Protokoll:
14035

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 35

  • date_rangeDatum: 22. April 1999

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:33 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/35 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 35. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Dr. Theodor Waigel.............................. 2761 A Eintritt des Abgeordneten Wolfgang Steiger in den Deutschen Bundestag............................ 2761 A Erweiterung der Tagesordnung.......... 2761 B, 2817 A Absetzung des Punktes 8 von der Tagesord- nung ................................................................. 2762 A Tagesordnungspunkt 5: a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers anläßlich des 50. Jah- restages der Gründung der Nordatlan- tikpakt-Organisation................................ 2762 B b) Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN NATO-Gipfel in Washington und Wei- terentwicklung des Bündnisses (Druck- sache 14/599) ............................................. 2762 B c) Antrag der Fraktion der CDU/CSU Die Handlungsfähigkeit der Nordatlan- tischen Allianz für das 21. Jahrhundert sichern (Drucksache 14/316)..................... 2762 B d) Antrag der Fraktion PDS Europäische Sicherheitsarchitektur statt Dominanz der Nordatlantischen Allianz (Drucksache 14/454 (neu)) ........................... 2762 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P. 50 Jahre Nordatlantisches Bündnis (Drucksache 14/792) .................................. 2762 C Gerhard Schröder, Bundeskanzler ................... 2762 C Volker Rühe..................................................... 2766 A Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg...... 2770 A Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P.......................... 2773 A Joseph Fischer, Bundesminister AA................ 2776 A Wolfgang Gehrcke PDS .................................. 2779 A Markus Meckel SPD.................................... 2781 B Michael Glos CDU/CSU ................................. 2781 D Gernot Erler SPD............................................. 2784 C Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 2786 C Markus Meckel SPD........................................ 2787 C Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) CDU/CSU... 2789 B Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 2791 B Peter Zumkley SPD ......................................... 2792 D Dr. Christoph Zöpel SPD................................. 2794 B Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen), Friedrich Merz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU Deutschland muß verläßlicher Partner in europäischer Raumfahrt bleiben (Drucksache 14/655) .................................. 2795 C Ilse Aigner CDU/CSU..................................... 2795 C Edelgard Bulmahn, Bundesministerin BMBF . 2797 C II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 Thomas Rachel CDU/CSU .......................... 2799 C Dr.Martin Mayer (Siegertsbrunn) CDU/CSU.. 2801 A Edelgard Bulmahn, Bundesministerin BMBF . 2801 B Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2801 D Jürgen W. Möllemann F.D.P. .......................... 2804 B Jörg Tauss SPD............................................ 2805 C Thomas Rachel CDU/CSU .............................. 2806 D Stephan Hilsberg SPD ................................. 2807 A Lothar Fischer (Homburg) SPD....................... 2809 B Jürgen W. Möllemann F.D.P. ..................... 2809 D Norbert Hauser (Bonn) CDU/CSU .................. 2811 B Bodo Seidenthal SPD....................................... 2812 D Thomas Rachel CDU/CSU .............................. 2815 B Tagesordnungspunkt 15: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Reform des Staatsangehörig- keitsrechts (Drucksache 14/744)............... 2815 C b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Über- weisungsgesetzes (Drucksache 14/745) .... 2815 C c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 8. Dezem- ber 1997 über wirtschaftliche Partner- schaft, politische Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen der Euro- päischen Gemeinschaft und ihren Mit- gliedstaaten einerseits und den Ver- einigten Mexikanischen Staaten ande- rerseits (Drucksache 14/684)..................... 2815 D d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens (Arbeits- gerichtsbeschleunigungsgesetz) (Druck- sache 14/626) ............................................. 2815 D e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Dehnel, Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke), weiteren Abgeord- neten und der Fraktion CDU/CSU einge- brachten Entwurfs eines Zweiten Geset- zes zur Änderung des Verkehrswege- planungsbeschleunigungsgesetzes (Drucksache 14/544) .................................. 2815 D f) Antrag der Fraktion der CDU/CSU Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (Drucksache 14/542) ....................................................... 2816 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. Dezember 1995 über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schwe- den zu dem Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (Drucksache 14/748) .................................. 2816 A b) Antrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P. Für eine sofortige Verhängung umfas- sender Handelssanktionen gegen Jugo- slawien (Drucksache 14/793) .................... 2816 A c) Antrag der Abgeordneten Gabriele Fogra- scher, Adelheid Tröscher, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster- Loßack, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN UN-Sondergeneralversammlung – 5 Jah- re nach der Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo – Aktive Be- völkerungspolitik in der Entwicklungs- zusammenarbeit (Drucksache 14/797)......... 2816 B d) Antrag der Abgeordneten Fred Gebhardt, Heidi Lippmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS Ausschluß des Eintritts Minderjähriger in die Bundeswehr (Drucksache 14/551) . 2816 B e) Antrag der Abgeordneten Fred Gebhardt, Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS Einsatz von Kindern als Soldaten wirk- sam verhindern (Drucksache 14/552) ...... 2816 C f) Antrag der Abgeordneten Karin Kort- mann, Brigitte Adler, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion SPD sowie der Ab- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 III geordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gegen den Einsatz von Kindern als Soldaten in bewaffneten Konflikten (Drucksache 14/806) .................................. 2816 C Tagesordnungspunkt 16: Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- logie zu der Verordnung der Bundesregie- rung Aufhebbare Einhundertachtunddrei- ßigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum Außenwirt- schaftsgesetz – (Drucksachen 14/264, 14/305 Nr. 2.2, 14/729) ....................................................... 2816 D b) Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung Privatisierung von Bundesbeteiligungen hier: Veräußerung der Geschäftsan- teile an der Heimstätte Rheinland-Pfalz GmbH, Organ der staatlichen Woh- nungspolitik, Mainz (Drucksachen 14/186, 14/305 Nr. 1.1, 14/657) ....................................................... 2817 A Zusatztagesordnungspunkt 12: a) bis e) Beschlußempfehlungen des Peti- tionsausschusses Sammelübersichten 38, 39, 40, 41, 42 (Drucksachen 14/814, 14/815, 14/816, 14/817 und 14/818) .................................... 2817 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes (Drucksa- chen 14/389, 14/474, 14/820)..................... 2817 C Brigitte Lange SPD.......................................... 2817 D Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU .......... 2819 B Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN......................................................... 2820 D Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. ........................... 2821 D Dr. Klaus Grehn PDS....................................... 2822 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundesregierung als Bauherr zu Schwarzarbeit und außertariflicher Be- schäftigung auf den Baustellen des Bundes in Berlin und zu den Auswir- kungen auf die Beschäftigungssituation im Baugewerbe Berlins und Branden- burgs sowie die ostdeutsche Bauwirt- schaft insgesamt ....................................... 2823 D Petra Pau PDS.................................................. 2823 D Achim Großmann, Parl. Staatssekretär BMVB ............................................................. 2825 A Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU................. 2826 C Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN................................................. 2827 C Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. ........................... 2828 B Renate Rennebach SPD ................................... 2829 B Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) CDU/CSU...... 2830 C Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 2831 C Dr. Klaus Grehn PDS ...................................... 2832 D Gabriele Iwersen SPD ..................................... 2833 D Karl-Josef Laumann CDU/CSU ...................... 2834 D Wolfgang Weiermann SPD ............................. 2835 D Konrad Gilges SPD ......................................... 2837 A Karl-Josef Laumann CDU/CSU ...................... 2838 B Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Entschuldungsinitiative anläßlich des Weltwirtschaftsgipfels der G-7/G-8- Staaten in Köln (Drucksache 14/794) ...... 2839 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion CDU/CSU Entschuldung armer Entwicklungs- länder – Initiativen zum G-8-Gipfel in Köln (Drucksache 14/785)......................... 2839 A b) Antrag der Abgeordneten Carsten Hübner, Fred Gebhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS Umfassender Schuldenerlaß für einen Neuanfang (Drucksache 14/800) .............. 2839 A IV Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministe- rin BMZ ........................................................... 2839 B Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU.................... 2841 C Dr. R. Werner Schuster SPD........................ 2842 D Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN......................................................... 2844 A Joachim Günther (Plauen) F.D.P. .................... 2845 B Adelheid Tröscher SPD ................................... 2847 A Carsten Hübner PDS........................................ 2848 C Frank Hempel SPD .......................................... 2850 B Dr. Ralf Brauksiepe CDU/CSU ....................... 2851 C Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ ...... 2853 D Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU.................... 2854 D Dagmar Schmidt (Meschede) SPD .................. 2855 B Zusatztagesordnungspunkt 7: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege- lung des Schutzes parlamentarischer Beratungen (Drucksache 14/183) ............. 2856 D b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Sabine Jünger und der Fraktion PDS eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Bannmeilenregelung (Drucksache 14/516) ....................................................... 2857 A Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. ...................... 2857 A Dieter Wiefelspütz SPD................................... 2858 A Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. .................. 2859 C Dieter Wiefelspütz SPD................................... 2859 D Joachim Hörster CDU/CSU............................. 2860 A Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN......................................................... 2861 B Roland Claus PDS ........................................... 2862 B Dieter Wiefelspütz SPD............................... 2862 D Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Hartmut Büttner (Schönebeck), Margarete Späte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU Beteiligung des Bundes an Gedenkstät- ten und Mahnmalen zur Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und ihre Opfer (Drucksache 14/656) ............... 2863 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Gert Weisskir- chen (Wiesloch), Angelika Krüger-Leiß- ner, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion SPD sowie der Abgeordneten Antje Vollmer, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Konzeption zur Förderung und Festi- gung der demokratischen Erinnerungs- kultur (Drucksache 14/796) ...................... 2864 A Hartmut Koschyk CDU/CSU .......................... 2864 B Angelika Krüger-Leißner SPD ........................ 2865 D Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P. ........... 2867 D Antje Vollmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 2869 A Dr. Heinrich Fink PDS .................................... 2870 D Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD ................ 2871 D Margarete Späte CDU/CSU............................. 2873 C Zusatztagesordnungspunkt 9: a) Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Keine weitere Unterstützung der Atom- kraftwerke Khmelnytsky 2 und Rivne 4 in der Ukraine (Drucksache 14/795) ........ 2875 C b) Antrag der Abgeordneten Angela Mar- quardt, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion PDS Investitionen der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in Khmelnystky 2 und Rivne 4 (Drucksa- che 14/708) ................................................ 2875 C c) Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU Festhalten an den Zusagen zum Bau von sichereren Ersatzreaktoren in der Ukraine (Drucksache 14/819) ................... 2875 C Monika Griefahn SPD ..................................... 2875 D Kurt-Dieter Grill CDU/CSU............................ 2876 D Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN................................................................. 2878 A Ulrike Flach F.D.P........................................... 2879 B Eva-Maria Bulling-Schröter PDS .................... 2880 B Horst Kubatschka SPD .................................... 2881 A Tagesordnungspunkt 10: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Roland Claus, weite- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 V ren Abgeordneten und der Fraktion PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Ge- setzbuchs (Verjährung Schadensersatz- forderungen für Zwangsarbeit) (Druck- sache 14/554) ............................................. 2882 B Dr. Evelyn Kenzler PDS.................................. 2882 B Joachim Stünker SPD ...................................... 2883 B Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU ..................... 2885 C Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN................................................................. 2886 B Rainer Funke F.D.P. ........................................ 2887 C Nächste Sitzung ............................................... 2887 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten ........... 2889 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 2761 (A) (C) (B) (D) 35. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 Beginn: 9.00 Uhr
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    Winfried Nachtwei Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 2889 (A) (C) (B) (D) Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Binding (Heidelberg), Lothar SPD 22.4.99 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 22.4.99* Fink, Ulf CDU/CSU 22.4.99 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 22.4.99 Dr. Gysi, Gregor PDS 22.4.99 Hasenfratz, Klaus SPD 22.4.99 Ibrügger, Lothar SPD 22.4.99 Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 22.4.99 Kolbow,Walter SPD 22.4.99 Moosbauer, Christoph SPD 22.4.99 Müller (Berlin), Manfred PDS 22.4.99 Müntefering, Franz SPD 22.4.99 Nolte, Claudia CDU/CSU 22.4.99 Dr. Paziorek, Peter CDU/CDU 22.4.99 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 22.4.99 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Raidel, Hans CDU/CSU 22.4.99 Ronsöhr, Heinrich-Wilhelm CDU/CSU 22.4.99 Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 22.4.99 Schmidbauer (Nürnberg), Horst SPD 22.4.99 Schuhmann (Delitzsch), Richard SPD 22.4.99 Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 22.4.99 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 22.4.99 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22.4.99 Weisskirchen (Wiesloch), Gert SPD 22.4.99 Willner, Gert CDU/CSU 22.4.99 Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 22.4.99 Wissmann, Matthias CDU/CSU 22.4.99 Wolf, Aribert CDU/CSU 22.4.99 –––––––– *) für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates 2890 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 (A) (C) (B) (D)
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403500000
Die Sitzung ist
eröffnet.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
dem Kollegen Dr. Theodor Waigel, der heute seinen
60. Geburtstag begeht, im Namen des Hauses unsere
herzlichsten Glückwünsche aussprechen.


(Beifall)

Sodann teile ich mit, daß der Kollege Wilhelm Diet-

zel am 12. April 1999 auf seine Mitgliedschaft im Deut-
schen Bundestag verzichtet hat. Als sein Nachfolger hat
der Abgeordnete Wolfgang Steiger am 15. April die
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich
begrüße den Kollegen Steiger, der bereits Mitglied in
der 13. Wahlperiode war, herzlich.


(Beifall)

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene

Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste
vorliegenden Punkte zu erweitern:
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun(Augsburg), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der F.D.P.: 50 Jahre Nordatlan-tisches Bündnis – Drucksache 14/792 –
ZP3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er-gänzung zu TOP 15)


a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommenvom 21. Dezember 1995 über den Beitritt der RepublikÖsterreich, der Republik Finnland und des König-reichs Schweden zu dem Übereinkommen über die Be-seitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Ge-winnberichtigungen zwischen verbundenen Unter-nehmen – Drucksache 14/748 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HildebrechtBraun (Augsburg), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Füreine sofortige Verhängung umfassender Handelssank-tionen gegen Jugoslawien – Drucksache 14/793 –
c) Beratung des Antrags der Abeordneten Gabriele Fogra-scher, Adelheid Tröscher, Günter Oesinghaus, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-ordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Kerstin Müller(Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN: UN-Sondergeneralversammlung –5 Jahre nach der Konferenz für Bevölkerung undEntwicklung in Kairo – Aktive Bevölkerungspolitik inder Entwicklungszusammenarbeit – Drucksache 14/797 –

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fred Gebhardt,Heidi Lippmann-Kasten, Dietmar Bartsch, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der PDS: Ausschluß des Ein-tritts Minderjähriger in die Bundeswehr – Drucksache14/551 –
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fred Gebhardt,Carsten Hübner, Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der PDS: Einsatz von Kindern als Sol-daten wirksam verhindern – Drucksache 14/552 –
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann,Brigitte Adler, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenDr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele,Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Gegen den Einsatz von Kindern als Solda-ten in bewaffneten Konflikten – Drucksache 14/806 –

ZP4 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderungdes Bundessozialhilfegesetzes – Drucksachen 14/389,14/474, 14/820 – (Erste Beratung 25. Sitzung)

ZP5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Hal-tung der Bundesregierung als Bauherr zu Schwarzarbeitund außertariflicher Beschäftigung auf den Baustellen desBundes in Berlin und zu den Auswirkungen auf die Be-schäftigungssituation im Baugewerbe Berlins und Bran-denburgs sowie die ostdeutsche Bauwirtschaft insgesamt
ZP6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-JürgenHedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert Blüm, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Entschul-dung armer Entwicklungsländer – Initiativen zum G8-Gipfel in Köln – Drucksache 14/785 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner,Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke-Reymann, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDS: UmfassenderSchuldenerlaß für einen Neuanfang – Drucksache14/800 –
ZP7 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. HermannOtto Solms, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen,weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung desSchutzes parlamentarischer Beratungen – Drucksache14/183 –

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. EvelynKenzler, Sabine Jünger, Petra Pau, Dr. Gregor Gysi undder Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Aufhebung der Bannmeilenregelung –Drucksache 14/516 –
ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen(Wiesloch), Angelika Krüger-Leißner, Eckhardt Barthel(Berlin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Antje Vollmer, Volker Beck (Köln),Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Konzeption zur Förderungund Festigung der demokratischen Erinnerungskultur– Drucksache 14/796 –






(B)



(A) (C)



(D)


ZP9 a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Keine weitere Unterstützungder Atomkraftwerke Khmelnytsky 2 und Rivne 4 inder Ukraine – Drucksache 14/795 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angela Mar-quardt, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi undder Fraktion der PDS: Investitionen der EuropäischenBank für Wiederaufbau und Entwicklung in Khmel-nistky 2 und Rivne 4 – Drucksache 14/708 –
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill,Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), Cajus Julius Caesar,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:Festhalten an den Zusagen zum Bau von sicherenErsatzreaktoren in der Ukraine – Drucksache 14/819 –

ZP10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun(Augsburg), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der F.D.P.: Entlassung derParlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministe-rium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit GilaAltmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Drucksache14/798 –
ZP11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr.Christa Luft, Dr. Evelyn Kenzler, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der PDS: Zahlungsforderungen schnellerdurchsetzen – Zahlungsmoral bekämpfen – Drucksache14/799 –

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll,
soweit erforderlich, abgewichen werden.

Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungs-
punkt 8 a bis c – es handelt sich um Anträge zu
öffentlichen Gelöbnissen der Bundeswehr – abzusetzen.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
5. a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun-

deskanzlers anläßlich des 50. Jahrestages
der Gründung der Nordatlantikpakt-Orga-
nisation

b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
NATO-Gipfel in Washington und Weiter-
entwicklung des Bündnisses
– Drucksache 14/599 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend c)

CDU/CSU
Die Handlungsfähigkeit der Nordatlan-
tischen Allianz für das 21. Jahrhundert
sichern
– Drucksache 14/316 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend d)

Europäische Sicherheitsarchitektur statt
Dominanz der Nordatlantischen Allianz
– Drucksache 14/454 (neu)
Überweisungsvorschlag:

(federführend ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. 50 Jahre Nordatlantisches Bündnis – Drucksache 14/792 – Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuß (federführend)Auswärtiger Ausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An diesem Wochenende werden die Staatsund Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten in Washington zusammenkommen. Eigentlich war vorgesehen, dort feierlich ein Jubiläum zu begehen, nämlich daß vor 50 Jahren der Nordatlantikvertrag unterzeichnet wurde. 50 Jahre NATO, das können gerade wir Deutsche nicht hoch genug schätzen. Das sind 50 Jahre Entwicklung in Frieden, in Freiheit und Demokratie. Nicht die militärische Bilanz, die es zu ziehen gilt, ist wirklich wichtig. Das Entscheidende bei der Bewertung ist: Die NATO war von Beginn an und ist heute mehr denn je ein Bündnis auf dem Boden gemeinsamer Werte. Eine Zukunft hat die NATO angesichts der heutigen Weltlage gerade als Bündnis für Frieden, für Demokratie und – gerade jetzt bewiesen – für Menschenrechte. Wir haben gesehen: Die Gefahr bewaffneter Konflikte und kriegerischer Auseinandersetzung besteht vor allen Dingen dort, wo es an Demokratie mangelt und wo Diktatoren ihren Völkern ihren Willen aufzwingen wollen und sich entsprechend verhalten. Diese Erkenntnis bestimmt das Handeln der NATO als Verteidigungsgemeinschaft. Deshalb werden wir uns an diesem Wochenende nicht in triumphalen Festlichkeiten ergehen. Der Krieg im Kosovo steht heute im Vordergrund der Politik der Allianz. Er wird naturgemäß auch auf dem Gipfel in Washington die entscheidende Rolle spielen. Schon um ihrer Glaubwürdigkeit als Wertegemeinschaft willen war die NATO gezwungen, gegen Massenvertreibung und Massenmord im Kosovo vorzugehen. An dieser Situation hat sich nichts verändert. Die Allianz mußte und muß deutlich machen, daß sie nicht bereit ist hinzunehmen, daß ein Teil Europas in Unterdrückung und Barbarei zurückfällt. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)

Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1403500100

Deshalb wird der Gipfel auch auf eindrucksvolle Weise
zeigen, wie fest die NATO-Mitgliedstaaten in diesem
gemeinsamen Willen zusammenstehen. Es wird ein
Gipfel der Gemeinsamkeit werden.

Präsident Wolfgang Thierse






(A) (C)



(B) (D)


Die Völkergemeinschaft hat – wir haben das hier häu-
fig diskutiert – nichts unversucht gelassen, die Krise im
Kosovo mit diplomatischen Mitteln beizulegen. Alle
Bemühungen um eine friedliche Lösung sind jedoch an
der unnachgiebigen Härte und dem verbrecherischen
Willen der Belgrader Führung gescheitert. Deshalb
mußte gehandelt werden, und deshalb muß weiter ge-
handelt werden. Dem Diktator Milosevic, der gegen die
albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo nach wie
vor mit brutalsten Mitteln vorgeht und auf das Recht des
Stärkeren setzt, mußte gezeigt werden, daß die Schwa-
chen in der NATO einen starken Verbündeten für die
Durchsetzung ihrer unveräußerlichen Rechte, der Men-
schenrechte, haben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Gleichzeitig, meine Damen und Herren – auch das ist
sichtbar und soll hier ausgesprochen werden –, tut die
Allianz das ihr Mögliche, um das Elend der Vertriebe-
nen, so gut es eben geht, zu mildern. Sie hat die angren-
zenden Staaten, die unter den Strömen der Deportierten
und der Flüchtlinge am meisten zu leiden haben, logi-
stisch und finanziell unterstützt, und sie wird das auch
weiterhin tun. Die NATO hat auch selbst für Zehntau-
sende von Flüchtlingen Notunterkünfte zur Verfügung
gestellt und damit bewiesen, daß sie in der Lage ist,
nicht nur militärisch, sondern auch und gerade zutiefst
humanitär zu agieren.

Schließlich haben sich viele Staaten – Deutschland
übrigens wieder einmal an vorderster Stelle – bereit
erklärt, Flüchtlinge vorübergehend aufzunehmen. Ich
teile die Kritik all derjenigen, die sich gelegentlich ent-
täuscht über den Willen des einen oder anderen Partners
in Europa geäußert haben, es in gleicher Weise zu hal-
ten, was die – ich betone: vorübergehende – Aufnahme
von Flüchtlingen angeht.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das Bündnis war und ist aber – es ist wichtig, auch
dies immer wieder zu betonen – jederzeit bereit, auf
glaubwürdige, das heißt verifizierbare Signale zu reagie-
ren. Eine politische Lösung des Konflikts im Kosovo
und in Jugoslawien bleibt das Ziel aller unserer Bemü-
hungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die militärischen Aktivitäten sind Mittel zum Zweck,
sie sind nicht Selbstzweck. Das zu unterstreichen ist mir
wichtig.

In Übereinstimmung mit dem Generalsekretär der Ver-
einten Nationen und der gesamten Europäischen Union
hat die NATO ihre Bedingungen für eine Suspendie-
rung der Luftschläge genannt. Angesichts der öffentli-
chen Diskussion möchte ich sie noch einmal sehr deutlich
herausstellen: Erstens geht es uns um die unverzügliche
Beendigung aller Gewaltakte, zweitens um den Rückzug
aller militärischen Kräfte, der Sonderpolizeikräfte sowie
der paramilitärischen Einheiten aus dem Kosovo und

drittens um die Stationierung internationaler Streitkräfte,
damit die Vertriebenen ohne Furcht in ihre Heimat zu-
rückkehren können. Dies, meine Damen und Herren, sind
die Bedingungen, die akzeptiert sein müssen und deren
Umsetzung verifizierbar begonnen sein muß, bevor die
Luftschläge ausgesetzt werden können.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Deshalb und weil die Forderungen identisch sind,
unterstützt die Bundesregierung die Initiative des Gene-
ralsekretärs der Vereinten Nationen vom 9. April 1999.
Die politischen Gremien der NATO-Staaten, allen voran
der Bundesaußenminister, sind unermüdlich bemüht,
eine politische Lösung und damit die Rückkehr an den
Verhandlungstisch zu erreichen. Aber dies geht eben nur
auf der Basis glasklar formulierter Bedingungen, die er-
füllt sein müssen. Es liegt nach wie vor ausschließlich
an der jugoslawischen Führung, die internationalen For-
derungen ohne Abstriche anzunehmen und umgehend
mit ihrer Umsetzung zu beginnen.

Uns kommt es unverändert auch darauf an, Rußland
zu einer aktiven Rolle bei der Suche nach einer friedli-
chen Lösung zu bewegen. Ich bin davon überzeugt, daß
eine dauerhafte Befriedung des Balkans im ureigensten
Interesse nicht nur der Europäischen Union, sondern
auch Rußlands liegt. Unser langfristiges Ziel muß und
wird es sein, eine demokratische und damit wirklich
friedliche Entwicklung in der gesamten Region sicher-
zustellen. Dazu gehört ohne jeden Zweifel neben einer
sicherheitspolitischen auch eine ökonomische Perspekti-
ve für die Staaten Südosteuropas.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Europäische Union, OSZE und NATO werden sich im
Rahmen einer gemeinsamen Strategie für die gesamte
Region um die Eingliederung dieser Staaten in die euro-
atlantischen Strukturen bemühen.

Deutschland hat bei dem Einsatz der NATO im Ko-
sovo seinen Anteil an der gemeinsamen Verantwortung
übernommen. Unser Beitrag ist nicht nur selbstver-
ständlicher Ausdruck unserer Bündnissolidarität. Nein,
gerade wir Deutschen haben auch vor dem Hintergrund
unserer eigenen Geschichte die Verpflichtung, im Rah-
men der Gemeinschaft demokratischer Staaten für Frie-
den und Sicherheit und gegen Unterdrückung, Vertrei-
bung und Gewaltanwendung einzutreten.

Wir alle wissen, daß unsere Soldaten bei diesem Ein-
satz ein hohes persönliches Risiko tragen. Auch im
Rahmen dieser Debatte sei ihnen deswegen für ihren
aufopferungsvollen Dienst ausdrücklich gedankt.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das gilt übrigens auch für alle anderen Deutschen, die
auf dem Balkan Hilfe leisten. Auch sie setzen täglich ihr
Leben ein, um der leidenden Bevölkerung vor Ort Hilfe
zu geben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


Mehr als vier Jahrzehnte hat der Ost-West-Gegen-
satz die europäische Geschichte geprägt. Dieser Gegen-
satz ist heute Gott sei Dank überwunden. Auf dem Gip-
fel in Washington – das ist wirklich ein Stück Zeitge-
schichte – werden wir drei neue Verbündete begrüßen:
Polen, die Tschechische Republik und Ungarn, drei
Staaten, die noch vor zehn Jahren Mitglieder des War-
schauer Paktes gewesen sind. Uns Deutschen war die
Aufnahme dieser drei neuen Mitglieder eine besondere
Verpflichtung.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir haben und werden nicht vergessen, welchen un-
schätzbaren Beitrag gerade diese drei Völker geleistet
haben, als es uns um die Wiedererlangung der staatli-
chen Einheit ging. Ohne die feste Verankerung
Deutschlands in der Atlantischen Allianz wäre die Ein-
heit – auch das gilt es, zu erkennen – nicht gelungen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Die Öffnung des Bündnisses nach Mittel- und Osteu-

ropa ist Teil unseres Wirkens für eine gesamteuropäi-
sche Friedensordnung. Frühere Gegner sind unsere
Partner geworden. Gemeinsam wollen wir nun eine
strategische Vision für eine Friedens- und Stabili-
tätsordnung entwickeln, die auf den Werten von Men-
schenrecht, Gerechtigkeit, demokratischer und sozialer
Entwicklung basiert.

Dabei ist die Verantwortung Europas gewachsen. Die
europäischen Staaten können nur dann ihrer gestärkten
Bedeutung wirklich gerecht werden, wenn sie eine ge-
meinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungs-
politik entwickeln. Natürlich werden wesentliche Ele-
mente des neuen strategischen Konzeptes in der Konti-
nuität der NATO-Tradition seit 1949 stehen. Kernfunk-
tion wird auch in Zukunft die Verteidigung des Bünd-
nisgebietes bleiben. Gleichzeitig bildet die NATO wei-
terhin das Fundament für ein stabiles Sicherheitsumfeld.
Wie bisher ist die Allianz das zentrale Konsultationsfo-
rum der Verbündeten.

Im überarbeiteten strategischen Konzept wird zusätz-
lich eine neue Kernfunktion verankert werden. Sie wird
Antwort auf die neuen Herausforderungen für das
Bündnis geben. Angesichts der neuen Bedrohungen muß
es unser vordringliches Ziel sein, die Sicherheit und die
Stabilität auf unserem Kontinent zu stärken. Die durch
die Allianz gewährte Mitwirkung der USA und deren
Präsenz in Europa bleiben wesentliche Voraussetzung
für die Sicherheit auf unserem Kontinent.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nach Überwindung des Ost-West-Konflikts gilt heute
mehr denn je: Sicherheit kann immer weniger durch mi-
litärische Mittel allein geleistet werden. Eine moderne
Sicherheitspolitik muß Frieden und wirtschaftlich-
soziale Entwicklung zusammendenken. Das verstehe ich
unter effizientem Krisenmanagement und wirksamer
Krisenprävention. Auch deshalb geht es im Kosovo

nicht einfach darum, einen militärischen Sieg zu errin-
gen. Es geht um eine politische und wirtschaftliche Per-
spektive für den gesamten Balkanraum.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Europa hat dabei bereits eine Rolle übernommen, die
seiner gewachsenen Verantwortung, vor allen Dingen
seiner gewachsenen ökonomischen Verantwortung in
der Welt angemessen ist. Indem dieses Europa bereit ist,
Verantwortung für die Durchsetzung der Menschen-
rechte, für Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu über-
nehmen, leistet Europa im Rahmen der Allianz seinen
Beitrag für eine politische Definition unseres Konti-
nents: als ein Europa der Menschen und der Rechte der
Menschen.

Meine Damen und Herren, schon bald nach dem Fall
des Eisernen Vorhanges hat das Bündnis das Angebot
einer umfassenden Zusammenarbeit an die Staaten des
ehemaligen Warschauer Paktes gerichtet. Mit dem
Nordatlantischen Kooperationsrat – seit 1997 dem
Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat – wurde ein neues
Gremium der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit ins
Leben gerufen. Es bezieht neben der Russischen Föde-
ration und der Ukraine auch alle anderen Nachfolge-
staaten der ehemaligen Sowjetunion sowie die jungen
Demokratien in Mittel- und Osteuropa ein.

Die 1994 begründete Partnerschaft für den Frieden
wurde das erfolgreichste Programm des Bündnisses
überhaupt. In Bosnien stand diese Partnerschaft vor ihrer
ersten großen Bewährungsprobe. Sie hat diese Probe
eindrucksvoll bestanden. Heute gewährleistet die Alli-
anz gemeinsam mit Rußland und anderen Partnern die
Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton für
Bosnien und Herzegowina. Mit dem Abkommen von
Dayton konnten unsägliche Grausamkeiten in diesem
leidgeprüften Land beendet werden. Die Aufstellung der
IFOR-Truppen und deren Weiterführung als SFOR-
Truppen sind heute ein beispielgebendes Modell für das
Engagement der NATO bei der Bewältigung von Kri-
sen.

Auf dem NATO-Gipfel werden wir ein Bündel von
Initiativen verabschieden, um die Partnerschaft für den
Frieden noch handlungsfähiger zu machen. Es wird dar-
auf ankommen, die Zusammenarbeit zwischen den
Streitkräften der Partnerstaaten weiter zu verbessern.
Gleichzeitig wollen wir die zivilen Aspekte der Allianz
ausbauen. Zusammenarbeit über Grenzen hinweg heißt
für das Bündnis aber nicht nur, für den Dialog offen zu
sein. Es heißt auch, für neue Mitglieder die Tür offenzu-
halten. Die Aufnahme Polens, der Tschechischen Repu-
blik und Ungarns am 12. März 1999 hat deutlich ge-
macht: Die NATO war und ist kein geschlossener Club,
und sie darf es auch nicht werden. Auf dem Gipfel wer-
den wir interessierten Kandidaten Wege aufzeigen, sich
bereits jetzt intern auf eine mögliche Mitgliedschaft vor-
zubereiten. Dabei werden wir sie tatkräftig unterstützen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


Wir wollen auch das besondere Verhältnis zwischen
der NATO und der Ukraine weiter vertiefen. Durch die
1997 in Madrid verabschiedete Charta über die Partner-
schaft zwischen der NATO und der Ukraine hat das
Bündnis deren besondere Bedeutung hervorgehoben. In
Washington wird nun das erste Gipfeltreffen der NATO-
Ukraine-Kommission stattfinden. Dabei werden wir un-
terstreichen: Das Bündnis wird auch in Zukunft die
Entwicklung einer stabilen, unabhängigen Ukraine un-
terstützen.

Ob es sich um die Heranführung an die Mitglied-
schaft oder – wie im Falle der Ukraine – um eine ver-
stärkte Partnerschaft handelt, eines steht dabei immer im
Vordergrund: Die betreffenden Staaten suchen militäri-
sche Sicherheit. Aber sie wollen und sie brauchen auch
wirtschaftliche und soziale Stabilität. Ein Export politi-
scher Stabilität macht unseren Kontinent insgesamt
sicherer. Niemand in Europa sollte diesem Prozeß miß-
trauisch begegnen. Das gilt auch und gerade für Ruß-
land. Die Russische Föderation bleibt der wichtigste
Sicherheitspartner der Allianz.

Die enge Einbindung Rußlands in die Verantwortung
für die europäische Sicherheit ist und bleibt wesentlicher
Bestandteil der Politik des Bündnisses.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der mit der NATO-Rußland-Grundakte ins Leben ge-
rufene NATO-Rußland-Rat hat sich als ein wertvolles
Instrument des Dialogs und der Kooperation bewährt. In
den vergangenen zwei Jahren ist es uns gelungen, den
NATO-Rußland-Rat mit Leben zu füllen. Gerade in den
Bereichen, in denen das Bündnis und Rußland nicht
einer Meinung waren, hat dieses Forum immer wieder
eine wichtige Rolle gespielt. In vertrauensvoller Zu-
sammenarbeit erhielt Rußland die Möglichkeit, die
Denk- und Arbeitsweise der Allianz von innen heraus
kennenzulernen. Wir wollen diese Zusammenarbeit
weiter ausbauen. Auch Rußland sollte die Chancen einer
Fortsetzung des seit Ende März ausgesetzten Dialogs im
Rahmen des NATO-Rußland-Rates erkennen. Dabei
muß allerdings auch Rußland selbst seiner Verantwor-
tung gerecht werden, konstruktiv bei der Herstellung eu-
ropäischer Sicherheit mitzuwirken. Das sage ich beson-
ders im Hinblick auf die Kosovo-Krise, bei deren Lö-
sung Rußland eine aktive Rolle spielen sollte.

Meine Damen und Herren, die Gründung der NATO
vor 50 Jahren war ein einmaliger historischer Einschnitt.
Erstmals haben Europa und Amerika, „alte“ und „neue“
Welt sich zusammengefunden, um gemeinsam die euro-
päischen Werte zu verteidigen, die universale Werte
geworden sind: Freiheit, Demokratie und Menschen-
rechte. Für uns Deutsche und für die gesamte Europäi-
sche Union gibt es zu dieser Westbindung politisch, aber
auch kulturell keine Alternative. Die transatlantische
Partnerschaft kann jedoch nur gedeihen, wenn sie der
gewachsenen europäischen Verantwortung Rechnung
trägt. Das wird übrigens auch von unseren amerikani-
schen Freunden so gesehen.

Wir wollen ein neues Europa für die neue NATO,
und wir wollen die neue NATO für das neue Europa.

Das gemeinsame Europa hat in den vergangenen Jahren
große Schritte hin zu einer unumkehrbaren wirtschaftli-
chen und politischen Einheit getan. Ein großer Teil der
Europäischen Union hat durch die Einführung einer ge-
meinsamen Währung einen genuinen Akt gemeinsamer
Souveränität vollzogen.

Nun geht es in Europa um zweierlei: Um die Vertie-
fung und Erweiterung der Union und um eine Ge-
meinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die diesen
Namen verdient, sowie die Herausbildung einer europäi-
schen Sicherheits- und Verteidigungsdimension als eines
unabdingbaren Stützpfeilers in diesem Prozeß.

Die Verträge von Maastricht und Amsterdam eröff-
nen uns dafür neue, bisher nicht gekannte Handlungs-
möglichkeiten. Der Europäische Rat wird gegenüber der
Westeuropäischen Union eine Leitlinienkompetenz in
verteidigungspolitischen Fragen haben. Die Europäi-
sche Union braucht in Zukunft auch eine eigene militä-
rische Entscheidungsstruktur. Dabei wollen wir kei-
nesfalls bestehende Strukturen verdoppeln. Aber mit
dem Vorschlag, das Amt des Generalsekretärs der West-
europäischen Union dem Hohen Vertreter der Gemein-
samen Außen- und Sicherheitspolitik der EU in Perso-
nalunion zu übertragen, wollen wir ein sichtbares Zei-
chen dafür setzen, daß Europa künftig auch in sicher-
heits- und verteidigungspolitischen Fragen wirklich mit
einer Stimme sprechen kann.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist in der
Allianz unumstritten, daß internationale Militärein-
sätze über das Bündnisgebiet hinaus eine eindeutige
völkerrechtliche Grundlage zur Voraussetzung haben.
Ich will deshalb an dieser Stelle sagen, daß ich die Ar-
gumente derjenigen, die eine solche Grundlage im Fall
des NATO-Einsatzes im Kosovo für nicht gegeben hal-
ten, durchaus respektieren kann. Aber nach sorgfältiger
Abwägung halte ich sie für falsch. Ich glaube, daß die
völkerrechtliche Grundlage des NATO-Einsatzes zur
Eindämmung einer humanitären Katastrophe gegeben ist
und daß sie ausreichend ist.

Das Völkerrecht trifft eindeutige Vorkehrungen für
die Behandlung von Flüchtlingen und ihr Recht auf
sichere Rückkehr in ihre Heimat. Ich betone: Niemand
ist daran interessiert, die Vereinten Nationen als Gremi-
um der Völkerverständigung und der Krisenbewältigung
zu entwerten. Im Gegenteil: Deswegen habe ich den Ge-
neralsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, zum
Treffen mit den europäischen Staats- und Regierungs-
chefs vergangene Woche in Brüssel eingeladen, und
deshalb begrüße ich ausdrücklich die Bereitschaft des
Generalsekretärs, an einer friedlichen Lösung des Koso-
vo-Konflikts nach wie vor mitzuwirken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich freue mich darüber, daß ich Kofi Annan nächste
Woche in Berlin zu weiteren Gesprächen, nicht zuletzt
über die Lösung der Kosovo-Krise, empfangen kann.

Meine Damen und Herren, hinsichtlich der Achtung
vor den Vereinten Nationen besteht im Bündnis Kon-
sens. Die NATO ist keine Allianz, in der ein Partner den

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


anderen seine Meinung diktiert. Sie ist und bleibt eine
Wertegemeinschaft. Deshalb sind wir Partner dieses
Bündnisses, und deshalb übernehmen wir im Rahmen
dieses Bündnisses Verantwortung. Wir tun dies nicht
und niemals, weil wir dazu gezwungen wurden. Wir tun
dies aus tiefer Überzeugung und aus der Erfahrung, daß
wir uns auf die NATO beim Einsatz für unsere gemein-
samen Werte immer verlassen konnten und auch in Zu-
kunft verlassen können.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403500200
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollege Volker Rühe.


Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1403500300
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Als die NATO vor etwa einem Jahr
das Datum für ihr Treffen in Washington festlegte, stan-
den drei Ziele fest: Das Bündnis wollte 50 Jahre erfolg-
reicher Friedenspolitik würdigen; die NATO wollte ihre
drei neuen Mitglieder feierlich begrüßen, und sie wollte
bestätigen, daß weitere folgen; die Allianz wollte ihre
künftigen Aufgaben bestimmen und einen neuen strate-
gischen Konsens präsentieren.

Das Gipfeltreffen wird jetzt von der Kosovo-Krise
überschattet. Das Bündnis braucht eine nüchterne Be-
standsaufnahme auf höchster Ebene über das, was in den
letzten vier Wochen geschehen ist. Von Washington
muß nach Meinung der Union ein richtungweisendes
Signal ausgehen, wie Amerika, Europa und Rußland im
konstruktiven Miteinander die Krise beilegen wollen,
wie einer durch Vertreibung und Krieg verwüsteten Re-
gion geholfen werden kann und wie dem Balkan
schließlich Frieden und Stabilität gegeben werden kön-
nen.

Es geht um einen politisch-militärischen Gesamt-
ansatz. Wenn Krieg oder militärische Auseinanderset-
zung die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln ist,
dann ist dies immer die Fortsetzung von Politik. Das
muß im Vordergrund stehen. Wir müssen uns zum Bei-
spiel selbstkritisch fragen, ob die Selbstdarstellung der
NATO, wie sie täglich durch Militärsprecher und militä-
rische Videos aus Brüssel kommt, diesem Gesamtansatz
– der Bundeskanzler hat es zu Recht gesagt: es ist ein
politisches Bündnis auf der Grundlage gemeinsamer
Werte – immer gerecht wird. Das ist für unsere Öffent-
lichkeit wichtig. Aber es zeigt sich auch, daß es noch
wichtiger für die Öffentlichkeit der neuen Teilnehmer-
staaten ist. Deswegen begrüße ich es ausdrücklich, wenn
dieser politisch-militärische Gesamtansatz wieder voll in
den Mittelpunkt gestellt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dennoch sollte über diese aktuellen Herausforderun-

gen nicht der Blick auf die Leistungen der NATO in den
letzten 50 Jahren verstellt werden. Ich stelle fest: Die
NATO hat allen Grund an ihrem 50. Geburtstag stolz
auf den erfolgreichen Schutz von Frieden und Freiheit in
Europa und auf die transatlantische Bindung, die vielen
Belastungen getrotzt hat, zu sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Sie werden es mir gestatten, einen Schlenker vom
50. Geburtstag der NATO zu einem 60. Geburtstag zu
machen: Theo Waigel, der das Glück hatte, im Westen
Deutschlands aufzuwachsen und als Politiker zu wirken,
feiert diesen Geburtstag; er hat sein politisches Leben im
Bündnis verbracht und für dieses Bündnis in einer Zeit
gearbeitet, in der es keine Schönwetterperiode gab: Er
erlebte die deutsche Wiederbewaffnung, die hier in
Bonn im alten Plenarsaal in einer leidenschaftlichen
Auseinandersetzung durchgesetzt wurde


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Leider!)

– nicht leider, sondern dieser Beschluß war die Grundla-
ge für all das, was wir heute im wiedervereinigten
Deutschland gemeinsam genießen können –,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

die Kuba-Krise, die Bedrohung des freien Westberlin –
wir hätten Anfang dieser Woche nicht gemeinsam im
Reichstag zusammenkommen können, wenn damals die-
ses Bündnis nicht entschieden auf die Bedrohung des
freien Berlin reagiert hätte –,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


den NATO-Doppelbeschluß – es war nicht leicht, dazu
zu stehen –


(Zuruf von der CDU/CSU: Joschka Fischer!)

– ich sage später noch etwas dazu, im Augenblick wür-
dige ich noch Theo Waigel und spreche nicht das abwei-
chende Verhalten anderer in der Vergangenheit an –, in
den letzten Jahren, nach der deutschen Wiedervereini-
gung die Bereitschaft Deutschlands, ein gleichberech-
tigter Partner zu sein, die Wiedervereinigung Europas
und jetzt die schwierige Situation der NATO auf Grund
der Kosovo-Krise. Meinen herzlichsten Glückwunsch an
Theo Waigel zum 60. Geburtstag! Ein Leben im und für
das Bündnis!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die NATO und die Europäische Union haben im
westlichen Europa einen Stabilitätsraum geschaffen,
der in der Geschichte ohne Beispiel ist. Die Kraft der
Atlantischen Allianz hat dem Übel der klassischen euro-
päischen Machtpolitik ein Ende bereitet. All das darf
man in der jetzigen Situation nicht vergessen. Bei der
Gründung der NATO hatte niemand auf die Überwin-
dung der Teilung des Kontinents zu hoffen gewagt, die
durch den Umbruch in den letzten zehn Jahren vollendet
werden konnte. Auch hieran hat die Atlantische Allianz
einen entscheidenden Anteil, ebenso an der Wiederver-
einigung Deutschlands und an der Wiedervereinigung
Europas, die jetzt politisch geschieht. Die NATO hat
aber auch bewiesen, daß sie in der Lage ist, flexibel auf
die neuen politischen und strategischen Aufgaben und
Herausforderungen durch eine innere Reform und durch
die Öffnung für neue Mitglieder zu reagieren.

Es ist schon ein wenig tragisch, daß der Zeitpunkt,
auf den sich die Völker Mittel- und Osteuropas aus vol-
lem Herzen gefreut hatten, nämlich Mitglied der NATO

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


zu werden, durch die Kosovo-Krise überschattet wird.
Deswegen möchte ich auch an dieser Stelle einmal den
polnischen Schriftsteller Andrzej Szczypiorski zitieren,
der deutlich macht, worum es in diesem Zusammenhang
geht. Diese Aussage muß auch die Grundlage für die
nächsten Jahre bleiben. Er hat gesagt:

Es gibt kein Europa ohne die Gotik von Krakau und
Prag, ohne den Dresdener Zwinger, ohne die Brük-
ken von Budapest und ohne Leipzig, das früher die
Hauptstadt des europäischen Buches war. Die
Westeuropäer erlagen einer süßen und ziemlich be-
quemen Täuschung, daß Big Ben, die Gassen von
Siena, die Anhöhe von Montmartre, der Dom von
Worms genügen, um die Geschichte, die Tradition
und die Kultur Europas für die Zukunft zu erhalten.

Er führte weiterhin aus:
Wir waren in diesem europäischen, politischen
Osten nicht taub und blind. Wir hörten Big Ben in
London läuten, wir sahen von einer weiten Entfer-
nung die Kolonnade von Bernini und den Eiffel-
turm und die alten Häuser von Lübeck.

Sie gestatten mir die Bemerkung, daß mir das letzte be-
sonders gut gefällt.

Wir werden in den nächsten Jahrzehnten nur dann
den politischen Kurs halten, wenn wir uns weiterhin von
diesem Grundton leiten lassen. Das gilt auch für Jugo-
slawien.

Ich war in der zweiten Hälfte der 80er Jahre oft und
gezielt, vor allen Dingen mit Hans-Peter Repnik, in Ju-
goslawien. Wir haben dort gespürt, welche Gefahren
sich abzeichneten, als die Autonomie der Vojvodina und
des Kosovo zerstört wurde. Aber erinnern wir uns an die
internationale Stellung Jugoslawiens. Damals waren
Polen, Ungarn und Tschechien im Warschauer Pakt weit
zurück, sowohl politisch als auch ökonomisch, und als
Beitrittskandidaten für die Europäische Union überhaupt
nicht im Gespräch. Aber die Hälfte der Gespräche hat
sich mit der Frage beschäftigt, wie es mit den Chancen
Jugoslawiens auf einen Beitritt zur Europäischen Union
steht. Im Süden gab es ja schon Griechenland als Mit-
glied.

Deswegen sage ich an dieser Stelle – das muß man
sich vor Augen führen –: Die Politik von Milosevic ist
nicht nur eine verbrecherische Politik gegen die Musli-
me in Europa, ob es die Bosniaken oder die Kosovaren
sind; es ist auch eine verbrecherische Politik gegen das
Interesse des serbischen Volkes, in Europa seinen richti-
gen Platz zu finden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


So großartig es für Polen, Ungarn und Tschechien ist,
daß sie zur Zeit über einen Beitritt verhandeln, so tra-
gisch ist es für Jugoslawien, daß es, obwohl es schon
weiter war, im Augenblick keine Beitrittsverhandlungen
führen kann und von der Zukunft Europas wieder weiter
weggerückt ist. Es liegt in unserem Interesse, die in
Westeuropa erreichte Stabilität auf ganz Europa auszu-
weiten. Das gilt auch für den Balkan. Deshalb muß die

NATO bei ihrem Gipfeltreffen ein deutliches Zeichen
setzen, daß ihre Tür auch für weitere Beitritte offen-
bleibt.

Stabilität werden wir für das gesamte Europa aber
nur dann haben, wenn Rußland daran als verantwor-
tungsvoller Partner teilhat. Das ist der Grundgedanke
der strategischen Partnerschaft mit Rußland. Aber sie
bleibt Papier, wenn sie nicht auch auf beiden Seiten
gelebt wird. Ich war ja ein bißchen an der Schaffung
des NATO-Rußland-Rats beteiligt. Herr Bundeskanz-
ler, Sie haben zu Recht dessen Bedeutung hervorgeho-
ben. Aber ist es nicht ein Fehler, wenn in einer so zu-
gespitzten Situation, wie wir sie vor fünf Wochen hat-
ten, dieser NATO-Rußland-Rat nicht zusammentritt
und statt dessen Primakow im Flugzeug über dem At-
lantik über die bevorstehenden militärischen Aktionen
informiert wird? Ich mache mir keine Illusionen über
die Möglichkeiten, die es dort gegeben hätte. Aber ge-
rade in einer so schwierigen Situation sollte die Bereit-
schaft von NATO und Rußland bestehen, das gemein-
sam zu leben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])


Das wichtigste Ziel der strategischen Partnerschaft ist
es, Krisen und Konflikte in Europa nach Möglichkeit
gemeinsam zu bewältigen. Deshalb ist es richtig und
notwendig, mit der russischen Regierung in engem
Kontakt zu bleiben und nach gemeinsamen Lösungs-
möglichkeiten im Kosovo-Konflikt zu suchen. Ich
möchte hier ausdrücklich zum einen, was der bayerische
Ministerpräsident Edmund Stoiber mit Karl Lamers in
Moskau besprochen hat, und zum anderen die gute Zu-
sammenarbeit mit der Bundesregierung in dieser Frage
noch einmal loben. Ich glaube, was dort an Gesprächen
geführt worden ist, war im deutschen Interesse.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Rußland muß seinen Einfluß auf den jugoslawischen
Präsidenten wahrnehmen, um die Beendigung von Ver-
treibung und Völkermord, den Rückzug der serbischen
Streitkräfte und Sondereinheiten sowie den Einsatz einer
internationalen Schutztruppe zu erreichen. Wie es das
tut, wird auch großen Einfluß auf Rußlands künftiges
Verhältnis zum Westen haben und ausschlaggebend da-
für sein, ob sich ein partnerschaftliches Verhältnis ent-
wickelt, das auch Belastungen in schwierigen Zeiten
standhält.

Deutschland ist heute nur noch von Freunden umge-
ben. Das wurde möglich, weil sich die Regierung unter
Konrad Adenauer mit ihrer Richtungsentscheidung für
die Westintegration, für die Wiederbewaffnung und für
den Beitritt zur NATO gegen den erbitterten Widerstand
der Sozialdemokraten durchgesetzt hatte. Die Grünen
gab es bei dieser Auseinandersetzung noch nicht. Aber
es war auch eine große Leistung, daß Herbert Wehner,
Helmut Schmidt und andere dann den Kurs der Sozial-
demokratie korrigiert haben, damit in diesen wichtigen
Grundfragen der deutschen Außen- und Sicherheitspoli-
tik wieder die Chance für eine neue Gemeinsamkeit ent-
stehen konnte.

Volker Rühe






(B)



(A) (C)



(D)


Deutschland wurde Mitglied einer Allianz, die sich in
den letzten 50 Jahren als der stabilste Staatenverbund
erwiesen hat. Daß unser Land heute nur noch von
Freunden umgeben ist, wurde auch möglich, weil die
Bundesrepublik Deutschland unter Helmut Kohl zum
NATO-Doppelbeschluß gestanden und damit eine ge-
fährliche Erosion des Bündnisses vermieden hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der NATO-Doppelbeschluß ist übrigens ein erfolg-

reiches Beispiel dafür, wie durch eine überzeugende Mi-
schung von militärischem Druck sowie politischen An-
geboten und Lösungsvorschlägen Krisen überwunden
werden können, wenn diese Politik mit Ausdauer und
Überzeugungskraft betrieben wird. Heute ist die Zahl
der Nuklearwaffen in Europa um 90 Prozent und die der
konventionellen Streitkräfte um 40 Prozent niedriger als
zur Zeit des NATO-Doppelbeschlusses. Dies war mög-
lich, weil wir in dieser schwierigen Situation zum Bünd-
nis und seinen Beschlüssen gestanden haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich will keine Polemik betreiben; aber über die Ge-

schichte darf man sprechen:

(Michael Glos [CDU/CSU]: Die Wahrheit darf man sagen!)

Rot und Grün waren damals auf der Straße, um diese
Politik zu bekämpfen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Aber nicht mit vornehmen Mitteln! – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn daran schlimm?)


Ich halte fest: Es ist gut, daß wir uns durchgesetzt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wenn ich mir die jetzige Konstellation anschaue, Herr
Bundeskanzler, dann habe ich eine Hoffnung und Bitte –
ich will nicht darüber spekulieren, wie die Verhältnisse
wären und wer auf der Straße wäre, wenn es hier eine
andere Regierung gäbe;


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das wäre schon spannend!)


ich anerkenne die Leistung, die mit der Wahrung der
Kontinuität der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik
verbunden ist –: Wenn hier in der Regierung wieder
einmal andere sitzen,


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hoffen Sie!)


sollten diejenigen, die jetzt Verantwortung für die Au-
ßen- und Sicherheitspolitik dieses Landes tragen, nicht
wieder auf die Straße gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben schließlich dafür gesorgt, daß das wieder-

vereinigte Deutschland auch in der schwierigen Frage
der militärischen Krisenbewältigung zu einem be-
rechenbaren und zuverlässigen Bündnispartner wurde.

Ich frage mich angesichts der jetzigen Situation manch-
mal, ob es nicht richtig ist, zu sagen: Wer in schwieriger
Zeit zur NATO gestanden sowie wichtige und richtige
Beschlüsse durchgesetzt hat, kann jetzt auch die Gelas-
senheit haben, zu sagen, was er tut und was er nicht tut.

Genau so verhält sich die Union. Ich bin der Mei-
nung, daß Zuverlässigkeit etwas sehr Wichtiges ist. Aber
es darf nicht die einzige und überwiegende Eigenschaft
sein, an der Deutschland gemessen wird. Wir müssen
unser eigenes Gewicht einbringen. Deswegen finde ich
es gut, daß von seiten der Union, aber auch der Freien
Demokraten immer wieder ein klares Wort zu dem ge-
sagt worden ist, was wir zum Beispiel im Zusammen-
hang mit einer drohenden militärischen Eskalation und
einem Einsatz von Bodenkampftruppen machen werden
und was wir nicht machen werden. Wir können dies tun,
weil wir in schwieriger Situation immer wieder zum
Bündnis gestanden haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das, was ich in bezug auf das deutsche Gewicht fest-

gestellt habe, gilt auch für die Ausgestaltung des neuen
strategischen Konzepts der NATO. Gestalten kann
man nur, wenn man die konzeptionelle Initiative hat und
für die anderen Bündnismitglieder ein innovativer Ge-
sprächspartner ist, der die sich herausbildende Politik
von Anfang an mit vorantreibt. Wer seine Rolle darauf
beschränken würde, schließlich einem Konsens beizu-
treten, hat seine gestalterischen Möglichkeiten einge-
schränkt oder aufgegeben.

Die NATO braucht ein strategisches Konzept, das die
richtige Balance zwischen Bewahren und Erneuern fin-
det. Natürlich muß die NATO die Fähigkeit zur kollek-
tiven Verteidigung bewahren. Daraus erwächst Stabilität
auf dem Kontinent. Die Hauptaufgabe der NATO war
also immer die Verteidigung oder Abschreckung gegen-
über potentiellen Aggressoren. Das ist und bleibt der
Kern des Washingtoner Vertrages.

Zugleich muß sich die NATO zu einer Gemeinschaft
verändern, die nicht nur ihr Territorium, sondern auch
gemeinsame Interessen verteidigt, die für die Stabilität
in und für Europa von Belang sind. Ich glaube, die beste
Formel, die es gibt, ist noch immer die, in Europa und
für Europa für Sicherheit zu sorgen. Der Feind von
heute und morgen heißt Instabilität. Die Krisenherde auf
dem Balkan, im Kaukasus, im Nahen Osten und in
Nordafrika bergen Gefahren auch für uns in Europa. Das
strategische Umfeld Europas im Auge zu behalten ist
somit eine selbstverständliche Notwendigkeit. Wer aber
deshalb die Allianz als weltweites Interventionsbündnis
karikieren will, hat nichts von der Welt, in der wir leben,
und von der Wahrnehmung unserer Interessen für die
Sicherheit in und für Europa verstanden. Darum geht es.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Für die Übernahme größerer Verantwortung bei der
Bewältigung von Krisen und Konflikten muß Europa
handlungsfähiger werden. Solange Europa geteilt war,
lag es nahe, daß sich die größte Energie nach innen
richtete. Europas Beitrag zur kollektiven Sicherheit be-

Volker Rühe






(A) (C)



(B) (D)


stand aber nicht nur in Truppen für die NATO. Eine be-
sondere Leistung lag auch in seiner Fähigkeit zur Inte-
gration, weil mit ihr alte Konfliktmuster überwunden
und zugleich Demokratie, Prosperität und Stabilität ge-
festigt wurden.

Deswegen sage ich: Das gemeinsame Korps in Stettin
von Deutschland, Polen und Dänemark, in dem die Sol-
daten dieser drei Länder integriert zusammenarbeiten,
schafft mehr Frieden für Europa als manche quantitative
Truppenzusammenstellung. Wenn wir überall in Europa
ein Konzept wie das für das deutsch-niederländische
Korps, das Eurokorps in Straßburg oder das Stettiner
Korps durchsetzen könnten, dann müßten wir uns keine
Sorgen um die Stabilität und Sicherheit in Europa ma-
chen; denn dann ist das Vertrauen gewachsen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Europa muß aber als strategischer Partner noch stär-
ker nach außen schauen. Ich stimme mit Ihnen überein,
Herr Bundeskanzler, wir brauchen die Vereinigten
Staaten von Amerika auch im 21. Jahrhundert in Euro-
pa. Sie werden aber nicht in Europa bleiben, wenn sie
ein hilfloses Europa vorfinden. Es geht nicht nach dem
Motto „Je schwächer wir sind, um so eher werden die
Amerikaner in Europa bleiben“. Wir werden die Ameri-
kaner im 21. Jahrhundert nur in Europa binden können,
wenn wir ein gleichgewichtiger strategischer Partner
sind. Das ist ganz wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Michael Glos [CDU/ CSU]: Sehr richtig!)


Ich erinnere mich im übrigen an die Debatten über das
Eurokorps, das Helmut Kohl zusammen mit François
Mitterrand gegen viele Skeptiker durchgesetzt hat. Man-
che Nationen – die Engländer und Amerikaner – haben
dazu gefragt: Vertreibt ihr nicht die Amerikaner aus Euro-
pa, wenn ihr europäische Strukturen aufbaut? Ich glaube,
inzwischen hat jeder begriffen, daß das Gegenteil richtig
ist. Nur wenn wir die europäische Sicherheits- und Ver-
teidigungsidentität stärken und Strukturen aufbauen, wer-
den wir eine größere Rolle spielen können. Nur dann, wenn
wir einmal eine Krise ohne die Amerikaner lösen können,
sind wir ein wichtiger strategischer Partner und binden die
Vereinigten Staaten auch in Zukunft in Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.])


Ich muß allerdings sagen, daß Europa auch allen An-
laß zur Selbstkritik hat. Ich will nicht darüber sprechen,
wie man die Überlegungen zu einem Ölembargo oder
die Tatsache, daß noch während des Bombenkriegs Öl
geliefert worden ist, bewertet.


(Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD])

Dazu könnte ich manches sagen. Man muß sehr sorgfäl-
tig darüber nachdenken, ob es gerechtfertigt ist, das Le-
ben von Soldaten zu gefährden, wenn man nicht in der
Lage ist, so etwas vorher zu unterbinden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Ich weiß, daß Klaus Kinkel als Außenminister noch
vor einem Jahr einen Kampf über Monate hinweg ge-
führt und gesagt hat: Bevor es um militärische Dinge
geht, müssen wir wenigstens dafür sorgen, daß die
Fluglinien unterbunden werden. – Viele der europäi-
schen Partner, die heute Bomben werfen, waren aus
ökonomischen Interessen nicht bereit, ihre Fluglinien
nach Belgrad zu unterbinden. Das ist nicht in Ordnung,
das ist kein einsdrucksvolles Verhalten der Europäer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Für die neuen Mitglieder der NATO ist durch die Ko-
sovo-Krise die Zeit der Bewährung schneller als erwar-
tet gekommen. Man kann für die Beiträge, die dort ge-
leistet werden, nur dankbar sein. Im Hinblick auf die
Debatte in Tschechien möchte ich aber auch sagen: Die
Situation in Tschechien ist hinsichtlich der öffentlichen
Meinung schwierig. Das bestätigt all diejenigen, die ge-
sagt haben: Bewertet neue Mitglieder nicht danach, wie
modern ihre Panzer und Flugzeuge – haben sie amerika-
nische Flugzeuge oder die modernsten deutschen Pan-
zer? – sind. Was sie in unser Bündnis einzubringen
haben, ist vor allen Dingen eine öffentliche Meinung,
die in Krisensituationen zur NATO steht.

Wir sollten deswegen sehr vorsichtig darüber spre-
chen. Man kann erklären, warum es mit der öffentlichen
Meinung in Tschechien so schwierig ist. Das sollte uns
aber auch dazu führen, daß wir uns erneut auf die
eigentlichen Stärken und Notwendigkeiten der NATO
besinnen. Eine Flugzeug- oder Panzermodernisierung
bei den neuen Mitgliedstaaten kann ruhig etwas warten.
Was wir aber brauchen, ist das Stehen der öffentlichen
Meinung auch in den neuen Beitrittsstaaten zur NATO
in einer schwierigen, einer zugespitzten internationalen
Situation.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das Bündnis hat alle Instrumente, um handeln zu

können. Aber Instrumente können eine weitsichtige und
konsistente Politik mit klaren Zielen nicht ersetzen. Das
zeigt auch die Kosovo-Krise. Es darf nicht dazu kom-
men, daß der NATO als Folge des Krisengeschehens nur
noch der Zwang zum Handeln bleibt und die Initiative
verlorengeht. Der Schlüssel zum Erfolg und damit zu
Frieden und Stabilität liegt im zeitgerechten, entschiede-
nen Handeln. Zum richtigen Verständnis gleichberech-
tigter strategischer Partnerschaft zwischen Europa und
Amerika gehört auch, darauf Einfluß zu nehmen und zu-
gleich handlungsbereit zu sein, wenn es politisch gebo-
ten ist.

Die deutsche Stimme hat ein ungeheures Gewicht,
Herr Bundeskanzler. Ich persönlich hätte es zum Bei-
spiel nicht unbedingt als Kompliment empfunden, wenn
mir als Verteidigungsminister ständig gesagt worden
wäre: Du bist aber wirklich zuverlässig.


(Unruhe bei der SPD – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber peinlich! Sich selber auf diese Art zu loben! Sie waren Verteidigungsminister!)


Volker Rühe






(B)



(A) (C)



(D)


– Das war jetzt wirklich nicht böse gemeint; das können
Sie dem Duktus, glaube ich, entnehmen. Ich habe die öf-
fentliche Meinung im Westen verfolgt.

Jetzt kommt es darauf an, daß Deutschland zuverläs-
sig zu den Entscheidungen steht und auch das unter-
stützt, was wir noch unter der Vorgängerregierung be-
schlossen haben. Es kommt aber auch darauf an, daß wir
unser eigenes Gewicht einbringen – das ist größer als
das von anderen –, damit Amerika, Europa und Rußland
versuchen können, einen Weg aus dieser schwierigen
Krise zu finden. Darum geht es in dieser Situation.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403500400
Ich erteile Bundes-
verteidigungsminister Rudolf Scharping das Wort.

Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist schon richtig: Die NATO ist die erfolg-
reichste politische und militärische Allianz, die wir ken-
nen. Sie feiert ganz zu Recht ihren 50. Geburtstag. Ge-
nauso klar ist, daß dieser Gipfel in Washington von den
Ereignissen im Kosovo überschattet wird. Folglich wird
er auch nüchtern gehalten sein.

Die Allianz ist in ihrer Substanz, auch in ihrem
Selbstverständnis, selten so herausgefordert worden wie
gerade in den Tagen, in denen sie ihren Geburtstag fei-
ert. Sie ist politisch, sie ist militärisch, sie ist übrigens
auch moralisch herausgefordert. Im übrigen macht ge-
nau dieser Konflikt deutlich, warum die NATO im heu-
tigen und auch im künftigen Europa als Eckpfeiler von
Frieden und Sicherheit unentbehrlich und unersetzlich
ist.

Die Allianz hat in den letzten Jahren sehr flexibel und
politisch klug auf ein grundlegend verändertes sicher-
heitspolitisches Umfeld reagiert: Sie hat ihre Strukturen
reformiert, sie hat die Zusammenarbeit mit anderen
euro-atlantischen Institutionen intensiviert, sie hat sich
für neue Mitglieder geöffnet, und sie hat die Koopera-
tion mit neuen Partnern vorangetrieben. Aus dieser Ent-
wicklung ist die NATO gestärkt hervorgegangen. Sie hat
ihre Rolle als zentraler Stabilitätsanker in einem sich
wandelnden Europa eindrücklich untermauert – auch
angesichts neuer Herausforderungen und Risiken.

Es ist also diese neue NATO, die sich zusammen mit
ihren Partnern im früheren Jugoslawien für Frieden und
für Sicherheit engagiert. Es zeigt sich auch in diesem
Konflikt, daß keine andere Organisation so wie die
NATO über Mechanismen zur politischen Konsultation,
zur diplomatischen, aber auch zur militärischen Durch-
setzung von Zielen verfügt, wenn andere Möglichkeiten
nicht vorhanden sind und wenn man Krisen effektiv be-
gegnen will. Keiner anderen Organisation in Europa ist
es möglich, ein Regime wie das in Belgrad in die
Schranken zu weisen. Keine andere Organisation verfügt
– das haben die Erörterungen mit dem UNHCR sehr
deutlich gemacht – über die Logistik und die Ressour-
cen, in kurzer Zeit Hunderttausende von Vertriebenen

mit Unterkunft, Verpflegung und medizinischer Hilfe zu
versorgen.

Unbeschadet dieser Leistungsfähigkeit füge ich hin-
zu: Man sollte sich in Zukunft auch darauf konzentrie-
ren, originäre Aufgaben anderer internationaler Institu-
tionen ebenso ernst zu nehmen und diese in der Wahr-
nehmung ihrer Aufgaben zu stärken. Das betrifft zum
Beispiel die Vereinten Nationen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist ja auch der Grund dafür, weshalb die Bundesre-
publik Deutschland in dieser Hinsicht an einer Stärkung
der Vereinten Nationen interessiert ist.

Es waren weitsichtige Staatsmänner, die die NATO in
den ersten Stunden nach dem zweiten Weltkrieg konzi-
piert haben. Die zentralen Artikel des Washingtoner
Vertrages spannen einen weiten Bogen vom Europa der
unmittelbaren Nachkriegszeit bis in das 21. Jahrhundert.
Das sollte, so hat der damalige kanadische Außenmi-
nister gesagt, mehr sein als ein altmodisches Militär-
bündnis. Auch wenn es in den ersten Jahrzehnten der
NATO, jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung,
primär um militärische Abwehr einer realen Bedrohung
ging: Die NATO war nie – und sie wird es auch in Zu-
kunft nie werden – ein Bündnis lediglich zur Abwehr
einer militärischen Bedrohung. Ein solches Bündnis wä-
re ja mit dem Verschwinden dieser Bedrohung in sich
selbst zusammengefallen.

Nein, die NATO zeichnet ein höchst modernes und
umfassendes Verständnis von Sicherheit aus. Das hat sie
zusammengeführt, hat sie zusammengehalten und wird
sie auch in Zukunft prägen. Wirtschaftlicher Auf-
schwung, innenpolitische Stabilität und äußere Sicher-
heit gehörten nicht nur in den Augen der Gründungsvä-
ter untrennbar zusammen. In diesem Sinne umfassende
Sicherheitspolitik zu betreiben, das ist in der Vergan-
genheit hier und da dem einen oder anderen durchaus
schwergefallen; es hat sich aber sehr bewährt. Regelmä-
ßige und vertrauensvolle politische Konsultationen,
ständiges Bemühen um Konsensfindung und vor allen
Dingen das feste Fundament gemeinsamer Werte, aus-
gedrückt in den Vorstellungen von Freiheit, Demokratie
und Gerechtigkeit – das hat im April 1949 die zwölf
Nationen zusammengeführt, die die NATO gründeten,
und das hält ihre 19 Mitglieder auch heute noch zusam-
men.

Ich füge hinzu, daß wir in Deutschland der Atlanti-
schen Allianz außerordentlich viel verdanken. Ich sage
das – Bemerkungen des Kollegen Rühe aufgreifend – als
Vertreter einer Partei, die sich mit dem Beitritt
Deutschlands zur Allianz und mit dem deutschen Bei-
trag zur Allianz durchaus schwergetan hat. Aber, Herr
Kollege Rühe, ich könnte jetzt mit leisem Spott hinzufü-
gen: Man muß die Geschichte schon insgesamt betrach-
ten; Sie haben nur über einen Teil geredet. Ich erinnere
mich daran, daß, um mich höflich auszudrücken, auch
„gewisse andere politische Kräfte“ mit Kooperation,
Konsultation, Abbau von Spannungen, Gewaltverzicht
und ökonomischer Zusammenarbeit – also den Elemen-
ten, die wir heute in einem großen Konsens als die ge-

Volker Rühe






(A) (C)



(B) (D)


meinsamen Eckpfeiler einer umfassenden Sicherheits-
politik begreifen – ihre Schwierigkeiten hatten, in einer
eigenartigen Verbindung zwischen Albanien, Vatikan
und CDU/CSU in Deutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies, um auch diesen Teil der Geschichte noch in Erin-
nerung zu halten.

Aber wie auch immer: Von heute aus betrachtet wa-
ren die Politik der Westintegration und die Ostpolitik
am Ende doch zwei Seiten einer außerordentlichen er-
folgreichen Medaille. Ich finde, wir sollten in Deutsch-
land diesen Konsens nicht nur im historischen Rück-
blick, sondern auch für die Zukunft aufrechterhalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Um noch einmal die Weitsicht zu betonen: Es war der
amerikanische Präsident Truman, der schon 1948, vor
der Gründung der NATO, vehement für eine Perspektive
der deutschen NATO-Mitgliedschaft plädiert hat. Die
NATO ohne ein demokratisches und friedliches
Deutschland konnten sich insbesondere auch unsere
amerikanischen Freunde – nicht nur sie, aber insbeson-
dere auch sie – auf Dauer gar nicht vorstellen. Wir in
Deutschland jedenfalls sind anerkanntes Mitglied der
westlichen Wertegemeinschaft geworden, haben dabei
Sicherheit, Souveränität, Gewicht, Ansehen und am En-
de auch die Einheit gewonnen.

Ich sage das im Zusammenhang mit einer histori-
schen Parallele. Wir feiern in diesem Jahr ja nicht nur
den 50. Geburtstag der NATO, sondern auch den
50. Geburtstag unserer eigenen Verfassung, die Grün-
dung der Bundesrepublik Deutschland und den zehnten
Jahrestag des Falles der Mauer, des Wegfalls der alten
Grenzen zwischen Ost und West, nicht nur in unserem
Land. Wir wissen sehr genau, was wir, gerade mit Blick
auf diese Ereignisse, der Nordatlantischen Allianz, aber
auch der Europäischen Union, unseren Freunden und
Partnern im Westen, unseren Partnern, auch unseren
Freunden im Osten Europas zu verdanken haben. Also
sind auch Frieden, Freiheit, Demokratie und Einheit
in Deutschland selbst mit dem historischen Erfolg der
Allianz verbunden. Die NATO hat Grund, stolz zu sein,
wir auch.

Nun reicht es aber nicht, die Erfolge der Vergangen-
heit zu würdigen. Also werden in Washington auch
richtungsweisende Entscheidungen mit Blick auf die
Herausforderungen, denen wir uns in Zukunft gegen-
übersehen, zu treffen sein. Das wird sich in dem neuen
strategischen Konzept ausdrücken; mit ihm werden
Auftrag und Selbstverständnis der Allianz bis weit ins
nächste Jahrhundert festgelegt. Wir haben uns – ich
weiß sehr genau, woher die Formulierung von Sicherheit
und Stabilität in Europa und für Europa kommt – als
Bundesregierung in diesen Prozeß intensiv und aktiv
eingeschaltet. Es ging uns nicht nur um die militärischen
Fähigkeiten der NATO, sondern auch darum, die Ko-
operation im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden

auszubauen und auch auf veränderte Krisenursachen
reagieren zu können. Es geht dabei nicht nur um Fragen,
die mit der Weiterverbreitung von Massenvernich-
tungswaffen zu tun haben, sondern auch um andere. Ich
will vier Punkte nennen.

Erstens. Die kollektive Verteidigung und die trans-
atlantische Bindung bleiben die unverzichtbaren We-
sensmerkmale der Allianz. Gleichzeitig wird sie sich
– wir haben versucht, das so gut wie irgend möglich
voranzubringen – auch den neuen Aufgaben stellen, die
sich im Zusammenhang mit Sicherheit und Stabilität im
euro-atlantischen Raum ergeben: Partnerschaft und Ko-
operation, Konfliktverhütung und Krisenmanagement.
Das wird im strategischen Konzept der NATO mit unse-
rer vollen Unterstützung – übrigens auch mit unserer In-
itiative – einen entsprechenden Ausdruck finden. Da-
hinter steckt, daß wir zwischen zwei Möglichkeiten zu
entscheiden haben: Entweder warten wir, bis krisenhafte
Entwicklungen mitsamt ihren Folgen bei uns angekom-
men sind, oder wir treten ihnen dort entgegen, wo sie
entstehen.

Die Linie der Bundesregierung ist klar: Krisenvor-
beugung muß dort ansetzen, wo Krisen selbst entstehen,
und dafür braucht man ein breites Spektrum politischer
wie militärischer Reaktionsmöglichkeiten und die ent-
sprechenden Fähigkeiten dazu. Deshalb ist es gut, daß
im neuen strategischen Konzept Krisenprävention und
Krisenmanagement einen viel höheren Stellenwert ha-
ben werden als in der Vergangenheit. Wir begrüßen und
fördern das ebenso ausdrücklich wie die Kooperation
mit anderen internationalen Organisationen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Es gibt im Bündnis einen breiten Konsens
darüber, daß NATO-Einsätze der internationalen Kri-
senbewältigung einer unbezweifelbaren Rechtsgrundla-
ge bedürfen und in Übereinstimmung mit dem Völker-
recht und der Charta der Vereinten Nationen stehen
müssen. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen. Ich
ergänze das mit dem Hinweis, daß im neuen strategi-
schen Konzept entgegen mancher Debatte in den letzten
Monaten genau dies ausdrücklich verankert sein wird,
nämlich daß die NATO ihr Handeln auf der Grundlage
des Völkerrechts und in Übereinstimmung mit der
Charta der Vereinten Nationen entwickeln wird.

Wir werden gleichzeitig die Bereitschaft bekräftigen,
Friedenseinsätze unter der Autorität der Vereinten Na-
tionen oder in Verantwortung der OSZE durchzuführen;
das wäre dieselbe unbezweifelbare völkerrechtliche
Grundlage. Entwicklungen wie im Kosovo kommen
hinzu. An der völkerrechtlichen Grundlage des Einsatzes
der NATO besteht kein Zweifel; es besteht aber auch
kein Zweifel – das haben wir ja hier im Hohen Hause
schon einige Male erörtert –, daß wir uns in einem ob-
jektiven Zielkonflikt befinden, übrigens die Charta der
Vereinten Nationen und das Völkerrecht auch. Denn wir
sehen an einer Entwicklung wie im Kosovo – und nicht
nur dort –, daß die Prinzipien, die die Charta und das
Völkerrecht tragen, nämlich die Souveränität der Staaten
und die Ächtung zum Beispiel von schwersten Verbre-

Bundesminister Rudolf Scharping






(B)



(A) (C)



(D)


chen gegen die Menschlichkeit, in einen Konflikt mit-
einander geraten können, jedenfalls dann, wenn in einem
Staat entsprechende Vorgänge – Mord, Massenmord,
Vertreibung, am Ende Völkermord – stattfinden.

Drittens. Die NATO wird verdeutlichen, daß Europa
mehr Verantwortung übernimmt, und Europa wird klar-
machen, daß es dazu willens und fähig ist. Das Problem,
wenn es überhaupt eines innerhalb der NATO gibt, ist ja
nicht die amerikanische Stärke, sondern die europäische
Schwäche hinsichtlich neuer Herausforderungen und der
ihnen adäquaten Handlungsmöglichkeiten. Also wollen
wir die europäischen Fähigkeiten und Handlungsmög-
lichkeiten stärken, und zwar in doppelter Hinsicht: er-
stens innerhalb der Allianz selbst – das sind Fragen, die
zwischen NATO und WEU vereinbart werden – und
zweitens, indem wir die europäische Handlungsfähigkeit
im Rahmen der Europäischen Union verstärken.

Für Deutschland ist eine solche Entwicklung eigent-
lich nicht schwer nachzuvollziehen. Die Bundesrepublik
Deutschland hat neun Nachbarn. Mit sieben von ihnen
sind wir in einem gemeinsamen militärischen Bündnis
verbunden – nicht mit der Schweiz, nicht mit Österreich,
wie wir wissen. Mit sechs von diesen sieben NATO-
Partnern und Freunden haben wir mittlerweile multina-
tionale Verbände oder Einheiten oder werden sie in
Kürze haben. Der einzige Nachbar, mit dem wir solche
Verbindungen nicht haben, ist die Tschechische Repu-
blik. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich sagen, daß
wir hoffen, daß sich das in möglichst naher Zukunft bitte
auch ändern möge, damit wir mit allen unseren Nach-
barn multinationale Einrichtungen, Verbände und Ver-
bindungen haben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, völlig zu Recht erwarten
unsere amerikanischen Freunde, daß Europa solidarisch
einen größeren Teil der gemeinsamen Lasten über-
nimmt, und zwar insbesondere dort, wo europäische In-
teressen und Verantwortlichkeiten zuallererst berührt
sind. Der Aufbau eines europäischen Pfeilers inner-
halb der NATO wird seit langem gefordert. Er hat auch
viel Zeit erfordert. Aber jedenfalls halte ich für unbe-
streitbar, daß Europa ohne Verdopplung von Institutio-
nen oder Strukturen in einer ausgewogeneren transat-
lantischen Partnerschaft mehr Gewicht erhalten soll und
muß, ganz konkret und auch sehr praktisch.

Das hat dann übrigens eine vierte Auswirkung: Das
Bündnis wird ja im Rahmen der Überprüfung seines
strategischen Konzeptes auch die Richtlinien für die
Streitkräfte anpassen und die militärischen Fähigkeiten
mit Blick auf ein erweitertes Aufgabenspektrum opti-
mieren.

Wir sehen im Zusammenhang mit dem Kosovo im
früheren Jugoslawien, daß multinationale Krisenbewäl-
tigung veränderte und höchste Anforderungen an Perso-
nal und an Material stellt. Bestimmte Schlüsselfähig-
keiten – in einer fast militärisch-technokratischen Spra-
che würde man sie Mobilität, Verlegungsfähigkeit,
Durchhaltefähigkeit, Nachhaltigkeit eines Einsatzes

nennen – gewinnen entscheidende Bedeutung. Wer eine
schnelle und effektive Reaktion auf Krisen will, muß
sich solchen Schlüsselfähigkeiten und ihrer Entwicklung
zuwenden.

Das neue strategische Konzept und seine Vorgaben
für die Bündnisstreitkräfte sowie entsprechende Gipfel-
initiativen werden jedenfalls die entscheidende Orientie-
rungslinie auch für die Arbeit der Kommission zur ge-
meinsamen Sicherheit und zur Zukunft der Bundeswehr
sein. Diese Kommission wird unmittelbar nach dem
Gipfel in Washington ihre Arbeit am 3. Mai aufnehmen.
Allein der Termin, aber viel mehr als dieser Termin, soll
deutlich machen, daß Deutschland auch in Zukunft auf
eine enge zeitliche und inhaltliche Verzahnung von
NATO-Entwicklung und der Entwicklung der eigenen
Streitkräfte entscheidenden Wert legt.

Ulrich de Maizière, der frühere Generalinspekteur,
hat 1982 gesagt: „Eine Armee, die glaubt, fertig zu sein,
ist bereits veraltet.“ Das galt damals, und das gilt auch
heute. Jedenfalls lehren uns diese Wochen, wie wichtig
es ist, über moderne, flexible und einsatzfähige Streit-
kräfte zu verfügen. Aber – da stimme ich dem Kollegen
Rühe ausdrücklich zu – auch die im technischen Sinne
modernste Armee ist nichts wert, wenn in ihr nicht
gleichzeitig von dem Auftrag für Frieden, Freiheit und
Menschenrechte überzeugte Soldatinnen und Soldaten
motiviert und leistungsfähig ihren Dienst leisten. Das
sollten wir ausdrücklich anerkennen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, ich will kurz resümieren:
Das Bündnis war in den letzten 50 Jahren die wichtigste
Grundlage für unsere, die Freiheit und Sicherheit der
Deutschen und der Europäer. Die NATO wird auch in
den nächsten Jahrzehnten die wichtigste Grundlage für
eine sichere, freiheitliche und stabile Entwicklung in
Europa sein, soweit es um die Herausforderungen an un-
sere Sicherheit geht. Sie wird zunehmend stärker auf
eine enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Union
und den anderen internationalen Institutionen angewie-
sen sein, und sie wird das in eigener Kompetenz und
durch Zusammenarbeit mit anderen Staaten oder inter-
nationalen Institutionen leisten können, und zwar auf der
Grundlage unveränderter gemeinsamer Werte, auf der
Grundlage auch gemeinsamer Interessen und im Rah-
men einer festen transatlantischen Partnerschaft, die ja
Demokratien auf beiden Seiten des Atlantiks verbindet,
die auf der Welt eine hohe Bedeutung haben, nicht von
der Zahl ihrer Bevölkerung her, aber von ihrer Lei-
stungsfähigkeit, ihrer Freiheit und von ihren festen de-
mokratischen Grundlagen her.

Mit der Stärkung der NATO wird immer die Stärkung
dieser Grundlagen verbunden sein; denn die militäri-
schen, die sicherheitspolitischen Belange sind nicht von
den freiheitlichen und stabilen demokratischen Grundla-
gen zu trennen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bundesminister Rudolf Scharping






(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403500500
Ich erteile dem
Fraktionsvorsitzenden der F.D.P., dem Kollegen Wolf-
gang Gerhardt, das Wort.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1403500600
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Am Vorabend der Vertrags-
unterzeichnung des Nordatlantikpaktes, am 3. April
1949, hatte der amerikanische Präsident Truman die
Außenminister Kanadas und Westeuropas zu sich gebe-
ten und ihnen eindringlich erklärt, daß jede alliierte
Politik, die dem deutschen Wiederaufbau keinen hinrei-
chenden Spielraum lasse, diese Nation in die Arme der
UdSSR treiben könne, und zu einer Politik ermutigt, die
den deutschen wirtschaftlichen Wiederaufbau möglich
macht, die Entwicklung demokratischer Institutionen
beschleunigt und die alten – so will ich es jetzt ausdrük-
ken – sowjetischen Absichten aktiv bekämpft.

Am nächsten Tag wurde dieser Vertrag von
12 Gründungsstaaten unterzeichnet. Freiheit, gemeinsa-
mes Erbe, Zivilisation, Grundsätze der Demokratie,
Freiheit der Person, Herrschaft des Rechts – das waren
die Grundzüge, auch die Entschlossenheit, sich für diese
einzusetzen.

Ich erwähne dies, weil – im wahrsten Sinne des
Wortes – am Vorabend deutlich geworden ist, was das
Bündnis für uns bedeutet. Dieses Bündnis hat eine ge-
waltige erzieherische Wirkung auf billigen Nationalis-
mus gehabt. Es hat eine Renationalisierung der Si-
cherheits- und Außenpolitik verhindert und damit den
Grundstein für unsere heutigen Chancen gelegt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das bedeutet für uns Deutsche mehr als für manch ande-
ren europäischen Nachbarn; denn durch dieses Bündnis
ist aus unserem Land, einem Land der Geschlagenen,
wieder ein Land mit Gewicht und Vertrauen geworden.
Wir unterschätzen das heute.

