen gefunden, der ein ernstes Problem für die Zukunftanspricht, und da melden sich bereits wieder die Hinter-bänkler und wollen eine vernünftige, nach vornegewandte Diskussion unterbinden.
Aber ich lasse mich da nicht irritieren, Herr Schmidt,weil ich zu dem von Ihnen angesprochenen Punkt kom-men möchte, den auch ich für zentral halte.Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Frage,ob es in Zukunft eine unilaterale oder eine multilateraleOrientierung der amerikanischen Politik gibt. Gäbe eseine unilaterale Orientierung, machte mir dies, bezogenauf das Jahr 1979, das Sie genannt haben, große Sorgen.Eine multilaterale Orientierung hingegen machte eineBeantwortung der Fragen im transatlantischen Verhält-nis, die wir gegenwärtig diskutieren, wesentlich einfa-cher.
Ich ziehe daraus aber die Konsequenz, meine Damenund Herren, daß wir, egal, ob unilateral oder multilate-ral, begreifen müssen, daß der europäische Einigungs-zug Dynamik bekommen muß und daß die gemeinsameSicherheits- und Außenpolitik in Europa ganz ent-scheidend über das Gewicht und die Rolle Europasbestimmen wird.
Deswegen liegt hier ein Schwerpunkt der Bundesre-gierung. Das ist ein Kernpunkt; ich kann jetzt nicht mehrin die Details gehen. Das ist nicht nur eine Frage desGeldes, Herr Schmidt.
– Entschuldigen Sie, Sie können noch so viel Geldhaben. Es nützt nichts, wenn Sie nicht über die notwen-digen Strukturen verfügen, wenn Sie den gemeinsamenpolitischen Willen nicht haben,
wenn Sie die institutionellen Voraussetzungen und – dasstreite ich überhaupt nicht ab – die Hardware nicht ha-ben.Meine Damen und Herren, Sie haben vorhin nach denInteressen gefragt. Das Hauptinteresse unseres Landesist, fußend auf der Politik einer Selbstbeschränkung –das ist mit das Wichtigste, was wir als Stilelement vonder alten Westrepublik übernommen haben –, den euro-päischen Einigungsprozeß bis hin zur europäischendemokratischen Union als eigenes politisches Subjekt zuvollenden. Das steht an erster Stelle unserer Interessen.Sie haben den Begriff eingeführt; ich übernehme ihngern. Dieser Prozeß muß mit den transatlantischen Ver-hältnissen ausbalanciert sein, allerdings eingebunden indie multilaterale Politik, die die BundesrepublikDeutschland betrieben hat und auch von Berlin ausweiter betreiben wird.
Ich gebe das Wort
zu einer Kurzintervention dem Kollegen Peter Hintze.
Der Herr Bundesministerhatte, wie offensichtlich auch einige Kollegen auf derlinken Seite des Hauses, Probleme mit der Logik. Dassind wir bei ihm gewohnt. Das erleben wir bei fast jederRegierungsvorlage, bei fast jeder Regierungserklärung.
Aber wir wollen ihm helfen.Herr Bundesminister Fischer, wen kann es denn ver-wundern, daß die Staaten Mittel- und Osteuropas all ihreBeitrittshoffnungen auf das dürftige Fundament richten,das in Berlin geschaffen wurde? Sollen sie denn sagen:Das geben wir jetzt auf? Das kann doch niemand er-warten! Meine Damen und Herren, wichtige Fragen sindnicht beantwortet, andere Fragen sind falsch beantwortetworden. Und durch Beschwörungen wird aus einemStrohhalm kein Baumstamm. Das muß man in diesemZusammenhang einmal sagen.
Ich will dies kurz erläutern. Wir wissen ganz genau,daß die Erweiterung das ambitionierteste Projekt über-haupt ist. Es gibt große Bereiche, in denen wir erhebli-che Schwierigkeiten haben werden – die Verhandlungs-kapitel sind noch gar nicht eröffnet –: Landwirtschaft,Strukturfonds, Regionalpolitik. Für all diese Dinge hatBundesminister Joseph Fischer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6591
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die deutsche Regierung folgendes gemacht: Bundes-kanzler Schröder – es ist richtig, daß ich ihn stärker hättewürdigen müssen – hat vor der gesamten europäischenÖffentlichkeit großartig erklärt, er werde aufzeigen, waser im Unterschied zur Vorgängerregierung für Deutsch-land erreicht habe
und für Europa noch ordnen werde.
– Bleiben Sie ganz ruhig! – Und er hat seine eigenenWorte auf dem Gipfeldinner Löffelchen für Löffelchenessen müssen.Nun zu dem, was uns beschwert: Herr Fischer, Siehaben, wie ich finde, in einer eines Bundesaußen-ministers unwürdigen Weise gegen Kollegen des Hausespolemisiert und versucht, durch platte Beleidigungenüber den eigentlich großen Bruch in Ihrem Leben hin-wegzukommen, nämlich den Widerspruch zwischen Ih-ren Worten und Ihren Taten, die wir ja seit einiger Zei-ten beobachten müssen.
– Hören Sie auf, dazwischenzuschreien!
Ich weiß nicht, wer aus diesem Hause das Mißver-gnügen hatte, den Bundesaußenminister in einer seinerjüngsten Talkshows – ich weiß nicht, ob es die letztewar; sie war gestern oder vorgestern – zu erleben, in derdie entscheidende Frage gestellt wurde, wie denneigentlich der Fischer von vor 20 Jahren den Fischer vonheute beurteilen würde. Er hat immerhin – das fand ichanständig – wahrheitsgemäß geantwortet, das Urteilwürde kritisch ausfallen.Herr Minister, mich interessiert nicht Ihr dialektischerDialog mit sich selbst. Aber ich muß sagen: Unser Urteilüber Sie fällt auch höchst kritisch aus.
Ich denke aller-
dings, die Fraktionen sind sich darüber einig, daß es in
diesem Hause keine Hinterbänkler gibt, sondern Abge-
ordnete mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten und
gleicher Reputation.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den
Abstimmungen, und zwar zunächst über den Ände-
rungsantrag der Fraktion der CDU/CSU. Wer stimmt für
den Änderungsantrag auf Drucksache 14/2155? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? Der Änderungsantrag
ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen
der Opposition abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzel-
plan 05 in der Ausschußfassung. Wer stimmt dafür? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Einzelplan
05 ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim-
men der Opposition angenommen.
Ich rufe nunmehr auf:
Einzelplan 14
Bundesministerium der Verteidigung
– Drucksachen 14/1913, 14/1922 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Volker Kröning
Bartholomäus Kalb
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
Dr. Uwe-Jens Rössel
Es liegen Änderungsanträge der Fraktionen der
CDU/CSU sowie der PDS vor. Über den Änderungsan-
trag der CDU/CSU werden wir nach der Aussprache
namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für die
CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Dietrich Austermann
das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Wer über den Haushaltsent-wurf der Bundeswehr für das kommende Jahr redet, mußsich mit der Diskussion des letzten halben Jahres in derBundeswehr beschäftigen. Selten ist ein Minister auf of-fener Bühne so rasiert worden wie der Bundesverteidi-gungsminister.
Sein berechtigter und von uns getragener Widerspruchgegen die falsche Entscheidung des Finanzministers unddes Kabinetts, den Verteidigungsetat im kommenden Jahrum mehr als 1,7 Milliarden DM zu senken, war zwecklos.Nachdem zunächst versucht wurde, die Sparauflagezu ignorieren, wurde dann im August begonnen, dieVorhaben der Bundeswehr neu zu priorisieren, das heißt,es wurde der Versuch unternommen, nicht Vorhandenesin eine Reihe zu stellen und Projekte zu streichen, dienicht unbedingt im Jahre 2000 realisiert werden müßten.Dann folgte eine Diskussion zwischen dem Minister undden rotgrünen Haushaltsabgeordneten, die an Peinlich-keit kaum zu überbieten war. Fast jeden Tag war in derZeitung über Differenzen zwischen den Abgeordnetendes Haushaltsausschusses und dem Minister zu lesen.Schließlich gab es den Versuch, aus den zusätzlichenMitteln für den Kosovo-Einsatz, die unseres Erachtensin den Verteidigungsetat hineingehören – der Bundes-rechnungshof stimmt uns hierin zu –, einen Teil für dennormalen Bundeswehrbetrieb freizuschaufeln. Auch dagab es Widerstand der rotgrünen Haushaltspolitiker. SiePeter Hintze
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6592 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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konterten mit der Forderung nach einer Ausgabensperre,die wir dann schließlich gemeinsam verhindern konn-ten.Das Ergebnis bedeutet folgendes: Ohne die Verstär-kung aus dem Einzelplan 60 – Beteiligung der Bundes-wehr am Stabilitätspakt für Südosteuropa – sinken dieVerteidigungsausgaben im kommenden Jahr um3,6 Prozent gegenüber den Anmeldungen des Ministersim Kabinett. Dies bedeutet in Zahlen ein Minus von3,5 Milliarden DM gegenüber dem, was der Ministerselbst gewünscht hat.Den angeblich zusätzlichen Mitteln für die Bundes-wehr – heute ist davon in der Zeitung zu lesen –, die dieSPD-Fraktion bewilligt haben will, stehen die zusätzli-chen Aufgaben für den Kosovo gegenüber, nachdeminsbesondere die Ausgaben für Bosnien schon in dennormalen Etat einbezogen worden sind.Dies nennt man neudeutsch, in der Sprache des Bun-desverteidigungsministers und derer, die für ihn die Re-den schreiben, einen Beitrag zur Konsolidierung desBundeshaushaltes. Dazu sagen wir: Das ist genau derfalsche Zeitpunkt.
– Frau Kollegin, wenn Sie sich an die Aufgabenstellun-gen der früheren Jahre sowie an die Tatsache erinnern,daß gerade Sie in personam sich entschieden dagegengewehrt haben, neue Aufgaben zu übernehmen,
können Sie sich doch jetzt kaum mit Fug und Recht hierherstellen und fordern, die Bundeswehr müßte mehrMittel für internationale Einsätze haben.
Das kann doch wohl aus Ihrem Werdegang und dem,was Sie bisher gefordert haben, durch nichts gerechtfer-tigt werden.
Im übrigen dürften Sie wissen, daß im Entwurf vonMinister Waigel für die mittelfristige Finanzplanung zu-sätzliche Mittel bereitgestellt werden sollten. Darin liegtauch die Differenz zu dem, was jetzt als Haushaltsent-wurf vorgelegt worden ist.Auf Grund der neuen NATO-Strategie und der Ge-meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EUmuß die Bundeswehr materiell in die Lage versetzt wer-den, die neuen Aufgaben wahrzunehmen. Das betrifftbeispielsweise strategische Aufklärung, Transport odermanche andere zusätzliche Maßnahme. Dies muß ver-bunden sein mit einer Erhöhung oder Umstrukturierungder Verteidigungsausgaben.Es gibt aber einen zweiten Punkt, der dazu zwingt,daß wir zusätzliches Geld bereitstellen müßten. Siehtman die Ergebnisse der Kommission „GemeinsameSicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ sowie das, wasder Generalinspekteur dazu sagt, dürfte es ziemlich of-fenkundig sein, daß eine neue Struktur auch neueFinanzmittel braucht.Jetzt, bevor diese neue Struktur im Entwurf vorgelegtworden ist, einen Finanzdruck zu entfalten, kann dochnur bedeuten, daß man die Arbeit der Kommission, egalwie sie aussieht, von vornherein zur Bedeutungslosigkeitverdammt.Die notwendige Neustrukturierung, immer Bestand-teil des rotgrünen Koalitionsabkommens, findet imHaushalt 2000 und im 33. Finanzplan keine Basis. Dasheißt im Ergebnis, daß der verteidigungsinvestive Anteilin diesem Haushalt sinkt und der Anteil des Verteidi-gungsetats am Bundeshaushalt gegenüber dem Ansatzdes letzten Jahres von 10,3 auf 9,5 Prozent zurückgeht.Die Bundesrepublik stellt also effektiv prozentual weni-ger Mittel für Verteidigung bereit, als dies bisher derFall war.Wenn man mit der Truppe spricht – ich konnte das inden letzten Tagen an verschiedenen Standorten tun –,stellt man fest: Die Eingriffe haben verheerende Aus-wirkungen auf den Ausgabenbereich. Was bedeuten0,8 Milliarden DM weniger für das Personal? Die Folge:Dies wird erkauft durch einen Abbau von 1 000 zivilenMitarbeitern, durch einen Verzicht auf 5 000 Zeit- undBerufssoldaten, durch einen Verzicht auf 6 000 Grund-wehrdienstleistende und durch einen Verzicht auf 1 000Wehrübungsplätze. Das bedeutet einen Ausstieg ausdem sogenannten Sofortprogramm der Bundesrepublikzum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit. Vom Arbeits-markteffekt her gesehen bedeutet das unter dem Strich18 000 Arbeitsplätze weniger. Angesichts dessen kannman sich doch nicht hier herstellen und sagen, das allesspiele keine Rolle und habe keine Auswirkungen. Zudiesen Folgen führt allein die Einsparung beim Personalum 800 Millionen DM.Bei den verteidigungsinvestiven Ausgaben kommtes zu einer Kürzung um 1,9 Milliarden DM, im Bereich„Forschung, Entwicklung und Erprobung“ zu einer Kür-zung um 0,3 Milliarden DM und im Bereich „Militäri-sche Beschaffung“ zu einer Kürzung um 1,3 Milliar-den DM.
Alle Bemühungen der Bundeswehr zur Stärkung des in-vestiven Bereiches durch Aufwandsbegrenzung im Be-trieb und Straffung der Organisationen werden durchderartige Eingriffe zunichte gemacht.Was ist die Folge? Die Ausrüstung der Streitkräfteveraltet zunehmend. Im Jahre 2000 kann die Beseitigungdes Ausrüstungsdefizits – wie schon 1999 – nicht be-gonnen werden.Mit der kurzfristigen Reduzierung des Verteidi-gungshaushaltes ist die Balance zwischen dem finanziellMachbaren und dem zur Erreichung einer hinreichendDietrich Austermann
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ausgerüsteten Bundeswehr Erforderlichen nicht mehrausreichend gewahrt. Wir sagen deshalb: Die Haushalts-politik oktroyiert dem Verteidigungsminister bzw. demVerteidigungsetat die falsche Richtung auf. Rotgrünspart den Verteidigungsetat kaputt.
Meine Damen und Herren, die deutliche Kürzung derAusgaben für Forschung, Entwicklung und Erprobungsowie für den Bereich „Militärische Beschaffung“ be-einträchtigen und gefährden im Ergebnis die zukünftigeAufgabenerfüllung der Streitkräfte in hohem Maße undhaben, wie ich nachgewiesen habe, negative arbeits-markt- und in Zukunft auch industriepolitische Auswir-kungen bis hin zum Wegbrechen bislang sicherheits-politisch begründeter nationaler Kapazitäten der deut-schen Industrie. Dies wirkt sich selbstverständlich auchauf den Bereich „Zivile Forschung, Entwicklung undTechnologie“ aus, zumal Sie auch bei der Luftfahrt-forschung kürzen. Nach Erklärungen der DASA-Unternehmensführung bedeutet das, worüber bisher ent-schieden worden ist, allein im Hinblick auf die Verteidi-gungstechnik einen Abbau von mehr als 10 Prozent derArbeitsplätze in Süddeutschland im nächsten Jahr. Dassind – in absoluten Zahlen – 850 Arbeitsplätze in derwehrtechnischen Industrie.Vor kurzem ist ein etwas peinlicher Bericht des Bun-desverteidigungsministers mit der Überschrift „Ein Jahrim Amt – Eine Bilanz“ vorgelegt worden. Man könntediesen Bericht auch ironisch mit „Ein Enkel packt aus“überschreiben:
– Er hat sich ja so sehr auf die Urenkel bezogen, denenman bestimmte Ergebnisse nicht vorlegen kann. – Ziehtman das verharmlosende Fazit, das am Schluß diesesBerichtes steht, nachdem verschiedene Daten, Faktenund Zahlen aufgeführt werden, heran – gehen wir einmaldavon aus, daß dieser Jahresbericht, der bisher nicht üb-lich war, die Leistungen des Amtsinhabers, also desjeni-gen, der ein Jahr im Amt ist, positiv darstellen soll; dasist im wesentlichen eine Person; hinzu kommen die zweiParlamentarischen Staatssekretäre und diejenigen, dieaus politischen Gründen an die Spitze gehievt werdenmußten –,
dann stellt man fest, daß in diesem Papier über die Pro-bleme der Armee relativ wenig steht. Die Frage, wes-halb das Kabinett dem Minister die notwendigen Mittelverweigert, wird nicht beantwortet. Dies wird mit derFeststellung umschrieben, die Bundeswehr stehe ange-sichts gestiegener Haushaltszwänge an einem entschei-denden Punkt ihrer Entwicklung. Wohin die Entwick-lung gehen soll, ergibt sich aus diesem Papier nicht.
Alle warten ja nun auf den Bericht des nächsten Jahres.Wir sind der Meinung: Überall dort, wo Entschei-dungsbedarf bestand, ist möglicherweise schnell undkonsequent gehandelt worden. Es stellt sich jedoch dieFrage, ob auch richtig gehandelt worden ist. Eindeutigfalsch ist, daß alle Maßnahmen, wie in dem Bericht be-hauptet wird, so ausgelegt worden sind, daß sie eineModernisierung der Bundeswehr erleichtern würden.Ich kann davon nichts erkennen. Wenn kein Geld mehrvorhanden ist, ist diese Aufgabe kaum zu erledigen.
Das heißt, eine Schrumpfung ist angesagt. Die Kür-zungen des Haushaltes lassen keine andere Entschei-dung zu, als der Strukturkommission vorzuschlagen, dieArmee zu reduzieren. Wenn man bedenkt, daß jedesJahr im Rahmen des Finanzplanes durchschnittlich500 Millionen DM weniger zur Verfügung stehen, dannläßt die Entscheidung des Kabinetts nur den Schritt zu,in den nächsten vier Jahren pro Jahr 10 000 bis 15 000Stellen für Soldaten abzubauen. Das sind 60 000 Solda-ten weniger. Das bedeutet, die Bundeswehr auf 270 000Soldaten zu reduzieren.Dies ist praktisch vorgegeben; denn wenn es im Be-reich der Beschaffung keinen Spielraum gibt, wenn un-ter Vertrag befindliche Projekte weitergeführt werdensollen und außerdem noch 500 Millionen DM eingespartwerden müssen, muß man da ansetzen, wo die Möglich-keit zur Disposition besteht. Dies führt zwangsläufig zueiner deutlichen Reduzierung der Kapazität der Bun-deswehr – unabhängig von der Beantwortung der Frage:Wehrpflicht oder Berufsarmee? Daß wir für die Wehr-pflichtarmee sind, ist klar.Bei den Investitionen können Sie nicht weiter strei-chen, ohne in laufende Verträge einzugreifen. DieseEntwicklung war schon in diesem Jahr abzusehen: Wirhaben 1999 praktisch keine 50-Millionen-DM-Vorlagenauf dem Tisch gehabt, nur zwei, drei kleinere. Ich gehedavon aus, daß es auch im kommenden Jahr keine Vor-lagen größeren Umfangs für die Armee geben wird.Deswegen nimmt sich im Bericht „Ein Jahr im Amt“fast flehentlich der letzte Satz aus, die Bundeswehr müs-se bündnisfähig bleiben und europafähiger werden. Wiesoll dies möglich sein angesichts des sinkenden Etats,also mit weniger Geld?Auch die Soldaten spüren, daß da etwas nicht stimmt.Daß sich der Minister ständig zur Lage der Koalition alsneues Konfliktzentrum äußert – unter dem Motto: Wenndas vergeigt wird, können wir gleich auf die Urenkelschauen –, sagt noch nichts darüber aus, daß die Wei-chenstellungen in der Armee bei sinkendem Etat richtigvorgenommen werden.Letzte Woche war ich in einem Standort in meinemWahlkreis. Dort haben mir die Vertrauensleute berichtet,sie fühlten sich von der Politik – was nur heißen kann:von der jetzigen Regierung – im Stich gelassen. Siefragten: Was wird aus unserem Standort? Warum wer-den wir als Soldaten nicht beteiligt? Was soll die neueStruktur, nachdem wir die letzte aus dem Jahr 1995 nochnicht einmal abgearbeitet haben? Wird es tatsächlich ei-nen Kümmer-Wehrdienst von sechs Monaten geben? IstDietrich Austermann
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6594 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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wenigstens daran gedacht – kommen wir einmal zu denFinanzen! –, ein neues Personalstärkegesetz zu ma-chen, wenn die Struktur weiter reduziert wird? Wenn ja:Wovon wird dies bezahlt?Ich möchte aus einem Bericht vom heutigen Tage ausmeiner Heimatzeitung, der „Norddeutschen Rund-schau“, zitieren. Die Überschrift lautet: Sofort 39 Jobsgestrichen! Der Personalrat protestiert, Angst geht um inder Standortverwaltung. Die Kürzung um die 39 Stellenist mit Sofortvollzug versehen worden. – Die Situationist also dramatischer als es uns diejenigen, die handelnbzw. handeln sollten, beschreiben.In diesem Jahr reiste der Minister durch das Land undversicherte allen: Euer Standort bleibt erhalten; er wirdnicht geschlossen. Dabei wird übersehen, daß für IhrenBundesparteitag im Dezember schon Anträge vorliegenmit dem Tenor – das erinnert ein wenig an den KollegenOpel –, das Festhalten an der Wehrpflicht dürfe einerVerkleinerung und Abschaffung der Bundeswehr nichtim Wege stehen. Dies ist Inhalt eines Antrages nicht et-wa eines Ortsvereins, sondern eines größeren BereichsIhrer Partei.Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, derKollege Wieczorek, fordert radikale Sparmaßnahmen inden Streitkräften, unter anderem den Abbau mehrererzehntausend ziviler Arbeitsplätze. Ich frage mich ange-sichts der Situation eines großen Unternehmens, überdas heute vormittag viel gesprochen wurde, wo es hin-sichtlich der Zahl der Arbeitsplätze um eine vergleichba-re Größenordnung geht, ob man mit den Arbeitsplätzender zivilen Mitarbeiter in der Bundeswehr in der Tat soumgehen kann, wie es hier gemacht wird.
Der Kollege Wieczorek fordert den Abbau mehrererzehntausend ziviler Arbeitsplätze und den Verkauf über-schüssigen Materials. In diesem Zusammenhang er-wähnt er 1 500 Leopard II. Nachdem es schon bei ei-nem Leopard II so große Probleme gab und krisenhafteSitzungen innerhalb der Koalition, frage ich mich: Anwen wollen Sie denn diese 1 500 Panzer verkaufen?
– Sie wissen doch, Frau Kollegin, daß es einen Bruch inder Argumentation des Menschen gibt, der vor mir andiesem Pult gestanden hat. Auf der einen Seite hat er ge-sagt, die Türkei sei ein NATO-Partner und daß ermöchte, daß die Türkei auch EU-Mitglied wird, auf deranderen Seite hat er der Türkei das verweigert, was sieals NATO-Partner braucht, um im Angriffsfall ihrerPflicht genügen zu können.
Dramatisch ist die Situation im Bereich der wehr-technischen Industrie. In einer Anhörung, die wir aufWunsch der F.D.P. vom Haushaltsausschuß durchge-führt haben, wurde dies an Hand der Stellungnahmender Sachverständigen deutlich. Sie klagten über ziellosesVorgehen, vermißten die Klarheit im Auftrag, bemän-gelten inkonsequente Weichenstellungen in Fragen derdauerhaften Einsatzfähigkeit der Truppe. Sie zeichnetenein bestürzend dunkles Bild. Sie fragten, welches Zieldie Kommission habe, wenn die Entscheidungen schonvorweggenommen werden könnten.
Meine Damen und Herren, dieser Verteidigungsetatist vom Minister nicht ganz zu Unrecht als Nothaushaltbezeichnet worden. Ich habe unterstrichen, daß wir denMinister bei seinen Bemühungen, mehr Finanzen für dieBundeswehr einzuwerben, unterstützen. Wir unterstrei-chen mit ihm zusammen, daß die Bundeswehr – derKanzler hat es vor einem Jahr gesagt – mit dem Helm andie Decke stößt. Dies ist ein Nothaushalt. Dieser Haus-halt leidet unter dem Wortbruch des Kanzlers, der gesagthat, hier werde nicht weiter eingegriffen. Deswegen for-dern wir Sie auf: Steuern Sie um, sparen Sie die Bun-deswehr nicht kaputt!Sie werden verstehen, daß wir im Interesse der Ar-beitsplätze, der Sicherheit unseres Landes und seinerBündnisfähigkeit darauf achten müssen, daß die Finan-zen auch bei der Armee in Ordnung kommen, weil diesoffensichtlich nicht der Fall sein wird. Es wird das ersteMal sein, daß die CDU/CSU-Fraktion den Verteidi-gungsetat ablehnt.Herzlichen Dank.
Als
nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Vol-
ker Kröning von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Der Vorsitzende desVerteidigungsausschusses, unser Kollege HelmutWieczorek, ist erkrankt und deshalb entschuldigt. Ichglaube, es wäre gut, wenn wir alle ihm von hier aus guteBesserung wünschen würden.
Der Bundeshaushalt 2000 ist für das Verteidigungs-ministerium, für die Bundeswehr, für die Soldaten undfür die Zivilbeschäftigten wie 1999 ein Brückenhaus-halt – Brücke zwischen der gültigen Finanzplanung desBundes und Bundeswehrplanung und der künftigen Pla-nung. Für die Zukunft heißt es in dem von der Bundes-regierung am 23. Juni 1999 beschlossenen Finanzplan2003:Die Bundeswehr … in den kommenden Jah-ren … für ihre neuen Aufgaben weiter optimiertwerden. Dabei sind die … Ergebnisse der vomBundesminister der Verteidigung berufenen Kom-Dietrich Austermann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6595
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mission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft derBundeswehr“ einzubeziehen. Insbesondere wird zuberücksichtigen sein, daß die BundesrepublikDeutschland … erstmals in ihrer Geschichte nurnoch von Freunden und Partnern umgeben ist.Die eine Seite der Brücke – gewissermaßen der Dop-pelpfeiler auf dieser Seite – sind die Haushalte 1999 und2000.
Die andere Seite müssen der Haushalt 2001 und derFinanzplan 2004 werden.
