Rede von
Dr.
Friedbert
Pflüger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Kollege
Lippelt, ich möchte erstens etwas zum Thema Tsche-
tschenien sagen. Sie haben hier behauptet, es sei wäh-
rend der Regierungszeit Helmut Kohls nichts oder so gut
wie nichts gemacht worden. Ich kann mich daran erin-
nern, daß wir immerhin eine gemeinsame Bundestags-
resolution zu diesem Thema verabschiedet haben. Das
heißt, von einem Schweigen des Bundestages in dieser
Situation kann wirklich nicht die Rede sein. Nicht nur
Sie haben demonstriert. Vielmehr sind zum Beispiel
auch meine Kollegen Schmidt und Koschyk in jener Zeit
in Moskau gewesen und haben dort ganz deutliche
Worte zum Tschetschenien-Krieg gefunden. Daß wäh-
rend der Regierungszeit Kohls beim ersten Tschetsche-
nien-Krieg die Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes nicht
kritisiert worden sei, möchte ich also zurückweisen.
Zweitens. Es ist völlig richtig, daß wir zwar – auch
auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul – Kritik an Rußland
geübt haben, daß wir die Kritik aber auch in einem
gewissen Rahmen belassen haben. Das ist notwen-
dig, weil es neben dem Ziel, die Menschenrechte in
Tschetschenien zu erhalten – ich glaube, daß dieses Ziel
uns allen hier im Parlament sehr wichtig ist –, auch an-
dere moralische Ziele gibt, die wir im Verhältnis zu
Rußland bedenken müssen. Wir wollen Rußland als
Partner für Abrüstung haben. Wir wollen verhindern,
daß Rußland Massenvernichtungswaffen weltweit ver-
breitet. Wir wollen Moskau als Partner für eine europäi-
sche Sicherheitsarchitektur. Deshalb ist es richtig – und
auch früher wie heute von den Bundesregierungen prak-
tiziert worden –, Kritik an Rußland zu üben, aber sie in
einer Art und Weise zu üben, die Rußland nicht weiter
in die Isolierung treibt und uns der Einflußchancen in
Moskau ganz beraubt.
Der eigentliche Unterschied zwischen früher und
heute besteht nicht im Regierungsverhalten, sondern –
verzeihen Sie – im Verhalten der Grünen. Sie haben frü-
her mit einem, wie ich durchaus fand, sehr erfrischenden
Rigorismus und Idealismus für Menschenrechte gestan-
den und sich gegen solche realpolitischen Überlegungen
gewandt. So etwas hat eine wesentliche Bedeutung in
einem Regierungssystem wie dem unseren; ich erinnere
in diesem Zusammenhang etwa daran, daß Präsident
Jimmy Carter eine Menschenrechtsbeauftragte in seiner
unmittelbaren Umgebung hatte, die ständig dafür gesorgt
hat, daß das Thema Menschenrechte richtig gewichtet
worden ist. Heute ist bei Ihnen – das hat natürlich mit
dem grünen Außenminister zu tun und stellt Ihr gene-
relles Strukturproblem dar – von dieser deutlichen Kritik
weniger zu spüren. Darüber freut sich ja Herr Gysi; er
schlägt bei jeder Gelegenheit, angefangen vom Kosovo
bis hin zu Tschetschenien, in diese Kerbe. Mit diesem
Problem müssen Sie fertig werden. Der Unterschied zur
Situation des ersten Tschetschenien-Krieges liegt nicht
in den Regierungen Kohl bzw. Schröder, sondern liegt
eindeutig in der Tatsache begründet, daß die Grünen
sehr schwach sind, wenn es jetzt darum geht, eindeutig
moralisch Position zu beziehen.