Im übrigen erfolgte mit diesem Bündnis die deutsche
Vereinigung. Es ist bemerkenswert, daß die deutsche
Vereinigung im wesentlichen im Zeichen dieses Bünd-
nisses, der europäischen und internationalen Orientie-
rung Deutschlands, vor sich gegangen ist, auch im Zei-
chen des Grundgesetzes. Der tiefste Bruch im Osten
wurde mit der höchsten Beständigkeit im Westen ver-
bunden. Das ist sehr bedeutsam.

Vorhin hat der Kollege Rühe die Frage gestellt – dar-
auf darf man in einer solchen Debatte ruhig rekurrieren –,
wer in bestimmten Phasen auf der Straße war und auf der
Straße sein würde. Wer so redet, wie wir es heute alle ge-
tan haben – das sage ich an alle politischen Grundrichtun-
gen gewandt –, der kann eigentlich für nichts anderes auf
die Straße gehen als für die zutiefst historische Erkennt-
nis, daß mit diesem Bündnis unsere Werteordnung kon-
stituiert und gesichert worden ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Allen, die das in Zweifel ziehen, müssen wir entgegen-
treten. Es geht nicht um die Bündnis- und Außenpolitik

Deutschlands; das ist für uns Staatsräson. Daran hat sich
nach der Vereinigung unseres Landes nichts geändert.

Das Bündnis hat im übrigen Beständigkeit im Wandel
bewiesen. Auf dem Gipfel von Rom im Jahr 1991 wur-
de quasi eine neue NATO proklamiert. Alle Staaten
waren sich völlig im klaren, daß die Strukturen des
Bündnisses geändert werden müssen, daß ein Euro-
Atlantischer Partnerschaftsrat auf den Weg gebracht
werden muß, daß das Prinzip der kooperativen Sicher-
heit hinzugefügt werden muß, daß es einen NATO-
Rußland-Rat, eine NATO-Ukraine-Kommission, eine
„Charta über eine besondere Partnerschaft“ geben muß.
Jedem ist dies klar.

Wir müssen die Anstrengung unternehmen – alle Ab-
geordnete aus allen Fraktionen –, der nachfolgenden
jungen Generation deutlich zu machen, daß dies ein un-
verzichtbarer Pfeiler der deutschen Politik ist; er ist un-
verrückbar.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Polen, die Tschechische Republik, Ungarn – Länder, die
sich nach Sicherheit gesehnt haben und die keinen
Rückfall mehr wollten, sind heute unsere Partner.

Wahr ist aber auch: Heute, im Jubiläumsjahr, befindet
sich das Bündnis ganz eindeutig in der schwierigsten
Phase, seit es besteht. Es ist auch wahr, daß dann, wenn
wir scheiterten, nicht nur die Glaubwürdigkeit der
NATO verloren wäre, sondern auch die Folgen für die
gesamte globale Stabilität unübersehbar wären. Es geht
jetzt um mehr als nur um eine regional begrenzte Pro-
blemlösung, die schon längst nicht mehr den Erforder-
nissen gerecht wird. Es geht um eine schwere Prüfung
der NATO. Die NATO muß sich im wahrsten Sinne des
Wortes vergewissern. Freiheit und andere zivilisatorisch
unverzichtbare Errungenschaften sind zweifelsfrei
Grundwerte, die sie verteidigen muß. Die humanitäre
Hilfe und das Abwehren einer humanitären Kata-
strophe sind die Ziele, die jedermann klar vor Augen
hat.

Die Mittel, die dafür eingesetzt werden, sind die der
Ultima ratio. Über ihren Einsatz wird nach langen Ver-
handlungen und nach offenen Diskussionen in demo-
kratischen Gesellschaften entschieden. Aber man muß
auch offen ansprechen: Wer sich selbst vergewissern
will, wer die Notwendigkeiten zum Handeln sieht, wer
weiß, daß im Falle des Nichthandelns die Folgen für die
globale Stabilität und auch für die amerikanische Füh-
rungsmacht unabsehbar wären, der darf keinen Moment
daran zweifeln – to whom it may concern –, im Rahmen
des Selbstvergewisserungsprozesses den Partnern in der
NATO und der EU mitzuteilen, daß über solche Einsätze
nicht nur fünf Minuten debattiert werden kann. Man
muß auch klarmachen, daß ein umfassendes Handels-
embargo notwendig ist, wenn man Soldaten in einen
Krieg schickt, und daß es unvertretbar ist, mit dem Hin-
weis auf ökonomische Interessen gleichzeitig weiterhin
Öl zu liefern. Die Bundesregierung muß das mit aller
Emotionalität auch sagen dürfen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)







(B)



(A) (C)



(D)


Kein NATO-Mitgliedsland kann rechtfertigen, Güter
außerhalb der humanitären und medizinischen Erforder-
nisse nach Jugoslawien zu liefern, die den Zielen, für die
die NATO eintritt, nämlich die Verhinderung einer hu-
manitären Katastrophe, zuwiderlaufen.

Es ist für uns unbestreitbar, daß die westliche Füh-
rungsmacht, die Vereinigten Staaten, nicht nur für die
heutige demokratische Stabilität, sondern auch für den
wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes viel getan hat.
Für die Freien Demokraten muß ich das nicht wieder-
holen. Uns ist völlig klar, daß die Führungsmacht der
Vereinigten Staaten – dies haben nahezu alle Krisen ge-
zeigt; auch wenn es manchmal Fehleinschätzungen der
amerikanischen Administration gab – notwendig ist und
ihre Präsenz in Europa unverzichtbar ist.

Das liegt im übrigen auch im Interesse der amerikani-
schen Gesellschaft. Je weiter man dort in den mittleren
Westen kommt, desto geringer sind die Kenntnisse über
die europäische Situation. Die Präsenz der Vereinigten
Staaten und ihrer Gesellschaft in Europa durch Soldaten
ist auch deshalb erforderlich, damit sich die Amerikaner
immer selber ein Bild über Europa machen können und
nicht nur auf die Informationen der Zeitungen an der
Ostküste angewiesen sind. Es geht also um viel mehr als
nur um die Präsenz von Soldaten.

Aber – auch das sei gesagt – es kann keinen Automa-
tismus beim Einsatz militärischer Mittel geben, den
die NATO in Gang setzt, nur weil ihn die amerikanische
Führungsmacht für notwendig erachtet. Militärische
Mittel müssen im Konsens der gesamten NATO-
Gemeinschaft eingesetzt werden, nicht durch Automa-
tismen, die die Administration des größten Bündnispart-
ners irgendwann auslösen kann.

Damit muß auch die parlamentarische Mandatie-
rung klar sein, und zwar im engeren Sinne als bei vielen
anderen Fragen, die wir hier erörtern. Das geschieht
nicht auf Grund eines grundsätzlichen Mißtrauens, son-
dern aus der Verantwortung für die deutschen Soldaten
heraus. Die Mandatierung sollte im übrigen auch für
humanitäre Einsätze vorgeschrieben werden, damit die
Soldaten und ihre Familien immer die Sicherheit haben,
daß das deutsche Parlament den Einsatz für richtig hält.
Vorsichtig zu sein ist politisch besser.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nach Meldungen, die heute morgen über den Ticker
kamen, berichtet die „Washington Post“, Generalsekre-
tär Solana habe gefordert, daß sämtliche Optionen auf
dem Tisch liegen müßten, bevor man über den Einsatz
von Bodentruppen im Kosovo entscheiden könne.
Sämtliche Optionen liegen immer auf dem Tisch. Aber
es darf trotzdem kein Automatismus entstehen: Das
Parlament der Bundesrepublik darf nicht mit der Be-
gründung, daß sämtliche Optionen auf dem Tisch gele-
gen hätten, in eine Entscheidungssituation kommen, in
der es über eine bestimmte Option gar nicht mehr be-
schließen könnte. Ich lege Wert darauf, daß die Parla-
mente der Mitgliedstaaten der NATO Optionen legiti-
mieren, niemand anders. Optionen dürfen nicht durch

einen Automatismus in irgendwelchen Stäben zu Be-
schlüssen werden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir alle wissen – der Bundeskanzler, der Verteidi-
gungsminister und der Kollege Rühe haben es ausge-
drückt –, daß ohne Rußland eine politische Lösung des
Kosovo-Konflikts nicht zu erreichen sein wird. Wenn
wir den Vorabend der NATO-Gründung, den 3. April
1949, betrachten, als es darum ging, Deutschland nicht
in die Arme der UdSSR zu treiben, dann sehen wir
deutliche Unterschiede zum Jubiläumsjahr. Die alte Fra-
ge hat sich aufgelöst. Die Frage an die NATO heißt
heute, ob sie in Kenntnis des Erfordernisses einer politi-
schen Lösung nach zwischenzeitlichem Einsatz militäri-
scher Mittel zu einer Initiative findet, die Rußland ein
Stück Handlungsspielraum gibt, so daß es zur Problem-
lösung beitragen kann. Wir müssen daran ein großes In-
teresse haben; an einer Sicherheitspartnerschaft mit
Rußland – das macht das Jubiläumsjahr überdeutlich –
führt kein Weg vorbei.

Das wird nicht allein die NATO erreichen können.
Dazu brauchen wir ein Zusammenspiel aller euro-
atlantischen Institutionen. Die deutsche Ratspräsident-
schaft – der Bundeskanzler drückte es in der Regie-
rungserklärung aus – weiß das. Sie ist sich dieser Auf-
gabenstellung bewußt.

Ich muß allerdings auch mit Blick auf die letzte De-
batte feststellen, daß mir die aktiven Schritte nicht so
recht deutlich werden, nachdem in vielen Zeitungen der
Fischer-Plan publiziert worden war. Rückblickend auf
die Debatte in der letzten Plenarwoche hatte ich den
Eindruck, jetzt bespricht der Bundeskanzler die Vor-
schläge des Bundesaußenministers mit den europäischen
Regierungschefs. Zu meiner Verwunderung ist das dort
aber anscheinend nicht erörtert worden. Es gab lediglich
die sehr zurückhaltende Erklärung der NATO, es han-
dele sich um einen Diskussionsvorschlag, über den noch
nicht gesprochen worden sei. Auch die amerikanische
Seite erklärte sich, soweit man es den Zeitungen ent-
nehmen konnte, äußerst zurückhaltend zu einem Diskus-
sionsbeitrag, der in der westdeutschen Blätterlandschaft
hingegen als von Kofi Annan abgesegnet – das meine
ich jetzt gar nicht abträglich – dargestellt wurde.

Ich hatte den Eindruck, Grundlage des Fischer-Plans
sei mindestens ein Kabinettsbeschluß. Der Bundes-
kanzler erklärte aber, es sei ein begrüßenswerter Vorstoß
des Außenministers. Das soll mir nun alles recht sein,
nur möchte ich endlich einmal wissen, wann sozusagen
Butter bei die Fische kommt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wie will die Bundesregierung damit jetzt weiter um-

gehen? Wenn Sie morgen zu dem Jubiläumstreffen rei-
sen, kann hinterher nicht wieder eine Erklärung abgege-
ben werden, wie wir sie nach dem Treffen der europäi-
schen Regierungschefs entgegennehmen mußten: Es ist
nicht besprochen worden. Gerade weil zwischen uns und
der amerikanischen Führungsmacht überhaupt keine
Zweifel an der beiderseitigen Zuverlässigkeit auftreten,

Dr. Wolfgang Gerhardt






(A) (C)



(B) (D)


ist es unser legitimes Recht als NATO-Mitgliedsland,
das die EU-Ratspräsidentschaft in dieser schwierigen
Situation mit einsetzen kann, der amerikanischen Füh-
rungsmacht und den anderen NATO-Verbündeten mit
aller Kraft deutlich zu machen, daß sich nach unserer
Überzeugung jetzt folgende Fragen stellen: Was ge-
schieht außerhalb der täglichen Briefings? Welche poli-
tischen Lösungen stellt man sich am Ende auch nach
einer Einbindung Rußlands vor? Wie beurteilt man die
heutigen Chancen, politische Lösungen zu erreichen?
Wie konkret werden Konzepte, die über einen Waffen-
stillstand hinausreichen, mit anderen weiter erörtert?

Es muß ja jedermann folgendes klar sein: Je länger
militärische Aktionen andauern, desto notwendiger wird
es, dann auch wieder vornehmlich politisch zu agieren.
Dafür genügt mir die Publikation der Fischer-
Vorschläge in deutschen Zeitungen allein nicht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich will etwas über die späteren politischen Ver-

handlungen erfahren. Das sage ich nicht als Vorwurf,
sondern deswegen, weil ich nicht so viele Gespräche mit
namhaften Staatsmännern führen kann, wie es der Bun-
deskanzler und der Außenminister tun; ich sage nur, daß
es mir nicht deutlich wird. Es gehört gerade zum Cha-
rakterbild des Bündnisses, zwar ein kollektives Sicher-
heitsbündnis zu sein, aber immer die militärischen Mit-
tel als Ultima ratio zu sehen und in erster Linie über In-
strumente zu verfügen, die es dem Bündnis erlauben, zu
politischen Problemlösungen zu kommen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dieser Charakter des Sicherheitsbündnisses muß jetzt

ausgefüllt werden. Das Bündnis muß seine Fähigkeit
unter Beweis stellen, wieder mehr zu politischen Pro-
blemlösungen zu kommen. Wir streiten hier nicht dar-
über, ob meine Aufforderung an Sie, Ihre Position be-
züglich politischer Problemlösungen mehr in Verhand-
lungen als auf Pressekonferenzen deutlich zu machen,
unbillig ist, nur weil ich Ihnen nicht zutrauen würde, daß
Sie nicht die gleiche Blickrichtung haben. Über diesen
Punkt streiten wir hier nicht. Ich bin überzeugt, daß auch
Sie am Ende die Notwendigkeit politischer Problemlö-
sungen sehen.


(Markus Meckel [SPD]: Absurd!)

– Auch in einer solchen Debatte darf die Opposition
deutlich machen, daß ihr die Publikation des Plans nicht
reicht, wenn sich dahinter nicht festgefügte Verhand-
lungspositionen verbergen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir sollten in diesen Diskussionen nicht den Eindruck
erwecken, als seien die anderen sozusagen die Päpste,
aber wir dürften uns nicht kritisch zu Ihren Vorschlägen
äußern. Überhaupt können Sie von Glück sprechen, daß
Sie es mit einer solchen Opposition zu tun haben! Das
will ich einmal deutlich sagen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Mein Gott!)


Ich will, daß sich in der jetzigen Situation der deut-
sche Beitrag nicht auf die innenpolitische Bedeutung be-
schränkt, nämlich den einen Koalitionspartner bei der
Stange zu halten. Ich will, daß der Vorschlag in den ent-
sprechenden NATO-Gremien mit der vollen Unterstüt-
zung der gesamten Bundesregierung vorangetrieben
wird. Das ist der entscheidende Punkt, der beachtet wer-
den muß.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich will die Fraktion der SPD ansprechen:

(Michael Glos [CDU/CSU]: Die ist doch gar nicht da! Die interessiert sich doch gar nicht dafür!)


Sie könnten mit verschiedenen Abschnitten der frühen
Nachkriegspolitik der Bundesrepublik Deutschland,
auch wenn wir damals über verschiedene Punkte streitig
diskutiert haben, durchaus Ihren parteipolitischen Frie-
den machen. Heute muß jeder anerkennen, daß der erste
Schritt der Nachkriegspolitik unter Konrad Adenauer
nicht falsch, sondern unverzichtbar notwendig und rich-
tig war. Umgekehrt könnten viele aus der Union mehr
oder weniger leichten Herzens sagen: Ja, wir sind nicht
gerne aus der Regierung ausgeschieden, aber wir müs-
sen zugeben, es war wohl richtig, daß die Regierung
unter Brandt und Scheel Schritte in Richtung Osteuropa
unternommen hat, um so dem deutschen Volk über die
Tabuschwelle der Oder-Neiße-Linie hinwegzuhelfen.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Da hat er recht!)


Heute müßten die Grünen eigentlich sagen: Das Ein-
treten für die Ziele, für die wir während der Entstehung
der grünen Bewegung auf die Straße gegangen sind, hat
darunter gelitten, daß die Stabilitätsgesichtspunkte der
Nachkriegsgeschichte und die Staatsräson der Bundes-
republik Deutschland nicht beachtet wurden; unser Blick
war nicht durch die tiefen Erkenntnisse aus der deut-
schen Geschichte geprägt, die sich nie mehr wiederholen
darf.

Wir haben heute die Chance, die von mir skizzierte
Politik umzusetzen. Deshalb sind wir selbstbewußt ge-
nug, die Bundesregierung aufzufordern, im Rahmen die-
ses Konsens nachdrücklich auf eine konzeptionelle Lö-
sung zu drängen und keine Hemmungen zu haben, ent-
sprechende Vorschläge unseren NATO-Partnern zu un-
terbreiten. Als gleichberechtigter Partner in einem
Bündnis müssen wir der amerikanischen Führungsmacht
vorgreiflich deutlich machen, daß es für uns bei allen
strategischen Überlegungen keinen Automatismus geben
kann, weil die deutsche Nation, die militärische Ent-
scheidungen im Hinblick auf diese Region mittragen
muß, die Geschichte anders zu bewerten hat, als dies
unter kühlen administrativen Gesichtspunkten der Fall
ist. Dies muß vorgreiflich gesagt werden, damit wir
nicht irgendwann von Vorschlägen militärischer Stäbe
überrascht werden, die wir dann politisch nicht mehr
diskutieren können. Darum geht es uns.


(Anhaltender Beifall bei der F.D.P. – Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Wolfgang Gerhardt






(B)



(A) (C)



(D)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403500700
Ich erteile das Wort
Bundesaußenminister Joseph Fischer.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403500800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Folgt man
der heutigen Debatte, so muß man feststellen, daß Par-
lamentsdebatten für die Geschichtsschreibung nur be-
dingt tauglich sind. Dies erklärt sich aus der Tatsache,
daß Parlamentsdebatten im wesentlichen interessenge-
leitet sind.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wollen Sie Ihre Aussagen tilgen, die Sie hier gemacht haben?)


– Ich komme auf die verschiedenen Aussagen zurück,
Herr Kollege Glos. Sie sollten es aber eher als eine
positive Entwicklung begreifen, daß ehemalige NATO-
Gegner oder NATO-Kritiker heute NATO-General-
sekretär bzw. Bundesaußenminister sind. Dazu haben
Sie durch den Gang in die Opposition ja Erhebliches
beigetragen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Ich komme jetzt gar nicht aus parteipolitischen Grün-
den auf die Geschichte zurück, sondern möchte auf ein
Element des Widerspruchs in der europäischen Si-
cherheitspolitik hinweisen, das seit der Gründung der
NATO die ganze Nachkriegszeit hindurch bis in die Ge-
genwart hinein – konstitutiv ist. Das ist ein Wider-
spruchselement, das man gerade am heutigen Tag nicht
ignorieren sollte, wenn man über die zukünftige Politik
der NATO und über die zukünftige Sicherheits- und
Außenpolitik in Europa spricht. Der erste Generalsekre-
tär der NATO, Lord Ismay, hat das Gründungspro-
gramm der NATO in einem sehr einprägsamen Satz zu-
sammengefaßt. Lord Ismay sagte damals, Zweck der
NATO sei es, „to keep the Americans in, the Russians
out and the Germans down“. Das heißt, der Zweck sei
es, nach dem zweiten Weltkrieg die Amerikaner in
Europa zu halten, die Russen draußen zu halten und die
Deutschen unten zu halten. Dieses Programm galt bis
zum Ende des kalten Krieges.

Was Sie heute vergessen haben zu erwähnen, ist die
Tatsache, daß Deutschland zu Beginn gar nicht in der
NATO war. Das hatte nicht nur damit zu tun, daß die
NATO den ehemaligen Kriegsgegner und Feind
Deutschland noch nicht wollte, sondern vor allen Din-
gen damit, daß es ursprünglich einen Widerspruch zwi-
schen der anglo-britischen Gründung der NATO und
dem deutsch-französischen Versuch der Gründung der
Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gab. Dieser
Widerspruch zwischen der Bindung Deutschlands – von
seinem Sicherheitsinteresse her – an die transatlantische
Achse und der gleichzeitigen Bindung Deutschlands
– vom seinem europäischen Interesse her – an die
deutsch-französische Achse ist bis heute ein konstituti-
ves Element geblieben und macht die sicherheitspoliti-
sche Orientierung der Bundesrepublik über alle Regie-
rungen hinaus aus. Diesen Widerspruch in eine gemein-
same europäische Sicherheits- und Außenpolitik und in
eine Stärkung der europäischen Säule innerhalb der

NATO aufzulösen wird demnach die entscheidende
Herausforderung der kommenden Jahre sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Herr Rühe, ich verstehe ja, daß Sie bundesrepublika-
nische Geschichte als Parteigeschichte darstellen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Billig! – Starkes Stück! – Unerhört!)


– Die Union hat viele Gründe, das zu verknüpfen; das ist
jetzt wirklich nicht polemisch gemeint. – Sie hätten aber
einige Punkte hinzufügen müssen: Alle hier sitzenden
Parteien haben, wenn man die bundesrepublikanische
Geschichte insgesamt anschaut, ihre innerparteiliche
Entwicklung gegen die Entwicklung dieser Geschichte
gesetzt. Sie haben die ganzen zehn Jahre der Ostpolitik
nicht erwähnt und auch nicht die Tatsache, daß diese
Politik entscheidend zur Herausbildung des europäi-
schen Sicherheitssystems beigetragen hat.


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Da haben wir kein Problem mit!)


Diese Ostpolitik war konstitutiv. Daß Sie die Änderung
der Politik der Union, nachdem sie 1982 wieder an die
Regierung gekommen ist und diesen ganzen Kurs hint-
angestellt hat, und daß Sie die Debatten um den Atom-
waffensperrvertrag – „intergalaktisches Versailles“ hieß
es damals – nicht erwähnen, verstehe ich. Wenn man
aber die Geschichte bemüht, dann sollte man sie der
Wahrhaftigkeit halber als Ganzes erwähnen und dann
muß man dies alles hinzufügen. Denn das sind konstitu-
tive Elemente: Ohne die Ostpolitik und ohne die Ent-
spannungspolitik hätte es den ganzen Prozeß hin zu
Gorbatschow und letztlich auch den Prozeß hin zur
deutschen Einheit nicht gegeben. Das wissen Sie ganz
genau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das ist aber nur eine Anmerkung, denn ich stimme
allen Rednern zu: Die europäische Sicherheit wird in der
Tat ganz entscheidend durch die Anwesenheit der USA
geprägt. Der Dreiteiler von Lord Ismay – die Amerika-
ner drin, die Russen draußen und die Deutschen unten
zu halten – gilt heute nicht mehr. Wenn wir über das
transatlantische Sicherheitsbündnis sprechen, müssen
wir über die konstitutiven Bedingungen der Zukunft re-
den. Dabei gibt es ein gemeinsames Interesse: Ich be-
haupte, in einem sich vereinigenden Europa – und wenn
man vorausschaut, selbst dann, wenn Europa eines Ta-
ges als politisches Subjekt tatsächlich vereinigt ist –
wird es sicherheitspolitisch gesehen notwendig sein, daß
die USA dauerhaft in Europa präsent bleiben.

Wir befinden uns nicht in einer insularen Lage. So
richtig und wichtig es ist, zu erkennen, daß europäische
Sicherheit von Rußland abhängt, so ist es noch um ein
Vielfaches wichtiger zu erkennen, daß wir den transat-
lantischen Brückenbogen auf Dauer sicherstellen müs-






(A) (C)



(B) (D)


sen, weil europäische Sicherheit ohne die USA schlech-
terdings nicht herstellbar ist.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das ist wohl die Rede für den 13. Mai?)


– Das ist nicht die Rede für den 13. Mai, sondern das ist
meine Überzeugung. Das zeigt einmal wieder, mein
Lieber, wie doch der außenpolitische Nachwuchs Ihrer
Fraktion noch bemüht ist, die parteipolitischen Eier-
schalen abzustreifen; das muß ich Ihnen ehrlich sagen.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Welch eine Arroganz!)


– Das hat doch nichts mit Arroganz zu tun. Der Zwi-
schenruf paßt an der Stelle einfach nicht; geben Sie es
doch zu.

Wir diskutieren hier über die zukünftige europäische
Sicherheitsarchitektur. Ich bin der festen Überzeugung,
daß wir eine Sicherheitsarchitektur entlang von drei Bö-
gen brauchen. Wir brauchen das sich vereinigende Euro-
pa, das als politisches Subjekt hergestellt wird. Ich unter-
stütze in diesem Zusammenhang nachdrücklich alle, die
gesagt haben, daß die europäische Säule gestärkt werden
muß. Gerade der Kosovo-Konflikt macht doch klar – ich
möchte das aufnehmen, was verschiedene Vorredner ge-
sagt haben –, daß es vor allen Dingen auch um das politi-
sche Gewicht der Europäer im Bündnis geht, das heißt
darum, inwieweit wir unsere eigenen politischen Interes-
sen im Bündnis zum Tragen bringen können.

Es müssen doch aber auch alle diejenigen, die eine
neue Vorstellung von der NATO hatten – die die NATO
sozusagen als neue Plattform unter Hintanstellung ande-
rer Plattformen, wie etwa der der Vereinten Nationen –,
begreifen, daß eine politische Lösung im Kosovo – ich
hoffe sehr, daß es eine solche Lösung gibt – ohne Ruß-
land nicht herstellbar ist, daß wir diesen zweiten Sicher-
heitsbogen, nämlich die Einbindung Rußlands in die
europäische Sicherheit im Bündnis über die Kooperation
zwischen NATO und Rußland, aber auch über die Ko-
operation zwischen EU und Rußland brauchen, daß eine
politische Lösung, wenn es zu massiven Konflikten oder
sogar zum Krieg gekommen ist, nur mit Rußland mög-
lich ist. Das ist eine klare Absage an diejenigen, die in
den vergangenen Jahren der Überzeugung gewesen sind,
man könne dies allein auf NATO-Plattform machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Bei dem Krieg im Kosovo – ich möchte dies noch-
mals hervorheben –, geht es nicht nur um Moral und
nicht nur um die schwerste Mißachtung der Menschen-
rechte, sondern im Kosovo geht es vor allem um die
Frage, in welchem Europa der Zukunft wir leben wollen.
Dort geht es um europäische Sicherheit.

Die vergangenen Wochen haben intensive Konsulta-
tionen auch und gerade mit den Nachbarstaaten mit sich
gebracht. In vielen Kommentaren wird gegenwärtig das
19. und frühe 20. Jahrhundert beschworen, wird auf die
hegemonialen Eingriffe der europäischen Großmächte in
das auseinanderbrechende Osmanische Reich Bezug ge-
nommen. Das alles ist heute nicht mehr die politische

Realität. Wo gibt es einen hegemonialen Anspruch wel-
cher Macht im Kosovo? Gibt es einen europäischen he-
gemonialen Anspruch oder einen transatlantischen oder
amerikanischen hegemonialen Anspruch? Nichts der-
gleichen ist der Fall.

Wenn ich mir anschaue, was die Nachbarländer dort
wollen, so muß ich sagen: Sie wollen zur EU, und sie
wollen Sicherheit in der NATO. Albanien, Mazedonien,
Kroatien, Slowenien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien,
alle diese Länder wollen in das Europa der Integra-
tion. Das ist der entscheidende Punkt. Milosevic steht
hier gegen das Europa der Integration. Er vertritt eine
Politik des extremen Nationalismus, eine Politik der
Gewalt und der Vergangenheit. Wenn man ihn machen
läßt, dann wird das Europa der Integration in dieser Re-
gion dauerhaft gefährdet. Das ist neben den Menschen-
rechtsprinzipien, neben unseren Grundwerten der ent-
scheidende Punkt dafür, warum Milosevic so nicht wei-
termachen kann und darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich füge an dieser Stelle hinzu: Es wird von entschei-
dender Bedeutung sein, daß wir eine politische Lösung
finden. Herr Kollege Gerhardt – ich möchte Sie direkt
ansprechen –, da machen Sie sich nur keine Sorgen. Es
geht hier nicht darum, daß irgend etwas in die Zeitungen
gebracht wird. In den Zeitungen wird heute alles disku-
tiert. Vielmehr sage ich Ihnen: Wir haben dieses Kon-
zept gerade auf der außerordentlichen NATO-Rats-
tagung mit allen unseren wichtigen Bündnispartnern
ausführlich diskutiert. Seitdem spielt dies in den ständi-
gen Telefonkonferenzen, in direkten Treffen und auch
bei der Vorbereitung der entsprechenden Schlußdoku-
mente eine entscheidende Rolle.

Ich möchte Ihnen noch einmal sagen: Alle Vorschlä-
ge, die ich bisher gehört habe, beziehen sich letztendlich
auf dieses Konzept, und zwar nicht, weil wir besonders
klug sind, sondern weil wir die fünf Punkte zur Grund-
lage gemacht haben. Wenn Sie diese fünf Punkte opera-
tionalisieren, dann stoßen Sie zuerst auf die Frage der
Einbeziehung Rußlands. Was heißt Einbeziehung Ruß-
lands, wenn man es nicht therapeutisch, sondern real
meint? Einbeziehung Rußlands heißt, daß Rußland seine
Selbstblockade im VN-Sicherheitsrat aufgibt und daß
wir als erstes eine Resolution nach Kapitel VII im VN-
Sicherheitsrat bekommen. Das ist der erste Schritt.

Wenn wir diese Resolution haben – der Bundeskanz-
ler hat vorhin drei der fünf Kernpunkte genannt –, dann
ist die erste Voraussetzung der völlige Abzug der be-
waffneten Streitkräfte, der Paramilitärs und der Sonder-
polizei aus dem Kosovo. Wenn dieser Abzug beginnt,
dann halten wir es in der Tat für angemessen und übri-
gens auch für praktisch notwendig, daß eine Waffenruhe
beginnen kann – allerdings nie mehr durch das Vertrau-
en auf Worte, sondern nur noch durch Taten verifiziert –
und daß es, wenn innerhalb der festgesetzten Frist der
Abzug abgeschlossen ist, nicht nur zur Implementierung
einer internationalen Friedenstruppe kommt, sondern zu
einem dauerhaften Schweigen der Waffen, damit die
Voraussetzung für eine Übergangsverwaltung geschaf-

Bundesminister Joseph Fischer






(B)



(A) (C)



(D)


fen wird und die Flüchtlinge zurückkehren können.
Wenn es zu einer politischen Lösung kommt, dann wird
man diese Forderungen letztendlich in jedem Konzept
wiederfinden müssen, weil es die Konsequenz der Um-
setzung der fünf Punkte ist. Genau das ist der deutsche
Vorschlag.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Wie ist der jetzige Stand der Verhandlungen?)


– Der jetzige Stand ist, daß wir gegenwärtig auf genau
dieser Grundlage über das Gipfeldokument diskutieren,
daß wir versuchen, auf dieser Grundlage mit dem VN-
Generalsekretär, der sich Gott sei Dank in eine ähnliche
Richtung bewegt und die Initiative übernommen hat, zu
diskutieren, daß wir darüber noch vorgestern abend mit
unseren Bündnispartnern in Paris gesprochen haben und
daß wir dies auch mit der amerikanischen Seite tun.

Was Sie gesagt haben, hört sich in der Tat schön an.
Wir bedanken uns dafür, daß wir eine solche Opposition
haben. Da stimme ich Ihnen zu. Aber eines möchte ich
Ihnen gleich ins Protokoll diktieren: Die innenpolitische
Debatte in den angelsächsischen Ländern läuft anders.
Es ist nicht so, daß da nur die Administration einen an-
deren Kurs fährt; vielmehr diskutiert auch der Kongreß
anders. Das muß ich Ihnen nicht erzählen, das wissen
Sie sehr genau. Dasselbe gilt selbstverständlich für die
innenpolitische Debatte in Großbritannien. Das heißt,
daß sich vieles, was es an Vorschlägen gibt, in der ganz
anderen innenpolitischen Prioritätensetzung sehr wichti-
ger Bündnispartner stößt. Das muß man bei alldem be-
denken.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Aber das ist ein normaler Vorgang!)


– Das ist ein normaler Vorgang. Nur, bei allem Re-
spekt, Sie müssen bedenken: Die Gewichtsverhältnisse
spielen schon eine Rolle. Wir waren in der Regel mit
vier bis sechs Flugzeugen bei insgesamt mehr als 400
Flugzeugen beteiligt. Ich sage das, um klarzumachen,
was die Gewichtsverhältnisse bei der politischen Ent-
scheidungsfindung betrifft.

Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur versichern, daß
wir mit allem Nachdruck an einer politischen Lösung
arbeiten. Wir dürfen uns einer militärischen Eskala-
tionslogik in diesem Punkt nicht beugen. Wir führen
keinen Krieg gegen Serbien und gegen das serbische
Volk.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was wir wollen, ist die Durchsetzung von Menschen-
rechten, von Humanität gegen eine Politik der ethni-
schen Kriegführung. Das müssen und werden wir durch-
setzen, weil ein Beugen, ein Wegducken vor dieser
Politik Milosevics keinen Frieden, sondern noch mehr
Krieg, noch mehr Vertreibung und noch mehr Zerstö-
rung bedeuten würde. Das haben die vergangenen zehn
Jahre gezeigt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Lassen Sie mich zum Schluß noch ganz kurz den Be-
zug zwischen neuer NATO und anderen Sicherheitsor-
ganisationen ansprechen. Wer sich die Konsequenz der
jetzigen Entwicklung anschaut, wer sieht, wie wichtig es
ist, daß der VN-Generalsekretär wieder eine aktive Rolle
spielt, wer sieht, wie wichtig es ist, daß Rußland in den
Versuch, eine Friedenslösung für den Kosovo zu finden,
eingebunden wird, der erkennt, daß manches an der De-
batte über die neue NATO in den letzten Jahren verkürzt
geführt wurde.

Die NATO ist keine Alternative zu den Vereinten
Nationen. Sie ist eine regionale Sicherheitsorganisation.
Sie zu überfordern würde bedeuten, sie zu gefährden.
Ich glaube, das macht jetzt auch der Kosovo klar.

Die Reformdebatte der NATO über das neue Konzept
wird unmittelbar zu einer Debatte über zwei weitere Or-
ganisationen führen müssen: über die Rolle der OSZE –
wir haben im Kosovo gesehen, daß sie nicht mehr nur
eine Alternative darstellt, sondern eine wichtige Kom-
plementärfunktion zum Sicherheitsbündnis NATO unter
den neuen Bedingungen nach dem Ende des kalten
Krieges wahrnimmt, und daß ihr Instrumentarium drin-
gend fortentwickelt werden muß – und über eine interes-
sengeleitete Reform der Vereinten Nationen, die vor
dem Tabu der Wahrnehmung des Gewaltmonopols
durch den Sicherheitsrat nicht haltmachen darf. Es geht
nicht darum, das Gewaltmonopol in Frage zu stellen,
aber der Gewaltmonopolinhaber – ich bin nachdrücklich
für das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates in den in-
ternationalen Beziehungen des 21. Jahrhunderts – muß
sich auch bestimmten Verpflichtungen unterwerfen, da-
mit dieses Gewaltmonopol nicht auf nationalen, sondern
auf internationalen Interessen gründet; dieses muß auch
in den verschiedenen Chartas der Vereinten Nationen
umgesetzt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich möchte es Ihnen an einem Beispiel verdeut-
lichen: Wir vertreten die Ein-China-Politik, und dies –
wie ich denke, das ganze Haus – aus Überzeugung. Daß
sich Peking darüber aufregt, wenn Mazedonien Taiwan
anerkennt, kann ich aus Sicht der nationalen Position
Pekings nachvollziehen. Ob es aber im Interesse des Si-
cherheitsrates, des Gewaltmonopolinhabers in der inter-
nationalen Politik, liegt, daß eine sinnvolle VN-Frie-
densmission in Mazedonien nicht verlängert wird, weil
aus einer aus meiner Sicht berechtigten nationalen Ver-
ärgerung heraus ein Veto eingelegt wird, daran habe ich
große Zweifel. Ich glaube nicht, daß so der Gewalt-
monopolinhaber Sicherheitsrat unter den Bedingungen
des 21. Jahrhunderts wirklich funktionieren kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die gegenwärtige Diskussion über die Frage, was
völkerrechtlich zulässig ist oder nicht, ist aus meiner
nicht-juristischen, aber politischen Sicht eine Formalde-
batte. Warum? Weil der Sicherheitsrat im Fall des Ko-
sovo schlicht und einfach hätte handeln müssen. Ich wä-
re froh gewesen, wenn wir eine Resolution nach Kapi-
tel VII bekommen hätten. Ich hoffe, daß jetzt unter Ein-

Bundesminister Joseph Fischer






(A) (C)



(B) (D)


beziehung Rußlands eine entsprechende Resolution zu-
stande kommt; denn alle vorherigen Resolutionen führen
auf diesen Punkt hin. Insofern ist für mich die Frage
nach einer neuen Strategie der NATO nicht die Frage,
ob eine Alternative zu den Vereinten Nationen und ihren
möglichen Reformen geschaffen wird, sondern letztere
sind eine der Voraussetzungen für eine regionale Si-
cherheitsorganisation für und in Europa. Eine Überdeh-
nung der NATO würde sie meines Erachtens gefährden.
Deswegen müssen wir diese Reformdebatte auch in
Richtung OSZE und VN führen und zu entsprechenden
Beschlüssen kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403500900
Das Wort hat nun
Kollege Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403501000
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll und anständig gewe-
sen, wenn die NATO ihr Gipfeltreffen, ihre Feierlich-
keiten und die Verabschiedung einer neuen NATO-
Strategie verschoben hätte.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Ich befürchte, daß dieser NATO-Gipfel unter dem Zei-
chen des Krieges steht und sich in Diskussionen über
den Krieg erschöpfen wird.

Wir reden über eine NATO, die Krieg führt, Krieg in
Europa, Krieg ohne Mandat der UNO, Krieg unter
Bruch ihrer eigenen Charta, Krieg ohne ein politisches
Konzept. Wir hören dieser Tage von der US-Außen-
ministerin, daß sich jetzt – ebenso wie sich in der Ver-
gangenheit das Militärische der Diplomatie unterordnen
mußte – die Diplomatie dem Militärischen unterordnen
muß. Wir reden von einer NATO und der Rolle unseres
Landes in diesem Bündnis, über die der Altbundes-
kanzler Helmut Schmidt sagte – ich zitiere ihn –, „ge-
gängelt von der USA, haben wir das internationale
Recht und die Charta der Vereinten Nationen mißach-
tet“. Daß ausgerechnet ich einmal Helmut Schmidt ge-
gen Gerhard Schröder ins Felde führen würde, wäre mir
selbst in meinen schlimmsten Träumen nicht in den Sinn
gekommen.


(Beifall bei der PDS)

Die alte NATO gibt es nicht mehr. Eine neue NATO

hat sich der Welt vorgestellt. Sie will sich auf ihrem
Gipfeltreffen Ende des Monats eine neue Strategie ge-
ben. Das Vorhaben soll nicht gefährdet werden. Ich darf
Ihnen dazu aus der „New York Times“ zitieren: „Ein
vermasselter Einsatz könnte das Bestreben ernsthaft ge-
fährden, für die NATO eine neue Rolle bei Friedenser-
haltung und Krisenmanagement zu formulieren.“

Man kann auch nachlesen, was der US-Senator
McClaim geschrieben hat: „Wir müssen diesen Konflikt
gewinnen, egal was es kostet.“ Der Sicherheitsberater
des US-Präsidenten, Samuel Berger, nannte in der „In-
ternational Herald Tribune“ vom 24. März als einen der

Hauptgründe für die Bombenangriffe „die Demonstra-
tion, daß die NATO es ernst meint“.

In der Tat – das will ich bedauernd feststellen – hat
sich die Politik dem Militärischen untergeordnet. Die
militärische Logik folgt eigenen Gesetzen. Ob es der
Bundestag will oder nicht: Wir werden hier vor der Fra-
ge stehen, ob wir dem Einsatz von Bodentruppen zu-
stimmen sollen. Alle Überlegungen der Regierung gehen
in Richtung Eskalation. Als nächstes soll eine Seeblok-
kade Jugoslawiens folgen. Die Debatte über die militäri-
sche Eröffnung von Korridoren für die Rückkehr von
Flüchtlingen heißt doch im Klartext Einsatz von Boden-
truppen. Wie werden Sie diese Frage dann beantworten?
Jedes neue Dementi von den Regierungsbänken wird
immer zweideutiger. Zugleich nehmen die Forderungen
aus Washington an Eindeutigkeit zu. Wie war es in die-
ser Woche im „Spiegel“ zu lesen? „Die Amis wollen
den Krieg.“

Nein, auf dem NATO-Gipfel gibt es wenig zu feiern.
Es gibt aber allen Anlaß, darüber nachzudenken, wie
dieser Irrsinn beendet werden kann.


(Beifall bei der PDS)

Ich sage Ihnen voraus – wir werden darüber reden kön-
nen –, daß der jetzt eingeschlagene Weg, die jetzt einge-
schlagene Politik der NATO etwas fertigbringt, was die
Linken 50 Jahre nicht geschafft haben. Diese Politik ist
der Anfang vom Ende der NATO. Aber bedanken werde
ich mich dafür nicht; der Preis ist mir entschieden zu
hoch.


(Beifall bei der PDS)

Daß die NATO ihre Strategie nach dem Ende des

kalten Krieges, nach der Aufhebung der Spaltung der
Welt in zwei Pole, nach der Auflösung des Warschauer
Paktes neu durchdenken muß, versteht sich von selbst.
Erinnern wir uns noch an die Diskussion über ein ge-
meinsames Haus Europa? Denken wir überhaupt noch
ernsthaft darüber nach, daß Sicherheit nur gemeinsame
Sicherheit sein kann? Erscheint uns heute nicht der Kern
des neuen Denkens – das sich eng mit dem Namen Gor-
batschow verbindet –, die Interessen der Kontrahenten,
ja des möglichen Gegners in die eigenen Überlegungen
aufzunehmen und Demütigungen zu vermeiden, un-
wirklich?

Lassen Sie mich aus einem Papier zitieren, das sich
wie eine Botschaft aus einer anderen Welt liest:

Die neue Bundesregierung hält an dem Ziel der
vollständigen Abschaffung aller Massenvernich-
tungswaffen fest und wird sich in Zusammenarbeit
mit den Partnern und Verbündeten Deutschlands an
Initiativen zur Umsetzung dieses Ziels beteiligen.

Und weiter:
Zur Umsetzung der Verpflichtungen zur atomaren
Abrüstung aus dem Atomwaffensperrvertrag wird
sich die neue Bundesregierung für die Absenkung
des Alarmstatus der Atomwaffen sowie für den
Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen ein-
setzen.

Bundesminister Joseph Fischer






(B)



(A) (C)



(D)


Das, Kolleginnen und Kollegen von Rotgrün, ist Ihr Ko-
alitionsvertrag. Schon vergessen? Oder glauben Sie noch
daran? Mich zumindest hat es sehr berührt, daß Michael
Gorbatschow im Zusammenhang mit der Osterweiterung
der NATO schrieb, er fühle sich „vom Westen verraten“
und die NATO-Erweiterung sei „eine Absage an ein
neues europäisches Sicherheitssystem“.

Wie viele werden sich noch verraten fühlen, wenn auf
dem NATO-Gipfel aus der heutigen NATO, die sich als
Bündnis zur kollektiven Verteidigung ihrer Mitglied-
staaten versteht, eine Militärmacht wird, die künftig
Militäreinsätze außerhalb des Bündnisgebietes planen
und durchführen soll, wenn die NATO künftig weiterhin
Militäreinsätze auch dann vornimmt, wenn dafür kein
konkretes UN-Mandant vorliegt, sie sich also selbst
mandatiert – die Fraktion der CDU/CSU unterstützt dies
ja in ihrem Entschließungsantrag ausdrücklich –, und
wenn schließlich die NATO ausdrücklich an ihrer ato-
maren Strategie einschließlich der Option des nuklearen
Ersteinsatzes – auch dies fordert die CDU/CSU – fest-
hält? Vom Bundesaußenminister war bereits zu lesen,
daß sein diesbezüglicher Vorstoß auf dem Gipfel nicht
zur Diskussion stehen wird.

Eine Fortschreibung der NATO-Strategie in die
Richtung einer neuen NATO entfernt die NATO auch
von den eigenen Grundlagen. Ich will dies seitens mei-
ner Fraktion festhalten. Der geltende NATO-Vertrag
stellt keinen rechtlich unbegrenzten Handlungsrahmen
für beliebige politische und militärische Zwecke dar.
Die NATO ist nach dem Vertrag eine Organisation zur
kollektiven Selbstverteidigung ihrer Mitgliedstaaten.
Nur dazu haben die Parlamente der Mitgliedstaaten bei
der Inkraftsetzung des NATO-Vertrages ihre Zustim-
mung erteilt.

Die PDS-Fraktion ist der Auffassung, daß die NATO
zugunsten solcher ziviler Organisationen wie die der
UNO und der OSZE abgebaut werden sollte. Im glei-
chen Umfang, wie die UNO gestärkt und die OSZE
endlich handlungsfähig wird, kann die NATO zurückge-
nommen werden.


(Beifall bei der PDS)

Um solche Optionen überhaupt aufrechterhalten zu kön-
nen, fordern wir, daß es bei den bisherigen vertraglichen
Regelungen bleibt, daß die NATO sich nicht globalisiert
und selbst mandatiert und daß endlich auch wieder
ernsthaft über Abrüstung nachgedacht wird. In diesem
Sinne sind wir für eine gemeinsame europäische Außen-
und Sicherheitspolitik. Denn es ist schädlich, wenn in
der Welt nur ein starker politischer und militärischer Pol
vorhanden ist.


(Beifall bei der PDS)

Die NATO ist, historisch gesehen – verschiedene

Kolleginnen und Kollegen haben etwas zur geschichtli-
chen Entwicklung gesagt –, kein Kind der Anti-Hitler-
Koalition und keine Schlußfolgerung des Sieges über
den Faschismus. Das ist die UNO. Die NATO ist ein
Produkt des kalten Krieges, und das wirkt bis heute fort.


(Beifall bei der PDS)


Der kalte Krieg hat seine Spuren auch im Wertekatalog,
in den Wertvorstellungen, der NATO tief eingegraben.
Inwieweit die Ambitionen der NATO, europäische
Grundwerte, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüder-
lichkeit – dies hat einmal der Kanzler zitiert; ich füge
hinzu: Schwesterlichkeit –


(Dr. Christoph Zöpel [SPD]: Das ist in Ordnung!)


– danke –, für sich in Anspruch nehmen zu können, tat-
sächlich glaubwürdig sind, wenn es um Menschenrechte
geht, darf nicht nur im Hinblick auf den NATO-Partner
Türkei getrost hinterfragt werden. Zu oft haben auch
NATO-Länder – in der Logik der Blockkonfrontation –
brutale Diktatoren unterstützt, Vertreibung geduldet,
Folter akzeptiert und demokratisch gewählte Regierun-
gen gestürzt.

Lassen Sie mich – nicht nur mit Blick auf das Koso-
vo; aber dies gilt selbstverständlich auch dort – sagen:
Keine Ideologie, keine Interessen, keine Heilsmissionen
rechtfertigen Unterdrückung, Vertreibung und Terror.


(Beifall bei der PDS)

Unterdrückung, Vertreibung und Terror – wo auch im-
mer, ob in der Türkei oder im Kosovo – müssen auf Ab-
sage und Widerstand stoßen. Dies muß eindeutig und
schroff erfolgen.


(Beifall bei der PDS)

Menschenrechte aber werden nicht durch Krieg ver-

teidigt. Kein politisches Problem unserer Zeit wird
durch Krieg gelöst. Krieg vernichtet Menschenrechte;
Krieg verroht, befördert Aggressionen. Bomben sind
ebensowenig wie Vertreibung in der Lage, Menschen
dazu zu bringen, solidarisch miteinander zu leben. Jeder
Tag Krieg, so meine Furcht, bringt uns einer politischen
Lösung nicht näher, sondern führt weg von ihr.


(Beifall bei der PDS)

Deshalb noch einmal: Die Bombenangriffe müssen

sofort eingestellt und mit Hilfe der UNO Friedensge-
spräche in Gang gesetzt werden. Die serbischen Armee-
sicherheitskräfte und Sonderpolizeien müssen sofort zu-
rückgenommen, die UCK entwaffnet und eine – auch
von der UNO – gesicherte Rückkehr der Flüchtlinge
möglich gemacht werden.


(Beifall bei der PDS)

Dem Kosovo ist eine weitestgehende Autonomie einzu-
räumen. Mit Hilfe der OSZE und der UNO muß rasch
eine Balkan-Friedenskonferenz vorbereitet und umfas-
sende Aufbauhilfe geleistet werden. Europa muß sich
den Balkanländern öffnen, wenn wir Konflikte und Kri-
sen mindern wollen.


(Beifall bei der PDS)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir im

Zusammenhang mit den historischen Rückblicken noch
ein Wort zu einem aktuellen Problem: Der Bundesver-
teidigungsminister hat – nicht heute, sondern in voran-
gegangenen Reden und mit ihm ein Teil der Presse – das
Drama der Kosovo-Albaner mit dem der Juden im Drit-

Wolfgang Gehrcke






(A) (C)



(B) (D)


ten Reich verglichen. In diesem Zusammenhang ist von
KZs, von Selektion und Zwangsarbeit die Rede. Das
Bild provoziert geradezu den Vergleich zwischen
Auschwitz und Kosovo. Dieser Vergleich ist unange-
messen und falsch.

Lassen Sie mich an dieser Stelle den Fernsehjournali-
sten Gerd Ruge aus einem Interview mit dem „Tages-
spiegel“ zitieren, der davor warnt:

Die Gleichsetzung Holocaust und Kosovo kann
schließlich dazu führen, daß man fast alles machen
darf.

Im Kosovo werden die Albaner verfolgt und vertrie-
ben. Diese Tatsache allein ist schlimm genug; sie ist
eine europäische Tragödie. Der Kosovo ist aber nicht die
Rampe von Auschwitz, auf der die Verfolgten Europas
selektiert und ins KZ getrieben wurden.

Auschwitz steht für den industriellen Massenmord an
den europäischen Juden und an allen, die die Nazis als
Untermenschen bezeichneten, ein Massenmord, den die
damalige Regierung, die SS und die deutsche Industrie
– dafür steht im Zusammenhang mit Auschwitz nament-
lich die IG Farben – in Absprache und gemeinsam vor-
nahmen.

Der Vergleich zwischen dem Kosovo und Auschwitz
relativiert die Einmaligkeit dieses Menschheitsverbre-
chens, mehr noch: Der Vergleich nährt die Vorstellung,
die Geschichte wiederhole sich; nur diesmal steht
Deutschland auf der richtigen Seite, und die anderen
sind die Hitlers.

So verwandelt sich der jetzige Krieg gegen Jugosla-
wien unter der Hand zur Sühne für Auschwitz. Dieser
Krieg wird zur deutschen Wiedergutmachung für den
industriellen Massenmord am europäischen Judentum,
an Sinti, Roma und Slawen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403501100
Kollege Gehrcke,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403501200
Darf ich den Satz zu
Ende bringen? Dann gerne, Herr Kollege Meckel. – Mit
diesem Krieg würde endlich der Begriff „Deutschland
denken heißt Auschwitz denken“ aufgelöst, und danach
stünde Deutschland sauber da. Diese Umbewertung der
deutschen Geschichte wäre in der Tat eine geistig-
moralische Wende, viel tiefer als die, die Altkanzler
Kohl angestrebt und vorangebracht hat.


(Beifall bei der PDS)

Bitte sehr, Herr Kollege Meckel.


Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1403501300
Herr Kollege Gehrcke, kön-
nen Sie mir zustimmen, daß es vielleicht doch sehr pro-
blematisch ist, solche Reflexionen historischer Verglei-
che in einer Situation anzustellen, in der die Opfer im
Kosovo unter fürchterlichsten Bedingungen leben, ver-
trieben und umgebracht werden? Ich halte es in dieser
Debatte für zynisch, sich im Angesicht dieser Opfer eine

Reflexion darüber zu leisten, ob es so schlimm sei wie in
Auschwitz.


(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403501400
Herr Kollege Meckel,
das war nicht meine Reflexion. Ich habe gerade davor
gewarnt, solche historischen Vergleiche anzustellen,


(Beifall bei der PDS)

die nicht von mir und meiner Fraktion, sondern von den
Kollegen Ihrer Fraktion gemacht wurden.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zum
Schluß noch eine sehr persönliche Bemerkung auch für
die Kollegen meiner Fraktion machen: Viele in diesem
Hause haben ihre Zerrissenheit in dem schwierigen Ab-
wägungsprozeß deutlich gemacht. Ich kenne die Pro-
zentzahlen, die viele Kollegen von der SPD und den
Grünen genannt haben: 49 Prozent hier, 51 Prozent dort.

Ich nehme für mich persönlich und für die Kollegin-
nen und Kollegen meiner Fraktion in Anspruch, daß wir
uns den Abwägungsprozeß nicht leichter gemacht haben
als andere Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause.


(Beifall bei der PDS)

Wir träumen immer noch den großen Traum des Dr.
Martin Luther King von einer Welt, in der man solida-
risch leben kann.


(Vors i tz : Vizepräsident Rudolf Seiters)

Es war unser Gewissen und nichts anderes, was uns

nein zu diesem Krieg und nein zu dieser NATO-
Konzeption sagen ließ.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403501500
Ich gebe das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Michael Glos.


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1403501600
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren Parlamentarische
Staatssekretärinnen und Staatssekretäre! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich kann gut verstehen, daß die
Regierung den Saal verläßt, wenn die PDS spricht. Ich
muß aber daran erinnern, daß es eine Rede des Partners
in Mecklenburg-Vorpommern, eine Rede des Wunsch-
partners in Thüringen und eine Rede des Tolerierungs-
partners aus Sachsen-Anhalt war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu Beginn

dieser Woche hat der Deutsche Bundestag erstmals im
Reichtstag in Berlin getagt. Es war ein Tag der Freude.
Gemeinsam haben wir den Fall der Mauer und die
glücklich wiedererlangte Vereinigung unseres Vaterlan-
des gewürdigt. Die Einheit Deutschlands in Freiheit
wurde erst durch die NATO ermöglicht; daran müssen
wir an diesem Tag denken. Deswegen sind 50 Jahre
NATO fünf gute Jahrzehnte für Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wolfgang Gehrcke






(B)



(A) (C)



(D)


Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, steht an
erster Stelle nicht eine Schmähung der NATO, sondern
ein aufrichtiger und tiefempfundener Dank an unsere
Partner und Freunde: Danke, daß ihr auch in schwieriger
Zeit verläßlich an der Seite der Bundesrepublik
Deutschland gestanden seid und die Bündnisverpflich-
tungen in keiner Krise in Frage gestellt habt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sagen auch den Soldaten des Bündnisses danke,

die auf deutschem Boden stationiert und bereit waren,
notfalls mit ihrem Leben für unsere Freiheit einzustehen.
Danke sagen wir vor allen Dingen auch den amerikani-
schen Soldaten, die weitab von ihrer Heimat – teilweise
ohne ihre Familie – lange Zeit in unserem Land geblie-
ben sind. Sie sind heute eine wichtige transatlantische
Brücke. Der Umzug in das ferne Deutschland hat für sie
sehr oft Opfer bedeutet.

Ich weiß aus persönlicher Anschauung aus meinem
Wahlkreis, wo immer große amerikanische Garniso-
nen waren und heute noch sind, daß die amerikanischen
Soldaten geschätzte Mitbürger und Mitbürgerinnen wa-
ren und sind. Ich denke in dieser Stunde vor allen Din-
gen an die drei gekidnappten amerikanischen Soldaten,
die normalerweise in Schweinfurt in meinem Wahlkreis
stationiert sind, die jetzt aber in serbischer Gefangen-
schaft sind und deren Bilder wir im Fernsehen vorge-
führt bekommen haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nur unter
dem Schutzschild NATO war der Wiederaufstieg unse-
res Landes in Frieden und in Freiheit zum wirtschaftli-
chen und sozialen Wohlstand denkbar. Ich glaube, auch
daran sollten wir denken.

Ich erinnere mich sehr genau, daß die erste Demon-
stration meines Lebens, an der ich teilgenommen habe,
nicht gegen die NATO, sondern für die Amerikaner war,
die damals sehr viele Truppen aus Kitzingen nach Ku-
weit verlegt haben. Wir haben spontan eine Demonstra-
tion für diejenigen organisiert, die dort Freiheit und
Menschenwürde verteidigt haben. Der damalige SPD-
Oberbürgermeister Kitzingens hat sich geweigert mit-
zutun. Das möchte ich erwähnen; wenn wir schon bei
der Geschichte sind, müssen wir auch mit geschichtli-
chen Wahrheiten operieren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere
Mitgliedschaft bei der NATO war ein Meilenstein für
unsere Souveränität nach der Katastrophe des zweiten
Weltkrieges. Wir feiern den 50. Jahrestag der NATO in
einer schwierigen Zeit. Wir müssen uns daran erinnern,
daß Bündnisse keine Schönwetterveranstaltungen sind.
Unsere Bündnispartner haben die Bündnisverpflich-
tungen in der Zeit des kalten Krieges eingehalten. Des-
wegen muß auch das geeinte Deutschland zu seinen
Bündnisverpflichtungen stehen. Wir haben inzwischen
als ganz normales Land gleichberechtigt und gleichge-
wichtig Verantwortung für das Bündnis übernommen.
Das ist heute im Deutschen Bundestag – Gott sei Dank –
Konsens zwischen allen demokratischen Parteien.

Wir müssen auch daran erinnern, daß wir beim Ein-
satz unserer Soldaten im Kosovo Bündnisverpflichtun-

gen übernommen haben. Es ist gut, daß alle demokrati-
schen Parteien – die PDS lasse ich aus gutem Grund
weg –


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das hätte mich auch gewundert, Herr Glos, wenn Sie uns einbezogen hätten!)


hinter unseren Soldaten stehen. Ob dies allerdings noch
bei allen Fußtruppen der Regierungsparteien so ist, das
weiß ich nicht.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist die Frage!)


Zu Äußerungen zum Beispiel aus Amerika heißt es,
das seien Übersetzungsfehler. Aber auch, wenn ich mir
Äußerungen von Parlamentarischen Staatssekretären
und Staatssekretärinnen anhöre, muß ich sagen – ohne
das überbewerten zu wollen –, daß die Unterstützung
unserer Soldaten inzwischen leider stark in Zweifel ge-
zogen worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist schon vom Kollegen Gerhardt angesprochen

worden: Unsere Soldaten haben Anspruch darauf, daß
sie nicht in einer rechtlichen Grauzone operieren. Es gibt
derzeit – jeder kann es nachverfolgen – sehr viele Dis-
kussionen darüber, in welcher Form wir uns in Albanien
mit unseren Soldaten stärker beteiligen sollen und, wie
ich meine, auch müssen, insbesondere zur Abwendung
humanitärer Katastrophen.

Ich habe mich gewundert, daß wir heute im Deut-
schen Bundestag keinen Antrag auf den Tisch bekom-
men haben, der die Dinge eindeutig und genau regelt.
Der wäre von uns unterstützt worden. Da frage ich mich
schon, ob nicht auch deswegen auf den Antrag verzich-
tet worden ist – man kann das gerne anschließend rich-
tigstellen –, weil man sich der Gefolgschaft der eigenen
Fußtruppen nicht mehr sicher gewesen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Bündnisverpflichtung Deutschlands ist ein hohes

Gut. Sie ist das Fundament deutscher Außenpolitik. Ich
freue mich, daß wir einen zumindest verbal lernfähigen
Außenminister haben. Deutsche Sonderwege darf es
nach der Lehre der Geschichte nicht mehr geben. Das
sehen Gott sei Dank auch die Bürgerinnen und Bürger
unseres Landes so. Auf die Frage, ob Deutschland wei-
terhin der NATO angehören soll, antworteten jüngst
82 Prozent uneingeschränkt mit Ja. Das halte ich für er-
freulich. Vor allem die Jugend sagt ja zur NATO. Die
Zustimmung der 18- bis 24jährigen – gerade die jungen
Männer dieses Alters müßten notfalls dafür einstehen –
liegt bei 90 Prozent. Auch das ist, so glaube ich, ein
Grund zur Freude. Das läßt hoffen, daß wir als
Deutschland im nächsten Jahrhundert einen besseren
Weg gehen, als das in diesem Jahrhundert der Fall war,
daß wir auf der richtigen Seite mit dabei sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Für uns von der CSU war die NATO zu allen Zeiten

die Überlebensversicherung für Frieden und Freiheit.
Zentrale Fragen waren im Bundestag oft umstritten; ich

Michael Glos






(A) (C)



(B) (D)


will das hier nicht noch einmal alles aufzählen. Aber es
gehört nun einmal zur geschichtlichen Wahrheit, Herr
Bundeskanzler, daß Ihre Partei gegen die Westintegra-
tion und gegen die Wiederbewaffnung unseres Landes
gewesen ist. Die heutigen Regierungsparteien haben ve-
hement den historischen NATO-Doppelbeschluß be-
kämpft und in Kauf genommen, daß ihr eigener Bundes-
kanzler gehen mußte.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Na, na, na!)

– War es anders?


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So war es doch!)


Dann können Sie es anschließend vielleicht erklären.
Ich freue mich jedenfalls darüber, daß sich diese

Überzeugungen geändert haben. Zumindest den führen-
den Politikerinnen und Politikern traue ich dies zu. Ich
traue denen, die vorne sitzen, auch zu, daß sie die Angst,
die sie vor den eigenen Reihen haben, ein Stück über-
winden. Gerade deswegen hätte ich mir gewünscht, daß
wir hier im Deutschen Bundestag über das vorhin Ange-
sprochene abstimmen. Ich könnte jetzt noch einmal die
Mittel und Methoden aufzählen, mit denen die NATO
früher bekämpft worden ist. Das führt uns letztendlich
nicht weiter. Wir als Christen wissen: Im Himmel ist
mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, als über
99 Gerechte.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Bundeskanzler Gerhard Schröder: Daß ich von Ihnen noch einmal Absolution erhalte!)


– Wenn Sie es so sehen, dann verzichte ich darauf, vor-
zulesen – ich habe die „Frankfurter Allgemeine“ vom
5. März 1990 dabei –, was Lafontaine dazu gesagt hat.


(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Schade!)

Lassen wir es weg, daß Sie, Herr Schröder, ihm damals
beigepflichtet haben. Letztendlich geht es immer um die
Zukunft. Wir müssen die Zukunft aus der Erfahrung der
Vergangenheit heraus bewältigen.

Ich möchte an dieser Stelle zweifach gratulieren: Ich
gratuliere Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl zur Aus-
zeichnung in den Vereinigten Staaten zum „Mann des
Jahrzehntes“.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Ich gratuliere dazu, daß er der einzige Amerikaner ist,
der die Freiheitsmedaille – –


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Noch ist er Deutscher! – Gernot Erler [SPD]: Hat er schon die doppelte Staatsbürgerschaft?)


– Es ist gut, daß wir wachsame Parlamentarierinnen und
Parlamentarier haben: Er ist der einzige Nichtamerika-
ner – wenn ich das „Nicht“ verschluckt habe, verzeihen
Sie es mir bitte –, der die Freiheitsmedaille erhalten
hat. Ich finde, das ist gleichzeitig eine Auszeichnung für
Deutschland, daß wir zu unseren Zeiten – ich hoffe, das

bleibt so – immer ein kalkulierbarer Partner gewesen
sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich gratuliere auch Theo Waigel, der heute seinen
60. Geburtstag feiert. Er gehört zu den Staatsmännern,
die es ermöglicht haben, daß Helmut Kohl diese Politik
hat gestalten können. Er stand an seiner Seite, war im
Kaukasus dabei und hat entscheidende Weichenstellun-
gen unseres Landes, vor allen Dingen die festere Inte-
gration in Europa durch die Einführung des Euro, gelei-
stet. Ich bedanke mich selbstverständlich auch bei Herrn
Kinkel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, zurück zu diesem
elenden Krieg, dessen Zeugen wir ständig sind. Das
Bündnis steht heute in der Bewährungsprobe, auch als
Wertegemeinschaft. Milosevic führt Krieg gegen das
eigene Volk, und Milosevic darf diesen Krieg nicht ge-
winnen. Die Bilder der letzten Wochen führen uns vor
Augen, wie grausam das Verbrechen der Vertreibung
ist.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das stimmt! Ja!)


Bei vielen Vertriebenen in unserem Land werden wieder
Erinnerungen an die Schrecken, die man selbst durchlebt
hat, wach. Deutschland steht hier ohne Zweifel an der
Seite der Bündnispartner, und die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion hat die Bundesregierung in dieser Frage
unterstützt. Unser gemeinsames Ziel muß es natürlich
sein, eine weitere Eskalation dieses Krieges mit ganzer
Kraft zu vermeiden.

Es gehört zu den bitteren Realitäten dieser Welt, daß
sich Gewalt oft nur mit Gegengewalt stoppen läßt. Al-
lerdings sind nicht alle Krisen immer nur gewaltsam zu
bewältigen. Deswegen sollten wir auch nach friedlichen
Lösungen suchen und um friedliche Lösungen ringen.
Aber das muß dann in der Weise geschehen, daß die
Vorschläge dort vertreten werden, wo sie vertreten wer-
den können. Ich wünsche dem Außenminister mehr Er-
folg, als er bis jetzt gehabt hat. Es hat keinen Sinn, Vor-
schläge zu verkünden, von denen man den Eindruck hat,
sie würden manchmal nur „just for show“ für die Presse
oder aber auch zur Beruhigung der eigenen Partei ge-
macht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich glaube, wir sollten an dieser Stelle auch einmal
daran denken, daß sich viele Menschen bei uns im Land
Sorgen machen – auch auf Grund der geschichtlichen
Dimensionen, die gerade auf dem Balkan immer mit-
spielen. Deswegen finde ich es gut, wenn das Verhältnis
zu Rußland wieder gepflegt wird, wenn man sich nicht
chauvinistisch benimmt, wenn man dort vor Ort ist, und
wenn man nicht mehr sagt: Schluß mit dem Scheckbuch;

Michael Glos






(B)



(A) (C)



(D)


wir wollen nicht mehr einfach nur zahlen wie Kohl. –
Was weiß ich, wie die Sprüche alle gelautet haben.

Ich begrüße es, daß Stoiber dort war und mit den rus-
sischen Partnern gesprochen hat. Es ist sicher auch gut,
wenn Herr Tschernomyrdin sich jetzt auch bemüht, die-
ses slawische Brudervolk – es handelt sich nicht um die
Menschen dort; es handelt sich in erster Linie um Herrn
Milosevic – davon zu überzeugen, daß es so, wie es jetzt
läuft, nicht weitergehen kann.

Die Situation, in der wir jetzt sind, ist natürlich auch
eine Nagelprobe für die Regierungsfähigkeit nicht nur
der Sozialdemokraten. Sie, Herr Bundeskanzler, sind ja
in dieser Beziehung – um ein Wort zu gebrauchen, das
derzeit umgeht – ein „Scheinselbständiger“, und zwar
nicht im sozialversicherungsrechtlichen Sinne.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vielmehr meine ich damit, daß Sie nur so weit gehen
können, wie Frau Radcke, Frau Röstel, Frau Altmann,
Herr Trittin – wie sie alle heißen – Sie letztendlich ge-
hen lassen. Ich kann Ihnen nur wünschen, daß Sie Ihre
Handlungsfähigkeit dort wiedergewinnen. Wir können
Ihnen nicht alle Probleme abnehmen und für Sie nicht
alle Probleme lösen. Gerade unsere Soldaten haben An-
spruch darauf, daß das ganze deutsche Parlament – las-
sen wir einmal die Kommunisten weg – hinter ihnen
steht, insbesondere auch die Kolleginnen und Kollegen
aus den Regierungsparteien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich möchte zum Schluß noch eine Bitte äußern, Herr

Bundeskanzler. Wir sollten unsere Soldaten gerade in
dieser Zeit nachhaltig vor Verunglimpfungen schützen.
Die politische Konjunktur – Volker Rühe hat ja vorhin
ein Beispiel dafür gebracht – kann ja wieder einmal um-
schlagen. Deswegen sollten wir das, was die CDU/CSU
und die F.D.P. im letzten Bundestag eingebracht haben
– das ist leider nicht zu Ende beraten worden; es ist der
Diskontinuität zum Opfer gefallen –, nämlich Bestim-
mungen für den Ehrschutz der Soldaten, gemeinsam wie-
der einbringen. Das ist schon im Ausschuß beraten wor-
den. Das kann man schnell und direkt beschließen, und
man hat mehr Frieden mit der Gesellschaft als durch eine
solch komplizierte Geschichte wie die, ein neues Staats-
bürgerschaftsrecht im Hauruckverfahren zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir Europäer müssen – das ist heute schon gesagt

worden; insbesondere auch vom Kollegen Rühe und
vom Kollegen Gerhardt; es hat keinen Widerspruch ge-
geben; die Regierung ist der gleichen Meinung – sicher
in Zukunft eine größere, eine stärkere Rolle in der
NATO übernehmen. Wir sind dazu bereit. Wir sind zu
allen Zeiten dazu bereit gewesen und werden auch in
Zukunft bereit sein, die Grundsätze, die der NATO zu-
grunde liegen und die die Demokratien Europas als
Stabilitätsinstrumente einsetzen, zu schützen und zu
verteidigen. Und wenn wir Bündnispartner in der NATO
bleiben, haben wir eine gute Perspektive für das nächste
Jahrtausend. Nützen wir sie!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403501700
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Gernot Erler.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1403501800
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Runde Geburtstage – das zeigt
diese Debatte – verleiten zu Rückblicken. Manch einen
verleiten sie auch zu einem nochmaligen Schlagen ver-
gangener Schlachten, wie man an den Beiträgen der
Kollegen Rühe bis Glos in bezug auf Wiederbewaffnung
und NATO-Doppelbeschluß sehen konnte.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie mögen das nicht gern hören, das verstehe ich schon! Sagen Sie doch mal, was Sie damals gemacht haben!)


Ich möchte hier einen Aspekt ansprechen, Herr Glos, der
uns vielleicht auch in der Erinnerung etwas näher zu-
sammenbringt.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie sind doch auch einer von den linken Vögeln! Wo haben Sie denn gestanden?)


In Deutschland muß ja der Blick auf die besondere Be-
deutung der NATO-Mitgliedschaft für den deutschen
Weg in die westliche Staatengemeinschaft fallen.

Elf Jahre nach dem Krieg holte der Eintritt in die
NATO die Bundesrepublik von der Strafbank weg,
machte sie vom Angeklagten zum Partner. Aber da hatte
der Kalte Krieg schon begonnen. Die DDR wurde Part-
ner des anderen Bündnisses, das wir „Warschauer
Pakt“ nannten. Und für 33 Jahre lief die waffenstarren-
de Systemgrenze mitten durch Deutschland. Mauer und
Stacheldraht wurden zum Synonym des deutschen
Schicksals in der Nachkriegszeit, für viele einzelne
Menschen wurden sie zum Verhängnis.

Ich behaupte: Für kein anderes NATO-Land hatte die
Bündnismitgliedschaft eine solche prägende Bedeutung
wie für Deutschland. Man kann sagen: Unsere Integrati-
on in die westliche Allianz war für die ganze deutsche
Nachkriegsgeschichte konstitutiv und existentiell: kon-
stitutiv im Sinne unserer Rückkehr in eine westliche In-
teressen- und Wertegemeinschaft nach den Verbrechen
der Nazi-Zeit und der Ausgrenzung als Folge davon,
existentiell als einzige Quelle von Sicherheit in unserer
Position als Frontstaat an der Grenze zweier antagonisti-
scher Systeme.

Weil wir über die NATO Reintegration gewonnen
haben, besteht bei uns ein besonderes Verständnis für
die Transformationsstaaten in Ost- und in Südosteuropa,
die heute ihren Wunsch und ihr Drängen nach Mitglied-
schaft in der Allianz als Chance zur Integration in Euro-
pa verstehen. Unsere eigene geschichtliche Erfahrung
auf beiden Seiten der heute verschwundenen System-
grenze macht uns sensibel, gibt uns eine besondere Ver-
antwortung, wenn es um den Erweiterungsprozeß der
NATO geht.

Als das Bündnis im Juli 1997 hierzu Entscheidungen
zu treffen hatte, wurde die SPD-Bundestagsfraktion die-
ser Verantwortung gerecht, indem sie eine Entschlie-
ßung vorlegte, die drei Stichworte hervorhob: Vermei-

Michael Glos






(A) (C)



(B) (D)


dung neuer Grenzen in Europa, Partnerschaft mit Ruß-
land und Fortsetzung des Abrüstungsprozesses. Diese
Positionsbestimmung hat bis heute nichts an Aktualität
verloren.


(Beifall bei der SPD)

Bei dem Erweiterungsprozeß des Bündnisses, der

jetzt mit der Aufnahme von drei neuen Mitgliedern be-
gonnen hat, bleibt die Vermeidung neuer Grenzlinien
quer durch Europa die vordringlichste Aufgabe. Wir
unterstützen insofern das Konzept, das wir im Gipfel-
Dokument von Washington erwarten, nachdem die Alli-
anz für die neuen Mitglieder offenbleibt, aber sich jetzt
nicht bereits auf eine zweite oder dritte Runde festlegt.
Diese Behutsamkeit ist klug. Sie vermeidet Rückstel-
lungseffekte und Ausgrenzungsgefühle. Wir gewinnen
damit Zeit. Diese müssen wir aktiv nutzen, um ein Ge-
samtkonzept für Sicherheit und Stabilität in Europa
zu entwickeln, in das der Erweiterungsprozeß der Alli-
anz eingebaut ist, und Strategien, wie an den Außen-
grenzen des Bündnisses als Integrationsraum trennende
Grenzen zu vermeiden sind.

Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Zwischen Polen
und der Ukraine läuft heute die Grenze zwischen NATO
und Nicht-NATO. Morgen wird dort die Grenze zwi-
schen EU und Nicht-EU laufen, und damit werden in
Polen die Regeln des Schengener Abkommens gelten.
Die Grenze zwischen Polen und der Ukraine ist heute
aber auch eine Brücke für den Austausch von Menschen
und Waren, von grenzüberschreitenden Arbeitsverhält-
nissen, aber auch von politischen Ideen und von Kultu-
ren. Diese Grenze – und es gibt viele ähnliche Grenzen
in Osteuropa und in Südosteuropa – darf nicht herme-
tisch werden. Die Brückenfunktion muß erhalten blei-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Behutsamkeit des Erweiterungsprozesses gibt uns
und den zahlreichen neuen Kandidaten auch die Chance,
von jetzt zu sammelnden Erfahrungen zu profitieren.

Vor wenigen Wochen haben wir Polen, Tschechien
und Ungarn in das Bündnis aufgenommen. Wir hätten
uns gewünscht, daß unsere neuen Partner nicht als erstes
in die bisher schwerste Bewährungsprobe des Bündnis-
ses geraten, die sich mit dem Namen Kosovo verbindet.
Ich möchte hier unsere Anerkennung und unseren Dank
dafür zum Ausdruck bringen, wie die drei neuen Partner
diese Bewährungsprobe im Moment bestehen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Namentlich möchte ich Ungarn erwähnen, das einzi-
ge NATO-Land mit einer direkten Grenze zur Bundes-
republik Jugoslawien, ein Land, das sich Sorgen machen
muß um 350 000 Landsleute jenseits der Grenze, in der
Vojvodina, wo heute Bomben einschlagen. Wieviel nä-
her, wieviel existentieller ist der furchtbare Konflikt in
diesem Donauland, dieser Konflikt, der doch schon bei
uns zahlreiche Risse in der öffentlichen Meinung, in den
Parteien, ja, in den einzelnen Menschen selbst erzeugt!
Wir haben eine Bringschuld an Solidarität gerade ge-

genüber diesem Land, das eine so positive Rolle – dies
ist heute vom Bundeskanzler noch einmal gewürdigt
worden – bei dem deutschen Einigungsprozeß gespielt
hat, nun unversehens Nachbar eines schrecklichen Ge-
schehens wird und die Verantwortung doch voll trägt.
Ich möchte diese Solidarität – ich hoffe, im Namen des
ganzen Hauses – hier im Deutschen Bundestag zum
Ausdruck bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Volker Rühe [CDU/CSU] und des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.])


Bezüglich des Kosovo-Konflikts haben wir unseren
Respekt noch für einen anderen Nachbarn im Osten aus-
zudrücken – das ist auch in der Debatte in der letzten
Woche geschehen –, nämlich für die Russische Födera-
tion. Wir wissen, Moskau lehnt die Luftangriffe auf
Serbien ab, verhält sich jedoch besonnen und macht
politische Vermittlungsversuche, auf die sich viele
Hoffnungen gründen. Das ist nicht selbstverständlich;
denn wir kennen Rußlands Probleme hinsichtlich der
Osterweiterung der NATO.

Zu den guten Erfahrungen, die wir in diesen Tagen
machen, zählen wir den Erfolg der NATO-Rußland-
Grundakte vom 27. Mai 1997 und ihre Umsetzung.
Gerhard Schröder hat es schon gesagt: Der ständige
NATO-Rußland-Rat hat sich bewährt. Ich erinnere an
die letzte Irak-Krise. In einer Zeit, wo Moskau die Bot-
schafter aus Washington und London abzog, ist die All-
tagsarbeit in dem ständigen NATO-Rußland-Rat fortge-
setzt worden. Das ist ein guter Weg. Ich möchte das in
diesem Satz zusammenfassen: Zur Zukunft der NATO
gehört unverzichtbar die Partnerschaft mit Rußland und
deren weiterer Ausbau.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das erwarten wir auch von den Dokumenten des bevor-
stehenden NATO-Gipfels.

Meine Kolleginnen und Kollegen, in der Grundakte
wurden auch Zusagen zur Abrüstung gemacht, nament-
lich zur konventionellen Abrüstung, zur Anpassung
des KSE-Vertrages. Das war ein schwieriger Prozeß.
Ich bin sehr froh, daß es gelungen ist, daß trotz dieser
Schwierigkeiten noch rechtzeitig vor dem NATO-Gipfel
ein Kompromiß zustande kam, ein Erfolg der KSE.


(Beifall bei der SPD)

Das war möglich auf der Basis von konstruktiven deut-
schen Beiträgen.

Ich möchte hier einen Namen nennen. In diesen Ta-
gen verabschiedet sich der langjährige deutsche Chef-
abrüster, Botschafter Dr. Rüdiger Hartmann, aus seinem
politischen Leben im Dienste der Bundesrepublik. Sein
Name ist eng mit diesem Erfolg verbunden. Ich möchte
ihm von dieser Stelle aus herzlich für seine Arbeit dan-
ken.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Gernot Erler






(B)



(A) (C)



(D)


Der Abrüstungsprozeß muß auf anderen Gebieten
weitergehen. Es ist trotz mehrerer großer Abrüstungs-
verträge noch nicht überall der Weg begonnen worden,
sie auch umzusetzen. Es gibt noch immer viel zu viele
Atomwaffen auf diesem Planeten. Es ist noch nicht ge-
lungen, ihre weitere Verbreitung mit allen damit ver-
bundenen Gefahren aufzuhalten.

Ob Nonproliferation, wie es genannt wird, eine
Chance bekommt, hängt auch davon ab, wie überzeu-
gend die offiziellen Atomstaaten ihren Abrüstungsver-
pflichtungen nachkommen und welche Rolle das west-
liche Bündnis den Atomwaffen zumißt. Hier ist die
NATO-Strategie gefragt.

Es gibt bei uns eine Sorge: Wenn wir sagen, wir
brauchen Atomwaffen auch, um Angriffe mit nicht-
atomaren Waffen abzuwehren, dann stellt sich die Frage,
wie wir anderen Ländern erklären und sie davon über-
zeugen können, daß sie keine Atomwaffen brauchen.
Hier gibt es ein Überzeugungsproblem im Hinblick auf
das Ziel der Nichtverbreitung. Dieses Problem müssen
wir lösen. Deshalb haben wir Bedarf an Diskussionen
über die künftige Strategie der Allianz angemeldet.

Es ist erfreulich, daß zu diesem Thema jetzt sehr vor-
sichtige Formulierungen in das Strategiepapier der Alli-
anz aufgenommen wurden. Es ist noch erfreulicher, daß
in dem Gipfeldokument – wir begrüßen das – ein Auf-
trag zur Prüfung genau des Aspekts, der in der Öffent-
lichkeit „first use“ genannt wird, enthalten sein wird.
Das ist wichtig; denn wenn die Strategie der Nichtver-
breitung scheitert, dann werden wir vor neuen
Rüstungswettläufen stehen. Diese wollen wir alle nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zusammenfassend möchte ich hier erklären: Wir sind
uns der Bedeutung der NATO für den politischen Weg
Deutschlands nach dem Krieg und für seine europäische
Reintegration bewußt. Wir sind aus inhaltlicher Über-
zeugung verläßliche Partner im Bündnis. Wir sehen eine
gute Zukunft für das westliche Bündnis, einschließlich
einer breiten öffentlichen Akzeptanz, wenn es gelingt,
die von mir genannten drei Rahmenbedingungen und
Begleitstrategien zu stärken. Ich fasse sie zusammen:
Sie heißen Einbindung in ein europäisches Gesamtkon-
zept von Sicherheit und Stabilität, mit dem neue Grenz-
linien quer durch Europa vermieden werden und mit
dem unsere Fähigkeit zur präventiven Friedenspolitik
und zur Konfliktprävention verstärkt wird.

Der zweite Aspekt betrifft den Ausbau der Partner-
schaft mit der Russischen Föderation und auch mit der
Ukraine.

Der dritte Aspekt betrifft schließlich die Fortsetzung
der Abrüstungspolitik mit neuen Anstrengungen und
Initiativen, mit dem Ziel der Nichtverbreitung von
Atomwaffen im Zentrum.

Wir freuen uns, daß diese Elemente in den Formulie-
rungen der neuen NATO-Strategie und in anderen Gip-
feldokumenten in angemessener Weise zum Ausdruck
kommen werden. Das wissen wir heute schon. Das ist
ein Erfolg von stiller, aber engagierter Diplomatie zur

Vorbereitung des Gipfels. Auch hier gab es zahlreiche
engagierte deutsche Beiträge. Auch für diese Arbeit ha-
ben wir hier zu danken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403501900
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Helmut Lippelt, Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403502000

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Die Anträge, über die wir heute eigentlich diskutie-
ren wollen, sind Wochen vor dem 24. März 1999 verfaßt
worden. Aus dem ursprünglich beabsichtigten Jubi-
läumsgipfel ist jetzt ein Arbeitstreffen geworden. Sätze
wie die von „der NATO als dem erfolgreichsten Sicher-
heits- und Verteidigungsbündnis der Geschichte“ blei-
ben uns heute leicht im Munde stecken. Denn wir wis-
sen, daß sich die NATO in ihrer tiefsten Krise befindet,
wenn ich auch nicht so weit wie der Kollege Gehrcke
gehen möchte, der jetzt schon den Anfang ihres Endes
eingeleitet sieht.

Die NATO befindet sich in dieser Krise, weil sich
zwischen ihren Mitteln und Möglichkeiten einerseits
und den politischen Zielen andererseits eine wachsende
Inkongruenz entwickelt hat, wie es der ehemalige EU-
Bosnien-Beauftragte Carl Bildt formulierte: daß ihre
hochentwickelte Technologie der Präzisionsbomben und
-raketen eben nicht die mordende und brandschatzende
Soldateska treffen konnte, ja nicht treffen kann und sie
in ihrem Geschäft sogar noch vorantreibt.

Die NATO befindet sich in einer Krise, weil sich die
Selbstdefinition der NATO als einer Wertegemeinschaft
immer schwieriger in geeignete Mittel übersetzen läßt
und weil sich die Abwehr des Völkermords im Koso-
vo, von deren Notwendigkeit wir doch alle überzeugt
sind, eben nicht in der Form des 3. September 1939
vollzieht, als England und Frankreich dem expansiven
Rassenwahn eines deutschen Diktators ein entschiedenes
Halt entgegenriefen und vom Appeasement zum Krieg
übergingen.