Gegen alle Unkenrufe will ich nachweisen, daß diePfeiler auf dieser Seite stabil sind, die Pfeiler auf der an-deren Seite stehen und der Bau der Brücke fortschreitet.
Erstens. Die Mittel aus dem Einzelplan 14 und dieZusatzmittel aus dem Einzelplan 60, die 1999 für denKosovo und 2000 für den ganzen Balkan vorgesehenwaren und sind, machen insgesamt – gegenüber 1998mit 46,865 Milliarden DM – in 1999 47,489 MilliardenDM und 2000 47,333 Milliarden DM aus.
– Nein, das sind real bereitgestellte Mittel.– Der Anteilam Bundeshaushalt lag und liegt bei 10,3 Prozent,9,8 Prozent und nun 9,9 Prozent. Nach den NATO-Kriterien – also im wesentlichen mit den Versorgungs-ausgaben – betrug und beträgt der Anteil 58,3 Milliar-den DM, das heißt 12,8 Prozent, 59,7 Milliarden DM,das sind 12,3 Prozent und 59,6 Milliarden DM, das heißt12,4 Prozent, vom Gesamthaushalt.Diese Zahlen belegen, daß von einem Steinbruch kei-ne Rede sein kann. Diese Rede gibt es auch nicht mehrunter dieser Koalition.
Wer seriös bleiben will, muß anerkennen, daß sich dieVerteidigungsausgaben stabilisiert haben.
– Hören Sie doch einmal zu! Sie können wirklich nochlernen, Herr Nolting.
Zweitens. In der gültigen mittelfristigen Finanzpla-nung, die auch die Zusatzmittel bis 2003 ausweist, hal-ten sich die aktiven Verteidigungsausgaben mit einemAnteil am Bundeshaushalt von 9,6 Prozent in 2001,9,4 Prozent in 2002 und 9,1 Prozent in 2003. Nach denNATO-Kriterien sind es sogar mehr, nämlich jeweilsrund 12 Prozent. Eine tragfähige Definition des Anteilsder gesamten Verteidigungsausgaben am Bundeshaus-halt wird – und das wird für alle Ressorts gelten – dasVerhältnis zum Leistungshaushalt zugrunde legen undtransparent machen müssen, wird also die Zinsausgabenaußer acht lassen müssen. Da die Zinsausgaben nochsteigen, ist die Rede von sinkenden Verteidigungsausga-ben in Relation zum Leistungshaushalt sogar Unsinn.Wer Vertrauen in die Politik bewahren will, darf derBundeswehr nichts vorgaukeln.
– Sie.Liebe Kollegen von der Opposition, Sie können nichteinerseits eine noch niedrigere Neuverschuldung verlan-gen, wie Sie das gestern getan haben – ich glaube, daswar auch der Kollege Austermann –, und andererseitshöhere Ausgaben für Verteidigung, für Verkehr und an-dere Bereiche in Milliardenhöhe fordern,
zumindest nicht, ohne zu sagen, wo Sie sparen wollen.
Ihren Antrag, meine Damen und Herren von derCDU/CSU, werden wir deshalb ablehnen.
– O ja! Wir verstehen uns nach wie vor sehr gut.
Drittens. Da die Fortschreibung der FinanzplanungSache der Bundesregierung ist, bitte ich für die Bundes-wehr um dreierlei. Die Bundeswehrplanung, die imMoment auf dem 31. Finanzplan beruht, der nur bis2001 reicht, braucht eine neue, langfristige Orientierung,die über den üblichen Zeitraum der Finanzplanung,nämlich die mittlere Frist, hinausreicht und rund zehnJahre umfassen sollte. Darüber muß die Regierung eineVerständigung im Interesse der Bundeswehr finden. DerUmfang der Verteidigungsausgaben muß verstetigt wer-den.Eine Strukturreform der Bundeswehr, die unaus-weichlich ist, erfordert angesichts der Anspannung desPersonal- wie des Sachhaushaltes unserer Streitkräftebeträchtliche Modernisierungsinvestitionen. Dazu soll-ten – neben dem Zusatzaufwand für den Balkan – dieSpielräume der Seitenfinanzierung aus dem Einzelplan60 genutzt werden. Der geplante Zusatzaufwand im Jahr2000 wird mit rund 1,3 Milliarden DM geschätzt. Dasheißt, rund 700 Millionen DM stehen im kommendenJahr bereits für den Strukturwandel zur Verfügung,Volker Kröning
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6596 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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nämlich für die Modernisierung der Ausrüstung, orien-tiert an den neuen Aufgaben.Der nächste Haushaltsentwurf sollte – wie es derBundesrechnungshof empfohlen hat; da haben Sie recht,Herr Austermann – die Verteidigungsausgaben, dasheißt den gegenwärtigen Haupt- und Nebenhaushalt, zu-sammenfassen. In Verbindung mit der langfristigen Per-spektive, die ich fordere, heißt das: Der Rahmen steht,und nun müssen die Schwerpunkte gesetzt werden.Vor diesem Hintergrund bleibt für den Verteidi-gungshaushalt 2000 festzuhalten:Erstens. Die Einschnitte beim Personal werdenstrukturneutral vorgenommen, im wesentlichen durcheine Anpassung der Soll- an die Ist-Zahlen. Die „Erläu-terungen und Vergleiche“, die den Mitgliedern des Ver-teidigungsausschusses und des Haushaltsausschussesvorliegen und jedermann zugänglich sind, weisen Ver-besserungen der Beförderungssituation aus, die derVerteidigungsminister bereits in den Verhandlungen mitdem Finanzminister erreicht hat.
– Jetzt kommt das Wichtige, Kurt.Zweitens. Der Ansatz für den Teil der Sachausgaben,der auch die Rüstungsindustrie am meisten interessiert,nämlich für die Beschaffungen, liegt, einschließlich derZusatzausgaben, die der Haushaltsausschuß innerhalbdes Einzelplans 60 anerkannt hat, mit 7,6 MilliardenDM über dem Soll von 1999 – 7,3 Milliarden DM – und1998 – da waren es 6,4 Milliarden DM.
Wir wollen das einmal festhalten. Die Rüstungsindustriehat also keinen Anlaß, von einem Sinken der Investitio-nen zu reden.
– Der Verteidigungsminister wird noch das Wort neh-men, keine Sorge.In diesem Zusammenhang weise ich noch einmal aufeine wichtige Aussage des Finanzplans zur Investitions-planung der Bundeswehr hin:Das für Ende des Finanzplanungszeitraums imJahre 2003 angestrebte Niveau von … 43,7 Milliar-den DM erfordert eine Überprüfung der Beschaf-fungsplanung im Rüstungsbereich mit dem Ziel,sich insgesamt konzeptionell auf die geändertenRahmenbedingungen einzustellen.Ich füge hinzu: In diesem Rahmen ist eine Erhöhungder Investitionsquote nur durch eine Senkung der Perso-nalquote erreichbar. Dies ist auch der Tenor der Bera-tungen der Außen- und der Verteidigungsminister derWEU in dieser Woche gewesen.Drittens. Die Anreize für mehr Wirtschaftlichkeit,die schon 1999 geschaffen worden sind, bleiben auch2000 erhalten. Die Rendite für Effizienzsteigerung, dieder Verteidigungshaushalt an den Gesamthaushalt abzu-führen hat, ist von allen Ressorts am niedrigsten. Mitanderen Worten: Das Verteidigungsressorts behält imVergleich zu den anderen Ressorts am meisten. Der Fi-nanzminister ist dem Verteidigungsminister sehr weitentgegengekommen.
– Ihr Verhalten gibt allenfalls einen Chor. Aber ver-ständlich sind Sie mit diesem Gebrüll nicht.Nach den Ergebnissen der ersten drei Quartale desJahres 1999 werden der Bundeswehr über Verstär-kungsvermerke Erlöse aus dem Verkauf von Materialund Liegenschaften im gesamten Jahr in Höhe von rund250 Millionen DM zusätzlich zum Plafond zufließen.Eine ähnliche Größenordnung ist auch 2000 erreichbar.Der Investitionshaushalt ist durch Erweiterung derAustauschvorhaben im Rahmen des Plafonds währendder Haushaltsberatungen zusätzlich flexibilisiert worden.Das weist in die Richtung, die Investitionsquote zu er-höhen – eines der wichtigsten Ziele der Bundeswehrre-form.Um in der Haushaltspolitik nicht nur das Soll, son-dern auch das Ist zu kontrollieren – gerade vor demHintergrund des Stabilitäts- und Wachstumsprogrammsder Europäischen Union –, sind auch die Jahresab-schlüsse von Bedeutung. Daher kann ich mit Genug-tuung berichten, daß der Kosten- und Ausgabenrahmenfür die Einsätze der Bundeswehr in Bosnien und im Ko-sovo, von denen wir im Frühjahr ausgegangen sind, imLaufe dieses Jahres eingehalten worden ist.
Alle Dramatisierungen der Opposition von damals – werhätte das nicht noch im Ohr? –, die Haushaltspolitikschränke unsere außenpolitische Handlungsfähigkeit ein,haben sich als Unfug erwiesen. Sowohl militärisch alsauch humanitär kann sich das deutsche Engagement aufdem Balkan sehen lassen.
Dafür danke ich im Namen unserer Fraktion – daransollten auch Sie sich beteiligen – all denen, die dortDienst tun, den Soldaten und den zivilen Helfern.
Im Haushaltsvollzug des nächsten Jahres werden unseinige Fragen beschäftigen, die von den Berichterstat-Volker Kröning
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6597
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tern der Fraktionen zum Gegenstand von Berichtswün-schen gemacht worden sind und zu denen das Ressortauch schon Berichte vorgelegt hat. Sie sind noch zu dis-kutieren – ich hoffe, im Haushalts- und im Verteidi-gungsausschuß. Sie betreffen Fragen wie Umfang undStruktur der Bundeswehrverwaltung, Optimierung derPlanungs- und Entscheidungsprozesse bei der Rüstung,Nutzung industrieller Dienstleistungen, Straffung derFührungsorganisation der Teilstreitkräfte und vieles an-dere mehr.Nicht daß die Strukturreform der Bundeswehr imHaushaltsvollzug 2000 stattfinden sollte; doch wenn dieKommission „Zukunft der Bundeswehr“ im zweitenQuartal ihren Bericht vorlegt, bleiben der Bundesregie-rung weniger als ein und dem Bundestag weniger alszwei Quartale für die erforderlichen weitreichendenBewertungen und Entscheidungen bis zu den Haushaltender Jahre ab 2001.Dabei müssen der Vorrang des Parlaments nach Art.87 a des Grundgesetzes ebenso wie die Initiativaufgabeder Regierung beachtet werden. Wenn Planungssicher-heit gewährleistet werden soll, müssen Vorentscheidun-gen im Frühjahr fallen und so abgesichert sein, daß siebei den Haushaltsberatungen im Herbst Bestand haben.Deshalb ein Wort zu den atlantischen und europäi-schen Anforderungen an den deutschen Verteidigungs-haushalt. Die Vergleiche spielen in der innen- und au-ßenpolitischen Debatte eine Rolle. Dies hat die Konfe-renz der Außen- und der Verteidigungsminister in dervorigen Woche gezeigt, die den EU-Gipfel der Staats-und Regierungschefs in Helsinki vorbereitet hat, unddies hat auch der Auftritt des Hohen Repräsentanten derEU für Außen- und Sicherheitspolitik in der vorigenWoche vor dem Parlament in Straßburg gezeigt.Auftrag, Art, Umfang und Zusammensetzung ge-meinsamer militärischer Ressourcen der EU stehen aufder Tagesordnung. Von einem gemeinsamen Korps vonrund 50 000 Soldaten, verfügbar in 60 Tagen, ist die Re-de. Nimmt man den Anteil der Bundeswehr am militäri-schen Einsatz auf dem Balkan zum Maßstab, könnte eindeutsches Kontingent von 10 000 Mann notwendig sein.Ausrüstung, Ausbildung, Logistik und Kommunikationmüssen darauf ausgerichtet sein. Bis 2003 soll die Ein-greiftruppe stehen. Diese Anforderungen sind, wennman die Bundeswehrreform entschlossen anpackt, imgegebenen Finanz- und Zeitrahmen zu erfüllen. DieVerantwortlichen in der und für die Bundeswehr wissennach den Erfahrungen außereuropäischer und europäi-scher Einsätze, worauf es ankommt.Auch 1999 sind Vorhaben auf den Weg gebrachtworden, die eher früher als später nötig gewesen wären.Ich nenne nur SATCOM und GTK. Wenn endlich eineChance zu einer europäischen Verteidigungs- und Rü-stungspolitik besteht, sollten auch die Probleme desTransports und der Aufklärung lösbar sein.
Nur eines muß klar bleiben: Die BundesrepublikDeutschland ist kein Schlußlicht bei den finanziellenAufwendungen für Sicherheitsvorsorge und Friedenssi-cherung.
Die übliche Betrachtung nach dem Anteil der Vertei-digungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt – – HörenSie doch bitte einmal zu! Als wir gemeinsam beim Bun-deswehr-Verband diskutiert haben, haben Sie ein besse-re Figur gemacht als heute.
Die übliche Betrachtung nach dem Anteil der Verteidi-gungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, von der zumGlück bei der ersten Lesung des Haushalts 2000 keineRede mehr war, ist in dreierlei Hinsicht korrekturbe-dürftig:
Erstens. Sie vernachlässigt Besonderheiten bei NA-TO-Ländern wie Frankreich, dem Vereinigten König-reich und den USA, die auch Atommächte sind, oder derTürkei und Griechenland, die gerade erst dabei sind, ihrebilateralen Spannungen zu überwinden.Zweitens. Sie übergeht die gesellschaftlichen Kostender Wehrpflicht, die schwer bezifferbar sind, aber auchdie Kosten, die im Falle einer Berufsarmee für Werbungentstehen würden. Da sind wir uns einig: Eine Berufs-armee wollen wir nicht. Wir wollen an der Wehrpflicht– an einer machbaren Wehrpflicht – festhalten.
Drittens. Die Koppelung an das Bruttoinlandsproduktist mit der Notwendigkeit der Sanierung der Staatsfinan-zen unvereinbar. Denn die Sanierung der Staatsfinanzenist ja gerade der unabdingbare Beitrag Deutschlands zuStabilität und Wachstum in Europa und damit auch zueinem Interessenausgleich zwischen den alten und denneuen Mitgliedern.Ich meine, daß die Verteidigungsausgaben eine festeOrientierung am Gesamtbudget brauchen. Dabei mußberücksichtigt werden, daß die Gesamtaufwendungenfür äußere Aufgaben allein 1999 einen Anteil von fast24 Prozent am Bundeshaushalt ausmachen – wenn mandie Leistungen an die MOE-Staaten und die GUS-Staaten, die bilateralen und multilateralen Ausgaben fürEntwicklung sowie die Beiträge zur UNO samt Unteror-ganisationen und die Eigenmittelabführung an die EUeinbezieht.
Rechnet man die EU-Beiträge heraus, beträgt der Anteildieser Mittel für auswärtige Aufgaben am Gesamthaus-halt 14,5 Prozent. Setzt man diese 14,5 Prozent an ech-Volker Kröning
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6598 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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tem auswärtigen Aufwand, in den die Verteidigungsaus-gaben einbezogen sind, mit den 12,3 Prozent Verteidi-gungsausgaben in Beziehung, wird kein Mißverhältniszu Lasten des militärischen Sicherheitsaufwandes sicht-bar, sondern im Gegenteil: Der militärische Aufwandüberwiegt den nichtmillitärischen Aufwand bei weitem.Es ist durchaus zu fragen, ob nicht stärker – und zwar imganzen Kreis der EU – die Effizienzsteigerung als dieErhöhung dieses Postens diskutiert werden muß.Auch in dieser Hinsicht lassen sich die europäischenAußen- und Verteidigungsminister zitieren: Mit dem,was Europa militärisch aufwendet, leistet es im Verhält-nis deutlich weniger als die USA. Vor Debatten über dieErhöhung der Verteidigungsausgaben ist also wirklicheine Verbesserung der Zusammenarbeit und Arbeitstei-lung angesagt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es zeigt sich fol-gendes: Die Bundesrepublik Deutschland hat eine Kul-tur der militärischen und nichtmillitärischen Sicherheits-vorsorge und Friedenssicherung entwickelt, die wir nichtklein- oder schlechtreden sollten. Sie drückt sich imHaushaltsjahr 2000 in einem Verhältnis von rund 59Milliarden DM zu 55 Milliarden DM aus. Gelingt esuns, dieses Verhältnis im Lot zu halten, brauchen wirnicht um Stellen hinter dem Komma zu streiten, sonderndann haben wir für die Bundeswehr und für die Aufga-ben, die sie erfüllen soll, viel erreicht.Danke schön.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Günther
Nolting von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsmi-nister kann einem fast schon leid tun, weil er die Rededes Kollegen Kröning anhören mußte.
Herr Kollege Kröning, ich sage Ihnen: Der Verteidi-gungshaushalt 2000 ist kein Brückenhaushalt, er ist einNothaushalt; so hat ihn der Verteidigungsminister selbstbezeichnet.
Wenn Sie hier von einem Brückenhaushalt sprechen,kann ich Ihnen nur sagen: Diese Brücke ist verdammtbrüchig und stürzt – Sie werden das erleben – in denAbgrund. Fest steht, Kollege Kröning – da können Sieheute als Rechenkünstler auftreten, wie Sie wollen –:Der Haushaltsansatz 2000 sinkt im Vergleich zu demdieses Jahres um mehr als 3 Milliarden DM. Im Gegen-satz dazu sollte in der mittelfristigen Finanzplanung deralten Bundesregierung der Verteidigungshaushalt für dasJahr 2000 wesentlich erhöht werden. Vielleicht habenSie das noch in Erinnerung.
Man muß der Bezeichnung „Nothaushalt“ auch zu-stimmen, weil in der neu vorgelegten mittelfristigen Fi-nanzplanung eine Senkung bzw. Kürzung des Verteidi-gungsplafonds in einer Summe von fast 19 Milliar-den DM bis zum Jahre 2003 erfolgen soll. Zusammenmit dem von Minister Scharping ebenfalls gesehenenModernisierungsbedarf im zweistelligen Milliardenbe-reich in den nächsten Jahren ergibt sich somit ein Fehl-betrag von weit mehr als 30 Milliarden DM, Herr Kolle-ge Kröning, für die notwendige sicherheitspolitischeVorsorge der Bundesrepublik. Ich sage Ihnen: Das istunverantwortbar.
Herr Kollege Kröning, ich sage es noch einmal: Siestehen in absolutem Widerspruch zu BundesministerScharping, der zusätzliche Finanzmittel in Höhe vonmehr als 18 Milliarden DM fordert. Es ist doch MinisterScharping, der ständig von der Unterfinanzierungspricht. Ich denke aber, daß der Minister dazu gleichnoch Stellung nehmen wird. Der Widerspruch wird sichdann auftun.Unseriös ist und bleibt das Verhalten des Bundesver-teidigungsministers, der einerseits im Herbst dieses Jah-res vor der Führungsakademie der Bundeswehr hoheAnschubfinanzierungen zur umfassenden Modernisie-rung der Bundeswehr einforderte, andererseits den Mil-liardenkürzungen seines Haushalts für das Jahr 2000 undin der mittelfristigen Finanzplanung im Bundeskabinettzustimmte.Die Bundeswehr erhält ständig neue Aufgaben undAufträge, und die Finanzen werden ständig gekürzt.Dies kann nicht richtig sein. Ein Soldat sagte: Erstschickt man uns in den Krieg, dann tritt man uns insHinterteil.Meine Damen und Herren, wir reden hier nicht überirgendeinen Haushalt, wir reden hier über die SicherheitDeutschlands, wir reden hier über die Sicherheit desBündnisses, über unsere sicherheitspolitischen Interes-sen und vor allem über die Sicherheit unserer Soldatin-nen und Soldaten. Der Umgang dieser Bundesregierungmit den vitalen Interessen unseres Landes ist unprofes-sionell und verantwortungslos.
Zu den finanziellen Belastungen kommen noch haus-gemachte Fehlleistungen, beispielsweise wenn uns derBundesaußenminister einen humanitär, militärisch undpolitisch fragwürdigen Einsatz aufzwingt, nur um dieSeele der grünen Parteibasis zu streicheln.
Volker Kröning
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Es war Außenminister Fischer, der auf einer Streit-macht von 80 Sanitätern bestand, die vom fernen Dar-win aus den angeblich notwendigen Lufttransport vonVerletzten aus Osttimor durchführen soll.
Bisher wurden etwa 10 Millionen DM aufgewendet. Je-den Monat kommen 5 Millionen DM hinzu. Deshalbfordere ich die Bundesregierung auf, zu prüfen, ob die-ser Bundeswehreinsatz abgebrochen werden kann, umdas dadurch frei werdende Geld zur Bekämpfung deshumanitären Notstands im Krisengebiet aufzuwenden.Ein entsprechender F.D.P.-Antrag liegt vor.Eine weitere, in Koproduktion zwischen Außen- undVerteidigungsminister herbeigeführte Fehlleistung warder Umstand, daß sich deutsche KFOR-Einheiten Mate-rial bei türkischen Kameraden ausleihen mußten unddann kurze Zeit danach der Bundesaußenminister einenie dagewesene Politfarce im Bundessicherheitsrat an-gezettelt und sogar noch dafür gesorgt hat, daß diese andie Öffentlichkeit geriet. Auch dies war ein einmaligerVorgang.
Dem Bundesminister der Verteidigung ist der Vor-wurf nicht zu ersparen, daß er sich hier nicht energischgenug widersetzt hat, wie er sich auch den Kürzungendes Finanzministers im Rasenmähersystem nicht ener-gisch genug widersetzt hat.
Liegt dies nun daran, daß der Verteidigungsministerübertriebene sozialdemokratische Solidarität übt, oderhat dies andere Gründe, daß er sich etwa als Reserve-kanzler bereithalten möchte, wie es die Medienspatzenhier in Berlin von den Dächern pfeifen?
Aber wie die Hintergründe auch sein mögen: Der Effektist in jedem Fall schädlich für die Bundeswehr und fürdie Bundesrepublik Deutschland.Meine Damen und Herren, diese Regierung handelt inder Praxis, als hätte sie sich nicht im April in Washing-ton verpflichtet, mehr für die europäische Verteidi-gungspolitik und deren Verankerung in der AtlantischenAllianz zu tun. Dies wurde völlig zu Recht von NATO-Generalsekretär Robertson bei seinem Antrittsbesuchhier in Deutschland gegenüber dem Kanzler angemahnt,Herr Kollege Kröning. Vielleicht haben Sie auch dasnoch in Erinnerung.Wir wissen darüber hinaus von all unseren Kontakt-personen bei den Verbündeten im befreundeten Ausland,daß deutsche Repräsentanten seit Monaten immer wie-der darauf angesprochen werden, welche unverständli-chen Budgetplanungen Deutschland betreibt. Dort wirdunter der Hand und oft höflich diplomatisch das ausge-sprochen, was ich einmal deutlich im Bereich der Au-ßen- und Sicherheitspolitik als den Weg zur Bananenre-publik bezeichnet habe.
– Ja, Herr Kollege, ich sage jetzt noch etwas dazu: InRegierungskreisen selber ist dagegen bezeichnenderwei-se der Vergleich vom Abstieg in die dritte Liga geläufig.Auch das wird gern vom Verteidigungsminister vorge-tragen.Deutschland verliert in der internationalen Sicher-heitspolitik enorm an Prestige und Einfluß, die von derletzten Regierung aufgebaut wurden, weil die Investitio-nen in äußere Sicherheit mit Aufgaben anderer Qualitätüber einen Kamm geschoben werden und weil die Praxiskeine klare Linie in der Außen- und Sicherheitspolitikerkennen läßt. Dies begann mit der ebenfalls zum Wohl-befinden grüner Fundis von Außenminister Fischer an-gezettelten Ersteinsatzdebatte und reichte über einepraktisch nicht vorhandene Beteiligung an der Medien-politik der NATO während der Kosovo-Operation bis zuden bereits eingangs von mir genannten Fehlleistungen.Neben diesen Kardinalfehlern berücksichtigt der vonRotgrün vorgelegte Einzelplan 14 auch wichtige Einzel-aspekte nicht. Dazu gehört die von der F.D.P. mehrfachbeantragte stufenweise Anpassung der Ostgehälter derSoldaten an das Westniveau. Die Soldaten in den östli-chen Bundesländern brauchen hier endlich eine zeitlichePerspektive, aber Rotgrün hat einen entsprechendenAntrag der F.D.P. im Verteidigungsausschuß abgelehnt.
Dazu gehört die von Ihnen vor der Regierungsübernah-me selber geforderte Wehrsolderhöhung, die durchzu-führen Sie jetzt Gelegenheit hätten. Aber auch hier hatRotgrün einen entsprechenden F.D.P.-Antrag abgelehnt.Dazu gehört Planungssicherheit für die wehrtechnischeIndustrie. Ich nenne hier stellvertretend für viele andereBereiche die Instandsetzungskapazitäten und die Muni-tionshersteller. Fällige Exportanträge werden in unver-antwortlicher Weise verzögert und verschleppt.Meine Damen und Herren, Sie werden jetzt vielleichtdas klassische Gegenargument einwerfen, die Oppositi-on stelle nur Forderungen, mache aber keine Vorschlägezur Kostendeckung. Dies ist falsch. Sie wissen genausogut wie ich, daß in vielen Bereichen dreistellige Millio-nenbeträge zugunsten wesentlicher Aufgaben umzu-schichten wären. Das reicht von den Verwaltungsausga-ben für die Landesbauverwaltungen, die in keinem Ver-hältnis zur Leistung stehen, über die Effizienzrendite,die über eine zügigere Umsetzung der globalen Budge-tierung zu erreichen wäre, bis hin zu entschlossenen Pri-vatisierungen beispielsweise bei der Logistik, beimTransport oder aber auch in Teilbereichen der Ausbil-dung.
Günther Friedrich Nolting
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6600 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat –übrigens ohne Not – wichtige Schaltstellen im interna-tionalen Bereich aufgegeben oder erst gar nicht ange-treten. Der deutsche Außenminister hält große Reden,aber Substanz und Konzepte fehlen. Dafür sind sein Ge-habe und seine Arroganz nicht zu überbieten. Das habenwir auch heute im Deutschen Bundestag wieder erlebt.