Heute übertragen wir der NATO 14 Flugzeuge und
delegieren die Kriegführung an einen Apparat NATO.
Eine solche Delegation führt dann zu der perversen
Trennung von Krieg und Geschäft, wie wir sie in der
Frage der Erdöllieferungen gerade erlebt haben. Allen
Vorstellungen von Alternativen zur Kriegführung wird
hohngesprochen; die Glaubwürdigkeit der NATO steht
auch an diesem Punkte ganz entschieden in Frage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es entspricht – das ist absolut richtig – unserem Ver-

fassungsverständnis von parlamentarischer Kontrolle
und Verantwortung, daß wir Auftrag und Mandat genau
definieren und limitieren. Dennoch müssen wir zur
Kenntnis nehmen, daß unser Einfluß auf die Art und
Weise der Kriegführung begrenzt und in Relation zu
den der NATO übertragenen Mitteln, nämlich den
14 Flugzeugen, zu sehen ist. Unserer historischen Erfah-

Gernot Erler






(A) (C)



(B) (D)


rung, die wir eigentlich einzubringen hätten und die be-
sagt, daß ein Bombenkrieg auch kontraproduktiv sein
kann und den Graben zwischen Diktator und Volk nicht
aufreißt, sondern überbrückt, können wir nicht in der
notwendigen Weise Geltung verschaffen. Wir sind der
Eskalation der Kriegführung ausgeliefert. Vorstellungen
– ich trage sie hier als meine ganz persönliche Meinung
vor – von einer Kombination von Festigkeit in den Zie-
len, verbunden mit einer Konzentration der Kriegfüh-
rung im Kosovo, die alles tut, um die Flüchtlinge dort zu
retten, und einer Deeskalation der Kriegführung gegen-
über dem übrigen Serbien, die sich als oberstes Ziel set-
zen würde, die Loyalität zum Diktator aufzubrechen,
haben wenig Chancen.

Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen zur Krieg-
führung der NATO nun noch einige Bemerkungen zu
den inhaltlichen Fragen, die in Washington zur Verab-
schiedung anstehen:

Erstens. Klar dürfte doch wohl sein, daß die Vorstel-
lungen, die um den Begriff einer neuen NATO als der
Organisation des Krisenmanagements schlechthin krei-
sen, hinfällig geworden sind. Die NATO sollte bleiben,
was sie in ihrer Kernfunktion ist: ein atlantisch-
europäisches Sicherheits- und Stabilitätsbündnis.
Wer in diesen Wochen Gelegenheit zu Gesprächen mit
Politikern außerhalb dieses Raums hatte, der weiß, daß
das Mißtrauen gegenüber der NATO als einem Herr-
schaftsinstrument der hochindustrialisierten Länder des
Westens gewachsen ist – trotz aller Verständigungs-
möglichkeiten in bezug auf den Kosovo-Konflikt.

Zweitens. Der Verzicht auf die UN-Mandatierung
bei der NATO-Intervention muß eine absolute Ausnah-
me bleiben. Er bedarf der Heilung, und zwar von beiden
Seiten: auch von seiten des UN-Sicherheitsrats, in dem
die Ausübung eines Vetos stärker an die Prinzipien der
internationalen Gemeinschaft zu binden und von den
nationalen Interessen eines einzelnen Sicherheitsrats-
mitglieds zu lösen ist. Die Bundesregierung ist mit der
verstärkten Einbeziehung Rußlands und des UN-
Generalsekretärs in diese Richtung vorangegangen. Wir
unterstützen sie darin und ermutigen sie, in diesem Sin-
ne fortzufahren.

Drittens. Die sich wandelnde NATO – ich sage das
im Gegensatz zu dem vorhin über die sogenannte neue
NATO Gesagten –, die NATO der Kooperation in ihren
vielfältigen Formen von NATO-Rußland-Rat, NATO-
Ukraine-Charta und Partnership for Peace, ist in jeder
Weise auf diesem Wege zu bestärken. Das bedeutet: Die
Öffnung der NATO muß in steter Wechselwirkung mit
der Vertiefung der Einbindung Rußlands stehen. Die
Risiken der gegenwärtigen Situation haben eben auch
damit zu tun, daß die NATO, die im Kosovo zugunsten
der Menschenrechte interveniert, in den Augen der rus-
sischen Elite eben die NATO der Osterweiterung ist.
Diese Wunden sind noch lange nicht verheilt. Um so
höher ist es der Bundesregierung als Verdienst anzu-
rechnen, daß sie sich in Kontinuität zur Politik des frü-
heren Bundeskanzlers um die vertiefte Einbindung
Rußlands bemüht.

Viertens. Die NATO muß wieder verstärkt die NATO
der Abrüstung, auch der nuklearen Abrüstung und des

KSE-Prozesses werden. Auch wenn die Diskussion zu
„first use“ auf dem Washingtoner Gipfel wohl keine
Rolle spielen wird, so erwarten wir uns doch den Ar-
beitsauftrag für ihre anschließende Fortsetzung.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei
all dem soll nicht vergessen werden, daß dies der erste
Gipfel der 19 mit voller Partizipation unserer direkten
östlichen Nachbarn ist. Auch und gerade zu der Kosovo-
Problematik haben sie viel zu sagen. Dies soll und muß
ein Signal auch für die Völker des ehemaligen Jugosla-
wien sein – nicht im Sinne einer Zukunft in der NATO,
wohl aber im Sinne einer Zukunft in Europa, die auch
einem demokratischen Kosovo in einem demokratischen
Serbien offensteht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403502100
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Markus Meckel.


Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1403502200
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Zum 50. Jahrestag ihrer Gründung ist
die NATO in aller Munde, aber nicht wegen ihrer Ver-
dienste und nicht wegen dieses Jubiläums, sondern we-
gen des Krieges im Kosovo, wo die NATO versucht,
dem Morden und den Vertreibungen durch das Milose-
vic-Regime Einhalt zu gebieten und ein Ende zu setzen.

Vor knapp zehn Jahren, am Ende des Kalten Krieges,
glaubten viele noch, die NATO könne sich in naher Zu-
kunft auflösen und in einem System gemeinsamer
Sicherheit in Europa aufgehen. Auch ich hatte anfangs
noch diese Hoffnung. Heute jedoch ist deutlich: Außer
der NATO mit ihren militärischen Fähigkeiten gibt es
niemanden in Europa, der nach dem Scheitern aller
politischen Bemühungen fähig wäre, Milosevic in den
Arm zu fallen und sein verbrecherisches Treiben zu be-
enden.

Hätten wir nicht die NATO, wir müßten sie erfinden.
Ich glaube nicht, daß die NATO heute in einer Krise
steckt. Sie steht vielmehr vor großen und schwierigen
Herausforderungen, die heute bewältigt werden müssen.
Wir brauchen die NATO nicht etwa – das unterstellen
ihr heute noch viele – als ein Instrument zur Durchset-
zung hegemonialer Interessen der reichen Länder des
Nordens, sondern wir brauchen sie als Stabilitätsanker in
Europa zur Verteidigung der westlichen, also der demo-
kratischen Staatengemeinschaft sowie zum Schutz vor
Mord und Vertreibung, die wir nach Bosnien nun im
Kosovo wieder in schrecklichster Weise erleben müssen.
Wir merken auch, wie schwer nach dem Scheitern der
politischen Bemühungen selbst der militärische Schutz
dieser Menschen ist.

Durch die kollektive Verteidigungsbereitschaft der
NATO und die Integrationsleistung der Europäischen
Gemeinschaft konnte in der Nachkriegszeit in Westeu-
ropa eine Zone der Sicherheit und des Wohlstandes
geschaffen werden. Damit konnte ein neues Kapitel in
der europäischen Geschichte aufgeschlagen werden. Da-
zu gehört auch – dieser Punkt ist ganz wichtig für uns –

Dr. Helmut Lippelt






(B)



(A) (C)



(D)


die Schaffung einer stabilen Demokratie – zunächst
nicht in ganz Deutschland, sondern nur im Westen
Deutschlands. Nach 1990 wurde die Demokratie dann
auch im Osten unter den Bedingungen möglich, die wir
alle kennen.

Angesichts der Bedrohung durch die kommunisti-
schen Diktaturen des Ostens hat die NATO durch die
Fähigkeit kollektiver Verteidigung diese Integrations-
leistung erbracht, die gerade der Europäischen Union –
dies ist der eigentlich zentral wichtige Punkt für die
Gesellschaften – die Integration der Staaten und ihrer
Gesellschaften ermöglicht hat.

Der Antrag der Koalition, der Ihnen, meine Damen
und Herren, heute vorliegt, würdigt die Leistungen der
NATO in ihrer Geschichte und beschreibt Erwartungen,
wie die NATO den Herausforderungen europäischer
Sicherheit begegnen soll. Sie werden es vielleicht für
bemerkenswert halten, daß diese positive Würdigung der
NATO und ihrer Entwicklung von einer Koalition vor-
gelegt wird, deren Parteien in der Vergangenheit in be-
stimmten Phasen ein durchaus kritisches Verhältnis zur
NATO und ihrer Strategie hatten. Auch ich selbst – in
der DDR aufgewachsen – hatte, obwohl ich nun wirklich
nicht ein Parteigänger der SED und ihrer Helfershelfer
war, in den 80er Jahren ein kritisches Verhältnis zur
NATO. In welchen Positionen ich falsch lag oder viel-
leicht auch nicht, kann an dieser Stelle nicht verhandelt
werden; das gehört ins historische Seminar.

Die Würdigung der NATO, an der mir sehr liegt, soll
sich heute insbesondere auf die Rolle und die Bedeutung
der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges beziehen.
Die NATO war nach 1990, nach dem Wegfall der aku-
ten Bedrohung durch die Sowjetunion, der Garant dafür,
daß es eben keinen Rückfall und nicht den Versuch gibt,
Sicherheit und Verteidigung wieder national zu organi-
sieren. Denn das hätte eine hohe Instabilisierung nicht
nur Ost-, sondern auch Westeuropas bedeutet.

Die NATO hat sich 1990 und in den Jahren danach
gründlich verändert. 1991 gab sie sich ein neues strate-
gisches Konzept – damals erstmals öffentlich –, um
Durchsichtigkeit und Vertrauen zu schaffen. Seitdem hat
sich die Welt weiter verändert: durch den Zusammen-
bruch der Sowjetunion und durch den Aufbau verbindli-
cher Kooperationsstrukturen mit Rußland und mit der
Ukraine; davon ist heute schon ausführlich gesprochen
worden. Diese Kooperationsstrukturen und diese
Dimensionen der NATO, die eben nicht nur militärisch
handelt, sondern ganz wesentliche politische und zivile
Funktionen hat, stellen die Aufgabe der NATO dar,
Sicherheit und Stabilität für den transatlantischen Raum
zu schaffen und nicht – wie manche befürchten und an-
dere durchaus hoffen – weltweit zu agieren.

Für die Sicherheit Europas ist, wie wir alle betonen,
die Kooperation mit Rußland und der Ukraine von
zentraler Bedeutung. Auch das ist heute mehrfach ange-
sprochen worden. Dazu gehört – nicht in Spannung,
sondern komplementär, wie ich meine – die Frage der
Öffnung und der Möglichkeit für andere Staaten, der
NATO beizutreten. Nach 1990 war es ja nicht die Initia-
tive der NATO, sich nach Osten zu erweitern; vielmehr
hat es eine Weile gedauert, bis die Mitgliedstaaten bereit

waren, dem Drängen der Staaten Ostmitteleuropas nach-
zukommen und sich neuen Mitgliedern zu öffnen. Seit
einigen Wochen sind Polen, Tschechien und Ungarn
gleichberechtigte Mitglieder. Das ist nicht nur für diese
Länder wichtig, sondern auch für Europa. Denn die
Länder kommen damit aus einer Zwischenlage heraus,
die ihnen in der Geschichte verheerende Beziehungen
bescherte. Sie wollten nichts anderes als Deutschland:
im Westen verankert zu sein, um damit die Möglichkeit
und Freiheit zu haben, zum Osten kooperative Struktu-
ren aufzubauen.


(Beifall des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU])


In Washington wird die NATO deutlich machen, daß
die Tür offenbleibt. Es wird gut sein, daß das nicht nur
abstrakt behauptet, sondern durch die Nennung von
Staaten konkretisiert wird, die entsprechend ihrem eige-
nen Wunsch eine Perspektive der Mitgliedschaft haben
sollen. Wichtig ist es deshalb, Kooperationsmöglichkei-
ten mit der NATO für die daran interessierten Staaten
über die bisherigen Instrumente hinaus zu stärken. Des-
wegen ist sehr zu begrüßen, wenn die NATO künftig in
„Membership Action Plans“ die Heranführung beitritts-
williger Staaten noch tatkräftiger als bisher unterstützt.

1991 hatte sich, wie gesagt, die NATO ein Konzept
gegeben; nun gibt sie sich ein neues. Wichtig ist, daß die
Kooperationsstrukturen ganz zentral in dieses Konzept
eingebaut sind – und ebenso die neuen Aufgaben, vor
denen wir heute in Europa stehen, nämlich auch außer-
halb des Bereichs der NATO für Frieden, für Freiheit
und für Rechte, für Völkerrecht und für die Rechte der
Menschen, einzutreten. In Bosnien übrigens – das war
der erste Ort, an dem die NATO außerhalb ihres Territo-
riums militärisch aktiv wurde – geschah das nicht allein,
sondern gemeinsam mit Nicht-NATO-Staaten, insbe-
sondere auch mit Rußland. Man vergesse nicht, daß die-
se Zusammenarbeit in Bosnien trotz aller Krisen, Fragen
und Spannungen, die es heute zwischen Rußland und der
NATO gibt, bis jetzt funktioniert und wirksam ist.

Sicherheit hat viele Dimensionen. Darüber ist in den
letzten Jahren in unserem Hause viel gesprochen wor-
den. Es ist deutlich, daß viele unterschiedliche Institu-
tionen nicht nur Europas, sondern weltweit – allen voran
die Vereinten Nationen, aber eben auch die OSZE, der
Europarat und nicht zuletzt die Europäische Union –
ganz wesentliche Dimensionen der Sicherheit zum
Thema haben, daß sie sogar besser damit umgehen kön-
nen als die NATO, weil sie die Kompetenzen dazu ha-
ben und weil dieses Thema eben wirtschaftliche, soziale,
kulturelle und politische Dimensionen hat.

Entscheidend ist – dies ist eine zentrale Frage –, daß
der Frieden künftig durch eine Zusammenarbeit der
NATO mit diesen Institutionen wirklich gesichert wird.
Wir lernen nicht zuletzt in Bosnien, daß Frieden durch
militärische Mittel nicht geschaffen werden kann, son-
dern daß dadurch nur die Voraussetzungen für Frieden
geschaffen werden können, indem Mord und Gewalt
Einhalt geboten wird.

Deshalb ist es für die Zukunft sehr wichtig, daß der
zivile und auch der politische Friedensprozeß in Gang

Markus Meckel






(A) (C)



(B) (D)


gebracht werden und daß dafür übrigens auch die not-
wendigen Ressourcen bereitgehalten werden. Es ist
durchaus so, daß die Ressourcen für militärische Akti-
vitäten sehr schnell bereitgestellt werden, daß es uns al-
len aber sehr viel größere Mühe macht, die erforderli-
chen Mittel für die ebenfalls notwendigen zivilen Akti-
vitäten sowohl in finanzieller Hinsicht wie auch in Form
ausgebildeter Beobachter beizusteuern. Auch das ist eine
– leider nicht so gute – Erfahrung aus Bosnien.

Für die NATO wird es in Zukunft eine zentrale Rolle
spielen, daß die ihr angehörenden Länder gemeinsam
handeln. Sie ist eine Konsensgemeinschaft. Manche in
unserem Land glauben ja, sie sei ein Aggressionspoten-
tial. Ich halte dies wirklich für eine falsche Aussage. Ich
verweise auf die Schwierigkeiten beim Konsensprozeß
innerhalb der NATO und darauf, daß es in der NATO
eben nicht darum geht, daß alle Mitglieder Gefolgsleute
einer Führungsmacht sind, der sie bedingungslos folgen.
In demokratischen Staaten sind Mehrheiten und Regie-
rungen nur dann möglich, wenn man einen Konsens ge-
funden hat. Dies ist, gerade wenn es darum geht, militä-
rische Gewalt anzuwenden, nicht so einfach. Deshalb
ist, glaube ich, allein von der Struktur her gewährleistet,
daß die demokratische Staatengemeinschaft nicht auf-
grund hegemonialer Interessen Krieg führt. Vielmehr
geht es darum – ich bin gleich am Ende meiner Ausfüh-
rungen, Herr Präsident –, Recht durchzusetzen, Men-
schen zu helfen, den Menschen und ihren Rechten ent-
gegenzukommen bzw. dem Morden und der Vertreibung
ein Ende zu bereiten. Deshalb ist es wichtig, daß eine
große Mehrheit in diesem Hohen Hause zur NATO und
zu ihren Bemühungen steht, den Menschen im Kosovo
zu helfen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403502300
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Karl A. Lamers.


Dr. Karl A. Lamers (CDU):
Rede ID: ID1403502400
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute,
50 Jahre nach Gründung der NATO, können wir fest-
stellen: Die Nordatlantische Allianz ist das erfolgreich-
ste Bündnis der Geschichte. Sie ist die größte Friedens-
bewegung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist schon bemerkenswert, daß sie heute selbst von ih-
ren einstigen Gegnern gepriesen und hoch gelobt wird,
also von denen, die mittlerweile in Deutschland regieren
und für die Handlungsfähigkeit des Bündnisses Verant-
wortung tragen. Das ist gut so.

Die NATO ist unstreitig eine Friedens- und Werte-
gemeinschaft. Sie stand und steht zu Grundsätzen wie
Freiheit, Recht und Demokratie. Sie steht für den Frie-
den. Dank schulden wir insbesondere unseren Verbün-
deten. Durch die entschlossene Friedenspolitik der
NATO erhielt zunächst der westliche Teil Deutschlands
die Chance, ein demokratisches, stabiles parlamentari-
sches Regierungssystem aufzubauen.

40 Jahre später, in der historischen Stunde 1989 und
1990, als die Mauer brach und der Eiserne Vorhang fiel,
waren die Festigkeit und Geradlinigkeit der Freunde in
NATO und Europäischer Union der Schlüssel dafür, daß
sich auch im östlichen Teil unseres Vaterlandes Demo-
kratie, Parlamentarismus, Freiheit und Selbstbe-
stimmung durchsetzen konnten.

Aber heute frage ich: Was wäre geschehen, wenn sich
im Jahre 1983 die damalige Bundesregierung unter
Helmut Kohl dem Druck der Friedensbewegung gebeugt
hätte? Er tat es nicht, er stand wie ein Fels in der linken
Brandung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der PDS)


– Auch die Damen und Herren der PDS sollten zuhören,
dann könnten sie aus dieser Geschichtsbetrachtung
vielleicht noch etwas lernen. – Wie wäre die deutsche
Geschichte verlaufen, wenn die NATO einseitig abgerü-
stet hätte, wie Sie es in Ihrem unsäglichen Antrag heute
wieder fordern?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Welche Folgen hätte es für Deutschland und Europa ge-
habt, wenn wir die atomare Bedrohung durch sowjeti-
sche SS-20-Raketen akzeptiert hätten? Eines ist klar:
Wir hätten die historische Stunde am vergangenen
Montag, die Rückkehr des frei gewählten Parlaments
des wiedervereinigten Deutschlands in den Reichstag in
Berlin – eine freie Stadt ohne Mauer, ohne Stacheldraht
und ohne DDR-Schießbefehl – wahrscheinlich nicht er-
lebt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Daraus folgt: Festigkeit, nicht Nachgiebigkeit, sichert

Freiheit. Die NATO kann heute auf eine stolze Bilanz
verweisen. Ihre Anziehungskraft als Wertegemeinschaft,
als Stabilitätsraum und als militärischer Integrations-
faktor ist auch nach 50 Jahren ungebrochen. Deshalb
sind wir aufgerufen, alles zu tun, um die Attraktivität
aufrechtzuerhalten und zu steigern.

Wir sollten uns in dieser Stunde aber auch durchaus
daran erinnern, daß wir, die CDU/CSU, einen großen
Anteil an der Geschichte unseres Landes in 36 Jahren
Regierungsverantwortung tragen und daß wir die
Grundlage für die NATO und für die Bundeswehr ge-
schaffen haben, die es sonst so vielleicht gar nicht geben
würde. Bei besonderen geschichtlichen Entwicklungen
war die CDU/CSU stets die berechenbare politische
Kraft in Deutschland. Berechenbarkeit ist ein wichtiger
Faktor der Politik, national und international.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir haben Kurs gehalten. Ich frage Sie: Was wäre
heute, wenn in den entscheidenden Schicksalsjahren
nach dem zweiten Weltkrieg Rotgrün in tiefer ideologi-
scher Zerstrittenheit die Vergangenheit gestaltet hätte,
Herr Außenminister? Könnten Sie dann als Außenmi-
nister mit der Kraft von heute die Gegenwart meistern
und die Zukunft gestalten? Ich glaube, nein. Was wäre

Markus Meckel






(B)



(A) (C)



(D)


heute in Deutschland – die Frage ist aufgeworfen wor-
den –, wenn wir in der Regierung und Sie in der Oppo-
sition wären? Das ist für mich eine Frage der politischen
Glaubwürdigkeit.


(Peter Dreßen [SPD]: In den 70er Jahren gab es die NATO auch schon!)


Für uns gilt, daß wir als Opposition nicht bekämpfen,
was wir als Regierung für richtig gehalten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir sind staatstragend.

(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das hat keiner be zweifelt, daß Sie staatstragend sind!)

Auf die CDU/CSU kann sich Deutschland verlassen. In
einer beeindruckenden Rede hat Wolfgang Schäuble,
unser Fraktionsvorsitzender, die Leitlinien unserer
Sicherheits- und Außenpolitik auf der Münchener Si-
cherheitskonferenz dargelegt und definiert.

Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert geht es für die
NATO um die Wahrung gemeinsamer euro-atlantischer
Interessen in und für Europa. Das neue strategische
Konzept muß an den bewährten allianzpolitischen
Grundsätzen festhalten: kollektive Verteidigung als
Kernfunktion des Bündnisses, Annahme der großen si-
cherheitspolitischen Herausforderungen, die Übernahme
neuer Aufgaben: Kooperation, Stabilitätstransfer und
Krisenbewältigung. Daß das Bündnis reformfähig ist,
haben wir mit einem weitreichenden Abrüstungs-, Orga-
nisations- und Partnerschaftskonzept bewiesen.

Ich möchte an diesem Tage ausdrücklich auch das
würdigen, was Volker Rühe in seiner Zeit als Verteidi-
gungsminister geleistet hat, als er immer wieder mit
großer Klarheit und Stringenz wertvolle Impulse in das
Bündnis gegeben hat. Bundeswehr und NATO sind da-
durch heute für die großen Herausforderungen der Ge-
genwart und der Zukunft gerüstet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Jetzt brauchen wir ein neues strategisches Konzept.
Ich frage Sie mit Blick auf die Anträge, die heute vorlie-
gen: Wo sind die unverrückbaren politischen Überzeu-
gungen der Grünen und zum Teil auch der SPD? Ich
meine nicht tagespolitisch bedingte aktuelle Positionen,
sondern solche, die über den Tag hinaus reichen. Das
unterscheidet CDU/CSU und – mit Verlaub – F.D.P. von
den Regierungsfraktionen. Bei uns formt sich Tages-
politik aus Grundsätzen und Überzeugungen. Ob sich,
Herr Außenminister, durch Ihre Politik in der Tiefe Ihrer
grünen Bewegung dauerhaft tragfähige Überzeugungen
bilden, daran habe ich erhebliche Zweifel. Dafür müssen
Sie an der Basis noch viel arbeiten.

Wer wie wir auf dem Boden der Außen- und Sicher-
heitspolitik der heutigen Regierung steht, darf auch Kri-
tisches anmerken. Ich nehme Ihnen ab, Herr Außenmi-
nister, daß Sie für sich persönlich Kasernenbesetzungs-
und Belagerungsmentalität überwunden haben. Ich frage
mich aber schon, was eigentlich geschehen ist, und auch

manche Ihrer Freunde fragen sich das, Freunde, mit de-
nen Sie vor Jahren und Jahrzehnten vor US-Kasernen
Fackelwachen abgehalten, Sitzblockaden durchgeführt
und Protestdemos organisiert haben.


(Bundesminister Joseph Fischer: Nein! Keine Fackeln!)


– Ich weiß, wovon ich spreche. Ich komme aus Heidel-
berg, einer Stadt mit einem US-Hauptquartier, wo wir
das alles erlebt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Gerade jüngst hat mir einer aus Ihrer Partei gesagt, daß
er es sich nicht habe träumen lassen,


(Dr. Christoph Zöpel [SPD]: Alles Vergangenheit!)


seinen Joschka, wie er sich ausdrückte, einst als Außen-
minister im feinsten Nadelstreifen zu erleben, garniert
mit einem Freundschaftskuß für die amerikanische Au-
ßenministerin Madeleine Albright. Das ist schon ein
weiter Weg – vom Saulus zum Joschka.


(Bundesminister Joseph Fischer: Aber Sie muß ich nicht küssen?)


– Nein, mich sollen Sie auch nicht küssen, das würde ich
mir verbitten. – Damit Sie mich aber nicht falsch verste-
hen: Ich finde es gut, daß Sie mit der Übernahme des
Amtes des Außenministers ein solches Maß an Erkennt-
nis und neuer Einsicht in das gewonnen haben, was
politisch und moralisch richtig und notwendig ist. Das
hat so kaum einer für möglich gehalten. Helmut Kohl,
meine Damen und Herren, hat einmal gesagt: Europa ist
eine Sache von Krieg und Frieden. Darauf habe ich von
Ihrer Seite nur Gelächter gehört. Heute sagen Sie, Herr
Außenminister, lapidar: Kohl hat recht. – Das finde ich
in Ordnung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Günther Friedrich Nolting [F.D.P.])


Lassen Sie mich zu den Anträgen konkret folgendes
sagen:

Erstens. Ich halte es, Herr Außenminister, für absolut
schädlich und politisch falsch, daß die Bundesregierung
und insbesondere Sie, Herr Fischer, versucht haben, die
nukleare Ersteinsatzoption der NATO im neuen stra-
tegischen Konzept zu verwässern oder gar zu streichen.
Wir müssen auch in Zukunft einen Angreifer im unge-
wissen darüber lassen, wie wir als Bündnispartner rea-
gieren. Nur so gewinnen wir auch in Zukunft Sicherheit
und Freiheit.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nach unserer Überzeugung würde eine solche Änderung
die Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses erheblich
schwächen. Deshalb meine Bitte, an der bewährten Ab-
schreckungsstrategie des Bündnisses festzuhalten.

Zweitens. Ein wichtiger Punkt, über den wir im
Bündnis Konsens erreichen müssen, ist die völker-
rechtliche Legitimation des Bündnisses für Krisenre-
aktionseinsätze auch außerhalb des Bündnisgebietes.
Wie wichtig das ist, zeigt doch der Konflikt im Kosovo.

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)







(A) (C)



(B) (D)


Ich meine, es besteht Einigkeit darüber, daß wir einen
solchen Einsatz nach Möglichkeit auf einen Beschluß
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen stützen
müssen. Es muß aber auch Einigkeit darüber bestehen,
daß die NATO, wenn Menschenrechte verletzt werden
und ihr Handeln im Einklang mit dem Völkerrecht steht,
handeln muß. Sonst setzt sie sich dem Vorwurf aus, un-
tätig zuzuschauen. Auch hier erwarten und verlangen
wir klare Positionen und Aussagen.

Die NATO ist für uns Friedensgarant. Sie muß mit
den anderen großen kollektiven Sicherheitssystemen,
den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und
der WEU, zusammenwirken, denen in diesem Zusam-
menhang wichtige Aufgaben zukommen. Eine einseitige
Hervorhebung der OSZE, Herr Minister, lehnen wir al-
lerdings ab.

Die NATO muß sich für andere öffnen. Von Wa-
shington muß das Signal ausgehen, daß die Tür für sol-
che offenbleibt, die ihre Zukunft in der Nordatlantischen
Allianz suchen. Dieses klare Signal muß von Washing-
ton ausgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum

Schluß sagen, daß wir Europäer aufgerufen sind, für
eine gerechte Lasten- und Pflichtenverteilung im
Bündnis mehr Verantwortung zu tragen.

Heute, zwei Tage vor dem NATO-Gipfel, steht die
NATO auf dem Balkan vor einer der größten Herausfor-
derungen seit ihrem Bestehen. Ich bin überzeugt, daß
wir aus dieser Prüfung gestärkt hervorgehen, wenn wir
geschlossen sind, wenn wir im Bündnis einig bleiben,
wenn wir deutlich machen, daß die NATO keine
Schönwetterorganisation ist, sondern ein Bündnis, das
über Menschenrechte und Werte nicht nur spricht, son-
dern diese im Ernstfall auch beherzt verteidigt.

Auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert dürfen Dikta-
toren, die in zynischer Weise Menschenrechte verletzen
und sich über das geltende Recht stellen, keine Chance
haben. Amerika und Europa müssen auch in Zukunft in
einer Allianz des Friedens und als Garant unserer ge-
meinsamen Sicherheit zusammenstehen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403502500
Ich gebe das Wort
der Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403502600
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das
strategische Konzept, das in den nächsten Tagen veröf-
fentlicht werden wird, wird mit Sicherheit nicht der
Schlußpunkt einer sehr wichtigen Debatte sein, die wir
auch heute hier führen. Dieses Konzept wird der Aus-
gangspunkt für die Fortentwicklung der NATO sein, und
wir werden die Debatte engagiert begleiten.

Der Gipfel wird – das haben viele gesagt – vom ge-
genwärtigen Krieg im Kosovo überschattet. Die Folgen

des Kosovo-Krieges für die zukünftige Entwicklung und
auch für die Strategie der NATO müssen sorgfältig be-
obachtet und analysiert und dürfen nicht unterschätzt
werden.

Ich sage dies vor dem Hintergrund, daß wir uns aus
meiner Sicht heute in einer extrem schwierigen Situation
befinden, und zwar aus zwei Gründen: Erstens. Wir be-
finden uns, was die internationalen Beziehungen und
das Völkerrecht betrifft, an einem Wendepunkt. Es geht
um die Frage der Verrechtlichung der zwischenstaatli-
chen Beziehungen und der Anerkennung der Tatsache,
daß die Transnationalisierung auch Folgen für die Wei-
terentwicklung des Völkerrechts haben wird. Diese ist
politisch offen, und wir müssen uns in jeder einzelnen
konkreten Situation entsprechend verhalten, um den
Zielkonflikt im größtmöglichen Konsens zu lösen.

Zweitens. Wir, die Bundesrepublik Deutschland und
die NATO – ich sage das als Grüne ganz bewußt –, sind
in einem Krieg. Wir sind zum ersten Mal seit 1945 an
einem Krieg in Europa beteiligt. Dieser Krieg und unser
Verhalten in diesem Krieg werden Auswirkungen auf
die europäische Sicherheitsarchitektur und auf die trans-
atlantischen Beziehungen haben. Die NATO als Werte-
gemeinschaft und als diejenige Organisation, die inter-
nationale Sicherheitspolitik effektiv betreiben kann,
steht hier in einer ganz besonderen Verantwortung. Es
ist unser Ziel, gestaltend darauf einzuwirken. Ich sage
hier ganz deutlich: Die Frage der Glaubwürdigkeit wird
sich nach diesem Krieg stellen, nämlich dann, wenn wir
– die Bundesregierung, aber auch die NATO – entschei-
den müssen, wie wir uns ganz ähnlichen Konflikten ge-
genüber selbst im eigenen Bündnis – ich nenne als Bei-
spiel das Kurdenproblem in der Türkei – verhalten. Zu-
künftig wird es ein Verschließen der Augen nicht mehr
geben können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Vor diesem historischen Hintergrund möchte ich ei-
nige Punkte ansprechen, in denen sich die Verantwor-
tung der NATO für Stabilität, für Vertrauensbildung,
aber auch für Abrüstung in besonders prägnanter Weise
ausdrückt.

Zunächst zu der völkerrechtlichen Frage: Die Luft-
schläge der NATO, die wir jetzt in der fünften Woche
durchführen, finden auf einer völkerrechtlich nicht aus-
reichenden Grundlage statt. Wenn es darum geht, das
Völkerrecht weiterzuentwickeln, um aus der Sackgasse
herauszukommen und früher nichtmilitärisch agieren zu
können, wäre es ein Fehler, so zu tun, als wenn wir jetzt
eine klare völkerrechtliche Grundlage hätten. Wir haben
sie nicht. Wir werden das Völkerrecht modifizieren
müssen, um stärker internationale humane Politik be-
treiben zu können. Dieses Dilemma möchte ich offen
ansprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nach dem Gipfel werden wir beginnen müssen, diese
Diskussion ohne Scheuklappen, aber verantwortlich zu

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)







(B)



(A) (C)



(D)


führen. Denn wir wissen, daß wir uns damit auf ein
schwieriges Gebiet der internationalen Diplomatie bege-
ben.

Ich will an dieser Stelle auf die internationalen si-
cherheitspolitischen Institutionen eingehen. Die NATO
als Wertegemeinschaft ist an den Inhalten, Normen und
Verfahren der UNO-Charta orientiert. Das ist im Wa-
shingtoner Vertrag so festgehalten, und er durchzieht
das strategische Konzept der NATO, das verabschiedet
wird, wie ein roter Faden. Das ist auch gut so.

Wir wollen daran festhalten – dafür müssen wir gera-
destehen –, daß das, was im Kosovo heute nicht ver-
meidbar ist, eine dezidierte Ausnahme bleibt und nicht
zum Alltagsgeschäft wird. Wir wollen eine Arbeitstei-
lung zwischen den Institutionen. Das heißt, wir wollen,
daß die NATO das macht, was sie können soll und was
sie können muß. Aber wir wollen natürlich auch, daß
das Gewaltmonopol der UNO gestärkt, die UNO refor-
miert und das Vetorecht abgeschafft wird. Denn wir se-
hen, daß es auf die aktuellen Konflikte und Kriege der
Zukunft keine Antworten mehr gibt. Wir brauchen die
Stärkung der OSZE, damit wir sagen können, daß die
NATO als Militärbündnis erst dann zum Einsatz kommt,
wenn die internationale Staatengemeinschaft keine In-
strumente und Antworten mehr findet.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Dazu gehört auch die Verantwortung der NATO, ihren
Weg richtig weiterzugehen, nämlich in Kooperation mit
Rußland Stabilität in Gesamteuropa zu verfolgen.

Lassen Sie mich an dieser Stelle – das kann nicht
ausgelassen werden – auf den Krieg im Kosovo einge-
hen. Wir führen zur Zeit eine problematische Diskussi-
on, was den Einsatz von Bodentruppen betrifft. Ich
glaube, daß es falsch ist, zu sagen „Wir wollen diesen
Einsatz nicht“ und zu befürchten, daß es dann doch ir-
gendwann dazu kommt. Ich habe die Sorge, daß durch
das Unterlassen einer Diskussion über den Einsatz von
Bodentruppen bzw. durch die Art und Weise, wie diese
Diskussion möglicherweise doch geführt wird, ein
wichtiges Fenster für politische Initiativen verengt wird.

Herr Lamers, wenn Sie die Grünen dahin gehend kri-
tisieren, sie seien noch nicht in der Realität angekom-
men, kann ich Ihnen nur antworten: Ich habe Angst da-
vor, daß wir – ähnlich wie vor fünf Wochen, als wir vor
der Alternative standen, ethnische Säuberungen oder
NATO-Luftschläge zu akzeptieren – jetzt vor einer neu-
en Alternative stehen: vor der Eskalation des Militäri-
schen, also vor einem militärischen Automatismus, der
sich – mit allen fatalen Konsequenzen, was die Spaltung
der Sicherheit Europas betrifft – bis hin zu einem Ein-
satz von Bodentruppen in Serbien ausdehnen könnte,
oder aber der Initiative, die die rotgrüne Bundesregie-
rung im Bündnis nach vorne getrieben hat: Rußland be-
findet sich wieder mit uns im Dialog. Kofi Annan ist
wieder Teil der Diplomatie, um diesen Krieg nicht auf
militärischem Wege, sondern durch einen Waffenstill-
stand zu beenden. Herr Lamers, die Realität ist, auch
wenn Sie sie nicht erkennen wollen, anders. Die „Berli-
ner Zeitung“ schreibt heute: „Europäer wollen Frie-

densplan Fischers für Kosovo übernehmen“. Das ist es,
was wir forcieren müssen, nicht eine leichtsinnige De-
batte, die letztlich dazu führt, daß wir, ohne daß wir es
überhaupt wollen, in einen Bodenkrieg geraten, den wir
übrigens auch nicht verantworten können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Kurt J. Rossmanith [CDU/ CSU]: Kein Mensch hat das so gesagt!)


Ich komme zum Schluß: Der zentrale Ansatz für eine
zukunftsfähige Sicherheitspolitik muß ein Konzept prä-
ventiver Sicherheitspolitik sein. Das heißt, daß Sicher-
heitspolitik in ihren vielfältigen Dimensionen in ein au-
ßenpolitisches Konzept eingebunden wird, in dem den
Vereinten Nationen und der OSZE nicht nur verbal eine
wichtige Rolle zugewiesen wird nach dem Motto: OSZE
first. Wir müssen vielmehr zulassen und ermöglichen,
daß sie diese Rolle tatsächlich spielt.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das ist doch keine Alternative zur NATO!)


Ich nenne hier beispielsweise den kooperativen Ansatz
für Gesamteuropa und Rußland, den rüstungskontroll-
politischen Ansatz – denn wir dürfen auch dann, wenn
wir Krieg führen, die Abrüstung nicht vergessen – und
eine Politik, die auf Grund der bestehenden atomaren
Gefahr, die möglicherweise wieder näherrückt, abrü-
stungspolitische Aufgaben vor Augen hat.

Wenn wir es schaffen, diesen Konsens in Europa zu
stabilisieren und über Europa hinauszutragen und der
Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen end-
lich Einhalt zu gebieten, dann kommen wir vielleicht
wieder zu dem Punkt zurück, daß wir sagen können, daß
das Europa der Zukunft friedlich sein wird. Diesen Weg
gehen wir hoffentlich alle gemeinsam.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403502700
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Peter Zumkley.


Peter Zumkley (SPD):
Rede ID: ID1403502800
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich möchte mich nach den bisherigen
Debattenbeiträgen vor allem den militärischen und si-
cherheitspolitischen Aspekten widmen.

Durch die Allianz sind die Bündnispartner in der La-
ge, sich auf gemeinsame, insbesondere verteidigungs-
und sicherheitspolitische Positionen zu verständigen.
Dies ist von genauso großer Bedeutung wie die Streit-
kräfte der Mitgliedstaaten, die als Garant für die militä-
rische europäische Sicherheit und – in der Vergangen-
heit – für die Verhinderung militärischer Auseinander-
setzungen im Rahmen der Ost-West-Konfrontation
dienten.

Die Allianz verzeichnet aber auch zwei außerge-
wöhnliche politische Erfolge in einem: die Integration
von westeuropäischen Staaten, die über Jahrhunderte
nach Dominanz und Kräfteausgleich gestrebt und dabei

Angelika Beer






(A) (C)



(B) (D)


häufig verlustreiche, blutige Kriege geführt hatten, und
eine vertraglich vereinbarte transatlantische Sicher-
heits- und Verteidigungspartnerschaft zwischen den
Demokratien Nordamerikas und Europas.

Neben vielen zum Beispiel in Politik und Admini-
strationen tatkräftig für die Ziele der NATO tätigen
Menschen, in der Vergangenheit und in der Gegenwart,
sind wir auch allen militärischen und zivilen Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr seit ihrem Be-
stehen und ihrer Zugehörigkeit zur NATO für die Be-
wältigung ihrer oft nicht leichten Aufgabe und ihren
Beitrag zum Frieden und zur Freiheit zu Dank ver-
pflichtet.


(Beifall bei der SPD)

In einem Zeitraum von etwa zehn Jahren wurden

Strategien und Konzeptionen politisch und militärisch
auf die neuen Entwicklungen umgestellt. Die NATO
entwickelt sich auch heute weiter, wie die Verabschie-
dung des neuen strategischen Konzepts auf dem
Washingtoner Gipfel an diesem Wochenende zeigen
wird. Das sicherheitspolitische Umfeld wandelt sich.
Heute stehen wir vor einer Fülle neuer Risiken. Die Ge-
fahr von heute ist die Instabilität – aus unterschiedlichen
Gründen – in einigen Ländern und Regionen. Tief wur-
zelnde ethnische, religiöse und nationalistische Kräfte
münden, wie schmerzhaft zu erfahren ist, in zerstöreri-
sche Konflikte, die uns letztlich alle bedrohen. Das trifft
auch auf Europa zu, wie die Lage auf dem Balkan zeigt.

Die NATO befindet sich im Anpassungsprozeß ge-
genüber einem neuen Risikospektrum. Die politischen
und militärischen Strukturen der Allianz werden neu ge-
gliedert und gestrafft. Sie werden so verändert, daß das
Bündnis auf der Basis einer starken transatlantischen
Partnerschaft das geänderte Spektrum seiner Aufgaben
wirksamer bewältigen kann. Die Streitkräfte wurden
nicht unerheblich reduziert. Die Stufen der Alarm- und
Einsatzbereitschaft wurden herabgesetzt. Die Streitkräfte
wurden umgegliedert, so daß sie weiterhin zur kollekti-
ven Verteidigung befähigt sind und den neuen Aufgaben
im Rahmen der Krisenbewältigung gewachsen bleiben.

Der Anpassungsprozeß ist noch nicht abgeschlossen.
Das Bündnis muß diesen Prozeß mit Entschlossenheit
und Augenmaß weiter fortsetzen. So müssen die Sicher-
heit und der Frieden im euroatlantischen Raum weiter-
hin kontinuierlich stabilisiert bleiben sowie der Dialog
und die Zusammenarbeit der gleichberechtigten Partner
ausgebaut und vertieft werden.

Die Öffnung der NATO nach Osten ist ein wichti-
ger Schritt. Die Beitritte Polens, Ungarns und der
Tschechischen Republik zur NATO schaffen zusätzli-
che, auch militärische Sicherheit. Die neuen Mitglied-
staaten sind fest in Europa verankert. Gerade wir Deut-
schen erhalten mit unseren östlichen Nachbarn verläßli-
che Bündnispartner.

Die Motivation ihrer Soldaten zur Zusammenarbeit
mit westlichen Partnern ist bemerkenswert. Ihre Ausrü-
stung und Bewaffnung sind überwiegend russischer
Herkunft und entsprechen nur zum Teil den Bündnisan-
forderungen. Dies muß angemessen berücksichtigt und

auch in Kauf genommen werden, damit unsere neuen
Partner nicht überfordert werden.

Vor allem kommt es darauf an, ihre Kommunikati-
onsfähigkeit und Interoperabilität allmählich zu verbes-
sern. Dabei müssen sie angemessen unterstützt werden.
Dieser Prozeß wird länger dauern, vielleicht zehn Jahre
oder sogar mehr. Die Tür zur NATO muß für weitere
neue Mitglieder offenstehen, sofern sie die Anforderun-
gen des Bündnisses erfüllen, die Zeit reif und das Bünd-
nis aufnahmefähig ist. Grundsätzlich stärken neue Mit-
glieder die Sicherheit in Europa und bereichern das
Bündnis als Ganzes.

Die Gründungsakte zwischen der NATO und Ruß-
land, die NATO-Ukraine-Charta sowie die gemeinsa-
men Übungen im Rahmen der „Partnerschaft für den
Frieden“ bilden eine solide Basis für eine gute militäri-
sche Zusammenarbeit. Allein in 1998 wurden 26 PfP-
Übungen zwischen der NATO und osteuropäischen
Staaten durchgeführt. Die Bundeswehr war an
15 Übungen mit allen Teilstreitkräften beteiligt.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Die gemeinsame Übungstätigkeit umfaßte militärische
Manöver, friedensunterstützende Maßnahmen, humani-
täre Operationen sowie Such- und Rettungseinsätze.
Diesen Weg müssen wir weiterverfolgen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Bei den gemeinsamen Übungstätigkeiten wird Ver-
ständnis für Zusammenarbeit geweckt, das es zu festigen
und weiterzuentwickeln gilt. Darüber hinaus wird Ver-
trauen geschaffen, werden Mißverständnisse vermieden
und gegenseitige Vorurteile abgebaut.

Das Krisen- und Konfliktpotential in Europa macht
deutlich, wie notwendig der Aufbau einer europäi-
schen Sicherheits- und Verteidigungsidentität ist.
Europa muß in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
eigenständiger und handlungsfähiger werden, ohne sich
von der Nordatlantischen Allianz zu entfernen. Dann
kann es seiner sicherheitspolitischen Verantwortung in
Europa besser gerecht werden und zu einer gerechten
Lastenteilung innerhalb des Bündnisses beitragen. Dies
bedeutet für uns als Konsequenz aber weitere Anstren-
gungen und Leistungen in angemessenem Verhältnis zu
denen unserer Bündnispartner.

Viele Jahre lang haben unsere Verbündeten unserem
Land Sicherheit gegeben. Heute beteiligen wir uns ge-
meinsam mit unseren Bündnispartnern an der Sicher-
stellung der Verteidigungsfähigkeit, der Krisenbewälti-
gung, dem Schutz von Menschenrechten und humanitä-
ren Hilfsaktionen. Zukünftig muß sich das Bündnis al-
lerdings mehr um die Fähigkeit zur Konfliktprävention
bemühen. In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Glos
– er ist im Moment nicht da –,


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Der kommt gleich wieder!)


begrüßen wir die offensichtliche Absicht der NATO und
von Nicht-NATO-Staaten, den Flüchtlingen in Albanien
durch Entsendung zusätzlicher, dafür geeigneter Solda-
ten noch wirksamer als bisher zu helfen. Kaum jemand

Peter Zumkley






(B)



(A) (C)



(D)


wird sich einer derartigen humanitären Hilfe vor Ort
verschließen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Die Grünen offensichtlich doch!)


Wir sehen einem entsprechenden Antrag der Bundesre-
gierung entgegen und setzen auf eine breite Zustimmung
des Parlaments. Der Erfolg der NATO wird auch künftig
davon abhängen, ob es ihr weiterhin gelingt, beharrlich
und unbeirrt ihr Ziel aufrechtzuerhalten, Frieden, koope-
rative Sicherheit und demokratische Stabilität im ge-
samten Europa zu fördern.

Nicht zuletzt ist die Bundeswehr eines der wichtigen
Instrumente deutscher Außen-, Sicherheits- und Bünd-
nispolitik. Es führt kein Weg daran vorbei, daß die
Streitkräfte im Bündnis – also auch unsere Bundeswehr
– weiterhin gut ausgebildet und für die Aufgabenbewäl-
tigung wirksam ausgestattet werden, daß der bestmögli-
che Schutz für unsere Soldaten sichergestellt und ihre
Integration in unsere Gesellschaft erhalten bleibt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403502900
Das Wort hat der
Kollege Christoph Zöpel, SPD-Fraktion.


Dr. Christoph Zöpel (SPD):
Rede ID: ID1403503000
Herr Präsident! Meine
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich
auch vor dem Hintergrund dieser Debatte die Geschichte
der NATO und ihreWirkung auf Europa als eine Wech-
selwirkung zwischen militärischer Anstrengung und
deren Grenzen sowie erfolgreicher Abrüstungspolitik
und erfolgreicher Friedensbewegungen darstellen.

Der Erfolg der NATO für Europa beruhte auf atoma-
rer Abschreckung; das war der Kern. Das hat uns sicher
gemacht, die Menschen in Osteuropa nicht. Die NATO
konnte nicht verhindern, daß Stalin und seine Nachfol-
ger in Osteuropa – auch mit militärischer Gewalt – ma-
chen konnten, was sie wollten. Im Gegensatz zu Ihnen,
Frau Beer, halte ich den derzeitigen Krieg in Jugosla-
wien nicht für den ersten in Europa. Der erste war die
Invasion der Sowjetunion in Prag; den konnte die
NATO nicht verhindern.


(Beifall bei der SPD)

Daß ähnliches in Polen nicht geschah, lag an der Beson-
nenheit eines – wenn auch tragisch verstrickten – Gene-
rals, nämlich des Generals Jaruzelski.

Das Ende des Kommunismus dann war einerseits
sicherlich auch ein politischer Erfolg der NATO und
ihrer Rüstung. Aber andererseits wäre das Ende des
Kommunismus nicht möglich gewesen ohne die friedli-
che Revolution der Menschen dort. Auch die war nötig,
nicht nur die NATO.


(Beifall bei der SPD)

Nach dem Ende des Kommunismus kam dann der für

mich vielleicht größte Erfolg der NATO: die gigantische

Abrüstungsleistung in Europa. Herr Kollege Rühe, Sie
können stolz darauf sein – ich glaube, Sie sind es –, daß
Sie in dieser Zeit der Abrüstungserfolge Verteidigungs-
minister sein konnten. Eine Million weniger Soldaten
auf deutschem Boden! Aber die Freude über diesen Ab-
rüstungserfolg hat auch damit zu tun, daß wir vorher
– zu Recht – erschrocken waren über die bizarre Überrü-
stung, die der kalte Krieg mit sich gebracht hatte.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])


Wer darauf hingewiesen hatte, hatte ebenso recht wie
der, der für die NATO stritt.

Die meisten Staaten in Mittelosteuropa und Süd-
osteuropa begannen dann, sich auf den friedlichen Weg
hin zu Menschenrechten, Demokratie und nach Europa
zu machen – mit einer wiederum besonders bizarren
Ausnahme: Milosevic in Jugoslawien. Warum wir jetzt
betroffen sind? Weil sich die heutige Situation
Deutschlands und anderer NATO-Staaten von der vor
1989 unterscheidet. Vor 1989 hatten wir nicht die Mög-
lichkeit, zu entscheiden, ob wir den Tschechen helfen.
Heute haben wir diese Möglichkeit. Damit ist der Frie-
densfortschritt gleichzeitig auch wieder ein Schritt hin
zu neuen, viel schwierigeren Entscheidungen, die wir
unter der Ägide der atomaren Abschreckung nicht zu
treffen hatten. Damit sind wir heute – das müssen wir
sehen – konfrontiert.

Ich sehe den Erfolg des militärischen Engagements
der NATO in Jugoslawien voraus und komme zu den
Perspektiven: Wir werden daran gemessen werden, ob
wir Europäer nach dieser Intervention bereit sind, unsere
Europapolitik hinsichtlich der Integration neuer Mitglie-
der zu ändern. Nach Kosovo darf die Frage nicht mehr
lauten „Wer darf in die Europäische Union?“, sondern
muß es heißen: Wir wollen sie alle in Europa haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])


Die NATO war nur so erfolgreich, weil eine andere
gigantische Friedensleistung historischer Dimension
stattfand: das Ende möglicher Kriege in Westeuropa
durch die europäische Integration. Die Vollendung der
europäischen Integration bedeutete das Ende der Kriege
in ganz Europa für alle seine Staaten.

Dieses Europa braucht dann auch – dies lernen wir
jetzt deutlicher denn je – seine eigene Sicherheitsidenti-
tät.


(Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD])


An der zu arbeiten kann nicht mehr wenigen Beamten
überlassen werden, sondern wird eine eminent politische
Aufgabe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn wir das so formulieren, stellt sich die Frage

nach dem Verhältnis zu Rußland und anderen Staaten
der ehemaligen Sowjetunion. Ich versuche, hier eine Vi-
sion zu malen: Ich kann mir vorstellen, daß der nördli-

Peter Zumkley






(A) (C)



(B) (D)


che Teil der nördlichen Erdhalbkugel in einer Perspekti-
ve von 20 Jahren dadurch bestimmt wird, daß drei föde-
rale Staatswesen mit je sicherlich unterschiedlicher Si-
cherheitsidentität – die Vereinigten Staaten von Ameri-
ka, die Europäische Union und die Gemeinschaft Unab-
hängiger Staaten, in welcher Formation auch immer –,
miteinander sicherheitspolitisch in Partnerschaft ver-
bunden, dafür sorgen, daß auf der reichen nördlichen
Halbkugel dieser Welt keine Kriege mehr ausgetragen
werden können. Das muß die Vision sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wenn wir das im Blick haben, kommt die letzte Auf-
gabe notwendig in die Diskussion: Diese NATO muß
dann auch sagen, wie sie sich zu anderen Staaten in die-
ser Welt verhält. Man darf nicht darüber hinweggehen.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, der
Kollege Klose, hat berichtet, daß Inder und Pakistani der
Intervention der NATO im Kosovo nun wirklich nicht
begeistert zustimmen. Vielmehr taucht die Frage auf,
was das für den Weltfrieden bedeutet.

Unbeschadet des Primats der Vereinten Nationen, an
dem Sozialdemokraten nie einen Zweifel hatten, gibt es
eine weitere Aufgabe. Die NATO darf und muß allen
anderen Staaten der Welt weiterhin sagen: Wir lassen
nicht zu, daß wir angegriffen werden. Vermutlich wür-
det ihr einen Angriff im Ernstfall auch nicht überstehen
können; denn es gibt noch atomare Waffen. Aber wir
müssen auch deutlich machen: Wann immer die NATO
oder NATO-Staaten irgendwo intervenieren, muß die
Verhältnismäßigkeit der sicherheitspolitischen Mittel
gelten. Das parteiübergreifende Grummeln über das,
was die Vereinigten Staaten und Großbritannien im Irak
tun, bestätigt das jetzt ja auch. Es muß also ein deutli-
ches Signal sein. Wenn sich die NATO oder NATO-
Staaten außer zur Verteidigung irgendwo engagiert, muß
der Satz von der Verhältnismäßigkeit der Mittel gelten.
Der Einsatz dieser Mittel muß an die Prinzipien der
Humanität gebunden sein. Das wird auf Dauer nur
erreichbar sein, wenn diese NATO bereit ist, Sicher-
heitspartnerschaften mit welchen Ländern dieser Welt
auch immer einzugehen, wenn sie es denn wollen. Dies
am Schluß einer NATO-Debatte in Zeiten der Globali-
sierung zu sagen, halte ich für erforderlich. Herzlichen
Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Kein Beifall bei den Grünen!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403503100
Ich schließe die
Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlagen auf den Drucksachen 14/599, 14/316, 14/454

(neu) und 14/792 an die in der Tagesordnung aufge-

führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/454 (neu) soll an
den Auswärtigen Ausschuß und den Verteidigungsaus-
schuß, aber nicht an den Rechtsausschuß überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ger-
hard Friedrich (Erlangen), Friedrich Merz, Ilse
Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Deutschland muß verläßlicher Partner in
europäischer Raumfahrt bleiben
– Drucksache 14/655 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuß

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Ilse Aigner.


Ilse Aigner (CSU):
Rede ID: ID1403503200
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf der
Ministerratskonferenz der Europäischen Raumfahrt-
agentur ESA am 11. und 12. Mai in Brüssel stehen
richtungweisende Entscheidungen über die zukünftigen
europäischen Raumfahrtaktivitäten an. Hierzu gehören
im wesentlichen die Leistungssteigerung der Ariane 5
zur Anpassung an die Markterfordernisse, die Nutzung
der internationalen Raumstation und die Fortführung des
wissenschaftlichen Erdbeobachtungsprogramms. Gleich-
zeitig soll in Brüssel über kommerziell ausgerichtete
Leitprojekte, die im nationalen Förderprogramm vorge-
sehen sind, wie zum Beispiel über Multimedia-Sa-
tellitentechnologie, entschieden werden.

Vor diesem Hintergrund setzt sich die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion mit dem heutigen Antrag entschie-
den dafür ein, daß die international eingegangen Ver-
pflichtungen am europäischen Raumstations-Entwick-
lungsprogramm von Deutschland auch in Zukunft ein-
gehalten werden. Die erforderlichen Mittel der deut-
schen Beteiligung in Höhe von rund 2,5 Milliarden DM,
die noch von der früheren Bundesregierung für die Jahre
1998 bis 2004 vorgesehen wurden, müssen bereitgestellt
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deutschland hat im europäischen Verbund mit 41 Pro-
zent Beteiligung die führende Rolle beim Raumstations-
programm, und dies muß auch so bleiben.

Die bereits erfolgten Budgetkürzungen von rund 30
Millionen DM wie die noch geplanten Kürzungen bei
der Raumfahrt gefährden die deutsche Beteiligung bei
den neuen Projekten auf europäischer Ebene, vor allem
aber schränken sie den deutschen Arbeitsanteil an wich-
tigen technologischen Vorhaben stark ein. Ohne eine
Aufstockung des deutschen ESA-Beitrages von zur Zeit
970 Millionen DM im Jahre 1999 bzw. 980 Millionen

Dr. Christoph Zöpel






(B)



(A) (C)



(D)


DM im Jahre 2000 können etliche deutsche Firmen, zum
Beispiel die DASA und zahlreiche Mittelständler, ab
dem Jahr 2000 nicht mehr mitforschen. Die Regierung
Schröder verengt damit den Spielraum in wichtigen Fel-
dern der Raumfahrtanwendungen und gefährdet Ar-
beitsplätze, weil die deutschen Beiträge fehlen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das Lafontaine-Syndrom lösen!)


Es wäre doch schon ein Witz, am Bau eines Labors im
Weltraum beteiligt zu sein, dann aber nicht mehr die
finanziellen Mittel zu haben, dieses Labor auch entspre-
chend zu nutzen.

Viele Projekte auf europäischer Ebene können ohne
deutsche Beteiligung voraussichtlich gar nicht realisiert
werden. Ohne das Wissen der DASA und der MAN
Technologie wäre an die Weiterentwicklung der Ariane-
5 nicht zu denken. Nur mit eigenen Trägerraketen kön-
nen wir Europäer im Zukunftsmarkt Satellitennaviga-
tion und Erdbeobachtung mitmischen. Im Moment
transportieren die Amerikaner mehr als 60 Prozent aller
Satelliten, militärische wie kommerzielle, ins All und
übernehmen mit Neuentwicklungen die Führungspositi-
on. Damit gerät Europa erneut in amerikanische Abhän-
gigkeit. Langfristig bedeutet das auch den Verlust von
hochqualifizierten Arbeitsplätzen in Deutschland. Mit
einer leistungsstärkeren Ariane 5 mit wiederzündbarer
Oberstufe würde die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit
europäischer Raumtransportsysteme gegenüber der
amerikanischen und russischen Konkurrenz gesichert.

Für den Zeitraum von 2001 bis 2005 wird mit einem
Bedarf an Satellitenstarts von 60 bis 90 pro Jahr gerech-
net. Die Satelliten werden größer und schwerer. Das
heißt, die Trägerrakete Ariane muß in wenigen Jahren
11 Tonnen statt jetzt 6 Tonnen tragen können.

Frankreich ist mit 45 Prozent Beteiligung bei Ariane
führend. Deutschland hat sich bisher an allen Ariane-
Programmen mit 20 Prozent beteiligt. Bezogen auf die
Ariane-5-Weiterentwicklung bedeutet das die Bereit-
stellung von 100 Millionen DM zusätzlich für die Jahre
2000 bis 2003.

Weiterhin muß die Bundesregierung die angemessene
Beteiligung Deutschlands am Erdbeobachtungspro-
gramm der ESA sicherstellen. In der Erdbeobachtung ist
die deutsche Industrie bei Erforschung, Integration und
dem Test von kompletten Satellitensystemen federfüh-
rend. Dies muß für Wissenschaft wie auch für kommer-
zielle Anwendungen weiterentwickelt werden.

Auch muß der Aufbau eines europäischen satelliten-
gestützten Navigationssystems GNSS unterstützt wer-
den. Damit soll die Abhängigkeit von dem amerikani-
schen GPS und dem russischen Glonass-System, deren
Peilsignale verschlüsselt sind und unter militärischer
Verfügungsgewalt stehen, verhindert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist eine der for-

schungsintensivsten Schlüsselbranchen unserer Volks-
wirtschaft. Direkt und indirekt arbeiten 100 000 Men-

schen in der deutschen Raumfahrt. Rund 95 Prozent der
Arbeitsplätze entstehen außerhalb der eigentlichen
Raumfahrtindustrie, und zwar vor allem in der mittel-
ständischen Wirtschaft. Das bedeutet im Klartext: Jeder
Arbeitsplatz in der Raumfahrtindustrie ermöglicht stati-
stisch in den Folgemärkten, etwa bei Dienstleistern und
Endgeräteherstellern, mehr als zehn weitere Arbeits-
plätze.

Auf Grund technologischer Innovation ist hier ein be-
achtlicher Wachstumsmarkt entstanden, der die Kom-
merzialisierung der Raumfahrt ermöglicht und fördert.
Besondere Marktpotentiale ergeben sich in den Berei-
chen Kommunikation und Satellitentechnik und auch in
interdisziplinären Bereichen wie Mikro- und Optoelek-
tronik, Meßsteuer- und Regeltechnik, Robotik und
Software-Technologie. Hier finden sich hervorragende
Zukunfts- und Wachstumsmärkte für deutsche Welt-
raumunternehmen. Europaweit setzte diese Branche
1997 knapp 5 Milliarden Euro um.

Kommerzielle Anwendungen von Satellitennaviga-
tion nutzen der Sicherheitspolitik, dem Verkehr, dem
Umweltschutz und dem Multimedia-Bereich. Vor die-
sem Hintergrund ist es eine wichtige Aufgabe der For-
schungspolitik, die Arbeitsteilung zwischen öffentlichen
und privaten Akteuren für die Zukunft zu definieren und
besonders bei der Anwendung der Satellitentechnik den
Übergang von staatlicher in private Zuständigkeit zu
planen. Für die Erschließung künftiger Märkte sind des-
halb gemeinsame Anstrengungen zwischen Staat und
Wirtschaft in Form einer Private-Public-Partnership er-
forderlich.

Betrachten wir doch einmal das Ungleichgewicht in
den öffentlichen Forschungs- und Entwicklungsbudgets
von Europa und den USA: Während in den USA 1997
mehr als 10,7 Milliarden Euro für die Raumfahrt ausge-
geben wurden, waren es in Frankreich 1,86, in Italien
0,44 und in Deutschland 0,69 Milliarden Euro. Den
amerikanischen Raumfahrtaufwendungen in Höhe von
mehr als 10 Milliarden Euro stehen also knapp 3 Milli-
arden Euro auf europäischer Ebene gegenüber.

Um der Gefahr eines Substanzverlustes beim tech-
nologischen Know-how, aber auch um der zunehmenden
Abhängigkeit von den Wettbewerbern in den USA ent-
gegenzuwirken, müssen verstärkt europäische Struktu-
ren geschaffen werden. Europa muß sich dem interna-
tionalen Wettbewerb stellen, indem es seine Kapazitäten
weiterentwickelt und gleiche Marktzugangschancen
schafft. Die aktuellen Wettbewerbsbedingungen auf den
Weltmärkten lassen keine Zweifel darüber zu, daß eine
enge Zusammenarbeit in Europa nicht nur eine Chance,
sondern eine Überlebensbedingung für die Raumfahrtin-
dustrie bedeutet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Für nahezu alle Großprojekte gilt, daß sie allein in na-
tionaler Kompetenz kaum noch mit vertretbarem Auf-
wand realisiert werden können, sondern europäische Zu-
sammenarbeit erfordern. Im Vergleich zu den wesentlich
geschlossener auftretenden Amerikanern leiden die
Europäer unter dem vergleichsweise kleinen und zer-
splitterten Markt. Die Bereitschaft, Abhängigkeiten ein-

Ilse Aigner






(A) (C)



(B) (D)


zugehen und Selbständigkeiten aufzugeben, steht einer
konkurrenzfähigen Produktionsstruktur in Europa noch
immer im Wege.

Airbus, Arianespace und Eurocopter sind Beispiele
erfolgreicher europäischer Zusammenarbeit und eine
solide Basis für die Zukunft. Nur eine europäische Luft-
und Raumfahrtindustrie, die technologisch anspruchs-
volle und finanziell ausreichende Entwicklungsmöglich-
keiten hat, ist wettbewerbsfähig und auch für amerikani-
sche oder asiatische Partner interessant. Dazu ist eine
politische Flankierung der industriellen Bemühungen
notwendig. Eine gemeinsame europäische Raumfahrt-
politik muß sich deswegen auch immer als Instrument
europäischer Sicherheits-, Wirtschafts- und Verkehrs-
politik verstehen.

Die USA verstehen die Raumfahrt übrigens auch als
machtpolitisches Instrument: Das GPS ist zum Beispiel
auch ein sicherheitspolitisches Instrument. US-ameri-
kanische Trägerkapazitäten stehen nur ausländischen
Kunden zur Verfügung, die politisches „Wohlverhalten“
zeigen. Erdbeobachtungsdaten der US-Aufklärung wer-
den selbst NATO-Partnern nur in beschränktem Umfang
zur Verfügung gestellt. Forschungskooperationen und
gemeinsame Technologieentwicklungen können jeder-
zeit auf Weisung der US-Regierung gestoppt werden.

Immer teurere und komplexere Systeme machen zu-
nehmend internationale Kooperationen notwendig. Mit
Rußland, der Ukraine, mittel- und osteuropäischen so-
wie einigen fernöstlichen Ländern ergeben sich interes-
sante Möglichkeiten der Zusammenarbeit, technologi-
sche Kompetenz und Produktionskostenvorteile mitein-
ander zu verbinden.

Sogar Bundeskanzler Schröder ist sich dieser Not-
wendigkeit bewußt. Er sagte kürzlich, anläßlich der
Übergabe des Raumfahrtlabors Spacelab an die DASA
am 16. April in Bremen, daß Rußland verstärkt in wis-
senschaftliche und technologische Zusammenarbeit ein-
gebunden werden müsse, und betonte gleichzeitig, daß
die Bundesregierung alle international eingegangenen
Verpflichtungen in der bemannten – oder befrauten –
Raumfahrt auch erfüllen werde. Das läßt mich noch hof-
fen, Herr Bundeskanzler.

Finanzielle Engpässe dürfen nicht dazu führen, daß
sich Deutschland von den neusten Entwicklungen ab-
koppelt und so den Anschluß an das Technologiefeld
Raumfahrtmarkt verliert.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen fordern wir die Regierung auf: Auf der Mi-
nisterratskonferenz in Brüssel muß eine angemessene
finanzielle deutsche Beteiligung vorgesehen werden.
Die europäischen Mitgliedstaaten der ESA benötigen die
versprochene deutsche Unterstützung, um die vorgese-
henen Programme politisch und finanziell mitzutragen
und verwirklichen zu können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403503300
Das Wort hat die
Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau
Edelgard Bulmahn.

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Zwei Ziele bestim-
men die Weltraumpolitik der Bundesregierung. Das er-
ste Ziel ist, mit den finanziellen Fehlplanungen meines
Vorgängers in bezug auf die Weltraumforschung fertig
zu werden


(Beifall bei der SPD)

– das ist leider so – und die Ministerratstagung zum Er-
folg zu führen, ohne den deutschen Beitrag zur Europäi-
schen Weltraumorganisation über Gebühr zu erhöhen.
Das zweite Ziel ist es – dies ist aus meiner Sicht das
mittelfristig wichtigste Ziel –, Raumfahrt als Dienstlei-
stung für exzellente Forschung und für kommerzielle
Anwendung zu fördern und dabei mit den Steuermitteln
so effizient wie möglich umzugehen.


(Beifall bei der SPD)

Die Weltraumforschung hat in der Politik der Bun-

desregierung einen hohen Stellenwert. Ich möchte das
an Hand zweier Zahlen deutlich machen: Der Anteil der
Förderung der Raumfahrt insgesamt – die Projektför-
derung mit ESA, denn auch die ESA-Beiträge sind Pro-
jektförderungsmittel, und die institutionelle Förderung –
am Forschungshaushalt des BMBF beträgt 16 Prozent.
Das ist der weitaus größte Forschungstitel überhaupt.
Nur auf die Projektförderung bezogen, beträgt der Anteil
der Förderung der Raumfahrtforschung sogar 30 Pro-
zent. Das unterstreicht die Priorität der Weltraumfor-
schung in diesem Haushalt. Das unterstreicht aber
gleichzeitig auch das Potential zur Optimierung.

Mein Ziel ist es, in der Raumfahrt Strukturen zu
schaffen und zu fördern, die eine ganz klare wirtschaftli-
che Perspektive haben und eine wissenschaftliche Ex-
zellenz ermöglichen. Wenn wir das erreichen wollen,
dann stellt sich die Frage, wo das Problem zur Zeit liegt.
Das Problem liegt darin, daß 1995 die alte Bundesregie-
rung beschlossen hatte, daß Deutschland 41 Prozent der
Finanzierung des ESA-Beitrages zur Raumstation über-
nimmt. Das ist im übrigen fast doppelt soviel wie unsere
durchschnittliche Beteiligung an allen anderen ESA-
Programmen. Der deutsche Beitrag zu diesem Projekt
steigt demzufolge von 260 Millionen DM 1998 über
474 Millionen DM im Jahre 2001 auf sogar 556 Millio-
nen DM im Jahre 2003. Das bedeutet einen Anstieg um
rund 300 Millionen DM gegenüber 1998, zu dem wir
rechtlich verpflichtet sind.


(Jörg Tauss [SPD]: Haben sie wieder tolle Verträge gemacht!)


Allein diese Zahlen machen deutlich, daß die Kosten für
diese Steigerung zum Beispiel höher sind als die Ausga-
ben des BMWF für die gesamte Projektförderung im
Bereich der Biotechnologie im Jahre 2003. Wir sind uns
darüber einig, daß die Biotechnologie auch ein wichtiger
Zukunftsbereich ist. Das sind keine Peanuts, über die

Ilse Aigner






(B)



(A) (C)



(D)


wir hier reden, zumindest nicht nach meinem Verständ-
nis vom Umgang mit Steuermitteln.

Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
werden in der Finanzplanung von Herrn Rüttgers kei-
nerlei Vorsorge dafür finden, daß sich Deutschland an
sinnvollen Projekten wie an der Weiterentwicklung der
Ariane 5 plus beteiligt.


(Jörg Tauss [SPD]: Unglaublich!)

Sie werden keinerlei finanzielle Vorsorge dafür finden,
daß sich Deutschland an der Fortsetzung der Erdbeob-
achtung beteiligt. Das ist aus meiner Sicht auch ein
wichtiges Programm. Das nenne ich, Herr Mayer, eine
unsolide Finanzpolitik der alten Bundesregierung, die
wir leider auch auf anderen Feldern immer wieder vor-
gefunden haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn ich mir, Herr Mayer, die letzte von der alten
Bundesregierung beschlossene mittelfristige Finanzpla-
nung anschaue – die Daten liegen ebenso wie die Be-
schlüsse vor; sie können Sie alle einsehen –, dann muß
ich feststellen, daß die alte Bundesregierung ESA-
Beiträge in Höhe von 970 Millionen DM bis zum Jahre
2001 eingeplant hatte. Dazu ist keinerlei Vorsorge ge-
troffen worden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wieviel planen Sie?)

Wenn Sie, meine Damen und Herren in der Opposition,
der jetzigen Regierung vorwerfen, sie lasse die Raum-
fahrt im Stich, nachdem Sie in der Vergangenheit mas-
siv gekürzt haben und eine Finanzplanung vorgelegt ha-
ben, die keinerlei Vorsorge beinhaltet, sondern ein
finanzielles Chaos bedeutet, das Sie jetzt kritisieren,
dann kann ich nur dazu sagen, daß Sie damit heute Ihre
Taten von gestern kritisieren. Dazu gehört schon einiges
an Chuzpe.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Kurt J. Rossmanith [CDU/ CSU]: Sie sind doch der Zukunft zugewandt!)


Ich schlage vor, daß wir zu einer sachlichen Ausein-
andersetzung zurückkehren, weil ich den Eindruck habe,
daß wir in der Zielsetzung in vielen Punkten überein-
stimmen. Wir sollten außerdem zu einer sachlichen
Auseinandersetzung zurückkehren, weil es wirklich um
viel Geld geht, über dessen Verwendung wir miteinan-
der entscheiden müssen. Das Geld kann nicht zweimal
ausgegeben werden.

In der Vorbereitung der Ministerratskonferenz
der Europäischen Weltraumorganisation am 11. und
12. Mai 1999 werden wir versuchen, die wichtigen und
sinnvollen Projekte der Raumfahrt zu erhalten. Wir
wollen das Wissenschaftsprogramm der ESA weiterfüh-
ren. Wir wollen vor allen Dingen eine angemessene
Teilnahme Deutschlands am Projekt „Ariane 5 plus“, für
das bisher, wie gesagt, überhaupt keinerlei Vorsorge ge-
troffen worden ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen im Rahmen unserer Möglichkeiten auch eine
Beteiligung an dem Programm zur Erdbeobachtung.
Schließlich müssen wir auch unseren Verpflichtungen in
der bemannten Raumfahrt nachkommen.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Es wird nicht einfach sein, dies alles unter einen Hut zu
bringen. Es wird nur dann funktionieren, wenn alle Be-
teiligten daran mitwirken.

Wir wollen angemessene Korrekturen, ohne dabei
unsere Verpflichtungen grundsätzlich in Frage zu stel-
len. Wir wollen insbesondere nicht, wie es ein Berater
eines großen deutschen Raumfahrtkonzerns in einem
Schreiben an den Vorsitzenden des Haushaltsausschus-
ses vorgeschlagen hat, die Max-Planck-Gesellschaft, die
Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die Fraunhofer-
Gesellschaft für eine falsch angelegte Raumfahrtpolitik
finanziell büßen lassen.


(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben mehr Haushaltsmittel als die Vorgängerregie-
rung in unsere mittelfristige Finanzplanung eingestellt.
Aber es muß bei einer moderaten Erhöhung bleiben.

Ich habe Gespräche mit Vertretern der deutschen
Wissenschaft und der deutschen Industrie geführt und
habe mich dabei zusammen mit allen Beteiligten darum
bemüht, durch Einsparen und Strecken von Mitteln eine
Lösung für das von der alten Bundesregierung ange-
richtete Dilemma zu finden.

In Gesprächen mit Frankreich und Großbritannien –
in der nächsten Woche folgt noch ein Gespräch mit Bel-
gien – habe ich versucht, Lösungen zu finden. All diese
Gespräche – das kann ich so zusammenfassen – stim-
men mich gedämpft optimistisch, daß wir hier zu einer
Lösung kommen. Aber ich sage auch ganz deutlich, daß
wir noch nicht über den Berg sind.

Ich wünsche mir, daß wir eine möglichst parteiüber-
greifende Haltung entwickeln können, um unseren Part-
nern in der ESA deutlich zu machen, daß wir es mit un-
serem Beitrag zur Lösung der Krise ernst meinen, aber
auch von unseren Partnern in der ESA einen angemes-
senen Beitrag erwarten.


(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die Wirtschaft hat einen

größeren Beitrag zur Bewältigung der anstehenden Auf-
gaben zu leisten. Es muß ein Anliegen der Wirtschaft
sein, überzeugende Ansätze und Konzepte für innovati-
ve Dienstleistungen auf Gebieten wie der Satellitennavi-
gation und der Satellitenkommunikation, bei den Träger-
raketen und sowie eingeschränkt auch bei der Erdbeob-
achtung zu liefern. Bei vorhersehbarer Marktrentabilität,
wie es etwa bei der Satellitennavigation ganz klar der
Fall ist, müssen die Unternehmen eine größere Verant-
wortung für die Finanzierung der Programme und eine
Beteiligung an den Risiken übernehmen. Die Bündelung
der Kräfte, wie sie sich teilweise in der europäischen
Luft- und Raumfahrtindustrie vollzieht, schafft hierfür
übrigens auch eine gute Voraussetzung.

Bundesministerin Edelgard Bulmahn






(A) (C)



(B) (D)


Wachsende Verantwortung sehe ich aber nicht nur
auf seiten der Wirtschaft, sondern auch auf seiten der
wissenschaftlichen Nutzer. Wir müssen gemeinsam
Vorschläge entwickeln, wie wir die Eigenverantwortung
der Wissenschaft für den Betrieb und die Nutzung
raumgestützer wissenschaftlicher Infrastrukturen stärken
können. Die Raumfahrtinvestitionen insgesamt müssen
sich stärker am Bedarf der fachlichen Nutzer ausrichten.

Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, zwei
Ziele bestimmten unsere Weltraumpolitik. Wenn das er-
ste Ziel sein muß, nach der Fehlentwicklung auf der Mi-
nisterratstagung von 1995 und nach der gescheiterten
Ministerratstagung im Jahr 1998 in diesem Jahr zu einer
für alle Beteiligten akzeptablen Lösung zu kommen, so
lautet das zweite und eigentliche Ziel: Wir wollen
Raumfahrt als Dienstleistung für exzellente Forschung
und für kommerziell nutzbare Anwendungen. Wir wol-
len keine politischen Luxusprojekte, sondern wir wollen
wissenschaftlich und wirtschaftlich sinnvolle Projekte.
Dazu brauchen wir mittelfristig einen neuen Ansatz so-
wohl in der ESA als auch in der nationalen Raumfahrt-
politik.

Alle Projekte in der Raumfahrt müssen sich densel-
ben Kriterien wie Projekte in anderen Bildungs- und
Forschungsbereichen unterwerfen. Diese Kriterien sind:
wissenschaftliche Qualität im richtigen Verhältnis zu
finanziellem Aufwand und kommerziellem Nutzen. Das
richtige Verhältnis, das ich meine, sollte auch eine an-
gemessene Beteiligung der industriellen Nutznießer wi-
derspiegeln.

Experimente unter Schwerelosigkeit ja, aber alles,
was im Raum mit Robotern billiger als mit Menschen zu
machen ist, sollten wir den Robotern überlassen. Sie
brauchen jedenfalls keine immens teuren Lebenserhal-
tungssysteme und erzielen in vielen Fällen den gleichen
Effekt zu wesentlich niedrigeren Kosten. Darüber hinaus
– auch das ist dabei ein wichtiges Ziel – können solche
Technologien auch auf der Erde nutzbringend ange-
wandt werden, wie man gerade jetzt auf der Industrie-
messe gut beobachten kann; ich denke beispielsweise an
die Fernwartung. Raumfahrt muß rational und nicht nur
als Medienschau von Astronauten geplant werden, auch
wenn ich deren Leistung sehr wohl anerkenne und re-
spektiere.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Denken Sie einmal an Ihre Parteitage!)


Erdbeobachtung zur Klimaforschung ja, aber auch
hier in Relation zu anderen Aufwendungen und Not-
wendigkeiten, beispielsweise zu der notwendigen Be-
schaffung von Höchstleistungsrechnern, um Klimamo-
delle effizienter und aussagekräftiger zu machen.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403503400
Frau Bundesmi-
nisterin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Thomas Rachel?

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Selbstverständlich.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1403503500
Frau Ministerin, Sie
haben deutlich zu machen versucht, daß das Neue an Ih-
rer Politik darin bestehe, im Bereich der Raumfahrt kein
Medienspektakel für Astronauten zu organisieren und
zugleich zu einer rationellen, durchgerechneten Raum-
fahrtpolitik zu kommen. Wie verträgt sich das damit,
daß sich Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einem
riesigen Medienzirkus beim Empfang des US-
Astronautenveteranen John Glenn im Kanzleramt hat
feiern und ablichten lassen, während Sie dabei sind, den
Raumfahrthaushalt zu kürzen?

Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß die Ministerratskon-
ferenz von 1995 der ESA, die Sie gerade kritisiert ha-
ben, auf Grund der Initiative Ihres Vorgängers, Jürgen
Rüttgers, dazu geführt hat, daß das sogenannte Konzept
„design to budget“ eingeführt wurde, daß also im Be-
reich der Raumfahrt wirtschaftlich gehandelt werden
muß? Ist Ihnen ferner bekannt, daß dieses Konzept
schon ganz konkrete Folgen aufweist? Denn der Rönt-
genastronomie-Satellit Abrixas, der am 28. dieses Mo-
nats in das Orbit gesandt wird, wird einen um einen
Faktor 10 niedrigeren Kostenaufwand als der Vorgänger
Rosat haben. Das heißt: Wir befinden uns auf einem
wirtschaftlich vernünftigen Kurs. Ich finde es insofern
etwas billig – das müssen Sie selbst einräumen –, daß
Sie diese politische Wende hin zu einer vernünftigen
Raumfahrtpolitik plötzlich in Frage stellen.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403503600
Herr Kollege Ra-
chel, Sie haben sich zu einer Zwischenfrage gemeldet.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1403503700
Das waren drei Fra-
gen: ob ihr das bekannt ist.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403503800
Herr Kollege Ra-
chel, ich möchte keine Diskussion mit Ihnen führen.

Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und
Forschung.

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Herr Kollege Rachel, erstens ist es
falsch, daß ich den Weltraumtitel kürze. Im Gegenteil:
Ich erhöhe ihn gegenüber der mittelfristigen Finanzpla-
nung der alten Bundesregierung.

Zweitens besteht das wichtigste Ziel meiner Politik
im Unterschied zur alten Regierung darin, daß ich die
Weltraumforschung insgesamt auf die beiden Ziele wis-
senschaftliche Exzellenz und kommerzielle Nutzung
ausrichten möchte. Ich bin sehr davon angetan, daß die-
se Zielsetzung in einem Gespräch mit den Vertretern der
deutschen Industrie wie auch mit den Vertretern der
Wissenschaftsorganisationen auf eine sehr positive Re-
sonanz gestoßen ist und daß sich alle Beteiligten darin
einig waren, daß meine Vorschläge einen sinnvollen
Weg darstellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Na, na!)


Bundesministerin Edelgard Bulmahn






(B)



(A) (C)



(D)


Herr Kollege Rachel, ich möchte auch Ihre weiteren
Fragen beantworten. Ich bin durchaus der Auffassung,
daß die Verwirklichung des Konzepts „design to bud-
get“ ein wichtiges Ziel ist, das leider noch nicht erreicht
worden ist. Ich gehe nachher noch auf diesen Punkt ein.

Ich habe vorhin schon gesagt, daß es mir wichtig ist,
daß das gesamte Parlament der ESA gegenüber deutlich
macht, daß wir nicht gewillt sind, hinzunehmen, daß die
ESA die Finanzplanung überschreitet, so wie das leider
immer wieder der Fall gewesen ist, und daß wir nicht
gewillt sind, den hohen Anteil der administrativen Ko-
sten der ESA weiterhin hinzunehmen. Es wäre mir sehr
lieb, wenn man in diesem Punkt eine breite Überein-
stimmung im Parlament erreichen könnte, was bisher
eigentlich immer der Fall war.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Ziele sind gegenüber der ESA leider immer
noch nicht durchgesetzt worden. Sie werden aber nicht
nur von der deutschen Regierung, sondern auch von un-
seren europäischen Partnern verfolgt. Ich würde es für
ziemlich fatal halten, wenn man von diesen Zielen mit
dem Verweis, daß sie vereinbart, leider aber noch nicht
erreicht worden seien, Abstand nehmen würde.

Auch ich selbst habe den Astronauten Glenn empfan-
gen, weil ich seine persönliche Leistung durchaus aner-
kenne.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin der Meinung, daß wir in der Weltraumfor-
schung insgesamt – auch das ist eine Einschätzung, die
unsere Partner teilen – die kommerziellen Marktchancen
besser nutzen müssen, als das in der Vergangenheit der
Fall gewesen ist. Diese Nutzungsmöglichkeiten liegen
vor allen Dingen im Bereich der Telekommunikations-
satelliten und der Navigationssatelliten. Ich halte es für
fatal – ich sage ganz offen: ich finde es bedauerlich, aber
es ist leider so –, daß Europa gerade in diesen wichtigen
Anwendungsbereichen im Grunde genommen zehn Jah-
re verspielt hat. Ich hätte mir gewünscht, daß wir schon
Ende der achtziger Jahre – wir haben häufig im Parla-
ment miteinander darüber diskutiert – diese Priorität ge-
setzt hätten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das war leider bei den damaligen Mehrheitsverhältnis-
sen nicht möglich.

Ich hoffe aber, daß wir jetzt die richtige Weichen-
stellung vornehmen; denn wir wollen die Steuermittel
auch zum Nutzen der Menschheit einsetzen. Dazu ge-
hört sowohl die Nutzung von Telekommunikation und
Erdbeobachtung wie auch die Grundlagenforschung.


(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Erdbeobachtung zur

Klimaforschung, ja, das ist ein wichtiges Ziel. Aber die-
ses Ziel muß in Relation zu Aufwendungen und Not-
wendigkeiten stehen. Grundlagenforschung – dies ha-
be ich schon in meiner Antwort auf die Zwischenfrage
gesagt – ja, denn der Weltraum ist eines der wichtigsten

Themen für Erkenntnisse über physikalische Zusam-
menhänge unserer Welt und damit über die Entstehung
des Weltalls. Auch dafür müssen wir Finanzmittel be-
reitstellen.

Kommerzielle Anwendungen der Raumfahrt, bei-
spielsweise bei der Satellitennavigation: ja, das wollen
wir im Rahmen einer Public-Private-Partnership. Ich
hoffe, daß es uns bei Galileo wirklich gelingt, das jetzt
endlich zu machen und nicht nur darüber zu reden. Ich
meine eine Public-Private-Partnership, bei der die Nut-
zer der Satellitennavigation das Raumfahrtsegment ent-
scheidend mitfinanzieren und die öffentliche Hand die
Rahmenbedingungen schafft, die wir dafür brauchen.

Trägerraketen: ja, aber mit einer unternehmerischen
Perspektive und finanzieller Mitverantwortung der Indu-
strie in der Entwicklung.


(V o r s i t z : Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Meine Damen und Herren, das sind unsere Prioritä-

ten. Wir werden diese Prioritäten nur dann erfüllen kön-
nen, wenn die Forschung bei der Prioritätensetzung
mitwirkt. Das gilt vor allem bei der Entscheidung, ob
Projekte besser durch die Raumfahrt oder ob sie besser
auf der Erde durchgeführt werden können. Dieses Ziel
läßt sich zur Zeit im Rahmen der eingefahrenen Spielre-
geln der ESA – in der Bundesrepublik ist das im übrigen
etwas anders – nur äußerst mühsam erreichen. Wir wer-
den die Vorhaben nur dann verwirklichen können, wenn
unsere Unternehmen Prioritäten dort setzen, wo sich
neue Märkte mit interessanten wirtschaftlichen Perspek-
tiven entwickeln. Schließlich werden wir diese Prioritä-
ten nur erfüllen, wenn die Europäische Weltraumorgani-
sation für Reformen offen ist, um die Entscheidungssi-
tuation transparent und nachvollziehbar zu machen und
um das, was als Ziel beschrieben worden ist, endlich er-
reichen zu können.

Ich möchte ein Zitat vortragen, das aus meiner Sicht
noch immer die Situation beschreibt:

Die ESA kennt unsere Anforderungen. Bislang ha-
be ich allerdings nicht den Eindruck, daß sie die
Brisanz dieser Fragen und dieses Anliegens voll-
ständig erkannt hat und mit dem notwendigen
Nachdruck arbeitet.

Dieses Zitat stammt aus der Rede meines Vorgängers in
diesem Amt aus der Bundestagsdebatte vom 29. März
1995. Leider trifft es nach wie vor den Punkt.

Lassen Sie uns gemeinsam an den notwendigen Kor-
rekturen arbeiten, damit wir den Steuerzahlern guten
Gewissens sagen können: Wir gehen sparsam mit eurem
Geld um. Wir investieren es in Projekte, die für den
Fortschritt der Wissenschaft notwendig sind, für unsere
wirtschaftliche, gesellschaftliche und technologische
Entwicklung Sinn machen und deshalb Priorität erhalten
müssen. Das, meine Herren und Damen, nenne ich eine
rationale Politik auf dem Gebiet der Weltraumfor-
schung. Dafür werbe ich um Unterstützung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bundesministerin Edelgard Bulmahn






(A) (C)



(B) (D)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403503900
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Dr. Martin Mayer das
Wort, bitte sehr. – Sie dürfen dann antworten, Frau
Ministerin, wenn Sie möchten.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Muß sie aber nicht!)


– Dürfen, nicht müssen!


Dr. Martin Mayer (CSU):
Rede ID: ID1403504000
Frau
Bundesministerin, Sie haben die Raumfahrtpolitik der
alten Bundesregierung in scharfer Weise kritisiert und
dabei auch mich als Mitglied der damaligen Regie-
rungskoalition angesprochen. Das ist ja die alte Platte.
Dazu möchte ich drei Bemerkungen machen.

Erstens. Sie könnten den Haushalt, den wir in der
nächsten Sitzungswoche verabschieden, nicht so gestal-
ten, wenn nicht die Regierung Kohl/Waigel


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Da waren noch ein paar andere beteiligt!)


durch ihre solide Finanz- und Wirtschaftspolitik

(Lachen bei der SPD)


die Grundlage dafür gelegt hätte, daß die Steuereinnah-
men wieder besser sprudeln.

Zweitens. In der europäischen Raumfahrtpolitik gab
es gerade in den letzten zehn Jahren einen Umbruch zu
bewältigen, der beispiellos ist und der dadurch bedingt
ist, daß sich die Verhältnisse in der Welt gewandelt ha-
ben und daß Europa von einer autarken Weltraumpolitik
Abschied genommen und sich in die internationalen
Verbünde integriert hat.

Drittens. Es ist Aufgabe der Regierung, die Prioritä-
ten im einzelnen zu setzen. Sie haben vorhin von Zu-
kunftstechnologien und von der Zukunft in der Raum-
fahrt gesprochen. Es ist absolut unverständlich, daß sich
die Bundesrepublik Deutschland offenbar nicht an der
Fortführung der Entwicklung der zentralen Zukunfts-
technologie der Raumtransportsysteme – ich meine die
wiederverwendbaren Systeme – beteiligt.

Sie reden von Zukunft, aber in Wirklichkeit verspie-
len Sie die Zukunft!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403504100
Frau Ministerin, Sie
möchten antworten? – Bitte sehr.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Jetzt wird es gefährlich: Die Ministerin faltet die Hände!)


Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ich bringe nur die notwendige Geduld
auf, die wir – das wissen Sie doch seit langem, Herr Hir-
che – bei dieser Technik haben müssen. Geduld muß
man in der Politik manchmal auch haben.

Herr Mayer, es ist falsch, wenn Sie sagen, die Bun-
desrepublik wolle sich nicht an der Weiterentwicklung

der Trägertechnologien beteiligen. Gerade weil ich das
will, habe ich Gespräche mit den Unternehmen, mit der
Wirtschaft, mit den Wissenschaftsorganisationen und
auch mit den europäischen Partnerländern geführt.

Leider ist es aber so, daß die alte Bundesregierung
keinerlei finanzielle Vorsorge für die Beteiligung an die-
sen Projekten getroffen hat. Deshalb muß ich dieses un-
geordnete Erbe – dabei handelt es sich im übrigen um
das Zitat eines Unternehmens – jetzt ordnen. Ich glaube,
daß das gelingen kann und auch gelingen wird; denn ich
habe den Eindruck, daß alle Beteiligten bereit sind, da-
bei mitzumachen. Wir übernehmen unseren Teil der
Verantwortung. Die anderen Beteiligten – Wirtschaft,
ESA-Partner und Wissenschaftsorganisationen – müssen
ihren Teil der Verantwortung übernehmen.

Einen kleinen letzten Hinweis kann ich mir nicht ver-
kneifen, Herr Mayer. Als Sie über das finanzielle Erbe
sprachen und sagten, wie gut dies geordnet sei, lachte
nicht nur die Koalition, sondern auch eine ganze Reihe
von Oppositionsabgeordneten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich kann Ihnen nur sagen: In diesem Feld habe ich

wirklich ein ungeordnetes Erbe vorgefunden. Es wird
sehr schwierig sein, dieses Erbe so zu ordnen, daß wir
wichtige Chancen nicht verspielen. Da ich dies verhin-
dern möchte, haben wir diese Gespräche geführt. Daher
werde ich auch bei den ESA-Verhandlungen zu errei-
chen versuchen, daß wir zu einer Verständigung kom-
men, damit die Beteiligung an der Weiterentwicklung
der Ariane gewährleistet ist, damit wir uns an der Erd-
beobachtung entsprechend beteiligen können – dies
halte ich ebenfalls für ein wichtiges Feld –, damit wir
das Wissenschaftsprogramm fortführen können und da-
mit wir – so, wie ich es gesagt habe – in Zukunft wirk-
lich ein verläßlicher ESA-Partner sind, und zwar nicht
nur auf dem Papier, sondern auch in der konkreten
finanziellen Planung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403504200
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die
Grünen.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403504300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Bündnis 90/Die Grünen stehen zur Raumfahrt. Sie
werden vielleicht staunen, meine Damen und Herren
von der Opposition. Wir sind nicht technikfeindlich, wie
Sie der Öffentlichkeit immer wieder weismachen wol-
len.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ihr sagt das doch, nicht wir!)


Allerdings – das unterscheidet uns von der blinden
Technikhörigkeit der vergangenen Jahrzehnte – haben
wir andere, sehr gut begründete Bewertungsmaßstäbe.
Andere Gewichtungen in der Raumfahrt werden uns






(B)



(A) (C)



(D)


auch zu anderen Schwerpunktsetzungen bei der Mittel-
vergabe führen.

Unverzichtbar ist für uns die Erderkundung aus
dem Weltall.


(Zuruf der CDU/CSU: Toll!)

Erdbeobachtungen von Satelliten geben uns umfassend
und dringend benötigte Daten für die Umweltverände-
rungen und die Umweltzerstörungen auf dieser Erde.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Die kleinen grünen Männchen!)


In Umweltkonferenzen, zum Beispiel zum Klimaschutz,
sind durch Satelliten gewonnene Daten eine wichtige
Verhandlungsgrundlage. Dieses Feld einfach anderen
Staaten zu überlassen hieße, die eigene Verhandlungs-
position zu schwächen. Damit würde im Falle der jetzi-
gen Bundesregierung ein bedeutender Anwalt der Um-
welt in eine ungünstige Verhandlungsposition gebracht.

Auch die Landwirtschaft und die Entwicklungshilfe
profitieren in zunehmenden Maße von der Satelliten-
technik. Die Grundlagenforschung für die Stillung des
menschlichen Wissensdurstes gibt wichtige Rückschlüs-
se auf die Stellung des Menschen im Universum. Span-
nende Fragen stellen sich bei der Erkundung des Plane-
tensystems und beim Blick in die Tiefen des Alls. Be-
sonders positive Beispiele astronomischer Grundlagen-
forschung sind das Weltraumteleskop Hubble oder der
neue Röntgensatellit. Allerdings ist bei der Stillung die-
ses Wissensdurstes darauf zu achten, daß wir das Leben
auf der Erde nicht gefährden.

Ein besonders negatives Beispiel, das die alte Bun-
desregierung mit zu verantworten hat, ist die Verwen-
dung von Plutonium in Raumsonden. Cassini wird im
August beim Swing-by-Manöver um die Erde Leben auf
diesem Planeten gefährden. Die bestehende Gefahr einer
radioaktiven Verseuchung legt den Gedanken nahe, die
Sonde besser in die Sonne umzuleiten, als ein großes Ri-
siko einzugehen. Es war schon unverantwortlich, diese
Sonde zu bauen und zu starten. Entweder hätte die alte
Bundesregierung auf Alternativantriebe setzen sollen
oder so lange warten müssen, bis adäquate Antriebe zur
Verfügung stehen.

Als Erblast der alten Bundesregierung hat die be-
mannte Raumfahrt einen finanziellen Stellenwert, der
ihr unter dem Gesichtspunkt des wissenschaftlichen
Nutzens nicht zusteht. Daran werden wir leider nichts
ändern können, da wir die völkerrechtlich verbindlichen
Verträge einhalten müssen. Angesichts knapper Haus-
haltskassen stehen alle Ausgaben unter einem hohen Le-
gitimationszwang. Ausgaben mit geringer Nutzungseffi-
zienz sind gegenüber dem Steuerzahler schwer zu recht-
fertigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Bürger fordert mit Recht, daß sein Geld so sinn-

voll wie möglich ausgegeben wird.

(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Sorgt mal dafür, daß was passiert!)


– Hören Sie nur zu! – Wir sollten daher jeden noch so
kleinen Spielraum nutzen, die Kosten für die Raumsta-
tion zu senken. Notfalls sollte auch zeitweise auf eine
Nutzung verzichtet werden, bevor man, etwas polemisch
ausgedrückt, anfängt, Astronauten Tischtennis spielen
zu lassen, um die Flugbahn des Balles unter der Bedin-
gung der Mikrogravitation beobachten zu können.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das war ja ein wahnsinnig toller Gag gerade!)


Ich will damit nicht in Zweifel ziehen, daß es selbst-
verständlich auch in der Raumstation sinnvolle Forschung
gibt. Ich bin Ihnen, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, dankbar, daß Sie die Diskussion über die Zu-
kunft der Weltraumfahrt mit Ihrem Antrag ein Stück weit
wieder in Gang gebracht haben. Aber leider geht Ihr An-
trag in die falsche Richtung. Falsche Schwerpunktsetzun-
gen der Vergangenheit sollen nochmals verstärkt werden.
Sie treten dafür ein, daß der Staat immense Summen in
die Weltraumtechnik investiert, die Industrie sich über
Geschenke der Politik freut und die Frage nach dem ge-
sellschaftlichen Nutzen nicht gestellt wird.

In der deutschen Raumfahrtpolitik hat es Tradition,
daß weitreichende Entscheidungen über Programme mit
langfristigen Bindungswirkungen auf unzureichender In-
formationsbasis gefällt wurden. Insbesondere das Par-
lament als eigentlicher Souverän verfügte allenfalls über
bruchstückhaftes und oftmals selektiv aufbereitetes Wis-
sen. Dies wird die neue Bundesregierung ändern.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Davon kann ja wohl bisher keine Rede sein!)


Es werden unter anderem Entscheidungen getroffen
über die Nutzung sowie den weiteren Ausbau der Raum-
stationen, über die Weiterentwicklung der Ariane-5-
Rakete, über die Entwicklung künftiger Raumtransport-
systeme, was früher unter den Schlagworten „Hermes“
und „Sänger“ lief. Die Forderungen der ESA bergen er-
hebliche finanzielle Risiken, die die Bundesregierung
zum Glück für die Steuerzahler und die Forschungsland-
schaft nicht eingehen wird. Ich werde die Probleme im
folgenden einzeln ansprechen.

Die Raumstation hat aus forschungspolitischer Sicht
keine Priorität. Die Effizienz der eingesetzten For-
schungsmittel ist gering. Von der Kernfusion vielleicht
abgesehen, gibt es wohl kaum einen Bereich, in dem für
jede Forschungsmark weniger Forschungsoutput erwar-
tet werden kann.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Also sind Sie dagegen?)


Die Überlegungen der Bundesregierung, hier Kosten
einzusparen, werden daher von unserer Fraktion aus-
drücklich begrüßt.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Sind Sie gegen die Station?)


– Nicht vollständig. Wir wollen eine Senkung der
Mittel.


(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Sie wollen sie also bauen, aber nicht nutzen!)


Hans-Josef Fell






(A) (C)



(B) (D)


– Hören Sie zu, ich gehe weiter darauf ein. – Ich hoffe
sehr, daß die Entscheidung der alten Bundesregierung,
einen zu großen deutschen Finanzierungsanteil zu über-
nehmen, gemeinsam mit den europäischen Partnern
noch nach unten korrigiert werden kann.

So lautet meine Antwort: Wir sind nicht strikt dage-
gen; wir wollen nur geringere Mittel, eine Streckung
dieser Aufwendungen über einen längeren Zeitraum
hinweg, damit dieser Finanzierungsbuckel im wesentli-
chen in den Griff bekommen werden kann.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Die Station muß erst nach oben, nicht nach unten!)


– Sie ist ja teilweise schon oben, wie Sie wissen.
Zur Ariane. Die staatliche Finanzierung der Weiter-

entwicklung sollte so gering wie möglich ausfallen. Es
ist zu begrüßen, daß die Regierung auch hier die Kosten
senken will. Die Industrie – da sind wir uns einig – muß
stärker an den Kosten beteiligt werden. Zu einem Zeit-
punkt, an dem die Ariane 4 Gewinne abwirft und die
Amerikaner die Finanzierung ihrer Trägersysteme mehr
und mehr privatisieren, sollte auch die europäische In-
dustrie ihren Beitrag leisten und nicht nur die Hand auf-
halten. Die Gegenfinanzierung der Forderungen in Ih-
rem Antrag ist vollkommen unklar. Bezeichnenderweise
ist davon in Ihrem Antrag auch gar keine Rede. Sicher
ist nur das eine, daß an anderer Stelle Forschungsmittel
eingespart werden müßten. 100 Millionen DM in der
Forschung einzusparen – so hoch läge nach Ihren Forde-
rungen der jährliche Aufwuchs mindestens – hieße, daß
sinnvolle andere Forschungsmaßnahmen mit hoher
Wahrscheinlichkeit nicht durchgeführt werden.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Wieso ist das die Alternative?)


Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Oppo-
sition, wollen, daß die Mittel für die Erderkundung ge-
strichen werden, dann sagen Sie das auch. Sagen Sie uns
aber wenigstens, wo Sie die Schwerpunkte in der Finan-
zierung setzen.


(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Sie wollten doch die Forschungsmittel verdoppeln! Warum müssen Sie dann streichen?)


– Es geht angesichts knapper Haushaltsmittel einfach
nicht an, daß für einen Bereich ein übermäßiger Auf-
wuchs vorgesehen wird, der nicht finanzierbar ist.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: 50 Millionen DM sind kein Übermaß!)


Wir haben die Forschungsmittel erhöht und werden
sie sinnvoll auch in Technologien einsetzen, wo wir
einen Aufwuchs wünschen.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Ich nenne Ihnen beispielsweise neue Energieträger,

Brennstoffzellen und vieles andere mehr, was Sie ja
auch wünschen. Aber wo Sie die Mittel für die Gegen-
finanzierung herbekommen, ist mir unklar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auf der Tagesordnung der Ministerratskonferenz
steht auch die Entwicklung weiterer Raumfahrttrans-
portsysteme. Was sich hier so unscheinbar liest, ist
eigentlich – ich erwähnte es schon – die klammheim-
liche Wiederauferstehung der Raumtransporter Hermes
und Sänger. Mit gutem Grund wurden beide Projekte
nach einer intensiv geführten Diskussion in den 90er
Jahren bereits beerdigt. Nun soll es anscheinend ohne
Diskussion zu einem neuen Anlauf kommen. Mit der
unscheinbaren Bezeichnung Atmospheric Reatmosphe-
ric Administrator soll der Einstieg gelingen. Statt über
solche weitreichenden und unglaublich teuren Projekte
im vorhinein zu diskutieren und zu entscheiden, verfol-
gen Sie hier eine Salamitaktik. Schritt für Schritt soll an
die Transportsysteme herangegangen werden. Man
steigt mit ein paar Dutzend Millionen ein, geht dann auf
einige hundert Millionen und zielt auf einige Milliarden
ab. Wenn wir hier nicht aufpassen, werden die Kosten
steigen wie eine Rakete.

Hermes, der Traum der Franzosen, und Sänger, der
Traum deutscher Technokraten, dürfen nicht durch die
Hintertür eingeführt werden. Entweder will man diese
Systeme, dann soll man das auch laut sagen und zur
Diskussion stellen, oder man will sie nicht, dann soll
man auch kein Geld in sie investieren. Die Bundesregie-
rung tut daher gut daran, hier keine Gelder zu ver-
schwenden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bündnis 90/Die Grünen empfehlen der Bundesregie-

rung, die Ausgaben für die bemannte Raumfahrt mög-
lichst niedrig zu halten, um Spielräume für eine nach-
haltige Forschungspolitik zu lassen. Konkret bedeutet
dies:


(Walter Hirche [F.D.P.]: Unterstützen Sie nun die Ministerin oder nicht?)


– Aber sehr.

(Walter Hirche [F.D.P.]: Sie haben aber etwas anderes gesagt!)

– Aber nicht im Detail.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Bundesregierung sollte versuchen, einen degres-

siven Finanzierungsmodus für die Raumstation durchzu-
setzen, der eine jährliche Kürzung der Mittel um 5 bis
10 Prozent beinhaltet. Damit werden wir Anreize für
eine stärkere Anwendungsorientierung sowie für die
kommerzielle Nutzung der Raumstation geben.

Nach 16 Jahren Raumfahrtpolitik, die von übertriebe-
nen und teuren Projekten geprägt war, ist es an der Zeit,
neue Akzente zu setzen. Im Sinne einer modernen For-
schungs- und Innovationspolitik sollte die Bundesregie-
rung einen Dialog mit Herstellern und Nutzern von
Raumfahrtsystemen initiieren, um auf diese Weise zu-
kunftsfähige Szenarien für die Entwicklung und Nut-
zung von Raumfahrtechnik zu entwickeln. Ich weiß, daß
Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU und F.D.P., mir grundlos Technikfeindlichkeit
vorwerfen. Technik ist elementar, und dies gilt auch für
Teile der Weltraumfahrt. Wir wollen nur, daß die For-

Hans-Josef Fell






(B)



(A) (C)



(D)


schungsmittel dort eingesetzt werden, wo sie helfen
können, Probleme zu lösen.

Folgende Felder der Weltraumforschung – ich
hatte sie eingangs bereits angerissen – halten wir für be-
sonders wichtig: erstens die Atmosphären- und Klima-
forschung, die wichtige Beiträge zur Diagnose von Kli-
maveränderungen oder auch zur Wettervorhersage bei-
steuern kann; zweitens die Erdbeobachtung, die unter
anderem zur Diagnose von ökologierelevanten Prozes-
sen genutzt werden kann. Dort, wo Flugzeuge die Beob-
achtungstätigkeit effizienter gestalten können, sollten
diese aber Priorität haben, weil sie billiger sind.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Ent-
wicklung von Solarbetrieben in Flugzeugen zur Erder-
kundung in den USA hinweisen. Es ist grundsätzlich
sinnvoll, die Nutzer an den Kosten zu beteiligen. Im
Falle des BMU und BMZ bestehen aber keine finan-
ziellen Spielräume, um die mitunter hohen Kosten dek-
ken zu können. Hier muß die Bundesregierung insge-
samt Vorsorge leisten und darf nicht einfach eine Mit-
telverschiebung vom Forschungsministerium zum Um-
weltministerium verlangen. Ansonsten besteht die Ge-
fahr, daß die Erdbeobachtung und Klimaforschung nicht
mehr finanziert werden können.

Drittens. Die extraterrestrische Forschung, die zur
Erweiterung unseres Wissens über unser Planetensystem
und den Weltraum beiträgt, halten wir für nötig. Das
Wissensbedürfnis des Menschen in diesem Bereich ist
so tiefgehend, daß es ein Armutszeugnis wäre, auf die-
ses Engagement zu verzichten.

Ich denke, wir vom Bündnis 90/Die Grünen halten
die Raumfahrt für wichtig und zukunftsträchtig. Die
Schwerpunkte müssen allerdings am Nutzen für die
Menschheit ausgerichtet werden. Daher werden wir den
Antrag der CDU/CSU für ein undifferenziertes Fordern
nach dem technisch Machbaren, ohne daß Sie sich Ge-
danken gemacht hätten, wo angesichts knapper Haus-
haltskassen sinnvolle Schwerpunkte zu setzen wären,


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das nehmen Sie sofort zurück!)


nicht unterstützen. Statt dessen werden wir Frau Bul-
mahn in ihrem Bemühen unterstützen, die Raumfahrt-
politik der neuen Bundesregierung effizienter aus-
zurichten, als es in den letzten zehn Jahren geschehen
ist.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Gegen Effizienz kann niemand etwas haben!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403504400
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Jürgen Möllemann, F.D.P.-
Fraktion.


Jürgen W. Möllemann (FDP):
Rede ID: ID1403504500
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Bundes-
tagsfraktion hatte bereits am 2. März dieses Jahres die
Bundesregierung aufgefordert, die Leistungen an die

europäische Weltraumorganisation im Haushaltsplan
1999 um 50 Millionen DM zu erhöhen. Der Antrag der
CDU/CSU folgt dieser parlamentarischen Initiative der
F.D.P. Das begrüße ich naturgemäß.


(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Im Ausschuß haben wir das gemeinsam gemacht, Herr Kollege!)


Ich hoffe, daß dem auch entsprochen wird.
Es ist jetzt gerade wieder deutlich geworden, natür-

lich auch durch die Publikationen in den vergangenen
Wochen und durch Einlassungen mehr oder weniger di-
rekter Art in den Ausschüssen – ich denke an den ge-
schätzten Kollegen Fischer, der uns gleich noch seine
Besorgnisse vortragen wird –, daß es bei dem Thema,
um das es hier geht, innerhalb der rotgrünen Regierung
und der Koalition doch beachtliche Meinungsverschie-
denheiten gibt. Herr Fell, auf eine solche Aussage, daß
Sie die Ministerin sehr, aber nicht im Detail unterstüt-
zen, muß man erst kommen. So kann man es auch sagen.
Das ist, glaube ich, das Leitmotiv dieser Tage, von Frau
Altmann über Herrn Trittin bis zu Ihnen, daß Sie die
Ministerin sehr unterstützen, aber leider nicht im Detail.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht jedes Detail!)


– Es wird noch schlimmer. Wollen Sie das noch näher
erklären?

Frau Bulmahn hat zu Beginn ihrer Ministerzeit be-
dauert, daß sich die frühere Entscheidung nicht rück-
gängig machen ließe, einen erheblichen Teil der verfüg-
baren Mittel in die bemannte Raumfahrt zu stecken.
Sie haben, Frau Bulmahn, keinen Zweifel daran auf-
kommen lassen, daß Sie jedenfalls von der bemannten
Raumfahrt nichts halten, auch wenn Sie heute angefan-
gen haben, nach dem Motto „Und sie bewegt sich doch“
hier argumentativ als Raumgleiter in Erscheinung zu
treten.


(Jörg Tauss [SPD]: Nicht nur im Detail!)

Bei der feierlichen Übergabe des ersten Raumfahrtla-

bors Spacelab am 16. April hat der Bundeskanzler ver-
sprochen, daß die Bundesregierung gegenüber der be-
mannten Raumfahrt „alle internationalen Verpflichtun-
gen, die wir eingegangen sind, auch erfüllen wird“ –
nicht einige und das eine oder andere Detail nicht, son-
dern alle. Deswegen wird er sich entscheiden müssen,
ob er sein Versprechen halten will, das er gegeben hat,
oder seine Ministerin.


(Jörg Tauss [SPD]: Ach, Herr Möllemann, Sie waren aber auch schon besser!)


– Es geht nicht, daß man sich im Rahmen von interna-
tionalen Konferenzen oder feierlichen Anlässen ohne
Wenn und Aber – manchmal auch ohne Wenn und „La-
ber“ – hinter bestimmte Verpflichtungen stellt und dann,
wenn es konkret wird, davon spricht, im Detail meine
man das nicht ganz so. Das beschädigt unsere Interes-
sen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hans-Josef Fell






(A) (C)



(B) (D)


Frau Kollegin Bulmahn, die Weltraumforschung,
auch die bemannte Weltraumfahrt, ist – um Sie zu zitie-
ren – kein „Spielzeug für große Jungs“,


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Das ist richtig! Da stimme ich sogar zu!)


sondern ein Kernbereich unserer zukünftigen Wettbe-
werbsfähigkeit in vielen Bereichen, zum Beispiel in der
Satellitenkommunikation und Satellitennavigation.
Sie hat auch für unsere Sicherheitspolitik eine strategi-
sche Bedeutung.

Wir sind in diesen Tagen beispielsweise im Kosovo –
wir diskutieren darüber manchmal ein wenig verklausu-
liert – auf die Aufklärung unsererseits durch langsam
fliegende Drohnen angewiesen. Amerika hat ganz ande-
re Übersichtsmöglichkeiten. Ich habe auch nach den
Einlassungen von Verteidigungsminister Scharping das
Gefühl, daß eben doch nicht alle über die gleichen In-
formationen verfügen können. Europa ist trotz aller
Loyalität im Bündnis gut beraten, sich den gleichen
Erkenntnisstand selbst zu verschaffen. Das geschieht
parallel zur Umsetzung der Idee einer europäischen
Sicherheitspolitik.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Wettbewerbsfähigkeit wird in Zukunft immer mehr
davon abhängen, wer auf der Welt einen Informations-
vorsprung hat. Das gilt nicht nur für fast alle Wirt-
schaftsbereiche, sondern auch für die Sicherheitspolitik.
Deswegen hat sie einen so hohen Stellenwert.

Herr Fell, ich denke, es war nicht Ihre Absicht, aber
Sie haben indirekt darauf hingewiesen, was Ihr Problem
und das Ihrer ganzen Koalition ist. Sie haben verspro-
chen – Ihr größerer Partner mehr als Sie, aber Sie indi-
rekt auch – und für die Zeit nach den Wahlen angekün-
digt, Sie würden die Mittel für investive Aufgaben, die
Zukunftsinvestitionen im Bereich von Bildung und For-
schung, verdoppeln. Wenn der Bereich, von dem wir
jetzt sprechen, keine Zukunftsinvestition im Sinne Ihrer
Definition ist, dann wüßte ich gerne, was eine
Zukunftsinvestition ist.

Sie sind überhaupt nicht auf dem Wege, Mittel in die-
sem Bereich zu verdoppeln. Sie sagen sogar, wer in die-
sem Bereich eine Erhöhung der Mittel fordere, müsse in
anderen Bereichen des gleichen Komplexes kürzen. –
Das ist doch keine neue Prioritätensetzung.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wenn Sie das gemeint haben, als Sie Ihren Wählerinnen
und Wählern gesagt haben: „Wenn wir an der Regierung
sind, werden wir die Mittel für Zukunftsinvestitionen im
Bildungs- und Forschungsbereich verdoppeln“ und Sie
jetzt die Mittel innerhalb dieses Bereichs nur hin- und
herschieben, dann ist das nicht in Ordnung. Das ist un-
redlich.

Wir werden Sie auf jedem anderen Gebiet immer
wieder an Ihr Versprechen erinnern müssen. Man kann
nicht mit einem an die Jugend, an die Wissenschaft und
an die Forschung gerichteten Versprechen die Wähler
für sich gewinnen und anschließend nur mit Ausreden
kommen.


(Zuruf von der SPD)


– Sie haben dieses Versprechen gegeben. Sie werden
daran gemessen. Kommen Sie doch nicht damit, zu sa-
gen: Andere haben dies und jenes getan. – Das haben
Sie doch kritisiert. Sie halten sich nicht an Ihr Verspre-
chen. Herr Fell war so freundlich, direkt darauf hinzu-
weisen und zu sagen, jedwede Steigerung in dem hier
zur Rede stehenden Bereich müsse im Bildungs- und
Forschungsetat zu Kürzungen führen. Das ist Kraftlo-
sigkeit. Das ist außerdem Unredlichkeit angesichts des-
sen, was Sie angekündigt haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403504600
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?


Jürgen W. Möllemann (FDP):
Rede ID: ID1403504700
Aber selbstver-
ständlich.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403504800
Bitte sehr, Herr
Kollege.


Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1403504900
Lieber Herr Kollege Möllemann,
halten Sie eine Erhöhung der Mittel in diesem Jahr im
Bildungs- und Forschungsbereich um rund 900 Millio-
nen DM tatsächlich für unredlich angesichts dessen, daß
in den letzten Jahren unter Ihrer Regierungsverantwor-
tung keine Erhöhung, sondern eine Kürzung stattgefun-
den hat und daß die neue Regierung hiermit ein heraus-
ragendes Signal gesetzt hat, das in dieser Form in den
letzten Jahren nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen war?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Jürgen W. Möllemann (FDP):
Rede ID: ID1403505000
Frau Präsidentin,
ich möchte mich kurz vergewissern: Ich habe doch die
Geschäftsordnung richtig in Erinnerung, daß eine solche
Frage und meine Antwort darauf nicht auf meine Rede-
zeit angerechnet werden?


(Jörg Tauss [SPD]: Aber selbstverständlich!)

– Das ist gut. Deswegen möchte ich Ihre Frage gründ-
lich beantworten.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403505100
Es sei denn, daß Sie
Ihre Ausführungen so unendlich ausdehnen, daß ich
meine, die Frage sei beantwortet. Im Moment haben Sie
die Chance, die Frage zu beantworten, Herr Kollege.


Jürgen W. Möllemann (FDP):
Rede ID: ID1403505200
Albert Einstein,
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat
einmal gesagt: Es gibt zwei Dinge auf dieser Welt, die
unendlich sind, die menschliche Dummheit und das
Weltall. Beim letzteren bin ich mir nicht mehr so ganz
sicher. Ich werde die Beantwortung nicht unendlich aus-
dehnen.

Zu Ihrer Frage, Herr Kollege: Sie wissen, daß der
Haushalt, den wir im Mai in zweiter und dritter Lesung

Jürgen W. Möllemann






(B)



(A) (C)



(D)


verabschieden werden, wenn Sie alle in den zuständigen
Ausschüssen getroffenen Entscheidungen berücksichti-
gen, natürlich nicht auch nur ansatzweise eine Steige-
rung der Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und For-
schung in einer Größenordnung von etwa 20 Prozent
vorsieht. Etwa die müßten es sein, wenn Sie die Ausga-
ben in einer Legislaturperiode verdoppeln wollen.

Wir werden, wenn die Bereinigungssitzung, die heute
stattfindet, berücksichtigt wird, nach dem, was ich höre,
eine Steigerungsrate von maximal etwa 5 Prozent haben.
Das sind zwar 5 Prozent Steigerung, aber diejenigen, die
eine Verdoppelung in einer Legislaturperiode verspro-
chen haben, wissen, daß viermal fünf Prozent 20 Prozent
sind. Wir haben dieses Versprechen doch nicht gegeben.
Sie haben es gegeben, Sie haben damit Wähler gefan-
gen, und Sie schleichen sich jetzt davon!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie können doch nicht sagen: Ein kleines Hügelchen

ist auch ein Hügelchen. Das beeindruckt doch nieman-
den.


(Zuruf von der SPD: Wir kannten eure Kasse nicht!)


– Nein, ich bin schon zu lange dabei, als daß ich Ihnen
diese Bauernfängertricks noch durchgehen lassen könn-
te. Sie müssen sich schon an Ihren eigenen Worten und
Versprechungen messen lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir gerade getan!)


Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, die
europäische Weltraumorganisation ESA möchte in den
Jahren 1999 bis 2006 insgesamt 11,8 Milliarden DM in
Raumfahrtvorhaben investieren, jeweils ein Drittel für
anwendungsbezogene Vorhaben, Startsysteme und wis-
senschaftliche Projekte. Ich glaube, es besteht in der Tat
ein außerordentliches politisches, strategisches und wirt-
schaftliches Interesse, die wissenschaftliche und indu-
strielle Kompetenz Europas in diesen Feldern zu sichern
und auszubauen. Ein falsches politisches Signal aus
Deutschland darf nicht dazu führen, daß solche gesamt-
europäischen Projekte scheitern.

Mir ist aufgefallen, daß unser Kollege Fischer im
Ausschuß ein großes Interesse daran hatte, daß wir uns
im Ausschuß mit diesem Thema noch vor der Konferenz
am 11. und 12. Mai beschäftigen. In seiner Einlassung
war er von der Sorge geprägt – so einfühlsam bin ich
ihm gegenüber natürlich, weil ich ihn schon so lange
kenne –, daß sich da ein falscher Trend abzeichnen
könnte. Als ich dann die Äußerungen von Gerhard
Schröder gelesen habe: Mit mir nicht, und wenn nötig,
werde ich das auch der zuständigen Ministerin vermit-
teln, habe ich mir gedacht, es muß offenbar eine Be-
sorgnis geben, die Fischer und Schröder verbindet.

Sie versuchen, hier so zu tun, als gäbe es den Disput
gar nicht. Frau Bulmahn, Sie wollten eine andere Linie,
als in der Aussage des Kanzlers zum Ausdruck kommt:
Wir werden alle eingegangenen Verpflichtungen ein-
halten. Darauf hingewiesen zu haben ist das bleibende

Verdienst des Kollegen Fischer, das bleibende Verdienst
dieser Debatte. Hier können Sie sich nicht davonstehlen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es muß sichergestellt werden, daß für die Beteiligung
am europäischen Raumstationsentwicklungsprogramm
2,5 Milliarden DM zur Verfügung stehen, daß die Wei-
terentwicklung der Ariane 5 mit und nicht ohne
Deutschland sichergestellt wird, daß der Aufbau eines
europäischen satellitengestützten Navigationssystems
nicht gefährdet wird und daß eine angemessene Beteili-
gung Deutschlands am Erdbeobachtungsprogramm der
ESA möglich ist.

Eine letzte Bemerkung: Ich möchte natürlich auch
gern – ich glaube, darauf könnte sich in der Tat ein Kon-
sens zwischen Koalition und Opposition, jedenfalls was
die F.D.P. angeht, erstrecken –, daß man methodisch
ähnlich wie beim Airbus-Programm sagt: Dort, wo der
Staat mit erheblichen Mitteln hilft, daß profitable Zu-
kunftsentwicklungen möglich werden, soll derjenige, der
davon profitiert, später in besonderer Weise Rückzah-
lungen leisten und mit dazu beitragen, daß neue zu-
kunftsorientierte Wege wieder finanziert werden kön-
nen. Subventionen, die zweckgebunden, zielgerichtet,
zeitlich begrenzt und, wo durch Ertrag möglich, rück-
zahlbar sind, haben einen anderen Charakter. Darüber
sollten wir uns verständigen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403505300
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1403505400
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die neue
Forschungsministerin Edelgard Bulmahn hat bei ihrem
Amtsantritt vollmundig erklärt, daß sie die Rolle von
Forschung und Entwicklung stärken will.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Doch die deutsche Raumfahrt merkt nichts davon. Im
Gegenteil: Bereits in der ersten Sitzung des Forschungs-
ausschusses haben Sie, Frau Ministerin Bulmahn, er-
klärt, daß Sie es für falsch halten, viel Geld für die be-
mannte Raumfahrt auszugeben. Damit haben Sie in der
Raumfahrtpolitik bewußt einen politischen Richtungs-
wechsel gegenüber Ihrer Vorgängerregierung vorge-
nommen. Die alte Regierungskoalition stand hinter der
Raumfahrt, weil sie eine strategisch wichtige Industrie
für unser Land ist; das ist auch richtig so. Die Tatsache,
daß Ihre Bundestagskollegen Bodo Seidenthal und Lo-
thar Fischer einen Brandbrief an den Kanzler geschrie-
ben haben, weil sie vor den falschen Entscheidungen
dieser Regierungskoalition warnen wollten, zeigt, daß
Sie auf dem Irrweg sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Jürgen W. Möllemann






(A) (C)



(B) (D)


Nun versuchen Sie, Ihrem Vorgänger Fehler unterzu-
schieben. Damit lenken Sie aber nur von Ihren eigenen
politischen Fehlentscheidungen ab. Die Raumfahrt ist
der einzige Bereich im Forschungshaushalt, in dem es
erhebliche Kürzungen gegeben hat. Der frühere For-
schungsminister Rüttgers hatte im Haushaltsentwurf für
1999 1 Milliarde DM für die ESA vorgesehen. Diese
Mittel hat Rotgrün um 30 Millionen DM auf 970 Millio-
nen DM gekürzt. Rüttgers hatte für den nationalen
Raumfahrthaushalt 326 Millionen DM vorgesehen. Mit
dem Rotstift haben Sie 16 Millionen DM gestrichen.
Das heißt, die erste Amtshandlung der neuen rotgrünen
Bundesregierung besteht darin, die Raumfahrtmittel um
insgesamt 46 Millionen DM zu streichen. Genau das
kritisieren wir.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403505500
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hilsberg?


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1403505600
Selbstverständlich.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403505700
Herr Kollege Hils-
berg, bitte.


Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1403505800
Herr Kollege Rachel, Sie
operieren hier mit Scheinzahlen. Ich möchte Sie bitten,
zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie in der Zeit, als Sie an
der Macht waren, als Sie an der Regierung waren, den
Etat für die Raumfahrt Jahr für Jahr systematisch her-
runtergefahren haben. Wir haben es jetzt das erste Mal
mit unserer Regierung geschafft, den Etat zu verstetigen,
wodurch eine verläßliche Grundlage für Raumfahrtpoli-
tik überhaupt geschaffen wurde, verläßlicher als zu Zei-
ten, in denen Sie an der Regierung waren. Die Zahlen,
mit denen Sie operieren, sind reine Planzahlen. Das war
Wahlkampf. Ich bitte Sie, zur sachlichen Arbeit hier im
Bundestag zurückzukehren.


(Zurufe von der CDU/CSU: Das war keine Frage!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403505900
Das sollte er eigent-
lich in Form einer Frage sagen. Das ist so gerade noch
gelungen, Herr Kollege. – Bitte sehr, Herr Kollege Ra-
chel.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1403506000
Ich bin mir sicher,
daß die Präsidentin, die gerade so großzügig festgestellt
hat, daß das eine Frage war, mindestens so großzügig
sein wird, wenn ich versuche, das zu beantworten.


(Joachim Hörster [CDU/CSU]: Das kommt darauf an, wer es macht!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403506100
Nein, Herr Kollege
Hörster, das stimmt nicht.

Sie haben das Wort, Herr Rachel. Bitte sehr.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1403506200
Ich bedanke mich. –
Lieber Herr Kollege Hilsberg, Sie haben von Schein-
zahlen gesprochen. Meine Damen und Herren, liebe
Freunde,


(Zurufe von der SPD: Na, na!)

liebe Kolleginnen und Kollegen des Bundestages, muß
sich nicht jede Regierung, unabhängig von ihrer partei-
politischen Färbung, an den Zahlen für einen Haushalt
messen lassen, die entweder von ihr selbst oder von ih-
rer Vorgängerregierung vorgelegt wurden?


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Jawohl, so ist es. Das ist ein Faktum. Ich habe die Zah-
len dabei und kann sie Ihnen zeigen. Ich meine, Sie
sollten dazu stehen. Der Haushaltsentwurf für 1999 von
Jürgen Rüttgers hat für die ESA 1 Milliarde DM vorge-
sehen; Sie kürzen um 30 Millionen DM auf 970 Millio-
nen DM. Das ist das Faktum. Das ist eine Kürzung. Das
ist ein Minus.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das erinnert mich an „brutto/netto“. Sie haben damit
Ihre Erfahrungen.

Im nationalen Raumfahrthaushalt – ich beantworte
noch immer Ihre Frage, Herr Hilsberg – haben Sie von
326 Millionen DM auf 310 Millionen DM gekürzt, also
um 16 Millionen DM. Auch das ist eine eindeutige Kür-
zung. Das Ganze haben Sie vor dem Hintergrund ge-
macht, daß Forschungsministerin Bulmahn in den ver-
schiedensten Bereichen von Bildung und Forschung in
diesem Jahr 800 Millionen DM mehr ausgeben kann,
Herr Kollege Hilsberg, wozu wir Ihnen gratulieren kön-
nen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber ist es nicht wahr, daß die Raumfahrt am Haushalt
von 15 Milliarden DM rund 10 Prozent ausmacht? Wäre
es dann nicht naheliegend, daß Sie bei den Haushalts-
steigerungen von 800 Millionen DM 10 Prozent, sprich:
80 Millionen DM, mehr für die Raumfahrt ausgeben?
Das tun Sie aber nicht. Das kritisieren wir.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das zeigt: Sie haben ein gestörtes Verhältnis zur

Raumfahrt. Sie geben ein falsches politisches Signal,
auch gegenüber den internationalen Partnern. Sie wollen
die Raumfahrt austrocknen. Nachdem uns die neue
Bundesregierung schon in der Energiepolitik um jedes
Ansehen gebracht hat, ist Rotgrün dabei, das gleiche
auch in der Raumfahrtpolitik zu machen. Das ist ein fal-
scher Politikansatz.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nun klagt Frau Bulmahn über mangelnden finanziel-

len Handlungsspielraum. Das ist im Bereich der Raum-
fahrt unglaubwürdig. Denn der Mangel ist politisch ge-
wollt. Stolz verweisen Sie – ich kann es nur noch einmal
sagen – auf die Steigerung des Gesamthaushaltes um
800 Millionen DM. Im Bereich der Raumfahrt lassen Sie
die Steigerung nicht nur unter den Tisch fallen, sondern
Sie kürzen. Das werden wir kritisieren.

Thomas Rachel






(B)



(A) (C)



(D)


Im gleichen Atemzug kritisieren Sie die eingegange-
nen Verpflichtungen für den Bau der Raumstation. In
der Presse finden wir, auch im Vorfeld der Ministerrats-
konferenz, nicht ein einziges positives Wort von Ihnen
zu dem Bau der Raumstation. Sie haben gerade sogar
von „Fehlentwicklungen“ auf der Ministerratskonferenz
1995, wo der Bau der Station beschlossen wurde, ge-
sprochen. Das ist schon ein starkes Stück. Denn die SPD
hat, übrigens im Gegensatz zu den Grünen, zusammen
mit der damaligen christlich-liberalen Regierungskoali-
tion im Parlament dem Regierungsabkommen für die
internationale Raumstation zugestimmt. Sie haben rich-
tig gehört: Sie haben ihm zugestimmt. Darüber hinaus
heißt es in dem Antrag der SPD-Fraktion vom 5. März
1996, Drucksache 13/3974 – ich zitiere –:

Die Entscheidungen, die die ESA-Mitgliedstaaten
Ende 1995 getroffen haben, werden vom Bundestag
grundsätzlich begrüßt. Sie sind geeignet, der Wis-
senschaft und der Industrie die nötige Planungs-
sicherheit zu vermitteln.

Wer damals dem Projekt einer internationalen Raum-
station zugestimmt hat, heute aber davon nichts mehr
wissen will, der macht sich unglaubwürdig.


(Beifall bei der CDU/CSU – Bodo Seidenthal [SPD]: Sie haben das Parlament doch gar nicht informiert, Herr Rachel!)


Die Raumstation wird sich nicht vollständig kommer-
ziell tragen – das wußten wir –, aber sie ist eine globale
Zusammenarbeit auf internationaler Forschungsebene.
Die internationale Raumstation ist aber auch eine Art
Friedensdividende des beendeten kalten Krieges. Denn
diejenigen Ingenieure, die vor zehn Jahren an den
sowjetischen Atomraketen gearbeitet haben, bringen
heute ihr Know-how für diese friedliche Raumstation
ein.

Frau Bulmahn, nehmen Sie sich doch einmal ein Bei-
spiel an Bundeskanzler Schröder! Übrigens: Wo waren
Sie eigentlich in Bremen? Früher haben Forschungsmi-
nister mit dem Kanzler zusammen die Raumfahrt be-
sucht. Der Bundeskanzler hat in Bremen die Raumfahrt
als Beispiel für globale Zusammenarbeit gewürdigt. Mit
Blick auf die Raumstation hat er – ich zitiere – festge-
stellt: „Die einstigen Blöcke sind Partner geworden.“
Die Raumfahrt, so Schröder, trage zur politischen Stabi-
lisierung der internationalen Situation bei. Was hören
wir von der Forschungsministerin? „Es geht nicht dar-
um, was den großen Jungs Spaß macht, sondern darum,
was allen nutzt“, sagte sie stolz dem Wochenmagazin
„Focus“.

Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit sagen: Raum-
fahrt ist nicht das überteuerte Spielzeug altgewordener
Jugendlicher. Ihre vor allem gegen die Raumstation
zielende Äußerung ist schon eine ziemliche Frechheit.
Sie ist eine Verhöhnung unserer deutschen Astronauten
Ulf Merbold und Thomas Reiter,


(Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD])

die bereits auf der MIR-Station wichtige Vorarbeiten
geleistet haben. Sie ist ein Affront gegenüber den Wis-
senschaftlern, die in diesem Bereich tätig sind, und sie

ist eine Beleidigung der DASA-Mitarbeiter in Bremen,
die diese Raumstation bauen.

Bundeskanzler Schröder hat im Gegensatz dazu die
DASA-Beschäftigten gelobt – ich zitiere aus seiner
Rede –: „Sie können stolz darauf sein, ,Columbus‘ ma-
chen zu dürfen.“ Zugleich polemisieren Sie gegen den
Bau dieser Raumstation. Diese Doppelstrategie werden
wir nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Unionsfraktion erwartet von der rotgrünen Bun-

desregierung, daß sie das Nutzungskonzept der Raum-
station weiterentwickelt und die finanziellen Vorausset-
zungen dafür schafft, daß sich Deutschland an der Nut-
zung angemessen beteiligen kann. Es darf doch nicht die
widersinnige Situation entstehen, daß wir Deutschen uns
zwar am Bau der Station beteiligen, aber vom Boden aus
zusehen müssen, wie die Japaner, die Russen, die Kana-
dier, die Franzosen und die Italiener das von Deutschen
mitfinanzierte Weltraumlabor nutzen.

Wir wollen die enge Kooperation mit Frankreich
im Bereich der Ariane-5-plus-Programme fortsetzen.
Wir sind für das Erdbeobachtungsprogramm der ESA
und möchten, daß sich Deutschland in einer Art und
Weise beteiligt, daß die Übernahme von Systemführer-
schaften für unsere Industrie möglich ist, weil dadurch
Arbeitsplätze gesichert werden. Deutschland soll sich in
zukunftsträchtigen Technologieprogrammen engagieren,
die auf kommerzielle Raumfahrtanwendungen in der
Tele- und Breitbandkommunikation zielen.

Für eine sachgerechte Vorbereitung der Nutzung der
Raumstation ist auch die Fortführung der ESA-Mikro-
gravitationsaktivitäten unter deutscher Beteiligung er-
forderlich. Wenn ich mir die Beratungen im BMBF, die
Versuche der Bundesregierung anschaue, das ESA-
Wissenschaftsprogramm aufzuweichen, dann sage ich
ganz deutlich: Sie sind zu beenden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn gerade das Wissenschaftsprogramm ist eine zu-
tiefst staatliche Aufgabe, bei der in der Bundesrepublik
Deutschland wir Politiker gefordert sind. Hier stehen wir
in der Pflicht, und wir sollten diese europäische Zusam-
menarbeit fortsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Interessant ist das große Interesse unserer europäi-

schen Partner an Technologieprogrammen für wieder-
verwendbare Träger; Kollege Mayer hat es angespro-
chen. Es ist ökonomisch und ökologisch sinnvoller, wie-
derverwendbare Trägerraketen zu benutzen. Es wäre
doch geradezu ein Treppenwitz, wenn sich die Bundes-
regierung unter Beteiligung der Grünen für die Einweg-
version Ariane und gegen die Mehrwegversion einer
wiederverwendbaren Trägerrakete ausspräche. Steigt
Deutschland aus, verbaut es seine Zukunftschancen auf
diesem wichtigen Feld. Herr Fell, hier sind Sie von den
Grünen mit gefordert. Zeigen Sie in dem Bereich einmal
Flagge!


(Beifall bei der CDU/CSU)


Thomas Rachel






(A) (C)



(B) (D)


Sehr geehrte Damen und Herren, Zitat: Sackgasse ins
All. So betitelte das Wochenmagazin „Focus“ einen Ar-
tikel über die Forschungs- und Raumfahrtpolitik von
Frau Bulmahn. Sackgasse ins All: Der Satz sagt deut-
lich, was Ihrer Weltraumpolitik fehlt, nämlich eine in
die Zukunft gerichtete Vision, die über kurzfristiges Ab-
arbeiten eingegangener Verpflichtungen hinausgeht.


(Jörg Tauss [SPD]: So wie bei Rüttgers!)

Das ist kein politischer Luxus. Hier geht es um die tech-
nologische Kompetenz unserer Industriegesellschaft und
um die Innovationsfähigkeit Deutschlands. Wenn wir
uns von strategischen Optionen abschneiden, wird unser
Land im 21. Jahrhundert den Anschluß an die Zukunft
verpassen. Das hat übrigens nicht nur Auswirkungen auf
uns, sondern auf ganz Europa, wenn durch Einsparungen
am falschen Platz gemeinsame Projekte, beispielsweise
bei den ESA-Programmen, platzen: Arbeitsplätze gehen
verloren; die kommerzielle Nutzung neuer Weltraum-
projekte, unser wichtiges gemeinsames Anliegen, würde
ohne uns stattfinden.

Unser Fazit ist: Die Bundesregierung darf nicht als
Bremser der europäischen Raumfahrt auftreten, und
deswegen erwarten wir von Ihnen eine andere Politik.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403506300
Nun hat das Wort
der Kollege Lothar Fischer.


Lothar Fischer (SPD):
Rede ID: ID1403506400
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Thomas Ra-
chel, ich hätte es ja begrüßt, wenn die CDU/CSU, als sie
noch in der Regierungsverantwortung war, eine Planung
vorgelegt hätte, die ihrem heutigen Antrag gerecht ge-
worden wäre. Das war aber nicht der Fall.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das sagt alles über die Ernsthaftigkeit Ihres Antrages.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: So ist es! – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das nehmen Sie sofort zurück! – Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Jetzt mach kein Techtelmechtel daraus; komm zur Sache!)


Vorhin ist erwähnt worden, daß Bodo Seidenthal und
ich einen Brief an den Bundeskanzler geschrieben ha-
ben. Dazu sage ich: Selbstverständlich haben wir das
getan.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das tut dem Mann ja auch gut!)


In diesem Brief haben wir darauf hingewiesen, welche
Konsequenzen es für andere wichtige Projekte hat, wenn
so viel Geld bis zum Jahre 2003 für Zwecke der interna-
tionalen Raumstation gebunden ist. Das waren die
Punkte. Wir haben dabei auch einige Projekte angespro-

chen, wie zum Beispiel die Ariane. Dazu werde ich aber
nachher noch kommen.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: In Ordnung!)


Ich möchte allerdings zu deinem Beitrag, lieber Tho-
mas, etwas sagen, weil du aus unserem Antrag vom
März 1996 zitiert hast, der übrigens einstimmig von al-
len Arbeitsgruppen und einstimmig von der Fraktion be-
schlossen worden ist. Du hast eine Passage zur Station
zitiert, du hast aber verschwiegen, welche Vorausset-
zungen dort auch noch genannt werden, daß nämlich an-
dere wichtige Programme finanziell nicht erdrückt wer-
den dürfen, zum Beispiel das nationale Weltraumpro-
gramm. Wir alle waren uns darin einig, daß das natio-
nale Weltraumprogramm nicht so stark zurückgefahren
werden darf. Dafür haben wir früher 40 Prozent der ge-
samten Mittel für das Raumfahrtprogramm aufgewen-
det, und heute sind es noch 20 Prozent. Das ist Ihrer
Politik zu verdanken. Im übrigen ist das Parlament nicht
gefragt worden, ob es mit dieser prozentualen Zahl ein-
verstanden ist. Wir waren dafür, daß sich Deutschland
an der Station beteiligt, weil wir für eine internationale
Kooperation waren. In der CDU waren doch welche da-
gegen – nicht die F.D.P. –, die gesagt haben: Das russi-
sche politische System ist instabil, und die technischen
Systeme sind nicht kompatibel.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403506500
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mölle-
mann?


Lothar Fischer (SPD):
Rede ID: ID1403506600
Ja.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403506700
Herr Möllemann,
bitte sehr.


Jürgen W. Möllemann (FDP):
Rede ID: ID1403506800
Frau Präsidentin,
ich möchte den Kollegen Fischer fragen: Habe ich Sie
jetzt richtig verstanden, daß Sie zusammen mit dem
Kollegen Seidenthal den Brief an den Bundeskanzler ge-
schrieben haben, weil Sie über die CDU/CSU beunru-
higt waren, oder könnte es so sein, daß Sie den Brief an
Ihren Bundeskanzler und Parteivorsitzenden geschrieben
haben, weil Sie die stille Sorge beschlichen hat, daß die
seinerzeit einmütige Haltung, wie sie in Arbeitsgruppen,
Arbeitskreisen und Fraktion einstimmig – Sie haben, als
Sie daran erinnerten, ja auch in die richtige Richtung
geguckt – beschlossen wurde, jetzt von Teilen der So-
zialdemokratie in Frage gestellt wird? Kann es sein, daß
dieser Eindruck richtig ist?


Lothar Fischer (SPD):
Rede ID: ID1403506900
Sie hätten gern
ein klares Ja auf diese Frage. Ich muß Sie leider enttäu-
schen.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ein verklausuliertes Ja reicht!)


Ich bin seit 1980 hier im Bundestag und dort unter ande-
rem Berichterstatter für Luft- und Raumfahrt. Wenn

Thomas Rachel






(B)



(A) (C)



(D)


man sich so lange mit einem Thema beschäftigt, hat man
in der Sache ein bißchen mehr Detailkenntnisse als an-
dere, die das nicht tun. Für Bodo Seidenthal trifft das
genauso zu. Aus diesem Grund haben wir schon eine
Vorwarnung


(Zuruf von der CDU/CSU: Prophylaktisch!)

oder eine sachliche Hintergrundinformation aussprechen
wollen. Das ist ja auch völlig legitim.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aber wovor muß man warnen, wenn nichts zu warnen da ist?)


– Was ihr mit dem „Zukunftsminister“ Rüttgers erlebt
habt, darauf komme ich gleich noch zu sprechen.

Wir wissen, daß an der Raumfahrtindustrie mittelbar
100 000 Arbeitsplätze hängen, direkt etwa 6 000. Wir
sind der Ansicht, Raumfahrt kostet nicht nur Geld, son-
dern sie bringt auch Geld und schafft, was wir brauchen:
Arbeitsplätze. Sie entfaltet mittlerweile eine starke
Breitenwirkung. Deshalb gilt für meine Fraktion, daß die
wissenschaftliche, technologische und industrielle Kom-
petenz erhalten und ausgebaut werden muß. Die Raum-
fahrt hat sich an Programmen zu orientieren, die eine
wissenschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung vor-
weisen. Sie ist Dienstleistung.

Am 11./12. Mai findet die Ministerratskonferenz
statt, die über die weiteren Ziele der europäischen
Raumfahrt entscheiden wird. Sie findet zu einer Zeit
statt, die für uns sehr schwierig ist. Über den maroden
Haushalt, den die neue Regierung übernommen hat, ist
ja vorhin von dem Kollegen Mayer schon einiges ausge-
sagt worden. Die Regierung Kohl hat im Raumfahrtbe-
reich Entscheidungen getroffen, die bewirken, daß in
den Etats bis zum Jahr 2003 wenig Spielräume für eine
innovative Politik vorhanden sind.


(Zuruf von der SPD: Das ist die Wahrheit!)

Im Gegenteil: Andere Länder haben finanziell Luft, so
zum Beispiel Frankreich, Italien oder auch Belgien.
Frankreich beteiligt sich mit 27 Prozent an der Raum-
station, die Deutschen mit 41 Prozent. Da liegt mit ein
Grund, warum diese Länder mehr Luft für andere her-
vorragende Projekte haben.

Ursprünglich wurde von einigen eine umfassende eu-
ropäische Autonomie im Weltraum angestrebt. Auf
diesem Trip sind Sie ja lange gewesen, obwohl alle an-
deren erkannt haben, daß das eine anachronistische For-
derung ist. Dann wurde das Raumfahrtprogramm nach
und nach abgespeckt: keine Planung, keine Strategie.
Nicht umsonst hat die Regierung Kohl seit 1986 die
Vorlage des 5. Weltraumprogramms immer wieder hin-
ausgezögert und letztendlich abgelehnt. Bis heute haben
wir noch keine Fortschreibung des 4. Weltraumpro-
gramms.

Die Folgen dieser Politik bekommen wir jetzt zu spü-
ren. Die Kritik der Opposition an dem Haushaltstitel ist
also mehr als unredlich. Seit Jahren haben Sie diesen
Etat einerseits als Steinbruch mißbraucht, andererseits
sind Sie kostspielige langfristige Verpflichtungen einge-
gangen. Der ESA-Titel ist von 1,3 Milliarden DM im

Jahr 1993 auf 970 Millionen DM im Jahr 1998 herunter-
gefahren worden. Diese 330 Millionen DM, ohne Be-
rücksichtigung eines Inflationsausgleichs, fehlen pro
Jahr.

Thomas Rachel war früher ein vehementer Befür-
worter der Raumfahrt. Einige haben ihm in dieser Frage
aber systematisch das Rückgrat entfernt.

Was müssen wir also tun? Wir müssen uns in der
Raumfahrtpolitik umorientieren. Erstens. Wir wollen
mehr Raumfahrt fürs Geld. Die Strukturen, vor allem in
der ESA, sind neu zu überdenken. Dies wird schon fast
so lange gefordert, wie ich Mitglied des Bundestages
bin; das sind jetzt 18 Jahre. Jetzt wird es höchste Zeit,
das umzusetzen.

Zweitens. Die Raumfahrt ist keine alleinige Staats-
veranstaltung. Auch die Industrie ist in der Pflicht. Sie
fordert doch den Abbau von Subventionen; diese gibt es
aber nicht nur im sozialen Bereich. Wir müssen auf
„private public partnership“ drängen. Im Satellitenbe-
reich gibt es das schon.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das ist richtig!)


Im übrigen: Bei Ariane 1 bis Ariane 4 hat der Staat
die Forschung und Entwicklung finanziert, und die In-
dustrie hat sie produziert. Ab Ariane 5 beteiligt sich die
Industrie an der Forschung und Entwicklung. Mit 105
Millionen ECU, also 200 Millionen DM – das soll an
dieser Stelle einmal gesagt werden –, steigt sie bei der
Ariane 5 plus ein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Jürgen W. Möllemann [F.D.P.] – Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Aber das haben wir eingeführt, wie du weißt!)


– Seit wann bist du Unternehmer? Das habe ich gar
nicht gewußt.


(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Nein, die Beteiligung, Herr Kollege!)


Ich begrüße es, wenn die Bundesregierung versucht,
die Kosten für die Raumstation zu senken, indem sie das
Bauprogramm streckt. Natürlich wissen wir, daß durch
eine Streckung am Ende die Kosten etwas höher sein
werden. Aber eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.

Die Weiterentwicklung der Ariane 5 hat erste Priori-
tät; sie muß weiterhin konkurrenzfähig bleiben. Im übri-
gen: Etwa 3 000 hochqualifizierte Arbeitskräfte sind in
Deutschland am Bau von Ariane 4 und Ariane 5 betei-
ligt. Auf europäischer Ebene sind es 14 000.

Ariane 4 und Ariane 5 gewährleisten einen eigen-
ständigen Zugang Europas in den Weltraum. Als Europa
noch keine Trägerrakete hatte, ist folgendes passiert:
1972 wurde in Europa der Kommunikationssatellit
Symphonie gebaut, den die Amerikaner in den Orbit ge-
schossen haben, unter der Bedingung, daß er nicht
kommerziell genutzt wird. Das war der Grund, warum
sich die Europäer entschieden haben, ein eigenes Trä-
gersystem zu entwickeln. – Das war 1972.

Lothar Fischer (Homburg)







(A) (C)



(B) (D)


Und heute? Im November 1998 sind im US-
amerikanischen Kongreß Gesetze eingebracht worden,
wonach der Technologietransfer im Satellitenbereich nur
unter ganz strengen Voraussetzungen erfolgen soll: Das
Außenhandels- und das Verteidigungsministerium müs-
sen zustimmen. Satellitentransporte werden also be-
handelt wie Waffenexporte. Das geht natürlich an die
Substanz der europäischen Trägerrakete Ariane. Ariane
hat einen Weltmarktanteil am Transport von kommer-
ziellen Satelliten in Höhe von 60 Prozent.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Die Raumfahrt umfaßt nicht nur Raketen und be-

mannte Stationen, sondern auch Satelliten. In diesem
Zusammenhang denke ich an die Erdbeobachtung und
die Satellitennavigation. Dazu werde ich aber nichts sa-
gen, da mein Kollege und Freund Bodo Seidenthal dazu
nachher noch nähere Ausführungen macht.

Ich wünsche mir für diesen Bereich, daß genügend
Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit die Durst-
strecke bis 2003 keine bleibenden Schäden hinterläßt.
Hier gilt es, Märkte zu entwickeln und zu erobern. Das
ist richtig verstandene Innovationspolitik, weil sie sich
an den Arbeitsplätzen der Zukunft orientiert.

Recht schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jürgen W. Möllemann [F.D.P.])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403507000
Jetzt hat das Wort
der Kollege Norbert Hauser, CDU/CSU-Fraktion.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Warum spricht die PDS eigentlich nicht, wenn wir über Satelliten reden!)



Norbert Hauser (CDU):
Rede ID: ID1403507100
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Vor fast 20 Jahren
warfen Kritiker der damaligen indischen Ministerpräsi-
dentin Indira Gandhi vor, für den Preis eines Satelliten
könne man allen Indern eine Schale Reis geben. Ihre
Antwort lautete darauf: „Wenn sie die einmal gegessen
haben, bleibt alles beim alten, während ich mit einem
einzigen Satelliten mehrere Millionen Menschen lehre,
Reis anzubauen, damit sie jeden Tag essen können.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der rotgrünen
Koalition, soviel Verständnis und Sinn für die Möglich-
keiten moderner Technologien wünschen wir uns alle
auch von Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen W. Möllemann [F.D.P.])


Alles, was mit Zukunft und Fortschritt zu tun hat,
stößt bei Ihnen zunächst einmal auf Skepsis und Ableh-
nung. Biotechnik, Gentechnologie bis hin zum Transra-
pid sind beredte Beispiele. Leider gilt dies auch für die
Weltraumforschung. Es wäre besser, Sie diskutierten
mehr über die Chancen dieser Technologien, als perma-
nent ihre Risiken zu betonen.


(Zustimmung bei der CDU/CSU – Bodo Seidenthal [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!)


Wir Menschen brauchen Ziele und Visionen. Gerade
die Luft- und Raumfahrt bietet solche Visionen.


(Jörg Tauss [SPD]: Aber nicht Luftbuchungen!)


Was vor 20 Jahren unvorstellbar war, gehört heute be-
reits zum Alltag. Erinnern Sie sich daran, als sich die
US-Amerikaner nach dem Sputnik-Schock das Ziel
setzten, als erste Menschen den Mond zu betreten. Eine
ganze Nation brach auf. Leider ist bei Ihnen von Auf-
bruchstimmung nichts, aber auch gar nichts zu spüren.
Sie sind von einer Buchhaltermentalität geprägt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihre Ziele und Visionen bestehen darin, zu versi-

chern, daß Sie internationale Verträge einzuhalten ge-
denken. Dieses Versprechen wird hier schon wieder re-
lativiert. Der Kollege Fischer hat sich vorgenommen,
Kosten zu senken. Sie, Herr Kollege, wollen Kosten
durch das Strecken von Mitteln senken. Im gleichen Satz
haben Sie darauf hingewiesen, daß sich durch diese
Strekkung die Kosten erhöhen. Dies ist wahrlich eine
grandiose Rechnung: Senkung der Kosten durch Erhö-
hung der Kosten. Ich gratuliere Ihnen zur Erfindung
einer neuen Grundrechenart.


(Zuruf von der SPD: Er beherrscht die aber!)

Wenn Sie sich dauerhaft von der Weltraumforschung

verabschieden – wie Sie es hier angedeutet haben –,
dann verspielen Sie einen wichtigen Eckpfeiler für die
Entwicklung Deutschlands. Wenn es nach Ihnen ginge,
Herr Fischer, säße Christoph Kolumbus noch heute im
spanischen Santa Fé und würde noch immer von dem
Seeweg nach Indien träumen.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

Wie wichtig Visionen und ihre Umsetzung sind, sieht

man in der heutigen Zeit. Erinnern Sie sich an die 60er
und 70er Jahre. Der Weltraum war Experimentierfeld im
kalten Krieg. Heute bauen Japaner, Amerikaner, Kana-
dier, Russen und Europäer gemeinsam eine bemannte
Weltraumstation. Nicht nur die Grenzen auf der Erde
wurden durchlässiger. Sie sind im Weltraum sogar
überwunden worden. Die internationale Zusammen-
arbeit im Weltraum ist ein wichtiger Beitrag gerade
auch zur politischen Stabilität in der Welt. Auf den Fel-
dern der internationalen Zusammenarbeit wächst das
gegenseitige Vertrauen. Vor allem in diesen Tagen wird
vor dem Hintergrund der Ereignisse in Jugoslawien
schmerzlich deutlich: Zur internationalen Zusammenar-
beit gibt es keine Alternative.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie laufen zur Zeit Gefahr, sich aus der europäischen

und damit auch aus der internationalen Raumfahrtpolitik
auszugrenzen. In ungefähr fünf Jahren soll in der inter-
nationalen bemannten Weltraumstation ISS die Arbeit
beginnen. Dann werden die Früchte jahrelanger For-
schung und Arbeit geerntet und eine weitere Ära in der
Weltraumforschung eingeläutet. Wissenschaft und Indu-
strie sind aufgerufen, die Möglichkeiten der internatio-
nalen Raumstation zu nutzen. Es wäre ein schwerer
Fehler, wenn sich Deutschland ausgerechnet jetzt aus

Lothar Fischer (Homburg)







(B)



(A) (C)



(D)


der bemannten Raumfahrt zurückzöge. Wir fordern die
Bundesregierung auf, gemeinsam mit unseren Partnern
die Früchte der jahrelangen gemeinsamen Arbeit zu
ernten.


(Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])

– Nein, Herr Kollege, es ist heute schon mehrfach ange-
sprochen worden, und ich glaube, es muß ein weiteres
Mal gesagt werden: Sie sind mit Maßstäben angetreten,
haben mit Maßstäben Wahlkampf geführt und haben
sich zu Beginn ihrer Regierungsarbeit mit Maßstäben
vorgestellt, denen zu entsprechen Sie heute nicht mehr
in der Lage sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Heute versuchen Sie, sich mit Hinweisen auf die Ver-
gangenheit aus der Verantwortung zu stehlen. Regie-
rungsverantwortung zu übernehmen heißt doch, Ver-
antwortung zu tragen. Sie haben gesagt, Sie wollten
zwar nicht alles anders, aber vieles besser machen. Bis
heute haben Sie nichts besser gemacht, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Luft- und Raumfahrt heißt mehr, als nur Raketen ins
All zu schießen, um interessante Experimente durchzu-
führen. Es geht vielmehr um Forschungsergebnisse, die
für den Alltag von großer Wichtigkeit sind – ich spreche
hierbei nicht von der Entwicklung der Teflonbeschich-
tung für Bratpfannen, die an dieser Stelle immer heran-
gezogen wird.

Denken Sie an die Telemedizin. Spezialisten finden
sich über Kontinente zusammen, um komplizierte Ope-
rationen vorzubereiten. Nicht mehr der Kranke, der Pati-
ent, muß reisen; Fachkenntnisse und Röntgenbilder rei-
sen via Satellit von Klinik zu Klinik. Nicht weit von uns
entfernt, im Deutschen Zentrum für Luft- und Raum-
fahrt in Köln-Porz, sind aus der Raumfahrt die Voraus-
setzungen entwickelt worden, um alten Menschen und
Risikopatienten ihre gewohnte Umgebung zu erhalten
und den Einzug in ein Heim zu vermeiden sowie Klein-
kinder vor dem frühen Kindstod zu bewahren. Meine
Damen und Herren von der Skeptikerkoalition, stehen
Sie hier nicht abseits! Helfen Sie mit, diese Forschungen
zum Wohle der Menschen zur Anwendungsreife zu füh-
ren!

Auch der Umweltschutz lebt von der Raumfahrt.
Klimaveränderungen, Wüstenbildung und die Verände-
rung der Eismassen an den Polen werden über Satellit
analysiert und können so besser bekämpft werden.
Wettervorhersagen sind ohne Satelliten heute undenk-
bar. Anfang der 90er Jahre wurden auf Grund von mete-
reologischen Satellitenbeobachtungen eine Million Men-
schen evakuiert und so vor dem Wirbelsturm „Andrew“
bewahrt, der kurze Zeit später Florida verwüstete. Rück-
schlüsse auf Analysen unter Bedingungen in der Schwe-
relosigkeit führten bereits in der Vergangenheit ebenso
zu Einsparungen bei der Verbrennung fossiler Brenn-
stoffe wie neuartige Legierungen und Schmelzverfahren,
die zu einer Gewichtsreduzierung der fertigen Produkte
in der Automobil- und Luftfahrtindustrie führten. Auch
sie hatten ihren Ursprung in der Weltraumforschung.

Durch die Beobachtungen aus dem Weltraum ist es
möglich, Mißernten im Vorfeld zu bekämpfen und da-
mit Hungersnöte zu vermeiden. Auch die Verhinderung
der Ausbreitung von Pflanzenkrankheiten ist dank der
Satellitentechnik heute möglich. Die Weltraumfor-
schung ist also auch ein Beitrag zur internationalen
Solidarität.

Weltraumforschung bedeutet schließlich die Schaf-
fung von Arbeitsplätzen. Insgesamt leben über 110 000
Menschen und ihre Familien von der Raumfahrtindu-
strie. Vor allem mittelständische Unternehmen sind in
diesem Bereich tätig. Es ist die Pflicht der Bundesregie-
rung, diesem wichtigen Industriezweig die notwendige
Hilfe zukommen zu lassen.

Die Unterstützung der Luft- und Raumfahrt ist auch
ein Bündnis für Arbeit. Daran sollte die Bundesregie-
rung immer denken. Die Luft- und Raumfahrt ist also
ein wichtiger Beitrag für die Sicherung der Zukunft
Deutschlands.

Ein Beitrag zu dieser Zukunft ist auch der von der
CDU/CSU vorgelegte Antrag. Stimmen Sie daher zu! Es
gibt keinen Grund, es nicht zu tun.


(Jörg Tauss [SPD]: Bei Ihrer Rede schon!)

Ich hoffe, daß der Weltraum bei SPD und Grünen nicht
zu einem Mikrokosmos verkommt, der in den politi-
schen Debatten keine Rolle mehr spielt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Herr Hauser, Sie haben uns schon sehr enttäuscht! Sehr langweilig!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403507200
Ich erteile jetzt das
Wort dem Kollegen Bodo Seidenthal. Bitte sehr.


Bodo Seidenthal (SPD):
Rede ID: ID1403507300
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Herr Hauser, ich
würde Ihnen gerne am Anfang meiner Rede antworten,
werde dies aber erst zum Schluß tun.

Lassen Sie mich mit etwas Grundsätzlichem begin-
nen – diesen Punkt haben auch Sie erwähnt; wir ziehen
aber andere Schlüsse daraus –: Noch nicht einmal
30 Jahre ist eines der größten Abenteuer der Menschheit
jung, nämlich die Landung auf dem Mond. Es vergingen
nur 12 Jahre vom Start des Satelliten Sputnik bis Neil
Armstrong bei der Landung auf dem Mond gesagt hat,
daß es nur ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber
ein großer Sprung für die Menschheit sei.

Wir wissen, Herr Hauser: Flüge zum Mond finden
heute nicht mehr statt; der Wettstreit der Systeme hat
dem kommerziellen Wettbewerb und der globalen Zu-
sammenarbeit Platz gemacht. Heute müssen wir uns be-
züglich der Raumfahrtentwicklungen den aktuellen Her-
ausforderungen der Menschheit stellen und die Prioritä-
ten daran orientieren. Was aber – diese Frage will ich
Ihnen nicht vorenthalten – machen Sie? Sie bringen
einen Antrag ein, mit dem Sie den Eindruck erwecken,
daß die jetzige Bundesregierung und die zuständige

Norbert Hauser (Bonn)







(A) (C)



(B) (D)


Ministerin alles falsch machen und die falschen Priori-
täten setzen.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Nicht alles!)

Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der

CDU/CSU, kommen mir wie jemand vor, der ein Haus
angezündet hat und anschließend nach der Feuerwehr
ruft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Kurt J. Rossmanith [CDU/ CSU]: Na! Na!)


Denn es war Ihr Zukunftsminister Jürgen Rüttgers, der
ein Raumfahrtprogramm erstellt hat, das programma-
tisch und planerisch unausgewogen war, die falschen
Prioritäten gesetzt hat, Mittel gebunden und darüber
hinaus wichtige Bereiche mit Zukunftsperspektive ver-
nachlässigt hat. Damit Sie nicht sagen können, es han-
dele sich sozusagen um eine SPD-gefärbte Aufstellung,
will ich erwähnen, daß es eine Aufstellung des DLR ist.
Diese Fehler haben Sie in der Vergangenheit gemacht.
Wenn Sie auf die neuen Herausforderungen eine Ant-
wort geben können, dann sind wir gemeinsam auf dem
richtigen Weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit Ihrem Programm, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der CDU/CSU, wäre die Zukunft der Raumfahrt
auf Jahre blockiert worden. Sie haben nämlich selbst die
Ampel auf Rot gestellt. Sie haben, wie es der Parlamen-
tarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen einmal
formuliert hat, seit 1993 eine dramatische Kluft zwi-
schen politischen Ansprüchen – Herr Hauser, hören Sie
zu – und finanziellen Planungen in der Raumfahrtpolitik
entstehen lassen. Daran sollten Sie sich erinnern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ihre öffentlichen Klagen über die Vernachlässigung
der Raumfahrt – Ihre Rede war ein Beispiel dafür – sind
scheinheilig. Sie haben doch Jahr für Jahr die Kürzun-
gen des Raumfahretats mitbeschlossen. Ich bin der Mi-
nisterin dankbar, daß sie vorhin in ihrer Rede die Fehl-
planungen und die jahrelang aufgeschobenen Aufräu-
mungsarbeiten in der Raumfahrtpolitik eindrucksvoll
beschrieben hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Da mein Kollege Lothar Fischer unter anderem schon
einige grundsätzliche Ausführungen zur ESA, zu der
Weiterentwicklung der Ariane 5 und zur Bindung im-
menser Mittel durch die alte Regierung für die interna-
tionale Raumstation gemacht hat, möchte ich zu zwei
konkreten Punkten Stellung nehmen: zu den kommer-
ziellen erfolgreichen Raumfahrtmärkten – dazu zählen,
wie einige es schon gesagt haben, die Satellitenkommu-
nikation und die Satellitennavigation – und der Erdbe-
obachtung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
ich bin mir nicht schlüssig und wanke hin und her:

Brauchen Sie eine Brille, ein Hörgerät oder funktioniert
bei Ihnen noch nicht einmal das Kurzzeitgedächtnis?


(Zuruf von der CDU/CSU: Was?)

Die Ministerin hat vorhin eindeutig gesagt, daß wir die
eben von mir erwähnten Schritte durchführen wollen.
Dafür haben Sie, wenn wir da genau hineinschauen,
keine – –


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ja? Ja? – Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Dingens!)


– Sie haben nichts eingeplant, Herr Rachel. Herr Möl-
lemann, zu Ihnen komme ich zum Schluß meiner Rede
auch noch.

Sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Edelgard Bul-
mahn, Ihren Ausführungen zufolge ist die neue Bundes-
regierung entschlossen, unter veränderten finanziellen
Rahmenbedingungen Fehlentwicklungen der Regierung
Kohl zu korrigieren und eine Raumfahrtpolitik zu ge-
stalten, die – darauf kommt es unserer Meinung nach
an – auf wirtschaftliche Perspektiven und wissenschaft-
liche Kompetenz setzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der alten Regierungskoalition, eines möchte einmal
nachfragen: Was haben Sie eigentlich dagegen, daß für
Experimente zukünftig das Kriterium der wissenschaft-
lichen Exzellenz gelten soll?


(Zuruf von der CDU/CSU: Gar nichts!)

Sie sind es doch gewesen, die das früher immer formu-
liert haben. Jetzt macht es Edelgard Bulmahn, und schon
haben Sie etwas dagegen, weil es aus der verkehrten
Richtung kommt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Ministerin, ich sage Ihnen für das, was ich gera-
de ausgeführt habe und was Sie wollen, die Unterstüt-
zung der SPD-Bundestagsfraktion zu. Ich möchte Sie
bitten, den genannten Punkten Ihre besondere Aufmerk-
samkeit zu schenken.


(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Das überrascht mich aber!)


Es war, Frau Aigner, ein fataler Fehler der Regierung
Kohl, mit ihren Weichenstellungen kommerziell erfolg-
reiche Raumfahrtmärkte – darum geht es Ihnen doch
auch immer – den USA und anderen Ländern zu über-
lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Insbesondere auf den Gebieten der Satellitenkommuni-
kation, der Satellitennavigation und der dazugehörigen
Produktketten wurden in der Vergangenheit wichtige
wirtschaftliche Entwicklungen verschlafen. Das wird bei
uns und mit Edelgard Bulmahn nicht passieren.


(Beifall bei der SPD)

Das größte kommerzielle Potential der Raumfahrtin-

dustrie liegt in den raumfahrtgestützten Diensten, insbe-
sondere der Telekommunikation, der schon erwähnten
Erdbeobachtung und der Navigation. Wer über den Zu-
gang zum All verfügt, hat – darauf lege ich Wert – die

Bodo Seidenthal






(B)



(A) (C)



(D)


Möglichkeit, diese Dienste auszuüben, und kann, wenn
er die Möglichkeiten exklusiv besitzt, andere von der
Produktion solcher lukrativen Dienstleistungen aus-
schließen oder sie durch überhöhte Preise bzw. ungün-
stige Konditionen daran hindern, in diese Geschäftsfel-
der einzudringen.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Ja. Ja!)

– Herr Möllemann, Ihre Tränen – –


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Ich habe nicht geweint!)


Was haben Sie denn in der Vergangenheit bei den Ver-
handlungen mit Amerika gemacht? Amerika hat gesagt,
die Europäer dürfen nicht ran. Herr Kollege Möllemann,
Sie haben nichts auf den Weg gebracht – leider.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das finde ich jetzt ein bißchen übertrieben!)


Frau Ministerin, ich habe Sie so verstanden, daß Sie
alles dafür tun wollen, daß die deutsche Industrie ihre
gute Wettbewerbsposition auf den genannten Gebieten
behält und weitere Marktpotentiale erschließen kann.
Das technologische Ziel muß darin bestehen, daß
Deutschland in der Raumfahrt im internationalen Maß-
stab weiterhin kompetent vertreten ist und vor allem in
wichtigen Hochtechnologiebereichen den Anschluß be-
hält.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403507400
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wiese

(Ehingen)?



Bodo Seidenthal (SPD):
Rede ID: ID1403507500
Nein, ich gestatte keine
Zwischenfrage, weil ich es nämlich nicht einsehe, Frau
Präsidentin, daß wir – wie Lothar Fischer es gesagt hat –
über diese Dinge seit 1987 im Bundestag diskutieren
und die neue Opposition so tut, als ob das alles verkehrt
wäre. Wir können darüber demnächst im Ausschuß re-
den.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Diskutieren wir es also dort


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Sie haben Angst vor der Öffentlichkeit!)


– Ich habe keine Angst vor der Öffentlichkeit. Ich wer-
de Ihnen, Herr Fischer, auch noch sagen, warum ich
keine Angst vor der Öffentlichkeit habe.

Kurzum: Der von Ihnen genannte Public-Private-
Partnership-Gedanke, Frau Bulmahn, ist nach unserer
Auffassung ein Schritt in die richtige Richtung. Ich gehe
davon aus, daß sich die Nutzer dem nicht verschließen
werden.

Der Markt der Satellitenkommunikation ist in der
kommerziellen Raumfahrt am weitesten entwickelt und
läßt im Jahr 2000 weltweit ein Volumen von zirka
60 Milliarden US-Dollar erwarten. Die höchste Wert-
schöpfung – insofern stimmen wir ja teilweise überein –
wird bei der Vermarktung von Endgeräten und Dienst-

leistungen erzielt. Deshalb muß die zentrale Zielsetzung
des zukünftigen Kommunikationsprogramms eine er-
folgreiche Beteiligung der Industrie am internationalen
Wettbewerb sein.

Die Satellitennavigation als Schlüsselelement eröff-
net der Mobilitätsgesellschaft eine Fülle von kommer-
ziellen Anwendungen und Dienstleistungen für alle An-
wendungsgebiete der Luftfahrt, Schiffahrt und des
Landverkehrs. In Deutschland liegen die kommerziellen
Umsätze im Raumfahrtsegment und bei Endgeräten, vor
allem wegen der Autonavigation, bei zirka 580 Millio-
nen DM pro Jahr. Wir erwarten im Jahre 2003 einen
Umsatz von 1,3 Milliarden DM. Die eingesetzten Kom-
ponenten – das habe ich schon deutlich zu machen ver-
sucht – stammen hauptsächlich aus den USA.

Das Dienstleistungsangebot in Deutschland, das auf
diesem GPS beruht, nimmt laufend zu. Es leistet schon
heute einen wichtigen Beitrag für ein integriertes Ge-
samtverkehrssystem, das zum Beispiel zur effizienten
Nutzung der Verkehrsinfrastruktur, zur Erhöhung der
Verkehrssicherheit, zur Verlagerung des Verkehrs von
der Straße auf umweltfreundliche Verkehrsmittel und
zur Vermeidung von Umweltbelastungen führt.

Insgesamt hat die europäische Industrie hieran bisher
nur einen Anteil von 5 Prozent am heutigen Weltmarkt
inne. Wegen des amerikanischen Militärmonopols sind
europäische Anbieter aus wesentlichen Bereichen der
Wertschöpfungskette ausgeschlossen.

Um sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien, hat die
EU-Kommission das Galileo-Programm vorgeschlagen,
das den Aufbau eines europäischen Satellitennaviga-
tionssystems vorsieht. Dies ist eine Aufgabe des Ver-
kehrsministerrates. Ich möchte schon heute davor war-
nen, auf der ESA-Konferenz Nägel mit Köpfen machen
zu wollen. Es wäre aber wichtig, ein Signal für eine
positive politische Grundsatzentscheidung zu geben.