Der deutsche Verteidigungsminister muß sich alsAusputzer für Kanzler und Kabinettskollegen betätigenund empfiehlt sich so für höhere Aufgaben. Der Kanzlerselber – daran muß auch an dieser Stelle wieder erinnertwerden – ist gegenüber seinem Verteidigungsminister,was die Stabilisierung des Einzelplanes 14 angeht, wort-brüchig geworden: Der Verteidigungshaushalt solltenicht reduziert werden. Auch hier gilt das gebrocheneWort.
Dieser Regierung muß klar sein, daß ihre gesamtePolitik, inklusive der Haushaltspolitik, weder in derBundeswehr noch in der nationalen und internationalenWahrnehmung Verständnis findet, weil sie schlicht undeinfach falsch ist. Die Haltung der Verbündeten, dieProteste des Bundeswehr-Verbandes und die öffentli-chen Diskussionen machen dies überdeutlich.Meine Damen und Herren von Rotgrün, Sie solltenEinsicht zeigen und einen anderen Weg einschlagen.Wir sind bei vernünftigen Ansätzen Ihrerseits zu kon-struktiver Mitarbeit bereit. Den jetzt eingeschlagenenKurs können und wollen wir als verantwortungsvolleOpposition nicht mittragen.
Aus diesem Grunde wird die F.D.P.-Fraktion dem vor-gelegten Entwurf des Verteidigungshaushaltes nicht zu-stimmen.
Zum Schluß möchte ich allen Soldatinnen und Sol-daten und allen zivilen Mitarbeitern, ob in den Einsatz-gebieten oder hier im Lande, für ihre Arbeit danken.Herr Präsident, Ihnen gratuliere ich zum heutigenGeburtstag.Vielen Dank.
Als
nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Angelika Beer
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Nolting, zuIhrer Ankündigung, konstruktive Vorschläge zu machen,möchte ich sagen: Ich hätte mich gefreut, wenn in Ihremzwölfminütigen Redebeitrag überhaupt ein einziger kon-struktiver Vorschlag enthalten gewesen wäre.
Herr Kollege Nolting, noch vor einem Jahr hat so gutwie niemand – vor allen Dingen niemand aus Ihrer Par-tei – von der Notwendigkeit einer Reform der Bundes-wehr gesprochen. Heute verhält sich das anders. Heutesind wir dabei, die Erblast Rühe abzuwickeln. Wir über-nehmen diese Verantwortung. Wir haben inzwischeneine breite Diskussion über die Zukunft der Bundeswehrbegonnen, die weit in die Gesellschaft hineinreicht. Esgibt mittlerweile kaum noch jemanden, der die Notwen-digkeit einer grundlegenden Reform der Bundeswehrbestreitet. Davon muß ich den Kollegen Nolting leiderausnehmen.Der Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Schar-ping, hat dies in seiner Rede an der Führungsakademieder Bundeswehr am 8. September 1999 deutlich heraus-gestellt. Ich zitiere:In den nächsten zwölf Monaten geht es um nichtsweniger als um eine grundlegende Neuausrichtungder Bundeswehr: Struktur, Umfang, Ausrüstungund Ausbildung gehören wieder in eine dauerhafteBalance.Damit wartet auf sein Haus, aber auch auf uns als Par-lament eine gewaltige Aufgabe. Wir haben uns vorge-nommen, diese Aufgabe zu erfüllen.Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, habenwir die von Ihnen oft belächelte Kommission „Gemein-same Sicherheit und die Zukunft der Bundeswehr“ ein-gerichtet.
Wir wollen genau die Fehler vermeiden, die die liberal-konservative Bundesregierung und Verteidigungs-minister Rühe in den letzten Jahren gemacht haben.
Sie, die Kollegen der jetzigen Opposition, haben esversäumt, die außen- und sicherheitspolitischen Bedin-gungen und die internationalen Rahmenbedingungen an-zupassen und die Bundeswehr dahin zu führen, daß siediese Aufgaben adäquat erfüllen kann.
Mit einer kruden Mischung, Kollege Rossmanith, aus„weiter so“ und „schieben, strecken und streichen“ ha-ben Sie sowohl die Reform der Außen- und Sicherheits-politik als auch die Umstrukturierung der Bundes-wehr verhindert.Wenn die Kommission Ihre Empfehlungen zu Beginndes nächsten Jahres vorlegen wird, dann wird sie aufeine sensibilisierte Öffentlichkeit stoßen. Wir könnenauf der Basis der Ergebnisse diskutieren, und wir müs-Günther Friedrich Nolting
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sen die Entscheidungen umsetzen. Aus diesem Grundewollen und können wir den Ergebnissen der Kommissi-on nicht vorgreifen; vielmehr müssen wir behutsam vor-gehen,
um diesen unter Ihnen starr gewordenen Apparat in dieZukunft zu wenden.Die Bundeswehr leistet ihren Solidarbeitrag zumSparpaket. Wir haben ihre Leistungsfähigkeit und ihreEinsatzfähigkeit unter schwersten Bedingungen in Bos-nien und im Kosovo sichergestellt. Daß Sie dies durchden Kakao ziehen, zeigt, wie wenig Ihnen tatsächlich anden Interessen der Bundeswehr gelegen ist. Ihre Äuße-rungen sind nichts weiter als Polemik.
Die Bundeswehr ist gegenwärtig besser denn je aufdie anstehenden Veränderungen vorbereitet. Diese Ver-änderungen werden für alle – dies ist uns klar – mühsamwerden, vor allen Dingen auch für die Soldaten. Ich hof-fe auf deren Unterstützung und Motivation. Ich werdeIhnen sagen, warum die Regierung diese Unterstützungauch bekommen wird: Unsere Planungen vollziehen sichnicht im Hauruck-Verfahren, sondern langfristig. Diesist das einzige Mittel, um den Soldaten wieder Pla-nungssicherheit zu vermitteln. Dies ist unsere Zielset-zung.
Ich möchte unterstreichen: Wir werden die zukünfti-gen Aufgaben der Außen- und Sicherheitspolitik, dieauch in den Bereichen Prävention, Gewaltvermeidungund Krisenmanagement liegen, erfüllen können undmüssen. Die Dringlichkeit von Veränderungen wirdallerdings auch von anderen Faktoren beeinflußt. Es wä-re falsch, davor die Augen zu verschließen.Die Diskussion, ob der Dienst von Frauen in derBundeswehr ausgeweitet werden soll, ist von Ihnenüber Jahre hinweg als liberales Sommertheater insze-niert worden. Diesmal wird diese Diskussion keinSommertheater bleiben und wird möglicherweise sogarunser Grundgesetz betreffen, weil eine Klage vor demEuropäischen Gerichtshof anhängig ist. Die Entschei-dung des Europäischen Gerichtshofes in einem anders-gelagerten Fall und das Plädoyer des Generalanwaltesim Fall Kreil legen nahe, daß wir aus dem Urteil, daswahrscheinlich im Februar nächsten Jahres verkündetwird, Konsequenzen ziehen müssen. Die logische Folge-rung daraus wird aus grüner Sicht die Abkehr von derWehrpflicht und die Stärkung der freiwilligen Dienstesein. Dies wird dann für alle gelten.Wir sind bereit, diese Diskussion zu führen. Wir ste-hen in der Pflicht, weil die Bundeswehr im nächstenJahr auf Grund der Reform vor einer Zäsur steht. DieseZäsur wird die gesamte Gesellschaft und die Frauen be-treffen. Die Frauen haben das Recht, die Frage desWehrdienstes zu diskutieren.Ich möchte auch noch den Kosovo-Krieg ansprechen.Dieser Krieg hat uns allen deutlich vor Augen geführt,wie grundlegend eine Reform der Außen- und Sicher-heitspolitik sein muß. Eine solche Reform erfordert inerster Linie die Stärkung der präventiven Fähigkeiten.Ich möchte klarmachen, daß wir während unsererzwölfmonatigen Regierungszeit nicht nur von Präven-tion geredet haben, sondern zum erstenmal begonnenhaben, konkrete präventive Instrumente zu schaffen.
Wir haben die zivilen Friedensdienste gestärkt. Wirhaben begonnen, einen Ausbildungsgang für zivileKräfte einzurichten. Wir haben die Förderung der Frie-densforschung endlich wieder aufgenommen. Damit ha-ben wir begonnen, das Gerüst für eine präventiveAußen- und Sicherheitspolitik zu errichten.Angesichts Ihrer Rechenbeispiele und Ihrer Diffamie-rungen im Zusammenhang mit dem Einzelplan sage ichIhnen ehrlich: Außen- und Sicherheitspolitik – dies hatAußenminister Fischer vorhin sehr deutlich gemacht –hat nicht immer etwas mit militärischen Einsätzen zutun. Das, was wir im Rahmen des Stabilitätspaktes aufdem Balkan zu leisten bereit sind, ist eine Politik derPrävention und der Krisenverhütung. Sie soll sicherstel-len, daß Gewalt in dieser schwierigen Region nicht wie-der vorkommt.
Dies ist ein neues Politikkonzept.Lassen Sie mich noch den OSZE-Gipfel ansprechen,den Sie bisher nicht erwähnt haben. Ich begrüße aus-drücklich die Ergebnisse des OSZE-Gipfels; denn es istnicht nur gelungen, den Rüstungskontrollprozeß in Eu-ropa zu stabilisieren – das war keine Selbstverständlich-keit –, sondern auch eine Sicherheitscharta zu verab-schieden. Damit haben wir einen Schritt in Richtungeiner gesamteuropäischen Friedensordnung unternom-men.Ich möchte zum Schluß noch sagen: Ich hoffe sehr –darüber haben wir heute schon gesprochen –, daß Ruß-land aus diesem OSZE-Gipfel die entsprechenden Leh-ren zieht und endlich erkennt, daß es in Tschetschenienkeine militärische, sondern nur eine politische Lösunggeben kann. Rußland ist auf dem Gipfel vielleicht auchklargeworden, daß es sich dann, wenn es sich andersentscheidet, langfristig gegen die OSZE und damit ge-gen die Organisationen stellt und sie schwächt, in derenRahmen es mit uns in Europa weiter zusammenwachsenmöchte.Ich hoffe deshalb, daß wir zukünftig nicht nur überden engsten militärischen Bereich, sondern auch überdie Frage diskutieren werden, was wirklich Sicherheitschafft. Die Antwort, Herr Kollege Nolting und HerrKollege Breuer, hängt nicht nur mit der Zahl der Waffenund deren Schlagkraft, sondern auch mit der Fragezusammen, ob wir zukünftig bereit sind, Kriege zu ver-hindern. Sie haben in den letzten 16 Jahren keine ein-Angelika Beer
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6602 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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zige D-Mark für den präventiven Bereich lockerge-macht.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Heidi
Lippmann von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident, auch meineGlückwünsche zu Ihrem Geburtstag!Meine Damen und Herren! Herr Kollege Nolting, Ih-nen wurde eben deutlich gesagt, daß Ihnen das richtigeVerständnis für die Bundeswehr fehlt. Vielleicht solltenSie bei Frau Beer Nachhilfeunterricht nehmen und zumBeispiel die gesammelten Werke der letzten zehn Jahrenachlesen. Unter Umständen haben Sie dann das richtigeVerständnis hierfür.
Haushaltsreden sind immer dazu angetan, Bilanz zuziehen. Dies sollten wir auch bei dem vorliegendenRüstungsetat tun. Bevor Rotgrün angetreten ist, hättewohl niemand geglaubt, daß diese Regierungskoalitionwenige Monate nach Amtsantritt einen Krieg führenwürde oder daß ein Jahr danach Rüstungsexporte in dieTürkei von seiten der Grünen toleriert würden, ohnedaß diese die Koalitionsfrage hierzu gestellt hätten.
Wer hätte damals geglaubt, daß der grüne Fraktions-vorsitzende Rezzo Schlauch – vehement und mit großemEinsatz – eine Rede über die Erneuerungspolitik der rot-grünen Regierung halten würde, wie er es heute morgengetan hat? Zu dieser Erneuerungspolitik gehört, daß aufmilitärische Stärke und Interventionsfähigkeit gesetztwird. Zu dieser Erneuerungspolitik gehören die neueNATO-Strategie und der Ausbau der Europäischen Uni-on zu einer Militärunion. Zu dieser Erneuerungspolitikgehören auch die Androhung und der Einsatz von Waf-fengewalt über die Landes- und Bündnisverteidigunghinaus. Ich denke, daß dies noch vor anderthalb Jahrenkaum jemand erwartet hätte.Die nicht gerade als linkslastig zu bezeichnende„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat bei der rotgrünenAußenpolitik ein Gefühl von Größe ausgemacht. DiesesGefühl von Größe läßt sich an vielen Punkten des ver-gangenen Jahres festmachen. Ich möchte einen heraus-greifen, nämlich die nicht zu rechtfertigende Entschei-dung über den Osttimoreinsatz.In dem Antrag zur Entsendung von Bundeswehrsol-daten nach Osttimor hieß es:Deutschland darf sich seiner Verantwortung in allerWelt nicht entziehen.Dieser Satz ist, losgelöst gesehen, durchaus richtig;denn Deutschland als eines der reichsten Länder desNordens hat eine weitreichende Verantwortung. Dochdieser Satz in einem Antrag zur Entsendung von Miltitär-einheiten macht deutlich, wie diese Verantwortung in-terpretiert wird, nämlich in Richtung militärischer Prä-senz weltweit. Dieser Ansatz ist nicht nur falsch, son-dern dieser Kurs ist unverantwortlich und gefährlich.
Die Verantwortung ernst zu nehmen hieße, zur Ge-staltung einer friedlicheren, sozial gerechteren Welt bei-zutragen. Die Instrumente hierfür sind bekannt: Krisen-und Konfliktvorbeugung, eine gerechte soziale Nord-Süd-Politik, die Verringerung des sozioökonomischenDrucks, der auf vielen Konfliktländern lastet, eine nach-haltige Umweltpolitik, eine intensivere Entwicklungszu-sammenarbeit und auch eine soziale Stabilität im Innern.Hierzu gehören selbstverständlich auch der Abbauvon Militär und seinen Strukturen, eine drastische Redu-zierung der Rüstungsproduktion und ein Verbot für Rü-stungsexporte. All dies ist nicht neu. Bis vor anderthalbJahren haben große Teile der SPD und der Grünen dieseForderungen vertreten.
Der vor uns liegende Haushalt spricht allerdings eineganz andere Sprache. Dies wird in diesem Hause immerwieder deutlich verbalisiert. Statt die Kosten für dieEntwicklungszusammenarbeit endlich den 0,7 Prozentdes Bruttosozialprodukts anzunähern, hat es eine erneuteKürzung gegeben: Das Volumen dieses Haushalts ist um8,7 Prozent geringer als im Vorjahr. Im Vergleich zudem der alten Regierung, also dem Haushalt 1998, sindes sogar 9,6 Prozent. Damit liegt der Wert fast bei 0,2Prozent. Dies ist etwas, was im Wahlkampf gerade vonden Herren und Damen dieser beiden Parteien noch ver-urteilt wurde.
Über die innere Stabilität haben wir hier ja lang undbreit geredet. Die massiven Einsparungen im Sozial-haushalt treffen insbesondere Rentner und Rentnerinnen,Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und Kranke. DieMilitärausgaben hingegen steigen effektiv um 900 Mil-lionen DM auf 59,6 Milliarden DM, knapp 60 Milliar-den DM nach NATO-Kriterien. Herr Scharping fordertfür die nächsten Jahre noch 20 Milliarden DM mehr; daswissen wir. Damit hätte dieser Haushalt einen Anteilvon 12 Prozent am Gesamthaushalt der BundesrepublikDeutschland. Bei der Rüstungsproduktion und den Rü-stungsexporten liegt Deutschland nach wie vor unter densechs führenden Staaten, die weltweit für rund85 Prozent aller Rüstungsexporte verantwortlich sind.Nachdem hier so lang und breit über den Nothaushaltlamentiert wurde, frage ich mich, weshalb nicht bei die-sem Haushalt eine Zäsur gemacht wurde. Weshalb war-tet man ab, bis die Kommission „Zukunft der Bundes-wehr“ im nächsten Jahr weitreichende oder vielleichtauch nicht weitreichende Entscheidungen vorschlagenwird? Weshalb leistet sich die Bundesrepublik im Jahr1999 eine Armee mit über 300 000 Soldaten undAngelika Beer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6603
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120 000 Zivilangehörigen? Warum unterhält sie vieleüberflüssige Kasernen und unzählige Standorte und ver-fügt weiterhin über ein stehendes Heer, das für denVerteidigungsfall während des kalten Krieges konzipiertwar, der heute unwahrscheinlicher denn je ist? Weshalbhält die Bundesregierung nach wie vor an Wehrpflichtund Zivildienst fest?
Nach wie vor hält sie ebenso an Beschaffungspro-jekten wie dem Eurofighter fest, der in den nächsten 15Jahren mit 20 Milliarden DM im Haushalt zu Bucheschlagen wird. Dieser Eurofighter – daran erinnere ichnoch einmal – ist ein Kampfflugzeug, ein Jagdbomber,der für kriegerische Angriffe ausgelegt ist.
Ausgehend von der These, daß im Kosovo-Krieg dieKriegsführung der Zukunft deutlich geworden sei, dieder Herr Verteidigungsminister aufgestellt hat, frage ichmich, wie diese Eurofighter künftig bei den kriegeri-schen Geschäften eingesetzt werden sollen.
Unter dem Gesichtspunkt einer Haushaltskonsolidie-rung bieten der Einzelplan 14 und der Einzelplan 60, indenen Kriegs- und Kriegsfolgekosten veranschlagt sind,genügend Möglichkeiten, um umfangreiche Einsparun-gen vorzunehmen. Unsere diesbezüglichen Haushalts-anträge haben Sie leider bisher abgelehnt.
Die PDS ist nicht bereit, Ihren Weg mitzugehen.Deshalb lehnen wir – das wird Sie nicht überraschen –Ihren Haushalt ab. Wir lehnen allerdings genauso denAntrag der CDU/CSU auf Einstellung einer globalenMehrausgabe in Höhe von 1,7 Milliarden DM in diesenHaushalt ab. Lediglich dem Antrag der F.D.P. auf eineErhöhung des Wehrsolds in den neuen Bundeslän-dern werden wir zustimmen.Die Beteiligung deutscher Soldaten an Kampfeinsät-zen out of area, den Aufwuchs der sogenannten Krisen-reaktionskräfte auf 63 000 Mann, Kampfbomber wieden Eurofighter oder neue Transportflugzeuge, die le-diglich dazu dienen, Truppenkontingente schneller zukriegerischen Einsätzen zu bringen, neue Satelliten zurmilitärischen Aufklärung und auch Rüstungsexporte indem Umfang, wie sie jetzt betrieben werden, lehnen wirab.
Wir wollen, daß unser Land zu einer Politik derSelbstbeschränkung zurückkehrt, zu einer Politik dermilitär- und machtpolitischen Selbstbegrenzung. HerrFischer sprach das ja vorhin an, nur widerspricht seinenWorten der Kurs, den der Verteidigungsminister gesterninsbesondere auch in Luxemburg vertreten hat.
Frau
Kollegin Lippmann, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme zum Schluß. –
Wir wollen, daß in diesem Lande endlich Abrüstungs-
politik gemacht wird und die für Balkaneinsätze vorge-
sehenen 2 Milliarden DM statt dessen in den zivilen
Wiederaufbau investiert werden.
Wir fordern die dringend erforderliche Aufstockung der
Entwicklungshilfe. Krisenvorbeugungspolitik sollte zum
Markenzeichen deutscher und europäischer Außen- und
Sicherheitspolitik werden, nicht das Eurocorps oder der
Eurofighter.
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Winfried
Nachtwei das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte mich zunächst mit den beiden Oppositionsflü-geln von rechts und von links auseinandersetzen.Nach allem, was ich von Ihnen von der CDU/CSUgehört habe – Herr Kollege Breuer, ich nehme an, daßich Sie da nicht zu Unrecht vereinnahme –, ist Ihre Kri-tik laut, alarmistisch und äußerst hohl.
16 Jahre lang standen Sie in der Herausforderung vonRegierenden, das als notwendig Erachtete im Rahmendes Möglichen zu bewerkstelligen. Frappierend ist, wieschnell Sie sich nun ins Reich der Wünsche verabschie-det haben und den Einzelplan 14 einfach von der Kon-solidierung ausnehmen wollen.
Ihre Forderung nach Wiedererhöhung des Volumens desEinzelplans 14 ist angesichts Ihres eigenen Regierungs-handelns billigster Populismus, gerichtet auf Bundes-wehrangehörige, die Ihnen das allerdings in keiner Wei-se als realistisch abnehmen.
Zugleich fällt Ihr Schweigen auf, Kolleginnen undKollegen von der CDU/CSU. Sie schwiegen hinsichtlichder Zukunft der Bundeswehr, obwohl offenkundig ist,daß einschneidende Reformen bevorstehen. Von Ihnenist da außer Strukturkonservatismus und Mittelerhö-hung ganz und gar nichts zu hören. Das ist aber vor demHintergrund ganz besonders verantwortungslos, daß imHeidi Lippmann
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6604 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Umfeld Ihrer Partei – das muß man vor allem aus unse-rer Sicht zugestehen – viel militärischer Sachverstandversammelt ist. Daß Sie hier so schweigen, ist also be-sonders bemerkenswert. Sie sprechen – Herr Breuer, Siebesonders – immer so gern von Verpflichtung und Ver-antwortung. Aber auf Ihrem traditionellen Feld militäri-scher Sicherheitspolitik nehmen Sie Ihre Verantwortungoffensichtlich in keiner Weise wahr.Nun zur linken Seite: Es fällt ein bißchen schwer, zuden Aussagen der PDS Stellung zu nehmen, weil diesePartei bei den gesamten Haushaltsberatungen im Aus-schuß nicht vertreten war.
Trotzdem will ich es tun. Zum zweitenmal stimmtBündnis 90/Die Grünen dem Einzelplan 14, einem Ver-teidigungs-, einem Militärhaushalt, zu. Viele unsererbisherigen Mitstreiter und auch die PDS als Neumitgliedoder auch Trittbrettfahrer der Friedensbewegung werfenuns vor, die alte gemeinsame Sache von Abrüstung undEntmilitarisierung verraten zu haben.
Das können nur solche sagen, die erstens die Wirklich-keit selektiv wahrnehmen und die zweitens auf Positio-nen von 1996 und früher stehengeblieben sind.
Sie ignorieren nämlich die Erfahrungen, die wir seitdem– zum Teil schmerzhaft – mit SFOR und KFORgemacht haben, und sie ignorieren die Bedingungeneiner Regierungsbeteiligung. Regierungsbeteiligungheißt schlichtweg und unausweichlich, auch Mitverant-wortung für die Bundeswehr,
für ihre Einsätze und ihre Ausstattung zu tragen, undzwar in einem friedensförderlichen Sinne. Diese Mitver-antwortung trägt man unausweichlich.Was SFOR und KFOR seit Jahren und Monaten imKosovo und in Bosnien leisten, hat nichts mit Aufrü-stung und Militarisierung zu tun.
Auch wenn es altgedienten Antimilitaristen unmöglicherscheint: KFOR und SFOR sind, von nahem besehen,unverzichtbar gerade für das Gegenteil, nämlich für diegesellschaftliche Entmilitarisierung und den Aufbaueines rechtsstaatlichen Gewaltmonopols in diesen vomKrieg zerrütteten Gebieten.
Allerdings sehen wir mit Interesse, daß in die hiesigePDS-Fraktion – ich weiß nicht, ob das auch für FrauKollegin Lippmann gilt;
es scheint mir nicht der Fall zu sein – die Erfahrungeninternationaler Krisenbewältigung und der Rolle desMilitärs dabei zumindest etwas einsickern.
In Anerkennung der ganzen UN-Charta, also auch desKapitels VII, hat die PDS-Fraktion die Notwendigkeiteiner UN-Polizeitruppe zugestanden.Mit anderen Worten: Sie verabschieden sich damitvon einem pauschalen Antimilitarismus, Sie verabschie-den sich von einem radikalen Pazifismus, den Sie in denletzten Jahren aus parteitaktischen Motiven aufgebauthaben.
Allerdings können Sie dabei als nächstes nicht derFrage ausweichen, was bei gewalttätigen Krisensituatio-nen, wenn alle anderen Mittel versagt haben, getanwerden kann, solange wir diese wünschenswerteUN-Polizeitruppe noch nicht haben.
Nach dem Kosovo-Krieg steht die Erörterung dermilitärischen Defizite der westeuropäischen Staaten imVordergrund. Das ist naheliegend, aber gefährlich ver-kürzt. Angesagt ist eine Bilanzierung des gesamtenSpektrums der Krisenbewältigung. Die Vorstellung vonkurzen und schnellen Krisenbewältigungen, die auchdurch Begriffe wie „Schnelle Eingreiftruppe“ genährtwird, ist eine pure Illusion. Wenn Krisenbewältigung beiinnerstaatlichen Gewaltkonflikten überhaupt eineErfolgschance haben soll, muß sie multidimensional undlängerfristig angelegt sein.
Nur zwei Defizitbereiche nenne ich beispielhaft. Wirhaben es bei der großen OSZE-Mission gesehen: Inter-nationale Friedensmissionen konnten nicht schnell undnicht qualifiziert genug aufgefahren werden. Die Bun-desregierung hat hieraus inzwischen die praktische Kon-sequenz gezogen und dafür gesorgt, daß bei uns in Zu-kunft genügend qualifiziertes Personal für solche Frie-densmissionen bereitsteht.Das zweite Defizit zeigt sich beim Peace-building imKosovo. Nach Beendigung der offenen kriegerischenGewalt spielen bei der Herstellung eines rechtsstaat-lichen Gewaltmonopols neben einer Friedenstruppeinternationale Polizeimissionen eine Schlüsselrolle. IhrErfolg ist Voraussetzung dafür, daß Friedenstruppenüberhaupt wieder reduziert bzw. ganz abgezogen werdenkönnen.Die Bundesrepublik Deutschland leistet hinsichtlichdieser Funktion – das will ich betonen – vorbildlicheBeiträge. Ich danke – ich gehe davon aus, im Namen desganzen Hauses – den Beamten der Länderpolizeien undWinfried Nachtwei
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6605
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des Bundesgrenzschutzes nachdrücklich für ihren Ein-satz in den internationalen Missionen.
– Und den Beamten des BKA.
Herr Kollege,
kommen Sie bitte zum Schluß!