(Zustimmung bei der SPD)

Die Erdbeobachtung setzt auf Kontinuität in diesem

wichtigen Feld angewandter Raumfahrt in Deutschland.
Der deutsche Beitrag leitet sich nicht nur aus umwelt-
politischen, sondern – wegen der starken Stellung der
deutschen Industrie in diesem Segment – auch aus indu-
striepolitischen Interessen Deutschlands her. Deshalb,
Frau Ministerin, möchte ich Sie bitten, dafür zu sorgen,
daß die deutsche Beteiligung an diesem Programm Prio-
rität erhält.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Wird der Bitte entsprochen?)


– Der Bitte wird entsprochen. Wenn Sie den Ausführun-
gen der Ministerin richtig zugehört hätten, Herr Mölle-
mann, dann wüßten Sie dies.


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Ich habe ihnen ergriffen gelauscht!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
ich möchte Ihnen noch einen wichtigen Punkt vorhalten:
Ihre Bundesregierung – da sieht man wieder einmal, wie
ernst Sie das alles genommen haben – hat, was die aus-
reichende und angemessene Nutzung von Satellitendaten

Bodo Seidenthal






(A) (C)



(B) (D)


angeht, kläglich versagt. Die Daten wurden nämlich auf
Halde produziert und nur in geringem Umfang als Da-
tenquelle genutzt. Sie haben nichts dafür getan, daß die-
ses teure Investment etwas bringt. Wir gehen davon aus,
daß gerade satellitengestützte Informationssysteme zu-
künftig einen angemessenen Anteil haben werden.

Abschließend, Herr Rachel, komme ich auf Sie zu
sprechen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403507600
Ihre Redezeit ist
aber abgelaufen, Herr Kollege.


Bodo Seidenthal (SPD):
Rede ID: ID1403507700
Jawohl, Frau Präsidentin.
Ich nehme das zur Kenntnis.

Herr Rachel, als Sie 1994 im Ausschuß für Forschung
und Technologie Ihre ersten Ausführungen zu diesem
Thema gemacht haben, hatte ich den Eindruck, daß Sie
wirklich ein Kämpfer für die Raumfahrt sind. Herr Ra-
chel, Sie sind als Löwe gesprungen und als Bettvorleger
gelandet. Deshalb sind Ihre heutigen Ausführungen
nicht glaubwürdig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist langsam an der Zeit, daß sich die Opposition
hinter die Ministerin stellt und daß Sie, Herr Rachel,
Ihre Beschimpfungen – teilweise waren es sogar Belei-
digungen –, die Sie im „Handelsblatt“ vom 1. März ge-
äußert haben, endlich zurücknehmen.

Frau Präsidentin, herzlichen Dank für Ihr Entgegen-
kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403507800
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Rachel.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1403507900
Frau Präsidentin!
Sehr geehrter Herr Kollege Seidenthal, wir haben in den
letzten Jahren verschiedentlich Gelegenheit gehabt, über
die Raumfahrt zu diskutieren. Auch wenn man in einer
argumentativen Schwäche ist, sollte man nicht dazu
übergehen, den Kollegen etwas zu unterstellen, was
nicht richtig ist. Ich glaube, daß gerade die Arbeitsgrup-
pe der CDU/CSU-Fraktion, der ich angehöre, in den
letzten Jahren bewiesen hat, daß sie sich sehr wohl ein-
mal, wenn das von einem Parteifreund geführte Ministe-
rium keine die Raumfahrt so unterstützende Position
einnehmen wollte, wie wir es uns gewünscht haben, für
eine solche eingesetzt hat. Dies haben wir im Gegensatz
zu Ihrer Fraktion getan, die dadurch geglänzt hat, daß sie
keinerlei Haushaltsänderungsanträge eingebracht hat.
Wir haben beispielsweise im letzten Haushalt erreicht,
daß die entsprechenden Haushaltsmittel von 970 Mil-
lionen DM auf 1 Milliarde DM erhöht wurden. Insofern
weise ich Ihre persönlichen Unterstellungen mit aller
Entschiedenheit zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403508000
Es liegen keine
weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Ausspra-
che.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/655 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Über-
weisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15a bis 15f sowie
die Zusatzpunkte 3a bis 3f – es handelt sich um Über-
weisungen im vereinfachten Verfahren – auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Staatsangehörigkeitsrechts
– Drucksache 14/744 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend b)

gebrachten Entwurfs eines Überweisungsgeset-
zes
– Drucksache 14/745 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend c)

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 8. Dezember 1997 über wirt-
schaftliche Partnerschaft, politische Koordi-
nierung und Zusammenarbeit zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-
gliedstaaten einerseits und den Vereinigten
Mexikanischen Staaten andererseits
– Drucksache 14/684 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend d)

Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und
Beschleunigung des arbeitsgerichtlichen Verfah-
rens (Arbeitsgerichtsbeschleunigungsgesetz)

– Drucksache 14/626 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend e)

gang Dehnel, Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Hals-
brücke), Günter Baumann, weiteren Abgeordne-
ten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrach-
ten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände-
rung des Verkehrswegeplanungsbeschleuni-
gungsgesetzes
– Drucksache 14/544 –

Bodo Seidenthal






(B)



(A) (C)



(D)


Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen(federführend)Ausschuß für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuß für Tourismus

f) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Änderung der Geschäftsordnung des Deut-
schen Bundestages
– Drucksache 14/542 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung

ZP3 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 21. Dezember 1995 über
den Beitritt der Republik Österreich, der Re-
publik Finnland und des Königreichs Schwe-
den zu dem Übereinkommen über die Beseiti-
gung der Doppelbesteuerung im Falle von
Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen
Unternehmen
– Drucksache 14/748 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde-
brecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle, Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Für eine sofortige Verhängung umfassender
Handelssanktionen gegen Jugoslawien
– Drucksache 14/793 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend c)

Fograscher, Adelheid Tröscher, Günter Oesing-
haus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika
Köster-Loßack, Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE
GRÜNEN
UN-Sondergeneralversammlung – 5 Jahre
nach der Konferenz für Bevölkerung und
Entwicklung in Kairo – Aktive Bevölkerungs-
politik in der Entwicklungszusammenarbeit
– Drucksache 14/797 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend d)

Gebhardt, Heidi Lippmann, Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Ausschluß des Eintritts Minderjähriger in die
Bundeswehr
– Drucksache 14/551 –

Überweisungsvorschlag:

(federführend e)

Gebhardt, Carsten Hübner, Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Einsatz von Kindern als Soldaten wirksam
verhindern
– Drucksache 14/552 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend f)

Kortmann, Brigitte Adler, Hermann Bachmaier,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-
Loßack, Hans-Christian Ströbele, Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Gegen den Einsatz von Kindern als Soldaten
in bewaffneten Konflikten
– Drucksache 14/806 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Beratung von Vorlagen ohne Aussprache. Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 16a auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie Bundesregierung Aufhebbare Einhundertachtunddreißigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz – – Drucksachen 14/264, 14/305 Nr. 2.2, 14/729 – Berichterstattung: Abg. Rolf Hempelmann Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Vizepräsidentin Anke Fuchs Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 b auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses der Unterrichtung durch die Bundesregierung Privatisierung von Bundesbeteiligungen hier: Veräußerung der Geschäftsanteile an der Heimstätte Rheinland-Pfalz GmbH, Organ der staatlichen Wohnungspolitik, Mainz – Drucksachen 14/186, 14/305 Nr. 1.1, 14/657 – Berichterstattung: Abgeordnete Peter Jacoby Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Günter Rexrodt Dr. Uwe-Jens Rössel Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Auch diese Beschlußempfehlung ist angenommen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um Zusatzpunkt 12 zu erweitern. Es handelt sich um Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses. Über diese Vorlagen soll sofort ohne Aussprache entschieden werden. Sind Sie mit dieser Erweiterung einverstanden? – Es ist so beschlossen. Damit rufe ich zunächst Zusatzpunkt 12 a auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 38 zu Petitionen – Drucksache 14/814 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 38 ist angenommen. Zusatzpunkt 12 b: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 39 zu Petitionen – Drucksache 14/815 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Bei einigen Enthaltungen ist die Sammelübersicht 39 angenommen. Zusatzpunkt 12 c: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 40 zu Petitionen – Drucksache 14/816 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei einigen Gegenstimmen ist die Sammelübersicht 40 angenommen. Zusatzpunkt 12 d: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 41 zu Petitionen – Drucksache 14/817 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei einigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen ist die Sammelübersicht 41 angenommen. Zusatzpunkt 12 e: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 42 zu Petitionen – Drucksache 14/818 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei einigen Enthaltungen ist auch die Sammelübersicht 42 angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes – Drucksachen 14/389, 14/474 – Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung – Drucksache 14/820 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thea Dückert Es liegen Änderungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Brigitte Lange, SPD-Fraktion. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute über drei Änderungen des Sozialhilfegesetzes zu beraten und zu entscheiden. Es geht einmal darum, daß die Übergangsregelung für die Bemessung der Regelsätze um zwei Jahre verlängert werden soll. Das steht so im Gesetzentwurf der Bundesregierung. Zum zweiten geht es um eine Verwaltungserleichterung bei Widerspruchsbescheiden für die Länder und Kommunen. Dann hat die SPDFraktion einen Ergänzungsantrag gestellt, bei dem es darum geht, Modellvorhaben für die Einführung von Pauschalierungen zu ermöglichen. Dazu gibt es einen Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion. Ich habe nicht vor, heute eine Grundsatzdiskussion über die Sozialhilfe anzufangen, obwohl uns die bedrükkenden Fakten durchaus bewußt sind, insbesondere was die Empfängerzahlen, die Zusammensetzung der Empfänger und die Kosten anbetrifft. Ich denke, wir werden in diesem Jahr noch Gelegenheit haben, das miteinander zu diskutieren. Vizepräsidentin Anke Fuchs Mir geht es heute nur darum, insbesondere die Änderungen zu erläutern, die strittig sind und in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Zunächst geht es dabei um die Fristverlängerung bei der Festsetzung der Regelsätze. Wie Sie vielleicht wissen, haben wir 1996 zum erstenmal Regelungen zum Aufbau und zur Anordnung der Regelsätze in das Sozialhilfegesetz hineingenommen. Die Entscheidung über die Zusammensetzung und die Höhe der Regelsätze ist nicht unwichtig. Sie wirkt in sehr viele gesellschaftliche Bereiche hinein. Der Regelsatz wirkt erstens finanzpolitisch auf die öffentlichen Haushalte des Bundes und der Länder. Auf Bundesebene wirkt er sich auf die Höhe des steuerlichen Grundfreibetrages aus, bei den Kommunen hängen davon die Ausgaben für die Sozialhilfeempfänger ab. Diese Ausgaben sind in den letzten Jahren immens gestiegen. Somit betreffen Änderungen auch den Finanzausgleich, der zwischen Bund und Ländern beraten werden muß. Zweitens gibt es wirtschaftspolitische Auswirkungen, da der Zusammenhang mit dem Lohneinkommen beachtet werden muß. Das sogenannte Lohnabstandsgebot steht ja im Sozialhilfegesetz drin. Der Streit, ob man eher die Sozialhilfe senken oder darüber nachdenken soll, wie Löhne gestaltet werden können, damit Beziehern und ihren Familienangehörigen ein existenzsicherndes Einkommen gewährleistet werden kann, ist noch nicht ausgestanden. Drittens hat es familienund viertens sozialpolitische Bedeutung, denn wir entscheiden darüber, was wir denen, die nicht in der Lage sind, selber ihr Existenzminimum zu sichern, zugestehen wollen. Es geht also um das Mindestexistenzniveau. Dieses Niveau ist auch die Orientierungsgrundlage für andere Transfereinkommen. All diese Entscheidungen, bei denen wir die unterschiedlichsten Auswirkungen bedenken müssen, unterliegen jedoch dem in § 1 BSHG formulierten Gebot der Menschenwürde: Sozialhilfe muß dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens ... ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Wir halten es für angemessen, auch für selbstverständlich, daß nach einem Regierungswechsel eine neue Regierung die Möglichkeit haben muß, die Entscheidung zur Festsetzung und Fortschreibung des Regelsatzes gründlich, sorgfältig und in angemessener Frist zu treffen. (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sie haben zwei Jahre dafür veranschlagt!)





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(Erste Beratung 25. Sitzung)

Brigitte Lange (SPD):
Rede ID: ID1403508100




(B)


(A) (C)


(D)


Selbst wenn Sie darauf hinweisen, daß bereits Gutachten
vorliegen, halte ich entgegen, daß es dennoch wichtig
ist, daß die Regierung diese Gutachten selber wertet und
ihre Konsequenzen daraus zieht. Insofern stimmen wir
einer Verlängerung der Frist um maximal zwei Jahre zu
und lehnen Ihren Vorschlag, sie auf ein Jahr zu begren-
zen, ab. Wenn es schneller gehen sollte, ist das in Ord-
nung; aber zunächst einmal muß dieser Entscheidungs-
spielraum geschaffen werden.

Uns ist es natürlich klar, daß damit die Fortschrei-
bung der Regelsätze in der bisherigen Weise erfolgt. Wir
wissen auch, daß sie zwischen 1993 und 1996 gedeckelt
wurden und daß ab 1997 die Erhöhung der Sätze in der
gleichen Weise wie in der gesetzlichen Rentenversiche-
rung geschieht.

Wir haben damals diese Entscheidung als Kompro-
miß mitgetragen. Sie wurde uns nachträglich dadurch
erleichtert, weil die Preissteigerungsraten in den Berei-
chen, die sich auf die Regelsätze auswirken, erträglicher
ausfielen, als wir befürchtet hatten. So hat sich diese
Fortschreibung nicht so gravierend ausgewirkt. Da wir
davon ausgehen können, daß die Renten in den nächsten
beiden Jahren stärker steigen als bisher, halten wir auch
die Verlängerung der Fortschreibung für vertretbar.

Erläutern möchte ich Ihnen auch unseren Vorschlag,
dem Wunsch der Länder zu entsprechen und Modellvor-
haben für Pauschalierungen zuzulassen. Wir verfolgen
damit zwei Ziele. Einmal geht es darum, die Autonomie
von Sozialhilfeempfängern zu erhalten und zu stärken,
wo es geht. Wir hoffen, soweit es bei den nicht gerade
üppig bemessenen Beträgen überhaupt möglich ist, ein
wenig mehr Entscheidungsfreiheit für das eigene Haus-
halten zu ermöglichen. Zum zweiten geht es uns darum,
die Effizienz der Verwaltung zu verbessern und die
möglicherweise freiwerdenden Ressourcen für die indi-
viduelle Beratung der Sozialhilfeempfänger zu nutzen.

Es geht nicht darum – das betone ich noch einmal
ausdrücklich; es kann auch gar nicht darum gehen –,
Leistungen zu senken. Es bleibt beim Prinzip der Be-
darfsdeckung. Wir haben das ausdrücklich in unsere
Regelungen hineingeschrieben.


(Beifall bei der SPD)

Einsparungen sind durch Pauschalierungen also nicht zu
erwarten; eher das Gegenteil. Denn die Pauschalen müs-
sen so bemessen sein, daß sie eine große Zahl der Emp-
fänger umfassen und daß nicht dauernd Ausnahmerege-
lungen geschaffen werden müssen, die aber – auch das
betone ich – nach wie vor möglich sein müssen.

Wir legen auch Wert darauf, daß die Pauschalen für
die jeweiligen Leistungen gesondert bestimmt werden
und auf ihre Tauglichkeit geprüft werden können. Des-
halb lehnen wir den Änderungsvorschlag der CDU/CSU
ab, eine Gesamtpauschale zu ermöglichen. Dann kann
man nämlich nicht mehr die einzelnen Pauschalen auf
ihre Tauglichkeit überprüfen. Ganz abgesehen davon
würde es auch § 22 des Bundessozialhilfegesetzes
widersprechen.

Wir erhoffen uns von der Einrichtung mehrerer Pau-
schalen, daß Verwaltungsaufwand eingespart wird und
dadurch mehr Zeit zur individuellen Beratung möglich
ist, die in den letzten Jahren hat zurückstehen müssen,
weil die Sozialamtsmitarbeiter so viele Fälle zu bear-
beiten hatten, daß sie wenig Zeit für den einzelnen zur
Verfügung hatten. Dadurch wären vielleicht auch mehr
Erfolge zu verzeichnen, Hilfebezieher in Arbeit zu ver-
mitteln. Diese erfolgreiche Vermittlung kann dann mit-
telfristig tatsächlich zu Einsparungen führen, wenn es
uns gelingt, den Zustrom zu den Sozialhilfeämtern zu

Brigitte Lange






(A) (C)



(B) (D)


verringern, denn sonst ist es eine Sisyphusarbeit. Wir
brauchen also Veränderungen im Arbeitsmarktbereich,
aber auch bei den vorrangigen Leistungen.

Ich verstehe, daß die CDU/CSU in den Antrag hin-
einschreiben möchte, daß die freiwerdenden Zeitres-
sourcen für die Verwaltung verwendet werden sollen,
und daß sie nicht dazu beitragen möchte, möglicherwei-
se Stellen zu sperren. Aber da endet die Kompetenz des
Bundes; wir können nicht in die Verwaltungen der Län-
der und Kommunen hineinregieren.

Pauschalen sind nichts Neues. Wir haben sie bereits
im Gesetz verankert. Wir haben Regelsätze, Mehrbe-
darfszuschläge, Blindengeld und Pflegegeld. Das alles
sind gesetzlich festgelegte Pauschalen. Aber es gibt auch
Pauschalen, die einzelne Sozialhilfeträger bereits erprobt
haben, zum Beispiel bei der Bekleidung. Diese können
in die neuen Modellvorhaben einbezogen werden.

Voraussetzung dafür ist eine Rechtsverordnung der
jeweiligen Landesregierung, damit länderspezifische
Ansätze zugelassen werden können, aber andererseits
auch eine vergleichbare Auswertung der Modelle ge-
währleistet ist. In diese begleitende Auswertung müssen
die Wohlfahrtsverbände unbedingt einbezogen werden.
Damit meinen wir, den Bedenken dieser Verbände Rech-
nung zu tragen und ihren Einwand, die Hilfe in besonde-
ren Lebenslagen von der Pauschalierung auszunehmen,
nicht berücksichtigen zu müssen. Deshalb lehnen wir
Ihren Änderungsvorschlag in diesem Bereich ab.

Die SPD-Fraktion wird die Modellvorhaben kritisch
begleiten. Wir hoffen, daß sie nicht nur dazu beitragen,
Verwaltungshandeln zu optimieren, sondern daß wir
damit vor allen Dingen die Situation von Sozialhilfebe-
ziehern verbessern können.

Danke.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403508200
Ich erteile dem
Kollegen Peter Weiß das Wort.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1403508300
Frau Prä-
sidentin! Meine Damen und Herren! Die Vorgeschichte
dieses siebten Änderungsgesetzes zum Bundessozialhil-
ferecht ist, wie ich meine, ein Musterbeispiel für das an-
geblich so entschlossene und klare Handeln der neuen
rotgrünen Koalition.

Ich möchte den wichtigsten Punkt, die Pauschalie-
rungsregelung, herausgreifen. Nachdem Fachleute dar-
über seit vielen Jahren diskutiert haben, hat Baden-
Württemberg im Mai vergangenen Jahres einen entspre-
chenden Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht.
Im Herbst vergangenen Jahres hat die neue rotgrüne
Koalition in ihre Koalitionsvereinbarung hineinge-
schrieben, sie wolle Modellvorhaben bezüglich einer
Pauschalierung der Sozialhilfe ermöglichen. Dann hat
Baden-Württemberg im Bundesrat eine Entscheidung in
der Sache beantragt, weil man sich angeblich einig ge-
wesen sei. Diese wurde abgelehnt.

Im Januar dieses Jahres ist dann vom Arbeitsministe-
rium ein Referentenentwurf an die entsprechenden Ver-
bände und interessierten Fachleute geschickt worden.
Darin war ein eigener Regelungsvorschlag zur Pauscha-
lierung enthalten. Im Februar haben wir den diesbezüg-
lichen Entwurf der Bundesregierung bekommen. Darin
stand plötzlich nichts mehr davon.

Daraufhin folgte die Sitzung des Bundestagsaus-
schusses für Arbeit und Sozialordnung, in der die Koali-
tion flugs per Tischvorlage die Pauschalierung wieder
zum Leben erweckt hat. Der entscheidende Satz – das
möchte ich erwähnen –, der den Unterschied zwischen
der Gesetzesinitiative Baden-Württembergs und dem
einstigen Referentenentwurf markierte, nämlich daß eine
Pauschalierung nur mit ausdrücklicher Zustimmung des
Sozialhilfeempfängers möglich ist, fehlte. Nach diesem
Zickzackkurs befinden wir uns heute in der zweiten und
dritten Lesung des vorliegenden Entwurfes zur Ände-
rung des Bundessozialhilfegesetzes.

Meine Damen und Herren, wenn sich die weiterge-
henden Pauschalierungen in der Sozialhilfe, die wir,
wenn das Gesetz in Kraft tritt, zunächst einmal in einem
Modellvorhaben erproben werden – wozu wir in der Tat
auch die kritische Begleitung sowohl der kommunalen
Spitzenverbände als auch der Wohlfahrtsverbände als
auch der Selbstinitiativen der Sozialhilfeempfänger
brauchen –, bewähren, stellen sie in der Tat eine Revo-
lutionierung des bisherigen Systems des Sozialhilfebe-
zugs dar. Während die laufenden Leistungen zum Le-
bensunterhalt in der Sozialhilfe seit dem Inkrafttreten
des ursprünglichen Gesetzes durch den Regelsatz quasi
pauschaliert sind, findet auf den Sozialämtern bis zum
heutigen Tag ein oft hartnäckiger und verbitterter Kampf
um kleine Beiträge für den Kauf zum Beispiel von Klei-
dung, Hausrat, Möbeln, Radios, Fernsehgeräten und an-
derem statt.


(Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])

Obwohl es bestimmte Richtlinien gibt, besteht bei den
einzelnen Trägern der Sozialhilfe eine sehr unterschied-
liche Praxis dahin gehend, was dem einzelnen Sozialhil-
feempfänger tatsächlich gewährt wird.

Eines kommt noch hinzu: Bis zu 40 Prozent der Ent-
scheidungen im Hinblick auf den Bezug von einmaligen
Leistungen werden rechtlich angefochten. Das heißt, es
kommt in einem Großteil der ergangenen Sozialhilfeent-
scheidungen zu Widerspruchsverfahren oder gerichtli-
chen Auseinandersetzungen. Dieses zum Teil unwürdige
Gezerre und Gerangel wollen wir beenden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Zielsetzung ist, daß jedem Sozialhilfeempfänger

ein berechenbares Haushaltsbudget zur Verfügung steht,
daß er wirtschaftliche Eigenverantwortung praktizieren
muß und daß er die Möglichkeit erhält, für die persönli-
che Lebensführung Prioritäten zu setzen. Das ist eine
konkretere Ausgestaltung dessen, was wir heute auch im
Sozialhilferecht unter der Würde des Menschen verste-
hen. Dieser Weg zu mehr Selbständigkeit des einzelnen
Sozialhilfeempfängers führt über eine Pauschalierung
aller Elemente der Hilfe zum Lebensunterhalt, also auch
der Kosten für die Unterkunft.

Brigitte Lange






(B)



(A) (C)



(D)


Aber auch für die Sozialhilfeträger, das heißt für un-
sere Städte und Landkreise, ergibt sich eine erhebliche
Veränderung. Die Verwaltung der Sozialhilfe wird we-
sentlich vereinfacht. Personalkapazitäten werden frei,
die für den weiteren Ausbau der Hilfen zum Ausstieg
aus der Sozialhilfe dringend gebraucht werden.

Die frühere Bundesregierung aus CDU/CSU und
F.D.P. hat bereits mit ihren Änderungen im Sozialhilfe-
gesetz Wege aufgezeigt, wie Sozialhilfebezieher ver-
stärkt wieder Arbeit erhalten können, statt den Sozial-
hilfebezug zu konservieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Pauschalierung, die wir jetzt einführen wollen, setzt
für die Aufgaben der Beratung, der Hilfe zum Ausstieg
aus der Sozialhilfe und der Hilfe zur verstärkten Ar-
beitsvermittlung weitere Kapazitäten und Kräfte frei.

Ich will noch einmal ausdrücklich klarstellen – Frau
Lange, da sind wir uns vollkommen einig –: Die ange-
strebte Pauschalierung der Hilfen zum Lebensunter-
halt ist kein Vehikel für versteckte Leistungskürzungen,
sondern sie ist das Instrument für vermehrte und verbes-
serte Hilfen zum Ausstieg aus der Sozialhilfe. Deshalb
wollen wir diese Zielsetzung ausdrücklich in das Gesetz
hineinschreiben und bedauern, daß die Koalition das
ablehnt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das neue Instrument der Pauschalierung muß aller-

dings auf einer klaren Rechtsgrundlage stehen. Deshalb
haben wir eine Reihe von Änderungsanträgen einge-
bracht, die diesem Ziel dienen. Wir wollen den bei je-
dem Hilfeempfänger bestehenden Rechtsanspruch auf
individuell bedarfsgerechte Hilfe in einen Gesamtrechts-
anspruch auf ein bedarfsdeckendes Budget ausgestalten.

Ich verstehe nicht, daß Sie einen Widerspruch hervor-
rufen und sagen: Wir wollen kein Gesamtbudget. Wenn
Sie das ernsthaft nicht wollen


(Zuruf von der SPD)

– so steht es aber im Gesetz –, dann ist die Reform, die
Sie jetzt machen, umsonst. Die von uns gemeinsam an-
gestrebten Verwaltungskosteneinsparungen wird es
dann voraussichtlich nicht geben.

Der Städte- und Gemeindebund hat eine klarstellende
gesetzliche Formulierung empfohlen. Wer eine solche
Klarstellung ablehnt, muß sich den Vorwurf gefallen
lassen, daß er bewußt Unklarheiten hinnehmen will.
Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn man Ihre
Gesetzesbegründung liest.

Unserer Auffassung nach ist die von uns vorgeschla-
gene Regelung notwendig, um Rechtsstreitigkeiten zwi-
schen Sozialhilfeträgern und Hilfeempfängern zu ver-
meiden. Gesetze sollen Klarheit schaffen und nicht zu
mehr Gerichtsprozessen führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir sind weiterhin der Auffassung, daß eine Pau-

schalierung von Hilfen in besonderen Lebenslagen
eigentlich nicht sachgerecht eingeführt werden kann.

Das zeigt sich vor allen Dingen bei den Hilfen für
Behinderte, bei denen es so große Unterschiede gibt
und bedarfsgerechte Einzelfallentscheidungen notwen-
dig sind, so daß es schlichtweg umöglich ist, hierfür all-
gemeine Pauschalen festzulegen.

Meine Damen und Herren, wir sind uns mit der
Koalition einig: Wir wollen die Pauschalierung der So-
zialhilfeleistungen. Wenn Sie den Änderungsanträgen
der CDU/CSU zustimmen würden, würde Ihr Gesetz
noch besser werden. Deswegen stellen wir sie heute
noch einmal zur Abstimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Unabhängig von dem Thema Pauschalierung bleibt

die Aufgabe, ein neues Bedarfsbemessungsschema für
die Sozialhilfe zu finden. Frau Lange hat dazu einige
grundsätzliche Ausführungen gemacht. Mit dem heuti-
gen siebten Änderungsgesetz wird nur eines gemacht:
Die bisherige Übergangsregelung wird noch einmal um
zwei Jahre verlängert. Wir finden, hier will die neue
Bundesregierung unverhältnismäßig viel Zeit schinden;
denn die noch von Horst Seehofer in Auftrag gegebenen
Rechtsgutachten liegen vor und können ausgewertet
werden. Sie können möglichst bald in einen neuen Re-
gelungsvorschlag umgesetzt werden. Wir sind deshalb
der Auffassung, daß bereits im kommenden Jahr ein ent-
sprechendes Gesetz vorliegen könnte.

Ich habe ein gewisses Verständnis, verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen, daß Sie, nachdem Sie zum Beispiel bei den
630-Mark-Jobs und bei der Scheinselbständigkeit un-
ausgegorene, unsoziale und nicht handhabbare Gesetze
auf den Weg gebracht haben, jetzt die neue Langsamkeit
als Motto für Ihr Regierungshandeln entdecken.


(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Nicht übertreiben!)


Regierungsverantwortung wird aber übernommen, um
zu handeln, und nicht, um abzuwarten und Tee zu trin-
ken. Deshalb fordern wir dieses Handeln von Ihnen.

Es liegt an den Bundesländern, das neue Sozialhilfe-
recht durch entsprechende Rechtsverordnungen umzu-
setzen. Ich erwarte einen produktiven Wettbewerb unter
den Ländern, damit wieder mehr Menschen aus der So-
zialhilfe herausfinden, Hilfen zur Arbeit geschaffen
werden und so letztlich auch der finanzielle Handlungs-
spielraum unserer Städte und Landkreise wieder erwei-
tert werden kann.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403508400
Ich erteile das Wort
der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die
Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Weiß, auch ich gehöre zu denjenigen, die sehr gern
Tee trinken. Es kann aber aus meiner Sicht keine Rede

Peter Weiß (Emmendingen)







(A) (C)



(B) (D)


davon sein, daß wir angesichts dessen, was Sie uns hin-
terlassen haben, abwarten wollen.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Ist Ihnen nichts anderes eingefallen?)


Die jetzt zu beschließenden Änderungen des Bundes-
sozialhilfegesetzes sind ein erster Schritt. Es ist hier
schon davon gesprochen worden, daß es dringend nötig
ist, Änderungen, insbesondere am Mechanismus der
Festlegung der Regelsätze, vorzunehmen.

Die Hilfe zum Lebensunterhalt dient heute nicht
mehr der Absicherung einzelner Personen, die vorüber-
gehend in eine persönlich schwierige Lage geraten sind.
Dafür waren diese Hilfen ursprünglich aber gedacht;
man erinnert sich kaum noch daran. Heute sichern wir
den Lebensunterhalt für eine ständig steigende Zahl von
Menschen, darunter mehr als eine Million Kinder.

Meine Damen und Herren, die Regierung hat sich
zum Ziel gesetzt, dem ein Ende zu machen. Es soll
Schluß sein mit einer Sozialhilfe, die das Überleben
sichert, aber nicht Leben vor allem im Sinne gesell-
schaftlicher Teilhabe gewährleistet. Dazu braucht es
nicht nur mehr Geld, sondern auch endlich die Möglich-
keit, sich nicht mehr dem entwürdigenden Verfahren
zum Beantragen eines Wintermantels oder Kühlschran-
kes aussetzen zu müssen.

Dazu sind die vorliegenden Erhebungen der alten Re-
gierung leider nicht befriedigend verwendbar. Die in der
Vergangenheit vor dem Hintergrund der in diesem Jahr
ablaufenden Regelung zur Regelsatzanpassung er-
zeugten Gutachten und Datenreihen hatten zum großen
Teil die Zielrichtung, Leistungen einzuschränken. Genau
das haben Sie in den letzten Jahren auch gemacht:
Sanktionen zu begründen und die Last der Schuld an
ihrer Situation weitgehend den Hilfesuchenden in die
Schuhe zu schieben. Die immer wieder geführten De-
batten um Mißbrauch im Bereich der Sozialhilfe waren
für diese Ausrichtung untrügliches Zeichen. Ich glaube,
wir haben sehr wohl die Verpflichtung, hier unter einem
anderen Vorzeichen neue Möglichkeiten zu suchen.

Die Koalition will auf der Basis der in den nächsten
zwei Jahren anstehenden Arbeit zu diesem Thema solide
Mechanismen der Regelsatzbemessung und -anpassung
erzeugen, die insbesondere dem Prinzip der Bedarfs-
deckung entsprechen und die auch den Umfang einbe-
zogener Kosten neu und zeitgemäß definieren. Dabei
werden die zahlreichen und in ihrer Spannbreite weit
streuenden Gutachten, insbesondere von Sozialhilfeträ-
gern sowohl aus dem öffentlichen wie auch aus dem
freien Trägerbereich, genau zu analysieren sein.

Mit der ebenfalls im Änderungsantrag enthaltenen
Möglichkeit neuer Pauschalen in der Sozialhilfepraxis
verbinden wir vor allem die Hoffnung, daß die Einspa-
rung in der Verwaltung zu einer qualitativ besseren,
breiteren Beratung für die Hilfesuchenden führt. Diese
Ausweitungen sind aus unserer Sicht dringend geboten.
Eine Studie von Diakonie und Caritas führte unter ande-
rem zu dem Ergebnis, daß eine sehr hohe Zahl von Men-
schen die ihnen nach dem Sozialhilfegesetz zustehenden
Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Sie schämen

sich, zum Sozialamt zu gehen, oder aber sie wissen
überhaupt nichts von den Möglichkeiten der Sozialhilfe.
Unser Anliegen muß sein, diesen Menschen mit für sie
annehmbarem Rat zur Seite zu stehen. Eine Beratung,
die diese Menschen auch erreicht, muß möglich werden.
Auch dafür schaffen wir hier die Grundlage.

Wir sind uns durchaus bewußt, daß dies alles ein er-
ster Schritt ist. Aber – Sie haben es angesprochen – wir
müssen eine solide Grundlage schaffen. Wir müssen den
Menschen zu mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Le-
ben, zu mehr Selbstbestimmung und mehr Eigenverant-
wortung verhelfen. Teilhabe an der Gesellschaft heißt
nicht: „Ich darf mitmachen“, sondern: „Ich will mitge-
stalten.“ Hier haben wir noch viel Arbeit vor uns, die
gewährleisten soll, daß dies tatsächlich geschehen kann.

Lassen Sie mich zum Schluß noch sagen, die Kinder
und Jugendlichen betreffend, die von Sozialhilfe leben:
Wir werden im Herbst dieses Jahres das Familienentla-
stungsgesetz neu zu regeln haben. Auch hierbei wird es
darauf ankommen, daß nicht fortgesetzt wird, was die
Vorgängerregierung gemacht hat, nämlich Kinder im-
mer mehr in Armut zu treiben. Es wird darauf ankom-
men, deutlich zu machen, daß, wenn wir von Fami-
lienentlastung reden, auch diejenigen Kinder gemeint
sind, die von Sozialhilfe leben. Diese müssen hinrei-
chend berücksichtigt werden. Die Gesellschaft darf
Ausgrenzung nicht mehr in Kauf nehmen, wie wir das in
den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt haben. Wir
brauchen für die Zukunft unserer Gesellschaft Miteinan-
der, Teilhabe und Gerechtigkeit, und das in aller Konse-
quenz.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403508500
Das Wort hat der
Kollege Dr. Heinrich Kolb.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1403508600
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Ge-
setzentwurf beweist aus meiner Sicht erneut die offen-
sichtliche Regierungsunfähigkeit der Koalition.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es ist in der Tat sonderbar: Mal nehmen Sie sich zu-
wenig Zeit, überstürzen Ihre Gesetzgebung ohne Rück-
sicht auf die Auswirkungen – Stichworte: 630-Mark-
Verträge, Scheinselbständigkeit –, und hier und heute
haben Sie es plötzlich überhaupt nicht eilig, lassen sich
Zeit, obwohl alle Voraussetzungen für eine politische
Entscheidung – genau darum geht es nämlich hier –
vorliegen. Offensichtlich haben Sie nicht den Mut zu
entscheiden. Sie verschaffen sich mit der Verlängerung
der Übergangsfristen um zwei Jahre bis zur Neuge-
staltung der Bemessungsgrundlagen ganz offensichtlich
Luft. Sie spielen auf Zeit.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Katrin Göring-Eckardt






(B)



(A) (C)



(D)


Wir sind der Ansicht, daß ein Jahr für die Vorberei-
tung der Neugestaltung vollkommen ausreichend wäre,
zumal in der letzten Legislaturperiode bereits in erhebli-
chem Umfang Vorarbeiten geleistet wurden. Ich stimme
zu, Frau Lange: Eine neue Regierung muß die Möglich-
keit haben, sich das einmal in Ruhe anzuschauen. Aber
ich glaube, ein Jahr ist sehr viel Zeit. Alle Beteiligten,
die Betroffenen wie die Kommunen, haben ein Anrecht
darauf, zu wissen, wie es in diesem Bereich in Zukunft
weitergehen soll. Ich hätte es vor diesem Hintergrund
auf jeden Fall begrüßt, wenn Sie auf den Kompromiß-
vorschlag von CDU/CSU im Ausschuß eingegangen wä-
ren.

Durch die Verlängerung des Ankoppelns der Erhö-
hung der Regelsätze an die Entwicklung der Renten in
den alten Bundesländern entstehen Kosten bei den
Kommunen. Meine Damen und Herren von SPD und
Grünen, Sie mögen die Kosten als gering bezeichnen.
„Gering“ ist aber ein relativer Begriff. Schon jetzt macht
die Sozialhilfe einen nicht unerheblichen Anteil der
Kommunalhaushalte aus.

Ich erinnere daran – man muß das immer im Gesamt-
zusammenhang sehen –, daß die Kommunen in diesem
Jahr auch eine Tariferhöhung in nicht unerheblichem
Umfang zu verkraften haben. Diese Tariferhöhung kam
im übrigen unter massiver Mithilfe eines ehemaligen
Ministers Ihrer Regierung zustande. Die Verlängerung
der Übergangsfristen belastet jetzt die kommunalen
Haushalte erneut. Für mich betreiben Sie damit eine
Politik zu Lasten der Kommunen – eine Politik, die Sie
selbst der Regierung Kohl noch vor wenigen Monaten
vorgeworfen haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich begrüße an dieser Stelle aber ausdrücklich die
vorgesehene Experimentierklausel. Eine verstärkte
Einführung von Pauschalierungen führt zu einer stärke-
ren Orientierung der Sozialhilfe am tatsächlichen Be-
darf. Es ist daher aus unserer Sicht verstärkt auf
Pauschalierungen zurückzugreifen. Dennoch muß, nicht
zuletzt im Interesse der Betroffenen, Rechtssicherheit
herrschen. Aber auch hier haben Sie versagt, sich kon-
struktiven Vorschlägen verschlossen. Ich hoffe nur, daß
es nicht auf Grund dieser Ignoranz zu schlicht unnöti-
gen Rechtsstreitigkeiten zwischen Sozialhilfeempfän-
gern und Sozialhilfeträgern kommt, obwohl ich es – so
muß ich ganz offen sagen – befürchte. Auch hier bot der
Änderungsantrag von CDU und CSU im Ausschuß
einen Ansatzpunkt für einen möglichen Kompromiß.

Daher kann und muß ich zusammenfassen: Erstens.
Die Regierung legt ein Gesetz vor, mit dem sie sich Zeit
nimmt, die sie eigentlich schlichtweg nicht bräuchte.
Zweitens. Dieses Gesetz belastet die Kommunen in aus
meiner Sicht nicht zu akzeptierenden Weise. Drittens.
Die vom Grundsatz her positive Experimentierklausel
zur Erprobung von Pauschalierungen schafft Rechtsun-
sicherheit.

Das sind drei schwerwiegende Gründe für die Frak-
tion der F.D.P., dieses Gesetz heute abzulehnen. Ich
kann nur hoffen, daß wir in Zukunft bei der dann anste-

henden grundlegenden Neufassung im Interesse aller
Beteiligten, nicht zuletzt der Kommunen, zielführender
ans Werk gehen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1403508700
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Grehn, PDS-Fraktion.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1403508800
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Eigentlich war nach den vielen
Aussagen zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu erwarten,
daß die erste legislative Maßnahme der neuen Regierung
im Bereich Sozialhilfe ein gutes Signal für die Armen in
diesem Land sein würde. Was nun vorgelegt wird, bringt
erneut belastende Mißtöne in den Wohlklang der Worte
von sozialer Gerechtigkeit.

Erstens. Für die Betroffenen heißt soziale Gerechtig-
keit zuallererst eine bedarfsorientierte Festsetzung der
Regelsätze. Die Fortsetzung der Deckelung der Regel-
sätze in Form der willkürlichen Anpassung an die Ver-
änderung der Renten für weitere zwei Jahre hat nichts,
aber auch gar nichts mit einer gerechten Bestimmung
der Regelsätze zu tun. – Es ist richtig, Frau Lange. Be-
darfsdeckung steht zwar drin; aber Deckelung hat damit
nichts zu tun.

Das ist auch sehr weit von dem entfernt, was das
Bundesverfassungsgericht mit seiner im Januar veröf-
fentlichten Entscheidung zum sozialhilferechtlich defi-
nierten Existenzminimum ausgeführt hat. Wir lehnen die
Fortsetzung dieser Deckelung ab.

Mit Ihrem Entwurf überholen Sie geradezu die Kon-
servativen und die Liberalen, die es in den Jahren seit
1993 geschafft haben, die Unterdeckelung auf fast
18 Prozent zu treiben. Auch auf Grund der Auswirkung
der Ökosteuer werden Sie es in den nächsten zwei Jah-
ren schaffen, die Unterdeckelung um weitere 7 Prozent
zu erhöhen. Damit koppeln Sie die Sozialhilfeempfänger
weiter vom gesellschaftlichen Fortschritt ab. Die Aus-
sage, Sie wollten den Bedarf sichern, wird damit eher zu
einer Art platonischer Liebeserklärung.

Zweitens. Es gibt wahrlich dringenderen Handlungs-
bedarf, als eine Experimentierklausel für neoliberale
Eigenverantwortungsstrategien einzuführen. Pauschalen
können sinnvoll sein, aber Pauschalen um der Pauscha-
len willen sind widersinnig. Regelsätze sind bereits Pau-
schalen. Wie unzulänglich sie sind, das ist hinreichend
bekannt, und in welchem Schneckentempo sie erhöht
werden und nach welchen fiskalischen Interessen sie ge-
deckelt werden, ist ebenfalls hinlänglich bekannt. Aber
nun die Tür zu öffnen für eine Pauschalierung von Hil-
fen in besonderen Lebenslagen oder für die Kosten der
Unterkunft ist völlig unakzeptabel.


(V o r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss)

Das widerspricht der inneren Logik der Hilfen in beson-
deren Lebenslagen genauso, wie es angesichts der Rea-
lität auf dem Wohnungsmarkt und der Preisgestaltung
am Wohnungsmarkt nicht realisierbar ist.

Dr. Heinrich L. Kolb






(A) (C)



(B) (D)


Deshalb sage ich Ihnen: Ziehen Sie Ihren Entwurf zu-
rück, und fassen Sie ihn unter dem Gesichtspunkt der
sozialen Gerechtigkeit neu. Entsprechende Zuarbeiten
stehen Ihnen aus den Wohlfahrtsverbänden, den Betrof-
fenenorganisationen und auch in Gestalt des Änderungs-
antrages der PDS ausreichend zur Verfügung.

Lassen Sie mich abschließend sagen: Herr Weiß, die
Revolutionierung durch Pauschalen findet bereits seit
geraumer Zeit statt. Ich nenne etwa die Bekleidungspau-
schalen. Das Hinausschieben von Anpassungen, das
Vertrösten der Betroffenen ist eine Sache, aber Vorlagen
einzubringen, die den Notwendigkeiten widersprechen
oder die halbherzig sind, das ist eine ganz andere Sache.
Das trifft die Betroffenen.


(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403508900
Ich schließe die Aus-
sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Bundessozialhilfegesetzes auf den Druck-
sachen 14/389 und 14/820. Es liegen Änderungsanträge
der Fraktionen der CDU/CSU und der PDS vor.

Zunächst stimmen wir mit Einverständnis der Antrag-
steller über den Änderungsantrag der Fraktion der PDS
auf Drucksache 14/821 ab. Wer stimmt für diesen Ände-
rungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Damit ist der Änderungsantrag gegen die Stimmen der
PDS abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf in der Ausschußfassung. Die Fraktion der CDU/
CSU hat Einzelabstimmung über eine Reihe von Vor-
schriften verlangt.

Ich rufe Art. 1 Nr. 1 und Art. 1 Nr. 2 Buchstabe a auf.
Ich bitte diejenigen, die den genannten Vorschriften zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Damit sind diese Vor-
schriften gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ange-
nommen.

Ich rufe Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b auf. Hierzu liegt auf
Drucksache 14/825 unter Buchstabe a ein Änderungs-
antrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Wer stimmt für
diesen Änderungsantrag? – Die Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Damit ist der Änderungsantrag gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b ist
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung
der PDS-Fraktion angenommen.

Ich rufe Art. 1 Nrn. 3 bis 7 auf. Ich bitte diejenigen,
die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist Art. 1
Nrn. 3 bis 7 bei Enthaltung der PDS angenommen.

Ich rufe Art. 1 Nr. 8 in der Ausschußfassung auf.
Hierzu liegt auf Drucksache 14/825 unter Buchstabe b
ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSU? –

Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag
ist gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. bei
Enthaltung der PDS abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die Art. 1 Nr. 8 in der Aus-
schußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Art. 1 Nr. 8
ist in der Ausschußfassung mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU,
F.D.P. und PDS angenommen.

Ich rufe Art. 1 Nrn. 9 und 10 in der Ausschußfassung
auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Art. 1 Nrn. 9 und 10 sind mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der CDU/CSU bei Nichtbeteiligung
der F.D.P. und Enthaltung der PDS angenommen.

Ich rufe Art. 2, Einleitung und Überschrift in der
Ausschußfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Die aufgerufenen Vorschriften
sind bei Enthaltung der PDS angenommen. Damit ist die
zweite Beratung abgeschlossen.

Dritte Beratung
und Schlußabstimmung! Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS
angenommen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung
auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung als Bauherr zu
Schwarzarbeit und außertariflicher Beschäfti-
gung auf den Baustellen des Bundes in Berlin
und zu den Auswirkungen auf die Beschäfti-
gungssituation im Baugewerbe Berlins und
Brandenburgs sowie die ostdeutsche Bauwirt-
schaft insgesamt

Das Wort hat als erste für die Fraktion der PDS die
Kollegin Petra Pau.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403509000
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen! Am Montag haben wir ge-
meinsam den neuen, den modernisierten Reichstag als
Sitz des Bundestages eingeweiht. Auf Nachfragen von
Journalistinnen und Journalisten, wie mir das Gebäude
denn gefalle, habe ich gesagt: Die Politik und damit
auch wir als Politikerinnen und Politiker werden zu tun
haben, werden uns sehr strecken müssen, um die Trans-
parenz dieses Hauses und der Kuppel auf dem Reichs-
tag in unserem täglichen Tun auch nur halbwegs zu er-
reichen.


(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Ihr habt doch gegen die Kuppel gestimmt!)


Dr. Klaus Grehn






(B)



(A) (C)



(D)


– Die Gegenstimme gegen eine Ausführung des Baus
sagt doch noch lange nichts gegen die Bewunderung des
Bauwerks, Frau Kollegin.


(Beifall bei der PDS – Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Ich wollte es Ihnen nur einmal sagen!)


Ich gebe zu, ich habe an diesem Montag auch meine
Befürchtungen wiederholt, daß dieser Reichstag, unser
zukünftiger Arbeitsplatz, liebe Kollegen, auf einem sehr
unsozialen Fundament steht. Nicht nur die Fachgemein-
schaft Bau Berlin/Brandenburg, die am Montag ja un-
weit des Reichstages demonstriert hat, hat gegen
Schwarzarbeit am Reichstag und auf weiteren Bundes-
baustellen in Berlin protestiert.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sagen Sie doch mal Zahlen!)


– Es geht sofort los, Kollege, alles nachweisbar – bis hin
zu den geprellten Bauarbeiterinnen und Bauarbeitern,
die jetzt hochverschuldet wieder zu Hause in Griechen-
land sind. Immer wieder waren diese Unregelmäßigkei-
ten mediale Themen. Dumpingvorwürfe, mangelnder
Arbeitsschutz, unmenschliches Arbeitszeitregime und
anderes mehr an Bundesbauten sind inzwischen hundert-
fach mit Name und Adresse belegt. So berichtete das
ARD-Magazin „Report“ am 1. März 1999 über mafiöse
Strukturen sowie – ich erlaube mir zu zitieren – „Lug
und Trug auf Regierungsbaustellen“. Ausländische Bau-
arbeiter, die zu Dumpinglöhnen illegal angestellt, in
baufälligen Unterkünften untergebracht und letztendlich
ohne Entlohnung nach Griechenland zurückgeschickt
wurden, wurden nicht nur zitiert, sondern kamen per-
sönlich zu Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir alle kennen den Slogan, Berlin sei die Baustelle
Europas und im übrigen die Werkstatt der Einheit der
Bundesrepublik. Zugleich aber müssen wir zur Kenntnis
nehmen, daß die Arbeitslosigkeit im Baugewerbe der
Region inzwischen jenseits der 30-Prozent-Marke liegt.
Jeder, der dies gegenüberstellt, wird ermessen können,
welche Auswirkungen die hier beschriebenen Vorgänge
gerade in dieser Region haben. Auch Fremdenhaß haben
wir erleben müssen. Ich erinnere nur an die zwei briti-
schen Bauarbeiter in Mahlow, von denen heute einer
querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt. Gerade deshalb
möchte ich hier klarstellen: Ausbeutung bleibt Ausbeu-
tung, und Dumpinglöhne bleiben Dumpinglöhne, ganz
unabhängig davon, welchen Paß die Betroffenen in der
Tasche haben.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Fremdenhaß, wie er auch im Aufruf einiger Vertreter
der Fachgemeinschaft Bau zumindest angelegt war, ist
das untauglichste Mittel, gegen Lohndumping und diese
Methoden vorzugehen.


(Beifall bei der PDS)

Dies sage ich auch mit Blick auf die zitierte Fachge-
meinschaft, die in einer Erklärung am Montag meinte,
der Reichstag sei dem deutschen Volke gewidmet, nicht
aber europäischen Wanderarbeitern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, kaum ein Redner
hat am Montag in der Sitzung versäumt, auf die Symbo-
lik der Tatsache hinzuweisen, daß der Architekt für den
Umbau des Reichstages nicht Bürger der Bundesrepu-
blik ist, daß also dieser neue Reichstag, unser Arbeits-
platz, ein gemeinsames Werk ist. Ich finde, er hätte noch
viel mehr Symbolik verdient gehabt: Bauarbeiter aus
Ost- und West-, aus Nord- und Südeuropa hätten an die-
sem Reichstag zu gleichen, menschenwürdigen Bedin-
gungen bauen sollen. Wir sollten alles daransetzen, daß
von den übrigen Bundesbaustellen ein solches Beispiel
aus der Hauptstadt Berlin ausgeht.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Da sieht man, wieviel Sie davon verstehen!)


Es gibt schwere und anhaltende Vorwürfe gegenüber
dem Bauherren. Deshalb interessiert uns schon, welche
Haltung die Bundesregierung zu Schwarzarbeit und au-
ßertariflicher Beschäftigung auf Bundesbaustellen in
Berlin bezieht.

Auf eine Kleine Anfrage der PDS an das Bundesmi-
nisterium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu
den „Berichten über Unregelmäßigkeiten auf Baustellen
des Bundes“, Drucksache 14/519, kam erst die Bitte um
Terminaufschub. Es hieß, man müsse erst umfangreich
recherchieren. In der vergangenen Woche dann, pünkt-
lich zur Einweihung des Reichstagsgebäudes, folgte die
Antwort der Bundesregierung – nach langer Recherche
kurz und knapp: Die zuständige Bundesbaugesellschaft
habe versichert, alles sei gut. Detaillierte Antworten zu
diesen Vorwürfen erübrigen sich also. Im übrigen habe
der Bundestag auch noch ein Aufsichtsgremium.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403509100
Frau Kollegin, kom-
men Sie bitte zum Schluß.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403509200
Sofort. Nur noch ein Schlußsatz an
die Vertreter der Regierung.

Ich bewerte diese Antwort so: Erstens. Sie haben die
Brisanz des Problems überhaupt nicht erkannt und die
Probleme der betroffenen Beschäftigten nicht zur
Kenntnis genommen.

Zweitens. Sie halten die erhobenen Vorwürfe für so
nebensächlich, daß Sie ausgerechnet die Beschuldigten
zu den Kronzeugen gegen diese Vorwürfe machen, an-
statt tatsächlich die schon in Briefen an die Betroffenen
angekündigten rechtlichen Prüfungen einzuleiten.

Drittens. Sie haben demonstriert, was Sie tatsächlich
unter dem Aufbau Ost verstehen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403509300
Frau Kollegin, Sie
müssen jetzt wirklich zum Schluß kommen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403509400
Damit bin ich am Schluß.

(Beifall bei der PDS)


Petra Pau






(A) (C)



(B) (D)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403509500
Für die Bundesregie-
rung spricht der Kollege Großmann.

A
Achim Großmann (SPD):
Rede ID: ID1403509600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag
der PDS zur Abhaltung einer Aktuellen Stunde muß
unter dem Gesichtspunkt, daß bereits alle Fakten zu die-
sem Thema sehr umfangreich in Kleinen Anfragen, aber
auch in einem Bericht an den Haushaltsausschuß be-
sprochen worden sind, schon sehr verwundern. Praktisch
im Abstand von vier Wochen haben wir darüber berich-
tet, was für Kontrollen auf den Baustellen in Berlin
durchgeführt wurden und mit welchem Erfolg. Es gab
zwei Kleine Anfragen der PDS. Es gab noch im Januar
dieses Jahres auf Anregung der Kollegin Frau Luft einen
Bericht an den Haushaltsausschuß, in dem ausführlich
dargelegt worden ist, wie oft die Kontrollen auf den
Bundesbaustellen in Berlin durchgeführt wurden und
mit welchen Ergebnissen. Auf diesen Bericht, der den
Mitgliedern des Hauses vorgelegt worden ist und der an
für sich auch der PDS bekannt sein müßte, werde ich
später noch ausführlicher eingehen. Zunächst möchte ich
zwei Sätze aus ihm zitieren:

Grundsätzlich ist zu registrieren, daß auf den Bun-
desbaustellen die festgelegten Verstöße von der
Anzahl her geringer sind als auf den übrigen Bau-
stellen.

(Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Das ist eine Relation! 100 zu 99, oder was?)

– Dazu werde ich gleich noch etwas sagen.

Bezüglich des Vorwurfs, der in der „Report“-
Sendung, die Sie zitiert haben, erhoben wurde, es gebe
mafiose Strukturen, kommt der Bericht zu dem Ergeb-
nis:

Die Sonderprüfgruppe hat keine mafiosen Struktu-
ren im Baubereich aufdecken können.

Alle wissen, daß es fast unmöglich ist, auf den Bau-
stellen Vorfälle völlig auszuschließen, die in die oben
beschriebene Richtung weisen und die wir von vielen
Einzelfällen her kennen. Trotzdem hat gerade der Bund
– darauf wird in dem Bericht eingegangen, und das
sollten Sie zur Kenntnis nehmen – besonders intensiv
darüber gewacht, daß eben solche Vorfälle ans Tages-
licht gebracht werden und daß die entsprechenden Fir-
men mit Bußgeldern belegt werden. Wenn ich jetzt die
Einzelmaßnahmen einmal Revue passieren lasse, dann
muß ich feststellen, daß man dem Bund keine Fahrläs-
sigkeit vorwerfen kann. Wir müssen vielleicht zusam-
men darüber nachdenken, wie man Kontrollen und
Strukturen unter Umständen noch verbessern kann.
Wahrscheinlich müssen wir dafür noch einmal Gesetze
verändern.

Zunächst einmal ist am 1. März 1996 das Gesetz über
zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreiten-
den Dienstleistungen, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz,
in Kraft getreten, um die tiefgreifenden Störungen der
Wettbewerbsbedingungen auf dem Baumarkt zu lindern.

Zielsetzung dieses Gesetzes war und ist es, daß auslän-
dische Arbeitgeber, die Arbeitnehmer auf Baustellen in
Deutschland entsenden, zumindest hinsichtlich der be-
sonders wettbewerbsrelevanten Arbeitsbedingungen,
nämlich hinsichtlich des Lohns und der Gewährung von
Urlaub, denselben rechtlichen Verpflichtungen unter-
worfen werden wie die deutschen Arbeitgeber.

Ein Jahr später, am 7. Juli 1997, ist zusätzlich zu die-
ser gesetzlichen Regelung eine weitere Sanktionsmög-
lichkeit eingeführt worden, und zwar auf Grund eines
Erlasses des ehemaligen Bundesministeriums für Raum-
ordnung, Bauwesen und Städtebau. Diese Tariftreue-
erklärung gilt ab dem genannten Datum auf den Bau-
stellen des Bundes und damit auch auf denen in Berlin.
Danach müssen sich Auftragnehmer in einer gesonder-
ten Vereinbarung zur Einhaltung der tarifvertraglichen
und öffentlich-rechtlichen Bestimmungen bei der Aus-
führung von Baumaßnahmen verpflichten. Insbesondere
haben sich die Auftragnehmer vertraglich ergänzend
zur Einhaltung der für sie geltenden tarifvertraglichen
Bestimmungen bzw. der Mindestentgeltregelungen des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes zu verpflichten. Der
Auftragnehmer darf einen Nachunternehmer nur unter
der Voraussetzung beauftragen, daß dieser eine gleich-
lautende Erklärung gegenüber dem Auftragnehmer ab-
gibt.

Schließlich hat sich der Auftragnehmer auch zu ver-
pflichten, Subunternehmer nur unter der Voraussetzung
zu beauftragen, daß dieser sich zur Zahlung von Ver-
tragsstrafen an den Auftraggeber bei entsprechenden
Verstößen verpflichtet. Der Verstoß gegen diese Ver-
pflichtung wird mit einer Vertragsstrafe sanktioniert.
Die Vereinbarung sieht als Kontrollmöglichkeit vor, daß
der öffentliche Auftraggeber zur Durchführung von
Stichprobenkontrollen Einblick in die Lohnabrechnung
von Auftragnehmern bzw. Nachunternehmern nehmen
darf.

Schließlich wurde eine weitere Möglichkeit zur Be-
kämpfung von illegaler Beschäftigung geschaffen. Am
1. März 1998 ist unter der Trägerschaft des Landesar-
beitsamtes Berlin/Brandenburg – auch das ist in dem
Bericht an den Haushaltsausschuß deutlich dargestellt
worden – die Projektgruppe „Bekämpfung illegaler Be-
schäftigung auf den Baustellen des Bundes in Berlin“
eingesetzt worden. Die über 40 Mitarbeiter der Sonder-
prüfgruppe Bund haben – das war der Stand Mitte De-
zember 1998 – 200 Außenprüfungen auf 56 verschie-
denen Baustellen des Bundes durchgeführt. Dabei wur-
den 8 527 Arbeitnehmer von 2 744 Unternehmen ge-
prüft. Im Rahmen dieser Überprüfungen wurden Zuwi-
derhandlungen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz,
Zuwiderhandlungen nach dem SGB III, Zuwiderhand-
lungen nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Ver-
gehen nach dem Ausländergesetz bzw. Beihilfe zum
Verstoß gegen das Ausländergesetz überprüft. Schließ-
lich wurde auch Leistungsmißbrauch überprüft. Diese
Überprüfungen haben bei einer Reihe von Fällen dazu
geführt, daß das Landesarbeitsamt und damit die zustän-
digen Arbeitsämter über mögliche Verdachtsmomente
informiert worden sind. Die Arbeitsämter gehen diesen
Verdachtsmomenten nach.






(B)



(A) (C)



(D)


Bisher habe ich nur das referiert, was unter Federfüh-
rung der alten Bundesregierung gemacht worden ist.
Darüber hinaus hat die neue Bundesregierung zu Beginn
dieses Jahres ein Gesetz zur Generalunternehmerhaftung
vorgelegt. Das heißt, wir wollen in Kenntnis der Tatsa-
che, daß die bisher eingeführten Möglichkeiten unter
Umständen nicht völlig ausreichen und daß wir noch
mehr tun müssen, um die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer zu schützen, eine Durchgriffshaftung er-
möglichen. Diese besagt, daß jeder Generalunternehmer,
der Subunternehmer für sich arbeiten läßt, wissen muß,
daß wir ihn für den Fall haftbar machen, daß er oder sei-
ne Subunternehmer sich an bestimmte Regularien nicht
halten. Im Gesetz geregelt sind dabei der Mindestlohn
und die Beiträge zur Sozialkasse, also zwei ganz we-
sentliche Punkte, die zu Wettbewerbsverzerrungen ge-
führt haben.

Als SPD-Bundestagsfraktion – ich gebe kurz einmal
die Positionen wieder, die ich als wohnungspolitischer
Sprecher in der letzten Legislaturperiode vertreten habe
– wollten wir vergabefremde Aspekte in das Vergabe-
rechtsänderungsgesetz einführen, zum Beispiel die Ta-
riftreueerklärung. Sie wissen selbst, daß die CDU/CSU
und die F.D.P. das damals abgelehnt haben. Über den
Vermittlungsausschuß ist zumindest eine Öffnungsklau-
sel erwirkt worden, so daß die Tariftreueerklärung ge-
setzlich abgesichert werden kann. Diese Maßnahme hat
sich übrigens im Freistaat Bayern hervorragend bewährt.
Daher sollten wir wirklich darüber nachdenken, sie bun-
desweit einzuführen.

Faßt man das Ganze zusammen, dann wird man fest-
stellen, daß über die Instrumentarien, über die wir schon
seit längerem verfügen, aber auch über neue Gesetze,
Erlasse und Verordnungen immer wieder versucht wor-
den ist, die Zahl des mißbräuchlichen Einsatzes von Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf Baustellen zu
minimieren. Auch wenn wir über nach wie vor auftre-
tende Vorfälle, die ans Tageslicht kommen, sehr besorgt
sind, läßt sich sagen, daß wir auf den Baustellen des
Bundes deutlich besser als auf allen anderen Baustellen
dafür gesorgt haben, daß diese Verstöße in der Minder-
heit bleiben.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403509700
Herr Kollege, kom-
men Sie bitte zum Schluß. Ihre Redezeit ist abgelaufen.

A
Achim Großmann (SPD):
Rede ID: ID1403509800
Ich
bin schon beim letzten Satz.

Wir sind gerne bereit, darüber nachzudenken, wie
weitere Gesetze und Verordnungen aussehen könnten
und wie wir die Handhabbarkeit der bestehenden Vor-
schriften noch verbessern können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403509900
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Dietmar Kansy.


Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1403510000
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema
der Aktuellen Stunde ist nicht aktuell, sondern ein Dau-
erbrenner in verschiedenen Gremien des Bundestages.
Seit Jahren beschäftigen sich sowohl die Baukommis-
sion des Deutschen Bundestages, was die Parlaments-
bauten betrifft, als auch der frühere Ausschuß für Raum-
ordnung, Bauwesen und Städtebau gemeinsam mit der
Regierung mit diesem Thema. Herr Staatssekretär
Großmann hat eben die ganze Palette von Sanktions-
möglichkeiten vorgetragen; ich möchte das nicht wie-
derholen.

Das Thema ist für uns als Parlament über alle Partei-
grenzen hinweg wichtig. Wenn wir nicht nachweisen
können, daß auf den Baustellen des Bundes – sei es, daß
wir als Bundestag bauen oder daß wir aufpassen, wie die
Regierung baut – nicht gegen geltendes Recht verstoßen
wird, dann können wir uns angesichts der bedenklichen
Entwicklung auf dem Bau nicht rechtfertigen.

Ich will mir die Antwort jetzt nicht zu einfach ma-
chen. Ich habe am Freitag auf Bitte von Bundestagsprä-
sident Thierse mit dem Veranstalter der Demonstration,
mit der Fachgemeinschaft Bau, und später mit der Son-
derprüfgruppe Bund beim Landesarbeitsamt Ber-
lin/Brandenburg gesprochen. Ich habe mir noch einmal
die Fakten vorlegen lassen und habe in diesem Zusam-
menhang leider festgestellt – die PDS ist darauf herein-
gefallen –: Immer wieder zu behaupten, das Reichstags-
gebäude, das zwecks Kontrollen mit Stacheldraht umge-
ben ist und zwischenzeitlich fast wie eine Gefängnisbau-
stelle aussah, sei sozusagen die Inkarnation von
Schwarzarbeit in Deutschland, ist die falsche Politik und
liegt nicht im Interesse der eigenen Sache. Jetzt erfolgt
nämlich nach der 17. die 18. Überprüfung, die die glei-
chen Ergebnisse liefern wird, aber die die Probleme, die
wir zur Zeit am Bau haben, nicht löst. Diese Probleme
sind nämlich struktureller Art, die weit über das Bauen
des Bundes in Berlin hinausgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Staatssekretär Großmann hat schon Zahlen genannt.
Ich will einmal die Zahlen des letzten Jahres in bezug
auf unsere Baustellen nennen: Wir haben im Rahmen
von 338 Außenprüfungen 4 300 Arbeitgeber und rund
15 000 Arbeitnehmer überprüft. Staatssekretär Groß-
mann hat schon gesagt, daß es sich bei den Verstößen
auf unseren Baustellen nicht nur um Verstöße hinsicht-
lich des Mindestlohnes und der Schwarzarbeit, sondern
auch um Verstöße hinsichtlich der Meldepflicht nach
d
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403510100
Unsere Baustellen wei-
sen im Vergleich zu anderen Baustellen wesentlich we-
niger Verdachtsfälle auf. Es kann uns aber nicht auto-
matisch zufriedenstellen, wesentlich besser als andere zu
sein. Die Frage an uns lautet vielmehr: Warum gibt es
diese Verstöße auf Bundestagsbaustellen überhaupt?

Bei rund 10 Prozent der Überprüfungen gab es Ver-
dachtsfälle, die in der angesprochenen Fernsehsendung,
die ich nicht näher kommentieren will, aber bewußt oder
unbewußt falsch dargestellt wurden. Dazu sage ich: Ein
Verdachtsfall ist noch kein erhärteter Fall. Wiederum

Parl. Staatssekretär Achim Großmann






(A) (C)



(B) (D)


nur 10 Prozent der Verdachtsfälle führen letzten Endes
dazu, daß Strafanzeigen erstattet werden oder Ord-
nungswidrigkeiten festgestellt werden. Ich sage noch
einmal: Die Situation, daß bei einem Prozent der Über-
prüfungen Verstöße vorliegen, kann uns nicht zufrieden-
stellen. Wir müssen uns deshalb überlegen, wie wir zu-
künftig auch noch dieses eine Prozent an Verstößen
vermeiden.

Wir müssen uns im Bundestag über dieses Problem
über alle Fraktionsgrenzen hinweg unterhalten. Die ver-
ehrten Kollegen vom Haushaltsausschuß sagen mir als
dem Vorsitzenden der Baukommission nicht: Mein lie-
ber Kansy, wir sind dir sehr dankbar, wenn du sicher-
stellst, daß jeder nach deutschem Tarif und nicht nur
nach Mindestlohn gemäß Entsendegesetz bezahlt wird.
Sie fragen vielmehr: Warum baut ihr als Bundestag
eigentlich teurer – sofern es überhaupt der Fall ist – als
die anderen?

Diese Schizophrenie findet sich auch in der Öffent-
lichkeit. Dieselbe Zeitung, die Montag schreibt: „Uner-
hört! Während nebenan der Unternehmer X für soundso
viel DM pro Quadratmeter baut, baut der Bund für 5
oder 10 DM mehr“, schreibt am Dienstag: „Skandal:
Schwarzarbeiter auf Bundesbaustellen!“ – Das ist die
Wahrheit.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Man müßte einmal in den Fachausschüssen überle-

gen, ob man nicht schon bei Submissionen – damit wird
fachchinesisch die Situation umschrieben, daß die ver-
schiedenen Aufträge durch Fachleute überprüft werden
– erkennbar machen kann, ob nicht irgendwelche Ge-
werke angeboten werden, die so weder zu Tariflöhnen
noch zu Löhnen nach dem Entsendegesetz überhaupt er-
stellt werden können, bei denen also die Schwarzarbeit
und die Einbeziehung von Subunternehmern von vorn-
herein einkalkuliert worden sind.

Wir sollten die Demonstration und auch diese Aktu-
elle Stunde durchaus zum Anlaß nehmen – dies sage ich
auch im Namen der CDU/CSU –, über diese Problema-
tik nachzudenken. Ich bitte aber alle Beteiligten, dabei
nicht mit Totschlagsargumenten zu arbeiten, sondern
sich mit der wirklichen Situation auf den Baustellen
vertraut zu machen. Obwohl wir uns als Deutscher Bun-
destag schon freiwillig genauen Kontrollen unterwerfen,
sollten wir dennoch versuchen, den Mißbrauch noch
mehr abzustellen.

Ich sage zum Schluß in Richtung aller Fraktionen:
Wir haben mit großer Mehrheit den Vertrag von Maas-
tricht und den Vertrag von Amsterdam beschlossen. Wir
haben uns gefreut, als die Grenzen nach Ost- und Süd-
osteuropa aufgingen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403510200
Kollege Kansy, ich
muß auch Sie an die Redezeit erinnern.


Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1403510300
Wir haben,
Frau Kollegin Pau, tatsächlich 70 000 legale Fremdar-
beiter auf Berliner und Brandenburger Baustellen. Das
alles gehört zur Wahrheit. Vielleicht gelingt es uns ja

– über die Fraktionsgrenzen hinweg – in diesem Zu-
sammenhang noch ein Stück mehr Sicherheit zu schaf-
fen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403510400
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin Franziska
Eichstädt-Bohlig das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Ich möchte Ihnen, Herr Kansy, ausdrücklich
dafür danken, daß Sie dem Thema überfraktionelle
Nachdenklichkeit gegeben haben, denn auch ich halte es
für sehr wichtig, daß wir die dahinterstehenden Proble-
me sehr ernsthaft diskutieren.

Tatsache ist, daß wir in Berlin zur Zeit Großbaustel-
len des Bundes – des Bundestages und der Bundesregie-
rung – mit einem Bauvolumen von über 5 Milliarden
DM und trotzdem eine anhaltend hohe Arbeitslosigkeit
im Baugewerbe haben: In dieser Branche sind in Berlin
und in Brandenburg etwa 40 000 Arbeitnehmer arbeits-
los. Tatsache ist auch – darauf haben schon meine Vor-
redner hingewiesen –, daß in einer Reihe von Fällen du-
biose Firmen, untertarifliche Bezahlung, Schwarzarbeit
und illegale Beschäftigung aufgedeckt worden sind.

Ich warne aber entschieden davor, die Legende zu
stricken, die Bundesbaustellen seien ein Hort von mafio-
sen Strukturen und illegaler Arbeit. Eines möchte ich
ganz konkret sagen, Frau Kollegin Petra Pau: Der Fall
der Firma Octopus, die ihre Leistungen nicht erbracht
und ihre Arbeitnehmer nicht bezahlt hat, ist ein Problem.
Das kommt aber leider hin und wieder am Bau vor. Ich
finde das überhaupt nicht gut oder schön; jedoch halte
ich es für äußerst problematisch, das dem Bauherrn
Bund in einer Form anzuhängen, wie Sie es getan haben.
Ich glaube, wir haben die Verantwortung, uns nicht ge-
genseitig einzelne Sensationsfälle vorzuhalten, sondern
die strukturellen Probleme anzugehen.

Herr Kansy, Sie haben die Fälle angesprochen. Ich
möchte noch einmal darauf hinweisen, daß es auch spe-
zifische Probleme der Bundesbaustellen gibt. Das sind
riesige Großbaustellen. Sie haben sehr enge Zeit- und
Ablaufpläne; sie haben sehr große Bau- und Vergabelo-
se. Daraus folgt natürlich, daß dort überwiegend Groß-
unternehmen zum Zuge kommen und nicht – wie sich
das die Fachgemeinschaft Bau gewünscht hat – der
Mittelstand. Dadurch haben wir das Problem – das soll-
ten wir uns schon bewußt machen – der Subunterneh-
mensstruktur und die Tendenz, daß die mittleren Unter-
nehmen überwiegend als Subunternehmen eingesetzt
werden und deshalb Preise und Löhne enorm drücken
müssen.

Das aber ist ein Problem, das wir nicht allein lösen
können, obwohl ich dafür bin, immer wieder darauf zu
achten, daß die Baulose etwas mittelstandsfreundlicher

Dr.-Ing. Dietmar Kansy






(B)



(A) (C)



(D)


„gestrickt“ werden – was dann natürlich Auswirkungen
auf die Zeit- und Ablaufpläne hat. Es geht aber auch um
ein Stück Verantwortung der Anbieter und der Fachge-
meinschaft Bau bzw. der entsprechenden Organisationen
in anderen Regionen. Wir haben uns immer wieder ge-
wünscht – und das auch so in der Baukommission vor-
getragen –, daß die Bieter 60 Prozent der angebotenen
Leistungen selbst erbringen sollen, um die Subunter-
nehmensstruktur auszutrocknen. Bei solchen Großbau-
stellen geht das jedoch nur dann, wenn sich die Mittel-
ständler vermehrt zu Bietergemeinschaften und Arbeits-
gemeinschaften zusammenfinden. Das wollte ich als
Beispiel anführen; es ist also beiderseitiges Entgegen-
kommen angebracht.

Diese Regierung hat sich schon große Mühe gegeben,
das Problem strukturell weiter zu entschärfen. Wir ha-
ben im Dezember das Entsendegesetz entfristet, wir ha-
ben die Durchgriffshaftung für Generalunternehmer ein-
geführt – das heißt: Sie haften auch für die Einhaltung
der Tarife sowie für die Entrichtung der Sozialabgaben
und Steuern ihrer Subunternehmen –, und wir haben in-
zwischen die Möglichkeit, Tarifregelungen auch auf
nichttarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu
erstrecken. Das alles sind Instrumente zur Stärkung der
gerechten Entlohnung und solider Tarif- und Abgaben-
strukturen.

Mir ist wichtig, zu sagen, daß wir bei der Diskussion
nicht nur zurück-, sondern auch in die Zukunft schauen
müssen. In Berlin stehen in den nächsten Jahren noch
eine Reihe von Baumaßnahmen des Bundes an. Zum
überwiegenden Teil werden diese Baumaßnahmen in
Zukunft kleiner und überschaubarer. Daher empfehle ich
sehr, daß sich der Bund, vertreten durch das Bundes-
bauministerium und die BBB, das Bundesbauamt, die
Berliner Verbände und die Gewerkschaften noch einmal
zusammensetzen, um in Form eines runden Tisches oder
als Teil des Bündnisses für Arbeit zu prüfen, wie die Be-
schäftigungssituation unter Einbeziehung mittelständi-
scher Unternehmen im Raum Berlin und Brandenburg
effektiver und konstruktiver gestaltet werden kann.

Ich glaube, es wäre ein gutes Zeichen, wenn der Bund
deutlich machte, daß er die Kooperation sucht. Das setzt
bei den Firmen aber auch die Bereitschaft voraus, bei
der Entlohnung, den Tarifen, den Sozialabgaben und
Steuern ihrerseits Transparenz zu zeigen und einen kon-
struktiven Umgang zu ermöglichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403510500
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1403510600
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich in die The-
matik einsteige, möchte ich klar sagen: Schwarzarbeit
kann und darf in der Bundesrepublik Deutschland nicht
geduldet werden. Sie ist ein Krebsübel unserer Gesell-
schaft und deswegen ein wichtiges Thema, das hier dis-
kutiert werden muß.

Schwarzarbeit verzerrt den Wettbewerb. Schwarzar-
beit stellt die Finanzierungsgrundlagen unserer Solidar-
systeme in Frage. Deswegen ist es nur richtig, wenn wir
uns die Frage stellen, wie sie bekämpft werden kann.


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS)

Lohndumping ist, genauer besehen, kein eigenständiges
Thema, sondern gehört zu diesem Komplex. Aus meiner
Sicht sind es letztlich die gleichen Ursachen, die zu bei-
den Erscheinungen führen. An diesen Ursachen gilt es
anzusetzen.

Deswegen hilft es nicht weiter, daß die PDS die Ein-
weihung des neuen Plenarsaals in Berlin zum Anlaß
nimmt, hier mit Pathos eine Aktuelle Stunde zum Thema
Schwarzarbeit auf den Baustellen des Bundes einzufor-
dern.


(Zuruf der Abg. Petra Pau [PDS])

– Wenn Sie wirklich den Verdacht hegen, Frau Kollegin
Pau, meine Damen und Herren von der PDS, die Bun-
desregierung – alt oder neu – fördere die Schwarzarbeit,
und wenn es Ihnen wirklich um mehr Beschäftigung
geht, dann frage ich mich, warum Sie nicht schon sehr
viel früher Alarm geschlagen haben, sondern auf die
Fertigstellung des Reichstages und den Baufortschritt
auf den anderen Baustellen des Bundes gewartet haben.
Das macht doch letztlich keinen Sinn.

Ich glaube, von den Fakten her gibt es wenig An-
griffsfläche. Die Kollegen Kansy und Eichstädt-Bohlig
haben bereits das Nötige gesagt. Wenn wir die Gelegen-
heit nutzen, darüber zu reden, was Politik im allgemei-
nen zur Vermeidung von Schwarzarbeit tun kann, dann
hat diese Aktuelle Stunde am Ende vielleicht doch noch
ein lohnendes Ergebnis.

Was also sind die Ursachen der Schwarzarbeit? Wie
entsteht sie? Zunächst einmal muß man wohl sagen, daß
das Bild vom Unternehmer, der durch Hinterziehung
von Steuern und Sozialabgaben seinen Gewinn maxi-
mieren will, ebenso einfach wie falsch ist. Es ist oft,
etwa in ertragsschwachen Unternehmen, eher die Not,
die zu illegalen Gestaltungen führt. Nicht wenige Unter-
nehmen könnten am Markt nicht mehr existieren, wenn
sie ihre Leistungen unter Einrechnung aller fälligen
Steuern und Sozialabgaben anbieten würden.

Es ist auch schon deswegen nicht richtig, die Verant-
wortung allein bei den Unternehmen abzuladen, weil zur
Schwarzarbeit immer zwei gehören, nämlich jemand,
der die Schwarzarbeit anbietet, und jemand, der die
Schwarzarbeit nachfragt, Herr Kollege Kutzmutz. Das
gilt für die Kunden-Lieferanten-Beziehung ebenso wie
für die Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehung. Das muß
man hier auch einmal sagen.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])

Ich wage die Behauptung – ich spreche jetzt über

Schwarzarbeit allgemein –, daß in den allermeisten Fäl-
len auf der einen oder anderen Seite oder auf beiden
Seiten Privathaushalte beteiligt sind. Deshalb muß,
wenn wir über Schwarzarbeit reden, die Frage auch lau-
ten: Weshalb lassen sich denn so viele Privathaushalte
– um es anschaulich zu machen – zum Beispiel von

Franziska Eichstädt-Bohlig






(A) (C)



(B) (D)


einem angeblichen Bekannten auf Freundschaftsbasis
– wir wissen alle, wie diese „Freundschaften“ zustande
kommen – das Bad fliesen, anstatt hierfür den örtlichen
Fliesenlegermeister oder sein Unternehmen zu beschäf-
tigen? Die Antwort lautet: Weil ihnen dessen Arbeits-
kraft schlicht zu teuer ist. Wer fünf Stunden arbeiten
muß, um sich eine Handwerkerstunde leisten zu können,
sucht eben oft nach Alternativen. Ein großer Teil des
Baumarktbooms kann auf diesen Sachverhalt zurückge-
führt werden.


(Konrad Gilges [SPD]: Fliesenleger sind billiger geworden!)


– Daß Sie das wissen, Herr Gilges, ist mir klar. Ich will
Ihre Kompetenz gar nicht bestreiten. Aber Herr Kollege
Gilges, wir sollten hier die Ursachen der Schwarzarbeit
diskutieren und nicht die Tatsache der Existenz von
Schwarzarbeit als solcher – so schlimm Schwarzarbeit
auch ist. Wer Schwarzarbeit und Lohndumping bekämp-
fen will, der muß im Endergebnis die Standortdebatte
führen. Die Arbeitskosten in Deutschland sind zu hoch;
sie müssen gesenkt werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das Problem besteht darin, daß sich die Politik der

jetzigen Regierung im Kreise dreht, anstatt wirksame
Schritte zu gehen. Wegen zunehmender Schwindeligkeit
können die Verantwortlichen keinen klaren Gedanken
mehr fassen. Dies belegen sehr offenkundig die Ergeb-
nisse Ihrer bisherigen Gesetzgebung und das anschlie-
ßende Herumgeeiere, Stichwort: Scheinselbständigkeit
bzw. 630-Mark-Jobs.

Zum Ende meines Beitrages in dieser Aktuellen
Stunde muß ich leider eines voraussagen: Wenn die
Politik der Bundesregierung den gleichen Kurs beibe-
hält, den sie heute verfolgt, dann werden wir uns in Zu-
kunft noch häufiger, auch ohne Reichstagsgebäude und
Bundesbauten, mit dem Thema Schwarzarbeit befassen
müssen – dann in den Bereichen Gastronomie, Zei-
tungswirtschaft und Gebäudereinigung, um nur einige zu
nennen. Die Grundsteine dafür haben das BMA und
Herr Riester leider schon gelegt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403510700
Für die SPD-Frak-
tion spricht jetzt die Kollegin Renate Rennebach.


Renate Rennebach (SPD):
Rede ID: ID1403510800
Frau Präsidentin! Ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! 16 Jahre lang regierten
F.D.P. und CDU/CSU, und plötzlich ist Schwarzarbeit
ein Problem der Regierung. Die ganze Zeit vorher war
es das nicht.

Seit längerer Zeit führe ich als Berliner Abgeordnete
Gespräche mit dem für die Berliner Baustellen zuständi-
gen Gewerkschaften IG BAU und IG Metall sowie mit
dem Landesarbeitsamt und mit der für die Kontrollen
zuständigen AD BAU – jetzt auch in Zusammenarbeit

mit dem Staatssekretär Andres und Frau Janz aus meiner
Fraktion.

Ich kenne die Mißstände wie illegale Beschäftigung
und erhebliche Verstöße gegen die Arbeitssicherheit
beim Bau. Daher hat es mich schon verwundert, daß
ausgerechnet nach einer Unternehmerdemo gegen Lohn-
fortzahlung im Krankheitsfall, gegen Verbesserung des
Kündigungsschutzes, aber auch gegen Lohndumping
und Schwarzarbeit am Bau die PDS diese Aktuelle
Stunde jetzt beantragt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der heftigste Protest
der Fachgemeinschaft Bau richtete sich am Montag ge-
gen die jetzige Bundesregierung, die mit ihrer Politik
das Recht auf dem Arbeitsmarkt wiederhergestellt hat.
Im übrigen: Eine Stuckfirma, Mitglied der Fachgemein-
schaft, hat die meisten ihrer regulären Arbeitnehmer
entlassen, um mit billigen portugiesischen Arbeitneh-
mern – unter Tarif – weiter zu arbeiten. Also hat die
Fachgemeinschaft auch gegen Mißstände in den eigenen
Reihen protestiert.

Es sind ebenfalls die Arbeitgeber, die der IG Metall
seit längerer Zeit Tarifverträge in einigen Bereichen ver-
sagen. Auch deshalb gibt es Bestrebungen des Arbeits-
ministers Walter Riester, die Tarifverträge im Bereich
Bau für allgemeinverbindlich zu erklären. Zusätzlich
fordern die Gewerkschaften, daß ein besonderer Min-
destlohn neu festgesetzt wird. Der bisherige, so niedrig
er schon ist, wird insbesondere in den neuen Ländern
immer wieder unterlaufen.

Die Kontrollen auf den Baustellen gehen unvermin-
dert weiter. Die Perversion liegt hier auf der Hand, Kol-
leginnen und Kollegen: Die Arbeitgeber treiben Miß-
brauch, und die Zahlerinnen und Zahler von Beiträgen
an die Bundesanstalt für Arbeit finanzieren die Kontrol-
len. Die Ermittler von Hauptzollamt und LKA stoßen
laut eigener Aussage auf eine ungeheure kriminelle
Energie. 30 000 Bauarbeiter in der Region sind arbeits-
los.

Nun möchte ich ein paar Zahlen des Landesarbeits-
amtes Berlin/Brandenburg nennen – ich betone, daß ich
vom gesamten Bau Berlin/Brandenburg spreche und
nicht nur von Bundesbaustellen; denn der Skandal geht
ja weiter –: Im Jahr 1998 fanden 16 176 Außenprüfun-
gen statt. Dabei wurden 52 000 Arbeitnehmer überprüft.
An Bußgeldern wurden 18,9 Millionen DM verhängt. Im
Jahre 1999 wurden bis jetzt 1 793 Arbeitgeber überprüft.
Das Ergebnis ist, daß es bei 21 Arbeitgebern Meldever-
stöße gab. Davon betroffen waren 59 Arbeitnehmer.
183 Arbeitgeber wurden bei Mindestlohnunterschreitung
angetroffen. Betroffen waren 427 Arbeitnehmer. Arbei-
ten ohne erforderliche Arbeitsgenehmigung gab es bei
38 Arbeitgebern. Davon betroffen waren 60 Arbeitneh-
mer. Von unerlaubter Arbeitnehmerüberlassung waren
192 Arbeitnehmer betroffen – allein in diesem Jahr.