Ja. – Zugleich muß die internationale Staatengemein-
schaft ihre bisherige Vernachlässigung dieses Instru-
ments im Hinblick auf Rekrutierung, Qualifizierung und
materielle Ausstattung überwinden. Das Problem fängt
allerdings – das müssen wir ehrlicherweise zugeben –
bei uns an. Wir als deutsches Parlament müssen unsere
Verantwortung auch gegenüber diesem Instrument der
Krisenbewältigung in Zukunft ganz anders wahrnehmen.
Nur alles zusammen ist erfolgversprechend, was den
künftigen Umgang mit solchen Krisen angeht.
Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Paul Breuer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Ich habe einen Artikel aus der Ta-geszeitung „Die Welt“ vom 9. September 1999 mitge-bracht.
Darin heißt es, Minister Scharping sehe die Bundeswehrbald auf Platz 17 in der NATO.Nun haben wir alle der heutigen Debatte beigewohntund den geschätzten Kollegen Kröning gehört.
Dieser machte deutlich, die Bundeswehr und der Vertei-digungshaushalt seien für die Zukunft bestens vorbereitet.Entweder hat Scharping recht, oder die SPD-Fraktionhat recht.
Ich behaupte: Scharping hat eine realistische Sichtweise,und die Traumtänzer sitzen in seiner eigenen Fraktionim Deutschen Bundestag.
Das macht die eigentliche Tragik der deutschen Vertei-digungspolitik in dieser Legislaturperiode aus, die fürdie Zukunft der Bundeswehr und damit für die Wahr-nehmung der deutschen Sicherheitsinteressen entschei-dend sein wird.Der Bundesverteidigungsminister antwortet in derDrucksache 14/1795
auf eine Anfrage der verteidigungspolitischen Spreche-rin der zweiten Koalitionsfraktion, nämlich der Grünen,Frau Beer – die Frage lautet: „Wie beurteilt die Bundes-regierung den Umfang des deutschen Beitrages ... in derNATO zur Sicherheit in Europa ...?“ –:... Sollte es jedoch bei der Finanzplanung– der Finanzplanung der Bundesregierung –bleiben, ist mit einer deutlichen Absenkung derPersonalstärke, weiter zunehmenden Problemen imBetrieb und bei der Modernisierung der Streitkräftezu rechnen. Dies würde das politische Gewicht derBundesrepublik nicht unbeeinträchtigt lassen. ...
– Herr Außenminister Fischer, das geht Sie mehr an, alsSie selbst glauben. Wenn Herr Scharping sagt, wirkönnten nicht in der Champions League spielen undgleichzeitig für die Bundeswehr nichts tun, denn danndrohe der Abstieg in die zweite Liga,
dann meint er mit der Champions League auch Sie. Ermeint, daß Sie den Anspruch erheben, in der ChampionsLeague zu spielen, aber das, was in Ihrer Koalition ge-macht wird, lediglich den Abstieg verdient. Das ist derWiderspruch in dieser Koalition.
Ich halte es schon für interessant, daß Sie sich hier indie Nähe Ihrer Kollegen begeben. Ich will Ihnen auchempfehlen, diese Nähe zu suchen. Denn Sie sind sehrflugs dabei, die Bundeswehr einzusetzen.
Das haben wir bei Osttimor gesehen. Aber ihr die nötigeAusstattung dafür zu geben, dazu sind Sie nicht in derLage. Sie gehen sehr leichtfertig damit um. Das richteich an die Adresse der Koalition.
Ich bedaure es, daß in Deutschland in den letzten Jah-ren über die Sicherheitspolitik und damit auch über dieWinfried Nachtwei
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Zukunft der Bundeswehr zu stark vor dem Hintergrundder finanzpolitischen Aspekte diskutiert worden ist. Ichräume ein – um das deutlich zu sagen –, daß das auch inder Zeit der CDU/CSU-Verantwortung zu stark so ge-wesen ist. Das müssen wir zugeben.Viel zu lange haben wir alle in diesem Parlament –ich meine die verantwortlichen Sicherheitspolitiker undFinanzpolitiker – eine Debatte laufen lassen, die nichtgut ist,
nämlich die Debatte, daß eine gesicherte Verteidigungs-fähigkeit eigentlich nur dann möglich sei, wenn man esorganisieren könnte – das machen wir seit zehn Jahren –,daß die Personalstärke und die Ausrüstung der Bundes-wehr reduziert würden und mit den gewonnenen Mittelndie Zukunft der Bundeswehr und des deutschen Beitra-ges gesichert würde. Ich halte das für einen grandiosenWiderspruch. Die Problematik des Verteidigungsmini-sters Scharping ist, daß er keine Chance sieht, in der rot-grünen Koalition diese Entwicklung, die eine neue Qua-lität gewonnen hat, aufzuhalten. Das ist die Problematikder deutschen Verteidigungspolitik. Die Pflicht der Op-position ist es, die Bundesregierung zu überprüfen undzu kritisieren.
Herr Kollege Fischer, es geht eigentlich um die Frageder Sinnhaftigkeit
des deutschen Beitrages innerhalb Europas und derNATO. Wir, die CDU/CSU, stellen als Basis unsererÜberlegungen eine sorgfältige sicherheitspolitischeAnalyse an.Erstens soll die Landesverteidigung in der Bündnis-verteidigung wichtigste Aufgabe bleiben.
Auf Grund der diffusen Sicherheitslage, vor allem imöstlichen Teil Europas, ist es dabei nicht ausgeschlossen,daß Bündnispartner unter Druck geraten. Das betrifftzweitens die Krisenvorsorge und die Krisenbewältigungvor allem an der Peripherie des Bündnisses, die an Be-deutung gewonnen haben und gewinnen. Das betrifftdrittens die Tatsache, daß Amerika auf Dauer kein sostarkes Engagement in Europa zeigen kann, wie dasheute noch der Fall ist. Die Demokratien in Europa müs-sen immer mehr selbst aktiv werden.
Vor diesem Hintergrund und der Bewertung dersicherheitspolitischen Lage müssen wir uns von einigenGedanken leiten lassen, nämlich erstens von der Bünd-nis- und Europafähigkeit Deutschlands, zweitens davon,daß die Landes- und die Bündnisverteidigung im Rah-men der Krisenbewältigung gleichermaßen gesichertwerden müssen, drittens davon, daß deshalb der Bestandund die Weiterentwicklung der allgemeinen Wehrpflichtunabdingbar sind, viertens davon, daß nur mit Investi-tionen und durch die Nutzung moderner Technologiensowie Waffensysteme – und nicht durch Kürzungen –eine Modernisierung erreicht werden kann, fünftens da-von, daß die Straffung von Führungsstrukturen im mili-tärischen und zivilen Bereich zwingend notwendig ist –allerdings nur in der Reihenfolge, daß vorher Investitio-nen stattzufinden haben –, und sechstens davon, daß da-bei eine Rationalisierung innerhalb der Bundeswehrstattzufinden hat, die ebenfalls nur mit Investitionen an-geschoben werden kann.
Welches Konzept hat die Bundesregierung und diesie tragenden Fraktionen hier im Deutschen Bundestagin diesem Zusammenhang?
Ich bin ja soeben nach Konzepten gefragt worden. DerVerteidigungshaushalt 2000
ist aus der Not geboren und mit einer heißen Nadel nachder Vorgabe Eichels genäht worden.
Sie muten uns zum erstenmal in der Geschichte derBundesrepublik Deutschland zu, über einen Verteidi-gungshaushalt zu befinden, ohne daß eine gesichertemittelfristige Finanzplanung für den Verteidigungs-haushalt besteht. Das ist unglaublich. Das hat es in derGeschichte der Bundesrepublik Deutschland noch niegegeben.
Wenn der Bundesverteidigungsminister in diesemZusammenhang von einem Nothaushalt spricht
– das hat er getan; Sie sollten ihm mehr zuhören –, dannmeint er damit nicht nur das Haushaltsjahr 2000, son-dern dann spricht er auch davon, daß in der mittelfristi-gen Finanzplanung, in der im Hinblick auf den Verteidi-gungshaushalt ein Absturz um fast 20 Milliarden DMdroht,
Paul Breuer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6607
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der deutsche Beitrag für die Sicherheitsinteressen unse-rer Bürger und unseres Landes in Unordnung kommt.Wir befinden uns hier an einem Wendepunkt, der in die-ser Debatte deutlich angesprochen werden muß.
Die CDU/CSU hat in der Geschichte der Bundes-republik Deutschland während der Zeit, in der es dieBundeswehr gibt, erst fünfmal gegen einen Verteidi-gungsetat gestimmt.
– Sie konnten nicht so oft dagegen stimmen, HerrFischer. So lange ist Ihre Partei noch nicht im Bundes-tag, und ich befürchte, Sie werden nicht mehr lange hiersitzen.
Wir stimmen in dieser Woche das sechste Mal dage-gen. Das heißt, wir haben es uns in der Vergangenheitauf Grund unseres Verständnisses als staatstragendeKraft in Deutschland nicht einfach gemacht.
Wer für den Haushalt 2000 stimmt, der muß wissen, daßdies der erste Haushalt in der Geschichte der Bundesre-publik Deutschland ist, der in dem wichtigen Feld derVerteidigung keine mittelfristige bzw. langfristige Per-spektive beinhaltet.
Lassen Sie mich dazu noch eines sagen: Da tritt derBundesfinanzminister auf und sagt, man müsse dochverstehen, daß auch die Bundeswehr von Sparmaßnah-men nicht ausgenommen werden könne
– das hört man auch in Ihrer Fraktion –;
denn schließlich müsse auch die Bundeswehr ein Inter-esse daran haben, daß die Staatsfinanzen solide seien. –Das ist eine abenteuerliche Begründung.
Es geht doch nicht um die Interessen der Bundeswehr,sehr verehrte Kollegen der SPD. Vielmehr geht es umdie Sicherheitsinteressen der Menschen in Deutschland,um die Sicherheitsinteressen unseres Landes.
– Sehr verehrte Frau Kollegin Wohlleben, hier erfolgteine schleichende Veränderung der Prioritäten derPolitik unseres Landes.
Wenn Herr Scharping ehrlich ist – was ich unterstelle–, dann soll er gleich zum Rednerpult kommen – er wirdsprechen; das ist nicht zu verhindern –
und folgendes sagen: Die im Bundeshaushalt 2000 ver-anschlagten Mittel steigen, wenn auch um nicht sehrviel,
aber der Ansatz für den Verteidigungshaushalt sinkt –gegenüber dem Vorjahr um 1,7 Milliarden DM, gegen-über der alten mittelfristigen Finanzplanung um3,5 Milliarden DM.
Wenn der Finanzminister diese Woche einen Haushaltverabschieden lassen will, der vom Mittelansatz her ge-stiegen ist, die Mittel im Verteidigungshaushalt abersinken, dann bedeutet dies, daß die Priorität der deut-schen Verteidigungspolitik in diesem Hause mit Zu-stimmung derer, die dies verabschieden, abnimmt. DiesePrioritätenverschiebung ist nicht zu vertreten. Wir wer-den erleben, daß der Verteidigungsminister, der diesenUmstand bedauert, durch sein Abstimmungsverhaltenmit dafür verantwortlich wird, daß er selbst absteigt.
Das kann ich eigentlich nicht begreifen.Die Zukunft der Bundeswehr, die Zukunft der deut-schen Verteidigungspolitik bedarf mehr Verläßlichkeitund mehr Vertrauen. Dies sind nicht nur in der Sicher-heitspolitik entscheidende Größen, sondern auch dann,wenn es um eine Großorganisation wie die Bundeswehr,wenn es um Menschen geht.
Ich unterstelle einmal, daß sich der Vorsitzende desVerteidigungsausschusses, Kollege Wieczorek – er istleider erkrankt; gute Besserung, Helmut Wieczorek –,der Frage der Berechenbarkeit sehr wohl bewußt war,als er in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ ge-sagt hat
– das ist Ihnen allen geläufig –, daß die BundeswehrStellen abbauen müsse, insbesondere beim Beschaf-Paul Breuer
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fungsamt – dort handelt es sich um 20 000 Stellen –, daß1 500 Panzer veräußert werden müßten usw. Ich kennedie Schreiben der betroffenen Menschen an den Vertei-digungsausschuß. Darin wird deutlich, daß sie sich indieser Frage – und es sind Arbeitnehmer – nicht von derSPD vertreten fühlen. Warum? Sie gehen an diese Sachein einer Art und Weise heran, die völlig unvertretbar ist.Wenn wir die Zukunft der Bundeswehr bestimmen wol-len, wenn wir die Bundeswehr umbauen, sie reformierenwollen, dann können wir das nicht gegen die Mitarbei-ter, die Soldaten und zivilen Bediensteten der Bundes-wehr tun.
Wir müssen das gemeinsam mit ihnen tun.
Seien Sie ehrlich – dies richte ich an den Verteidi-gungsminister –,
was die Konsequenzen der mittelfristigen Finanzpla-nung angeht, die der Kollege Kröning für die SPD-Fraktion gutgeheißen hat. Die Universität der Bundes-wehr München, Bereich Wirtschaftsorganisationswis-senschaften, hat die Konsequenzen berechnet – derehemalige stellvertretende Generalinspekteur der Bun-deswehr war daran beteiligt –: Die militärische Perso-nalstärke ginge von 340 000 auf 230 000 zurück. DieGrundwehrdienstdauer läge bei etwa sechs Monaten.Die Fähigkeit zu Auslandseinsätzen verringerte sich ummindestens 15 Prozent. Die investive Lücke wüchse auf30 bis 40 Milliarden DM. Der Anteil der Verteidigungs-ausgaben am Bruttoinlandsprodukt sänke von 1,3 auf 1,1Prozent; dann lägen wir an der zweitletzten Stelle mitnur noch Luxemburg hinter uns. Deutschlands mögli-cher Bündnisbeitrag bei Auslandseinsätzen läge um50 Prozent unter den Erwartungen unserer Partner.Im Binnenbereich der Bundeswehr hätte es verhee-rende Auswirkungen auf das Dienstklima, die Nach-wuchsgewinnung, das Vertrauen in die Politik: zirka120 000 bis 170 000 Arbeitsplatzverluste, 20 000 bis30 000 Arbeitslose, 150 bis 200 der 600 Standorte derBundeswehr würden aufgelöst, fiskalische Entlastungenper annum lägen in der Größenordnung von unter 1 Pro-zent des Bundeshaushaltes.Meine Damen und Herren Kollegen, wenn Sie eineDebatte ernsthaft führen, dann frage ich Sie: Wenn der-art verheerende Auswirkungen drohen – niemand be-streitet sie; der Parlamentarische Staatssekretär im Ver-teidigungsministerium, Walter Kolbow, hat in einerDiskussion gestern zugestimmt, daß es so wäre –,könnten Sie sich bei Ihrer Verantwortung nicht einmaleinen Ruck geben und sagen, dieser rotgrüne Zirkus inder Verteidigungspolitik muß beendet werden? Es istunverantwortlich, was hier geschieht.
Herr Kollege Erler, ich richte direkt an Sie die Frage:Betreiben Sie diese Finanzpolitik mit der Zielsetzung,genau das zu erreichen, was die Bundeswehruniversitätfeststellt? Kommt Ihnen dieses Mittel gerade recht, weilSie das schon immer wollten, oder ist es eine Folge einerSparpolitik, die Sie als notwendig erachtet haben?
Ich habe den Eindruck, daß es eine ganze Reihe vonKollegen auf den rotgrünen Bänken gibt, denen dieFinanzenge, von der Sie heute sprechen, regelrecht zu-paß kommt. Sie wollen eine andere deutsche Sicher-heitspolitik.
Herr
Kollege Breuer, kommen Sie bitte zum Schluß.
Danke schön, Herr Präsi-
dent. Ich komme zum Ende.
Bei Ihnen, Frau Kollegin Beer, bin ich fest davon
überzeugt, daß sie Ihnen zupaß kommt. Sie wollen eine
andere Rolle der deutschen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik. Deswegen sind Sie froh, daß Sie das mit
der Finanzpolitik begründen können. Sie springen zu
kurz und zäumen das Pferd vom Schwanze auf.
Der deutsche Sicherheitsbeitrag muß bestimmt wer-
den aus dem deutschen Rollenverständnis in der Ver-
antwortung für Europa und für die NATO. Das, was Sie
an Beitrag leisten – das bescheinigt Ihnen der Verteidi-
gungsminister –, ist völlig unverantwortlich.
DasWort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Ru-dolf Scharping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Ich schließe mich den herzlichen Glückwünschenzum Geburtstag an. Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Wir sollten die deutsche Sicherheitspolitik indie internationale Lage einordnen und sie als das verste-hen, was sie ist, nämlich umfassend und kooperativ.Umfassend in dem Sinne, daß sie wirtschaftliche, ökolo-gische, soziale, kulturelle Aspekte einbezieht, koopera-tiv in dem Sinne, daß sie mit anderen Nationen gemein-sam Sicherheit sucht. Früher hat man gefragt: Wo stehtder Feind? Heute sollte man fragen: Wo ist der Partnerfür gemeinsame Sicherheit?
Paul Breuer
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Wenn man das tut, dann fällt es auch leichter, einzelneHaushalte zu betrachten. Darauf will ich gleich kom-men.Ich will hinzufügen, daß die internationale Lage ehervon gewissen Herausforderungen und ihrem Anwachsengeprägt ist und daß wir uns darüber klar sein sollten, daßmit den Präsidentschaftswahlen sowohl in Rußland wieauch später in den USA ein gewisser Attentismus undmöglicherweise auch eine mangelnde Kooperationsbe-reitschaft oder Kooperationsfähigkeit drohen können.Wir hoffen das nicht, aber man sollte es in Rechnungstellen.Die NATO hat eine neue Strategie verabschiedet. DieEuropäer haben sich entschlossen, eine GemeinsameAußen- und Sicherheitspolitik aufzubauen, in derenRahmen eine europäische Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik steht. Die Verantwortung und die Gestal-tungsmöglichkeiten der Bundesrepublik Deutschlandsind gewachsen.Das alles sage ich, weil nach meiner Überzeugungauch in Zukunft die Entscheidungen über die Sicher-heitspolitik unseres Landes auf einer möglichst breitengesellschaftlichen wie parlamentarischen Grundlage er-folgen sollten.
Die Bundeswehr braucht diesen Konsens, damit auchdie Soldatinnen und Soldaten wissen, wofür sie eintretenund daß sie dabei bei Bevölkerung, Parlament und Re-gierung Unterstützung haben, zumal wenn es um inter-nationale Einsätze geht.Diese Unterstützung ist gegeben. Weit über 80 Pro-zent der Menschen in unserem Land haben großes Ver-trauen in die Bundeswehr. Die NATO genießt höchstesAnsehen; mehr als 90 Prozent der Bürgerinnen und Bür-ger sprechen sich für eine Mitgliedschaft in dem ge-meinsamen Sicherheitsbündnis aus. Über zwei Drittelder Bevölkerung unterstützen übrigens auch die Wehr-pflicht. Man sollte das wenigstens wissen, bevor mananfängt, Politik zu formulieren. Die hohe Zustimmungder Bevölkerung auch zum internationalen Engagementder Streitkräfte ist ein wesentliches Ergebnis gemeinsa-mer, verantwortungsbewußter Außen- und Sicherheits-politik.Vor diesem Hintergrund bedauere ich, daß sich dieCDU/CSU und die F.D.P. aus ausschließlich parteitakti-schen Erwägungen aus dieser gemeinsamen Verant-wortung zu verabschieden beginnen.
Das ist besonders bedauerlich angesichts der Tatsache,daß wir vor grundlegenden Weichenstellungen stehen– nicht mit diesem Haushalt allein –, was die Neuaus-richtung der Bundeswehr angeht. Sie verhalten sich nachdem Motto: Schon richtig, es muß gespart werden, aberbitte nirgendwo.
Sie bringen eine Argumentation, die besagt: Der Staatmuß mit dem öffentlichen Geld behutsamer, vorsichti-ger, sparsamer, kostenbewußter umgehen. Bei jedemEinzelplan, bei jeder Einzelentscheidung stellen Sie sichhier hin und sagen: Nein, hier darf das nicht passieren;das ist nicht vertretbar.
Das ist intellektuell mindestens unredlich.
– Herr Kollege Breuer, wenn Sie noch zwei Minutenwarten, dann gerne.
Ich kann nur sagen: Sie sind offenbar ohne Alternati-ve, aber gleichzeitig auch ohne Gedächtnis.
Sie waren es doch, die den Rüstungsteil, den Investiti-onsteil des Verteidigungshaushalts in den 90er Jahrenauf mickrige 5,2 Milliarden heruntergefahren haben.
Sie waren es doch, die die Bundeswehr in den 90er Jah-ren personell wie finanziell halbiert haben. Sie warenes doch, die den Beförderungsstau haben entstehen las-sen.
Sie waren es doch, die den Investitionsstau haben ent-stehen lassen.
Mit allen diesen Problemen müssen sich die neue Koali-tion und der Bundesverteidigungsminister jetzt herum-schlagen. Sie haben die Probleme aufgehäuft undbeschimpfen uns jetzt dafür, daß wir sie konsequentbewältigen wollen. Das ist doch unverantwortlich.
HerrBundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage desKollegen Breuer?Bundesminister Rudolf Scharping
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6610 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Wenn ich vorher noch einen Satz sagen darf, derKollege Breuer kann das dann einbeziehen.Er hat eben gesagt: Zum erstenmal verabschieden wireinen Haushalt ohne langfristige Perspektive. Damit ha-ben Sie doch gleichzeitig gesagt, daß die früheren Bun-deswehrplanungen keine langfristige Perspektive bein-haltet haben.
Das ist eine interessante Bemerkung.Bitte schön, Herr Kollege Breuer.
Herr
Bundesminister, das Wort erteile ich.
Herr Breuer, bitte.
Herr Verteidigungsmi-
nister, darf ich Sie darauf hinweisen, daß ich gesagt ha-
be, dies ist der erste Verteidigungshaushalt, den der
Deutsche Bundestag beschließen soll, ohne daß eine
mittelfristige Finanzplanung vorliegt?
Sie legen ja Wert auf die Feststellung, daß Sie diese mit
einem Vorbehalt versehen haben.
Aber nun zur Frage. Ist Ihnen entgangen, daß die
Verkleinerung der Bundeswehr in der Folge der großen
Veränderungen in Europa und der deutschen Einheit aus
sicherheitspolitischen Gründen zwingend notwendig
war?
Ist es Ihnen entgangen, daß die damit einhergehenden
Kürzungen im Verteidigungsetat von Ihrer eigenen
Fraktion gewollt waren und daß es zum Teil Situationen
gab – Sie waren Fraktionsvorsitzender –, in denen Ihre
Stellvertreterin, Ingrid Matthäus-Maier, zusätzliche
Kürzungen von 1 Milliarde DM wollte und sich die
Verteidigungspolitiker Ihrer Fraktion, für die Sie Ver-
antwortung trugen, weigerten, den Beschlüssen der SPD
zuzustimmen?
Ist Ihnen entgangen, daß die SPD-Fraktion im Deut-
schen Bundestag weitestgehend – Sie selbst haben in
Karlsruhe geklagt –
gegen die Auslandseinsätze der Bundeswehr gewesen
ist? Ist Ihnen entgangen, daß in der Finanzplanung des
damaligen Bundesverteidigungsministers
eine Einplanung neuer Mittel – Sie bedauern heute, daß
sie nicht vorhanden sind – gar nicht möglich war, weil
Sie denselben Verteidigungsminister in die Wüste ge-
schickt hätten, wenn er überhaupt nur daran gedacht
hätte, daran irgendetwas ändern zu wollen?
Bitte
schön, Herr Bundesminister.
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Herr Kollege Breuer, mir entgeht wenig. Vor allen
Dingen ist mir nicht entgangen, daß Sie die Bundeswehr
nicht nur personell und finanziell halbiert haben, son-
dern gleichzeitig im Zuge dieses Prozesses regelmäßig
Haushalte aufgestellt haben, die an zwei Dingen krank-
ten: Zum einen haben Sie für internationale Einsätze
50 Millionen DM veranschlagt, obwohl Sie genau wuß-
ten, daß sie mit 400 bis 500 Millionen DM zu Buche
schlagen werden.
Das wurde zu Lasten der Investitionen erwirtschaftet.
Zum anderen haben Sie im Zuge der Waigelschen
Haushaltspolitik – nach dem Motto: erst den Haushalt
aufstellen und hinterher die Tatsachen sprechen lassen –
den Bundeswehrhaushalten insgesamt über 5 Milliar-
den DM entzogen, eine um das Fünffache höhere Sum-
me als das, was die SPD jemals als Kürzungsvorschlag
vorgelegt hat.
Das ist mir alles nicht entgangen.
Insofern: Die Frage ist beantwortet, Sie dürfen sich
jetzt setzen. Es gibt noch mehr Kollegen, die Zwischen-
fragen stellen wollen.
Herr
Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Nolting?
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Eine Zwischenfrage lasse ich noch zu, damit das
zwischen den Oppositionsparteien gerecht verteilt ist.
Herr
Breuer, Sie haben eine Serie von Fragen gestellt. Damit
haben Sie Ihr Fragerecht, so glaube ich, ausgeschöpft.
Bitte, Herr Nolting.
Herr Minister,Sie haben eben gesagt, die mittelfristige Finanzplanungliege doch vor. Wir alle wissen, daß in dieser mittelfri-
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stigen Finanzplanung vorgesehen ist, im Bereich Vertei-digung, Einzelplan 14, mehr als 18 Milliarden DM ein-zusparen. Kann ich Ihrer Bemerkung entnehmen, daßSie der mittelfristigen Finanzplanung doch zugestimmthaben?
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Zunächst möchte ich Sie bitten – wenn Sie dasdenn tun –, sich oppositionell abzustimmen. Denn espaßt schlecht zusammen, daß der Kollege Breuer sagt,es gebe gar keine mittelfristige Finanzplanung, wäh-rend Sie auf sie verweisen. Sie wissen genau, in welcherForm sie existiert: Bundestagsdrucksache 14/1401; dortist das nachzulesen.
Der Kollege Kröning hat das gerade zitiert: Die mittelfri-stige Finanzplanung besagt ausdrücklich, daß bei weite-ren Entscheidungen die Ergebnisse der Kommission un-ter Vorsitz von Richard von Weizsäcker einzubeziehensind.
Genau das werden wir tun.
Nun wollte ich Ihnen im Zusammenhang diesesHaushaltes etwas zu Ihrer Alternativlosigkeit sagen. Siehaben ja nicht nur die Bundeswehr halbiert, sonderngleichzeitig die Ausrüstung der Bundeswehr sträflichvernachlässigt. Die Einsätze in Bosnien-Herzegowinaund im Kosovo haben jedenfalls deutlich gemacht, wiedringend notwendig Sicherheitsvorsorge auch in der Zu-kunft sein wird.Bei allen vorigen Haushalten hat die Bundeswehr –ich erwähnte es – die Mehrkosten für diese Einsätze zueinem großen Teil aus dem laufenden Etat erwirtschaf-ten müssen. Dies ging vor allem zu Lasten der Investi-tionen. Jetzt ist mit der Veranschlagung jener 2 Milliar-den DM im Einzelplan 60 zum erstenmal eine zuverläs-sige, ordentliche und übrigens auch durchschaubareFinanzierung gewährleistet, was ich ausdrücklich be-grüße.
Sollte sich das Parlament entscheiden, diese Mittel spä-ter in den Einzelplan 14 einzustellen, werden Sie vonmir keinen Protest hören. Das werden Sie sicher verste-hen. Mit diesen Entscheidungen machen wir jedenfallsdeutlich, daß die Bewältigung von Krisen wie auf demBalkan eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, der wiruns stellen.Zu Beginn des Jahres 1999 hatte ich Leitlinien fürdie Arbeit des Bundesministeriums der Verteidigungund der Bundeswehr vorgestellt. Eine davon hieß „Pla-nerische und soziale Sicherheit gewährleisten“, einezweite „Wirtschaftlichkeit und Effizienz steigern“.Zunächst zu der ersten Leitlinie. Im Sinne dieserLeitlinie und ihrer Erfüllung wird es keine Abstriche beiAusbildung, Übung und Betrieb geben. Das ist auchrichtig so; denn anders könnte man internationaleEinsätze mit hohem Risiko überhaupt nicht verantwor-ten.
Nun zu der zweiten Leitlinie: Im Haushalt sind fürBerufs- und Zeitsoldaten 192 600 Planstellen veran-schlagt. Das ist etwas mehr als letztes Jahr, im großenund ganzen aber dieselbe Zahl wie 1999. Der KollegeAustermann hat schlicht Unrecht, wenn er hier behaup-tet, die Zahl sei deutlich gesunken. Das ist einfach dieUnwahrheit. Sie haben etwas verglichen, was Sie inIhrer eigenen Regierungszeit nie erreicht haben, nämlichdie Zielplanung der Bundeswehrstruktur von 340 000Mann, mit den tatsächlichen Stellen.Planerische und soziale Sicherheit besteht. Das giltübrigens auch für die Zivilbeschäftigten. Ich möchtemit Blick auf manche Äußerungen – die nicht nur hierim Parlament gemacht wurden – sagen: Die Zahl derDienstposten im zivilen Bereich der Bundeswehr wirdum präzis 1 000 von 123 000 auf 122 000 verringert.Das bedeutet, daß wir die Fluktuation nutzen könnenund niemandem aus betriebsbedingten Gründen kündi-gen müssen.
Diese Aussage steht auch für das Jahr 2000. Im übrigenverbessern die im Haushalt enthaltenen Planstellen dieBeförderungsmöglichkeiten und leisten damit einen Bei-trag dafür, daß die Bundeswehr attraktiv bleibt.In diesem Zusammenhang möchte ich einen Hinweisgeben. Ein Bundesbediensteter kostet durchschnittlichetwa 125 000 DM im Jahr. Ein Landesbediensteter ko-stet durchschnittlich etwa 90 000 DM im Jahr. Ein Be-diensteter der Bundeswehr – ohne Wehrpflichtige – ko-stet durchschnittlich etwa 58 000 DM im Jahr. Dasheißt, daß wir uns auch für die Zukunft zu überlegen ha-ben werden, ob die Attraktivität des Dienstes in derBundeswehr – auch im Vergleich zu Polizei, Grenz-schutz, Zoll oder anderen Laufbahnen im Landesdienst –entwickelt werden kann. In meinen Augen muß sie ent-wickelt werden.
Diejenigen, die glauben, daß sie mit einer Abschaf-fung der Wehrpflicht billiger fahren würden, warne ichvor den übrigen internationalen Erfahrungen.
Ich will nicht erleben, daß wir in Deutschland dieselbeSituation wie in den USA bekommen, wo für bestimmteVerwendungen Erstverpflichtungsprämien von 50 000Dollar gezahlt werden. Ich will auch nicht eine Situationwie in den Niederlanden erleben, wo beispielsweise fürGünther Friedrich Nolting
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6612 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Piloten Weiterverpflichtungsprämien von 25 000 Guldenpro Jahr gezahlt werden. Schon gar nicht möchte ich indie Lage anderer europäischer Berufsarmeen kommen,in denen mittlerweile junge Straffällige ihren Dienst inder Armee als Vollzug der Strafe ableisten.
Das alles halte ich für höchst problematisch. Das willich in Deutschland nicht sehen.
Vor diesem Hintergrund folgendes: Die besondereStärke der Bundeswehr ist ihr Personal – seine Lei-stungsbereitschaft und sein Verantwortungsbewußtsein.Folglich darf man daran nicht rütteln. Im Gegenteil:Man muß diese Stärke erhalten und ausbauen. Das be-deutet, daß übereilte und vorschnelle Eingriffe in dieBundeswehr falsch sind. Ein systematisches Vorgehenbleibt richtig. Es muß mit unseren internationalen Ver-pflichtungen in Einklang stehen. Es muß auf derGrundlage der Arbeit der Kommission und der Arbeitendes Ministeriums aufbauen. In diesem Rahmen wird derGeneralinspekteur im nächsten Frühjahr seine Untersu-chungen abschließen und Vorschläge vorlegen.Die Entscheidungen, die dann zu treffen sind, werdenvor dem Hintergrund der internationalen Entwicklungund mit dem Ziel zu fällen sein, mehr Sicherheit in Eu-ropa und im euroatlantischen Raum zu gewährleisten.Deshalb haben Ende April dieses Jahres die Staats- undRegierungschefs der NATO ein neues strategischesKonzept verabschiedet. Auf dessen Grundlage und aufder Grundlage kollektiver Verteidigung wendet sich dieAllianz stärker Konfliktverhütung und Krisenbewäl-tigung zu. Im Bündnis besteht breite Übereinstimmung,daß – vielleicht mit Ausnahme der amerikanischen – alleStreitkräfte im Bündnis in Schlüsselbereichen wie Mo-bilität, Interoperabilität, Führung, Aufklärung und Nut-zung neuer Technologien Defizite aufweisen. Diesemüssen in Zukunft durch Investitionen ausgeglichenwerden.Auf dem Gipfel der Europäischen Union Anfang Junidieses Jahres haben sich die Staats- und Regierungschefsverpflichtet, die militärischen Mittel und Fähigkeiten füreigenständige Krisenbewältigung der Europäer weiter-zuentwickeln. Das betrifft dieselben Bereiche: strategi-sche Aufklärung, Lufttransport und Streitkräfteführung.Über das dafür notwendige Geld wird man reden müs-sen, wenn die Planungen abgeschlossen und die Vorha-ben beschaffungsreif sind. Vorher macht es keinen Sinn,denn dann hätte man wieder Luftbuchungen im Haus-halt, die eine Scheinsicherheit vorgaukeln würden, dietatsächlich nicht vorhanden ist.
Im Interesse dieser Entwicklung wird das Eurokorps aufInitiative Frankreichs und Deutschlands umgestaltet. ImSinne dieser Zielsetzung will ich hinzufügen, daß wir inEuropa auf einem guten Weg sind, gemeinsam, wirksamund im politischen Sinne umfassend etwas zur Konflikt-verhütung und Krisenbewältigung beizutragen.
Bei all diesen Vorhaben hat die Bundesregierung ent-scheidend mitgewirkt. Es ist ein großer außenpolitischerErfolg, daß wir uns in allen Fragen, die mit der Gemein-samen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zutun haben, mit unseren Initiativen und Vorschlä-gen durchgesetzt haben. Das ist ein Erfolg, auf den manstolz sein kann, jedenfalls innerhalb des Regierungsla-gers.
Wenn man daraus Konsequenzen mit Blick auf die-sen Haushalt und spätere Haushalte ziehen will, dannheißt das zunächst folgendes: Die BundesrepublikDeutschland hat in Europa die höchste Bevölkerungs-zahl, aber die relativ zweitkleinsten Streitkräfte; dieBundesrepublik Deutschland hat in Europa die größteWirtschaftskraft, aber sie gibt gemeinsam mit Belgienam wenigsten für die Verteidigung aus, noch weniger alsLuxemburg.
Es ist völlig egal, ob man sich nach NATO-Kriterienrichtet oder beispielsweise heute in die „Neue ZürcherZeitung“ schaut und dort die Schweizer Untersuchungenüber die volkswirtschaftlichen Kosten verschiedenerKonzepte heranzieht. Man wird feststellen: Diese Tatsa-chen sind unbestreitbar.
Der Investitionsanteil im Einzelplan 14 muß wiederansteigen. Wir haben ihn 1999 angehoben, und er bleibtim Jahre 2000 allem Gerede zum Trotz auf exakt dem-selben Niveau, und das ist auch gut so. Denn sonstkönnten wir die eingegangenen Verpflichtungen aus derneuen NATO-Strategie und der sich entwickelndeneuropäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitiknicht erfüllen.Schließlich sollten wir beachten, daß es auch um denWirtschafts- und Technologiestandort Deutschland geht,der eine wettbewerbsfähige Industrie, auch eine wettbe-werbsfähige wehrtechnische Industrie braucht. Wernämlich nur international einkauft, bekommt immer dieTechnologien der vorletzten Generation zum Preis derübernächsten Generation, also das Zweitbeste zumHöchstpreis. Das sollten wir vermeiden.
Meine Damen und Herren, in die Bundeswehr inve-stieren heißt, in Menschen und Sicherheit, in die frei-heitliche und friedliche Entwicklung unseres Landes, ineine leistungsfähige Industrie und in moderne Arbeits-plätze zu investieren.
Bundesminister Rudolf Scharping
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Im Zusammenhang mit der Leitlinie Nr. 2 darf ichhinzufügen, daß wir konsequent und energisch die Ein-führung neuer Managementmethoden betreiben und dieKooperation mit der Wirtschaft verstärken. Wir er-schließen auf diese Weise Rationalisierungspotentiale.Dem diente die Rahmenvereinbarung mit 13 Großunter-nehmen der deutschen Wirtschaft, und dem diente auchdie Modernisierungsvereinbarung mit den Gewerk-schaften und Verbänden des öffentlichen Dienstes. Diesalles wird konsequent fortgesetzt werden.Wir werden nämlich letztlich mit der Bundeswehr imInteresse der Sicherheit unseres Landes, der Europäerund unseres gemeinsamen Bündnisses nur Erfolg haben,wenn Regierung und Parlament bereit sind, solche inno-vativen Schritte stärkerer Kooperation, höherer Wirt-schaftlichkeit, verbesserter Effizienz und modernerenVerwaltungshandelns tatkräftig zu unterstützen.Heute fehlen der Bundeswehr gewisse Fähigkeiten.Ich habe darüber gesprochen. Eine Fortsetzung diesesZustands liegt nicht im Interesse unseres Landes. DieBundeswehr muß auch in Zukunft in der Lage bleiben,ihre Verpflichtungen im Bündnis und ihre Verpflichtun-gen in Europa zu erfüllen.
Eines hat uns der Kosovo-Konflikt überdeutlich vorAugen geführt: Gemeinsame Sicherheit im euroatlanti-schen Raum und gemeinsame Verantwortung für denFrieden erfordern die Bereitschaft, Verpflichtungen undLasten zu übernehmen, die der gewachsenen Rolle un-seres Landes in Europa und international gerecht wer-den.
Ich will hinzufügen, daß die Bereitschaft, sich an in-ternationaler Friedenssicherung zu beteiligen, ein Ge-bot der Solidarität, aber auch unser ureigenstes Interesseist. Wenn es um Konflikt oder Frieden, um Gewalt oderSicherheit geht, hängt der Einfluß auf internationaleEntscheidungen und auch der Einfluß auf deren Um-setzung davon ab, welche konkreten Beiträge man insicherheitspolitischen Zusammenhängen leisten will undleisten kann.Meine Damen und Herren, ich möchte diese Bemer-kungen zum Haushalt 2000 mit einem Dank an die450 000 Angehörigen der Bundeswehr, an die etwa320 000 in Uniform ebenso wie an die gut 120 000 imzivilen Bereich, abschließen.
Das sind Menschen, die unter manchmal schwierigenBedingungen Frieden und Freiheit sichern, Gewaltfrei-heit gewährleisten, ob sie jetzt in Bosnien-Herzegowina,im Kosovo, in Georgien oder in Osttimor eingesetztsind. Dies sind Menschen, die Opfer retten und – weitüber ihren militärischen Auftrag hinaus – Infrastrukturentwickeln, Häuser wieder aufbauen helfen, Schulenwieder herrichten helfen, Kindergärten aufbauen undvieles andere tun, was mit dieser umfassenden Sicher-heit zu tun hat.Wir haben – das will ich noch einmal am Beispiel desKosovo sagen – auch dank der Bundeswehr mörderischeGewalt gestoppt. Frieden haben wir noch lange nichtgewonnen. Es ist aber so, daß die Bundeswehr mit ihrenAngehörigen auf erstaunliche und manchmal bewun-dernswerte Weise auch einen Beitrag zur Gewinnungeines umfassenden Friedens leistet. Dafür haben die An-gehörigen der Bundeswehr Dank und Anerkennung ver-dient,
in die ich die Familien ausdrücklich einschließe.Vielen Dank.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Helmut Rau-
ber von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr Minister Scharping, so,wie Sie das heute getan haben, lassen wir uns als Oppo-sition nicht behandeln.
Wir standen immer zu Ihnen, wenn es um die Interessender Bundeswehr und um die Interessen der Sicherheits-politik Deutschlands ging. Sie werden es nicht schaffen,daß aus den Brandstiftern von gestern jetzt die Bewerberfür das Leistungsabzeichen als Feuerwehrmann werden.
Es ist noch nicht vergessen, daß SPD und Grüne imJuni 1994 über das Bundesverfassungsgericht zu verhin-dern versuchten, daß deutsche Piloten die AWACS mit-fliegen bzw. daß sich die Bundesmarine am Waffenem-bargo in der Adria beteiligt.
Unsere Politik, die Politik von Helmut Kohl, warimmer: Frieden schaffen mit weniger Waffen. Zu dieserPolitik stehen wir, und diese Politik war auch erfolg-reich.
Erst die sicherheitspolitische Situation hat es erlaubt,daß wir den Verteidigungshaushalt deutlich nach untenfahren konnten.
Ich frage Sie: Wo waren denn die Anträge der SPD,den Verteidigungshaushalt aufzustocken? Die Anträgegingen doch in die genau entgegengesetzte Richtung.Wenn wir heute im Bereich der Wehrtechnik beklagen,daß der Munitionstitel unterfinanziert ist, weise ich Siedarauf hin, daß aus den Reihen der SPD Anträge gestelltwurden, den Munitionstitel um 400 000, um 280 000DM usw. pro Jahr zu kürzen. So geht es nicht.Bundesminister Rudolf Scharping
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6614 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Es geht auch nicht, daß Sie auf dem europäischenGipfel im Juni 1999 großspurige Erklärungen nach au-ßen abgeben, aber letzten Endes der Bundeswehr dieMittel entziehen, die sie braucht, um diesen Aufgabenauch gerecht werden zu können. Wir, Herr Minister, er-kennen an, daß Sie sich für die Bundeswehr einsetzen.Wir werden Sie aber daran messen, inwieweit Sie sichinnerhalb der SPD bzw. in Ihrer Koalition durchsetzenkönnen.
Herr
Bundesminister, wollen Sie erwidern? – Nein!
Wir kommen jetzt – ich bitte um Aufmerksamkeit –
zur Abstimmung über den Einzelplan 14 in der Aus-
schußfassung. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Die
Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstim-
mung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle
Plätze besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
stimmung
Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimme noch nicht
abgegeben? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Ab-
stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, mit der Auszählung zu beginnen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ände-
rungsantrag der Fraktion der PDS. Wer stimmt für den
Änderungsantrag auf Drucksache 14/2144? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungs-
antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen, CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen der
PDS abgelehnt.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich jetzt die Sitzung.
Ich er-öffne die unterbrochene Sitzung wieder.Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionder CDU/CSU zur zweiten Beratung des Entwurfs desHaushaltsgesetzes 2000 – hier: Einzelplan 14, Ge-schäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidi-gung – bekannt, Drucksachen 14/1400, 14/1680,14/1913, 14/1922, 14/1923, 14/1924 und 14/2140. Ab-gegebene Stimmen 587. Mit Ja haben gestimmt 238, mitNein haben gestimmt 349; keine Enthaltungen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 585;davon:ja: 238nein: 347JaCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleOtto BernhardtHans-Dirk BierlingDr. Joseph-TheodorBlankRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserDr. Maria BöhmerSylvia BonitzJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyGeorg BrunnhuberHartmut Büttner
Dankward BuwittCajus CaesarManfred Carstens
Peter H. Carstensen
Leo DautzenbergWolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke EymerIlse FalkAlbrecht FeibelUlf FinkIngrid FischbachDirk Fischer
Herbert FrankenhauserDr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisDr. Heiner GeißlerGeorg GirischMichael GlosPeter GötzDr. Wolfgang GötzerHermann GröheManfred GrundHorst Günther
Gottfried Haschke
Gerda HasselfeldtNorbert Hauser
Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen HedrichManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithDr. Karl-Heinz HornhuesSiegfried HornungJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkDr. Harald KahlBartholomäus KalbSteffen KampeterDr. Dietmar KansyIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertManfred KolbeNorbert KönigshofenHartmut KoschykRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Hermann KuesDr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Manfred LischewskiWolfgang Lohmann
Julius LouvenDr. Michael LutherErich Maaß
Erwin MarschewskiDr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierFriedhelm OstEduard OswaldHelmut Rauber
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6615
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Norbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerThomas RachelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Erika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerHannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseKurt RossmanithAdolf Roth
Dr. Christian RuckAnita SchäferHartmut SchauerteKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuNorbert SchindlerDietmar SchleeBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt
Michael von SchmudeBirgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffDr. Rupert ScholzReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffDiethard W. Schütze
Clemens SchwalbeWilhelm-Josef SebastianHeinz SeiffertRudolf SeitersBernd SiebertWerner SiemannJohannes SinghammerMargarete SpäteWolfgang SteigerDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerMatthäus StreblThomas StroblDr. Rita SüssmuthEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzAngelika VolquartzDr. Theodor WaigelPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Gert WillnerKlaus-Peter WillschMatthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfElke WülfingWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerF.D.P.Hildebrecht Braun
Ernst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannJoachim Günther
Klaus HauptDr. Helmut HaussmannUlrich HeinrichWalter HircheBirgit HomburgerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Dr. Edzard Schmidt-JortzigDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwelleNeinSPDBrigitte AdlerGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauWolfgang BehrendtDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagLilo Friedrich
Harald FrieseArne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnAchim GroßmannWolfgang GrotthausKarl-Hermann Haack
Hans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerKlaus LennartzDr. Elke LeonhardEckhart LeweringChrista LörcherErika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieHeide MattischeckUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerMichael Müller
Jutta Müller
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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6616 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesVolker Neumann
Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanGünter OesinghausLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Willfried PennerGeorg PfannensteinJohannes Andreas PflugDr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosRené RöspelDr. Ernst DieterRossmannMichael Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyDieter SchlotenHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz
Ilse SchumannEwald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenErnst SchwanholdRolf SchwanitzBodo SeidenthalDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseReinhold Strobl
Dr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekJürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützHeino Wiese
Brigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGila Altmann
Marieluise Beck
Angelika BeerMatthias BerningerAnnelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauKristin HeyneUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheDr. AngelikaKöster-LoßackSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKlaus Wolfgang Müller
Kerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Christian SimmertChristian SterzingHans-ChristianStröbeleJürgen TrittinDr. Antje VollmerLudger VolmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
PDSMonika BaltPetra BlässMaritta BöttcherEva Bulling-SchröterRoland ClausDr. Heinrich FinkDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiDr. Barbara HöllCarsten HübnerUlla JelpkeGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzHeidi Lippmann-KastenUrsula LötzerDr. Christa LuftAngela MarquardtKersten NaumannRosel NeuhäuserPetra PauDr. Uwe-Jens RösselChristina SchenkGustav-Adolf SchurDr. Winfried WolfEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungendes Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPUAbgeordnete(r)Bühler , Klaus, CDU/CSU Neumann (Gotha), Gerhard, SPDVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6617
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Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Wir kommen damit zur Abstimmung über den Ein-zelplan 14 in der Ausschußfassung. Wer stimmt für denEinzelplan 14? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Dann ist der Einzelplan 14 mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen Fraktio-nen angenommen.Ich rufe jetzt auf:Einzelplan 23Bundesministerium für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung– Drucksachen 14/1917, 14/1922 –Berichterstattung:Abgeordnete Antje HermenauMichael von SchmudeDr. Emil SchnellJürgen KoppelinDr. Barbara HöllEs liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDSvor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteileich das Wort dem Abgeordneten von Schmude von derCDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Schon bei der erstenLesung des Einzelplans haben alle Redner die über-durchschnittliche Kürzung, ja den geradezu dramati-schen Einbruch bei der Entwicklungshilfe beklagt. Den-noch hat sich nach den Haushaltsberatungen am Ge-samtergebnis kaum etwas verändert. Ganze 13,5 Millio-nen DM Mehrausgaben – das sind weniger als zweiPromille – runden den Etat jetzt auf 7,1 Milliarden DMauf. Der Plafonds liegt damit um 800 Millionen DMunter dem Haushaltsergebnis 1998 und um 661 Millio-nen DM unter dem Ist von 1999.Es ist der Koalition nicht gelungen, aus diesem ab-soluten Tiefstand wenigstens ein Stück weit herauszu-kommen. Das Wahlversprechen, mehr für die Entwick-lungshilfe zu tun – übrigens auch eine Aussage im rot-grünen Koalitionsvertrag –, wurde gebrochen.
Nach dem Motto „Augen zu und durch“ wurden unsereEinspar-, Aufstockungs- und Deckungsvorschläge ab-gelehnt. Dieser Einzelplan war früher immer so etwaswie das soziale Gewissen einer Regierung. Jetzt drückensich darin soziale Kälte, Hilflosigkeit, ja Stümperei aus.
Kürzungen in diesem Einzelplan hat es früher auchgegeben. Aber nie waren sie substanzvernichtend. DieMinisterin selbst hat vor den Haushaltsberatungen dar-auf hingewiesen, daß es angesichts der Kürzungen zudrastischen Einschränkungen in der Entwicklungszu-sammenarbeit kommen würde. Geradezu gravierendenegative Auswirkungen auf die zukünftigen Haushalts-jahre hat aber das rigorose Absenken der Verpflich-tungsermächtigungen. Es ist ein Stück weit gelungen,die vorgesehenen Kürzungen zu korrigieren. Doch bleibtfestzuhalten, daß in vielen Bereichen nur noch ein Ab-wickeln bereits begonnener Projekte oder eingegangenerVerpflichtungen erfolgen kann.Ganz kraß zeigt sich das bei der finanziellen Zusam-menarbeit. Die Verpflichtungsermächtigungen sinkenvon 2,3 Milliarden DM auf nur noch 1,7 Milliarden DM.1998 betrugen die Barmittel für die FZ noch 2,533 Mil-liarden DM; im Jahr 2000 werden es nur noch rund 1,95Milliarden DM sein. Dies hat nicht nur eine negative Si-gnalwirkung auf unsere Entwicklungshilfe, sondernauch entsprechende Auswirkungen auf den deutschenArbeitsmarkt. 85 Prozent der deutschen Entwicklungs-hilfe fließen letzten Endes in Form von Aufträgen andeutsche Firmen zurück. Interessant ist auch: Die Rück-flüsse aus der finanziellen Zusammenarbeit betragen imJahr 2000 1,425 Milliarden DM. Die FZ finanziert sichalso zu 75 Prozent selbst.Im Rahmen der Beratungen hat es einige Umschich-tungen gegeben, die wir im wesentlichen mittragen. Wirbegrüßen die Korrekturen bei den Ansätzen für die Kir-chen – 275 Millionen DM – und für die Stiftungen – 290Millionen DM. Wir begrüßen, daß die entwicklungspo-litischen Maßnahmen privater deutscher Träger nunmehrmit 34 Millionen DM gefördert werden
und daß für die berufliche Aus- und Fortbildung vonPersonen aus Entwicklungsländern nunmehr 152 Millio-nen DM zur Verfügung stehen.
Trotz dieser Korrekturen, lieber Kollege Dr. Schnell,wird bei diesen Einzeltiteln weder das Haushaltsergeb-nis 1999 und schon gar nicht das Haushaltsergebnis von1998 erreicht.Großzügig zeigt sich die Koalition dagegen bei denMitteln für den zivilen Friedensdienst. Waren im Re-gierungsentwurf zunächst 7,5 Millionen DM bar und 10Millionen DM an Verpflichtungsermächtigungen vorge-sehen, so belaufen sich die Barmittel jetzt auf 17,5 Mil-lionen DM und die Verpflichtungsermächtigungen auf20 Millionen DM – und dies, obwohl noch im Berichter-stattergespräch davon die Rede war, daß nicht einmal7,5 Millionen DM ausgegeben werden könnten, sonderndas Geld vielleicht sogar gestreckt werden müsse. Of-fensichtlich mußte hier wieder einmal etwas für dieKlimapflege in der Koalition getan werden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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6618 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Unsere Anträge, die im Haushaltsausschuß bedauerli-cherweise abgelehnt wurden – passen Sie genau auf,Herr Dr. Schuster –, zielten darauf ab, die beruflicheAus- und Fortbildung langfristig abzusichern, die Zu-schüsse an integrierte Fachkräfte zu verstärken, dieMittel für die FZ um 200 Millionen DM zu erhöhen, dieentwicklungspolitischen Maßnahmen privater deutscherTräger stärker zu dotieren und vor allem auch dasErnährungssicherungsprogramm zu verstärken, anstatt3 Millionen DM in eine neue Kantine in Bonn zu in-vestieren.