Die Bundesregierung hat das Entsendegesetz ent-
fristet und die Bußgelder erhöht. Dies ist geltendes
Recht seit dem 1. Januar 1999. Gleichzeitig gibt es neu-

Dr. Heinrich L. Kolb






(B)



(A) (C)



(D)


erdings die Generalunternehmerhaftung. Das haben wir
hier schon an verschiedenen Stellen gehört. Es ist aber
schwierig, Kolleginnen und Kollegen, ein seit 16 Jahren
immer mehr verfeinertes Freibeutertum in der Branche
durch politische Maßnahmen von heute auf morgen zu
beseitigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Jetzt hören Sie aber mal auf!)


Nun noch kurz zum Thema Bundesbaustellen: Die
Verträge hat die alte Bundesregierung geschlossen.
Teilweise hat sie die Verantwortung auf die Bundesbau-
gesellschaft abgewälzt. Die wiederum sieht trotz Män-
gelberichten bei Kontrollen – kürzlich mußte die Arbeit
auf der Baustelle Bundeskanzleramt wegen Verstößen
gegen die Arbeitssicherheit teilweise gestoppt werden –,
trotz entdeckter Verstöße gegen Tariftreue und trotz ent-
deckter Schwarzarbeit – zugegeben, weniger als auf an-
deren Baustellen, aber das Problem bleibt trotzdem –
keinen Grund zum Handeln und weist dieses als Baga-
telle und völlig normal aus.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Wer hat denn das getan? Das ist doch Quatsch!)


Während die alte Bundesregierung untätig blieb,
verschließt die neue, rotgrüne Bundesregierung nicht die
Augen vor den Machenschaften der Bauunternehmer.
Neben den vorgetragenen Gesetzesmaßnahmen hat sie
gleichzeitig das Zugangsrecht für Gewerkschaften auf
den Bundesbaustellen erleichtert, um so eine bessere
Kontrolle auch von dieser Seite her zu ermöglichen. Seit
Juli 1998 sieht die Baustellenverordnung Sicherheitsko-
ordinatoren vor. Für alte Baustellen gilt dies allerdings
nur auf freiwilliger Basis. Debis am Potsdamer Platz hat
dies freiwillig eingeführt. Ich wünschte mir von der
Bundesbaugesellschaft, wenn ich als Mitglied einer Re-
gierungsfraktion einmal einen Wunsch an die Bundes-
baugesellschaft äußern darf, daß auch sie auf freiwilliger
Basis Sicherheitskoordinatoren einstellen und mit gutem
Beispiel auch für andere Bauten vorangehen würde.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Ihr Bauminister sitzt mit dem Finanzminister und dem Bundestagspräsidenten im Aufsichtsrat!)


Zum Schluß noch ein Zitat aus der „Märkischen All-
gemeinen“ vom 16. April 1999:

Trotz aller zur Schau getragenen Entschlossenheit,
illegale Beschäftigung zu bekämpfen, blieb eine
gewisse Skepsis. „Es ist fraglich, ob Kontrollen
wirklich einen Gesetzesbruch verhindern können
oder ob dazu nicht die Gesellschaft verändert wer-
den muß.“

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403510900
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter
Friedrich.


Dr. Hans-Peter Friedrich (CSU):
Rede ID: ID1403511000
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sind nicht nur
in Berlin und Brandenburg ein Thema, aber speziell da,
weil die Baustellen, wie wir gehört haben, dort beson-
ders groß sind und es, wie wir am Montag gesehen ha-
ben, dort besonders viele gibt. Aber, meine Damen und
Herren, die Bekämpfung von Schwarzarbeit und von
illegaler Beschäftigung ist bundesweit eine Daueraufga-
be im Vollzug der bestehenden Gesetze.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Vollkommen richtig! Man muß es breit diskutieren!)


Darauf haben die Kollegen Kolb und Kansy bereits hin-
gewiesen.

Es geht nämlich darum, daß sozialversicherungs-
pflichtige Arbeitsplätze dadurch zerstört werden und
verlorengehen, daß Unternehmen, die sich an Recht und
Ordnung, an Gesetze halten, im durch Schwarzarbeit
und illegale Beschäftigung verzerrten Wettbewerb nicht
bestehen können. Deswegen hat die frühere Bundesre-
gierung eine ihrer wichtigsten Aufgaben immer darin
gesehen, neue Umgehungsmöglichkeiten zu bekämpfen
und den fairen Wettbewerb aufrechtzuerhalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ganz genau!)


Beispiele hat Ihr Staatssekretär ja heute zuhauf genannt.
Dennoch wird uns dieses Problem noch einige Zeit

erhalten bleiben, jedenfalls so lange, wie ein massiver
Unterschied bei den Realeinkommen zwischen den Län-
dern Mittel- und Osteuropas und beispielsweise Berlin
besteht. Ich möchte darauf hinweisen, daß wir insbeson-
dere das Thema, wie es dem Mittelstand beispielsweise
nach dem Beitritt von Polen und Tschechien zur EU er-
gehen wird, unbedingt in den Blick nehmen und Über-
gangsfristen bis zur vollkommenen Freizügigkeit gegen-
über diesen neu beitretenden Staaten festlegen müssen.
Die hohe Kaufkraft der D-Mark – darüber muß man sich
im klaren sein – wird weiterhin ihre Sogwirkung speziell
in Richtung Polen und Tschechien entfalten. Dieses
Problem trifft mittelständische Unternehmen in Berlin
und Brandenburg ebenso wie in Hof, Marktredwitz oder
im Bayerischen Wald. Verständlich also, daß die Mittel-
ständler und ihre Beschäftigten auf die Straße gehen, so
wie es am Montag in Berlin geschehen ist.

Frau Rennebach, es ist eigentlich unglaublich, daß
Sie in die gleiche Kerbe wie der Bundesbauminister
schlagen, der, von der „Leipziger Volkszeitung“ auf die-
se Demonstrationen angesprochen, folgendes sagte:

Diese Tarifgemeinschaft Bau, die das organisiert
hat, ist eine Arbeitgebervereinigung. Und interes-
santerweise eine, die gegen Kündigungsschutz und
Lohnfortzahlung war. Also, da ist auch Heuchelei
im Spiel.

(Renate Rennebach [SPD]: Deshalb haben sich die Arbeitnehmer auch geweigert, sich daran zu beteiligen!)


Im Klartext heißt das: Wer die Politik von Rotgrün zu
kritisieren wagt, wird abgestraft, indem man seine be-

Renate Rennebach






(A) (C)



(B) (D)


rechtigten Anliegen nicht mehr ernst oder nicht mehr zur
Kenntnis nimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Diese Art und Weise, mit kritischen Geistern umzuge-
hen, ist nicht in Ordnung. Sie sollten zur Kenntnis neh-
men, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer in diesem
Land, gerade im Mittelstand, längst in einem Boot sit-
zen. Vielleicht könnte Ihnen das auch der Kollege Wie-
sehügel, wenn er einmal zu solchen wichtigen Debatten
käme, bestätigen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Wo ist denn der Kollege Wiesehügel? – Gegenruf der Abg. Susanne Kastner [SPD]: Jedenfalls ist er bei einer wichtigeren Veranstaltung als einer von der PDS beantragten Aktuellen Stunde!)


Diese Regierung verschärft das Problem der
Schwarzarbeit durch eine katastrophale Gesetzgebung
bei den 630-Mark-Jobs und durch die Rücknahme der
Flexibilisierung am Arbeitsmarkt. Die bayerische Staats-
regierung hat in einer Bundesratsinitiative einen durch-
dachten Vorschlag zur Bekämpfung der illegalen Be-
schäftigung und der Schwarzarbeit gemacht. Dieser
Vorschlag sah unter anderem die Einrichtung eines
Außendienstes bei den zuständigen Behörden für ver-
dachtsunabhängige Kontrollen, die Stärkung der Prü-
fungsmöglichkeiten der Handwerkskammern und die
Einführung eines steuerlichen Abzugsverfahrens für die
Lohnsteuer vor, wenn ausländische Subunternehmer be-
auftragt werden. Statt diese wichtigen Überlegungen
einmal aufzunehmen, schmort Rotgrün lieber im eigenen
ideologischen Saft.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!)


Der gut durchdachte bayerische Vorschlag zur Bekämp-
fung der illegalen Beschäftigung ist am 19. März von
der rotgrünen Mehrheit im Bundesrat abgelehnt worden.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Hört! Hört!)

Statt dessen treiben Sie mit Ihrer falschen Politik immer
mehr Menschen in die Schwarzarbeit. Ich frage mich, ob
Sie sich eigentlich darüber im klaren sind, welche ver-
heerenden Auswirkungen Ihre Mehrwertsteuererhö-
hungsphantasien insbesondere auf die Bauindustrie und
das Handwerk hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Darüber sind die sich nicht im klaren!)


Hören Sie endlich auf, Symptome zu bekämpfen;
bekämpfen Sie endlich die Ursachen! Runter mit den
Steuern und Abgaben, Schluß mit dem Abkassieren bei
Bürgern und Unternehmern,


(Zuruf von der SPD: Das waren doch Ihre Gesetze!)


mehr Freiheit für tarifpolitische Gestaltung – das sind
die besten Mittel gegen Schwarzarbeit.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403511100
Das Wort hat die
Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

ren! Weil sich die Zustände auf den Baustellen, und
zwar nicht nur auf den Bundesbaustellen, sondern auf
allen Großbaustellen, in den letzten Jahren so katastro-
phal entwickelt haben, haben wir immer wieder über
dieses Problem gesprochen und auch sprechen müssen.
Handeln konnten wir als rotgrüne Bundesregierung al-
lerdings erst ab letztem Herbst. Die alte Bundesregie-
rung hat sich – das haben wir ihr auch immer wieder
klargemacht – nicht zu wirklich wirksamen und ver-
bindlichen Schritten zum Schutz der Tarifautonomie
durchringen können. Sie hat statt dessen zugelassen, daß
der Bausektor zum Experimentierfeld für Lohn- und So-
zialdumping gemacht worden ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die neue Bundesregierung hat unmittelbar nach
Amtsantritt wichtige Schritte gegen die Mißstände auf
den Baustellen unternommen. Zu ihren ersten gesetzli-
chen Maßnahmen gehörte – das war absolut dringend
und richtig –, das bis dahin ausgesprochen löchrige Ent-
sendegesetz, das für „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“
sorgen sollte, zu entfristen, die Allgemeinverbindlicher-
klärung für Tarifverträge zu Mindestlöhnen auch im
Konfliktfall zu ermöglichen und die Durchgriffshaftung
für den Generalunternehmer festzuschreiben, damit die
Verantwortung des einzelnen Arbeitgebers für Sozial-
versicherung und für tarifliche Arbeitsbedingungen nicht
mehr in einer unübersichtlichen Kette von Sub- und
Subsubunternehmen verschwinden kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das waren wichtige und längst überfällige Schritte,
die aber erstens nicht von einem Tag auf den anderen ih-
re Wirkung entfalten können – erst recht nicht in der
völlig verfahrenen Situation in Berlin – und zweitens
allein nicht ausreichen, um die Probleme auf den Bau-
stellen zu lösen. Da wird Weiteres notwendig sein, und
darüber sind wir uns im klaren; Weiteres ist auch ge-
plant.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sagen Sie doch einmal, was!)


– Das werde ich gleich noch tun. – Die Probleme, vor
denen wir stehen, sind nämlich immens. Ich behaupte
nicht – was Sie offensichtlich unterstellen –, daß mit
dem Akt der Regierungsübernahme schon alles in Ord-
nung sei oder in Ordnung sein könne.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Im Gegenteil!)

Ich sehe die Kritik an den Zuständen auf den Bau-

stellen keineswegs als Kritik an Rotgrün, wie es Kollege
Friedrich eben bezeichnet hat. Für die Zustände am
Reichstag können Sie uns in Mithaftung nehmen, wie
man uns alle dafür in Mithaftung nehmen kann. Aber ich
glaube nicht, daß die Aufträge im Rahmen des Reichs-

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)







(B)



(A) (C)



(D)


tagsumbaus erst seit Oktober letzten Jahres vergeben
worden sind. Dann hätten wir in kurzer Zeit wirklich
viel erreicht, und so schnell ist selbst Rotgrün nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es geht hier um Probleme, bei denen auch Ihre Ver-
antwortung nicht einfach unter den Tisch gekehrt wer-
den kann, da auch das ein Ergebnis der Politik der letz-
ten Jahre ist. Es herrscht nämlich seit Jahren auf den
Baustellen übelstes Lohn- und Sozialdumping. Oft lie-
gen die Löhne – das gilt leider immer noch – bei 5 bis
10 DM in der Stunde. Die Unterbringung ist miserabel,
wird aber dennoch zu Wucherpreisen vom Lohn, der im
Fall der offiziellen Überprüfung immer dem gesetzli-
chen Mindestlohn entspricht, abgezogen. Zum Teil wer-
den die Unterbringungskosten direkt einbehalten.

Von vernünftigem Arbeits- und Unfallschutz kann
dabei keine Rede sein. Der Sicherheitsingenieur Jürgen
Rubarth sprach noch im September 1998 unter Bezug
auf die Berliner Baustellen von Daimler von einem
Chaos und hat beschrieben, daß dort zwei Drittel der
Menschen ohne Sicherheitsschuhe und Helm arbeiten
und daß Monteure auf zusammengebundenen Leitern
„turnen“. Ich zitiere ihn: „Wie da gearbeitet wird, ist
nicht mehr zu verantworten, ist ein rechtsfreier Raum.“

Hier müssen die Kontrollen verstärkt werden. Denn
solche Arbeitssituationen können und werden wir nicht
hinnehmen, weder auf Bundesbaustellen noch auf ir-
gendwelchen anderen Baustellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das können Sie doch jetzt machen, wenn Sie wollen!)


Der Grund dafür ist die unglaublich scharfe Unterbie-
tungskonkurrenz am Bau. Die Arbeitssicherheit bleibt da
schnell auf der Strecke, genau wie die Qualität der Ar-
beit, von der sozialen Absicherung oder der tariflichen
Bezahlung der Beschäftigten gar nicht zu reden.

Zwischen General-, Sub- und Subsubunternehmern,
Arbeitnehmern aus Werkvertragskontingenten und sol-
chen aus der EU blühen nach wie vor Scheinselbstän-
digkeit und illegale Leiharbeit.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Und das trotz Ihres „guten Gesetzes“!)


– Das Gesetz gilt seit dem 1. April 1999. Natürlich wird
es auch auf die Scheinselbständigkeit am Bau Auswir-
kungen haben. Wir hoffen, daß wir mit dem Gesetz ge-
gen die Scheinselbständigkeit genau wie mit dem Ein-
griff, den wir beim Entsendegesetz vorgenommen ha-
ben, dazu beitragen, daß die Menschen wieder in ver-
nünftigen Sozialversicherungsverhältnissen arbeiten
können und daß die tariflichen und die Sozialversiche-
rungsbedingungen eingehalten werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Machen Sie das doch!)


Inzwischen sind mehrere Fälle öffentlich geworden,
in denen portugiesische oder türkische Arbeiter von den

Unternehmern, die sie ins Land geholt haben, nicht ord-
nungsgemäß gemeldet und um ihren Lohn geprellt wur-
den. Sie haben statt einer Unterstützung und einer Ver-
tretung ihrer Rechte gegenüber solchen Betrügern eher
die Abschiebung zu erwarten. Hier müssen wir – das ist
einer der Schritte, die wir noch dringend unternehmen
müssen – die Rechtsstellung gerade der ausländischen
Kollegen und Kolleginnen stärken und sicherstellen, daß
diese Arbeitgeber belangt werden.

Unser Ziel ist es, die Situation des Lohn- und Sozi-
aldumpings am Bau aufzubrechen. Um aus dieser Dum-
pingspirale auszubrechen, haben wir erste Schritte getan,
weitere Schritte stehen an. Dazu gehören das Verbands-
klagerecht und die Bindung der Vergaberichtlinien an
die Tariftreue. Die Vergabe öffentlicher Aufträge muß
von der Sozialversicherungspflicht und der Tariftreue
abhängig sein.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403511200
Frau Kollegin, ich
muß auch Sie an die Einhaltung Ihrer Redezeit erinnern.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, daß wir für ausländische Kollegen und
Kolleginnen ganz dringend Beratung und Anlaufstellen
brauchen und daß eine Verbesserung ihrer Rechtsstel-
lung dringend nötig ist. Denn Lohn- und Sozialdumping
führt sonst zu nationalen Ressentiments – das haben wir
am Bau allzu schmerzlich festgestellt – und nicht zu
einem weltoffenen Europa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403511300
Das Wort hat jetzt
der Kollege Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1403511400
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es müßte der Bundesregie-
rung zu denken geben – daß dies so ist, haben wir vom
zuständigen Staatssekretär gehört –, wenn das Landesar-
beitsamt Berlin unter der Schlagzeile „Deutlicher An-
stieg der verhängten Bußgelder – Erfolge bei der Be-
kämpfung illegaler Beschäftigung 1998“ weiterhin zahl-
reiche Verstöße meldet.

Frau Rennebach hat hier eine Reihe von Zahlen ge-
nannt. Ich könnte sie erweitern. Wenn bei Firmenüber-
prüfungen bis zu 63 Prozent Verstöße gegen die Zah-
lung von Mindestlohn festgestellt werden und wenn bis
zu 30 Prozent Verstöße gegen die Meldepflicht ermittelt
werden,


(Zuruf der Abg. Renate Rennebach [SPD])

– das sind die Zahlen, die ich mir gestern vom Landes-
arbeitsamt Berlin/Brandenburg habe geben lassen, Frau
Rennebach –, dann läßt sich der Schaden ahnen, der mit
der in einigen Bereichen des Bauwesens mit krimineller
Energie betriebenen Aushöhlung der rechtlichen Rege-
lungen angerichtet wird.

Annelie Buntenbach






(A) (C)



(B) (D)


Natürlich kritisieren wir genauso wie Sie das Vorge-
hen der Fachgemeinschaft Bau gegen Schlechtwetter-
geld, Lohnfortzahlung und andere Bereiche, aber Anlaß
dieser Aktuellen Stunde war für uns nicht die Demon-
stration der Fachgemeinschaft Bau, sondern die reale
Lage am Bau und die hier genannten Probleme, die un-
ter anderem von Bundesminister Müntefering nicht aus-
reichend behandelt wurden.

Das Baugewerbe, als Konjunkturlokomotive noch vor
Jahren hoch im Kurs, ist in Verruf gekommen. Baufach-
arbeiter zu sein galt und muß wieder gelten als hochan-
gesehener Berufsstand, als Schöpfer und Errichter von
Neuem, Bleibendem, als Beruf gerade für junge Men-
schen, als Beruf mit Zukunft. Wir beklagen auch und ge-
rade den Verlust dieser Werte; denn es ist eine Schande,
daß bei dem gewaltigen Bauboom nach der deutschen
Einheit Zehntausende Bauarbeiter allein in Berlin und
Brandenburg ohne Arbeit sind, daß Baufirmen im Osten
Bankrott gehen, und das keineswegs witterungsbedingt.
Gehen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in die
ostdeutschen Arbeitsämter, gehen Sie in die Arbeitslo-
senzentren, sprechen Sie mit den entlassenen oder im-
mer noch arbeitslosen jungen und älteren Männern und
Frauen vom Bau! Vermindern Sie ihre Wut, erklären Sie
ihnen das Unerklärliche!

Von 1996 bis heute sind allein in Berlin die Zahlen
der im Baugewerbe Beschäftigten von 56 000 auf
23 000 zurückgegangen. Die Arbeitslosenquote im Bau-
hauptgewerbe in den neuen Bundesländern liegt bei über
30 Prozent. Sie, meine Damen und Herren von SPD und
Bündnisgrünen wie von CDU/CSU und F.D.P., reden an
so vielen Stellen über Ostdeutschland und stellen an-
gebliche Defizite in den Köpfen der Menschen jenseits
der Elbe fest. Auf ganz Naheliegendes kommen Sie da-
bei nicht: Es sind die Defizite in der Politik, die Sie
selbst zugelassen haben und zulassen. Wie soll man
einem Bauarbeiter erklären, daß er keine Arbeit hat? Er
sieht den Bauboom ringsum. Wohnungen, Straßen,
Brücken und öffentliche Gebäude werden errichtet oder
saniert, und er wird dabei nicht gebraucht? Es sind nicht
die Polen, Ukrainer, Rumänen, Iren, Portugiesen oder
Italiener, die er an seiner Stelle arbeiten sieht, schuld
daran, daß irgend etwas nicht stimmen kann mit
Deutschland einig Vaterland.

Sie, meine Damen und Herren von der regierenden
Koalition, sind nicht nur dafür verantwortlich, Regelun-
gen zu schaffen, die verhindern, daß den Ihnen anver-
trauten Bürgerinnen und Bürgern – in diesem Fall sind
es die Bauarbeiter – Schaden zugefügt wird; Sie sind
auch dafür verantwortlich, daß durch solche Regelungen
die kriminellen oder halblegalen Praktiken wirksam be-
kämpft werden.


(Beifall bei der PDS)

Wir behaupten nicht, daß Baufirmen dazu ermuntert
werden, mit Lohndumping, außertariflicher Bezahlung,
illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit nach Sonder-
profiten zu streben. Dennoch müssen wir die Frage stel-
len, warum das kriminelle Verhalten von Unternehmern
seit Jahren nicht mit der gleichen Konsequenz bekämpft
wird wie andere Rechtsverstöße. Es ist im übrigen völlig

egal, ob, wie in der Vergangenheit, gesetzliche Rege-
lungen fehlten oder, wie gegenwärtig, nicht greifen, weil
Mittel, Methoden oder Konsequenz zur Durchsetzung
fehlen. Die Wirkungen auf Art und Umfang der Be-
schäftigung sind die gleichen.

Wer als Auftraggeber der öffentlichen Hand, von den
Kommunen bis hin zur Bundesrepublik Deutschland, auf
seinen eigenen Baustellen nicht für vorbildliche, bei-
spielhaft saubere Arbeitsverhältnisse sorgt oder sorgen
kann, der setzt sich dem Verdacht aus, so zu kalkulieren,
daß Ungesetzlichkeiten am Bau natürlich unter Umstän-
den die Kosten des Bundes senken. Interessiert es die
Bundesregierung nicht, wie die Bundesbaugesellschaft
in Einzelfällen sogar kalkulierte Baukosten unterbietet?

Das Schäbigste, was getan werden kann, ist die
Schuldzuweisung an die Leidtragenden, die letztlich ir-
gendwann bereit sind, ihre Arbeitskraft weit unter dem
Tariflohn zu verkaufen oder schwarzarbeiten zu gehen.


(Beifall bei der PDS)

Niemand arbeitet schwarz, wenn nicht Schwarzarbeit
angeboten wird. Jemand, der keine legale Arbeit auf
dem Bau oder anderswo findet, wird, wenn er keine
Lohnersatzleistungen erhält, dazu greifen müssen.

Die Fraktion der PDS fordert von der Bundesregie-
rung Maßnahmen, die sichern, daß richtige Gesetze
durch die Praxis auf vielen Baustellen nicht zu bloßer
Makulatur abqualifiziert werden. Besondere Überlegun-
gen und Maßnahmen sind gefordert, mit deren Hilfe die
ostdeutsche Bauwirtschaft, in deren Wirkungsbereich es
unendlich viel Arbeit gibt, wieder zum Motor des Auf-
schwungs Ost wird. Das zu erreichen dürfte eigentlich
nicht schwer sein, wo doch der Aufbau Ost in der Regie-
rungskoalition Chefsache ist.


(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403511500
Für die SPD-
Fraktion spricht die Kollegin Gabriele Iwersen.


Gabriele Iwersen (SPD):
Rede ID: ID1403511600
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Nachdem schon sämtliche einschlä-
gigen Gesetze herangezogen worden sind, von den ande-
ren Mitgliedern der Baukommission – jedenfalls von
Herrn Dr. Kansy und Frau Eichstädt-Bohlig – ausführ-
lich auf die Bedingungen auf den Baustellen des Bundes
in Berlin eingegangen worden ist und wir den anderen
Vorträgen haben entnehmen müssen, daß die Bundes-
baustellen in der Statistik nirgends gesondert aufgeführt
werden, kann ich feststellen, daß die vordergründigen
Vorwürfe hinsichtlich der Bundesbaustellen – besonders
von seiten der Antragsteller dieser Aktuellen Stunde –
im Grunde genommen nicht belegbar sind.

Ich will Ihnen einmal ganz kurz schildern, mit wel-
chem System versucht worden ist und wird, Illegalität
auf den Baustellen des Bundestages in Berlin zu ver-
meiden, was natürlich nie hundertprozentig funktionie-
ren kann, weil es bei den verschiedenen am Bau Betei-
ligten – wie schon erwähnt worden ist – eine erhebliche
kriminelle Energie gibt.

Dr. Klaus Grehn






(B)



(A) (C)



(D)


Die Baustellen sind praktisch hermetisch abgeschlos-
sen. Um als Arbeitnehmer auf eine solche Baustelle zu
kommen, muß man in eine Liste eingetragen werden.
Diese Listen werden nach den Angaben erstellt, die vor
Arbeitsantritt auf der Baustelle von den entsprechenden
Unternehmern und Subunternehmern – Sub-Subunter-
nehmer sind nicht zugelassen – gemacht werden müssen.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Richtig! Sehr wahr!)


Nach diesen Listen werden Tagesausweise produziert.
Die werden morgens oder bei Schichtwechsel an der
Baustelle ausgegeben und gegen ein gültiges Papier,
zum Beispiel einen Paß oder einen Personalausweis,
eingetauscht. Durch diesen Austausch ist auch für die
Kontrollen immer ein Ausweispapier verfügbar.

Wer einen Arbeitnehmer illegal in eine Baustelle ein-
schleusen will, muß erst einmal einen Namen aus einer
solchen Liste haben und dazu die passenden Papiere fäl-
schen. Daß man Ausweispapiere gut fälschen kann,
müßten eigentlich gerade die Berliner gut wissen; denn
jahrelang hat es eine Mauer gegeben, die keine Baustel-
len eingefriedet hat und nur mit Schwierigkeiten zu
überwinden war. Einige Jahre nach dem Bau dieser
Mauer war auch das Fälschen von Pässen eine vielge-
übte Methode, um diejenigen, die vorher freizügig in
Berlin hin und her wandern konnten, in den jeweils an-
deren Teil von Berlin zu bringen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das hat die PDS alles verdrängt!)


– Es ist jedenfalls so. – Ich kann mir vorstellen, daß Sie,
wenn heute von seiten der PDS Kontrollen gerade an
den Bundesbaustellen als nicht ausreichend effektiv kri-
tisiert werden, Ihr Expertenwissen einbringen wollen,
weil Sie sicherlich einiges mehr darüber wissen als wir,
wie man irgendwann dichtmacht.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])

Jedenfalls ist es zweifellos so, daß diese Baustellen

nicht so leicht zu stürmen sind und daß dazu mehrere
Fälschungsvorgänge notwendig sind. Sie behaupten, daß
sei in einer „Report“-Sendung nachgewiesen worden.
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Schauen Sie sich das
einmal genau an! Dort wurde ein Zeuge benannt und
auch gezeigt, der lediglich aussagt, ihm sei das angebo-
ten worden, er habe aber selbstverständlich abgelehnt.
Angeboten worden war ihm, gegen die Zahlung von
1 000 DM gefälschte Papiere zu bekommen, in die Bau-
stelle eingeschleust zu werden, um anschließend 6 DM
des Mindestlohnes, der bei 16 DM liegt, an den Polier
abzugeben, dem er die Arbeit abgenommen hätte. – Das
sind natürlich völlig illegale Zustände. Aber Sie haben
keinen Beweis dafür erbracht – leider hat uns auch das
Landesarbeitsamt keinen Beweis dafür erbracht –, daß
solche Fälle tatsächlich vorgekommen sind.

Wir als Baukommissionsmitglieder fragen natürlich
jedesmal, wenn die Medien über solche Zustände be-
richten, nach Fakten; denn wir würden gerne dagegen
vorgehen. Da ist aber nichts zu machen. Man kommt an
keine Fakten heran. Es handelt sich immer nur um einen
Verdacht. Von einer Überprüfung und anschließenden

Offenlegung eines tatsächlich illegalen Falls, der mit
Sicherheit auch eine Buße für den Arbeitgeber, also die
Bauunternehmung, zur Folge haben muß, haben wir
nichts erfahren, auch dann nicht, wenn wir Kolleginnen
und Kollegen gefragt haben.

Ich will Ihnen sagen, was passiert ist, als auf der
Kanzleramtsbaustelle fünf illegale Bauarbeiter, die spa-
nische Pässe hatten, aber kein Wort spanisch sprachen
– das war allerdings verdächtig –, gefaßt wurden: Seit-
dem wird diese Baustelle hermetisch abgeriegelt; es gibt
eine Paßkontrolle nach den Richtlinien des Schengener
Abkommens. Auf dieser Baustelle werden die Ausweis-
papiere sogar durchleuchtet, um sie auf Echtheit zu
überprüfen.

Ich habe mir das Berlin nach dem Fall der Mauer an-
ders vorgestellt. Jetzt wird von allen Seiten geschrien,
man müsse noch mehr kontrollieren, noch strenger ab-
schirmen, um Illegalität zu vermeiden. Ich glaube, wir
werden uns noch so viel Mühe geben können; wir wer-
den das nicht in den Griff kriegen, solange in den unter-
schiedlichen europäischen Regionen ein so großes so-
ziales Gefälle herrscht. Deshalb kommt es zwar immer
wieder zu vergleichbaren Fällen. Aber das speziell den
Bundesbauten nachzusagen ist grundsätzlich falsch.
Keiner von denen, die sich mit diesem Thema auseinan-
dergesetzt haben, hat ausreichende Beweise offengelegt,
um sagen zu können: Das Reichstagsgebäude wird auf
dem Fundament der Illegalität und der Schwarzarbeit
– so ähnlich waren die Zitate – errichtet.

Ich möchte alle, die an der Situation etwas ändern
wollen, ganz dringend darum bitten, sich etwas konkre-
ter damit zu befassen, was wirklich nachweisbar ist, und
nicht all den Gerüchten zu glauben, die in dieser Stadt
herumgeistern.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403511700
Für die CDU/CSU-
Fraktion hat jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann das
Wort.


Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1403511800
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ganz gut,
daß der Bundestag einmal über die Zustände auf den
deutschen Baustellen – ich glaube, das kann man nicht
auf Berlin begrenzen – debattiert. Denn das ist unter den
Bauarbeitern und der deutschen Arbeitnehmerschaft ins-
gesamt ein riesiges Thema.

Ich sage einmal vorweg: Ich habe vor jedem Bauar-
beiter Respekt, der dafür kein Verständnis hat und die
Meinung vertritt, es dürfe nicht sein, daß Bauarbeiter in
Berlin und Brandenburg arbeitslos sind, obwohl sie in
einem Gebiet leben, wo es die größten Baustellen der
Republik gibt. Aber so leicht, wie es sich zum Beispiel
Frau Rennebach gemacht hat, ist die Lösung des Pro-
blems nicht.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Gabriele Iwersen






(A) (C)



(B) (D)


Die Bundesbaugesellschaft Berlin, eine private Ge-
sellschaft, ist eine hundertprozentige Tochter des Bun-
des. Der Bundesfinanzminister, der Bundesbauminister
und der Bundestagspräsident haben in dieser Bundes-
baugesellschaft ein Vetorecht; gegen die drei kann da
nichts entschieden werden. Das gilt auch für die Verga-
be von Aufträgen. Ich frage mich: Warum wird davon
eigentlich nicht mehr Gebrauch gemacht?

Das Problem liegt aber viel tiefer: Wenige Kilometer
von Berlin entfernt gibt es Menschen, die bereit sind, für
fünf, sechs, sieben oder acht Mark die Stunde zu arbei-
ten.


(Renate Rennebach [SPD]: Dank eurer Politik in den letzten 16 Jahren!)


– Das hat mit unserer Politik überhaupt nichts zu tun.
Das ist die Situation in Osteuropa, und da haben be-
kanntlich Kommunisten regiert. Die haben dieses Gebiet
Europas heruntergewirtschaftet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Reden Sie doch nicht so einen Quatsch! Das hat mit der
Union überhaupt nichts zu tun.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Einfach lächerlich! – Renate Rennebach [SPD]: Wer hat denn den Mindestlohn heruntergesetzt?)


Die Wahrheit ist: Wenn Menschen bereit sind, für ei-
nen solch geringen Lohn zu arbeiten, dann werden wir
soviel kontrollieren können, wie wir wollen; man wird
nicht jeden Verstoß ausschließen können.

Dietmar Kansy hat darauf hingewiesen, daß die öf-
fentliche Hand – durch die Rechenschaft vor der Öf-
fentlichkeit, durch den Bundesrechnungshof und durch
andere Kontrollorgane – gezwungen ist, möglichst
preisgünstig zu bauen.


(Renate Rennebach [SPD]: Jetzt ist der Bundesrechnungshof schuld!)


Die Zeitungen schreiben am Montag, bei der Reichs-
tagseröffnung, es sei nicht richtig, daß es dort so wenige
deutsche Bauarbeiter gegeben habe, und kritisieren am
Mittwoch, daß der Bau um einige Prozent teurer gewor-
den ist, als man gedacht hat. Ich glaube, es wäre gut,
wenn aus dieser Debatte hervorginge, daß bei öffentli-
chen Ausschreibungen – wenn wir als Staat also Auf-
traggeber sind – die Angebote geprüft und keine Dum-
pingangebote, die solche Verhältnisse nach sich ziehen,
genommen werden.


(Renate Rennebach [SPD]: Aber die Verträge habt nun wirklich ihr gemacht!)


Das wäre eine vernünftige Lösung.
Ich glaube, daß ein weiterer Punkt ziemlich wichtig

ist. Am Beispiel der Bauwirtschaft können wir sehen,
welche Verwerfungen es auf dem Arbeitsmarkt auf
Grund der Osterweiterung der Europäischen Gemein-
schaft, die wir politisch wollen, geben wird und geben
kann. Wir sollten uns als Arbeitnehmervertreter im
Deutschen Bundestag zumindest über eine Frage einig
sein, nämlich darin, daß wir den deutschen Arbeitsmarkt

für viele Jahre vor der Freizügigkeit von Arbeitnehmern
aus Osteuropa schützen müssen.


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Schlimmer kann es ja nun nicht mehr werden!)


Sonst werden wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt ein
Waterloo erleben.

Weiterhin denke ich, daß wir überlegen müssen, wie
wir unsere Strukturen so anpassen können, damit wir
möglichst wettbewerbsfähig sind. Ich glaube, daß
Überlegungen bei den Koalitionsfraktionen zum Bei-
spiel dahin gehend, daß Schlechtwettergeld wiederein-
zuführen, eine einmal gefundene tarifrechtliche Rege-
lung außer Kraft zu setzen – Bauhandwerker in meinem
Wahlkreis sagen mir, daß das die Arbeitsstunde von
deutschen Bauhandwerkern etwa um 6 Prozent verteu-
ern wird –, mit Sicherheit auch nicht das richtige Signal
sind, um solche Entwicklungen einzudämmen, wie wir
sie zur Zeit auf einigen Baustellen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sinnvoll wäre auch, wenn wir gemeinsam, egal in

welcher Fraktion wir sind, dafür sorgen, daß zumindest
bei öffentlichen Baustellen, auch schon bei der Vergabe,
eine gesamtgesellschaftliche Rechnung aufgemacht
wird. Dabei darf man auch mit einrechnen, daß gerade
öffentliche Baustellen Arbeitsplätze bieten sollten, an
denen tarifvertraglich und sozialversicherungsrechtlich
einwandfrei gearbeitet werden kann. Wir sollten da auch
eine Vorbildfunktion haben.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so wie bei Abgeordneten der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403511900
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Weiermann.


Wolfgang Weiermann (SPD):
Rede ID: ID1403512000
Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es ist immer das alte Strickmuster der
Reden, die wir hören. Wir befinden uns nicht in der er-
sten Debatte über die Zustände in der Bauwirtschaft.
Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, daß es hier zu
mafiaähnlichen Strukturen gekommen ist. Ich spreche
nicht von der Baustelle des Reichstages oder von Bun-
desbaustellen. Ich meine vielmehr, daß die heutige Ak-
tuelle Stunde Verpflichtung und Anreiz sein muß, über
die Situation auf deutschen Baustellen insgesamt nach-
zudenken. Die Arbeitnehmer, die in diesem Bereich tätig
sind, haben ein Recht darauf, daß sich der Deutsche
Bundestag ernsthaft mit dieser Angelegenheit beschäf-
tigt und nicht jeder von uns nur seine Position verteidigt.
Hier geht es um die Menschen draußen und nicht um die
Mitglieder des Deutschen Bundestages.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wer in der Vergangenheit vergessen hat, seiner Sorg-
faltspflicht nachzukommen, als führende Repräsentanten
der deutschen Wirtschaft ihre Sympathie gegenüber
Rechtsbruch und Bruch der Tarifvertragstreue am Bau

Karl-Josef Laumann






(B)



(A) (C)



(D)


bekundet haben, der darf sich nicht wundern, wenn diese
skandalösen Dinge heute weiter betrieben werden. Das
geht eindeutig zu Lasten der Menschen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe vor mir die Entwicklung der Zahlen für das
gesamte Bundesgebiet. 1994 hatten wir noch 601 Buß-
geldentscheidungen von mehr als 200 DM, 1997 waren
es 2 239. Während 1994 die Bußgeldsumme für illegale
Beschäftigung 23,64 Millionen DM betrug, lag sie 1997
bei 42,36 Millionen DM. Während 1994 für die illegale
Arbeitnehmerüberlassung eine Bußgeldsumme von fast
23 Millionen DM gezahlt wurde, waren es 1997 fast
75 Millionen DM. Sie sehen, daß es hier eine Tendenz
nach oben gibt.

Ich unterstelle nicht, daß nirgendwo ernsthaft der
Versuch unternommen wird, die Einhaltung gesetzlicher
und tarifvertraglicher Rahmenbedingungen zu überprü-
fen. Ich stelle an Hand dieser Zahlen allerdings fest, daß
die Entwicklung, sich um die Einhaltung der Rahmen-
bedingungen, der gesetzlichen Verpflichtungen und der
tarifvertraglichen Verpflichtungen herumzudrücken, in
der Vergangenheit immer stärker geworden ist. Das gilt
es festzuhalten.


(Beifall bei der SPD)

Die SPD-Fraktion stellt mit erheblicher Sorge fest,

daß sich die Unternehmen unberechtigte Wettbewerbs-
vorteile verschaffen. Wir müssen in diesem Zusammen-
hang auch ein bißchen über Wirtschaftspolitik reden. Sie
verschaffen sich diese Wettbewerbsvorteile gegenüber
den gesetzestreuen und tarifvertragstreuen Arbeitgebern.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Da stimmen wir überein!)


Bei aller Wertschätzung, lieber Herr Laumann – ich
weiß, daß Sie im gewerkschaftlichen Lager nach wie vor
tätig sind, zumindest waren Sie dort tätig –: Ihre Einstel-
lung, wonach der Arbeitnehmer bei solchen Entwicklun-
gen gleichzeitig Opfer und Täter ist, teile ich nicht.


(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Da haben Sie ihn aber sehr schlecht verstanden!)


Arbeitgeber und Arbeitnehmer schafften tarifvertragli-
che Rahmenbedingungen. Die Arbeitnehmer vertrauen
darauf, daß sich die Arbeitgeber dem Tarifvertrag, den
sie mit unterzeichnet haben, letzten Endes auch ver-
pflichtet fühlen und die Löhne und Gehälter zahlen, die
im Bau zu zahlen sind, und sie nicht auf 3,50 DM,
5 DM, 6 DM oder 7 DM pro Stunde in den Keller drük-
ken. Das ist ein Skandal, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, und dagegen gehen wir vor.

Ich bedaure, daß auf der anderen Seite des Hauses die
Einsicht fehlt, daß die auf deutschen Baustellen Be-
schäftigten nichts anderes wollen, als daß bestehende
Gesetze und Tarifverträge eingehalten werden. Nicht
mehr und nicht weniger wollen sie. Darin wollen wir sie
unterstützen.


(Beifall bei der SPD – Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Das ist absoluter Unsinn, was Sie erzählen!)


Wir wollen auch zu Maßnahmen kommen, die das, was
heute noch in der Gesetzgebung fehlt, ergänzen.

Ich komme zum Schluß, da ich sehe, daß ich mit
meiner noch zur Verfügung stehenden Redezeit bei „mi-
nus Null“ angelangt bin:


(Zuruf von der CDU/CSU: „Minus Null“ – bei der neuen Regierung! – Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Experten schätzen den Umfang der Einkünfte aus
Schwarzarbeit mittlerweile auf rund 550 Milliarden DM.
– Ich verstehe nicht, warum Sie darüber lachen. Kann
man eigentlich kaltschnäuziger sein als Sie, wenn es um
die Belange dieser Menschen geht?


(Beifall bei der SPD)

Sie tun dies ab, als sei es Fliegendreck. Hier geht es um
die Existenzen von Menschen nicht nur in Berlin, son-
dern in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Wir
haben gefälligst die Ohren offenzuhalten und die ent-
sprechenden Beschlüsse vorzubereiten. Das erwartet
man vom Deutschen Bundestag.


(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403512100
Herr Kollege, ich
muß Sie ermahnen aufzuhören. Sie haben selber schon
darüber reflektiert.


Wolfgang Weiermann (SPD):
Rede ID: ID1403512200
Diese 550 Milliarden
DM gehen insbesondere dem deutschen Mittelstand
verloren. Da gehen Arbeitsplätze verloren. Da gerät die
wirtschaftliche Weiterentwicklung in Gefahr. Darüber
sollten Sie nachdenken!


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403512300
Herr Kollege, kom-
men Sie bitte zum Schluß.


Wolfgang Weiermann (SPD):
Rede ID: ID1403512400
Wir werden den Weg
einschlagen, die deutschen Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer nicht nur auf dem Bau zu unterstützen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403512500
Nächster Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Konrad Gilges. Ihm wird
dann noch ein Redner der CDU/CSU-Fraktion folgen.


(Susanne Kastner [SPD]: Der kommt dazwischen! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)


– Entschuldigung, die CDU/CSU-Fraktion hätte sich
eher überlegen müssen, daß noch ein Redner seitens
ihrer Fraktion sprechen soll.


(Beifall der Abg. Renate Rennebach [SPD])

Herr Kollege Gilges, Sie haben das Wort.

Wolfgang Weiermann






(A) (C)



(B) (D)



Konrad Gilges (SPD):
Rede ID: ID1403512600
Meine sehr verehrten Damen
und Herren! An dem Chaos in diesem Hohen Hause bin
ich unschuldig. Ich bitte deshalb darum, mir die nötige
Aufmerksamkeit zu schenken.

Ich möchte zunächst eine Bemerkung zu der Kollegin
Pau machen, die leider nicht mehr anwesend ist, was
mich in großes Erstaunen versetzt und was ich kritisiere.
Ich finde es nicht fair, daß hier jemand eine Debatte er-
öffnet und dann, wenn die anderen Kollegen zu diesem
Thema reden, nicht mehr anwesend ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Barbara Höll [PDS]: Weil sie einen Termin hat! Sie wissen, daß wir über die Zeit sind!)


Dann hätte sie nicht reden sollen. Das ist nicht demo-
kratisch. Ich sitze hier jetzt auch über eine Stunde und
muß mir das anhören und antun, was Sie hier veranstal-
ten. Auch die Kollegin hätte jetzt hier sein müssen. Da-
für gibt es auch keine Entschuldigung. Das will ich erst
einmal feststellen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Zweite Bemerkung: Den Kollegen von der PDS muß
ich natürlich sagen: Man muß aufpassen, daß man sich
nicht vor den Karren von Interessenverbänden spannen
läßt. Bei dieser Diskussion hat es aber diesen Anschein.
Denn bei dem, was ich in dieser Debatte gehört habe,
gehen das fachliche Fundament und das, was Wahrheit
und Wirklichkeit ist, ein bißchen verloren. Ich will auf
diese Frage gleich noch einmal zurückkommen. Ich will
aber zuerst noch etwas zu Herrn Laumann sagen.

Herr Laumann, ich bin mit vielem, was Sie sagen,
einverstanden. Nur das mit den Polen hat mich etwas ir-
ritiert. Es gibt überhaupt keine Indizien dafür, daß die
Polen diejenigen sind, die als Schwarzarbeiter, als ille-
gale Arbeiter in der Bundesrepublik arbeiten. Das war so
ein bißchen antipolnisch, würde ich sagen, es hatte den
Touch der Diskriminierung von polnischen Arbeitneh-
mern. Das möchte ich nicht. Es geht nicht um Polen,
sondern es geht um alle die, die als Ausländer hier in
Deutschland von Unternehmen ausgebeutet werden –


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


gegen die bestehenden Tarifverträge und gegen die Ge-
setze, unabhängig von ihrer Nationalität.

Ich gestehe zu: Es gibt natürlich an den Baustellen in
Berlin Ausbeutung, von Deutschen und von Ausländern.
Es trifft zu, daß Lohndumping – richtigerweise muß es
Lohnwucher heißen, wie die Juristen sagen – in Berlin
stattfindet. Es trifft auch zu, daß die Verletzung von Ge-
setzen und Unfallvorschriften stattfinden. Das wissen
wir alle. Das kann von uns auch nicht toleriert werden.
Das wird von der Regierung nicht toleriert, das wird,
nehme ich an, auch von der Opposition nicht toleriert,
weil wir alle daran interessiert sind – jenseits der Frage,
ob wir dem Gesetz jeweils zugestimmt haben –, daß die
Gesetze, die es gibt, eingehalten werden. Das muß unser
gemeinsames Ziel sein. Wenn es Gesetzesbrecher gibt,

müssen sie auch über die Exekutive und die Judikative
so bestraft werden, wie es sich in einem Rechtsstaat ge-
hört.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Wir können auch nicht zulassen, daß an den Baustellen
der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Das muß unser ge-
meinsames Interesse sein.

Ein weiterer Punkt ist die Frage, welche Maßnahmen
denn zu ergreifen sind. Die Vertragsgestaltung des Bau-
trägers ist nach meinem Kenntnisstand ausreichend. Was
die Bundesbaugesellschaft an Vertragsmaßnahmen mit
den jeweiligen Bauunternehmen ausgehandelt hat, ist
glaubwürdig. Das kann man sich ansehen. Ich weiß
nicht, was man daran kritisieren muß, kritisieren kann
oder kritisieren sollte. Man kann hier und da noch etwas
besser machen, kann die Bußgelder erhöhen usw., aber
das ist in Ordnung.

Zur internen Überprüfung kann man als Bauherr sa-
gen: das muß der Bauträger verstärken. Auch ich als
Mitglied der Baukommission und des Ausschusses für
Arbeit und Sozialordnung würde in Richtung des Bau-
trägers sagen, daß man dort stärker nachprüfen müßte,
daß es dort keine illegalen oder inkorrekten, nach dem
Vertrag nicht vorgesehenen Beschäftigungen gibt. Denn
es gibt sie ja, und es hat sie auch im Reichstag gegeben,
wie die Untersuchungen zeigen. Also da, meine ich,
könnte man etwas tun. Das gilt auch für die externen
Kontrollen, also die Kontrollen, die durch das Arbeits-
amt Berlin/Brandenburg stattfinden. Auch da kann man
sagen, das muß noch verschärft werden, da müssen Be-
amte hineingehen und etwas unternehmen.

Der Gesetzgeber kann natürlich gegen die kriminellen
Aktivitäten am Bau noch mehr tun. Er kann zum Bei-
spiel das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verschärfen.
Ob wir damit näher an das Ziel herankommen, werden
wir dann im Einzelfall sehen, das muß diskutiert wer-
den. Wir können auch die Durchgriffshaftung, die nach
dem Entsendegesetz schon besteht, noch weiter ver-
schärfen, vielleicht die Strafen noch etwas erhöhen usw.

In bezug auf den Mindestlohn am Bau hatte ich im-
mer schon meine Zweifel. Wir als Sozialdemokraten
hatten auch eine andere Vorstellung. Wir wollten nach
der EG-Richtlinie, Herr Laumann, durchsetzen, daß
nach dem ortsüblichen Tarifvertrag zu zahlen ist. Ich
sage Ihnen im nachhinein: Es wäre eine bessere Rege-
lung gewesen, wenn wir ein Entsendegesetz gemacht
hätten, in dem gestanden hätte: Es ist nach dem ortsübli-
chen Tarifvertrag zu bezahlen. Das hätte eben nicht zur
Spaltung der Arbeitnehmerschaft am Bau geführt: die
einen, die Bezahlung nach Tarifvertrag fordern, und die
anderen, die nach Entsendegesetz bezahlt werden kön-
nen, das heißt mit Mindestlöhnen. Das haben wir selbst
verursacht, das heißt, Sie haben es verursacht. Wir wa-
ren anderer Meinung.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Jetzt haben Sie die Mehrheit!)


– Herr Kolb, Sie werden doch nicht zustimmen.
Wenn Sie sagen würden, wir stimmen dem ortsüblichen






(B)



(A) (C)



(D)


Tarifvertrag im Arbeitnehmer-Entsendegesetz als neuer
Klausel zu, dann können wir das morgen zusammen ma-
chen. Aber Sie sind ein Feigling, weil Sie dazwischen-
reden und nicht bereit sind, die Konsequenzen zu tragen.
Also reden Sie nicht so daher.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte zum Schluß kommen. Die Tarifvertrags-
parteien müssen selbst dafür sorgen – ich sage das ganz
kritisch als jemand, der selber Funktionär einer Gewerk-
schaft ist –


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403512700
Kollege Gilges, Sie
müssen wirklich zum Schluß kommen.


Konrad Gilges (SPD):
Rede ID: ID1403512800
– das ist mein letzter Satz –,
daß die Bestimmungen des Tarifvertrages durchgesetzt
werden. Das kann der Gesetzgeber ihnen nicht abneh-
men. Deswegen müssen wir dafür sorgen, daß die Ge-
setze eingehalten werden, besonders auch auf den Bau-
stellen in Berlin, weil es nämlich unser zukünftiger Re-
gierungssitz ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403512900
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, entgegen der üblichen Praxis haben zwei
Mitglieder der SPD-Fraktion hintereinander geredet. Die
CDU/CSU-Fraktion hat leider zu spät ihren Redebedarf
für den vierten Beitrag angemeldet. Deshalb spricht jetzt
ausnahmsweise der Kollege Karl-Josef Laumann.


(Zurufe von der SPD: Schon wieder! – Jetzt fängt eine neue Runde an!)



Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1403513000
Sehr verehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin meiner Fraktion sehr dankbar, daß ich hier die Mög-
lichkeit habe, auf den Kollegen Weiermann und auch
auf Konny Gilges zu antworten.


(Susanne Kastner [SPD]: Seiner Fraktion ist er dankbar?)


– Selbstverständlich kann ich die Redezeit für die
CDU/CSU-Fraktion wahrnehmen. Das werde ich jetzt
auch machen.

Herr Kollege Weiermann, wir sollten nicht so mitein-
ander umgehen, daß wir uns gegenseitig das Wort im
Mund umdrehen. Auch für mich ist völlig klar, daß es
auf einer Arbeitsstelle, auch auf einer Baustelle men-
schengerechte Arbeitsbedingungen geben muß. In dieser
Einschätzung liegen wir überhaupt nicht auseinander.
Das gilt sowohl für deutsche wie für jeden anderen Bau-
arbeiter. Auch von meinem Menschenbild her denke ich
darüber nicht anders. Das wollte ich hier nur klarstellen.

Es ist aber auch die Wahrheit: Es gibt zwischen
West- und Osteuropa ein riesiges Wohlstandsgefälle.
Für einen osteuropäischen Bauarbeiter, dessen Familie

in Osteuropa wohnt, ist ein Stundenlohn von 6 oder
7 DM – egal unter welchen Bedingungen er ihn erzielen
kann – eine attraktive Entlohnung. Der deutsche Maurer
dagegen kann mit 7 oder 8 DM seine Familie in Berlin
oder irgendwo sonst in Deutschland nicht ernähren, weil
er hier unsere Mieten und unsere Lebensmittelpreise be-
zahlen muß. Deswegen kann er diesem Lohndumping
überhaupt nicht standhalten. Wenn die Unterschiede
zwischen der Entlohnung so groß sind, dann gibt es im-
mer Anreize dafür, sich billige Arbeitskräfte zu holen.
Auf dem Bau ist das alles noch schwieriger zu kontrol-
lieren als in einer Fabrik im Ruhrgebiet oder bei uns im
Münsterland.

In der Textilindustrie gibt es ähnliche Verwerfungen.
Nur finden diese nicht auf deutschem Boden statt. Der
deutsche Textilarbeiter konkurriert mit dem Textilar-
beiter, der für einen Stundenlohn von 3 DM irgendwo in
Osteuropa oder im asiatischen Bereich arbeitet. Aber es
ist schon ein Riesenunterschied, wenn es in diesem Land
passiert. Auch ich bin der Meinung, daß in diesem Land
der Grundsatz „gleiche Arbeit, gleiche Baustelle, gleiche
Entlohnung“ gelten muß. Das ist eine logische Sache.

Wir haben als öffentlicher Arbeitgeber – das wollte
ich deutlich machen; bei unseren Bauvorhaben treten
wir als öffentlicher Arbeitgeber auf; der Staat ist einer
der größten Bauträger in Deutschland; besonders in
Berlin gehören wir zur Zeit zu den größten Bauträgern –
eine besondere Verpflichtung. Ich erwarte von den
Leuten, die letzten Endes über die Vergabe von öffentli-
chen Baumitteln entscheiden – unabhängig von deren
Parteibuch –, daß sie schon bei der Vergabe darauf ach-
ten, ob die von den Baufirmen vorgelegten Preise reali-
stisch sind. Schon bei der Vergabe müssen wir fordern,
daß auf den Baustellen sozialversicherungspflichtige
Arbeitnehmer eingesetzt werden. Wir wollen, daß die
Standards der Berufsgenossenschaften und die Bestim-
mungen der Gewerbeaufsicht auf den Baustellen einge-
halten werden. Letzten Endes müssen wir gemeinsam
versuchen, das auf den Baustellen durchzusetzen. Daher
ist es auch nicht richtig, den Schwarzen Peter von der
einen zur anderen Seite zu schieben.

Wir sind uns sicherlich alle einig, daß beschlossene
Gesetze und vereinbarte Tarifverträge durchgesetzt wer-
den müssen, weil wir anderenfalls eine Bananenrepublik
wären. Es werden ja auch viele Kontrollen durchgeführt;
Dietmar Kansy hat davon berichtet, wie viele es gerade
auf den Bundesbaustellen gegeben hat. Diese Kontrollen
müssen wir noch verstärken. Aber auch Arbeitgeber und
Arbeitnehmer müssen auf den Baustellen aufklärend
wirken, damit wir die schwarzen Schafe erwischen kön-
nen. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn diejenigen, die
einmal als schwarzes Schaf erwischt wurden, zumindest
für eine gewisse Zeit keine öffentlichen Aufträge mehr
bekämen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403513100
Ich schließe die Aus-
sprache und rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie die
Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf:

Konrad Gilges






(A) (C)



(B) (D)


7. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entschuldungsinitiative anläßlich des Welt-
wirtschaftsgipfels der G-7/G-8-Staaten in Köln
– Drucksache 14/794 –

ZP6 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-
Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert
Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Entschuldung armer Entwicklungsländer –
Initiativen zum G-8-Gipfel in Köln
– Drucksache 14/785 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten
Hübner, Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Umfassender Schuldenerlaß für einen Neuan-
fang
– Drucksache 14/800 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste spricht zu uns
die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenar-
beit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor drei Monaten hat die Bundesregierung für den
Wirtschaftsgipfel der G-7-Staaten in Köln im Juni
1999 eine Initiative zur Entschuldung armer Länder
vorgelegt. Ziel der „Kölner Initiative“, wie wir sie
nennen, ist die weitere deutliche Entlastung hochver-
schuldeter armer Länder erstens durch die Beschleuni-
gung des Verfahrens zur Entschuldung – bisher sind es
sechs Jahre; wir wollen, daß es auf drei Jahre reduziert
wird – und zweitens durch die Ausweitung des Volu-
mens an Schuldenerleichterungen. Drittens geht es uns
um die Umorientierung des Entwicklungsweges in den
betroffenen Entwicklungsländern in Richtung auf Ar-
mutsbekämpfung und sozial und ökologisch nachhal-
tige Entwicklung.

Für alle öffentlichen Gläubiger zusammen bedeuten
unsere Vorschläge zusätzliche Schuldenerlasse von
insgesamt 40 bis 45 Milliarden US-Dollar. Wir wollen
damit vielen Millionen Menschen den Start in das näch-
ste Jahrhundert erleichtern und einen substantiellen Bei-
trag zur Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingun-
gen und vor allem zum Abbau von Krisen- und Kriegs-
ursachen in der Welt leisten. Gerade angesichts von
Mord, Vertreibung und Krieg in Jugoslawien muß be-
tont werden, daß es das Ziel der Bundesregierung bleibt,
mit allen Möglichkeiten der Entwicklungspolitik, also
auch mit unserem Schuldenerlaß, für gerechtere Ver-
hältnisse in der Welt, für den Schutz der Menschen-
rechte und für die Vermeidung von Krisen und Kriegen

zu sorgen und mit solchen vorbeugenden zivilen Mitteln
auch dazu beizutragen, daß Menschen in ihren Heimat-
ländern menschenwürdig leben können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die hochverschuldeten armen Länder haben ganz be-
sondere Probleme. In den ärmsten Ländern sterben die
Menschen durchschnittlich 25 Jahre früher als in den In-
dustrieländern. 130 Millionen Kinder dürfen nicht zur
Schule gehen, weil die Schule für die Familien zu teuer
ist. Wenn Devisen für den Schuldendienst erwirtschaftet
werden oder verarmte Menschen die kargen Ressourcen
übernutzen müssen, geht das zu Lasten der Umwelt.
Krisen und Bürgerkriege sind in vielen Ländern zumeist
in der bitteren Armut der Menschen und in Verteilungs-
konflikten begründet, deren gewaltsame Austragung die
Länder nur noch tiefer ins Elend stürzt. Jährlich 40 Mil-
liarden US-Dollar würden nach Aussagen der Vereinten
Nationen ausreichen, um die Grundbedürfnisse der
Menschen in den Entwicklungsländern zu stillen. 780
Milliarden US-Dollar geben Industrieländer, aber auch
Entwicklungsländer jährlich immer noch für Waffen und
Rüstung aus. Dieses krasse Mißverhältnis muß geändert
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die ungeheure Verschuldung der betroffenen Länder
wirkt sich aber nicht nur auf deren eigene, sondern
auch auf unsere Situation aus. Verschuldung ist teil-
weise auch eine Folge von unerwarteten wirtschaftli-
chen Belastungen, sinkenden Rohstoffpreisen, hohen
internationalen Zinsen in früheren Jahren sowie unvor-
sichtiger Kreditvergabe öffentlicher und privater Gläu-
biger.

Wir wollen gemeinsam Verantwortung für unsere
Welt übernehmen und dazu beitragen, daß die Chancen
gerechter verteilt werden. Wir brauchen eine weltweite
Solidarität, um eben jener Ungleichheit entgegenzuwir-
ken. Lassen Sie mich bitte aus aktuellem Anlaß sagen:
Solidarität von Bürgern und Bürgerinnen zeigt sich in
den Spenden in Millionenhöhe für die Flüchtlinge in Al-
banien und Mazedonien. Solidarität müssen wir aber
auch gegenüber den Ländern zeigen, die Flüchtlinge in
großem Maße aufgenommen haben, wie Mazedonien
und Albanien.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das Schuldenmoratorium des Pariser Clubs für Al-
banien und Mazedonien ist deshalb ein erster Einstieg.
Ich plädiere darüber hinaus dafür, Albanien und Maze-
donien die sogenannten DDR-Altschulden zu erlassen.
Diese Schulden, die die Entwicklungsländer nicht zu-
rückzahlen können und die noch zu Buche stehen, sind
entstanden, weil damals von seiten der DDR Kredite für
Warenlieferungen vergeben worden sind. Der entspre-
chende Betrag ist angesichts dessen, was für andere
Bereiche ausgegeben wird, nicht sehr hoch: Für Alba-
nien betragen diese Schulden 13 Millionen DM und für

Vizepräsidentin Petra Bläss






(B)



(A) (C)



(D)


Mazedonien 17 Millionen DM. Ich denke, es wäre ein
Akt der Solidarität, auch diese Schulden zu erlassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Unsere Initiative – dafür bedanke ich mich an dieser
Stelle ausdrücklich – baut auf der Arbeit vieler kirchen-
naher Organisationen und auf der Kampagne „Erlaßjahr
2000“ auf, die ganz wichtige Anstöße gegeben haben und
die wir im Rahmen unserer Initiative aufgreifen. Das
heißt, wir entwickeln die sogenannte Weltbank/IWF-
Initiative zugunsten hochverschuldeter armer Länder
weiter. Sie bietet aus unserer Sicht einen guten Rahmen,
weil dabei alle Gläubiger, Weltbank, IWF, die entspre-
chenden Länder, die regionalen Entwicklungsbanken und
die EU, beteiligt sind. Wir erwarten – das sage ich an die-
ser Stelle auch – von den im Londoner Club zusammen-
geschlossenen privaten Gläubigern, daß sie sich mit
gleichgerichteten Maßnahmen anschließen. Auch darin
muß unsere gemeinsame Anstrengung liegen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für unsere im Detail vorgelegten Vorschläge bedeutet
dies, daß der Erlaß von Schulden aus der Entwicklungs-
zusammenarbeit für die Bundesrepublik Deutschland
aktuell für fünf Länder möglich wäre – unabhängig da-
von, was ich vorhin über Albanien und Mazedonien ge-
sagt habe –: Bolivien, die Elfenbeinküste, Guyana, Nica-
ragua und Honduras.

Wir wollen aber auch, daß die Schuldnerländer den
gewonnenen finanziellen Spielraum für Vorhaben nut-
zen, die eine nachhaltige und auf Beseitigung von Armut
und sozialer Ungerechtigkeit gerichtete Entwicklung
fördern; denn damit könnte nicht nur der Bau von
Grundschulen und von Basisgesundheitsstationen finan-
ziert werden, sondern damit könnte auch ein Beitrag zur
besseren Entwicklung und zu mehr Stabilität geleistet
werden.

Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: In Nicaragua
muß Schulgeld entrichtet werden, weil der Staat das Bil-
dungssystem nicht allein finanzieren kann. Das gilt für
viele Länder dieser Kategorie. Zusätzlich müssen die
Familien selbst Bücher, Schuluniform und dergleichen
bezahlen. Trotz staatlicher Schulpflicht können viele
Kinder nicht die Schule besuchen. Mehr noch: Viele von
ihnen müssen durch ihre Arbeit zum Lebensunterhalt der
Familie beitragen oder leben als Straßenkinder, weil ihre
Familien an der Armut zerbrochen sind. Als Analpha-
beten werden sie aber den Kreislauf der Armut niemals
mehr durchbrechen können.

Ich nenne Ihnen das Beispiel der Zwillinge Pedro und
Miguel aus Santo Domingo in Nicaragua. Die beiden
Jungen müssen in einer Ziegelei arbeiten. Selbst das
Schulgeld können sie mit dem, was sie dort erarbeiten,
nicht ausreichend finanzieren. Sie versuchen deshalb
mühsam, sich das Lesen mit Hilfe alter Zeitungen bei-
zubringen.

Deshalb geht es jenseits der Zahlen, die die Fachleute
diskutieren, bei unserer Entschuldungsinitiative darum,

daß die Menschen in den betroffenen Ländern bessere
Chancen für ihr Leben haben. Das sollten wir alle ge-
meinsam als unsere große Aufgabe verstehen und ver-
wirklichen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Schuldenerlaß allein ist sicherlich kein Allheilmittel
für die vielschichtigen Probleme armer Entwicklungs-
länder; und Schuldenerlaß allein gibt sicherlich auch
nicht die Möglichkeit, die Armut bis zum Jahre 2015 zu
halbieren, wie es sich die OSZE-Staaten vorgenommen
haben. Schuldenerleichterungen müssen in ein reform-
und entwicklungsstrategisches Gesamtkonzept einge-
bunden sein. Vor allen Dingen gilt es sicherzustellen,
daß die Freiräume von den Ländern richtig genutzt wer-
den. Ich sage an dieser Stelle ganz eindeutig: Der Fall
Uganda, wo im letzten Frühjahr kurz nach umfassenden
Schuldenerleichterungen eine deutliche Anhebung der
Militärausgaben angekündigt wurde, darf sich auf kei-
nen Fall wiederholen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Deshalb muß bei den entsprechenden Schuldenerleichte-
rungen jeweils durch Anpassungsprogramme sicherge-
stellt werden, daß kein falscher Weg gewählt wird.

Ich bekenne mich ausdrücklich dazu, daß diese
Orientierung von uns ausgegeben wird. Wir werden
dabei auch auf eine stärkere Verantwortung von nach-
haltiger Entwicklung und sozialer Ausgewogenheit in
den Reformprogrammen von Weltbank und IWF ach-
ten. Nächste Woche tagt das Development Committee
in Washington. Wir werden in diesem Sinne dort Stel-
lung nehmen. Im übrigen wissen wir: Wir werden von
James Wolfensohn und seiner Neuorientierung der
Weltbank, die absolut in unsere Richtung geht, unter-
stützt.

Wir dürfen bei den notwendigen Reformen aber nicht
nur an die Partnerländer denken. Ob Entschuldung oder
Krisenprävention – daß solche Maßnahmen notwendig
sind, liegt immer auch ein Stück an uns. Ungehemmte
Währungsspekulationen, Rüstungsexporte


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

und Handelshemmnisse eines Teils unserer Welt tragen
zu den Problemen in den anderen Teilen der Welt bei.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch das ist Globalisierung und macht Reformen bei
uns unerläßlich. Wir fordern von den Schuldnerländern
eine Begrenzung der Militärausgaben. Dazu stehe ich;
aber ich stehe auch dazu, daß wir als Industrieländer und
wir als Bundesrepublik Deutschland eine sehr restriktive
Waffen- und Rüstungsexportpolitik betreiben müssen.
Beides gehört zusammen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul






(A) (C)



(B) (D)


Natürlich gibt es immer kritische Stimmen. Ich kenne
ja die Anträge, die heute vorliegen und die sagen, das
alles gehe nicht weit genug und es gebe noch mehr
Handlungsbedarf.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das kann ja nicht schaden!)


Ich kann das gut verstehen. Ich bitte Sie aber, zu ver-
stehen, daß die Haushalte insgesamt begrenzt sind. Das
gilt auch für die Weltbank, wo die Frage, wie die daran
anschließende Kapitalaufstockung aussieht, und die
damit verbundenen Konsequenzen diskutiert werden
müssen.

International hat die deutsche Initiative eine lebhafte
Diskussion über das Entschuldungsthema ausgelöst.
Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Frankreich und
Kanada sind inzwischen mit eigenen Vorschlägen an die
Öffentlichkeit gegangen. Ihre generellen Zielsetzungen
entsprechen den unseren; alle setzen sich für eine
schnellere und umfangreichere Schuldenerleichterung
ein. Höchstens in der Frage des Ausmaßes der zusätzlich
zu gewährleistenden Schuldenerleichterungen gibt es im
Detail noch unterschiedliche Einschätzungen. In per-
sönlichen Gesprächen haben mir – was ich sehr wichtig
finde – sowohl James Wolfensohn als auch der ge-
schäftsführende Direktor des Internationalen Währungs-
fonds, Michel Camdessus, gesagt, daß sie unsere Initia-
tive im Grundsatz und in der Zielsetzung begrüßen und
für richtig halten. Unser Anstoß hat dazu geführt, daß es
jetzt – wie Camdessus gesagt hat – einen positiven
„contest“ um die Zahlen gibt. Die amerikanische Seite
hat ganz hohe Schuldenentlastungen genannt; alle Zah-
len liegen auf dem Tisch.

Letztlich geht es aber nicht darum, ob vorrangig das
eine oder das andere Detail aus dem deutschen oder bri-
tischen Vorschlag oder anderen Vorschlägen zum Tra-
gen kommt. Es geht darum, daß den Menschen in La
Paz, Managua und Abidjan schnell geholfen wird. Dar-
um müssen wir alle uns beim G-7-Gipfel kümmern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind stolz darauf, daß wir als Bundesregierung
das Startsignal für diese gemeinsame Sache gegeben ha-
ben. Was jedoch zum Schluß zählt, ist nicht die Ankün-
digung – das habe ich gerade bei Schuldenerlassen sehr
genau gelernt –, sondern die reale Umsetzung. Deshalb
wird es die Hauptaufgabe sein, dafür zu sorgen, daß die
Zielvorstellungen in den nächsten Monaten konkret in
entsprechende Verfahrensschritte umgesetzt werden.
Nach dem G-7-Gipfel wird es dann bei der Herbsttagung
von IWF und Weltbank darum gehen, das gemeinsame
Paket der G 7 konkret vorzulegen und umzusetzen.

Für unseren Beitrag für die Entwicklung und Zukunft
von Millionen Menschen gibt es hohe internationale An-
erkennung. Das ist schön. Das Allerwichtigste aber ist –
um bei dem Beispiel von vorhin zu bleiben –: Wenn Pe-
dro und Miguel Schulbücher bekommen und die Schule
besuchen können, dann ist es in ihrem Interesse und für
ihre Zukunft. Es ist aber auch eine Investition in unsere
gemeinsame Zukunft in einer Welt.

Ich bedanke mich sehr herzlich.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403513200
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich.


Klaus-Jürgen Hedrich (CDU):
Rede ID: ID1403513300
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal möchte ich an dieser Stelle den Initia-
toren der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ sehr nachhaltig
dafür Dank sagen, daß sie mit dieser Initiative die Pro-
bleme der dritten Welt noch einmal deutlich ins Be-
wußtsein gerufen haben. Dabei haben sie insbesondere
die Frage der Verschuldung unter die Lupe genommen.
Dies ist eine besondere Frage, die uns hier beschäftigt.

Aber gerade in einer Zeit, in der wir uns intensiv mit
dem Kosovo beschäftigen, wird in diesem Zusammen-
hang vernachlässigt, daß das auch eine Frage der Kon-
flikte und der sozialen Spannungen in der Welt ist. Al-
banien – das wissen selbst die wenigsten Leute in
Deutschland und Europa – gehört zu den ärmsten Län-
dern dieser Erde. Albanien ist ärmer als manches afrika-
nische Entwicklungsland. Das macht deutlich, daß die
Probleme im wahrsten Sinne des Wortes hautnah vor der
Tür sind.

Diese Initiative hat mit Sicherheit zur Schärfung des
öffentlichen Bewußtseins beigetragen. Aber ich will
nicht verhehlen, daß man sich doch über manche Nuan-
cen wundern muß. Wenn laut Presseberichten der briti-
sche Finanzminister Gordon Brown allen Ernstes die
These vertritt, die Schuldenlast sei der wichtigste Grund
für Armut und Ungerechtigkeit auf dieser Erde und
stelle eine der größten Gefahren für den Frieden dar, so
muß man mit aller Vorsicht von Übertreibung reden.

Niemand wird behaupten können, daß die Armut in
vielen Entwicklungsländern mit der Verschuldung zu
tun hat. Hat die Armut in Angola etwas damit zu tun,
daß das Land über verhältnismäßig hohe Schulden ver-
fügt,


(Susanne Kastner [SPD]: Auch!)

während der Staatschef dos Santos ein privates Vermö-
genskonto hat, das auf 4 bis 5 Milliarden US-Dollar ge-
schätzt wird, ganz abgesehen von seiner Militärclique?
Ich verweise auch auf das Beispiel Indien, das sich, was
die Schuldenproblematik betrifft, in einer verhältnismä-
ßig günstigen Situation befindet, in dem aber rund 450
bis 500 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgren-
ze leben. Das ist die größte Zahl von Armen in einem
Land der Welt. Am Beispiel Indien wird sehr deutlich,
daß die Probleme der sozialen Ungerechtigkeit mit der
Verschuldung überhaupt nichts zu tun haben, sondern
damit, daß sich die Verantwortlichen in dem Land wei-
gern, sich um die Probleme der Armen zu kümmern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Forderungen sind zutreffend, daß eine schnelle

und umfassende Schuldenentlastung für die hochver-

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul






(B)



(A) (C)



(D)


schuldeten armen Länder dringend geboten ist. Die Fra-
ge lautet jedoch: Welches Land ist wirklich arm? Wir
haben uns gestern im Ausschuß – davon darf man wohl
berichten – mit der Problematik von Nigeria beschäftigt,
einem Land, das auf dem Hintergrund der letzten
20 Jahre zu vorsichtigem Optimismus Anlaß gibt. Man
hat auch darüber gesprochen, daß wir der neuen, einer
demokratisch legitimierten Regierung gewisse Chancen
für einen positiven Start einräumen sollten. Allein ge-
genüber Deutschland hat Nigeria eine Schuldenver-
pflichtung von rund 6 Milliarden DM. Die Frage eines
Moratoriums ist sicherlich ernsthaft zu prüfen.

Wir waren uns im Ausschuß über Fraktionsgrenzen
hinweg einig, daß ein Land wie Nigeria kein klassischer
Fall für Schuldenerlaß ist; denn es verfügt über natürli-
che Ressourcen, die das Land eigentlich in die Lage ver-
setzen müßten, überhaupt ohne internationale Hilfe aus-
zukommen. Ich habe mich sehr gefreut, Frau Ministerin,
daß der Vertreter der Bundesregierung im Ausschuß die
Unterstützung aller Anstrengungen durch die Bundesre-
gierung zugesagt hat, die dazu beitragen, die in der
Schweiz und im Libanon vermuteten Konten der bishe-
rigen Machthaberclique aufzuspüren und die Gelder
dem Lande wieder zuzuführen, um damit der Ver-
pflichtung der Armutsbekämpfung nachzukommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die bisherigen Entschuldungsmaßnahmen waren zu
halbherzig, und die betroffenen Länder waren nicht auf
den Weg einer wirtschaftlichen Gesundung gebracht. Es
taucht immer die Forderung auf, wir müßten uns nüch-
tern ansehen, daß über die letzten Jahrzehnte hinweg
eine ständige Verbesserung der Schuldenerleichte-
rungsmaßnahmen der Gebernationen gegenüber den
Entwicklungsländern auf den Weg gebracht worden ist.
Auch hierzu können wir feststellen, daß es viele Länder
gibt, die nicht ihrer eigenen Verpflichtung gegenüber
einer Entschuldung und einer Reformpolitik in ihren
Ländern nachgekommen sind. Auf diesem Hintergrund
zeigt sich, daß Schuldenmaßnahmen nicht greifen, wenn
die Länder keine entsprechenden Reformanstrengungen
unternehmen.

Die HIPC-Initiative, die Maßnahme für die am
höchsten verschuldeten armen Länder, die nicht zuletzt
auch auf deutsche Initiative hin zustande gekommen ist,
ist nach Auffassung aller Experten ein probates Mittel,
um Entschuldung zu ermöglichen. Die Anhörung des
Ausschusses bestätigt diese These für den Fall, daß die
Maßnahme großzügig und umfassend durchgeführt
wird.

Ich möchte dazu durchaus nüchtern anmerken: Die
Bundesregierung schlägt vor, daß man die Entschul-
dungsmaßnahmen von sechs auf drei Jahre verkürzen
sollte, wenn ein Land entsprechende Reformen auf den
Weg gebracht hat. Ich kann aus ganz persönlicher Be-
trachtung der entsprechenden Länder nur feststellen, daß
wir drei Jahre als nicht ausreichend betrachten müssen,
um wirklich die Ernsthaftigkeit von Reformanstrengun-
gen in einem Lande bewerten zu können. Die Ministerin
selbst hat vorhin dankenswerterweise an dem vielge-

rühmten und als Vorbild dienenden Fall Uganda deut-
lich gemacht, daß die Machthaber dort, als sie kaum ein
bißchen Geld übrig hatten, es gleich wieder in die Rü-
stung gesteckt haben. Wenn Uganda bei der Umschul-
dung höhere Auflagen hätte spüren müssen, dann hätte
man mit Sicherheit eine solche Verwendung dieser Gel-
der bewirken können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir bedauern, daß die Ministerin selbst zwar viel von
Bedingungen gesprochen hat, daß aber in dem Antrag
der Koalitionsfraktionen von Konditionalität, also von
Vorbedingungen für Umschuldung, wenig zu lesen ist.
Das müssen wir als einen schweren Mangel des Antra-
ges der Koalitionsfraktionen bewerten.


(Vors i tz : Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Wir müssen deshalb ganz nüchtern darauf verweisen,
daß es notwendig ist, auch auf Bedingungen zu achten.

Übrigens, man hätte sich viel Mühe ersparen können,
wenn man sich zur Grundlage der Diskussion den Arti-
kel von Manfred Schäfers der „FAZ“ von gestern mit
der Überschrift „Schulden und Entwicklung“ zu Gemüte
geführt hätte. In diesem Artikel wird die gesamte Pro-
blematik deutlich gemacht. Ich darf aus einem Absatz
dieses Artikels zitieren.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403513400
Herr Kollege,
es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage. Kön-
nen wir die vorziehen, oder wollen Sie gerne abschlie-
ßen?


Klaus-Jürgen Hedrich (CDU):
Rede ID: ID1403513500
Die können
wir selbstverständlich vorziehen, Frau Präsidentin. Ich
habe schon einmal einem anderen Präsidenten gesagt:
Werner Schuster darf bei mir immer eine Zwischenfrage
stellen, denn er ist mein Freund. Werner, wenn du willst,
bitte.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403513600
Dann erteilen
wir dem Freund das Wort. Bitte.


Dr. R. Werner Schuster (SPD):
Rede ID: ID1403513700
Herr Staatssekretär
a. D., ich bedanke mich für diese Zuwendungsleistung.
Sie werden sicherlich verstehen, daß wir als Antragstel-
ler nicht in der Lage waren, zeitgerecht auf den „FAZ“-
Artikel von gestern zu reagieren, da unsere Vorbereitun-
gen etwas früher abgeschlossen waren. Meine Frage an
Sie lautet: Sie weisen, wie ich meine, in Ihrem Antrag
zu Recht auf die Bedingungen in den Entwicklungslän-
dern hin. Ist es aber umgekehrt ein Zufall, daß in Ihrem
Antrag die Bereiche, die uns betreffen, zum Beispiel die
Verantwortung von IMF und Weltbank, die Strukturan-
passung und die Finanzkrisen, fehlen? Auf all das hat
die Frau Ministerin hingewiesen. Darf ich vermuten, daß
von Ihrer Seite auch in Zukunft vermehrt einäugig ar-
gumentiert wird?


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Klaus-Jürgen Hedrich






(A) (C)



(B) (D)



Klaus-Jürgen Hedrich (CDU):
Rede ID: ID1403513800
Sie können
nicht davon ausgehen, daß wir das in Zukunft so machen
werden. In diesem Zusammenhang kann ich nur darauf
verweisen, daß gerade die Einbindung der internationa-
len Institutionen Bestandteil der in der letzten Legisla-
turperiode auf den Weg gebrachten HIPC-Initiative ist.
Wir waren uns immer darüber einig, daß es unsinnig ist,
die Schuldenproblematik immer nur bilateral anzugehen.
Vielmehr haben wir die Auffassung vertreten, daß auch
die internationalen Finanzorganisationen einen Beitrag
zur Entschuldung der Entwicklungsländer leisten müs-
sen. Ich glaube, da sind wir, Herr Kollege Schuster,
nicht unterschiedlicher Meinung.

Ich darf kurz aus dem Artikel von Schäfers zitieren:
Wer kann sich da gegen einen Schuldenerlaß wen-
den? Doch es gibt auch kritische Töne. Sie kom-
men vor allem aus den Reihen der Banken und der
Ökonomen. Sie sind aus guten Gründen gegen das
Rasenmäher-Prinzip im Umgang mit der Dritten
Welt. So ermöglicht eine allgemeine Entlastung
schlecht wirtschaftenden Regierungen, ihre frühe-
ren Fehler und Versäumnisse fortzuführen. Dann
würde aber nach der völligen Entschuldung nur ein
neuer Verschuldungskreislauf in Gang gesetzt.

(Bundesministerin Heidemarie Wieczorek Zeul: Das trifft uns gar nicht!)

Der entscheidende Punkt ist, daß wir bei Entschul-

dungsmaßnahmen darauf achten müssen, daß die Bedin-
gungen in den Ländern so ausgerichtet sind, daß Ent-
schuldung wirklich den ärmeren Bevölkerungsschichten
zugute kommt. Nur wenn das gewährleistet ist, wird
eine Entschuldungsmaßnahme sinnvoll sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben am Beispiel Uganda – ich wiederhole mich
hier – selbst demonstriert, daß die Maßnahmen nicht so
gegriffen haben, wie wir das geglaubt haben. Deshalb ist
in diesem Zusammenhang zum Beispiel auf die Gegen-
wertfonds zu verweisen, mit denen wir angefangen ha-
ben, derartiges zu praktizieren. Das sind Fonds, in die
die entschuldeten Länder einen Beitrag einzahlen, der
dann für ganz bestimmte Zwecke verwendet wird. Bis-
her hat Deutschland mit seinen Fonds, durch die Eigen-
mittel und Mittel der Partnerländer für Bildungsmaß-
nahmen, für soziale Zwecke und Umweltzwecke zur
Verfügung gestellt werden, positive Dinge erreicht.

Wir können aber auch feststellen, daß sich die Regie-
rungen unserer Partnerländer in zunehmendem Maße
weigern, den Geberländern Einfluß auf die Verwendung
dieser Mittel zu gewähren. Deshalb plädieren wir für
Mechanismen, durch die Nichtregierungsorganisationen,
Kirchen usw., in den Entwicklungsländern in stärkerem
Maße ein Mitspracherecht bei der Verwendung dieser
Mittel bekommen. Hier kann ich übrigens auf das Bei-
spiel der Schweiz verweisen; die Organisation Justitia et
Pax hat uns auf dieses Modell aufmerksam gemacht. Ich
würde der Bundesregierung und dem Deutschen Bun-
destag raten, sich mit der Vorgehensweise in der

Schweiz etwas intensiver auseinanderzusetzen. Ich
glaube, das wäre eine gute Maßnahme.


(Dagmar Schmidt [Meschede] [SPD]: Steht schon seit 1996 drin!)


Eine weitere These lautet: Entschuldung reicht nicht
aus, wir werden auch in Zukunft auf große Finanztrans-
fers in die Entwicklungsländer angewiesen sein. In der
Tat ist es richtig – hier unterstützen wir die Ministerin
und ihr Ministerium –, daß der Deutsche Bundestag
auch seiner Verpflichtung für den Haushalt nachkommt
und entsprechende Finanzmittel zur Verfügung stellt.
Ich muß noch einmal – ohne aus der Haushaltsdebatte
nachzukarten – darauf verweisen, daß der jetzige Haus-
halt des BMZ für das Jahr 1999 das nicht hergibt. Soll-
ten der Finanzminister und der Haushaltsausschuß die
Einsparmaßnahmen wahr machen, werden wir im
wahrsten Sinne des Wortes deutlich unter den Haus-
haltsansätzen von 1998 liegen. Das bedeutet dann, daß
das Stichwort der eben hier beschworenen Solidarität
nicht ausreicht. Es wäre übrigens ein Armutszeugnis für
die deutsche Politik, nicht zuletzt vor dem Hintergrund
der vielen privaten Spenden, die jetzt wieder für den
Kosovo eingegangen sind und die Tag für Tag bei den
Hilfsorganisationen eingehen, um den Menschen in der
dritten Welt zu helfen, wenn sich die öffentliche Hand,
hier vorrangig die Bundesrepublik Deutschland, ihrer
Verpflichtung entziehen würde.

Ich möchte aber auch noch auf ein anderes Problem
hinweisen. Ein Großteil der Probleme, mit denen wir es
zu tun haben, sind vorrangig aus der schlechten Regie-
rungsführung unserer Partnerländer entstanden. Daß wir,
sowohl die privaten Banken des Nordens als auch die
internationale Gebergemeinschaft, bei so manchem
Großprojekt und so mancher Regierung mit der Gewäh-
rung von Krediten zu großzügig waren, soll hier einge-
räumt werden. Hoffentlich läßt sich das in der Zukunft
vermeiden.