Auf diese Angelegenheit hat Gott sei Dank inzwischenauch der Bundesrechnungshof ein Auge geworfen. –Unser Deckungsvorschlag für die Aufstockung von 200Millionen DM für die FZ aus Forderungsverkäufenwurde bedauerlicherweise ebenfalls abgelehnt.Die innerhalb des Haushaltes erfolgten Umschichtun-gen gehen vor allem zu Lasten des Europäischen Ent-wicklungsfonds. Hier wird um 59 Millionen DM ge-kürzt. Ich hatte schon beim Berichterstattergespräch aufdiese Möglichkeit hingewiesen, aber die Koalition wardamals nur bereit, 6 Millionen DM aus dem EEFherauszunehmen. Bei allem, was wir heute wissen, gibtes sogar noch mehr Luft für Kürzungen als nur diese59 Millionen DM im EEF. Aber das Haus trägt im Jahr2000 schwer am Währungsrisiko. Für 1 Dollar wird einKurs von nur 1,6823 DM zugrunde gelegt. Laut BMZmuß das Haus auf Grund der Kursdifferenzen rund 65Millionen DM aus eigenen Mitteln, das heißt durch Kür-zung anderer Titel, selbst erwirtschaften.
Wir haben in den Beratungen mit großem Nachdruckdarauf gedrungen, daß die deutsche Beteiligung am in-ternationalen Schuldenerlaß in den kommenden Jah-ren durch die Bereitstellung zusätzlicher Finanzmittelerfolgt und nicht etwa, Frau Ministerin, aus dem abge-magerten BMZ-Haushalt selbst aufgebracht werdenmuß. Wir halten den Schuldenerlaß für richtig, aberEuphorie ist auch hier völlig fehl am Platze. Reichen dieAuflagen für die 36 betroffenen Länder wirklich aus,wenn von ihnen nur Konzepte zur Armutsbekämpfungvorgelegt werden müssen und eine „gute Regierungsfüh-rung“ – was ist das eigentlich? – gegeben sein muß? Wiralle wissen, daß die Auflagen des Internationalen Wäh-rungsfonds in der Vergangenheit oft nicht erfüllt wur-den. Es wurden falsche Statistiken vorgelegt und rheto-rische Bekenntnisse abgegeben. Notwendig ist deshalbauch eine Kontrolle darüber, ob frei werdende Mittelwirklich richtig eingesetzt werden.Im übrigen sollte man die Dimension dieses Schulden-erlasses realistisch einschätzen. Aus einem Volumenvon 70 Milliarden US-Dollar, die in der Regel mit 0,5bis 1 Prozent verzinst werden und auch mit niedrigenTilgungsraten konditioniert sind, die manche Länder garnicht leisten, ergibt sich nur ein geringer Spielraum. Obes eine knappe Milliarde sein wird oder ein bißchenmehr, werden wir sehen.
Wir haben bereits seit einigen Jahren erfolgreich bila-terale Entschuldung durch Umwandlung von Schuldenin nationale Maßnahmen zur Armutsbekämpfung voran-getrieben – das haben wir gemeinsam getan – und dafürjährlich 210 Millionen DM im Haushalt bereitgestellt.Jetzt aber ist es an der Zeit, auch hier einmal eineEvaluierung durchzuführen, um festzustellen, ob die vonuns gesteckten Ziele wirklich erreicht wurden.
Internationaler Kritik sieht sich die Bundesregierungjetzt auch ausgesetzt, weil deutsche Mittel für ver-schiedene UN-Organisationen drastisch zusammen-gestrichen wurden. Das Niveau ist von 224 MillionenDM im Jahre 1998 und 210 Millionen DM im Jahre1999 auf jetzt 139,26 Millionen DM gesunken. Dabeifällt auf, daß vor allem der wichtige Bevölkerungsfondsder Vereinten Nationen von 50 Millionen DM auf ganze20 Millionen DM im Jahr 2000 heruntergefahren wird.Diese Kürzungen stehen in völligem Widerspruch zumAnspruch der Bundesregierung, auf internationaler Ebe-ne mehr mitreden zu wollen. Auch die Bemühungendeutscher Firmen – übrigens auch der GTZ – um Pro-jektaufträge von den Vereinten Nationen dürften durchdiese Handlungsweise nicht gerade gefördert werden.Die Kürzungen in diesem Haushalt treffen vorrangigdie Investitionen und gehen zu Lasten der Projekte unddamit der Nichtregierungsorganisationen. Das Haus-haltsvolumen fällt um 8,7 Prozent, der Anteil des Ein-zelplans 23 am Gesamthaushalt beträgt nur noch 1,5Prozent statt wie bisher 1,7 Prozent, und die ODA-Quote geht von 0,28 Prozent weiter auf 0,26 Prozentzurück. Das sind die Fakten.Aber wo so viel Schatten ist, gibt es auch Licht, wenn– immerhin – die Ansätze für Dienstreisen angehoben,neue Dienstfahrzeuge gekauft, der Verfügungsfonds derFrau Ministerin erhöht, die jährlichen Verwaltungs-kosten um 2,6 Millionen DM gesteigert und zu guterLetzt auch noch zusätzlich 5 000 DM, insgesamt nun-mehr 30 000 DM, für Sachverständige eingestellt wer-den, die die Frau Ministerin im Bundessicherheitsrat beizukünftigen Entscheidungen beraten sollen. Bisher wardieser Sachverstand offensichtlich nicht ausreichend,was vielleicht eine Erklärung für den Trouble bei denRüstungsgeschäften mit der Türkei ist.Der Rotstift des Bundesfinanzministers hat in diesemHaushalt eine Blutspur hinterlassen. Das hat dem Anse-hen der deutschen Entwicklungshilfe leider sehr gescha-det. Wir lehnen deshalb diesen Haushalt mit großer Ent-schiedenheit ab.
Für die SPD-
Fraktion spricht nun der Kollege Emil Schnell.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Die Wahrheit ist ein gutesMichael von Schmude
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999 6619
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Stichwort. In der Tat helfen uns Jammern, Schlechtredenund Schwarzmalen, wie wir es eben gehört haben
– dazu gehört auch der Begriff Blutspur –, in derschwierigen Situation nicht weiter, die wir beim Haus-halt übernommen haben. Wir werden die Erblast vonKohl Stück für Stück abtragen.
Gleichzeitig werden wir neue Akzente auch im Bereichder Entwicklungspolitik setzen.
Natürlich muß der Einzelplan 23 seinen Beitrag zurKonsolidierung des Haushalts leisten; das ist gar keineFrage. Das trägt dann auch dazu bei, daß wir in dennächsten 15, 20 Jahren eine verläßliche Entwicklungs-politik betreiben können. Für dieses Ziel lohnt es sich,Konsolidierungsanstrengungen zu unternehmen. Fakt istnatürlich auch – das wissen Sie so gut wie ich –, daßSparsamkeit dienlich sein kann, wenn es darum geht, ef-fiziente Strukturen zu bekommen. Das gilt auch fürProjekte und Kooperationen im Rahmen der entwick-lungspolitischen Zusammenarbeit. Insofern muß dasnicht unbedingt kontraproduktiv sein.Wir wollen – das wissen Sie – Schwerpunktländerstärker zusammenfassen. Hierbei denken wir an eineZusammenarbeit mit 50 bis 60 Ländern. Auch müssenwir natürlich mehr Marktmittel mobilisieren, um ver-nünftig arbeiten zu können.Die Opposition hat uns massiv und undifferenziertkritisiert. Es war klar, daß dies so kommt. Aber auch dieNichtregierungsorganisationen haben dies in den ver-gangenen Wochen und Monaten getan. Ich glaube, daßdiese Kritik nach den Haushaltsberatungen so nichtmehr stehenbleiben kann. Ich werde nachher noch aus-führen, weshalb wir in erster Linie im Sinne der Nicht-regierungsorganisationen deutliche Verbesserungen imHaushalt erreicht haben.
Es wird behauptet, die Armutsbekämpfung werdevernachlässigt. Richtig ist: Mehr als 50 Prozent desBMZ-Etats stehen für Armutsbekämpfung zur Verfü-gung.
Armutsbekämpfung ist das strategische Ziel unsererEntwicklungspolitik, werter Herr Kollege. Alles ordnetsich dem unter. Dies bitte ich zur Kenntnis zu nehmen.Weiterhin wird ein finanzieller Absturz behauptet.Der Kollege von Schmude hat dies soeben auch ver-sucht.
Richtig ist, daß die strukturellen Veränderungen – auchbei Kürzungen an der einen oder anderen Stelle; diemüssen wir ja wohl zugeben – letztlich die entscheiden-de politische Leistung darstellen, die erstens nachhaltigund zweitens ehrlich ist. Darauf kommt es uns an. Dieszum Thema Wahrheit.
Meiner Ansicht nach ist es hundertmal wichtiger, daßes uns gelingt, die von uns angestoßene Entschul-dungsinitiative im Gesamtvolumen von 70 MilliardenUS-Dollar erstens umzusetzen und zweitens mitzufinan-zieren. Wir haben entsprechende Mittel eingestellt. DieWirkung, die dies hätte, überträfe sicherlich die Verän-derungen, die wir am Einzelplan 23 vorgenommen ha-ben. 16 Jahre Entwicklungspolitik unter Kohl habennicht das Geld zusammengebracht, das durch diese Ent-schuldungsinitiative mobilisiert wird. Dies ist ein positi-ves Signal.
An dieser Stelle kann und muß man die Ministerin, diesich in diesem Bereich sehr engagiert, einiges initiiertund durchgesetzt hat, loben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,es ist auch hundertmal wichtiger, daß es gelingt, denWelthandel für die Entwicklungsländer völlig zu öff-nen, bzw. daß es gelingt, in der europäischen Entwick-lungspolitik Schritt für Schritt effizienter, koordinierter,kohärenter und transparenter vorzugehen.
Ich möchte nun zu den Veränderungen im Rahmender Haushaltsplanberatungen kommen. SPD undBündnis 90/Die Grünen haben sich mit den Entwick-lungspolitikern und natürlich mit dem Ministerium ab-gestimmt. Ich denke, die Ergebnisse die wir in der Be-reinigungssitzung letztlich erreicht haben, können sichsehen lassen. Diese Veränderungen spiegeln auch unserAnliegen wider, in ganz bestimmten Bereichen Signalezu setzen und etwas draufzulegen.Ein Ergebnis ist eine – immerhin – leichte Plafonder-höhung, die es in anderen Bereichen nicht gibt und beiden Verpflichtungsermächtigungen ist eine Erhöhungvon 650 Millionen DM, also eine Erhöhung um 20,6 Pro-zent, zu verzeichnen.
– Das ist etwas! – Für die Entschuldungsinitiative habenwir eine Verpflichtungsermächtigung in Höhe von 100Millionen DM eingestellt. Wir haben im Bereich derbilateralen technischen Zusammenarbeit Verpflich-tungsermächtigungen um 180 Millionen DM erhöht, undfür die finanzielle Zusammenarbeit haben wir 200 Mil-lionen DM draufgelegt. Das, meine sehr verehrten Da-men und Herren, sind Größenordnungen, die man nichtso einfach beiseite drücken kann.Dr. Emil Schnell
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6620 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Der Bereich der beruflichen Aus- und Fortbildungliegt gerade uns Fachpolitikern besonders am Herzen.Hier haben wir 10 Millionen DM bar draufgelegt. Auchim Bereich integrierter Fachkräfte haben wir Verpflich-tungsermächtigungen um 3 Millionen DM erhöht. Fürdie entwicklungspolitische Bildung, die uns auch beson-ders am Herzen liegt, haben wir 1 Million DM draufge-legt. Das klingt nicht nach viel, aber die Kürzungen um3,3 Prozent liegen deutlich unter der Gesamtkürzungvon 7,4 Prozent, die wir vornehmen mußten.
Wir haben bei den UN-Organisationen versucht,mehr Flexibilität für das Haus einzuführen, auch alsBeitrag zur Effizienzsteigerung, indem wir diesen Titelzusammengefaßt, 10 Millionen DM draufgelegt und dieVerpflichtungsermächtigung um 25 Millionen DM er-höht haben.Wir haben beim zivilen Friedensdienst noch einmal10 Millionen DM draufgelegt, auch in Anerkennung dersehr schwierigen Aufgaben in den geschundenen Län-dern auf dem Balkan. Es ist völlig klar, daß es da einenunmittelbaren Zusammenhang gibt.Wir haben bei den politischen Stiftungen 15 Millio-nen DM draufgelegt und die Verpflichtungsermächti-gung erheblich erhöht, nämlich um 44 Millionen DM.Damit liegen die Kürzungen auch hier deutlich unter 7,4Prozent, nämlich bei 4,2 Prozent.Wir haben bei den NGOs, bei den privaten Trägern, 5Millionen DM draufgelegt. Sie erbringen mit minus 2,9Prozent den geringsten Sparbeitrag. Das haben wir sogewollt. Deswegen kann ich die undifferenzierte Kritikund das Gemeckere nicht ganz verstehen; das muß ichehrlich sagen. Hier sollte eigentlich Freude darüber aus-brechen, daß wir ein klares Signal gesetzt haben.
Wir haben für Mittel- und Osteuropa 20 MillionenDM bar draufgelegt, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Opposition. Davon profitieren nicht nur diePartnerländer, sondern natürlich auch die Durchfüh-rungsorganisationen, wiederum die NGOs, darunter dieKirchen, die GTZ und die staatlichen Einrichtungen.Das ist in der gegenwärtigen Situation auch notwendig.Bei den Kirchen haben wir 14 Millionen DM bardraufgelegt und die Verpflichtungsermächtigung um 78Millionen DM erhöht. Ich habe in einigen Gazetten ge-lesen, daß Herr Kollege von Schmude und ein KollegeWeiß, der mir in diesem Bereich nicht so bekannt ist
– ach, da ist er; ich habe meine Brille jetzt nicht auf, tutmir leid –, sagen, die Erhöhung im Kirchentitel und beiden Stiftungen sei ein Erfolg des beharrlichen Bohrensder CDU/CSU-Fraktion gewesen.
Ich weiß nicht, woher sie das nehmen. Das ist schonziemlich dreist.
Fakt ist nämlich, daß die Koalition äußerste Anstren-gungen unternommen hat, um die 77,7 Millionen DM zuerwirtschaften und somit die eben genannten Erhöhun-gen zu ermöglichen.Die Wahrheit ist auch, Herr Kollege Weiß, daß dieOpposition nur 13 Millionen DM Erhöhungen für Stif-tungen und Kirchen beantragt hatte, wir aber von vorn-herein geplant hatten, 14 bzw. 15 Millionen DM drauf-zulegen. Dem haben Sie sich zwar angeschlossen, aberdie Initiative lag eindeutig bei uns. Ich lege Wert darauf,das hier zu erwähnen.
Herr Kollege
Schnell, jetzt haben Sie den Kollegen Weiß zu einer
Zwischenfrage provoziert. Gestatten Sie diese?
Jetzt, wo ich ihn kennen-
gelernt habe, bitte.
HerrKollege Schnell, ich verstehe ja, daß Sie Ihre Verdiensteherausstreichen wollen und Kritik Sie ein bißchen är-gert. Ich möchte Sie aber folgendes fragen:Erstens. Können Sie bestätigen, daß in der Sitzungdes Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung seitens der Arbeitsgruppe derCDU/CSU-Bundestagsfraktion beantragt worden ist, beiden Mitteln für die Kirchen und für die entwick-lungspolitische Arbeit der Stiftungen Erhöhungen zuLasten des Europäischen Entwicklungsfonds vorzuneh-men, und daß die sozialdemokratischen Kolleginnen undKollegen sowie die Kolleginnen und Kollegen vonBündnis 90/Die Grünen erklärt haben, daß sie über einekonkrete Zahl nicht abstimmen könnten, sondern nurunseren freundschaftlichen Wunsch ohne Bezifferungweiterleiten wollten?Können Sie zweitens bestätigen, daß der Kollege vonSchmude am nächsten Tag in der Sitzung des Haus-haltsausschusses für die Stiftungen und die Kirchen je-weils eine Erhöhung um 13 Millionen DM beantragt hat,wiederum zu Lasten der Mittel für den EuropäischenEntwicklungsfonds, daß Sie als Koalition nicht in derLage waren, darüber abzustimmen, das Thema deswe-gen mit in die Bereinigungssitzung genommen habenund erst dort zu dem Ergebnis gekommen sind, das Siejetzt vorgetragen haben?Da möchte ich doch gerne einmal fragen: Wer warnun zuerst initiativ und wer zuletzt?
Dr. Emil Schnell
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Ich setzte meine Brille jetzt
nur auf, um Sie zu sehen, nicht, um Dinge anders darzu-
stellen. Ich habe ja gesagt: Wahrheit ist alles. Es ist ei-
nerseits sehr wohl wahr, daß wir schon in den letzten
Jahren und auch in diesem Jahr gesagt haben – dies hat
auch Kollege von Schmude getan –, im Bereich der eu-
ropäischen Entwicklungspolitik bestehe Handlungsbe-
darf; der Abfluß der Mittel sowie die Projektfortschritte
verliefen unglücklich, da müsse man handeln. Man müs-
se in diesem Bereich über finanziellen Druck etwas be-
wegen. Das ist völlig in Ordnung. Insofern ist der ge-
machte Deckungsvorschlag sinnvoll und richtig.
Andererseits ist es realistisch, wenn meine Kollegen
im Ausschuß fragen: Was kann man in der schwierigen
Situation, die Sie uns hinterlassen haben, tun?
Was ist überhaupt möglich? Insofern finde ich es in
Ordnung, wenn man sagt, man müsse das offenlassen
und in der Bereinigungssitzung – also dann, wenn klar
sei, was möglich sei – die Zahlen entsprechend konkreti-
sieren. Das ist geschehen. Sie haben gesehen, daß wir
uns sehr bemüht haben und daß unsere Ausgaben über
dem liegen, was Sie gewollt hatten. Insofern könnten
auch Sie mit dem jetzigen Ergebnis zufrieden sein.
– Damit könnten Sie eigentlich zufrieden sein. Ich
wollte jetzt nicht noch einmal darauf eingehen.
Herr Kollege
Schnell, es liegt in Ihrem Ermessen, ob Sie noch eine
Zwischenfrage zulassen.
Wir wollen ja eine Debatte
führen. – Bitte.
Herr
Kollege Schnell, was die Zufriedenheit anbelangt: Kön-
nen Sie bestätigen, daß die von Ihnen angesprochenen
Haushaltstitel für die Kirchen und politischen Stiftungen
im Vergleich zum letzten Haushalt abgesenkt worden
sind? Ich weiß nicht, wie sich angesichts dessen Zufrie-
denheit breitmachen soll.
Es ist richtig, daß auch dortein Sparbeitrag erwirtschaftet werden mußte. Das istdoch völlig klar. Wen wollen Sie eigentlich angesichtsder Anstrengungen, die wir unternehmen müssen,um die Konsolidierung voranzubringen, davon ausneh-men?
Ich würde gerne einmal hören, wen Sie davon ausneh-men und wen Sie zusätzlich belasten wollten. Das würdemich sehr interessieren.
Wir haben uns weiterhin mit der Frage beschäftigt,wie es bei den Reintegrationsmaßnahmen weitergeht.Diese liegen uns sehr am Herzen; das ist völlig klar.Aber auch andere Maßnahmen müssen aus Effektivi-tätsgründen zusammengefaßt werden. Wir haben uns inbezug auf die Weiterbehandlung der Reintegrations-maßnahmen ein Gesamtkonzept vorlegen lassen – einvorläufiges, wie ich meine. Wir werden darüber imnächsten Jahr intensiv beraten. Das BMZ bereitet für dasHaushaltsjahr 2001 eine Umstrukturierung des jetzt vor-handenen Instrumentariums vor. Es soll flexibler ge-staltet werden. In erster Linie wird angestrebt, die Rein-tegrationsmaßnahmen soweit wie möglich in die Län-derpolitiken des BMZ einzubeziehen.Wie haben wir – auch darauf möchte ich hier nocheingehen – finanziert? Wir haben 65 Millionen DM ausdem Europäischen Entwicklungsfonds freigekämpft.Wir haben im EXPO-2000-Bereich 10 Millionen DMverlagert – nicht gestrichen –, weil sie im nächsten Jahrwahrscheinlich nicht wie geplant abfließen werden.Angesichts des Themas Finanzierung komme ich aufdie Anträge der anderen Fraktionen zu sprechen: DieF.D.P. hat den Vorschlag gemacht – das habe ich nurgehört; ich weiß nicht, ob dieser Antrag noch vorliegt –,das BMZ aufzulösen. – Damit ist alles finanziert; völligklar.
Die CDU/CSU hat, wie schon erwähnt, in diesemPolitikbereich halbwegs realistische Gegenfinanzierun-gen vorgeschlagen. Ich füge hinzu: In anderen Politikbe-reichen wurden globale Mehrausgaben und andere Din-ge eingeplant. So geht es natürlich nicht! Aber in demjetzt zur Debatte stehenden Bereich waren die Vorschlä-ge der CDU/CSU halbwegs realistisch.Die PDS – auch von dieser Fraktion sind noch einigeMitglieder hier –
hat – wie immer – im Prinzip beantragt, die Welt zuverbessern, und eine Gegenfinanzierung vorgelegt, dieunrealistisch ist und schon mehrfach verfrühstückt wor-den ist, so daß von dieser Seite nur unorthodoxer Popu-lismus kam.Ich möchte, da derzeit die Folgeverhandlungen zumLomé-Abkommen stattfinden, noch folgende Bemer-kung machen: Wir im Haushaltsausschuß, aber auch imzuständigen Fachbereich haben viele Jahre darüber dis-kutiert, was man in diesem Zusammenhang ändern bzw.verbessern muß. Ich denke, jetzt ist es an der Zeit, be-stimmte Dinge einzufordern. Ich nenne nur einigeStichworte: Budgetierung, parlamentarische Kontrolle
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auf nationaler und auf EU-Ebene, STABEX, ein Instru-ment, das man besser abschaffen sollte, und die Frage,wer in Europa wen kontrollieren darf. Ich bitte das Mi-nisterium, diese Fragen zum Bestandteil der Verhand-lungen zu machen, so daß es zu einem Ergebnis kommt,das uns finanziell ein Stück weit entlastet und das dazuführt, daß auf europäischer Ebene in diesem Bereich ef-fektiver gearbeitet wird. Dann sind wir sicherlich einStück zufriedener.
Schließlich möchte ich den Kolleginnen und Kolle-gen im Haus und im Ministerium für die konstruktiveZusammenarbeit in den letzten Monaten danken. Ichdenke, die Ergebnisse stellen eine solide Basis für eineweiterhin erfolgreiche Entwicklungspolitik dar. Auch imJahr 2000 ist der Einzelplan 23 ein Haushalt mit großenInvestitionen, mit Investitionen in unsere Zukunft und indie eine Welt.Ich bitte Sie, dem Einzelplan 23 zuzustimmen. DieseBitte richtet sich vor allem an die Opposition. Es ist einguter Einzelplan; Sie können ihm ohne weiteres zu-stimmen.Vielen Dank.
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht nun der Kollege Joachim Günther.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutie-ren heute wieder über den Einzelplan 23, haben aber ge-genüber September, dem Zeitpunkt der Einbringung desHaushalts – da bin ich anderer Meinung als Sie, HerrKollege Schnell –, außer kosmetischen Nachbesserun-gen nichts Wesentliches erreicht.
Einzelne Etatposten sind – vorrangig nach massivemProtest von Nichtregierungsorganisationen – in letzterMinute nachgebessert worden.
Aber es führt kein Weg daran vorbei: Die von der Bun-desregierung geweckten Erwartungen zur Stärkung derdeutschen Entwicklungszusammenarbeit wurden insge-samt bitter enttäuscht.
Entwicklungspolitik wird zur globalen Strukturpoli-tik aufgewertet – so Ihre Darstellung, Frau MinisterinWieczorek-Zeul, als die Legislaturperiode begann. Da-mals waren Sie persönlich wahrscheinlich noch davonüberzeugt, diese Ideale durchsetzen zu können. WelchenStellenwert die Entwicklungspolitik in dieser Bundesre-publik aber wirklich hat, sieht man daran, daß selbst Ihrangedrohter Rücktritt eigentlich ohne Wirkung geblie-ben ist. Das ist ein verheerendes Signal für die entwick-lungspolitische Glaubwürdigkeit und die VerläßlichkeitDeutschlands in der Welt.Die Rückführung der Verpflichtungsermächti-gung auf den Stand von 1972 wird dazu führen, daß diedeutsche Entwicklungspolitik im Jahr 2000 zahlungsun-fähig und damit vertragsbrüchig werden wird.
Langfristig angelegte Programme müssen ohne Rück-sicht auf negative Auswirkungen zusammengestrichenwerden. Die Leidtragenden sind die Menschen in denEmpfängerländern, die eigentlich auf die Kontinuität derdeutschen Politik vertraut haben.
Wie hat heute mittag Bundeskanzler Schröder soüberzeugend geäußert? „Wir wollen nach außen verläß-liche Partner sein.“ Ich glaube, wenn er sich den Haus-halt des BMZ und seine Auswirkungen noch einmal an-sähe, würde er diesen Anspruch revidieren müssen.
Bis heute hat das zuständige Ministerium keine plau-siblen Konzepte für die Umsetzung der Sparbeschlüs-se vorgelegt. Niemand weiß, nach welchen Kriterien dieKürzungen erfolgen. Gerade vor dem Hintergrund derfür die nächsten Jahre angekündigten weiteren drasti-schen Einsparungen – um noch einmal die Zahl zu nen-nen: mit 13,6 Prozent bis zum Jahr 2003 geht die Bun-desregierung auch hier weit über die Kürzungen in ande-ren Ressorts hinaus –
sind Sie dringend aufgefordert, ein Konzept vorzulegen,das den entwicklungspolitischen Schaden begrenzenhilft.
Not macht erfinderisch; manchmal wird aus der Notauch eine Tugend. Die Pläne des BMZ, den akutenGeldmangel durch eine verstärkte Mobilisierung vonMarktmitteln und eine engere Einbindung der Wirt-schaft und der Verbände in die Entwicklungszu-sammenarbeit zu beheben, sind zu begrüßen. Eine stär-kere Berücksichtigung marktwirtschaftlicher Kriterienführt nicht nur zur Entlastung des Haushalts, sondernentspricht nach jüngsten Erkenntnissen auch der moder-nen Entwicklungsforschung.Die überproportionale Rückführung des Einzelplans23 bleibt aber als Tatsache bestehen. Da nützen auchnoch so schöne Sonntagsreden nichts. Die Entwick-lungspolitik, so wie sie hier betrieben wird, wickelt sichim Prinzip selbst ab.
Deshalb unterbreitet unsere Fraktion den Vorschlag,BMZ und AA zusammenzuführen.
Dr. Emil Schnell
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Wir würden hierdurch nicht nur den schlanken Staatfördern, sondern wir würden auch die überproportiona-len Kürzungen des Einzelplanes 23 abmildern.Es gibt mehrere Gründe, mit denen ich diesen Vor-schlag kurz untermauern möchte. Das beste Beispiel inden letzten Wochen ist aus meiner Sicht Osttimor. Stattim Monat 5 Millionen DM für zwei Flugzeuge der Bun-desluftwaffe auszugeben, die eigentlich niemandbraucht, könnte man ein zerstörtes Berufsschulzentrumaufbauen, das viel dringender gebraucht wird. Das habenKollegen aus unserem Haus im Ausschuß eindeutig er-klärt.
Im BMZ-Haushalt haben wir keine 5 Millionen DM fürdas ganze Jahr, um in Osttimor zu helfen. Sie sehen,wenn Handlungen aus einer Hand kommen, dannkommt auch ein sinnvoller Einsatz der gesamten Mittelzustande.
Für eine Zusammenlegung beider Ministerienspricht auch die Entwicklung in der Welt. Ich sage be-wußt „Zusammenlegung“, denn nach dem, was Bundes-außenminister Joschka Fischer heute gesagt hat, kannman auch das AA in das BMZ eingliedern. Das mußman auch einmal sagen.
Heute, zehn Jahre nach dem Fall der Mauer und demEnde des Ost-West-Konflikts, sind die Grenzen zwi-schen klassischer Entwicklungszusammenarbeit undAußenpolitik fließender geworden. Mit der AusnahmeKanadas ist die Bundesrepublik Deutschland weltweitdas einzig größere Geberland, das sich eine Trennungzwischen Außen- und Entwicklungspolitik leistet. Beider weit überwiegenden Zahl unserer westlichen Partnerwird Entwicklungspolitik durch die Außenministerienund durch die zugeordneten Organisationen durchge-führt. Aus der Perspektive der Empfängerländer sindAußen- und Entwicklungspolitik inzwischen ohnehinzwei Seiten derselben Medaille.Frau Ministerin, sprechen Sie auch einmal mit denBotschaften der Entwicklungsländer in Deutschland!Dort besteht ein starkes Interesse an der Zusammenle-gung von BMZ und AA, denn sie möchten nicht als Bot-schaften zweiter Klasse in Bonn bleiben,
nur weil dort das BMZ ist und sie sich den Unterhalt vonteuren Außenstellen nicht leisten können.Zusammengefaßt kann man sagen: Der Einzelplan 23in seiner jetzigen Form steht für den Rückzug Deutsch-lands aus der Entwicklungspolitik in der Welt.
Der Einzelplan 23 läßt nicht einmal zu, bestehende Ver-träge in den Partnerländern voll zu realisieren, und führtdamit die Glaubwürdigkeit Deutschlands in eine kom-plizierte Situation bei den Entwicklungsländern. OhneVertrauen in unser Land schwächen wir auch die Stel-lung der deutschen Wirtschaft in den Entwicklungslän-dern. Das ist das Letzte, was wir auch im Interesse derArbeitsplätze in Deutschland als Signal brauchen kön-nen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Haushalt istkein Zukunftsprogramm 2000. Es ist eine glatte Rollerückwärts. Er fügt unserem Ansehen Schaden zu. Des-halb werden wir ihn ablehnen.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Dr. Werner Schuster das
Wort.
Herr Kollege Gün-ther, Sie wissen, daß ich Sie persönlich schätze, aber ichglaube, Sie müßten ganz dringend Ihre Berater wech-seln. Das fing mit falschen Fakten an. Die Botschafterwollen nach Berlin und können nicht, weil sie kein Geldhaben. Das muß durch die Entwicklungszusammenarbeitgeändert werden.
Ihre Aussage, daß es in anderen Ländern anders ist,stimmt nur zum Teil. Wenn Sie genauer nachsehen, wis-sen Sie, daß eine Reihe von Ländern – Herr Hedrichkann Ihnen das bestätigen – eigenständige Organisatio-nen haben, die direkt dem Kabinett berichten. Sie kön-nen völlig unabhängig von den Außenministern agieren.Ihre Forderung zu sparen hat Herr Koppelin klassischbeantwortet. Sie sparen publikumswirksam maximal dasGehalt einer Ministerin, sonst nichts, es sei denn, Siewollen die Entwicklungszusammenarbeit generell kür-zen.
Sollte das der Kern Ihres Antrages sein?Ich denke, daß Ihnen bewußt sein muß, daß in denEntwicklungsländern die deutsche Entwicklungszusam-menarbeit ein sehr großes Ansehen genießt.
Gerade draußen wird immer wieder betont, wie wichtiges ist, daß es unterschiedliche Ansprechpartner gibt: dieBotschaft und die Entwicklungszusammenarbeit. Es gibtsogar europäische Länder, die sich darum bemühen, un-serem Vorbild nachzueifern. Es hat also seine gutenGründe, warum wir diese zwei getrennten Zuständig-keiten haben. Auch in Zukunft, Herr Günther, meineDamen und Herren, wird es legitime Interessenunter-schiede zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Ent-Joachim Günther
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wicklungsministerium geben. Ich wundere mich, warumSie in der gleichen Konsequenz nicht vorgeschlagen ha-ben, die Außenwirtschaftsabteilung des Wirtschaftsmi-nisteriums in das AA einzugliedern.
Aber da stehen Ihre Wirtschaftsinteressen dagegen. DieFrage ist erneut erlaubt: Hat die F.D.P. überhaupt ent-wicklungspolitische Interessen, wenn sie solche Forde-rungen aufstellt?
Ich meine nach wie vor – ich habe das auch in der Ver-gangenheit deutlich gemacht –, daß eine Doppelstrate-gie, wenn sie zwischen dem Außenminister und derEntwicklungsministerin abgestimmt ist, auf internatio-naler Ebene sehr hilfreich sein kann. Denn das BMZkann manchmal Partnern Dinge etwas deutlicher sagen,als es ein Außenminister aus übergeordneten Gründenheraus sagen kann.
Sie haben schlechte Erfahrungen mit dem Nicht-Tandem Spranger/Kinkel gemacht: Sie argumentierenmit einem schlechten Beispiel. Es kann aber auch funk-tionieren, wie man an der Zusammenarbeit zwischen derFrau Wieczorek-Zeul und dem Minister Fischer sieht.Dort funktioniert diese Doppelstrategie erstklassig.
Ich kann Sie nur bitten: Wer ernsthaft Entwicklung inden Entwicklungsländern will, muß Ihren Antrag unbe-dingt dort hintun, wo er hingehört, in die Mottenkiste,und im übrigen die Stellung des BMZ im Kabinett stär-ken. Wir unterstützen Sie dabei.
Ich gratuliere Ihnen.
Das war eine Punktlandung. Sie haben exakt drei Minu-
ten gebraucht.
Eine Erwiderung des Kollegen Günther.
Herr Kollege
Schuster, wir werden sicherlich noch viele Gelegenhei-
ten haben, dieses auszudiskutieren. Ich möchte nur
zweierlei Dinge richtigstellen.
Die F.D.P. möchte nicht die Entwicklungszusammen-
arbeit zurückführen, im Gegenteil: Wir haben Ihnen zu
Beginn dieser Legislaturperiode angeboten, die Ministe-
rin bei der Aufstockung ihres Haushaltes und anderen
Dingen voll zu unterstützen. Das müßten Sie eigentlich
noch wissen.
Der zweite Punkt. Wir haben angeregt – wir haben
auch hier der Ministerin die Unterstützung zugesagt; ich
habe dazu sogar Fragen gestellt –, bestimmte Abteilun-
gen anderer Ministerien im BMZ zusammenzuführen, so
wie Sie dies auch machen wollen. Also auch hier sind
wir nicht auf einer anderen Ebene.
Das Entscheidende ist eigentlich: Wir wollen eine
Verbesserung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der
Entwicklungshilfe. Eine Verbesserung kann auch durch
die Eingliederung oder durch die Zusammenlegung von
Ministerien erfolgen. Dann sind nämlich viel kürzere In-
formationswege möglich.
Nun spricht für
Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Antje Hermenau.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.ist ja immer für eine Überraschung gut. Herr Günther,ich habe schon gedacht, das würde heute eine sehr ruhi-ge Debatte werden. Aber Sie haben noch einmal Lebenmit Ihrem Änderungsantrag hineingebracht, den ich nurganz schwer nachvollziehen kann.
Ich habe erwartet, die F.D.P. würde natürlich vorschla-gen, daß wir das Entwicklungshilfeministerium und dasWirtschaftsministerium zusammenlegen sollten. Ich binvöllig verblüfft, daß Sie davon ausgehen, daß das di-plomatische Personal in der Lage sein würde, mit der-selben Kompetenz wie das Personal im BMZ zu agieren.Sie kennen natürlich die Diskussionen über die Kohä-renz zwischen beiden Bereichen, dem Auswärtigen Amtund dem Entwicklungshilfeministerium. Ihnen ist klar,daß der Prozeß läuft. Ihnen ist ebenso klar, daß man dasdiplomatische Personal jahrelang trainieren müßte.Deswegen ist dieser Änderungsantrag zum Haushalt2000 völliger Kappes, um das einmal deutlich zu sagen.
Das mit der Außenwirtschaft hätte ich eventuell nochverstehen können, denn der Einzelplan des Bundes-ministeriums für Wirtschaft weist wirklich nicht mehrviel an beweglicher Masse und Substanz auf. Aber dasist eigentlich alles, was ich dazu hätte sagen können.
Jetzt reden wir wirklich einmal über die Finanzie-rung der Entwicklungszusammenarbeit in den näch-sten Jahren.
Dr. R. Werner Schuster
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– Das ist schon ein anderes Thema, Herr Koppelin; dieFrage würde zu spät kommen.
Dabei handelt es sich um eine Frage, der wir uns inzwei Punkten widmen müssen. Der eine Punkt ist in derDiskussion schon angeklungen, nämlich: Wie gehen wirdamit um, daß davon auszugehen ist, daß in den näch-sten Jahren weniger oder auf dem jetzigen Niveau sta-gnierende öffentliche Mittel für die Entwicklungszu-sammenarbeit zur Verfügung stehen? Das hat etwas mitdem Sparpaket insgesamt zu tun. Diese Entscheidung istgrundsätzlich richtig, löst aber natürlich Probleme in derEntwicklungszusammenarbeit aus. Das ist völlig richtig.Also werden wir uns mit diesen Problemen befassenmüssen. Es gab hierzu auch schon erste Ansätze in denRedebeiträgen der Kollegen. Sie wissen alle selbst, daßim Bereich Entwicklungszusammenarbeit sehr oft einegroße Einigkeit in den Grundlinien herrscht. Das kennenwir alle aus unserer Praxis. Man könnte fast sagen: Indiesem Bereich ist nie so ganz klar, wer hier eigentlichOpposition und wer hier Koalition ist, weil man oft einerMeinung ist. Ich bin der Auffassung, daß wir nicht nurüber die Verbundfinanzierung – sie vertritt der Kollegevon Schmude mit viel Verve immer wieder, und sieprägt seit 1994 diesen Haushalt mit, wenn auch nur inkleinem Maße – reden müssen. Das ist das eine. Wir ha-ben jetzt verschiedene Erfahrungen gemacht. Was, wieich finde, nicht so gut funktioniert hat, sind die Mischfi-nanzierungen. Ich denke, diese liefergebundene Misch-finanzierung wird keine Zukunft haben.Was relativ gut funktioniert, ist der Umgang mitMarktmitteln. Okay, da können wir weiterarbeiten. Dashaben wir auch versucht. Wir haben den Gewährlei-stungsrahmen stabilisiert. Wir bemühen uns zudem dar-um, dem Finanzminister beizubiegen, daß das „sehr guteRisiko“ eigentlich eine Exklusivklausel ist und zu einerRisikoverteilung führt, die so gestaltet ist, daß sie einhohes Risiko darstellt und eben nicht zu einer Verteilungdes Risikos führt.Die andere Möglichkeit ist, private Mittel in dieEntwicklungszusammenarbeit im Bereich der FZ einzu-beziehen, die trotzdem entwicklungspolitisch orientiertausgegeben werden. Ich rede nicht von wirtschaftlichenInvestitionen im nackten betrieblichen Interesse. Wiebekommen wir das auf die Reihe? Das wird schwierig.Ich habe in einer der Diskussionen hier schon einmaldarauf hingewiesen, daß die Existenz der Öko-Bank, dienunmehr schon über zehn Jahre besteht, deutlich macht:Es gibt in Deutschland eine Klientel von Leuten, dienicht nur sehr gerne spenden, sondern mit ihrem Geldgerne auch etwas verdienen würden. Der Zinssatz sollteauch über dem Zinssatz normaler Bankguthaben liegen.Sie würden aber nie und nimmer zum Beispiel in einenWaffenhandel investieren. Ich glaube, mit diesen Leutenkann man darüber reden, einen Finanzierungsfonds zuentwickeln, der – ähnlich wie bei den „ecological invest-ments“ der Öko-Bank – im Entwicklungshilfebe-reich eine Art „ethical investment“ organisiert. Ich haltedas für machbar. Das ist eines der ersten großen neuenProjekte der Entwicklungszusammenarbeit der Koali-tion.
Ich gebe Ihnen recht, wenn Sie sagen, daß die Kür-zungen bei den Verpflichtungsermächtigungen, also beiden Ausgabeabsichten für die Folgejahre, drastisch aus-gefallen sind. Das ist richtig beobachtet. Das war eineVollbremsung. Warum hat die Vollbremsung stattge-funden, und was hat das mit unserer Debatte zu tun? ImHaushalt des BMZ werden im Moment eigentlich nurdie ganzen Altverpflichtungen abgearbeitet, die unterMinister Spranger getroffen worden sind. Da sind guteund schlechte dabei; wir kennen die jährlichen Auswer-tungen von GTZ und KfW. Hier kann man also dieseroder jener Meinung sein. Das Problem ist natürlich: Wirhaben fast keine Möglichkeit mehr, Neuverpflichtungeneinzugehen.Auf der anderen Seite gibt es in einem Haushalt, des-sen Projekte über mehrere Jahre gehen, die berühmte„Pipeline“ von Auftragslage, Zusagegenehmigung usw.Die Vollbremsung, die der BMF gemacht hat, ist, soglaube ich, eine Idee zu drastisch ausgefallen. WirHaushälter haben auch gegengesteuert und die VE um650 Millionen DM noch einmal ordentlich angehoben.Nichtsdestotrotz muß man sich endlich einmal mit die-sem kaum noch darstellbaren Barmittelproblem befassenund sich fragen, wie wir das in Zukunft bewältigenwollen. Ich habe einen Weg aufgezeigt: Wir müssen unsdarüber unterhalten, wie wir die FZ teilweise aus der öf-fentlichen Finanzierung herausnehmen.Um noch einen zweiten Punkt aufzunehmen: Mankann sich natürlich, wie der Herr Kollege Weiß es getanhat, darüber beschweren, daß es Kürzungen gegeben hat,daß die Entwicklungshilfe dramatisch betroffen sei.Damit sage ich gar nichts über die innenpolitischen De-batten, der sich die Koalition im Zusammenhang mitdem Sparpaket insgesamt stellen muß, und darüber, wieschwer es ist, dann noch etwas für das Ausland bereitzu-stellen. Das will ich hier gar nicht weiter ausführen; daskann sich jeder vorstellen.Aber wir wollen doch einmal die Extras beim Namennennen, die hier immer so schön verschwiegen werden.Es gibt nämlich eine ganze Menge Extras: Die Schul-denentlastung wurde ein bißchen kleingeredet. DasGanze muß man sich erst einmal auf der Zunge zergehenlassen.
Dauernd habe ich von der alten Bundesregierung gehört,daß sie das nicht wollte, weil das multilaterale Abkom-men betreffe, und da komme das nicht in die Tüte.
Die bilaterale Entschuldung haben wir immer mitgetra-gen; das wurde zurecht vom Herrn Kollegen vonAntje Hermenau
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Schmude angesprochen. Natürlich wollen wir auchbilateral entschulden. Das war immer einvernehmlicheBeschlußlage von Haushaltsausschuß und AWZ. Aberwir wollen noch mehr: Wir wollen auch die multilateraleEntschuldung. Das hat jetzt geklappt, das ist endlichpassiert.
Wir werden – um das deutlich zu sagen – damit auf Ein-nahmen verzichten. Man kann natürlich sagen, daß dieskeine direkte Investition in Entwicklungszusammenar-beit ist. Aber indirekt fließt der Einnahmeverzicht auchder Entwicklungszusammenarbeit zu. Wir verändernendlich globale Rahmenbedingungen. Das halte ich fürganz entscheidend.
Es geht um eine gemeinsame globale Zukunftssiche-rung.Das hat sogar so überzeugt, daß der Herr Finanz-minister noch einmal 100 Millionen DM zusätzlich ver-sprochen hat, die wir im Einzelplan 23 auch hurtig ein-gestellt haben. Diese Summe werden wir Haushälter,wenn die Zeit gekommen ist, ihn auch tatsächlich ab-verlangen. Wir haben uns sehr darüber gefreut, daß dieArgumentation im Bereich Entwicklungszusammenar-beit aus Sicht des BMF so schlagend war. Das hat alsogeklappt.Da wir bei den Extras sind: Im Gesamthaushalt wer-den 1,2 Milliarden DM für den Stabilitätspakt Südosteu-ropa bereitgestellt. Das BMZ hat natürlich bei einer Rei-he von Mittelverwendungen ein relativ starkes Mitspra-cherecht. Ich möchte doch bitten, auch diese Gelder indas hineinzurechnen, was der Bund insgesamt für dieEntwicklungskooperation zur Verfügung stellt. Ich haltees für angemessen, daß wir redlich argumentieren. Wennman alle Zahlen zusammenzählt, dann kommt man zudem Ergebnis, daß die Kürzung fast wieder aufgehobenist. Um es deutlich zu sagen: Wir erreichen zumindestdas Vorjahresniveau.Reden wir noch ein wenig über die Maßnahmen, diewir in Angriff nehmen müssen. Ich habe eben schon dieErweiterung der Möglichkeiten angedeutet, privates Ka-pital in die FZ zu bringen. Aber die Diskussion über an-dere Punkte ist auch wichtig. Dazu gehört zum Beispieldie Diskussion, was die kleineren Projektträger an Auf-gaben leisten sollen. In diesem Zusammenhang stellensich die Fragen: Welche Akteure sollen beteiligt sein?Ist es vernünftig, große Projekte nur durch die GTZdurchführen zu lassen? Wäre es nicht klüger, auch klei-nere Mittlerorganisationen anzusprechen? Ist es nichteinmal an der Zeit, daß wir uns darüber verständigen,welche Vorstellungen wir zum Beispiel im Bereich derRegierungsberatung haben? Wir müssen nämlich dar-über sprechen, wie man die Rahmenbedingungen imglobalen Maßstab und im jeweiligen Entwicklungslandändern kann, damit die Entwicklungsländer bessereMöglichkeiten bekommen.Wir haben eine sehr differenzierte Landschaft vonEntwicklungsländern. Das betrifft sowohl ihre Finanz-kraft als auch zum Beispiel ihre Good Governance. Wirbrauchen deutlich mehr einzelne Instrumente, um dieserdifferenzierten Entwicklungslandschaft gerecht zu wer-den. Ich freue mich auf die entsprechende Debatte, diewir führen werden.Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen. Unswürde es gut zu Gesicht stehen, wenn wir versuchenwürden, Einfluß darauf zu nehmen, daß die Strukturan-passungsmaßnahmen von IWF und Weltbank so durch-geführt werden, daß wir zu einer größeren Transparenzin den Entscheidungen gelangen können, damit dieseEntscheidungen nachvollziehbarer werden. Auch müs-sen diese Einrichtungen endlich dazu übergehen, sich anglobalen Fragestellungen auszurichten.Schönen Dank.
Zu einer Kurzinter-
vention der Kollege Jürgen Koppelin.
Ich hätte gerne den fol-genden Punkt in einer Zwischenfrage geklärt. Aber dadie Kollegin Hermenau keine Zwischenfrage zugelassenhat, muß ich eine Kurzintervention machen.Frau Hermenau hat eine Unterstellung gemacht, diedie deutschen Botschaften betrifft. Wenn ich sie richtigverstanden habe, ist sie der Meinung, daß im Falle einerZusammenlegung der beiden Ministerien das Personalder Botschaften erst einmal geschult werden müßte. Dasist schon eine sehr merkwürdige Aussage; denn sie un-terstellt damit, daß sich die deutschen Botschaften nichtfür die wirtschaftliche Zusammenarbeit einsetzenwürden, weil sie das notwendige Personal nicht hätten.Diese Aussage kann man nicht kommentarlos stehenlassen.Die Kollegin Hermenau reist ja gern und viel. Des-halb müßte ihr eigentlich bekannt sein, daß gerade inden Botschaften eine Reihe von Menschen arbeiten, diesich sehr engagiert für die wirtschaftliche Zusammenar-beit einsetzen.
– Ich wiederhole die Äußerung von Frau Hermenau – siekann mich korrigieren, wenn ich sie nicht richtig ver-standen habe –, daß das Personal für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit besonders geschult werden müsse. –
Ich stelle in diesem Zusammenhang fest: Das entspre-chende Personal ist in den Botschaften vorhanden.Antje Hermenau
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Wenn es nicht vorhanden sein sollte, müßten wir ent-sprechende Maßnahmen ergreifen.Ich bestreite ferner, daß sich die Botschaftsangehöri-gen in diesem Bereich nicht engagieren. Meine Erfah-rung ist – ich wiederhole diesen Punkt –, daß dies dieKollegin Hermenau angesichts ihrer vielen Reisen bes-ser wissen müßte.Ich möchte noch auf einen anderen Punkt hinweisen.Die Zusammenlegung wäre auch für uns im Hause ef-fektiv. Denn all die Themen, die Sie im Ausschuß fürwirtschaftliche Zusammenarbeit diskutieren, KolleginHermenau, werden genauso im Auswärtigen Ausschußdiskutiert. Warum gibt es auch bei uns diese Doppelglei-sigkeit? Warum können wir die Arbeit nicht effektivergestalten? Zum schlanken Staat würde auch gehören,daß wir den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenar-beit und den Auswärtigen Ausschuß zusammenlegen.Ich befürchte aber, daß der eine oder andere dann seinenWirkungskreis verlieren zurück. Emil, ich würde dafürsorgen, daß du deinen Arbeitsbereich auf jeden Fall be-halten würdest. Normalerweise bist du sehr fähig. Dassage ich trotz deiner heutigen Rede. Es macht mehrSinn, diese beiden Bereiche zusammenzulegen.
Nun spricht der
Kollege Carsten Hübner für die Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Man muß es leider immerwieder sagen: Auch mit diesem Haushalt entfernt sichdie Bundesregierung weiter vom international verein-barten Richtwert von 0,7 Prozent des Bruttosozialpro-duktes für die öffentliche Entwicklungshilfe. Man mußdazu erwähnen: wie schon im letzten Jahr und natür-lich wie unter der alten Bundesregierung in den Jah-ren zuvor. Da gibt es nichts zu beschönigen. Auch dievon Ihnen, Kollege Schnell und Kollegin Hermenau,eben angeführten Erfolge ändern nichts an dieser Tat-sache.Wenn ich mich an die Presseäußerungen von FrauStaatssekretärin Eid von vor einigen Wochen erinnere,dann muß ich sagen, daß dieser Richtwert inzwischennicht nur regelmäßig ignoriert wird, sondern bereits zurDisposition steht. Dies gilt zumindest für einen Teil desBMZ, trotz der eigentlich unmißverständlichen Festle-gung in der Koalitionsvereinbarung.Die überproportionalen Kürzungen im Einzelplan23 im Vergleich zu dem Gesamthaushalt und den ande-ren Einzelplänen unterstreichen diesen Eindruck undmachen genau das unmöglich, Frau Ministerin, mit demSie vor etwas mehr als einem Jahr angetreten sind: einenachhaltige, zukunftsweisende und globale Strukturpo-litik, die nicht nur Querschnittsaufgabe sein, sondernauch wesentlich zu einer Neuprofilierung der deutschenAußenpolitik beitragen sollte,
und zwar nicht zuletzt mit Blick auf eine ganzheitlichePolitik der zivilen Konfliktvorbeugung, -bearbeitungund -nachsorge.Sosehr ich viele Eckwerte dieser Politik geteilt habe,Frau Ministerin, so sehr habe inzwischen Zweifel, ob Ih-re Regierung, zumindest Teile Ihrer Regierung, auch nureinen Teilschritt in diese Richtung möglich machenwird. Diese Zweifel räumen Sie auch nicht mit demständigen Insistieren auf dem vereinbarten Schuldener-laß aus. Das macht mich von Mal zu Mal eher skepti-scher – das muß ich Ihnen sagen –, zumal die Kürzun-gen auch in den kommenden Haushalten weitergehenwerden und das Ende der Fahnenstange in dieser Hin-sicht längst noch nicht erreicht ist, während selbst dieEntwicklungspolitiker aus Ihren Reihen längst wissenund im Ausschuß auch eingestehen, daß wir fachlichüber das Ende der Fahnenstange längst hinaus sind.Statt dessen erleben wir das, was die Chefin desUNHCR, Frau Ogata, erst kürzlich die „Militarisierungder humanitären Hilfe“ genannt hat. Das ist eine Ten-denz, meine Damen und Herren, die wir für fatal haltenund auf Grund deren es aus unserer Sicht nur folgerich-tig sein kann, zu fordern, den Haushalt des BMZ mitrund 600 Millionen DM aus dem Einzelplan 60 zu sta-bilisieren, die dort für militärische Aufwendungen fürden Stabilitätspakt Südosteuropa eingeplant sind.