Ganz entscheidend ist natürlich auch, daß die in den
Entwicklungsländern Verantwortlichen – da geht es
eben nicht nur um die Regierungen, sondern um alle, die
an dem Entscheidungsprozeß in einem Land beteiligt
sind – darauf achten müssen, daß die Reformanstren-
gungen wirklich vorangetrieben werden. Das ist eine
ganz wichtige Maßnahme. Denn was nützt uns all das,
was wir hier auf den Weg bringen, was wir den Ent-
wicklungsländern, besonders den armen Entwicklungs-
ländern, in einem fairen Angebot unterbreiten, wenn die
Mittel, die durch Schuldenerleichterung frei werden,
nicht für die Armen in der dritten Welt zur Verfügung
gestellt werden? Deshalb müssen wir bei allen unseren
Maßnahmen darauf achten: Schuldenerleichterung ist
nicht Selbstzweck, sondern sie muß ein Beitrag zur
Minderung der sozialen Ungerechtigkeit auf dieser Erde
sein.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so wie bei Abgeordneten der SPD)







(B)



(A) (C)



(D)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403513900
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Heute mor-
gen ist – in einer ganz anderen Debatte, nämlich zur
NATO – an diesem Pult erwähnt worden, daß einige aus
meiner Fraktion sowie auch einige aus der SPD-Fraktion
und aus anderen Fraktionen früher auf der Straße gewe-
sen seien, um gegen bestimmte Strategien der NATO zu
protestieren und eine Veränderung zu erwirken.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das verbindet uns!)


Viele von uns waren aber auch in den letzten Jahrzehn-
ten auf der Straße, etwa bei der IWF- und Weltbankta-
gung in Berlin, weil wir uns dagegen engagieren woll-
ten, dagegen protestieren wollten und eine Veränderung
der Politik erreichen wollten, die mit der hohen Ver-
schuldung der Länder des Südens zu tun hatte, weil wir
ein bißchen mehr Gerechtigkeit in der Weltwirtschaft
und Entwicklungschancen auch für die Länder des Sü-
dens erreichen wollten, sozusagen durch Demonstratio-
nen herbeizwingen wollten.

Jetzt stehen wir hier und haben eine Regierung und
eine Regierungskoalition, die die Entlastung der am
meisten verschuldeten Länder des Südens von hohen
Schulden in ihr Regierungsprogramm aufgenommen ha-
ben, eine Regierung, die eine Initiative dazu ergriffen
hat, und ein Parlament, das drauf und dran ist, diese Re-
gierung in diesem Bemühen zu unterstützen und ihr Hil-
fen auf dem Weg zum G-7-/G-8-Gipfel zu geben, weil
es in der Tat weltpolitisch unerträglich ist, daß es Länder
wie Nicaragua oder Ruanda gibt, um einmal zwei Län-
der in zwei verschiedenen Erdteilen zu nennen, die fünf
Jahre lang ihre gesamten Exporteinnahmen ausgeben
müßten, um ihre Schulden bei den Geberländern, den
Industrieländern des Nordens, und den internationalen
Organisationen zu bezahlen.

Die Folge davon ist, daß diese Länder und deren
Ökonomie derzeit faktisch keine Entwicklungschancen
haben. Wenn sie überhaupt Kredite bedienen können,
müssen sie dafür einen Großteil ihrer Einnahmen aus
dem Export – wenn man das auf Deutschland umrech-
net, wären das horrende Summen – aufbringen. Was viel
schlimmer ist: Die Landwirtschaft, die gesamte Wirt-
schaft ist auf die Bedürfnisse der Schuldenbedienung
auszurichten. Wir alle kennen Beispiele dafür, daß Län-
der in Afrika nicht mehr für die Versorgung bzw. die
Ernährung ihrer Bevölkerung Landbau betreiben, son-
dern dazu, um billiges Mastfutter für Kühe, Kälber und
Schweine in Deutschland und in der EU exportieren zu
können.

Wir wollen das ändern. Dazu soll unsere Initiative
dienen, die zunächst für eine Reihe von sehr wenigen
Ländern, für diejenigen, die am meisten verschuldet
sind, gelten soll. Mit unserem Antrag wollen wir errei-
chen, daß die Initiative der Bundesregierung unterstützt
wird. Es geht nicht um milde Gaben oder um Mitleid. Es

geht um erste Korrekturen hin zu einer gerechteren
Weltwirtschaftsordnung.

Denn die Schulden der jeweiligen Länder sind – zum
Beispiel durch Korruption oder Mißwirtschaft – nur zum
Teil hausgemacht. Sie sind häufig auch Folge von nach-
kolonialen Kriegen, Bürgerkriegen und Versuchen, eine
neue Ordnung in Afrika oder in Lateinamerika zu schaf-
fen. Aber sie sind eben auch – die Ministerin hat völlig
zu Recht darauf hingewiesen – zu einem ganz überwie-
genden Teil – dies ist im Hinblick auf die einzelnen
Länder unterschiedlich – Folge ungerechter Aus-
tauschverhältnisse und des Verfalls der Rohstoff- und
Agrarpreise. Wenn heute zum Beispiel ein Pfund Kaf-
fee in einem deutschen Supermarkt die Hälfte des Prei-
ses, der vor zwölf Jahren üblich war, kostet, bedeutet
dies, daß der Kaffeepflücker in Nicaragua oder Guate-
mala doppelt so lange arbeiten muß, um seinen Reis
oder sein Brot kaufen zu können.


(Zuruf von der CDU/CSU: Transfair-Kaffee kaufen!)


Die Länder benötigen doppelt so hohe Einnahmen aus
Exporten, um ihre Kredite bedienen zu können.

Gemeinsam mit Initiativen wie zum Beispiel „Erlaß-
jahr 2000“ fordern wir deshalb für die ärmsten Länder
eine faire Chance durch einen Erlaß der Schulden. Es ist
zwar einfach zu sagen – das sage ich jetzt in Richtung
PDS –: „Wir streichen alle Schulden“, aber nicht immer
richtig. – Das gilt gerade auch für die Streichung aller
Schulden aus Krediten der ehemaligen DDR. – Denn wir
haben in einer diesbezüglichen Anhörung unter anderem
erfahren – das konnte man auch schon vorher wissen –,
daß eine Streichung der Schulden die bestehenden Pro-
bleme vieler Länder nicht löst, sondern möglicherweise
nur verschiebt.

Deshalb muß die Bundesrepublik Deutschland bereit
sein, für eine Lösung zu kämpfen. Dabei muß darauf
hingewiesen werden – das steht in unserem Antrag –,
daß ein Erlaß der Schulden nicht nur den Oligarchien
bzw. den Reichen in den jeweiligen Ländern zugute
kommen darf. Es darf nicht dazu kommen, daß das
Geld, das dann zur Verfügung steht, in die Rüstung bzw.
in die Führung von Kriegen gesteckt wird. Uganda ist
dafür nur ein Beispiel. Es gibt viele andere Länder in
Afrika und auf anderen Kontinenten, wo wir ein solches
Vorgehen feststellen können. Die freiwerdenden Mittel
– so steht es in unserem Antrag – müssen im Sinne einer
nachhaltigen, auf die Bekämpfung der Armut ausge-
richteten Entwicklung eingesetzt werden. Das muß si-
chergestellt werden.

Sie, Herr Kollege Hedrich, haben gerade sieben Be-
dingungen gestellt, unter anderem die, es müsse eine
marktfreundliche Wirtschaftsordnung aufgebaut und
praktiziert werden. Das kann man vielleicht wünschen.
Auch darüber kann man sich streiten. Aber ob es richtig
ist, dies zu einer Bedingung für eine faire Entwicklung
zu machen, bezweifle ich. Man kann es auch übertreiben
und kann die Länder mit einem Netz von Bedingungen
überziehen, das einer freien, selbständigen und selbstbe-
stimmten Entwicklung im Wege steht.






(A) (C)



(B) (D)


Ich denke, das ist in Ihrem Antrag übertrieben. Der
Schuldenerlaß soll helfen, eine demokratische Entwick-
lung in den Ländern zu fördern und eine nachhaltige
Entwicklung für den Umweltschutz, für die Verbesse-
rung der Situation der Armen und für die Bildung zu
ermöglichen. Darüber sind wir uns im Ausschuß einig,
und das ist gut so.

Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den
wichtigsten Gläubigerländern. Sie verfügt darüber hin-
aus mit ihrer ökonomischen Kraft über besonderen Ein-
fluß in den internationalen Organisationen wie IWF und
Weltbank. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der
neuen Koalition – so ist es im Programm beider Koaliti-
onsparteien ebenso wie in der Koalitionsvereinbarung,
die Grundlage unserer gemeinsamen Regierungsarbeit
ist, festgeschrieben –, einen wesentlichen Beitrag zu lei-
sten und die Vorreiterrolle zu übernehmen, um endlich
zu einer anderen Wirtschaftsordnung zu kommen und
damit ein bißchen mehr soziale und ökonomische Ge-
rechtigkeit weltweit herzustellen.

Deshalb wünschen wir mit unserem Antrag der Bun-
desregierung viel Erfolg bei den Verhandlungen mit den
G-7-/G-8-Staaten. Unser Antrag soll dazu dienen, sie auf
dem Wege zu begleiten, zu unterstützen und ein wenig
den Weg zu weisen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403514000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Joachim Günther.


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1403514100
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der
Entschuldungsfrage geht es seit langem nicht mehr um
das Ob, sondern es geht darum, wer unter welchen Be-
dingungen entschuldet wird. Wenn Länder nicht in der
Lage sind, die Zinsverpflichtungen zu bedienen oder gar
zu tilgen, müssen die Ursachen erforscht und muß den
Ländern geholfen werden, aus eigener Kraft die Fähig-
keit zum Schuldendienst und zur Entwicklung des Lan-
des zu erlangen.

Dies entspricht auch unseren liberalen Forderungen
nach der Förderung der Selbsthilfebereitschaft und der
Selbsthilfefähigkeit der Partnerländer. Die in den 80er
Jahren rasch angewachsene Auslandsverschuldung vie-
ler Entwicklungsländer bleibt deshalb eine große Her-
ausforderung auf wirtschaftlichem und politischem Ge-
biet. Bei allem dringenden Handlungsbedarf muß jedoch
positiv vermerkt werden, daß die Verschuldungskrise
heute nicht mehr ein Problem ist, das die Staaten der so-
genannten dritten Welt alle in gleicher Weise betrifft.
Denn eine große Anzahl ehemals hochverschuldeter
Entwickungsländer hat inzwischen ihre Schuldenpro-
bleme unter Kontrolle oder zum Teil gelöst.

Entscheidend hierfür war die wirksame internationale
Zusammenarbeit von Gläubiger- und Schuldnerländern,
von internationalen Organisationen und Banken, die da-
für gesorgt hat, daß trotz der asiatischen Finanzkrise die

Schuldenprobleme einzelner Länder nicht zu einer Krise
des internationalen Finanzsystems wurden.

Bei aller Notwendigkeit, die Verschuldungssituation
insbesondere in den am höchsten verschuldeten Ent-
wicklungsländern in den Griff zu bekommen, muß auch
gesehen werden, daß die Verschuldung an sich kein Ma-
kel ist; denn jedes aufstrebende Unternehmen wäre
schlecht beraten, wenn es in der Entwicklungsphase sei-
nes Unternehmens ohne Kreditaufnahme arbeiten wür-
de.

Auch die Auslandsverschuldung ist zur Sicherstel-
lung des notwendigen Zustroms internationalen Kapitals
ein normaler und ökonomisch sinnvoller Vorgang. Dies
setzt jedoch voraus, daß mit diesem Geld tragfähige In-
vestitionen getätigt und Produktivitätssteigerungen er-
wirtschaftet werden, durch die im Endeffekt der Schul-
dendienst bedient werden kann.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Die langjährigen Erfahrungen mit teilweise geschei-

terten Ansätzen für eine wirtschaftlich und politisch ver-
nünftige Strukturanpassungspolitik in vielen Ent-
wicklungsländern haben gezeigt, daß dauerhaftes
Wachstum nur auf der Grundlage einer marktorientier-
ten Politik und durch Eigenanstrengungen der Schuld-
nerländer insgesamt erreicht werden kann.

Schuldenerleichterungen ohne durchgreifende Re-
formprozesse in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der
Entwicklungsländer sind keine Grundlage zur dauerhaf-
ten Lösung der Finanzprobleme.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich begrüße es daher ausdrücklich, daß dieser zentrale
Aspekt in dem vorliegenden Koalitionsantrag aufgegrif-
fen wurde.

Trotz der finanziellen Sonderbelastung infolge der
deutschen Wiedervereinigung hat sich die frühere Bun-
desregierung mit Unterstützung unserer Fraktion nach-
träglich für eine umfassende Entlastung hochverschul-
deter und armer Entwicklungsländer eingesetzt. Gegen-
über den am wenigsten entwickelten Ländern hat
Deutschland unter unserer Mitverantwortung Forderun-
gen aus der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit
von über 9 Milliarden DM erlassen. Darüber hinaus
wurde im Rahmen multilateraler Umschuldungsverein-
barungen gegenüber Entwicklungsländern auch auf For-
derungen aus Handelsgeschäften in einer Gesamthöhe
von 3 Milliarden DM verzichtet.

Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist überdies der Auf-
fassung, daß pauschale Schuldenerlasse auch unter
entwicklungspolitischen Gesichtspunkten keine befrie-
digende Lösung bilden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Erfahrungen aus vier Entwicklungsdekaden haben
gezeigt, daß Ent- bzw. Umschuldungsmaßnahmen in der
Regel nur dann einen wirkungsvollen Beitrag zur Errei-
chung des Zieles der nachhaltigen Entwicklung leisten
können, wenn sie gleichzeitig mit wirtschaftlichen In-

Hans-Christian Ströbele






(B)



(A) (C)



(D)


itiativen verbunden sind. Auch insofern stimmen wir mit
dem Ansatz des Koalitionsantrages überein.

Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt die Forde-
rung, das bestehende bilaterale und multilaterale Instru-
mentarium zur Erleichterung von Schulden besonders
verschuldeter Entwicklungsländer weiterzuentwickeln
und vor allem den Kreis der zugangsberechtigten Länder
zu erweitern.

Ferner gibt es immer auch aktuelle Situationen. Da ist
zwischen Soforthilfe, Krediten und Schuldenerlaß stets
ein Zusammenhang herstellbar. Nehmen wir als Beispiel
die vom Wirbelsturm „Mitch“ betroffenen Länder, die
durch diese Katastrophe in ihrer Entwicklung um viele
Jahre zurückgeworfen wurden. Hier gibt es aus unserer
Sicht keine Alternative zum Schuldenerlaß, zumal ein
Land wie Honduras sowieso zu den ärmsten Ländern
Lateinamerikas zählt.

Denken wir an die heute vom Kosovo-Elend, also an
die von den Folgen der Flucht und Vertreibung betroffe-
nen Anrainerstaaten Albanien und Mazedonien. Soweit
das Thema Schuldenerlaß hier überhaupt ein zentrales
Thema ist, muß es als Teil der Maßnahmen verstanden
werden, die ergriffen werden, um die Folgen des
Flüchtlingselends für die wirtschaftliche und sozialpoli-
tische Entwicklung dieser Länder abzumildern oder so-
gar umzukehren. In Mazedonien geht es darum, dem
Land trotz wachsender ethnischer Konflikte und extre-
mer Belastungen der innenpolitischen Situation durch
die Flüchtlinge zu helfen, einen eigenen marktwirt-
schaftlichen und demokratischen Entwicklungsweg zu
konsolidieren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Albanien – das wurde vorhin bereits gesagt –, nach
wie vor das Armenhaus Europas, wo es zum Teil hoff-
nungsvolle Entwicklungsanstrengungen gibt, sollten
wir angesichts der großen Hilfsbereitschaft darin unter-
stützen, die Lasten des Flüchtlingselends weiter zu
mildern.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bei der Entschuldung muß also für jedes Entwick-
lungsland im Hinblick auf seine spezifische Entwick-
lungssituation eine angemessene Antwort gefunden
werden.


(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

Ein genereller Schuldenerlaß ist nach wie vor nicht
sinnvoll,


(Zuruf von der SPD: Wer will denn das?)

da dann die Gerechten und die Ungerechten gleichbe-
handelt werden. Gute Regierungsführung im Rahmen
eines demokratischen und, Herr Kollege Ströbele, eines
marktwirtschaftlichen Entwicklungsweges muß mit
Kraft unterstützt werden. Der differenzierte Umgang mit
dem Thema „Entschuldung“ muß gesichert werden.

Unsere Fraktion hat sich bereits vor einem guten hal-
ben Jahr, gegen Ende der letzten Legislaturperiode, in

einem Entschließungsantrag für die HIPC-Initiative
ausgesprochen und dafür plädiert, das bestehende bi-
und multilaterale Entschuldungsinstrumentarium behut-
sam fortzuentwickeln. Nach unserer Auffassung ist diese
Initiative ein wesentlicher Schritt, um hochverschuldete
arme Länder substantiell von ihren erdrückenden Schul-
den zu entlasten, damit sie ihre wirtschaftlichen Re-
formprogramme und auch die Maßnahmen zur Armuts-
bekämpfung auf den Weg bringen können.

Diese Initiative fügt sich in den Rahmen der von uns
mitgetragenen internationalen Schuldenstrategie ein,
die die wirtschaftliche Reform der Schuldnerländer und
eine Verbesserung der weltwirtschaftlichen Rahmenbe-
dingungen vorsieht. Insofern begrüßen wir auch die in
dem vorliegenden Antrag enthaltene Aufforderung an
die Bundesregierung, sich für eine Verbesserung der
volkswirtschaftlichen Effizienz der hochverschuldeten
Länder einzusetzen und dafür zu sorgen, daß Handels-
hemmnisse abgebaut werden.

Die im Koalitionsantrag geforderte Umwandlung von
Altschulden in den sogenannten Gegenwertfonds, insbe-
sondere beim zukünftigen Erlaß von Forderungen aus
der ehemaligen DDR, ist zu begrüßen. Die frühere Bun-
desregierung hat mit Zustimmung unserer Fraktion be-
reits Schuldenumwandlungen von Forderungen gegen
Umweltschutzmaßnahmen und Armutsbekämpfung in
Höhe von 310 Millionen DM geleistet. Selbstverständ-
lich sollte von diesem Instrument insbesondere bei den
Ländern Gebrauch gemacht werden, die von Naturkata-
strophen heimgesucht wurden.

Ebenfalls im Gegensatz zum vorliegenden Antrag
sind wir der Ansicht, daß zukünftig von dem Instrument
nicht rückzahlbarer Zuschüsse grundsätzlich nicht
mehr, sondern eher weniger Gebrauch gemacht werden
sollte. Auch hier zeigt die Erfahrung, daß vernünftige
Kreditkonditionen zu verantwortlichem Umgang mit den
Mitteln und somit zu einer höheren Effizienz der ent-
wicklungspolitischen Projekte führen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das gleiche gilt für die Vergabe von Darlehen der inter-
nationalen Finanzinstitutionen.

Wir meinen, daß in begründeten Einzelfällen zwar
erhebliche Konzessionen hinsichtlich der Marktkondi-
tionen gemacht werden können, auf die Marktkonfor-
mität der Maßnahmen jedoch nicht völlig verzichtet
werden sollte. Die Forderung nach einer stärkeren Ein-
bindung des Privatsektors bei der Vorbeugung und
Lösung internationaler Finanzkrisen hingegen verstehen
wir als einen Anstoß, die von der F.D.P.-Bundes-
tagsfraktion seit langem geforderte privatwirtschaftliche
Komponente in der Entwicklungspolitik weiter zu för-
dern.

Unter diesen erwähnten Vorbehalten und unter Zu-
rückstellung von Bedenken in Einzelfragen stimmen wir
dem Koalitionsantrag zu.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Joachim Günther (Plauen)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403514200
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Adelheid Tröscher.


Adelheid Tröscher (SPD):
Rede ID: ID1403514300
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Günther, daß Sie unserem An-
trag zustimmen, ist eine große Freude und eine frohe
Botschaft für uns alle. Auf breiter Ebene ist allmählich
die Erkenntnis gewachsen, daß wir diese Entschul-
dungsinitiative brauchen. Wir wissen alle, daß auf die-
sem Gebiet etwas erfolgen muß und daß diese Initiative
Erfolg haben muß.

Unter uns Entwicklungspolitikern gibt es natürlich
Nuancen in den Auffassungen und Differenzen – das ist
klar –, aber insgesamt ist der Keil der gemeinsamen
Sicht, was die Entschuldung dieser ärmsten Länder an-
belangt, recht breit.

Die Entschuldungsinitiative muß Erfolg haben, denn
seit dem Beginn der „Schuldenkrise“ hat sich an der
Verschuldung vieler Staaten kaum etwas geändert. Für
viele Entwicklungsländer hat sich die Situation aller-
dings noch verschärft. Dies führt dazu, daß die Ent-
wicklungschancen vieler Länder durch die anhaltende
öffentliche Verschuldung massiv beeinträchtigt sind.
Anstatt zufließende Mittel in den Bereichen Armutsbe-
kämpfung und Bewahrung der natürlichen Lebens-
grundlagen einsetzen zu können, werden diese Mittel
hauptsächlich für die anstehenden Schuldendienste ver-
wendet. Das erinnert mich an Familien, die sich so ver-
schuldet haben, daß sie sich eigentlich gar nichts mehr
leisten können und nur noch von Graupensuppe leben,
damit sie die Schulden, die sie angehäuft haben, bezah-
len können. Hier muß geholfen werden.

Wir müssen Mittel für die Armutsbekämpfung haben.
Wir müssen Mittel für die Grundbildung haben. Wir
müssen Mittel für Umweltschutz- und Infrastrukturmaß-
nahmen sowie in ganz besonderem Maße für die Frauen-
förderung haben; denn letztere bleibt auf der Strecke,
wenn wir diese Gelder anders nutzen können. Über-
schuldung ist zu einem der am meisten entwicklungs-
hemmenden Probleme geworden. Selbst die Weltbank
hat das längst begriffen und neue Initiativen gestartet.
James Wolfensohn imponiert mir in diesem Punkte sehr.
Ich hoffe nur, daß er es fertigbringt, die Weltbank insge-
samt so zu reformieren, daß sie der Entwicklungspolitik
auf lange Sicht dient und dies diesen Ländern zugute
kommt.

Der von der Weltbank eingeschlagene Weg, einen
internationalen Fonds zur Entschuldung der multilate-
ralen Forderungen zu schaffen, könnte wegweisend
sein für die Entschuldung privater und bilateraler Forde-
rungen. Die bisherigen Bemühungen von IWF und
Weltbank gegenüber den hochverschuldeten armen Län-
dern sind kleine Schritte in die richtige Richtung. Den-
noch sind beide auch weiterhin gefordert, innovative
Maßnahmen zu ergreifen, um die Belastungen der armen
Schuldnerländer auf ein tragbares Niveau zu reduzieren.
Eine Aufrechterhaltung der vollen Finanzforderung ist
nicht zu rechtfertigen.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir den Men-
schen in den Entwicklungsländern ihre Chancen zu einer
umfassenden Entwicklung nicht nehmen wollen, müssen
wir jetzt neue Initiativen ergreifen und von unserer Seite
aus zur Entschuldung dieser Länder beitragen. Die Mi-
nisterin hat einige Länder genannt, die zuerst von dieser
Initiative erfaßt werden sollen. Manche haben schon
Angst davor, daß jetzt alle Länder auf einen Schlag ent-
schuldet werden sollen. Ich denke, wir werden uns das
ganz genau überlegen und die Kriterien dahin gehend
entsprechend anwenden, welche Länder an die Reihe
kommen.

Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits in der letzten
Legislaturperiode Vorschläge zur Entschuldungspro-
blematik erarbeitet und in den Deutschen Bundestag
eingebracht. Wir hatten seinerzeit die Vorschläge der
Weltbank begrüßt, einen internationalen Fonds für die
40 ärmsten Länder einzurichten. Dieser Fonds sollte un-
seres Erachtens unverzüglich auf einer internationalen
Schuldenkonferenz im Hinblick auf Umsetzung und
Konzeption diskutiert und geprüft werden. Wir haben
dazu auch eine Reihe von Fragen formuliert. Hierzu ge-
hören etwa, gegenüber welchen Ländern der Fonds Ent-
schuldungen durchführen könnte, welche Kriterien zu-
grunde gelegt werden sollten – es ist uns allen ja sehr
wichtig, daß es einen Kriterienkatalog für Entschul-
dungsmaßnahmen gibt –, ob im Zuge von Entschuldun-
gen Gegenwertfonds für entwicklungspolitische Maß-
nahmen in den betreffenden Ländern eingerichtet wer-
den sollen – ich bin froh, daß diese Gegenwertfonds
immer mehr auf die Zustimmung anderer Parteien tref-
fen –, wie man sicherstellt, daß die Entschuldungspro-
gramme auch wirklich der breiten Bevölkerung zugute
kommen und welche Anteile am Fonds durch Einlagen
der internationalen Finanzinstitutionen, IWF und Welt-
bank vor allen Dingen, aber auch den regionalen Ent-
wicklungsbanken selbst, durch einen Teilverkauf der
IWF-Goldreserven, durch eine Erhöhung von Sonder-
ziehungen und gegebenenfalls durch bilaterale Einlagen
abgedeckt werden könnten.

Hinzu kommt, daß es sinnvoll ist, in bestimmten Fäl-
len der Entwicklungsfinanzierung diese nur noch in
Form von Zuschüssen zu gewähren. Das wäre für die
betreffenden Länder sicher sehr viel besser.

Darüber hinaus sollten wir prüfen, wo es noch mehr
Spielräume für Entschuldungsmaßnahmen gibt, vor al-
lem dann, wenn der Schuldendienst armer Entwick-
lungsländer nicht ihrer Leistungsfähigkeit entspricht und
deshalb Investitionen in Entwicklung verhindert. Auf
deutsch: Mit neuen Krediten werden alte Schulden be-
zahlt. Das ist absurd. Dies kann nicht so weitergehen;
dies müssen wir ändern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Daher begrüße ich es außerordentlich – ich bin wirk-
lich sehr froh darüber –, daß die neue Bundesregierung
das aufgegriffen hat. Hier muß ich die Ministerin wirk-
lich loben. Denn sie hat das von Anfang an zu ihrem
Thema gemacht und das bis zu dieser Entschuldungs-






(B)



(A) (C)



(D)


initiative durchgezogen. Ich hoffe sehr, daß Sie damit
Erfolg haben werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hier geht es darum, daß die Menschen in den hochver-
schuldeten Ländern eine neue Chance für nachhaltiges
Wachstum haben und Innovationen und eine sozial ge-
rechte und ökologisch verträgliche Entwicklung eröffnet
bekommen.

Mit der Kölner Schuldeninitiative hat die Bundesre-
gierung die Anregung der vielen entwicklungspolitisch
engagierten Einzelpersonen und Organisationen in unse-
rem Land, die sich seit Jahren für eine weitgehende Ent-
schuldung der Entwicklungsländer einsetzen, aufgegrif-
fen. Beispielhaft seien die zahlreichen Gruppen, Initiati-
ven, NGOs, Kirchengemeinden und Entwicklungsorga-
nisationen an dieser Stelle einmal erwähnt, die sich im
Rahmen der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ zusammenge-
schlossen haben. Ich finde, das ist eine einmalige Bür-
gerbewegung. Man sollte das wirklich auch einmal ganz
deutlich sagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Und sie loben!)


– Und sie loben; natürlich.
Wir begrüßen deswegen die Vorschläge der Bundes-

regierung, die Vorlaufzeit für Schuldenerlasse im Rah-
men der HIPC-Initiative für die ärmsten hochverschul-
deten Länder zu verkürzen, den Ländern bis zum Jahr
2000 Klarheit über den Zeitpunkt des Schuldenerlasses
zu verschaffen, die Leistungsfähigkeit bzw. das Ent-
wicklungspotential jedes einzelnen von der Verschul-
dung betroffenen Staates stärker zu berücksichtigen, zu
insgesamt abgestimmten Vorgehensweisen im Pariser
Club zu kommen und den Außenwirtschaftssektor in den
Entwicklungsländern durch Finanzierung von Bera-
tungsprojekten in der Entwicklungszusammenarbeit zu
stärken. Dazu gehören die NGOs, dazu gehören aber
auch unsere staatlichen Einrichtungen. Ich frage mich,
warum sie eigentlich vor Ort nicht wirklich gut zusam-
menarbeiten sollten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Initiative
der Bundesregierung setzt die Bundesrepublik Deutsch-
land ein Zeichen der Solidarität und der Partnerschaft.
Das zeigt, daß wir uns zusammen mit unseren G-7-
Partnern und internationalen Finanzinstitutionen in Zei-
ten fortschreitender Globalisierung wirklich zusam-
mentun können und uns für die Belange der hochver-
schuldeten ärmsten Entwicklungsländer einsetzen. Dazu
gehört auch, daß die Schuldnerländer Maßnahmen hin-
sichtlich der Stärkung der Demokratie und der Partizi-
pation, der Wahrung der Menschenrechte, von „good
governance“ – und dazu gehört natürlich das leidige
Thema Korruption – in all seinen Aspekten und der
Rechtsstaatlichkeit ergreifen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Entwicklung
braucht Entschuldung. Wir, die SPD-Bundestags-
fraktion, begrüßen daher außerordentlich die Gipfel-
initiative, die sich positiv auf die Lebenssituation von

Millionen von Menschen in vielen Ländern auswirken
kann und auswirken wird.

Ich lade Sie, alle Fraktionen dieses Hauses, ein, dem
Antrag der Koalitionsparteien zuzustimmen, damit die
Entwicklungspolitiker wie so oft – warum nicht auch
hier? – mit einer Stimme sprechen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403514400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.


Carsten Hübner (PDS):
Rede ID: ID1403514500
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen der Regierungsfraktionen! Frau Ministe-
rin! In Ihrer Koalitionsvereinbarung ist zu lesen: „Inter-
nationale Entschuldungsinitiativen für die ärmsten und
höchstverschuldeten Länder werden unterstützt.“ Zu-
mindest diesem einen Satz zur Entwicklungspolitik fol-
gen mit der angekündigten Schuldeninitiative 1999 nun
erste, wenn auch außerordentlich zaghafte Schritte. Das
ist gut so, aber – das müssen Sie auch zugeben – das
Versprechen war ja auch bescheiden und unkonkret
genug.

Selbst die jetzt eingeleiteten Schritte lassen strukturell
wie quantitativ leider wenig Innovatives und Neues er-
kennen. Auch das muß, denke ich, gesagt werden. Statt
dessen bewegen Sie sich in der Praxis – ich denke, das
hat die Rede des Kollegen Hedrich deutlich gemacht –
im wesentlichen in der Logik und den Spielräumen der
bisherigen Regierung. Und diese waren längst nicht hin-
reichend, gaben oft keine überzeugenden Antworten auf
die Herausforderungen, mit denen wir auf Grund einer
ungerechten Weltwirtschaftsordnung, Armut und Krieg
in weiten Teilen der Erde konfrontiert sind.

Ein erster Schritt also, für den Sie sich nicht allzu
dolle auf die Schulter klopfen sollten, gerade wenn wir
uns vor Augen halten, daß er ohne den Druck der mitt-
lerweile über 500 Organisationen der Kampagne „Er-
laßjahr 2000“ sicher nicht zustande gekommen wäre.
Denn es sind, wie so oft, die NGOs, die dafür gesorgt
haben, daß ein Problembewußtsein überhaupt erst ent-
standen ist, daß Blockaden überwunden und von der
Politik praktische Konsequenzen gezogen wurden.

Aber genau diese Initiativen, meine Damen und Her-
ren, sind es auch, die sich inzwischen sehr kritisch zur
Kölner Schuldeninitiative geäußert haben, sowohl was
den Umfang als auch was die politischen Eckwerte die-
ses Vorstoßes betrifft. In einer Erklärung von WEED
heißt es etwa:

Einen radikalen Plan für Schuldenerlasse stellt sie
– also die Initiative –

ebensowenig dar, wie sie einen neuen Start für eine
zukunftsfähige Entwicklung einleiten wird. Eine

Adelheid Tröscher






(A) (C)



(B) (D)


glaubwürdige Rolle als Vorreiter in der internatio-
nalen Schuldenpolitik kann die Bundesregierung
nur dann für sich reklamieren, wenn sie konsequent
ihre bilateralen Handlungsmöglichkeiten aus-
schöpft und sich für weitreichende Schuldenerlasse
und strukturelle Reformen auf der multilateralen
Ebene einsetzt.

Sie wissen so gut wie ich: Insbesondere bilateral hät-
ten mit dem Haushaltsentwurf 1999 deutlichere Zeichen
gesetzt werden müssen. Ich nenne hier nur einige Stich-
punkte: zum Beispiel den sofortigen und hundertpro-
zentigen Erlaß für die ärmsten Staaten über die
80-Prozent-Quote des Pariser Clubs hinaus oder die
konsequente Streichung der DDR-Schulden in Höhe von
5,5 Milliarden DM, deren Legitimität durchaus nicht nur
von uns angezweifelt wird und die sich gegebenenfalls,
etwa bei undemokratischen Regimen, zumindest in Ge-
genwertfonds mit einer sinnvollen Zielsetzung und
Kontrolle umwandeln ließen.

Darüber hinaus sind Schritte längst überfällig hin-
sichtlich einer konsequenten Reform der Kreditvergabe
über Hermes-Bürgschaften mit Zielrichtung Transparenz
und Nachhaltigkeit, also nach sozialen, entwicklungs-
politischen und ökologischen Kriterien. Schließlich ma-
chen genau diese Kredite bekanntlich einen Löwenanteil
der bilateralen Forderungen der Bundesrepublik aus.

Und last, but not least ist längst überfällig, worauf
auch der Kollege Hedrich hingewiesen hat: Dem Ziel,
0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für öffentliche
Entwicklungshilfe einzusetzen, werden wir mit diesem
Haushalt wahrscheinlich nicht näherkommen, sondern –
das befürchte ich – wir werden uns davon weiter entfer-
nen. Damit werden auch die notwendigen Zuschüsse für
hochverschuldete arme Länder in weite Ferne rücken.
Eines nämlich muß klar sein: Entschuldung darf nicht
auf Kosten des eh schon sehr beschränkten Etats der
Entwicklungszusammenarbeit gehen.

Sagen Sie mir nicht, daß das nicht zu bezahlen sei
von einem Staat, dessen Verteidigungshaushalt milliar-
denschwer ist und der täglich Millionen Mark für einen
irrsinnigen und perspektivlosen Krieg aus dem Fenster
wirft! Wann, meine Damen und Herren von der Regie-
rungskoalition und natürlich auch von CDU/CSU und
F.D.P. – das frage ich Sie ernsthaft –, hat die Bundesre-
publik in ihrer Geschichte jemals soviel Geld für eine
gerechtere Weltwirtschaftsordnung, gegen Armut und
Verelendung sowie zur Krisenprävention und Friedens-
sicherung eingesetzt wie für die Finanzierung der Bun-
deswehr und, wie in den letzten Jahren, für verschiedene
internationale Militäreinsätze? Wenn ich nicht irre, hat
allein die Bundesrepublik 16 Milliarden DM zur Finan-
zierung des Irak-Krieges beigesteuert; das macht rund
zwei Haushalte des BMZ aus. Das muß man sich einmal
vorstellen.

Meine Damen und Herren von der Regierungskoaliti-
on, ich will dennoch nicht bestreiten, daß Sie sich, wie
Ihrem Antrag zu entnehmen ist, schon eines Teils der
Kritik angenommen und versucht haben, diese im For-
derungsteil zu verarbeiten. Es bleibt aber weiterhin un-
klar, in welchem Zeitraum damit begonnen werden soll.

Wann, wenn nicht jetzt mit dem Haushalt 1999, soll mit
ersten Schritten in Richtung Abbau bilateraler Schulden
begonnen werden?

Ich möchte noch einen weiteren Aspekt ansprechen,
und zwar die Frage der Verantwortung für die hohe
Schuldenlast, unter der viele Staaten leiden und die in
der Regel von der dortigen Bevölkerung ausgebadet
wird. Die hohe Schuldenlast liegt nämlich mitnichten
allein bei den ärmsten und hochverschuldeten bzw. bei
den am wenigsten entwickelten Staaten, wobei ich na-
türlich nicht die Verantwortung der häufig wiederum
von den Industrienationen gestützten Eliten in diesen
Ländern abstreiten will. Dennoch: Die Industriestaaten
des Nordens mit ihrer kolonialen Vergangenheit und ih-
rer überwiegend gewinn- und eigennutzorientierten Ge-
genwart, die Geberländer und multilateralen Geberin-
stitutionen wie IWF und Weltbank tragen eine wesentli-
che Verantwortung für die Schuldenkrise, die nun schon
seit Ende der 70er Jahre anhält. Dieser Verantwortung
müssen sie sich endlich stellen und ihr im Sinne der
Menschen dort gerecht werden. Das betrifft insbesonde-
re Deutschland als einen der größten Geber und als An-
teilseigner an den multilateralen Geberinstitutionen.

Die in langwierigen und zähen Verhandlungen aus-
gehandelten Erleichterungen und Umschuldungen haben
in der Vergangenheit nachweislich keinen Neuanfang
für Länder wie zum Beispiel Nicaragua – mit inzwi-
schen 29 Umschuldungsabkommen – oder für die afri-
kanischen Staaten gebracht. Strukturanpassungspro-
gramme von IWF und Weltbank haben die Schulden-
spirale statt dessen weitergedreht und zum Teil so-
zioökonomische Abraumhalden zurückgelassen. Wer
das heute noch leugnet, der fällt sogar hinter den zag-
haften Lernprozeß zurück, den die Weltbank derzeit in
der Entschuldungsfrage durchmacht, weshalb mit Blick
auf den IWF eigentlich nur noch gesagt werden kann,
daß seine sogenannten Strukturanpassungsprogramme
schlichtweg abgeschafft gehören und statt dessen seitens
der Geberländer und -institutionen endlich mit dem
Aufbau eines fairen Insolvenzrechts begonnen werden
muß.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Da haben Sie recht!)


Aber mit einer einmaligen Entschuldung allein – ich
denke, da herrscht fraktionsübergreifend Einigkeit –
werden die meisten Länder nicht vom Tropf kommen.
Zahlreiche Maßnahmen und Programme müssen diesen
Prozeß flankieren. So zum Beispiel müssen Weltbank
und IWF, das gesamte Instrumentarium sowie der Krite-
rienkatalog des Schuldenmanagements grundsätzlich re-
formiert werden, muß sich der IWF aus der Entwick-
lungszusammenarbeit zurückziehen, muß eine Tobin-
Tax eingeführt werden, tut eine internationale Banken-
aufsicht not und muß der Handel mit risikoreichem Ka-
pital unterbunden oder zumindest restriktiv flankiert
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS und der SPD)


Außerdem darf die Entwicklungspolitik nicht in dem
Sinne zusätzlich konditioniert werden – dies ist vorhin

Carsten Hübner






(B)



(A) (C)



(D)


angeklungen –, daß sie zu einem von den Reichen dik-
tierten Korsett für die Armen wird. Das hätte mit einer
Partnerschaft wenig zu tun. Diese, so denke ich, streben
wir gemeinsam an.

Letztendlich bedeutet all das nichts anderes, als daß
die Bundesrepublik gemeinsam mit den anderen Indu-
strienationen zukünftig endlich bereit sein muß, über
schöne Worte und temporäre Betroffenheit hinaus wirk-
liche Schritte zur Herstellung einer gerechten Weltwirt-
schaftsordnung zu unternehmen – nicht mehr und nicht
weniger. Das heißt, die Ungleichgewichte sind aktiv ab-
zubauen und die noch verbliebenen Strukturen dürfen
nicht durch Druck zu wirtschaftlicher Liberalisierung
und ökologischem und sozialem Standortwettbewerb
zerschlagen werden. Im Gegenteil, der Schutz von re-
gionalen und eigenständigen Wirtschaftskreisläufen und
Entwicklungsansätzen in den Ländern des Südens und
des Osten muß akzeptiert und ausgeweitet werden.

Das sind Rahmenbedingungen, die in Ihrem Antrag
leider deutlich zu kurz kommen. Den Teufelskreis der
Unterentwicklung, zu dem die Überschuldung unstrittig
gehört, werden wir aber nur so durchbrechen können.

Danke.

(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Dr. R. Werner Schuster [SPD])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403514600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Frank Hempel.


Frank Hempel (SPD):
Rede ID: ID1403514700
Sehr geehrte Frau Präsiden-
tin! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in
Vorbereitung des G-7-Gipfels in Deutschland die Kölner
Schuldeninitiative ergriffen. Ziel ist es, den ärmsten
hochverschuldeten Entwicklungsländern durch zusätzli-
che Schuldenerleichterungen zu helfen. Die Fraktion der
SPD begrüßt ausdrücklich diesen Schritt.

Die Bundesregierung verbindet mit dieser Initiative
die nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung in
den ärmsten Entwicklungsländern. Viele entwicklungs-
politisch engagierte Nichtregierungsorganisationen,
Gruppen, Kirchen und Einzelpersonen haben sich im
Rahmen der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ zur Entschul-
dungsproblematik geäußert. Die Bundesregierung hat
die Hinweise dankbar in ihrer Initiative aufgegriffen. Ih-
re Initiative richtet sich an arme Entwicklungsländer mit
einer Schuldenlast, die so hoch ist, daß die zu zahlenden
Zinsen und Tilgungen eine nachhaltige und auf die Be-
seitigung von Armut und Ungerechtigkeit gerichtete
Entwicklung stark behindern.

Die Überschuldung der armen Länder ist unter ande-
rem eine Folge von ungewöhnlichen wirtschaftlichen
Belastungen der Vergangenheit. Beispielhaft seien der
Rückgang der Rohstoffpreise, hohe internationale Zin-
sen, aber auch die mangelnde Entwicklungsorientierung
der Schuldnerregierungen genannt. Die unvorsichtigen
Kreditvergabepolitiken öffentlicher und privater Gläubi-
ger taten ihr übriges.

Ein weiterer Aspekt der Überschuldung und ihrer Ur-
sachen ist am Beispiel der Länder im südlichen Afrika
bisher weitestgehend außer acht gelassen worden. Ich
spreche von den sogenannten Apartheidschulden. Ich
bitte, meine folgenden Ausführungen als Denkanstoß zu
nehmen. Mir ist selbstverständlich bewußt, daß Südafri-
ka selbst nicht für die HIPC-Initiative in Frage kommt,
da es nicht zu den ärmsten Ländern gehört. Die Politik
des Apartheidregimes hatte jedoch Auswirkungen auf
die Nachbarstaaten.

Was sind nun Apartheidschulden? Thabo Mbeki, de-
signierter Nachfolger Nelson Mandelas in Südafrika,
sagte:

Das herrschende Apartheidregime bürdete dem
Land eine beispiellose Schuldenlast auf, um durch
deren Übernahme das Machtverhältnis während der
Übergangsphase von der Apartheid zur Demokratie
zugunsten der antidemokratischen Gruppierungen
zu verschieben und die demokratische Bewegung
zu schwächen.

Von der internationalen Öffentlichkeit bislang kaum
wahrgenommen, geht nach Meinung von Finanzexper-
ten ein hoher Anteil der Verschuldung der Länder im
südlichen Afrika auf das Konto des ehemaligen Apart-
heidsystems.


(Beifall bei der SPD)

Damit beschränken sich die Apartheidschulden nicht nur
auf Südafrika und seine unverantwortliche Schulden-
politik. Jahrelang destabilisierte es die sogenannten
Frontstaaten, die ein Opfer von Rebellenbewegungen
wurden, wie zum Beispiel der Renamo in Mosambik
und der Unita in Angola. Die Stellvertreterkriege wur-
den massiv von Südafrika unterstützt und verwüsteten
die gesamte Region. Millionen Menschen wurden zu
Flüchtlingen. Einer ganzen Generation wurde eine schu-
lische Ausbildung vorenthalten. Aber auch Simbabwe,
Sambia und Tansania waren Zielscheibe des Apart-
heidterrors und litten stark unter der von Südafrika ver-
hängten Handelsblockade.

Zwar gehören zu der 14köpfigen Staatengruppe
der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrikas,
SADC, mit Südafrika und Mauritius die reichsten und
proportional am wenigsten verschuldeten Länder des
Kontinents. Aber mit Angola, der Republik Kongo, mit
Malavi, Mosambik, Sambia und Tansania gehören auch
die ärmsten der hochverschuldeten Länder des Südens
zu ihren Mitgliedern.

Gewiß, Mißwirtschaft und Korruption sind auch Ur-
sachen der Verschuldung in diesen Ländern. Das dama-
lige Apartheidregime Südafrikas ist jedoch durch seine
Destabilisierungspolitik mitverantwortlich zu machen.
Bei der Frage der Entstehung von Schulden und Armut
in der Region ist das auf alle Fälle zu berücksichtigen.

Ich unterstütze ausdrücklich, daß beim Zugang zur
HIPC-Initiative eine Erleichterung angestrebt wird. Die
bisher geforderten sechs Jahre erfolgreicher Durchfüh-
rung eines Strukturanpassungsprogramms sind zu lange
und unakzeptabel. In den Anhörungen des Ausschusses

Carsten Hübner






(A) (C)



(B) (D)


ist darauf hingewiesen worden. Das Institut Südwind sei
hier stellvertretend genannt.

Eine Halbierung des Zeitraumes sollte angestrebt
werden. Ich begrüße, daß die Bundesregierung dieses
Problem erkannt hat und an einer Verkürzung arbeitet.
Frau Ministerin hat dies in ihrer Rede bestätigt.

Ich freue mich, daß die Bundesregierung grund-
sätzlich ihre Bereitschaft zum Erlaß der Ex-DDR-
Forderungen erklärt hat. Dabei handelt es sich ja um
einen Sonderfall der bilateralen Handelsschulden. Mo-
sambik, aber auch Angola sind beispielsweise davon
betroffen. Die Umwandlung der Ex-DDR-Forderungen
in Gegenwertfonds für Vorhaben der Armutsbekämp-
fung oder der Stärkung der Demokratiebewegungen in
den ärmsten Ländern ist ein wichtiger Ansatz.

Gerade in Mosambik und Angola müssen wir dabei
auf folgende Entwicklungsziele achten: daß es erstens
zu einer Konsolidierung des Friedens- und des Versöh-
nungsprozesses kommt, daß zweitens die Demokratisie-
rung der Gesellschaft und der Aufbau der Zivilgesell-
schaft vorangetrieben werden, daß drittens die ökonomi-
sche und soziale Reintegration von Flüchtlingen, Ver-
triebenen, demobilisierten Soldaten, Kriegsversehrten
und kriegstraumatisierten Kindern erfolgt, daß viertens
die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigt vorange-
trieben wird und daß fünftens die Armutsbekämpfung
im Auge behalten wird. Dies erfordert hohe Anstren-
gungen der in Frage kommenden Länder. Unsere Initia-
tive verschafft ihnen mehr finanziellen Spielraum, um
das anzupacken.

Generell ist jedoch zu sagen, daß wir den Regierun-
gen, denen wir eine Hilfe in Aussicht stellen, sehr ge-
nau auf die Finger schauen müssen. Wir erwarten
selbstverständlich „good governance“ in all seinen
Formen wie die Bekämpfung der Korruption sowie die
Wahrung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlich-
keit. Es ist auch nicht hinzunehmen, wenn Regierungen
von Staaten, die zu den ärmsten Ländern Afrikas gehö-
ren, in Kampfhandlungen im Kongo involviert sind,
was selbstverständlich auch für Angola gilt. Überpro-
portionale Rüstungsausgaben sind dabei ebenfalls zu
hinterfragen.

Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, die Bundesre-
gierung greift all diese Aspekte in ihrer Initiative auf. Es
ist festzustellen, daß für die ärmsten verschuldeten Ent-
wicklungsländer ein Weg aus ihrer Verschuldung hin zu
einer nachhaltigen Entwicklung aufgezeigt wird. Die In-
itiative ist ein Schritt in die richtige Richtung, und ich
bedanke mich ausdrücklich bei Ministerin Heidi
Wieczorek-Zeul für ihr Engagement in der Sache. Statt
wie in der Vergangenheit restriktiv geht die neue Bun-
desregierung die Problematik sehr konstruktiv an.

Herzlichen Dank noch einmal an die Frau Ministerin
sowie Dank an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, für
Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403514800
Ihnen, lieber
Herr Kollege Hempel, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer
ersten Rede im Bundestag.


(Beifall)

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Ralf Brauk-

siepe.


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1403514900
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bedrückend hohe
Verschuldung vieler gerade auch sehr armer Entwick-
lungsländer gehört sicherlich zu den traurigsten Erfahrun-
gen, die wir in der Entwicklungspolitik der letzten Jahr-
zehnte gemacht haben. Hier sollten wir gemeinsam nach
Lösungswegen suchen. Ich erkenne deshalb ausdrücklich
an, daß die rotgrüne Bundesregierung mit ihrer Entschul-
dungsinitiative für den G-8-Gipfel in Köln die Politik der
früheren Bundesregierung konsequent fortsetzt und ihren
Kurs der Entschuldungs- und Umschuldungspolitik weiter
betreibt. Deshalb hat der Kollege Hedrich bereits für die
CDU/CSU-Fraktion erklärt, daß wir an unserem grund-
sätzlichen Ja zu einer Politik der Schuldenerleichterung
und des Schuldenerlasses gerade für die Ärmsten der Ar-
men entschieden festhalten.

Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hatte des-
wegen auch im Bereich des bi- und multilateralen Schul-
denerlasses für die ärmsten Länder schon in den letzten
Jahren dafür gesorgt, daß immerhin über 9 Milliarden DM
an Schulden nicht zurückgezahlt werden müssen. Ich
glaube, man muß das hier doch noch einmal in Erinne-
rung rufen, weil in manchen Reden von Vertretern der
Regierungsfraktionen der Eindruck erweckt wurde, es
fange mit der Entschuldung jetzt erst an.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich muß allerdings auch feststellen, daß Ihre Ent-

schuldungsinitiative darüber hinaus eigentlich kaum
neue Akzente enthält. Da, wo neue Akzente gesetzt
werden, halte ich Zweifel an ihrer Sinnhaftigkeit für an-
gebracht.

Ich komme in diesem Zusammenhang auf die Vor-
stellung in Ihrer Initiative zurück, einen Schuldenerlaß
für die ärmsten Entwicklungsländer grundsätzlich nicht
mehr erst nach einer Frist von sechs Jahren, sondern be-
reits nach drei Jahren zu gewähren. Ich glaube nicht, daß
man ernsthaft erwarten kann, daß bereits nach drei Jah-
ren der Nachweis nachhaltiger Reformbemühungen er-
bracht ist.

Das ist im übrigen kein Sonderproblem der Entwick-
lungsländer. Herr Kollege Schuster, Sie haben ange-
mahnt, daß man nicht nur auf die Entwicklungsländer
zeigen sollte. Ich will das gerne tun: Wir haben in den
letzten Jahren in Deutschland eine Reihe von Reformen
durchgeführt, von denen anerkannte internationale Or-
ganisationen wie die OECD gesagt haben: Genau diese
Reformen gehen in die richtige Richtung. Wir müssen
aber feststellen, daß Sie die Reformen, die die interna-
tionalen Organisationen für richtig halten, innerhalb von
recht kurzer Zeit zurückgenommen haben.


(Zuruf von der SPD: Das war ein richtiger Schritt!)


Frank Hempel






(B)



(A) (C)



(D)


Das heißt, wenn wir auf Kredite angewiesen wären,
würde man uns ebenfalls sagen: Ihr habt im letzten hal-
ben Jahr Schritte unternommen, die eure internationale
Kreditwürdigkeit erheblich herabsetzen. So ist die Lage.
Man kann also sagen, daß drei Jahre keine allzu lange
Zeit für Reformen sind. Diese Feststellung kann man
auch bezüglich der eigenen Situation treffen.

CDU und CSU hegen große Sympathie für die Initia-
tiven nicht zuletzt kirchlicher Gruppen und anderer
Nichtregierungsorganisationen, die sich unter dem
Stichwort „Erlaßjahr 2000“ für einen Schuldenerlaß
stark machen. Diese Initiativen leisten einen unverzicht-
baren Beitrag zur Bewußtseinsbildung in unserem Land.
Das Bewußtsein dafür, daß in der Frage der Überschul-
dung der Entwicklungsländer etwas getan werden muß,
ist zweifellos unerläßlich.

Ich finde es im übrigen schon bemerkenswert, wenn
in diesem Zusammenhang von Misereor auch ein quali-
fizierter Schuldenerlaß in der Form gefordert wird, daß
freiwerdendes Geld in Projekte für die Armen, zum Bei-
spiel im Gesundheits- und Bildungsbereich, gesteckt
werden soll. Diese Haltung ist nicht weit entfernt von
unserer Vorstellung von Gegenwertfonds, mit denen
Gelder in Entwicklungsländer in sinnvolle Projekte und
Maßnahmen geleitet werden sollen. Es geht eben nicht
um einen pauschalen Schuldenerlaß ohne Wenn und
Aber, von dem allein gerade die Menschen in den Ent-
wicklungsländern nichts hätten.

Ob Sie von den Regierungsfraktionen nun die Forde-
rungen der Kirchen und Nichtregierungsorganisationen
wirklich in dem Maße aufgegriffen haben, wie Sie für
sich in Anspruch nehmen, halte ich im übrigen für frag-
würdig. Auf Grund vieler Gespräche mit Initiatoren und
auf Grund ihrer eigenen offiziellen Publikationen weiß
ich, daß sie Ihre Initiativen nicht für weitgehend genug
halten. Ich halte diesen Standpunkt für menschlich ver-
ständlich und kritisiere deshalb Ihre Politik in diesem
Punkt nicht. Sie haben jetzt in der Regierungsverant-
wortung – anders als früher – auch mit der Notwendig-
keit zu tun, das Wünschenswerte mit dem in Einklang zu
bringen, was auch sachgerecht ist.

Bei der Frage, was sachgerecht ist, muß man sich
sicherlich noch einmal vor Augen führen, was denn
eigentlich die Ursachen der heutigen Verschuldenspro-
blematik sind, worin die heutigen Probleme im wesent-
lichen liegen und welche Lösungsansätze man daraus
ableiten kann. Wenn wir das in seriöser Weise tun wol-
len, dann können wir natürlich nicht so vorgehen, wie es
Ihr Schweriner Koalitionspartner in seinem Antrag vor-
schlägt. Er erweckt in seinem Antrag den Eindruck, als
hätte der Internationale Währungsfonds 1917 die Okto-
berrevolution gewonnen und wäre deshalb für die russi-
sche Politik der letzten 80 Jahre und für die Rußland-
krise von heute verantwortlich. So einfach kann man es
sich eben nicht machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das mit Abstand meiste Geld haben wir im übrigen in

den letzten Jahren für die Überwindung Ihrer Hinterlas-
senschaften ausgegeben und nicht für Kriege und Kon-

flikte anderswo in der Welt. Das sei noch einmal in Er-
innerung gerufen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Ausgangspunkt der internationalen Verschul-

dungskrise war ja nun einmal die großzügige sowohl
öffentliche als auch private Kreditvergabe an Entwick-
lungsländer insbesondere in den siebziger Jahren, als das
Geld noch ein bißchen lockerer saß. Es ist ja kein Zufall,
daß die Verschuldungsproblematik an Hand der Proble-
me Mexikos im Jahre 1982 öffentlichkeitswirksam wur-
de, das heißt an Hand der Verschuldungsprobleme eines
Landes, das im Vergleich zu anderen Entwicklungslän-
dern noch relativ wohlhabend war und ist. Deswegen
trifft ganz objektiv die Feststellung zu, daß Verschul-
dung nicht automatisch das größte Armutsproblem ist.
Erst später nach ähnlich fortgeschrittenen lateinamerika-
nischen Schwellenländern gerieten auch ärmere Ent-
wicklungsländer verstärkt in den Sog der internationalen
Verschuldungskrise.

Zunächst einmal waren diejenigen Länder besonders
stark betroffen, die zuvor in die vergleichsweise glück-
liche Lage gekommen waren, überhaupt als kreditwür-
dig angesehen zu werden und insofern in der Entwick-
lung schon relativ weit fortgeschritten zu sein.

Das Problem ist doch gewesen, daß das erhaltene
Geld schlecht angelegt worden ist, daß es in einer ineffi-
zienten Verwaltung versickert ist, daß es infolge von
Korruption und Vetternwirtschaft veruntreut oder in
Prestigeobjekten versandet ist, daß es Opfer einer dirigi-
stischen Politik des Staates geworden ist, der sich viel zu
stark in die Wirtschaft zum Nachteil der Menschen ein-
gemischt hat, und daß – auch das gehört zur Wahrheit –
das Geld auf Grund vielfach noch kolonialbedingter, für
die Entwicklungsländer ungünstiger Handelsstrukturen
nicht die erforderliche und erwünschte Wirkung erzielen
konnte.

Das Zusammenspiel einer undifferenzierten großzü-
gigen Kreditvergabe mit dem ineffizienten Mitteleinsatz
hat also zu der Verschuldung beigetragen. Das ist der
objektive Befund. Es kann nicht um Schuldzuweisung
an irgendeine Seite gehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist kein objektiver Befund!)


Was sind denn die heutigen Hauptprobleme der ver-
schuldeten Länder? Das Problem ist doch nicht, daß die
Schulden einfach zurückbezahlt werden müssen. Wenn
das so wäre, dann wären Verschuldungskrisen zumin-
dest vorübergehend recht schnell beendet, sobald ein
Land seine Zahlungsunfähigkeit erklären würde. Dann
wäre der Handlungsbedarf gar nicht so groß, den man
zur Bekämpfung dieser Schuldenkrise hätte. Aber das
Problem ist ja nicht nur, daß das Geld zurückgezahlt
werden muß. Vielmehr ergibt sich als Konsequenz aus
dem ineffizienten Einsatz der erhaltenen Kredite das
Problem, daß diesen Ländern heute neues Geld fehlt –
Geld, das sie dringend brauchen, um neue entwicklungs-
fördernde Maßnahmen finanzieren zu können.

Dr. Ralf Brauksiepe






(A) (C)



(B) (D)


Deshalb warne ich in diesem Zusammenhang vor
übertriebenen Hoffnungen in die Wirkungen des von
Ihnen angesprochenen Internationalen Insolvenz-
rechts. Ich verspreche mir davon nicht allzuviel. Denn
letztlich würde ein solches Insolvenzrecht bzw. seine In-
anspruchnahme erst einmal voraussetzen, daß das je-
weilige Land seine Zahlungsunfähigkeit erklärt. Wenn
Sie für öffentliche und gerade für private Gläubiger An-
reize setzen wollen, neues Geld zu geben, dann müssen
Sie, so glaube ich, davon ausgehen, daß das ähnlich wie
im privaten Leben und im privaten Insolvenzrecht ab-
läuft: Wenn Sie erst einmal erklären, daß Sie die alten
Schulden nicht zurückzahlen können, dann ist das nicht
die beste Voraussetzung, um an neues Geld zu kommen.

Unabdingbar für die notwendige Vertrauensbildung
zur Vergabe weiterer Kredite und nicht rückzahlbarer
Zuschüsse ist deshalb der Nachweis ernsthafter und
nachhaltiger Reformanstrengungen in den Entwick-
lungsländern selbst. An dieser Voraussetzung, die wir in
unserem Antrag klar formuliert haben, führt im Rahmen
von Schuldenerleichterung und Schuldenerlaß für die
ärmsten Länder kein Weg vorbei.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir, CDU und CSU, sprechen uns darüber hinaus da-

für aus, bei der Schuldenerleichterung multilateral vor-
zugehen. Die frühere Bundesregierung hat dazu bereits
dankenswerte Initiativen ergriffen. Denn ansonsten lie-
fen wir Gefahr, nur den berühmten Tropfen auf den hei-
ßen Stein bereitzustellen. Wenn wir den Nachweis
ernsthafter und nachhaltiger Reformanstrengungen ver-
langen, dann bedeutet das konsequenterweise, daß wir
zu Einzelfallentscheidungen über Schuldenerleichterung
und Schuldenerlaß kommen müssen – je nachdem, ob
wir den Nachweis als erbracht erachten oder nicht.
Wenn ich in Ihrem Antrag aber lese, daß Sie umfassende
Eigenanstrengungen der Schuldnerländer und ein mit
den internationalen Finanzinstitutionen abgestimmtes
Programm fordern, dann ist mein Eindruck, daß wir in
diesem Punkt in der Tat nicht weit auseinander sind.

Ich stelle mit großem Interesse fest – der Kollege
Günther hat es schon angesprochen –, daß mittlerweile
auch Sie sich die notwendige Liberalisierung des
Welthandels auf die Fahnen schreiben und verlangen,
daß Handelshemmnisse im Sinne der ärmsten Entwick-
lungsländer verringert werden. Wenn ich an die ent-
wicklungspolitischen Diskussionen der vergangenen
Jahre denke, dann erinnere ich mich, das von Vertretern
Ihrer Parteien auch schon ganz anders gehört zu haben.

In diesem Zusammenhang möchte ich Sie dringend
warnen: Wenn Sie von der notwendigen Liberalisierung
sprechen, dann holen Sie bitte nicht undifferenziert die
Keule der angeblich oder tatsächlich fehlenden ökologi-
schen und sozialen Standards heraus. Über diese Stan-
dards haben wir in Anhörungen im Ausschuß ja schon
diskutiert. Häufig kann ein Entwicklungsland nun ein-
mal eine bestimmte Zeit lang unsere ökologischen und
sozialen Standards noch nicht erfüllen. Ich warne des-
halb dringend davor, sich bequem zurückzulegen und –
wie das häufig diskutiert wird – zu sagen, wir können
unsere Märkte in Deutschland und in Europa weiter

dichthalten, weil andere unsere Ansprüche an Lohnfort-
zahlung im Krankheitsfall und vieles andere mehr noch
nicht erfüllen. Das kann eben nicht die Lösung der Pro-
bleme sein.


(Frank Hempel [SPD]: Wer hat denn so etwas jemals behauptet? – Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Solch ein Unsinn!)


Ein wesentlicher Lösungsbeitrag liegt sicherlich auch
darin – diese Einschätzung teilen wir mit Ihnen –, daß
wir gemeinsam Druck dahin gehend ausüben müssen,
daß der rückläufige Trend öffentlicher Entwicklungs-
finanzierung in den OECD-Staaten gestoppt wird. Das
ist wahr, und so kann Ihr Antrag sicherlich abschließend
behandelt werden.

Sie können uns als CDU und CSU zu Ihren Unter-
stützern zählen – Herr Kollege Hedrich hat Ihnen bereits
dieses Angebot gemacht –, wenn Sie nach dem erfolglo-
sen Versuch der letzten Monate erneut den Versuch un-
ternehmen, den BMZ-Etat entsprechend zu steigern. Wir
wollen Ihnen dabei helfen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403515000
Für die Bun-
desregierung spricht nun die Staatssekretärin Dr. Uschi
Eid.

Dr
Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403515100
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Die heutige Debatte ist für all diejenigen, die
sich seit Jahrzehnten entwicklungspolitisch engagieren,
ein kleiner Triumph, Herr Kollege Schuster, und Grund
zur Freude. Ich verhehle nicht meine ganz persönliche
Genugtuung darüber, die ich mit alten Weggefährten aus
Oppositionszeiten, wie der gesamten Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen, den Aktivisten der Kampagne
„Erlaßjahr 2000“ oder einigen Kolleginnen und Kolle-
gen auf dieser Seite des Hauses, teile.

Herr Brauksiepe, daß Sie sich jetzt auf die Gruppen
der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ beziehen, freut mich
sehr. Es freut mich auch, daß mit Ihnen und dem Kolle-
gen Weiß endlich einmal CDU-Kollegen in das Haus
eingezogen sind, die sich diesen kirchlichen Gruppen
nahe fühlen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Mit der Kölner Schuldeninitiative hat die neue Re-
gierung den dringend notwendigen Kurswechsel vollzo-
gen. Damit wird ein Versprechen eingelöst, das meine
Fraktion und die Fraktion der SPD im Koalitionsvertrag
gegeben haben. Der Grundsatz unserer gemeinsamen
Politik lautet: Internationale Entschuldungsinitiativen
für die ärmsten und höchstverschuldeten Länder werden
unterstützt.

Genau das tun wir. Wir lösen eine Bremse, die die
alte Regierung in der internationalen Schuldenpolitik

Dr. Ralf Brauksiepe






(B)



(A) (C)



(D)


viel zu lange fest angezogen hatte. Herr Kollege
Hedrich, da hilft auch jegliche nachträgliche Beschöni-
gung nichts. Es ist hinlänglich bekannt, daß sich die alte
Regierung regelmäßig für restriktive Lösungen einge-
setzt hat.

Ich verkenne nicht, daß unter den Vorgängerregie-
rungen bereits Schulden im Rahmen der bilateralen
Entwicklungszusammenarbeit erlassen wurden. Seit
1979 waren es rund 9 Milliarden DM. Auch möchte ich
in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Verdienste
des verstorbenen ehemaligen Entwicklungsministers
Hans Klein würdigen.

Hinsichtlich der multilateralen Schulden, die die
ärmsten Länder zum Beispiel bei IWF, Weltbank oder
Regionalbanken haben, bewegte sich die alte Regierung
jedoch keinen Millimeter, und dies, obwohl sie doch
selbst 1995 im Konzert der G 7-Staaten IWF und Welt-
bank beauftragt hatte, ein umfassendes Konzept zur Lö-
sung der multilateralen Schuldenprobleme der ärmsten
und am höchsten verschuldeten Länder vorzulegen.

1997 betrug die Schuldenlast der ärmsten Länder al-
lein rund 200 Milliarden US-Dollar. Wer könnte be-
streiten, daß die zu zahlenden Zins- und Tilgungslei-
stungen eine wirtschaftlich effiziente, ökologisch ver-
trägliche und sozial gerechte Entwicklung behindern?

In einem Land wie Mosambik liegt der Schulden-
stand um 500 Prozent über den Exporteinnahmen. In
Tansania ist die Verschuldung so hoch, daß jeder Mann,
jede Frau und jedes Kind mit einer Summe verschuldet
ist, die ihrem Gesamteinkommen von zweieinhalb Jah-
ren entspricht.

Herr Kollege Hedrich, Sie haben Angola als Beispiel
angeführt. Ich meine, da haben Sie haarscharf daneben-
gegriffen; denn Angola erfüllt überhaupt nicht die re-
formerischen Voraussetzungen und wird sich für die
HIPC-Initiative nicht qualifizieren.

UNDP schätzt, daß staatliche Finanzmittel, die heute
in die Schuldenrückzahlung fließen, ausreichten, um
allein in Afrika 21 Millionen Kindern das Leben zu ret-
ten und über 90 Millionen Mädchen und Frauen eine
Grundbildung zu sichern.

Nachhaltigkeit bedeutet Zukunftssicherung für jetzige
und kommende Generationen in gemeinsamer Verant-
wortung, insbesondere auch in der internationalen
Schuldenpolitik. Die rotgrüne Regierung stellt sich die-
ser Verantwortung trotz der prekären Finanzlage und der
Haushaltslöcher, die die alte Regierung hinterlassen hat,
damit die Politik der Gläubiger in Zukunft Entwicklung
fördert und nicht verhindert.

Die multilateralen Schulden sind die drückendste Last
für die betroffenen Länder; denn zum einen liegt ihr
Anteil an den langfristigen Gesamtschulden mittlerweile
bei 37 Prozent, und zum anderen müssen diese Schulden
bevorzugt behandelt werden. Der Bundesrepublik
Deutschland kommt zur Lösung dieses Problems eine
besondere Bedeutung zu, gehören wir doch zu den
wichtigsten Anteilseignern bei IWF und Weltbank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Bundesregierung ist allerdings keinesfalls so
vermessen, vom Kölner Weltwirtschaftsgipfel eine ra-
dikale Lösung des Schuldenproblems zu erwarten. Aber:
Mit unserer Schuldeninitiative gehen wir einen Schritt in
die richtige Richtung; denn sie zielt darauf ab, die
HIPC-Initiative, die Entschuldung der ärmsten und
hochverschuldeten Länder, auszuweiten und zu be-
schleunigen.

Ich verschweige nicht, daß sie mir an der einen oder
anderen Stelle nicht weit genug geht. Nach dem Welt-
wirtschaftsgipfel werden wir uns intensiv mit den Fra-
gen des internationalen Insolvenzrechtes – das wurde
hier schon angesprochen –, mit dem schrittweisen Erlaß
der Schulden der ehemaligen DDR – mit dem Vorschlag
der Ministerin in bezug auf Albanien haben wir schon
den ersten Schritt getan –, mit der Reform der Struk-
turanpassungsmaßnahmen und mit den staatlichen Ex-
portbürgschaften beschäftigen müssen.

Ich möchte aber auch all jene warnen, die glauben,
man könne mit einem vollständigen Schuldenerlaß die
Probleme der Dritten Welt auf einen Schlag lösen.
Schuldenerlaß ist ein Beitrag zur Bekämpfung der Ar-
mut. Ich glaube, darin sind wir alle hier uns einig. Aber
damit dieses Ziel erreicht werden kann, nämlich die Be-
kämpfung der Armut, muß der Schuldenerlaß in eine
Entwicklungsstrategie und in Reformmaßnahmen einge-
bettet sein. Diese müssen ein menschenwürdiges Leben,
gesellschaftliche Pluralität und technologische Innova-
tionen sowie nachhaltiges breitenwirksames Wirt-
schaftswachstum fördern.

Das bedeutet: Die betroffenen Länder müssen zum
Beispiel Vetternwirtschaft und Korruption bekämpfen,
nationale Finanzinstitutionen reformieren und sie von
klientilistischen und politischen Einflüssen lösen, die
Menschenrechte respektieren und die Teilhabe der Be-
völkerung an Entscheidungen sichern. Eine solche Poli-
tik werden wir im Rahmen unserer Entwicklungszu-
sammenarbeit fördern.

Ihnen, Herr Kollege Hedrich, sei zum Schluß noch
gesagt: Wir tun dies mit einem Haushalt, der über dem
Plafond von 1998 liegt. Dies möchte ich zum Schluß
noch einmal betonen, weil Sie vorhin etwas anderes be-
hauptet haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403515200
Zu einer Kurz-
intervention gebe ich nun dem Abgeordneten Hedrich
das Wort.


Klaus-Jürgen Hedrich (CDU):
Rede ID: ID1403515300
Frau Präsi-
dentin! Um Ihre letzte Bemerkung aufzugreifen: Der
Haushalt 1999 liegt unter dem Ist des Haushaltes 1998.
Daran ändert auch die Intervention der Kollegin Eid
nichts.


(Brigitte Adler [SPD]: Nennen Sie auch die Ursachen!)


– Ich habe nur den Sachverhalt genannt, mehr nicht.

Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid






(A) (C)



(B) (D)


Es ging nicht um diese Frage, sondern um die Initia-
tive für die am höchsten verschuldeten armen Länder,
also um die sogenannte HIPC-Initiative. Dazu kann
man nur feststellen: Die Bundesregierung, der Bundes-
kanzler und übrigens auch der damalige Arbeits- und
Sozialminister, hat auf dem Kopenhagener Gipfel 1995
als erste Regierung darauf hingewiesen, es gehe nicht
mehr, daß die Entschuldung nur auf bilateraler Ebene er-
folge; vielmehr müßten sich die internationalen Finanz-
organisationen ebenfalls an diesen Maßnahmen beteili-
gen. Darauf wollte ich zur Klarstellung aufmerksam ma-
chen.

Die Kollegin Eid hat übrigens nicht völlig unrecht,
wenn sie darauf verweist, daß insbesondere das Finanz-
ministerium sehr restriktiv verfahren ist. Das Ministeri-
um hatte zum Teil aber auch nicht unrecht. In der HIPC-
Initiative hatten wir uns auf bestimmte Länder verstän-
digt, die als erste angegangen werden sollten. Dann ha-
ben unsere französischen Freunde zum Beispiel durch-
gesetzt, daß ein Land wie Elfenbeinküste nachgeschoben
wurde, von dem man nur sagen kann, daß das dortige
korrupte Regime Geld verschwendet und die Umwelt
schädigt. Wir sollen auch noch die schlechte Politik die-
ses Landes mit Entschuldungsmaßnahmen finanzieren.

Aber auch wenn Länder die Kriterien erfüllten, mußte
man feststellen, daß die Vorsorge der internationalen
Gemeinschaft nicht verhindern konnte, daß diese Länder
ihre freigewordenen Finanzmittel falsch verwendeten.
Ich komme zum dritten Mal auf das Beispiel der Mi-
nisterin zu sprechen: Ein Land wie Uganda hat die Un-
terstützung der internationalen Gemeinschaft bekom-
men. Als Dank dafür kauft man dort mehr Waffen und
interveniert beim Bürgerkrieg im Kongo. Wenn wir so
etwas nicht verhindern, dann ist all das, was wir hier
gemeinsam diskutiert haben, für die Katz. Darauf wollte
ich noch einmal hingewiesen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403515400
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dagmar Schmidt.


Dagmar Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1403515500
Frau Präsi-
dentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit
Entschuldung Entwicklung fördern und Entwicklung
möglich machen, das wollen wir alle mit Entwicklungs-
politik erreichen. Wie können aber die Schuldenerlasse
für die ärmsten Länder auf bestwirksame Weise wirklich
den Armen zugute kommen? Welche Perspektiven ha-
ben hochverschuldete Länder ohne die Streichung von
Forderungen? Wir diskutieren heute die Entschul-
dungsinitiative, die die Bundesregierung auf dem Gip-
fel in Köln vorschlagen wird und die genau diese Fragen
anpackt. Insofern stellt sie einen Meilenstein in der deut-
schen Entwicklungspolitik dar. Es werden neue Akzente
gesetzt.


(Beifall bei der SPD)

Spät, aber hoffentlich nicht zu spät reagieren wir

endlich auf die derzeitige Verschuldungskrise, die nun
schon 17 Jahre andauert. Endlich begreift eine Bundes-

regierung, daß die Verschuldungsproblematik uns alle
angeht. Die Schuldenfalle ist der Grund für die Nicht-
entwicklung zahlreicher Länder. Es muß auch gesehen
werden, daß sie das Potential für eine drohende interna-
tionale Finanzkrise enthält. Wir handeln also nicht nur
gönnerhaft, sondern auch im wohlverstandenen Eigen-
interesse.

Es sind daher neue, zusätzliche Initiativen notwen-
dig, und da es sich vorrangig um ein Problem der
multilateralen Institute handelt, sollte von diesen
auch die Initiative ausgehen.

Dieser Satz meines ehemaligen CDU-Kollegen Feilcke
stammt aus der entwicklungspolitischen Debatte vom
Februar 1996.


(Heiterkeit bei der SPD)

Weil das schon so lange her ist – immerhin drei Jahre –,
möchte ich den Satz wiederholen:

Es sind daher neue, zusätzliche Initiativen notwen-
dig, und da es sich vorrangig um ein Problem der
multilateralen Institute handelt, sollte von diesen
auch die Initiative ausgehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU])


Warum habe ich gerade diesen Satz herausgegriffen?
Der aktuelle CDU/CSU-Antrag spricht sich für eine
konsequente Fortsetzung der bisherigen Entschuldungs-
und Umschuldungspolitik aus.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das ist zuwenig!)


Für mich hieße das, in alten Bremsspuren weiter brem-
sen.


(Beifall bei der SPD)

Seit 1996 ist nichts weiter passiert. Ich erinnere an Ihre
Position im EU-Ministerrat. Es konnte ja auch nichts
passieren angesichts der Grundeinstellung der alten Re-
gierung. Die Sachlage sahen und sehen wir anders. Bei
uns folgen Taten.

Zwei Pflöcke sind eingeschlagen, der eine von den
Kirchen und NGOs durch ihre Kampagne „Erlaßjahr
2000“ – diese bemerkenswerte Initiative hat für eine
breite Akzeptanz künftiger Schuldenerlasse in der Be-
völkerung gesorgt; wir sind den Initiatoren dafür sehr
dankbar – und der andere durch die Kölner Schulden-
initiative der Bundesregierung. Auf dem Gipfel werden
nicht nur wirtschafts- und finanzpolitische Themen iso-
liert behandelt, sondern endlich Aufgaben und Instru-
mente der Finanzpolitik mit denen der Entwicklungs-
politik verzahnt.

Die Leinwand zwischen den beiden Pflöcken bildet
der Antrag von SPD und Grünen. Hier wird ausführlich
projiziert, daß in der Schuldeninitiative der Impuls für
erstens nachhaltiges Wachstum, zweitens Innovation
und drittens eine sozial gerechte und ökologisch ver-
trägliche Entwicklung der ärmsten Länder liegt.

Klaus-Jürgen Hedrich






(B)



(A) (C)



(D)


Wir sind uns natürlich darüber im klaren, daß dieser
Impuls allein nicht reicht. Wir brauchen flankierende
entwicklungspolitische Maßnahmen. Wir brauchen ein
nicht nur staatliches Problembewußtsein für Verschul-
dung in der Entwicklungsarbeit. Hier sind auch die pri-
vaten Gläubiger gefordert, verantwortungsbewußter mit
ihren Schuldnern umzugehen. Gerade um die Fehler der
Vergangenheit nicht zu wiederholen, müssen erstens
Mittel gewissenhafter vergeben werden, zweitens Krite-
rien einer nachhaltigen Entwicklung stärker berücksich-
tigt werden und darf es drittens keine Risikoabsicherung
ohne ökologische, soziale und entwicklungspolitische
Auflagen mehr geben, denn damit heizen wir Verschul-
dung nur noch mehr an.

Unsere Regierung will auch mit den Instrumenten der
Außenwirtschaftsförderung die Finanzierung von
entwicklungspolitischen Projekten fördern. Wir müssen
nach meiner Auffassung aber verhindern, daß sich Tritt-
brettfahrer an die verschuldeten Länder heranmachen
und sie erneut zu Ausgaben veranlassen, die absolut
nichts mit entwicklungspolitischen Maßnahmen und mit
Armutsbekämpfung zu tun haben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Aber auch Korruption, teilweise in Verbindung mit
Hermes-Absicherung, trägt nicht selten zu einer unnöti-
gen Verschuldung bei. Manche Entwicklungsprojekte
wären ohne Bestechungsgelder nie realisiert worden, so
der Flughafen in Kamerun. Hätte das BMZ bei den
Hermes-Krediten von seinem Vetorecht Gebrauch ma-
chen können, hätte das Land 700 Millionen DM weniger
Schulden gemacht.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Das entspricht der in fünf Jahren geleisteten Entwick-
lungshilfe für dieses Land.

Wir sind nicht die Oberlehrer der Welt, die den Län-
dern Vorschriften machen. Allerdings müssen sich die
Länder auf die Bekämpfung von sozialen Ungerechtig-
keiten, Armut und Umweltproblemen und auf die Be-
achtung demokratischer Grundsätze einlassen. Auflagen
– da stimmen wir wohl alle überein – müssen sein.
Längst nicht alle Partner sehen in der Armutsbekämp-
fung ein vorrangiges Ziel. In der Initiative liegt jetzt eine
große Chance, nämlich den HIPC-Ländern wieder Luft
zum Atmen für innerstaatliche Gestaltung und damit zur
Armutsbekämpfung zu geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun noch ein paar Worte zu DDR-Altschulden.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403515600
Frau Kollegin,
das ist leider nicht mehr möglich. Sie müssen jetzt zum
Schluß kommen.


Dagmar Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1403515700
Ja.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403515800
Ich weiß, daß
Sie etwas zuviel Text hatten. Das habe ich gesehen.


(Heiterkeit – Brigitte Adler [SPD]: Sie hat viel zu sagen!)



Dagmar Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1403515900
Hinter dem
§ 24 des Einigungsvertrages kann man sich wunderbar
mit einer Fundamentalablehnungshaltung verstecken.
Man kann aber auch politisch handeln und Schulden-
erlasse oder –erleichterungen bedenken. Das müssen
wir in diesem Fall tun. Wir dürfen nicht die Möglich-
keiten, die sich hier eröffnen, pauschal in den Wind
schreiben.

Ich appelliere an alle ängstlichen Buchhalterseelen:
Legen Sie Vor- und Nachteile auf die Waage, und
kommen Sie zu dem Schluß: Entwicklung braucht Ent-
schuldung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403516000
Ich schließe
damit die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu
einer Entschuldungsinitiative anläßlich des Weltwirt-
schaftsgipfels der G-7-/G-8-Staaten in Köln; Drucksache
14/794. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der F.D.P. gegen die Stimmen
der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommen
worden.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD] [an die F.D.P. gerichtet]: Wir bedanken uns bei Ihnen!)


Abstimmung über den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU zur Entschuldung armer Entwicklungsländer;
Drucksache 14/785. Wer stimmt dafür? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Enthaltung der
F.D.P. gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt
worden.

Abstimmung über den Antrag der Fraktion der PDS
mit dem Titel „Umfassender Schuldenerlaß für einen
Neuanfang“; das ist die Drucksache 14/800. Wer stimmt
dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P., Bündnis 90/
Die Grünen und SPD gegen die Stimmen der PDS ab-
gelehnt worden.

Ich rufe die Zusatzpunkte 7a und 7b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.

Hermann Otto Solms, Dr. Edzard Schmidt-
Jortzig, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des
Schutzes parlamentarischer Beratungen
– Drucksache 14/183 –

Dagmar Schmidt (Meschede)







(A) (C)



(B) (D)


Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung(federführend)InnenausschußRechtsausschuß

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Sabine Jünger, Petra Pau, Dr.
Gregor Gysi und der Fraktion der PDS einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-
bung der Bannmeilenregelung
– Drucksache 14/516 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung(federführend)InnenausschußRechtsausschuß

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktionen der F.D.P. und der PDS jeweils fünf Minuten
erhalten sollen. – Widerspruch höre ich nicht. Dann ist
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Kollege Solms.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403516100
Frau Präsiden-
tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die
F.D.P.-Fraktion legt Ihnen heute einen Gesetzentwurf
zum Schutz der parlamentarischen Beratungen auch in
Berlin vor. Damit bringen wir als erste Fraktion einen
konstruktiven Vorschlag für eine Erneuerung, Verbesse-
rung und Liberalisierung der sogenannten Bannmeilen-
regelung ein. Eine gänzliche Abschaffung einer solchen
Regelung zum Schutze der parlamentarischen Beratun-
gen, wie sie von den Grünen und der PDS gefordert
wird, kommt allerdings für die F.D.P. nicht in Frage.


(Beifall bei der F.D.P.)

Sie hat sich in Bonn als notwendig erwiesen. Ich erinne-
re nur an die Demonstrationen anläßlich der Verab-
schiedung der Änderungen des Asylrechts oder im
Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses vor 18 Jahren.
Das hat doch gezeigt, daß wir auch in Berlin eine solche
Regelung brauchen.

Die Beratungen des Parlaments müssen weiter unbe-
einträchtigt von gewalttätigen Ausschreitungen möglich
sein. Ein demokratischer Rechtsstaat muß die freie Wil-
lensbildung des Parlaments sichern. Die Parlamentarier
müssen – quasi ohne Druck der Straße – frei beraten und
entscheiden können.


(Beifall bei der F.D.P sowie des Abg. Joachim Hörster [CDU/CSU])


Ziel des F.D.P.-Gesetzentwurfes ist der Schutz des
Parlaments und seiner Beratungen und damit der der
demokratischen Verfassung der Bundesrepublik
Deutschland. Es geht nicht darum, Bürger aus dem Um-
feld der Abgeordneten zu verbannen, wie es der Name
dieses Gesetzes fälschlicherweise zum Ausdruck bringt.
Deswegen soll der Begriff „Bannmeile“ nicht mehr ver-
wendet werden. Es geht auch nicht um Objektschutz, bei
dem unabhängig vom Einzel fall oder einer tatsächlichen

Beeinträchtigung der Parlamentsarbeit Demonstrationen
grundsätzlich ausgeschlossen wären. Bei dem F.D.P.-
Entwurf geht es vielmehr um einen Funktionsschutz.
Das heißt, er ermöglicht eine flexible Handhabung – je
nachdem, ob die einzelnen Demonstrationen das Parla-
ment bei seiner Arbeit wirklich behindern oder nicht.


(Beifall bei der F.D.P.)

Der Entwurf trägt im übrigen der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts Rechnung.

Demonstrationen in dem geschützten Bereich bedür-
fen einer Zulassung. Sie erfolgt durch das Bundestags-
präsidium – nicht durch den Präsidenten und auch nicht,
wie bisher, durch den Bundesinnenminister. Dadurch ist
gesichert, daß ein gewisser Konsens vorhanden sein
muß, damit eine solche Entscheidung erfolgen kann.