Ich möchte noch kurz auf zwei Aspekte eingehen;mehr erlaubt die Zeit leider nicht. Das eine sind die Kür-zungen im Bereich der UNO-Organisationen. Ich frageSie ernsthaft: Wie können Sie auf der einen Seite, etwain der Osttimorfrage, bis hin zur fachlichen UnsinnigkeitIhre angebliche Treue zur UNO zur Schau stellen undgleichzeitig genau dieser UNO die dringend notwendi-gen Mittel für ihre Arbeit entziehen, etwa für UNDP,Unido, Unicef, der WHO oder Unifem? Das paßt dochnur dann zusammen, wenn man unterstellt, daß IhreUno-Politik zunehmend allein nationalen Interessenla-gen unterworfen ist, z. B. wenn es um einen ständigenSitz im Sicherheitsrat geht.Der zweite Aspekt, den ich kurz hervorheben möchte,ist die Mittelkürzung im Bereich der NGO, der Kirchenund der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit. Auchhier widersprechen sich formulierter Anspruch und realeKürzungspraxis in eklatanter Weise. Auch hier liegendie nach den Ausschußberatungen angehobenen Ansätzefür 2000 unter denen des letzten Haushalts, und das vordem Hintergrund einer sich weiter verschärfendenWeltlage.Es gibt immer mehr Konfliktherde und soziale undökologische Verwerfungen, deren Ursachen häufig ge-nug bei uns zu suchen sind, und gleichzeitig immer we-niger Geld für diejenigen, die sich nicht selten durch eh-renamtliches Engagement dieser Entwicklung entgegen-stemmen. Das erkläre, wer will. Aus unserer Sicht je-denfalls ist dieser Widerspruch derart offensichtlich undinakzeptabel, daß wir nicht darauf verzichten werden,unseren diesbezüglichen Änderungsantrag zum Haushaltextra abstimmen zu lassen.
Jürgen Koppelin
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Es gäbe hier noch viele Einzelfragen anzusprechen,etwa die anstehende Länderliste oder die Frage der Auf-nahme der Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba, zuder von uns in Kürze ein Antrag vorgelegt wird. Mirbleibt aber nur noch die Zeit für einige abschließendeSätze.Vor dem Hintergrund des geplanten F.D.P.-Antragszur Eingliederung der Entwicklungspolitik des BMZ indas Auswärtige Amt, vor dem Hintergrund der durchausbewußten politischen Einmischung des Außenministersin entwicklungspolitische Kernbereiche – z.B. in denLomé-Prozeß –, vor dem Hintergrund der überdurch-schnittlichen Etatkürzungen für das BMZ und nicht zu-letzt vor dem Hintergrund etlicher Stimmen aus demAuswärtigen Amt, das BMZ endlich als selbständige In-stitution dichtzumachen, möchte ich meine Rede so be-schließen: Dieser Haushalt ist aus entwicklungspoliti-scher Sicht völlig inakzeptabel, sein Trend ist skandalös.Dennoch bleibt zu hoffen, daß es nicht einer der letztenBMZ-Haushalte ist. Es bleibt zu hoffen, daß das BMZnicht längst schon dem Fischer ins Netz gegangen ist,der es jetzt schön langsam an Land zieht. Mir – undnicht nur mir – scheint diese Befürchtung mehr als reali-stisch. Nichtsdestotrotz wird die PDS-Fraktion diesenHaushalt selbstverständlich ablehnen.Vielen Dank.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Klaus-Jürgen Hedrich, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ichmöchte noch einmal nüchtern darauf verweisen, daß wirSie auch in diesem Bereich an Ihren eigenen Ankündi-gungen und Versprechungen messen.
Ich habe die Koalitionsvereinbarung nicht geschlossen.Ich habe auch nicht die Regierungserklärung des Kanz-lers im November des letzten Jahres abgegeben. Darinhaben Sie großmundig angekündigt, was Sie alles imBereich der Entwicklungshilfe zusätzlich leisten wollen.Die Realität sieht völlig anders aus.
Die Kurskorrektur von Eichel ist die berühmte Kurskor-rektur von Lafontaine. Seitdem Oskar nicht mehr da ist,ist auch der Mentor von Heidemarie nicht mehr da. Dassind die Fakten.
Lassen Sie mich auf zwei oder drei Sachbereiche ein-gehen. Die Tatsache, daß Sie die internationale Ent-schuldung erfunden haben, wird nicht dadurch besser,daß Sie das ständig wiederholen.
– Auch das ist falsch, Herr Kollege Schuster. Sie wissenes besser, und das ist das Schlimme.Der Punkt war folgender: Auf dem Sozialgipfel inKopenhagen hat sich die Bundesregierung zum ersten-mal mit großem Nachdruck dafür eingesetzt, daß nichtnur die bilaterale Entschuldung wichtig ist, die nämlichallmählich an ihre Grenzen stößt, weil sie weitestgehendgelöst ist, zumindest was Deutschland angeht, sonderndaß es vorrangig darauf ankommt, auch die internatio-nalen Organisationen einzubeziehen. Wenn Sie wissen,wie nachhaltig sich IWF und besonders die Weltbankdagegen gewehrt haben, wissen Sie, daß es einer gewal-tigen Anstrengung bedurfte, bis wir die sogenannteHIPC-Initiative auf den Weg gebracht haben. Seit 1996läuft dieselbe. Das sind die Fakten.Dazu, daß der Bundeskanzler heute morgen ankün-digt, man habe eine gewaltige Leistung vollbracht, mußman zwei Bemerkungen machen: Erstens. Das hat fürden Haushalt Auswirkungen in der Form, daß der Ent-wicklungshilfeetat um etwa 60 Millionen DM entlastetwird. Sie kürzen den Haushalt um 670 Millionen DM.Das heißt, Sie stehlen unseren Partnerländern rund 600Millionen DM. Das sind die Fakten.
Er ist sogar noch weiter gegangen, denn zweitens – auchdas hören Sie nicht gerne – hat der gleiche Bundes-kanzler zusammen mit der Entwicklungsministerin aufdem Kölner Gipfel, auf dem diese Schuldeninitiative alsVorlage für die Weltbankkonferenz im September aufden Weg gebracht wurde, ein Dokument unterschrieben,in dem sich Deutschland verpflichtet, seine Entwick-lungshilfemittel zu erhöhen. Dies geschah in dem Wis-sen, daß der Finanzminister gleichzeitig bereits die Ein-sparung vorbereitet. Das hat unserem internationalenAnsehen erheblich geschadet.
– Das ist völlig richtig.Hinzu kommt, daß Sie für die gesamte Entschul-dungsinitiative keinen Pfennig zusätzlichen Geldes auf-wenden. Sie machen folgendes: Die Leistungen der EU,die deutschen Leistungen und auch die Leistungen derEU-Mitglieder werden ausschließlich aus dem EEF mitrund 1 Milliarde Euro finanziert. So wird es ablaufen.Das heißt, Sie nehmen diese Mittel aus dem EEF – wasvom Prinzip her sachgerecht ist, weil die Mittel dort he-rumliegen, was Sie immer bestritten haben –
– doch –, um die Entschuldungsinitiative zu finanzieren.Es gibt also keinen Pfennig zusätzlich für die Entwick-lungsländer. Das ist der Sachverhalt.Das macht deutlich, daß im EEF erheblich größereFinanzpolster enthalten sind, um praktisch – worauf wiruns gemeinsam hätten verständigen können – die Titelfür die Kirchen, Stiftungen, für die private WirtschaftCarsten Hübner
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und für die Nichtregierungsorganisationen auf dem glei-chen Level wie dem des Jahres 1999 zu halten. Das wä-ren vielleicht noch einmal rund 40 Millionen DM gewe-sen. Es hätte überhaupt keine Rolle gespielt, wenn wirdiese ebenfalls aus dem EEF herausgenommen und die-sen Titeln zugewiesen hätten.
– Aber wenn Sie im EEF 1 Milliarde Euro übrig haben,werden Sie doch wohl 40 Millionen DM übrig haben,um noch zusätzliche Leistungen für den nichtstaatlichenBereich aufzubringen. Das können Sie doch nichtbestreiten.Wir werden Sie übrigens sorgfältig daran messen,was mit den von Eichel zugesagten 100 Millionen DMpassiert. Sie haben im Augenblick eine verklausulierteFormulierung gefunden. Aber es steht erst einmal ein-deutig fest: Als Verpflichtungsermächtigung sind sie imEinzelplan 23 und nicht irgendwo anders ausgewiesen.Nun werden wir einmal sehen, wie Sie das in der näch-sten Zeit umsetzen.
Jetzt möchte ich noch etwas zu dem Thema „BMZund Auswärtiges Amt“ sagen. Schon aus Leidenschaftwerden Sie sich nicht wundern, wenn ich mit großemNachdruck auch für unsere Fraktion gegen den F.D.P.-Antrag argumentiere.
Übrigens, lieber Kollege Günther, die Überlegung, obdas AA nicht im BZ viel besser aufgehoben wäre, habenwir schon zu unseren Zeiten angestellt.
Aber der Punkt ist noch ein anderer: Abstimmungen,lieber Werner Schuster, finden überhaupt nicht statt. DasAuswärtige Amt beschließt, fünf Botschaften in Afrika– Ihrem Lieblingskontinent – zuzumachen. Darüber istmit dem BMZ kein Wort gesprochen worden. Die Bun-desregierung muß doch erst einmal eine Konzeptionentwickeln, wo sie in Zukunft ihre entwicklungspoliti-schen Schwerpunkte setzt.Man kann sich darüber unterhalten, ob man aus demTschad, dem Niger und der Zentralafrikanischen Repu-blik herausgeht. Es ist doch absolut grotesk, in einemLand wie Burundi die Botschaft dichtzumachen, wennauf der anderen Seite das Auswärtige Amt seine Bereit-schaft erklärt, man müsse einen Beitrag zur Lösung derProbleme im Bereich der Großen Seen leisten. Was istes denn für eine Politik, dort einen Botschafter abzuzie-hen?
Uns beschäftigt gewaltig, daß auf diesem Gebiet keineAbstimmung stattfindet. Das sollte uns meines Erach-tens im Parlament nicht gleichgültig sein.Wenn sich jetzt die Bundesregierung und insbesonde-re – gezwungenermaßen – das BMZ Gedanken über eineKonzentrierung macht – wir werden uns demnächst imFachausschuß mit dieser Frage beschäftigen –, dannmöge das bitte – ich wiederhole mein Plädoyer – durcheine in sich abgestimmte, kohärente Politik geschehen:Nicht, daß das AA irgendeine Entscheidung vorwegfälltund das BMZ muß hinterherlaufen. Wie wollen wir indiesen Ländern überhaupt noch Politik machen, wenndort die Infrastruktur einer Botschaft nicht gegeben ist?Ich glaube, die Bundesregierung ist auf dem Holz-weg. Was sie tut, ist schädlich für die entwicklungspoli-tischen Anliegen unseres Landes. Das denke ich insbe-sondere, wenn ich Ihre vollmundigen Ankündigungendarüber höre, wie wichtig Ihnen der afrikanische Konti-nent ist. In der aktuellen Politik dieser Bundesregierungist davon nichts zu erkennen.
Man soll Kollegen aus der jetzigen Koalitionsfraktionnicht nur tadeln.
Ich möchte den Kollegen Schuster zu einer besonderenFormulierung in seinem Beitrag beglückwünschen. Siehaben darauf hingewiesen, daß das Ansehen der deut-schen Entwicklungshilfe weltweit sehr groß ist. Sie sinddabei, dieses Ansehen zu verspielen.
Nun hat die Bun-desministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, das Wort.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr vonSchmude hat vorhin die Bemerkung gemacht, der Ent-wicklungshaushalt sei so etwas wie das soziale Gewis-sen. So hätten ihn auch frühere Regierungen behandelt.Ich muß feststellen: Sie haben in den Jahren von 1991bis 1998 den Gesamthaushalt um 14 Prozent ausgewei-tet; aber im gleichen Zeitraum haben Sie den Entwick-lungshaushalt um 5 Prozent gesenkt. Das ist keineHaushaltskonsolidierung, sondern das Benutzen desEntwicklungshaushaltes als Steinbruch. Wer so handelt,der hat nach Ihrer Interpretation kein soziales Gewissen.Das kann ich nur bestätigen.
Herr Hedrich, es ist einfach notwendig, Fakten zukennen und sie richtig vorzutragen. In unserer Regie-rungszeit ist der Anteil der Finanzierungen für den afri-kanischen Kontinent der größte Anteil unserer bilatera-len Leistungen.
Das war zu Ihrer Zeit nicht der Fall. Deshalb lege ichWert darauf, daß hier nicht einfach ins Blaue hinein Un-sinn behauptet wird.Klaus-Jürgen Hedrich
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6630 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 1999
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Der entwicklungspolitische Gestaltungsrahmen – dasist heute hier gesagt worden – ist in den Haushaltsbera-tungen um insgesamt 1,2 Milliarden DM deutlich ge-stärkt worden. Dieser Rahmen ist zum einen durch Ver-pflichtungsermächtigungen im Einzelplan 23 um 650Millionen DM erhöht worden. Darüber hinaus ist eineVerpflichtungsermächtigung für den StabilitätspaktSüdosteuropa im Einzelplan 60 in Höhe von300 Millionen DM verankert worden. Auch die Ge-währleistungen für Verbundfinanzierungen sind auf250 Millionen DM erhöht worden.Wie wir uns angesichts der Kürzungen im Haushalt2000 verhalten, habe ich in der letzten Debatte detailliertdargestellt. Deshalb bitte ich um Verständnis dafür, daßich jetzt die zwischenzeitlich erreichten Erfolge darstel-len möchte. Es ist wirklich schwer erträglich, daß hierAbgeordnete den Schuldenerlaß in Höhe von 70 Milliar-den US-Dollar, den wir im September auf den Konfe-renzen von Weltbank und Internationalem Währungs-fonds im Interesse der Entwicklungsländer erreicht ha-ben, in parteipolitischer und kleinkrämerischer Absichtschlechtmachen. Dies ist noch kleiner als kleinkariert;dies ist Pepita.
70 Milliarden US-Dollar sind das 20fache der Mittelunseres Entwicklungshaushalts. Daran kann man erken-nen, was alles mobilisiert worden ist. Vor allen Dingenwerden durch diesen Schuldenerlaß mindestens 36 derärmsten Entwicklungsländer die Chance haben, eine so-ziale und nachhaltige Entwicklung zu verwirklichen. ImDurchschnitt ist damit zu rechnen, daß diese Ländernach der Entschuldung weniger als 10 Prozent ihrer Ex-porteinnahmen für den Schuldendienst ausgeben müs-sen.Dies bedeutet, daß Millionen von Kindern und Er-wachsenen in diesen Ländern eine bessere Perspektiveerhalten. Wer kann schon von sich behaupten, so etwasjemals angestoßen zu haben? Unsere Regierung hat diesangestoßen. Dies ist ein großer Erfolg, den Sie anerken-nen sollten, anstatt ihn kleinzumachen.
Zweiter Punkt. Wir leisten einen wesentlichen Bei-trag zur Finanzierung der Gesamtinitiative. Wir werdenzum einen den Entwicklungsländern auf bilateraler Ebe-ne bis zu 9 Milliarden DM an Schulden erlassen. Rund 5Milliarden DM entfallen auf Handelsschulden ein-schließlich der DDR-Altschulden, für die dadurch end-lich eine Lösung gefunden wird. Zirka 4 Milliarden DMentfallen auf Schulden aus der finanziellen Zusammen-arbeit.Die Bundesregierung wird darüber hinaus – darauf istschon hingewiesen worden – 150 Millionen DM direktin den Treuhandfonds einzahlen, der bei der Weltbankzur Unterstützung der multilateralen Gläubiger undder Finanzierung ihres Anteils an der Entschuldungs-initiative eingerichtet worden ist. Darüber hinaus – Siehaben bestätigt, daß dies richtig ist – werden bis zu1 Milliarde Euro aus dem Europäischen Entwicklungs-fonds, die noch nicht abgeflossen sind, in die HIPC-Entschuldungsinitiative fließen. Dies ist ein substan-zieller Beitrag. Da der deutsche Finanzierungsanteil amEEF rund ein Viertel beträgt, werden damit noch einmalrund 540 Millionen DM als deutscher Beitrag in die Ent-schuldungsinitiative fließen.Der dritte Punkt ist meines Erachtens in der bisheri-gen Diskussion überhaupt nicht ausreichend berücksich-tigt worden. Es ist uns gelungen, die Entschuldungsin-itiative als Hebel zu benutzen, um die Politik und dieHaushalte der Entwicklungsländer auf Armutsbekämp-fung auszurichten,
und dafür zu sorgen, daß die Finanzmittel für die Ent-schuldung wirklich bei den Menschen ankommen. DieMenschen bei uns sind doch bereit, die Entschuldungs-initiative zu akzeptieren, allerdings nicht konditionslos.Wir haben endlich die Entwicklungsländer verpflichtet,eigene Entschuldungs- und Armutsbekämpfungspro-gramme vorzulegen.Ich kann nicht mehr hören, wenn Sie sagen, wir wür-den den Nichtregierungsorganisationen schaden. Wirhaben durch die Entschuldungsinitiative dazu beigetra-gen, daß die Zivilgesellschaft an den Armutsbekämp-fungsplänen der Entwicklungsländer endlich beteiligtwird. Dies ist ein Riesenschritt, den Sie nie geschaffthaben. Sagen Sie also nicht, die Nichtregierungsorgani-sationen würden nicht unterstützt!
Ich möchte übrigens – ich weiß nicht, ob wir dasdurchsetzen können –, daß ein kleiner Teil des Ent-schuldungsteils für die Arbeit der Nichtregierungsorga-nisationen in den Entwicklungsländern zur Verfügunggestellt wird, damit sie eine Chance haben, sich einzu-bringen. Sonst könnte es eine vergleichsweise folgenloseForderung gewesen sein, die Zivilgesellschaft einzube-ziehen.Hinzu kommt, daß wir es geschafft haben – das istder vierte Punkt –, die Politik der Weltbank und des In-ternationalen Währungsfonds so umzuorientieren, daßsie zur Armutsbekämpfung die Programme der Ent-wicklungsländer entsprechend mit unterstützen müssen.Das ist eine wegweisende, ich möchte sagen: fast revo-lutionäre Veränderung, bezogen auf den InternationalenWährungsfonds. Es war doch bisher so: Der Fonds hatdie Haushaltsstabilität in den Vordergrund gestellt, under hat die Probleme der Armut in den Entwicklungslän-dern zum Teil erst verschärft. Dann hat die Weltbank dieHeftpflaster geliefert, um die Wunden zu verbinden.Damit ist endlich Schluß.
Jetzt wird die Verbesserung der Situation der Ent-wicklungsländer integriert angegangen. Das haben wirBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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mit der Entschuldungsinitiative hinbekommen: LiebeKolleginnen und Kollegen, es geht jedoch nicht um dieAnerkennung für uns, sondern es geht darum, daß Ent-wicklungsländer sagen, damit ist eine Rieseninitiative inGang gekommen.Ich möchte ferner darauf hinweisen, daß es gelungenist – ich bedanke mich ausdrücklich für die Unterstüt-zung, die wir dabei im Haushaltsausschuß hatten; derKollege Wagner blickt wissend –
– immer wissend, er ist allwissend –,
die 100 Millionen DM für die entsprechende multilate-rale Finanzierung so einzusetzen, daß sie plafondstei-gernd und additional sind.Ich möchte von dieser Stelle aus einen Appell an dieParlamentarier im US-Kongreß richten. Die Parlamen-tarier im US-Kongreß haben das, was Bill Clinton vorder Jahresversammlung von Weltbank und Währungs-fonds angekündigt hat, nämlich auch einen multilatera-len Beitrag zur Entschuldungsinitiative zu leisten, finan-ziell im Haushalt nicht abgesichert. Wir appellieren des-halb an unsere amerikanischen Kolleginnen und Kolle-gen – ich bin sicher, ich sage das in Ihrer aller Sinne –,
daß die amerikanischen Kolleginnen und Kollegen einenNachtragshaushalt vorlegen, damit die Finanzierungauch von den USA aus gesichert ist.Ich darf jedenfalls sagen: Die europäischen Länderwerden zu ihren Zusagen im Zusammenhang mit derFinanzierung der HIPC-Initiative stehen. Das habe ichmit meinen Kolleginnen und Kollegen verabredet. Dasgilt auch für die Bundesregierung.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: Kri-senprävention. Wir haben Mittel für den Zivilen Frie-densdienst eingesetzt. Entgegen dem Trend sind sie auf17,5 Millionen DM aufgestockt worden. Der ZivileFriedensdienst ist ein neues, flexibles und schnellesInstrument, das wir zusammen mit den christlichenEntsendeorganisationen AGEH, Dienste in Übersee,EIRENE und anderen anwenden. Das Neue dabei ist– das bitte ich die Kolleginnen und Kollegen zu verste-hen –, daß es zum ersten Mal ein Gemeinschaftswerkzwischen staatlicher und nichtstaatlicher Seite zur Ver-söhnung und Vermittlungsarbeit in unseren Partner-ländern ist.
Es ist im übrigen auch ein Versuch, eine qualifizierteAusbildung in diesem Bereich der Versöhnungs- undVermittlungsarbeit zu verwirklichen.
Ich appelliere an Sie: Freuen Sie sich doch, daß esLeute gibt, die dafür ihre Ausbildung einbringen wollenund die in den beteiligten Ländern tätig werden. JederEinsatz kann Krisen und Konflikte mindern.
Da sage ich: Da ist es des Schweißes der Edlen wert,daß diese Leute dort hingehen, daß wir es finanzieren.Das ist im übrigen billiger, menschlicher und anständi-ger, als anschließend mit großem Aufwand Schäden zubeseitigen, die aufgetreten sind.
Ich habe großes Vertrauen in die Organisationen, dieden Zivilen Friedensdienst bilden.
Frau Bundesmini-sterin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord-neten Weiß?Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: ImMoment nicht, Herr Präsident.Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich sind dieFinanzen wichtig. Jeder weiß, daß ich es besser gefun-den hätte, wenn dem Entwicklungsbereich weniger Kür-zungen zugemutet worden wären. Eines ist aber auchfestzuhalten – das sage ich an die Kritiker in diesemHause oder sonstwo –: Es geht insbesondere um quali-tative Arbeit. Wir arbeiten daran, daß Initiativen unter-stützt werden, die sich weltweit um die Reduzierung undBegrenzung von Waffenlieferungen in Entwicklungs-länder bemühen. Die Länder sollen nämlich ihr Geld fürBildung und Gesundheit und nicht für Waffen und Rü-stungsgüter ausgeben. Darin liegen ihre Chancen.
– Daß Sie dafür kein Verständnis haben, ist mir klar.
Ein weiterer Punkt, bei dem es uns um Qualität geht.Bei der Ressortabstimmung haben wir unseren Einflußdahin gehend geltend gemacht, daß die WTO endlichauch die Entwicklungsländer berücksichtigt. Durch dieÖffnung der Märkte der Industrieländer für Produkte ausden Entwicklungsländern kann mehr erreicht werden, alswenn alle Hilfen nur über die öffentlichen Haushaltefinanziert würden. Das wäre ein großer Schritt nach vor-ne. Die diesbezügliche Position der Europäischen Unionbei den Verhandlungen haben wir mitformuliert undauch für die Bereitstellung von Finanzmitteln gesorgt.
Ich möchte gern noch einmal darauf hinweisen, daßwir erstens die Nichtregierungsorganisationen im Sü-Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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den gestärkt haben, insbesondere auch beim Post-Lomé-Prozeß, und daß zweitens die privaten Träger im kom-menden Jahr nach den bisherigen Haushaltsvorschlägenimmer noch deutlich mehr Mittel zur Verfügung habenals zur Zeit der Regierung Kohl, nämlich 4,8 Prozentmehr als 1998.
Für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit dieserOrganisationen werden im Jahr 2000 deutlich mehrMittel bereitgestellt, nämlich gegenüber 1998 über40 Prozent mehr.
Mir geht es noch um einen zusätzlichen Punkt. Ange-sichts der Probleme, die es in der Welt gibt, sollten wiralle unsere Kräfte bündeln. Wir sollten die staatlichenMittel nutzen, Nichtregierungsorganisationen einbindenund vor allen Dingen – das möchte ich und werde ichauch tun – die Entwicklungspartnerschaft mit der Wirt-schaft voranbringen. Bei jedem Projekt, das zukünftiggeplant wird, muß geprüft werden, ob die Leistungennicht von seiten der privaten Wirtschaft besser und ef-fektiver erbracht werden können, so daß eine wirklichePartnerschaft, bezogen auf das entwicklungspolitischeZiel, zustande kommt. Das ist ein Schwerpunkt, um des-sen Verwirklichung wir uns kümmern werden.
Zum Schluß liegt mir noch eine Sache am Herzen:Sie alle haben gelesen, daß zwei 14- und 15jährigeSchüler aus dem westafrikanischen Guinea, die sich imFahrgestell eines Flugzeuges versteckt hatten, auf demWeg nach Europa jämmerlich erfroren sind. Als man sienach der Landung des Flugzeuges in Europa fand, tru-gen sie nicht etwa einen Brief dabei, in dem sie um Asylbaten, sondern sie hatten einen verzweifelten Hilferuf andie Verantwortlichen Europas dabei. Ich möchte Ihnenden Inhalt gerne vorlesen und Sie alle bitten, in diesemSinne tätig zu werden. Sie schrieben: „Wir leidenfurchtbar in Afrika. Wir leiden an Hunger, Krankheitund Krieg. Wir möchten lernen und zur Schule gehen.Bitte helfen Sie uns, damit wir in Afrika ein Leben füh-ren können wie Sie in Europa.“Ich denke, meine Damen und Herren, wenn wir unsgemeinsam diesen Appell und die schreckliche Situationdieser Jugendlichen, die zu einem solchen Mittel gegrif-fen haben, vor Augen halten, dann sollten wir dahinkommen, einen Teil unserer parteipolitischen Auseinan-dersetzungen zu lassen, und sollten uns vielmehr ge-meinsam bemühen, die Finanzmittel und die Möglich-keiten unseres Landes im Sinne der Jugend der Welt zunutzen.Ich bedanke mich sehr.
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den
Änderungsantrag der Fraktion der PDS. Wer stimmt für
den Änderungsantrag auf Drucksache 14/2149? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan-
trag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen
der PDS abgelehnt.
Damit kommen wir zur Abstimmung über den Ein-
zelplan 23 in der Ausschußfassung. Wer stimmt dafür? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Einzel-
plan 23 ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 25. November
1999, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.