Die Zulassung soll ausgesprochen werden, wenn eine
Beeinträchtigung der parlamentarischen Beratungen
nicht zu befürchten ist, und zwar insbesondere in sit-
zungsfreien Zeiten. Denn dann gibt es eigentlich nichts
zu schützen. Es geht ja nicht um den Schutz der Gebäu-
de. Bisher waren Demonstrationen innerhalb der Bann-
meile grundsätzlich verboten. Die Zulassung von Aus-
nahmen lag im Ermessen des Bundesinnenministers.

Aus dem bisherigen Straftatbestand der Bannmeilen-
verletzung wird eine Ordnungswidrigkeit, um damit der
Polizei nach dem sogenannten Opportunitätsprinzip die
Möglichkeit zu differenziertem Eingreifen zu geben.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die Aufforderung zur Verletzung der Bannmeile bleibt
weiterhin strafbar.


(Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.]: Sehr richtig!)


Der Umfang des befriedeten Bezirks orientiert sich
unmittelbar an den Ratschlägen der Polizei, in diesem
Falle also denen der Berliner Polizei. Er ist auf den
Schutzzweck des Gesetzes zugeschnitten und berück-
sichtigt die Möglichkeiten der Polizei, diesen Schutz
auch wirklich zu gewährleisten. Die polizeilichen Ein-
griffsmöglichkeiten nach allgemeinem Versammlungs-
recht und Maßnahmen des Objektschutzes bleiben na-
türlich von diesem Gesetzentwurf unberührt.

Der Gesetzentwurf befaßt sich nur mit dem Schutz des
Bundestages. Ob und inwieweit der Bundesrat
einen Schutz seiner Arbeits- und Funktionsfähigkeit in
Berlin für erforderlich hält, sollte seiner eigenen Ent-
scheidung überlassen bleiben. Gegebenenfalls könnte in
den parlamentarischen Beratungen eine solche Regelung
aufgenommen werden. Das gleiche sollte für das Bundes-
verfassungsgericht gelten. Darüber müssen wir uns eini-
gen. Dazu müßte es Gespräche mit dem Bundesrat geben.

Die F.D.P. ist der Auffassung, daß der Schutz der
parlamentarischen Tätigkeit in Berlin in größtmögli-
chem Einvernehmen behandelt werden sollte. Der Ge-
setzentwurf bietet eine Grundlage für konstruktive Ge-
spräche mit allen Fraktionen in diesem Hause. Deswe-
gen hoffe ich, daß wir in dieser Frage einen Konsens er-
zielen werden.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer






(B)



(A) (C)



(D)


Abschließend bleibt mir, einen Dank an unseren frü-
heren Kollegen und Bundestagsvizepräsidenten Burk-
hard Hirsch auszusprechen,


(Beifall des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD])

der diesen Gesetzentwurf im Auftrag des damaligen Prä-
sidiums im wesentlichen schon in der letzten Legislatur-
periode erarbeitet hatte.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD)

Meine Bitte: Behandeln Sie diesen Gesetzentwurf mit

dem Ziel, eine einvernehmliche Lösung des gesamten
Hauses zustande zu bringen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Joa chim Hörster [CDU/CSU])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403516200
Das Wort hat
jetzt der Kollege Dieter Wiefelspütz.


Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1403516300
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich dem Dank an
den Kollegen Hirsch anschließen, der diesen Gesetzent-
wurf in der Tat ganz maßgeblich in der letzten Legisla-
turperiode mitgeprägt hat.

Der Gesetzentwurf, Herr Solms, den Sie eingebracht
haben, ist ein gutes Beispiel dafür, daß die Opposition
sehr wohl Einfluß auf die Gesetzgebung haben kann,
wenn sie vernünftige Vorschläge macht.


(Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Aber nicht immer!)


– Ich bitte das als den Versuch einer humorvollen ironi-
schen Bemerkung zu diesem Gesetzentwurf, den ich öf-
fentlich immer als eine brauchbare und ernstzunehmen-
de Gesprächsgrundlage bezeichnet habe, zu verstehen.
Dieser anerkennenswerte Gesetzentwurf ist für uns –
Herr Solms, ich weiß nicht, ob Sie das wissen – der
Auslöser geworden, uns hinzusetzen und uns diesen Ge-
setzentwurf vorzunehmen, um ihn noch ein bißchen zu
verbessern.

Ich will hervorheben, was an dem Gesetzentwurf po-
sitiv und gut ist. Es ist gut, daß wir die Rechtslage inso-
weit verändern, als in dem Entwurf der F.D.P. ein ge-
schützter Bezirk erfaßt wird, der sich räumlich auf das
Notwendige erstreckt, auf nicht mehr. Beispielsweise
fehlt der Schutz des Bundeskanzleramts. Die Bannmeile
oder der befriedete Bezirk schützt das Parlament in sei-
ner Funktionsfähigkeit und nicht das wichtige Bundes-
kanzleramt oder andere Ministerien. Darauf wollen wir
uns auch beschränken.

In dem Gesetzentwurf, den wir auf der Grundlage Ih-
res Gesetzentwurfs, Herr Solms, vorlegen werden, bleibt
es bei der räumlichen Erstreckung, die Sie gewählt ha-
ben. Sie ist sorgfältig bedacht worden, sie ist gut. Wir
haben nur eine kleine Feinabstimmung in einem Stra-
ßenbereich vorgenommen, ansonsten ist die Erstreckung
so, daß wir einen Konsens erzielen werden. Wir werden
ihn sogar mit Herrn Ströbele erzielen, der sich noch

überlegt, ob auch er dem Gesetzentwurf eines Tages zu-
stimmen wird.

Ich glaube, wir haben eine gute Chance, daß wir eine
breite Mehrheit für den Entwurf bekommen. Ich würde
mir sehr wünschen, Herr Solms – es geht hierbei nun
wirklich nicht um irgendeine Prestigeangelegenheit –,
daß wir, wenn es um Angelegenheiten des gesamten
Parlaments geht, im Parlament breite Mehrheiten finden.
Das gilt für Statusfragen der Abgeordneten, Herr Solms,
und für Diäten. Das gilt aber auch für parlamentsrechtli-
che Regelungen wie beispielsweise für eine Regelung
der Bannmeile oder eines befriedeten Bezirks.

Ich glaube, daß wir bei der Bannmeile einen breiten
Konsens finden werden. Ich will aber, weil wir auch ein
wenig fachlich diskutieren sollten, gleich auf ein, zwei
Punkte hinweisen, an denen ich meine, daß das, was wir,
die Bündnisgrünen und die SPD, in einem Entwurf, der
inzwischen durch unsere Arbeitsgruppen gelaufen ist,
der die Fraktionen noch durchlaufen muß, den Sie in den
nächsten Tagen bekommen werden und zu dessen Dis-
kussion wir Sie einladen werden – wir werden gemein-
sam darüber reden müssen – an Veränderungen vorge-
nommen haben, überzeugender ist.

Ausnahmegenehmigungen für Demonstrationen, für
Versammlungen innerhalb der Bannmeile sollte nicht
der Parlamentspräsident, sondern wie bislang der In-
nenminister im Einvernehmen mit dem Präsidium ertei-
len; denn es ist nicht gut, wenn wir den Bundestagsprä-
sidenten zu einem Streitgegner vor einem Verwaltungs-
gericht machen. Ihre Fraktion hat vor einiger Zeit eine
solche Situation erleben müssen: Da hat eine Partei in
einem anderen Rechtsbereich, nämlich bei der Parteien-
finanzierung, legitimerweise den Bundestagspräsidenten
verklagt. In eine solche Situation möchte ich das Präsi-
dium nicht bringen.

Die Sicherheitsbehörde ist das Innenministerium.
Die Belange des Bundestages werden durch eine Ein-
vernehmensregelung sichergestellt. Ich glaube, das ist
die richtige Regelung. Sie gilt derzeit und hat sich be-
währt; wir sollten sie nicht ändern. Herr Solms, wir wer-
den Sie und Herrn Schmidt-Jortzig überzeugen, daß die
derzeitige Regelung die bessere ist – bei aller Wert-
schätzung für Ihren, wie ich finde, ansonsten sehr ge-
lungenen Entwurf.

Zum zeitlichen Erstreckungsbereich: Ich finde es
sehr wichtig, daß die Bannmeile nur dann gilt – das ist
in Ihrem wie auch in unserem Entwurf vorgesehen; das
ist wichtig –, wenn das Parlament tagt, also nicht in der
sitzungsfreien Zeit.

Im übrigen sollte man das Ganze relativ entspannt
und gelassen diskutieren. Der Reichstag, der Deutsche
Bundestag, das Gebäude Reichstag wird das meistbe-
suchte Gebäude Deutschlands werden, übrigens mit
Recht. Das Haus unserer Demokratie soll ein Magnet,
ein Anziehungspunkt sein, so wie das jetzt beim Tag der
offenen Tür der Fall war. Nur wenn Parlamentsberatun-
gen stattfinden, soll der engere Bereich um das Parla-
ment herum demonstrationsfrei sein, damit das Parla-
ment seine Entscheidungen in völliger Freiheit treffen
kann. Damit haben wir hier in Bonn gute Erfahrungen

Dr. Hermann Otto Solms






(A) (C)



(B) (D)


gemacht. Wir sollten einige gute Erfahrungen aus Bonn
mit nach Berlin nehmen.

Ich räume ein – deswegen bin ich auch dafür, das
Thema niedriger zu hängen –: Es gibt innerhalb und au-
ßerhalb Deutschlands demokratische Parlamente, die
ohne eine Bannmeilenregelung auskommen; das will ich
hier freimütig anerkennen. Ich glaube aber, daß die
Bannmeilenregelung hier in Bonn stilbildend gewesen
ist. Man sollte die Sinnhaftigkeit einer solchen Regelung
im übrigen nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Verlet-
zung, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Achtung
diskutieren. Ich weiß von Hunderten von Demonstratio-
nen, die hier in Bonn am Rande der Bannmeile stattge-
funden haben, ohne daß diese durch die Polizei vertei-
digt werden mußte. Die Leute haben akzeptiert, daß man
überall in Bonn demonstrieren kann, auch in Parla-
mentsnähe, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze und
nur zu einer bestimmten Zeit. Man darf eben nicht de-
monstrieren, wenn das Parlament hier tagt.

Im übrigen ist der Deutsche Bundestag ein publikums-
offener Bereich. Er hat gerne Bürger als Zuhörer, Zu-
schauer und Gäste. Nur in ganz bestimmten Bereichen
soll nicht demonstriert werden.

Was viele Menschen nicht wissen: Auch in der Bon-
ner Bannmeile werden Demonstrationen genehmigt,
nämlich wenn die Funktionsfähigkeit des Parlaments
nicht beeinträchtigt wird. Das wird auch in Berlin so
sein.

Wir wollen eine Regelung über einen befriedeten Be-
zirk in Berlin, die die Funktionsfähigkeit des Parlaments
gewährleistet und gleichzeitig grundrechtsfreundlich ist.
Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist ein
zentrales, konstitutives Grundrecht unserer Demokratie.
Deswegen sollte es sich in einer Regelung über einen
befriedeten Bezirk wiederfinden.

Wir haben die erste Sitzung in Berlin ohne Bannmei-
lenregelung abgehalten. Jedoch war der engere Bereich
um den Reichstag an diesem Tag interessanterweise ab-
geschirmt. Ob das so ganz richtig war, weiß ich nicht.
Die Frage stelle ich in den Raum. Ich habe dazu keine
abgeschlossene Meinung. Ich weiß nicht, ob das voraus-
eilender Gehorsam gegenüber dem Gesetzgeber war, der
noch gar nicht gesprochen hat. Es gab eine Abschir-
mung, ohne daß eine Bannmeilenregelung vorhanden
gewesen wäre. Man hat sich offenbar des Versamm-
lungsrechtes bedient. Alles in allem will ich das aber
nicht kritisieren.

Wir sind ja alle miteinander sehr beeindruckt von der
Eröffnung des Bundestages im Reichstagsgebäude – ein
schönes Gebäude, das noch nie so schön war wie in der
Gestalt, die es jetzt gefunden hat. Es hat sehr viel Zu-
spruch durch die Öffentlichkeit erfahren. Wir werden
Ihnen, Herr Solms, anbieten, im Juni mit diesem Ge-
setzgebungsverfahren zu Rande zu kommen und es dann
auch zu beenden.

Herr Hörster, die letzten Sätze gehen an Ihre Adresse.
Denn das, was an die F.D.P. gerichtet ist, gilt natürlich
auch für die größte Oppositionspartei, die CDU/CSU. Es
wäre schön, wenn wir uns auch mit Ihnen auf eine ver-

nünftige Regelung einigen könnten. Ich sichere Ihnen
ausdrücklich zu, daß die Gespräche Verhandlungen sind
und nicht etwa ein Diktat. Wir werden um eine vernünf-
tige Regelung ringen.

Ich bitte, zu berücksichtigen, daß die Regelung, die in
Berlin gelten wird, im wesentlichen dem entsprechen
wird, was wir in Bonn erfolgreich und vernünftig ge-
staltet haben. Insofern handelt es sich nur um eine ver-
fassungskonforme Weiterentwicklung, moderat und ver-
nünftig. Ich hoffe, daß eine solche Regelung einerseits
dem Parlament dient, andererseits aber nicht ausschließt,
daß in der Nähe des Parlamentes das Grundrecht auf
Versammlungsfreiheit natürlich auch in Zukunft gilt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403516400
Herr Schmidt-
Jortzig hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet.
Bitte.


Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (FDP):
Rede ID: ID1403516500
Frau Präsi-
dentin! Ich möchte die sehr sachliche Argumentation des
Kollegen Wiefelspütz in einem Punkt aufgreifen und
erläutern, welche Überlegung hinter unserem Vorschlag
steht, für die Entscheidung über eine Ausnahmege-
nehmigung den Bundestag in Gestalt seines Präsidiums
vorzuschlagen.

Der Ansatz, daß es sich nicht um einen starren Ob-
jektschutz handelt – aus rein ordnungs- und sicherheits-
politischen Aspekten heraus –, sondern daß wir lediglich
differenzierten Schutz der Funktion „parlamentarische
Beratung“ bieten wollen, ist neu. Für uns sind zwei Er-
wägungen, die miteinander verwandt sind, bedeutsam
dafür gewesen, das Präsidium als entscheidende Stelle
vorzuschlagen.

Erstens. Was die parlamentarische Funktion – die
Funktion „Beratung in einem demokratischen Staat“ –
schädigt, stört oder eben nicht stört, kann am besten das
Parlament selbst entscheiden. Damit verwandt ist zwei-
tens der Aspekt der Autonomie: Wenn es um Parla-
mentsangelegenheiten geht, sollte sich das Parlament in
allem Selbstbewußtsein dazu bekennen, die Entschei-
dung selbst auf sich zu nehmen, auch wenn das unter
Umständen strittige Entscheidungen verlangt.

Das steht dahinter. Aber wir werden dazu noch im
einzelnen ins Gespräch kommen. Ich freue mich, daß
Sie ausdrücklich Gesprächsbereitschaft signalisieren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD])



Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1403516600
Herr Schmidt-Jortzig, an
dieser Frage wird die Einigung sicherlich nicht schei-
tern. Wenn ich es aber richtig wahrgenommen habe, ist
auch das gegenwärtige Präsidium mit deutlicher Mehr-
heit dafür, daß es diese Entscheidung nicht alleine zu
treffen hat, sondern das die Entscheidung wie in der

Dieter Wiefelspütz






(B)



(A) (C)



(D)


Vergangenheit eher beim Innenminister liegt, daß aber
Einvernehmen mit dem Präsidium hergestellt werden
muß, so daß das letzte Wort in dieser Angelegenheit
immer der Bundestag hat. Aber wir werden das diskutie-
ren.

Ich will eine kleine Ergänzung machen: Inzwischen
hat es Gespräche mit Bundesrat und Bundesverfas-
sungsgericht gegeben. Informell gibt es auch eine Eini-
gung. Selbstverständlich haben wir den Wünschen des
Verfassungsorgans Bundesverfassungsgericht und des
Verfassungsorgans Bundesrat Rechnung zu tragen. Die
Einigung ist schon erzielt, so daß wir das alles mit ein-
binden könnten. Wir sollten dies in breiter Mehrheit ge-
meinsam regeln und auf diese Weise signalisieren, daß
wir dann, wenn es um das Parlament geht, einen breiten
Konsens erarbeiten und sicherstellen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403516700
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Hörster.


Joachim Hörster (CDU):
Rede ID: ID1403516800
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Zum Sinn und Zweck eines
Gesetzes zum Schutze der parlamentarischen Beratun-
gen ist von dem Kollegen Solms und von dem Kollegen
Wiefelspütz eigentlich alles vorgetragen worden, so daß
ich diese hehren Erwägungen und Grundsätze nicht zu
wiederholen brauche. Ich kann mich dem, was gesagt
wurde, insoweit nahtlos anschließen. Auch ich halte den
Gesetzentwurf, den die F.D.P. zu dieser Frage hier ein-
gebracht hat, trotz der Federführung des Kollegen
Hirsch für durchaus diskussions- und erwägenswert.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Gleichwohl will ich folgendes sagen, weil bei ande-
ren Beratungsgegenständen, die uns zu diesem Tages-
ordnungspunkt vorliegen, anders angedeutet worden ist:
Ein solcher Gesetzentwurf verfolgt ja nicht das Ziel, der
politischen Diskussion oder dem politischen Streit aus
dem Wege zu gehen. Vielmehr hat ein Gesetz zum
Schutze der parlamentarischen Beratungen lediglich den
Zweck, daß darauf geachtet wird, daß das Parlament den
notwendigen tatsächlichen und – wenn man so will –
körperlichen Freiraum hat, den es braucht, um seine Be-
ratungen ungestört durchzuführen. Wenn man sich die
Ergebnisse der umfangreichen Anhörung, die der Ge-
schäftsordnungsausschuß im Jahre 1993 auf Grund eines
Gesetzentwurfes der damaligen Gruppe Bündnis 90/Die
Grünen zur Abschaffung der Bannmeile durchgeführt
hat, anschaut, dann wird man finden, daß dies dort gera-
dezu bestätigt wird. Es geht nicht um die Abschaffung
der politischen Kultur; es geht nicht um die Verhinde-
rung von politischen Auseinandersetzungen, sondern
schlicht und einfach darum, dem Parlament einen unge-
störten Freiraum für seine nach der Verfassung gebote-
nen Entscheidungen zu ermöglichen.

Ich will einige Anmerkungen unter praktischen und
rechtlichen Gesichtspunkten machen, von denen ich
meine, daß wir sie miteinander erörtern müssen. Denn
ich glaube schon, daß es sinnvoll wäre, wenn die demo-
kratischen Kräfte in diesem Haus in dieser Frage zu

einem Konsens kämen. Das würde ich für unglaublich
wichtig halten.

Als erste möchte ich die Frage der räumlichen Ab-
grenzung des Bezirks nennen. Das sehe ich ziemlich
emotionslos, und ich nehme an, daß das in meiner Frak-
tion genauso sein wird. Die Frage, ob man das Kanzler-
amt einbezieht oder nicht, halte ich nicht für eine Glau-
bensfrage. Man sollte sie auch nicht unter diesem Ge-
sichtspunkt diskutieren. Das ist allenfalls eine polizei-
taktische Frage. Da müssen uns Fachleute beraten. Auch
wenn die Regierung gewechselt hat: Ich hätte, wenn die
Polizeitaktiker uns empfehlen, das aus praktischen Er-
wägungen mit in die Bannmeile hineinzunehmen, nichts
dagegen, das auch jetzt zu machen.

Etwas schwieriger verhält es sich mit der Streichung
der Strafvorschrift des § 106 a Abs. 1 des Strafgesetz-
buches, mit der der Verstoß gegen das Schutzgut der
Handlungsfähigkeit des Parlaments zu einer Ord-
nungswidrigkeit herabgestuft wird. Es gilt dann näm-
lich nicht mehr das Legalitätsprinzip, das Staatsanwalt-
schaften und Polizei eine eindeutige Handlungsanleitung
gibt. Vielmehr gilt dann, wenn es sich nur noch um eine
Ordnungswidrigkeit handelt, das Opportunitätsprinzip,
und dann muten wir der Polizei und den Staatsanwalt-
schaften zu, im Kern darüber zu entscheiden, ob ein
Eingreifen zum Schutz der Entscheidungsfreiheit des
Parlamentes erforderlich ist oder nicht. Ich glaube, über
diese Frage muß man sehr intensiv nachdenken, weil mit
der neuen Regelung die Handlungsfreiheit des Parla-
mentes zu einem minderen Schutzgut herabgestuft wird.
Es ist für mich auch nicht ganz logisch, daß dann die
Anstiftung zur Bannkreisverletzung wiederum eine
Straftat sein soll. Mir erscheint die konkrete Verletzung
des Bannkreises doch etwas schwerwiegender als die
Anstiftung dazu. Ich finde, hierüber müssen wir genau
beraten. Denn nach welchen Kriterien sollen Polizei und
Staatsanwaltschaften entscheiden, ob die parlamentari-
schen Beratungen durch eine Bannkreisverletzung be-
einträchtigt worden sind oder nicht oder ob sie in Gefahr
geraten, beeinträchtigt zu werden? Mir scheint, daß
diese Frage in der Praxis nicht einfach zu entscheiden
sein wird.

Es gibt Leute, die darüber nachgedacht haben, ob
man, um die Flexibilität zu erhöhen, nicht auch den
§ 106 a StGB von einem Offizialdelikt zu einem An-
tragsdelikt umgestalten sollte. Davon würde ich aber
dringend abraten, weil wir als Parlament dann in die
Schwierigkeit gerieten, Antragsteller zu sein und je nach
ideeller Nähe zu denjenigen, die die Bannkreisverlet-
zung begangen haben, für oder gegen sie zu entscheiden.
Das halte ich für nicht praktikabel und würde davon ab-
raten.

Deswegen finde ich, daß wir alles, was an praktischen
Auswirkungen mit dieser Regelung zusammenhängt,
doch noch einmal genau unter die Lupe nehmen müssen,
und zwar nicht zu dem Zweck, Streit zu erzeugen, son-
dern um einfach zu schauen, ob das, was wir in das Ge-
setz hineinschreiben, auch praktikabel ist.

Das gleiche gilt für die Frage, ob man das Bannmei-
lengesetz oder das Gesetz zum Schutz der parlamenta-

Dieter Wiefelspütz






(A) (C)



(B) (D)


rischen Beratungen so ausgestalten sollte, daß es in den
nach unseren Plänen sitzungsfreien Zeiten nicht gilt.
Ich fände das recht spannend: Das Präsidium hat eine
Demonstration genehmigt, und dann wird eine Sonder-
sitzung des Bundestages oder mehrerer parlamentari-
scher Gremien beantragt; diejenigen, die demonstrieren
wollen, haben tausende Leute organisiert, die die De-
monstration durchführen sollen. Dann soll das Präsidium
vor dem Problem stehen – im übrigen dann aber auch
die Genehmigungsbehörde, wenn man es bei dem alten
Recht läßt –, eine solche Demonstration zu unterbinden
und zu sagen: Sie darf jetzt nicht stattfinden. Das scheint
mir ein sehr gewagtes Unterfangen zu sein. Ich meine,
es tut der Demonstrationsfreiheit und dem Demonstra-
tionsrecht keinen Abbruch, wenn man sich solcher
Schwierigkeiten auch in den sitzungsfreien Zeiten ent-
hebt, indem man sagt: Demonstriert außerhalb der
Bannmeile, dann seid ihr jedenfalls mit eurer Meinungs-
äußerung aus dem Schneider. Warum muß denn unbe-
dingt in der Bannmeile demonstriert werden? Man kann
das ja überall tun. Wir kommen dann auch aus den
Schwierigkeiten heraus, in konkreten Fällen auf einmal
genötigt zu sein, Demonstrationen zu verweigern, zu
untersagen, zu verhindern, obwohl diejenigen, die de-
monstrieren wollen, alle ihre Vorbereitungen getroffen
haben.

Ich finde also, es gibt ein paar Punkte, über die wir
sachlich und ruhig nachdenken müssen. Ich bedanke
mich, Herr Kollege Wiefelspütz, daß Sie auch die
CDU/CSU-Fraktion in Ihre Beratungen einbeziehen
wollen. Vielleicht ist das – wenn ich so an das Staats-
bürgerschaftsrecht denke, wo man ja keinen Wert darauf
legte, uns einzubeziehen – ein bißchen ein neuer Stil.
Aber immer wenn es um Geschäftsordnungsangelegen-
heiten geht, wird es etwas freundlicher, etwas anders, so
daß ich tatsächlich auf eine fraktionsübergreifende Lö-
sung zu hoffen wage.

Der Ordnung halber will ich abschließend nur noch
hinzufügen, daß ich den Gesetzentwurf der PDS, der ja
auch Beratungsgegenstand ist, weder hinsichtlich seiner
Zielsetzung noch hinsichtlich seiner Begründung für
ernsthaft erörterungsbedürftig halte.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Dann haben Sie ihn nicht richtig gelesen!)


Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der SPD und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403516900
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

gen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist ja im-
mer eine wichtige Aufgabe der Opposition, der Regie-
rung und der Regierungskoalition Beine zu machen. So
verstehe ich auch, daß dieser Antrag heute hier aufge-
setzt worden ist: Der Bundestag zieht jetzt bald um, und
da wollen Sie diese gesetzliche Regelung einführen. Der

Kollege Wiefelspütz hat darauf hingewiesen, daß wir ja
seit langem in vielen sehr ernsten Diskussionen mit vie-
len Sachverständigen – auch aus der Polizei – aus Bund
und Ländern dabei sind, eine solche Regelung zu gebä-
ren, die von allen getragen werden kann.

Es ist sicher richtig, uns ein bißchen Beine zu ma-
chen. Nur, ich sage Ihnen: In diesem Falle bin ich froh,
daß Sie das nicht eher gemacht haben und auch noch
nicht eher Erfolg hatten. So hatten wir die Gelegenheit,
am letzten Montag einmal zu sehen: Wie ist es denn in
Berlin ohne Bannmeile? Mir wurde vorher gesagt – ich
habe hier einen Aufruf der Fachgemeinschaft Bau, die
dort zu großen Demonstrationen aufgerufen hat –: Das
sind auch so Rechte, und die kommen da mit Baufahr-
zeugen; 300 oder 500 haben sie angekündigt, und da
sind möglicherweise 5 000 oder 10 000 Leute – und
keine Bannmeile! Das muß man sich einmal vorstellen!
Außerdem sind wir jetzt im Krieg, und es gibt viele, die
etwas gegen den Krieg haben. Die kommen auch alle
nach Berlin. Das wird ganz fürchterlich.

Nun haben wir das alles letzten Montag erlebt. Beide
Demonstrationen haben stattgefunden. Die Demonstra-
tion der Fachgemeinschaft Bau fand im wesentlichen auf
der Straße des 17. Juni statt; sie ging bis zum Branden-
burger Tor. Dort standen auch die Baufahrzeuge; die
konnte man besichtigen. Die Demonstranten hatten Pla-
kate mit und haben Parolen gerufen. Die andere Demon-
stration fand sehr viel näher statt, vis-à-vis dem Reichs-
tag. Es gab ein Sperrgitter, und dahinter haben diese
Demonstranten ihre Meinung kundgetan. – Hat das ir-
gend jemanden vom Bundestag an seiner Arbeit im
Reichstag gehindert? Doch niemanden. Mich hat es
nicht gehindert, Sie auch nicht. Im Gegenteil, das ist le-
bendige Demokratie.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Heute morgen kam ich hier aus dem Bundestag. Fünf

Meter vom Gebäude entfernt stand eine Frau, die Pla-
kate hochhielt. Andere standen um sie herum. Ich habe
sie gefragt: Sie sind doch wohl nicht mehr als zwei Per-
sonen? Nein, hat sie gesagt, ich bin alleine. Die anderen
gehören nicht zu mir. Sie stehen nur um mich herum und
gucken. – Ja, habe ich gesagt, wenn Sie drei wären, dann
wäre dies eine unerlaubte Versammlung. Das wäre
strafbar. Dann müßten Sie aufpassen, daß Sie nicht vor
dem Amtsgericht in Bonn landen.


(Heiterkeit bei der PDS)

Sie hat immer wieder betont, sie sei alleine. Ob sie nun
wirklich allein war, weiß ich nicht.

Das aber zeigt doch die Absurdität sowohl der alten
Regelung als auch der von Ihnen jetzt vorgeschlagenen.
Sie sollten gemeinsam mit uns überdenken, ob es nicht
in den alten westlichen Demokratien, auf die wir zu
Recht immer gucken, Beispiele dafür gibt, daß es anders
geht. Schauen Sie einmal nach England und Frankreich,
nach London und Paris! Dort gibt es keine Bannmeile,
auch in den USA nicht. Das sind Beispiele für ein funk-
tionierendes demokratisches Leben. Bilder, auf denen
vor dem Kapitol in Washington 500 000 Menschen für
die Gleichheit der Menschen, gegen Rassendiskriminie-

Joachim Hörster






(B)



(A) (C)



(D)


rung und ähnliches demonstrieren, gingen nicht um die
Welt, wenn es dort eine Bannmeile gäbe. Die gibt es
aber dort nicht und in vielen anderen Staaten auch nicht.

Noch ein weiteres Argument: Die neuen Bundeslän-
der, auch CDU-geführte Bundesländer, haben es nach
Diskussionen überwiegend abgelehnt, Bannmeilen zu
errichten. So gibt es etwa bei Herrn Biedenkopf in Dres-
den keine Bannmeile. Dieses Länder haben uns von
ihren Erfahrungen berichtet, und diese sind alle positiv.

Warum wollen wir dahinter zurückfallen? Was wird
mit dem Platz der Republik, dem berühmtesten Platz in
der neuen Bundesrepublik, dem Platz mit den berühmte-
sten Freiheitsdemonstrationen, dem Platz, auf dem Hun-
derttausende gewesen sind, als Willy Brandt, als Ernst
Reuter und andere dort immer am 1. Mai gesprochen
haben? Warum wollen wir die neue, die Berliner Repu-
blik mit einem grundsätzlichen Verbot von Demonstra-
tionen auf dem Platz der Republik beginnen?


(Vors i tz : Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Ich denke, die Abgeordneten brauchen ein bißchen
mehr Mut und ein bißchen mehr Selbstbewußtsein. Sie
sind ja nicht schutzlos, wenn es kein Bannmeilengesetz
gibt. Im Strafgesetzbuch gibt es weitere Vorschriften,
zum Beispiel in § 105 und § 106 b, die die Funktions-
fähigkeit des Parlaments meiner Ansicht nach ausrei-
chend schützen.

Wir sind noch in der Diskussion, wir verabschieden
noch kein Gesetze. Deshalb mein Appell: Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der Freien Demokratischen
Partei, überlegen Sie sich doch einmal, ob Sie wirklich
einen solchen Antrag einreichen und zur Debatte stellen
wollen oder ob wir uns nicht auf etwas anderes einigen
können.

Danke sehr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403517000
Als
letzter Redner in dieser Aussprache hat der Kollege Ro-
land Claus von der PDS-Fraktion das Wort.


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1403517100
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der
F.D.P. ist unseres Erachtens ein Schritt in die richtige
Richtung. Er bedeutet gegenüber der gegenwärtigen
Bannmeilensituation eine erhebliche Verbesserung. Wir
meinen aber, daß dies ein zu kleiner Schritt ist. Gemes-
sen an dem großen Schritt, nach Berlin zu gehen, müßte
er noch ein klein wenig weiter gehen, um den Heraus-
forderungen gerecht zu werden.

Aber wir alle haben eine Alternative, nämlich den
PDS-Gesetzentwurf zur Aufhebung der Bannmeilenre-
gelung. Sie alle, die Sie von der Sache eine Menge ver-
stehen, wissen selbstverständlich, daß die Aufhebung
keineswegs einen gesetzlosen Raum schafft. Selbstver-
ständlich wissen auch Sie, Herr Kollege Solms – im
Augenblick: Herr Präsident –, daß gewalttätige Ausein-

andersetzungen, die Sie in Ihrer Rede als Problem be-
schworen haben, auch auf anderer rechtlicher Grundlage
unterbunden werden können.

Noch ein Stück weiter geht der Kollege Hörster,
wenn er mit Blick auf die Bannmeilenregelung den
Konsens der Demokraten im Bundestag beschwört. Ich
muß ihn einmal fragen, ob er angesichts der Tatsache,
daß es nur noch in vier westeuropäischen Demokratien
Bannmeilen gibt, die anderen westeuropäischen Parla-
mentarier von dem Konsens der Demokraten aus-
nimmt.


(Beifall bei der PDS)

Bannmeilenregelungen bedeuten immer Einschrän-

kung demokratischer Rechte, besonders des Ver-
sammlungsrechtes. Aber – das muß noch hinzugefügt
werden – sie setzen immer auch die Strafe für diejenigen
fest, die sich an diese Regelungen nicht halten.

Nun schlägt die F.D.P. vor, eine historisch überlebte
Regelung etwas aufzubessern – wie gesagt, nicht uner-
heblich. Wir meinen, die Bannmeile wird nicht dadurch
zeitgemäß, daß sie ein wenig modernisiert wird. Dieser
alte Zopf gehört nicht zum Barbier von Berlin; vielmehr
gehört dieser alte Zopf mittelalterlicher Rituale abge-
schnitten.


(Beifall bei der PDS)

Das schlägt Ihnen die PDS mit ihrem Gesetzentwurf

vor. Ich verweise auf die ausführliche Begründung unse-
res Gesetzentwurfes.

An die Adresse der neuen Bundesregierung sage ich:
Wir hätten von Ihnen schon erwartet, daß Sie sich mal
der Überlegung nähern, ob man nicht eine Aufhebung
der Bannmeilenregelung betreiben könnte. Wenn der
Redner der SPD zu unserem Gesetzentwurf rein gar
nichts zu sagen hat, so, als wäre er überhaupt nicht vor-
handen, dann ist das eine gewisse Ignoranz, die ich nicht
nur auf unsere Fraktion beziehe, sondern die natürlich
auch mit den Erwartungen der Gesellschaft an den Ber-
lin-Umzug zu tun hat.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403517200
Herr
Kollege Claus, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wiefelspütz?


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1403517300
Ja, natürlich.


Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1403517400
Herr Claus, ich bin strikt
gegen den Gesetzentwurf Ihrer Fraktion,


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Damit ist auch das geklärt!)


wenn Sie das tatsächlich wissen wollen. Ich finde das,
was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vorgelegt haben, nicht
besonders erwähnenswert. Das ist ja auch mein gutes
Recht.

Ich möchte Sie darauf hinweisen – weil Sie gerade
von der neuen Bundesregierung gesprochen haben –:
Dies ist kein Thema der Bundesregierung. Die Diskus-

Hans-Christian Ströbele






(A) (C)



(B) (D)


sion über die Bannmeile oder über einen befriedeten Be-
zirk ist Sache des Parlamentes.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich würde mich strikt dagegen verwahren – das ist mein
Verständnis von Parlamentarismus; auch das aller ande-
ren Kollegen –, wenn die Bundesregierung dem Parla-
ment Vorschriften über die Regelung des befriedeten
Bezirks machte. Das geht auf gar keinen Fall.

Wir fragen da schon mal die Meinung der Sicher-
heitsbehörden ab, aber die Bannmeilenregelung ist eine
konstitutive Angelegenheit des Parlamentes. Wer wä-
ren wir denn, wenn wir das anderen überließen?

Ich räume ein, daß das in einem anderen deutschen
Staat einmal anders war. Dort hat das alles die Regie-
rung geregelt, weil es dort kein wirkliches Parlament
gab.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieses Parlament, Herr Claus, ist ein richtiges Parlament
und nimmt sich das Recht, eigene Angelegenheiten in
eigener Autonomie zu entscheiden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1403517500
In dieser Frage, Herr Kollege,
besteht zwischen uns keine Differenz. Ich denke, Sie
wissen das. Ihr Hinweis auf DDR-Zustände kommt für
mich auch nicht überraschend. Ich kann mich sehr gut
an die Zustände vor zehn Jahren erinnern, als quasi die
ganze DDR von einer Bannmeile umgeben war. Ich
kann mich gut erinnern, wie diese plötzlich weg war
und wie ich in Halle an der Saale, in Sachsen-Anhalt,
Abend für Abend und Demonstration für Demonstration
die erste Adresse für die berechtigte Kritik der Bürge-
rinnen und Bürger an den Zuständen war. Das war eine
bittere Lehre; sie hat sich mir für lange Zeit eingeprägt.
Ich möchte diesen Vorgang, den ich als geistige Befrei-
ung erlebt habe, nicht so schnell wieder aufgehoben se-
hen und nicht durch Belehrungen über Verantwortung
gemindert wissen.


(Beifall bei der PDS)

Ich möchte einmal auf den historischen Ursprung

des Bannmeilenbegriffs im deutschsprachigen Raum
zurückblicken. Vielleicht hilft uns das bei der heutigen
Entscheidung. Woher stammt dieses kuriose Wort? Der
Begriff reicht in das 13. Jahrhundert zurück, als sich
deutsche Städtegründer in Schlesien und Mähren der
Konkurrenz der Bauern beim Handeltreiben erwehren
wollten. Sie haben die Töpfer, die Bürstenmacher und
die Besenbinder von den Toren ihrer Stadt ferngehalten.


(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ich würde Sie nicht als Besenbinder bezeichnen!)


Im 19. Jahrhundert haben England und besonders Preu-
ßen eine Bannmeile um die Parlamente geschaffen. Hier
ging es nicht mehr um die Besenbinder, sondern um das
Abwehren protestierender Demokratinnen und Demo-

kraten. Wenn man sich das einmal vor Augen hält, sind
Bannmeilen in der Tat unzeitgemäß.

Ich sagte bereits, daß nur vier westeuropäische De-
mokratien dieses Instrument noch kennen. In den neuen
Ländern gibt es die Bannmeile nur in Thüringen. Ich
erinnere mich sehr gut daran – ich sage dies an die Da-
men und Herren der F.D.P. gewandt –, daß wir im
Landtag von Sachsen-Anhalt zu Beginn der ersten
Wahlperiode einen Antrag der F.D.P.-Fraktion behan-
delt haben, eine solche Bannmeile einzurichten. 1991
haben wir nach gründlicher Diskussion im Innenaus-
schuß in aller Friedfertigkeit und aller Gemeinsamkeit,
auch in aller Stille und Gründlichkeit diesen Gesetzent-
wurf beerdigt. Wir haben gesagt, so etwas bräuchten wir
in Sachsen-Anhalt nicht, und haben gemeint, dies könne
ein Signal aus den neuen Ländern sein, das vielleicht
von der Bundespolitik aufgenommen wird. Das ist unse-
re Hoffnung auch jetzt noch.

Deshalb sollten wir die Chance mit dem Umzug nach
Berlin nutzen und einen alten preußischen Hut entsor-
gen. Es paßt doch auch nicht zusammen! In allen Frak-
tionen waren am Montag – vor drei Tagen – in Berlin
die freundlichsten Fensterreden an die Berlinerinnen und
Berliner zu hören, in denen wir zum Ausdruck gebracht
haben, daß wir gern bei ihnen sein und mit ihnen zu-
sammenkommen wollen und daß wir die Begegnung
suchen. Nun, am Donnerstag, erklären wir ihnen, daß ihr
Versammlungsrecht eingeschränkt werde und daß sie
eine Bannmeile bekämen, die auch noch besonders be-
deutsame historische Stätten betrifft. Man muß nur ein-
mal „Ein weites Feld“ von Günter Grass lesen, um zu
erkennen, welche Bedeutung dieses Terrain für die Stadt
hat.

Bannmeilen um Parlamente ziehen immer die Gefahr
nach sich, daß sie auch Bannmeilen in den Köpfen mit
sich bringen, womit solche Gesetze auf ihre geistigen
Urheber zurückschlügen. Eigentlich sind solche Gesetze
„bannmeilenweit“ vom wirklichen Leben entfernt. Dem
können Sie dadurch entgehen, daß Sie dem Gesetzent-
wurf der PDS zur Aufhebung der Bannmeile zustimmen.
Anderenfalls – das ist aber nicht allzu ernst gemeint –
können Sie dann vielleicht noch einmal die alten Schil-
der verwenden, die es in Berlin gab und auf denen steht:
„Ende des demokratischen Sektors“.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS – Lachen bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403517600
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwür-
fe auf Drucksachen 14/183 und 14/516 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 8
auf:
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut

Büttner (Schönebeck), Margarete Späte, Dr. Mi-

Dieter Wiefelspütz






(B)



(A) (C)



(D)


chael Luther, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten und
Mahnmalen zur Erinnerung an die beiden
deutschen Diktaturen und ihre Opfer
– Drucksache 14/656 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen Leißner, Eckhardt Barthel geordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Antje Vollmer, Volker Beck und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Konzeption zur Förderung und Festigung der demokratischen Erinnerungskultur – Drucksache 14/796 – Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Kultur und Medien (federführend)RechtsausschußAusschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hartmut Koschyk von der CDU/CSU-Fraktion. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das vehemente Eintreten des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien, des Staatsministers Naumann, für die Kombination eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas mit einem umfangreichen und kostspieligen Dokumentationsannex hat die deutsche Gedenkstättenlandschaft in erhebliche Unruhe versetzt. Das machte die Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien am Dienstag dieser Woche in Berlin deutlich. Einhellig wiesen die als Sachverständige angehörten Leiter von bestehenden Gedenkeinrichtungen darauf hin, daß eine zusätzliche Gedenkund Forschungsstätte neben einem Mahnmal nicht notwendig sei, weil deren Aufgaben schon in anderen Einrichtungen, zum Teil in unmittelbarer Nähe, wahrgenommen würden. Vielmehr – so das Votum der Angehörten – sollten die bestehenden Gedenkund Forschungseinrichtungen stärker gefördert werden. Der Kombinationsvorschlag von Staatsminister Naumann gibt daher Grund genug, über die Ausstattung und weitere Förderung bestehender Gedenkstätten nachzudenken. Der vorliegende Antrag der CDU/CSUBundestagsfraktion zur „Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten und Mahnmalen zur Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und ihre Opfer“ fordert deshalb ein Engagement des Bundes in diesem Bereich, das die Vielfalt und Dezentralität der Gedenkstättenlandschaft in Deutschland erhält und ihr eine Zukunft gibt. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Vorstellungen über ein Beteiligungskonzept des Bundes an vorhandenen Gedenkstätten vorzulegen. Wir sind sehr gespannt, ob daraus wirklich ein umfassendes Gedenkstättenkonzept wird. Monumentalität ist auch bei Gedenkeinrichtungen kein Wert an sich. Gedenkeinrichtungen müssen auf wissenschaftlich, museologisch und gedenkstättenpädagogisch fundierten Vorstellungen beruhen. Hierbei gilt sicher: Historische Ereignisse lassen sich nicht unwirksam machen; die Erinnerung an sie läßt sich nicht verdrängen. Die Deutschen bleiben aufgefordert, mit der Erinnerung an zwei deutsche Diktaturen und ihre Opfer zu leben: an die Diktatur der Nationalsozialisten sowie an die SED-Diktatur. Bei der Erinnerung an diese Ereignisse kann es nicht um eine letztlich fruchtlose, selbstquälerische Haltung gehen. Das Erinnern an die beiden Diktaturen muß vielmehr Teil eines demokratischen Selbstverständnisses im vereinten Deutschland sein. Es muß das Bewußtsein für Freiheit, Recht und Demokratie schärfen; denn beide Diktaturen waren sich in der Ablehnung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einig. Die Aufklärung über die geschichtlichen Tatsachen, über die beiden Diktaturen in Deutschland, muß zum Kern eines antitotalitären Selbstverständnisses gehören, dem sich der größte Teil der Deutschen verpflichtet weiß. Gedenkstätten sollen das Erinnern und Gedenken an die Diktaturen und ihre Opfer ermöglichen und lebendig erhalten. Sicher ist die Errichtung und das Betreiben von derartigen Gedenkstätten grundsätzlich Ländersache. Aber gleichwohl kann sich der Bund an solchen Gedenkstätten beteiligen, sofern gesamtstaatliche Bezüge oder eine gesamtstaatliche Verantwortung nicht abweisbar sind. Weil die neuen Länder mit der Erhaltung und vor allem mit der notwendigen Umgestaltung bestehender Gedenkstätten nach der Herstellung der deutschen Einheit überfordert waren, hat sich der Bund auf Grund einer Konzeption des Haushaltsausschusses vom März 1993 zunächst für 10 Jahre bereit erklärt, sich an Gedenkstätten in den neuen Ländern und in Berlin zu beteiligen. Der Umbau und die Neuausrichtung vor allem der ehemaligen „nationalen Gedenkstätten der DDR“ waren dabei ein besonderes Erfordernis. So mußten die bereits von der DDR betriebenen Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück nach Herstellung der deutschen Einheit inhaltlich neu gestaltet werden. Es bedarf natürlich kaum der Erwähnung, daß sich in den von der DDR betriebenen Gedenkstätten kein Hinweis auf die Zeit fand, in der sie sowjetische Speziallager waren. Die Konzeption vom März 1993 kann nur als ein erster Schritt hin zu einer umfassenden Gedenkstättenkonzeption verstanden werden, denn die bisherige Beteiligung des Bundes an diesen Gedenkstätten erfolgt mehr Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms unter restriktiven Kriterien, die ich hier im einzelnen nicht nennen will. Die Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ in der 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages hatte die Aufgabe und den Auftrag übernommen, aufbauend auf dem bestehenden Beteiligungskonzept des Bundes, eine umfassende Konzeption vorzulegen. Dieser Auftrag wurde in einem großen Konsens aller Fraktionen dieses Hauses – mit Ausnahme der PDS – erledigt. Der Bundestag hat die Empfehlungen in der letzten Legislaturperiode entgegengenommen. Die Handlungsempfehlungen, zu denen die Enquete-Kommission gekommen ist, sehen ein abgestuftes Förderkonzept unter Beteiligung des Bundes für die bereits in der Förderung enthaltenen Einrichtungen, aber auch für zahlreiche weitere Gedenkeinrichtungen vor. Die CDU/CSU-Fraktion sieht in dieser von der Enquete-Kommission der vergangenen Legislaturperiode vorgelegten Gedenkstättenkonzeption nach wie vor eine wichtige Orientierungshilfe für die Befassung des 14. Deutschen Bundestages und seines Ausschusses für Kultur und Medien, aber auch für die Bundesregierung. Die Empfehlungen wollen die Dezentralität und die Vielfalt von NS-Gedenkstätten und Erinnerungsstätten an die SED-Diktatur in Deutschland erhalten. Es geht den Empfehlungen nicht um eine staatlich verordnete Geschichtsphilosophie; es geht auch nicht nur um die finanzielle Beteiligung. Vielmehr müssen auch das vorhandene private Engagement vieler Menschen in den und für die Gedenkstätten und die Tätigkeit zahlreicher privater Initiativen und Opferorganisationen ein notwendiges Fundament erhalten. Die Bewahrung und die Unterstützung der Gedenkstättenarbeit ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die in einer Zusammenarbeit von staatlicher, aber auch kommunaler Seite sowie von privaten Initiativen und Vereinen sinnvoll geleistet werden kann. Die Heterogenität der Trägerschaften und das von unterschiedlichster Seite stammende individuelle und vereinsmäßige Engagement müssen erhalten bleiben. Allerdings – auch das ist zu sagen – fußt unser Gemeinwesen auf Werten und Anschauungen, die sozusagen als Minimalkonsens betrachtet werden und die auch für die Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten gelten müssen. Die vom Bund zu unterstützenden Gedenkeinrichtungen müssen zur Festigung des demokratischen Selbstbewußtseins, des freiheitlichen Rechtsempfindens und des antitotalitären Konsenses in Deutschland beitragen. Diktaturen dürfen nicht verharmlost und legalisiert werden, wie das die Geschichtspolitik der PDS und ihr nahestehender Organisationen regelmäßig versucht. In einem weiteren Punkt – auch darauf will ich heute hinweisen – haben sich die Empfehlungen der EnqueteKommission als weitsichtig erwiesen. Angesichts der erschreckenden Bilder über die Vertreibung Hunderttausender Menschen aus dem Kosovo hat eine Empfehlung der Enquete-Kommission für mich eine besondere Aktualität, nämlich die, das Denkmal für die Opfer von Flucht und Vertreibung in Berlin in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes aufzunehmen – ein Denkmal, das an die Millionen deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung erinnert und das sicher auch als ein Mal der Mahnung gegen jede Art von Vertreibung und Entwurzelung von Menschen in der Gegenwart und Zukunft verstanden werden kann. Die CDU/CSU-Fraktion fordert die Bundesregierung auf, alsbald eine überarbeitete Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten vorzulegen und der durch die Anhörung des Kulturausschusses am 20. April bezeugten Verunsicherung in der deutschen Gedenkstättenlandschaft zu begegnen. Bei der Vorlage dieses Konzeptes sollte die Bundesregierung den fachlich überzeugenden und im politischen Konsens ausgesprochenen Empfehlungen der Enquete-Kommission des letzten Bundestages Rechnung tragen. Ich danke Ihnen. Als nächster Redner hat die Kollegin Angelika KrügerLeißner von der SPD-Fraktion das Wort. Bitte schön. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Erinnern darf nicht aufhören, denn ohne Erinnerung gibt es weder Überwindung des Bösen noch Lehren für die Zukunft. So formulierte es Bundespräsident Roman Herzog anläßlich der Proklamation des 27. Januar zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Feste Daten und Gedenktage sind für unser historisches Gedächtnis eine wichtige Stütze – um so mehr, wenn die Erinnerung über Generationen fortdauern soll. Aber nicht nur Tage, auch Orte stützen unsere Erinnerung. Vor wenigen Tagen, am 18. April, habe ich bei den Gedenkfeiern zum 54. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen selbst erlebt, wie stark Gedenktage, vor allem aber authentische Orte, wirken und berühren können. Ich habe aber auch gesehen, wie fast 60 Jahre nach den schrecklichen historischen Ereignissen Menschen an den Ort ihres Leidens zurückkehrten, Überlebende, Angehörige und ihre Kinder, aber auch viele interessierte Bürger kommen an diese Orte, um an den Gräbern, den wirklichen und den symbolischen, die Toten und Ermordeten zu ehren und ihrer zu gedenken. Die Überlebenden, die letzten Zeitzeugen, fragen uns immer drängender: Was wird aus diesen Orten? Was wird mit der Erinnerung, wenn wir nicht mehr sind? Sind sie dem Vergessen preisgegeben? – Das sind Fragen an uns, die Nachgeborenen. Unsere Aufgabe ist es, die Verantwortung für die Erinnerung zu übernehmen. Hartmut Koschyk Dies müssen wir tun, solange die Botschaft der Zeitzeugen noch lebendig ist – im ganz unmittelbaren Sinne. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


(Köln), Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter

Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1403517700




(A) (C)


(B) (D)


(Beifall bei der CDU/CSU)


(Beifall bei der CDU/CSU)


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403517800
Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1403517900




(B)


(A) (C)


(D)


Die Koalitionsfraktionen begrüßen daher ausdrück-
lich die Absicht der Bundesregierung, ein Konzept zur
Förderung der Gedenkstätten in der Bundesrepublik
vorzulegen. Wir sehen es mit großer Genugtuung, daß
für dieses Konzept die Empfehlungen der Enquete-
Kommission „Überwindung der Folgen der SED-
Diktatur im Prozeß der Deutschen Einheit“ aus der ver-
gangenen Legislaturperiode zur Grundlage gemacht
werden sollen. Dies ist für uns Sozialdemokraten des-
halb eine Genugtuung, weil in den Empfehlungen die
langjährigen Anträge und Aktivitäten der SPD-Fraktion
seit den 80er Jahren ihren Niederschlag gefunden haben.
Es sollte aber für uns alle eine Genugtuung sein, weil
diese Empfehlungen auf einem Konsens aller Fraktionen
dieses Hauses beruhen. Ich hoffe, daß wir bei unseren
Beratungen und Entscheidungsfindungen diesen wert-
vollen Konsens aus der Enquete-Kommission, der insbe-
sondere mit dem Namen Siegfried Vergin verbunden ist,
fortführen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Suche nach einer Zukunft für die Erinnerung, das
Bewahren des Andenkens an die Opfer zweier Diktatu-
ren in Deutschland eignet sich aus meiner Sicht in keiner
Weise für parteipolitische Instrumentalisierung. Die
Bewahrung der Erinnerung ist eine Aufgabe und Ver-
pflichtung für uns alle in ganz Deutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die Empfehlungen der Enquete-Kommission sind
dabei eine gute Grundlage für unsere weitere Arbeit. Sie
beruhen auf Erkenntnissen und langjähriger Zusammen-
arbeit mit den Ländern, Gedenkstätten und Experten.
Am Dienstag haben uns die Leiter der Gedenkstätten im
Kulturausschuß mitgeteilt, daß sie diesen Empfehlungen
voll zustimmen. Aber auch Opferverbände, Wissen-
schaftler und Fachleute sind vom Konzept der Enquete-
Kommission überzeugt. Wir sollten dieses Lob für ein
Gremium des 13. Deutschen Bundestages als Ver-
pflichtung für unsere jetzige Arbeit betrachten. Hier
wurden Maßstäbe gesetzt.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


In voller Übereinstimmung mit den Empfehlungen
der Enquete-Kommission sehen wir Sozialdemokraten
in den Gedenkstätten an den authentischen Orten die
stärksten Pfeiler der Erinnerungskultur in Deutschland.
Wir verfügen in Deutschland über eine einzigartige de-
zentrale Gedenkstättenlandschaft. Diese Landschaft ist
gekennzeichnet von der Vielfalt der historischen Bezü-
ge, sei es bei den Gedenkstätten zur nationalsozialisti-
schen Terrorherrschaft, sei es bei denjenigen zur SED-
Diktatur.

Die dezentrale Vielfalt der Gedenkstätten macht
übrigens sehr anschaulich, daß sich die historische Ver-
antwortung nicht auf wenige zentrale Standorte konzen-
trieren kann. Die Gesichter der Diktaturen zeigen sich
gerade in den Machenschaften und Verbrechen vor Ort.
Die Schreibtische der Täter, die Gefängnisse und Lager,
vor allem aber die Leidenswege der Opfer, die Zeugnis-
se ihrer Erniedrigung waren über das gesamte Land
verteilt.

Die Vielfalt der Gedenkstätten in Deutschland ist
aber auch das Ergebnis des bürgerschaftlichen Engage-
ments von vielen, insbesondere jungen Menschen. Ohne
diese bürgerschaftliche Verankerung bliebe das Erinnern
angeordnet, letztlich hohl. Viele wissen: Wir haben in
der ehemaligen DDR mit solchen Verordnungen unsere
ganz besonderen Erfahrungen gesammelt.

Wir Sozialdemokraten erwarten daher ein deutliches
Zeichen der Bundesregierung zur Sicherung und Förde-
rung dieser gewachsenen demokratischen Erinnerungs-
kultur. Ich freue mich deshalb, daß unser Kulturstaats-
minister Naumann bei seinem Besuch in der Gedenk-
stätte Sachsenhausen im Januar dieses Jahres erklärt hat,
daß die Förderung der Gedenkstätten für die Bundesre-
gierung höchste Priorität hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Chefsache!)


Hier kann also ohne weiteres das erarbeitete Konzept
der Enquete-Kommission zur Grundlage gemacht wer-
den; denn das Rad muß nicht neu erfunden werden.

Als Eckpunkte einer Gedenkstättenkonzeption se-
hen wir deshalb folgende Aufgabenstellungen an:

Erstens. Die Gedenkstätten als authentische Orte mit
ihrem historischen Erbe, mit den Zeugnissen und Sach-
beweisen für die Verbrechen des Nationalsozialismus
und für das Unrecht des Stalinismus müssen weiter zu
Lernorten, zu lebendigen Orten der Erinnerung entwik-
kelt werden. Die Gedenkstätten an Orten der Verbrechen
gegen die Menschlichkeit sind heute Botschafter der
Humanität. Dort wird die Geschichte des unsäglichen
Leids der Opfer so vermittelt, daß es auch mit dem Her-
zen erfahren und begriffen werden kann. Verbunden mit
dieser emotionalen Betroffenheit können diese Orte hi-
storisches Wissen vermitteln, das eine Beziehung zur
Gegenwart schafft, moralische Sensibilität und politi-
sche Verantwortung ermöglicht.

Daraus folgt zweitens, daß die Gedenkstätten an den
authentischen Orten für diese Aufgabenwahrnehmung
eine angemessene und verläßliche Finanzierung brau-
chen. Für den Bund muß dies heißen, daß die bisher be-
grenzte institutionelle Förderung der Gedenkstätten von
gesamtstaatlicher Bedeutung in den neuen Ländern un-
befristet über das Jahr 2003 fortgeführt wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Drittens. Ebenso müssen die Gedenkstätten von ge-
samtstaatlicher Bedeutung in den alten Ländern, zum

Angelika Krüger-Leißner






(A) (C)



(B) (D)


Beispiel Dachau, Neuengamme und Bergen-Belsen,
künftig in diese institutionelle Förderung aufgenommen
werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der PDS)


Ich erinnere daran: Die Bundesförderung für die Ge-
denkstätten in den neuen Ländern hat insbesondere Bu-
chenwald – aber hoffentlich bald auch Sachsenhausen –
dank der Umgestaltung nach 1990 zur maßstabsetzenden
Einrichtung gemacht. Hier kann der Westen vom Osten
lernen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Viertens. Ich gebe zu bedenken, daß in Anerkennung
der dezentralen Gedenkstättenlandschaft der Bund künf-
tig auch Einzelprojekte im Wege der Projektförderung
mit unterstützen und dafür einen Fonds einrichten sollte.
Möglicherweise müssen wir dringend auch Sondermittel
bereitstellen, um den bedrohlichen Verfall der authenti-
schen Orte – ich denke hier wieder ganz besonders an
Sachsenhausen – zu stoppen.

Fünftens. Wir sehen die Gedenkstättenförderung
selbstverständlich als eine gemeinsame Aufgabe des fö-
deralen Staates an. Das heißt, auch die Länder sind wei-
terhin in der Pflicht, die Gedenkstättenarbeit zu fördern.
Diese gemeinsame Förderung ist nicht nur ein Gebot des
Föderalismus, sondern auch ein Zeichen, daß sich alle
Ebenen des Staates der historischen Verantwortung be-
wußt sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Sechstens. Schließlich erwarten wir eine gezielte
Unterstützung für die Gedenkstätten zur SED-Diktatur,
die sich oftmals noch in einem sehr schwierigen Auf-
baustadium befinden.

Meine Damen und Herren, wir wissen: Die Gedenk-
stätten sind auch als Orte der Aufklärung, Forschung
und Bildung heute unersetzlich geworden. Sie stehen
aber vor dem schweren Einschnitt des Wegfalls der
Zeitzeugen. Dieser Verlust der Zeitzeugenschaft betrifft
unsere gesamte demokratische Erinnerungskultur. Daher
ist es um so wichtiger, daß die Gedenkstätten zu moder-
nen zeithistorischen Museen entwickelt werden. Für
künftige Generationen wird nämlich nur die Vermittlung
von Wissen zu einem Gedenken führen können. Aufklä-
rung und Bildung sind daher die großen Aufgaben für
die Zukunft der Erinnerung. Und genau hier wirken die
Gedenkstätten mit ihrer langjährigen pädagogischen und
wissenschaftlichen Kompetenz.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Wir wissen: Die Jugendbegegnungsstätten in den
Gedenkstätten sind lange ausgebucht. Die Gedenkstätten
verzeichnen seit Jahren einen großen Zuwachs an Besu-

chern. Heute sind diese Gedenkstätten zu lebendigen
Orten der Auseinandersetzung mit der Geschichte, aber
auch mit der Gegenwart geworden. Der verantwortungs-
volle Umgang mit Geschichte, die Aufklärung an den
Gedenkstätten, vor allem aber die zahlreichen Jugend-
begegnungen dort sind ein Stück Wertevermittlung und
Demokratieerziehung. An den Gedenkstätten liegt die
Zukunft der Erinnerung kommender Generationen. Bei
den Gedenkstätten, an den authentischen Orten, ist all
das vorhanden, was der Erinnerung eine Zukunft gibt.
Schaffen wir gemeinsam ein Netzwerk gegen das Ver-
gessen, geknüpft von Schulen, Wissenschaft, Politik,
Bürgerschaft und eben den Gedenkstätten! Dieses
Netzwerk muß uns auch etwas wert sein, nicht zuletzt
eine seriöse und verläßliche Finanzierung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sorgen wir mit
einer neuen Gedenkstättenkonzeption dafür, daß die Ge-
denkstätten ihre wichtigen Aufgaben sachgerecht erfül-
len können! Verknüpfen wir diese Verantwortung auch
mit dem Willen, ein Denkmal für die ermordeten Ju-
den Europas in Berlin zu schaffen, das sich in die
Landschaft der gewachsenen demokratischen Erinne-
rungskultur einreiht! Diese Erinnerungskultur zu festi-
gen und vorzuführen, so wie es in unserem Antrag steht,
sollte uns Verpflichtung sein.

Integriert in eine Gesamtkonzeption gegen das Ver-
gessen sollten wir am Haus der Erinnerung, das es
längst gibt, weiterbauen. Sein Fundament ist das bür-
gerschaftliche Engagement, und seine Etagen sind die
zahlreichen Gedenkstätten an den authentischen Orten.
Daran mitzuarbeiten war stets unser Anliegen. Das soll
es bleiben.

Danke.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403518000
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans-Joachim Otto von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1403518100
Herr Prä-
sident! Meine Damen und Herren! Es ist durchaus be-
merkenswert, welchen Stellenwert Gedenkstätten mo-
mentan in der politischen Agenda unseres Landes haben.
Wichtig aber ist, daß wir in Deutschland nicht nur über
das Holocaust-Mahnmal sprechen, sondern auch über
die zahlreichen Gedenkstätten an authentischen Orten,
die sich zum Teil in jammervollem Zustand befinden. Es
mag eine modische Wortschöpfung sein, von der „de-
mokratischen Erinnerungskultur“ zu sprechen, aber ich
teile ausdrücklich die Einschätzung, daß Erinnern und
Gedenken in einem engen Zusammenhang mit der Kul-
tur stehen. Umgekehrt und zugespitzt formuliert: Eine
der Voraussetzungen für einen Kulturstaat ist die Fähig-
keit und Bereitschaft seiner Bürger, sich der eigenen
wechselvollen Geschichte stets bewußt zu sein und sich
zu ihr zu bekennen. Dies gilt nun leider in besonderem
Maße für uns Deutsche. Wir gedenken beispielsweise
nicht nur des Lebenswerkes Johann Wolfgang von
Goethes und anderer großer Dichter und Denker, son-

Angelika Krüger-Leißner






(B)



(A) (C)



(D)


dern auch der beiden Diktaturen in unserem Land und
deren zahlreicher Opfer.

Meine Damen und Herren, Gedenkstätten haben im-
mer eine Doppelfunktion: Sie erinnern an Vergangen-
heit und weisen zugleich in die Zukunft. Indem sie an
historische Ereignisse oder Persönlichkeiten erinnern,
enthalten sie im Positiven wie im Negativen Lehren
auch für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln. Sie
alle kennen das berühmte Zitat: Nur wer die Vergangen-
heit kennt, kann die Zukunft gewinnen. Demokratische
Erinnerungskultur streitet deshalb gegen die sich leider
ausbreitende Geschichtslosigkeit. Notwendige Bestand-
teile demokratischer Erinnerungskultur sind also nicht
nur Gedenkstätten und Mahnmale, schon gar nicht Do-
kumentationszentren und Bücherwände, sondern nicht
zuletzt auch geschichtliche Bildung.

Es ist schon ein Problem, eigentlich mehr als das,
nämlich eine Schande, welch geringen Raum der Ge-
schichtsunterricht inzwischen in den Lehrplänen der
meisten Länder einnimmt. Geschichtskenntnisse schaf-
fen erst den Boden für das Interesse an Gedenkstätten.
Die besten Erläuterungen, Museen und Dokumentati-
onszentren nützen gar nichts, wenn Menschen wegen
fehlendem Geschichtsbewußtsein ihre Gedenkstätten
erst gar nicht aufsuchen. Wir appellieren deshalb in er-
ster Linie an die Länder. Sie haben in doppelter Hinsicht
eine primäre Kompetenz und Verantwortung, nämlich
für Kultur und für Bildung. Der Bund kann und will die
Länder aus dieser Primärverantwortung nicht entlassen.
Der Bund hat aber durchaus im Sinne des viel beschwo-
renen kooperativen Föderalismus eine sekundäre bzw.
Mitverantwortung für die Gedenkstätten zu übernehmen,
die eine gesamtgesellschaftliche Rolle spielen. Da bin
ich mir mit Ihnen einig.

In diesem Sinne halten wir den Bericht der alten
Bundesregierung zur Förderung von Gedenkstätten
aus dem Jahre 1997 unverändert für eine gute und an-
gemessene Grundlage. Ich habe bisher eigentlich wenig
überzeugende Kritik gegen diesen Bericht gehört.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sollten zunächst einmal davon ausgehen, daß nicht
sehr viel daran zu ändern ist. Aber dieser Bericht muß
selbstverständlich überprüft und aktualisiert werden.

Die Ankündigung der neuen Bundesregierung, eine
Gesamtkonzeption zur Förderung und Festigung der
demokratischen Erinnerungskultur zu erarbeiten, neh-
men wir mit Interesse und Offenheit zur Kenntnis. Wir
haben uns allerdings angewöhnt – angewöhnen müssen
–, die neue Bundesregierung nicht an ihren hehren An-
kündigungen, sondern an ihren realen Taten zu messen.
Für eine solche Zurückhaltung geben gerade unsere täg-
lichen Erfahrungen mit anderen wohlgesetzten Worten
des Herrn Kulturbeauftragten Dr. Naumann immer wie-
der Anlaß.

Keine Frage ist es, daß die verdienstvolle Arbeit der
Enquete-Kommission und ihre Vorschläge Berücksich-
tigung bei unseren weiteren Überlegungen finden müs-
sen. Dies gilt insbesondere für die Auflistung von be-
sonders bedeutsamen Gedenkstätten in den neuen Bun-

desländern, die sicherlich zum großen Teil die Unter-
stützung und Förderung auch des Bundes verdienen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

– Ich bedanke mich.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wir sind Ihre F.D.P.!)


Der Bericht der Enquete-Kommission enthält aller-
dings auch Punkte, über die wir uns einmal in Ruhe Ge-
danken machen sollten. Insofern will ich einige zarte
Fragezeichen machen. Es erstaunt mich, offen gesagt,
wenn ausgerechnet die Enquete-Kommission zur Über-
windung der Folgen der SED-Diktatur und auch Sie,
verehrte Kollegin Krüger-Leißner, die bisherige, wie ich
meine, sinnvolle Konzentration der Förderung des Bun-
des auf Gedenkstätten in den neuen Bundesländern auf-
geben und nunmehr eine bundesweite Förderung einfüh-
ren wollen. Vielleicht wäre es sehr viel sinnvoller, in
den neuen Bundesländern größere Schwerpunkte zu set-
zen. Fragwürdig erscheint mir auch, wenn die Enquete-
Kommission die zeitliche Befristung der Bundesförde-
rung auf zehn Jahre bereits jetzt aufheben und in eine
Dauerförderung übergehen will. Ich meine, da sollten
wir noch Feinarbeit leisten. Diese Punkte können wir in
Ruhe im Ausschuß besprechen. Ich möchte jedenfalls,
um das ganz klar zu sagen, die Länder aus ihrer Primär-
verantwortung für Kultur und damit auch für Gedenk-
stätten nicht so pauschal und schnell entlassen. Hier be-
darf es noch einiger Gespräche, die wir sicherlich im
Konsens führen werden. Das hoffe ich jedenfalls.

Abschließend noch ein Punkt, der uns besonders am
Herzen liegt. Ich freue mich sehr, daß sich auch beide
Vorredner Gedanken darüber gemacht haben, wie wir
mehr bürgerschaftliches Engagement bei der Errich-
tung, vor allem aber bei der Unterhaltung von Gedenk-
stätten initiieren können. Zu Recht weist der Bericht der
Enquete-Kommission darauf hin, daß viele Gedenkstät-
ten erst aus dem Engagement von Vereinen, Bürgerin-
itiativen oder einzelnen Menschen heraus entstanden
sind.


(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Unsere Aufgabe liegt nun darin, zusätzliche Anreize für
solche privaten Initiativen zu schaffen. Es wird Sie
sicherlich nicht überraschen, wenn ich hierin ein wichti-
ges Betätigungsfeld für Stiftungen sehe.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denn Stiftungen sind auf eine Verstetigung von Enga-
gement angelegt, was gerade im Sinne einer dauerhaften
Sicherung und Betreuung von Gedenkstätten von gro-
ßem Vorteil ist.

Fortschreibung und Aktualisierung der Gedenkstät-
tenkonzeption ist eine Aufgabe, bei der wir uns, liebe
Frau Kollegin Krüger-Leißner, in einem fraktionsüber-
greifenden Konsens bewegen sollten; das ist ganz klar.
Ich signalisiere Ihnen, daß sich die F.D.P.-Fraktion ohne
Scheuklappen und ohne Einengungen in voller Offenheit
an dieser Diskussion beteiligen wird. Wir werden kon-

Hans-Joachim Otto (Frankfurt)







(A) (C)



(B) (D)


struktiv an der Fortschreibung des Gedenkstättenkon-
zepts mitarbeiten.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403518200
Als
nächster Redner hat das Wort die Kollegin Antje Voll-
mer von Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403518300

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Es liegt in der Natur dieses Themas, daß es sich
nicht für parteipolitische Debatten eignet. Das hat auch
keiner getan, und das finde ich gut. Die Gedenkstätten
brauchen die Unterstützung des ganzen Hauses. Die
vorliegenden Anträge haben signalisiert, daß wir uns
alle darum bemühen müssen und wollen. An realen Ta-
ten, Herr Kollege Otto, wird nicht nur die jetzige Regie-
rung gemessen, sondern muß auch die vorherige gemes-
sen werden, die den Bericht der Enquete-Kommission
schon vorliegen hatte und daraus schon Schlüsse folgern
konnte.

Interessant ist, daß diese Debatte wie die Debatte
über das Holocaust-Denkmal in einem ganz besonderen
Zeitraum stattfindet. Sie findet zu einem Zeitpunkt statt,
an dem die Stimme der wirklichen Zeugen, der weni-
gen Überlebenden, schwächer, leiser und seltener wird.
Gerade deswegen ist es so wichtig, über die Gedenk-
stätten zu sprechen. Wenn die wirklichen Zeugen nicht
mehr reden können – manch einer fragt sich natürlich,
ob man sie in der Zeit, in der sie noch reden konnten,
nicht zuwenig angehört hat –,


(Beifall bei der SPD und der PDS)

dann müssen Steine, Bilder und Baracken sprechen und
uns von dem berichten, was man sich aus eigener Phan-
tasie gar nicht vorstellen könnte. Deswegen begrüße ich
diese Debatte außerordentlich.

Weil ich sie begrüße, möchte ich noch ein paar Worte
zu der Anhörung, die wir in dieser Woche hatten, sagen:
Da ist seitens der Vertreter der Gedenkstätten eine
merkwürdige Verunsicherung geäußert worden, um
nicht von einer gewissen Konkurrenz zu dem Projekt
des Holocaust-Mahnmals zu sprechen. Wir sollten uns
alle darum bemühen, diese Verunsicherung nicht zu
schüren, sondern ihr entgegenzutreten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


So wie in dieser Woche in Berlin möchte ich allen Ver-
tretern der Gedenkstätten, die natürlich wie immer Sor-
gen um ihre eigene Existenz haben – das hat auch seine
Vorgeschichte –, sagen, daß sie nicht geschwächt wer-
den, sondern außerordentlich gestärkt werden, wenn die-
ses Land und diese Republik darüber diskutiert, dieses
Gedenken auch an einer ganz wesentlichen sichtbaren
Stelle, im Zentrum der Metropole, an einem ganz her-
ausgehobenen Ort in Berlin stattfinden zu lassen. Ich
glaube, daß die Republik, die sich in ihrem Zentrum die-

ser Geschichte stellt, auch mit ihren Gedenkstätten an
historischen Orten besser und sorgfältiger umgehen
wird. Da besteht für mich keine Alternative. Das eine
wird vielmehr das andere bestärken. Dies sollte man den
Vertretern der Gedenkstätten deutlich sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Gedenkstätten haben natürlich ihre Geschichte, auch
ihre Zeitgeschichte. Dies ist eine Geschichte – sie ist im
Osten und im Westen deutlich unterschiedlich –, ange-
sichts deren Verlauf man viel über frühere Generationen
und ihr Verhältnis zu unserer Vergangenheit begreifen
kann. Im Westen, so muß man sagen, war diese Ge-
schichte vielfach sehr mühselig. Das Gedenken ist gera-
de nicht von staatlicher Seite, sondern auf Grund des
Engagements der Bürger entstanden, die auf teilweise
sehr entbehrungsreiche Weise Gedenkstätten aufgebaut
haben, wie zum Beispiel in Stukenbrock, Bergen-Belsen
und Dachau. Das heißt, das Gedenken hat mit den Men-
schen vor Ort begonnen, die sich auf Grund der histori-
schen Spuren und des Unfaßbaren, daß dies in ihrer
Umgebung entstanden ist, dafür verantwortlich gefühlt
haben. Erst allmählich und dann immer stärker ist dies
auch ein Thema der öffentlichen Debatten geworden. Es
scheint so, als ob sich die Bundesrepublik auf ihrer
westlichen Seite lange Zeit nicht zugetraut hätte, sich
diesen historischen Orten auch offiziell zu stellen.

Im Osten wiederum – auch hier kann man Schale um
Schale der Geschichte, der Erinnerung abheben – gab es
ein staatlich verordnetes, aber sehr selektives Gedenken.
Gedacht wurde nicht der Opfer in ihrer ganzen Breite
und in ihren unterschiedlichen Spektren. Es wurde viel-
mehr eine Art Hierarchie der Opfer errichtet. Einen be-
sonderen Erinnerungswert erhielt also der verfolgte
kommunistische Kämpfer. Andere wurden dabei fast gar
nicht mehr erwähnt. Erwähnt wurde auch nicht die
Nachgeschichte, die Sonderlager der sowjetischen Be-
satzungsmacht oder der SED-Diktatur. An dem Verlauf
dieser Geschichte im Westen wie im Osten kann man
über die Schwierigkeit, sich der ganzen Geschichte zu
stellen, viel begreifen.

Die Enquete-Kommission hat eine, wie ich finde,
sehr solide Arbeit gemacht. Ich begrüße, daß Sie uns
Empfehlungen gegeben hat, die in den beiden heute
vorliegenden Anträgen erwähnt werden. Das sind einer-
seits allgemeine Grundsätze, an die ich noch einmal er-
innern will, daß also ehrenamtliche und professionelle
Arbeit im Rahmen der Gedenkstättenkultur gleich wich-
tig ist, daß der dezentrale und plurale Charakter der Ge-
denkstättenlandschaft nicht durch falschen Zentralismus
gestärkt werden darf und daß vor allen Dingen die Ar-
beit der Gedenkstätten international vernetzt sein muß.
Das ist außerordentlich wichtig. Welches waren denn
die ersten Gruppen, die zu den kleinen Gruppen vor Ort
gekommen sind? Das waren oft internationale Gruppen,
die gesagt haben: Wir trauen uns wieder an diesen
furchtbaren Ort.

Grundsätze der Beteiligung des Bundes sind eben-
falls im Enquete-Bericht festgehalten: Die Gedenkstät-
ten müssen sich an einem historischen Ort befinden,

Hans-Joachim Otto (Frankfurt)







(B)



(A) (C)



(D)


dessen Bedeutung der Bevölkerung bewußt ist. Die
Authentizität des Ortes ist wichtig. Die Arbeit der Ge-
denkstätten soll durch das Engagement der Opferver-
bände verstärkt werden, und diejenigen, unter denen be-
sonders viele Opfer waren, sollen eine besondere Rolle
einnehmen. Das Land, in dem die Gedenkstätte steht,
soll an der Finanzierung beteiligt sein.

Interessant und sehr wichtig finde ich den Vorschlag,
einen wissenschaftlichen Beirat beim BMI für die För-
deranträge für die Gedenkstätten einzurichten.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Das ist ein bißchen überholt!)


– Das war die Empfehlung in diesem Bereich. Ich meine,
daß gerade ein solcher besonderer Beirat, der auch die
Sensibilität besitzt, mit diesen Gruppen umzugehen. –


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Wir haben jemand Neues!)


– Ich war noch nicht zu Ende. Das haben wir jetzt neu
geordnet. Wir haben das auch insofern neu geordnet, als
d
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403518400
Wir werden das vorrangig
behandeln.


(Beifall bei der SPD)

Daß es diesen Beirat gibt, daß wir es nicht mehr wie

so oft in Entschädigungsfragen mit dem Finanzministe-
rium zu tun haben, ist außerordentlich wichtig. Deswe-
gen wollte ich das hervorheben und diese Anregung be-
sonders betonen.

Im einzelnen gibt es Empfehlungen in diesem Bericht
der Enquete-Kommission, nämlich daß Sachsenhausen
und die Stiftung „Topographie des Terrors“ zu 50 Pro-
zent vom Bund und von den Ländern gefördert werden
sollen, daß die Gedenkstätte Münchner Platz Dresden
– das ist eine Gedenkstätte, die nur sehr wenig bekannt
ist, in der aber über 1 000 Tschechen hingerichtet wur-
den – und die Gedenkstätte für die Opfer der NS-
Euthanasie vom Bund gefördert werden sollen, ebenso
wie die internationalen Jugendbegegnungsstätten. Ich
weiß aus meiner Arbeit in Dachau, wie schwer es gerade
die Jugendbegegnungsstätten gehabt haben. Ich glaube,
gerade diese brauchen, wenn wir die Erinnerung an die
nächste Generation weitergeben wollen, außerordentlich
große, starke und sichtbare Unterstützung vom Bund.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich glaube, daß die Gedenkstätten vom Willen der
Bürger dieser Republik leben, die Geschichte als Teil
der Voraussetzung unserer Demokratie zu begreifen.
Deswegen unterstütze ich auch die Idee, Stiftungen auf-
zufordern, sich hier zu engagieren. Es ist ein Stück der
besonderen Selbstvergewisserung der Demokratie in
Deutschland, daß wir die Bürger nicht außen vor lassen,
sondern als wesentlichen Teil dieser Erinnerungsarbeit
verstehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich will noch einen letzten Satz sagen. Lassen Sie uns
nicht vergessen, daß wesentliche Gedenkstätten, die Teil
unserer Geschichte sind, nicht auf deutschem Boden
stehen, sondern insbesondere in Polen. Ich selbst bin das
erstemal in den 60er Jahren in Auschwitz gewesen und
danach regelmäßig noch einige Male. Ich habe gesehen,
wie sich Schicht um Schicht grauen Staubs auf den
grauenhaften Dokumenten abgelagert und das Bild im-
mer wieder verändert hat. Ich habe auch gemerkt, daß es
für die Polen sehr schwer ist, dieses unglaublich große
Lager im Sinne einer Gedenkstätte zu erhalten.

Ich glaube, daß wir, wenn wir uns jetzt über den Er-
halt für Gedenkstätten bei uns unterhalten, diese anderen
Gedenkstätten nicht vergessen sollten. Daran sieht man
das wirklich gigantische Ausmaß der Verbrechen, die
man vor den Augen der deutschen Bevölkerung ver-
heimlichen wollte. Das gehört dazu, wenn wir über die-
ses Thema reden.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403518500
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich Fink von
der PDS-Fraktion das Wort.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1403518600
Sehr verehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es scheint eine
gewisse Zusammenarbeit in dem Ausschuß für Kultur
und Medien zu geben, da die meisten Mitglieder dieses
Ausschusses hier reden. Ich kann mich sehr vielem von
dem anschließen, was hier gesagt wurde. Ich möchte
aber sehr konkret von einigen Erfahrungen berichten,
die auch Ergänzung für die Anträge sein können.

Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben ge-
zeigt, daß nicht alle neuen Bundesländer in der Lage
sind, die von der Bundesregierung erwartete Summe für
die Gedenkstättenerhaltung aufzubringen und in ihre
Landeshaushalte aufzunehmen. Das hat zur Folge, daß
diese Länder auch nicht die entsprechenden Bundesmit-
tel bekommen. Deshalb können zum Beispiel im Land
Brandenburg in den KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen
und Ravensbrück wichtige Erhaltungsarbeiten nicht
mehr realisiert werden.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo ist das Geld?)


Dadurch besteht in Ravensbrück die Gefahr, daß das
Gelände des Konzentrationslagers, auf dem Betriebsan-
lagen in einmaliger Weise erhalten geblieben sind, die
ein beredtes Zeugnis vom Zusammenwirken von SS und
deutscher Industrie ablegen, nicht angemessen in die
Gedenkstätte einbezogen werden kann. Gleiches gilt für
das fast vergessene Jugend-KZ Uckermark, weil die-
ses Gelände nach dem Krieg durch die Sowjetarmee ge-
nutzt wurde und deshalb nicht als Erinnerungsstätte in
der DDR zur Verfügung stand. Das Gelände ist jetzt frei,
die Erinnerungsstätte muß neu errichtet werden. Weil
die Mittel fehlen, mußten wichtige Forschungsergeb-

Dr. Antje Vollmer






(A) (C)



(B) (D)


nisse vergangener Jahre unveröffentlicht bleiben. Sie
alle wissen: Langfristige Forschungsarbeit ist mit ABM-
Stellen nicht zu leisten,


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

sosehr sie für den einzelnen als Alternative zur Arbeits-
losigkeit der einzige Ausweg sind.

Die Anhörung der Gedenkstättenleiter zum Holo-
caust-Denkmal am 20. April im Reichstag in Berlin – sie
ist schon mehrfach erwähnt worden – machte deutlich,
daß es allen bis auf Buchenwald an Haushaltsmitteln für
den elementaren Erhalt der Gebäude mangelt, ganz zu
schweigen von der Finanzierung von Forschungsarbei-
ten und pädagogischen Mitarbeitern. Alle betonen hin-
gegen, daß die Besucherzahlen gestiegen sind, beson-
ders die Zahl Jugendlicher. Viele ehemalige Häftlinge
führen als Zeitzeugen – 86jährige, 88jährige, im letzten
Jahr sogar ein 90jähriger – durch die Gedenkstätten und
berichten von ihrer Vergangenheit. Authentischere Zeu-
gen gibt es nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS und der SPD)


Viele ehrenamtliche Bürgerinnen und Bürger sind zu
Führungen bereit und entlasten somit die kleine Zahl der
unterbezahlten hauptamtlichen Mitarbeiter. Bei denen
möchte ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken.


(Beifall bei der PDS, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe zu Zeiten
der DDR an 20 Workcamps mit Gruppen vom Bund der
Antifaschisten und mit Aktion Sühnezeichen in Bu-
chenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück teilgenom-
men. Die Synode meiner Berlin-Brandenburger Kirche
hat allen Pfarrern empfohlen, diese Gedenkstätten mit
ihren Konfirmanden zu besuchen. Eine ganze Konfir-
mandengeneration ist in diesen Gedenkstätten geschult
worden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Auswahl
von Gedenkstätten, denen gesamtstaatliche Bedeutung
zukommt, sind dringlich Ergänzungen nötig. Ich denke
vor allem an die KZ-Gedenkstätten Dachau und Neuen-
gamme, in denen von westlichen Alliierten Nazitäter
interniert wurden, wie es die SMAD auf Alliiertenbe-
schluß hin auch getan hat. Wenn die fatale Nachnutzung
in Buchenwald und Sachsenhausen mit großem finan-
ziellen Aufwand so ausführlich dokumentiert wurde,
sollte eine Dokumentation für Dachau und Neuengam-
me nicht unterlassen werden. Das ist nicht nur meine
Meinung, sondern auch die der dortigen Gedenkstätten-
leiter.


(Beifall bei der PDS)

Unvollständig sind die Empfehlungen der Enquete-

Kommission auch in bezug auf die bisher vergessenen
Opfergruppen. Es gibt in Buchenwald jetzt ein Denkmal
für die ermordeten Sinti und Roma, aber es gibt zum
Beispiel keinen Gedenkort für Euthanasieopfer, die etwa
in Brandenburg, Grafeneck, Hartheim, Sonnenstein und
Hadamar ermordet wurden.

Ausdrücklich unterstützen möchte ich den Staatsmi-
nister Naumann in den bei der Anhörung zum Holo-
caust-Mahnmal hier in Bonn angesprochenen Bemühun-
gen um eine Öffnung des Archivs des Internationalen
Roten Kreuzes in Arolsen. Der Zugang zu diesem Ar-
chiv würde demokratische Erinnerungskultur in Sachen
NS-Forschung und damit die Arbeit der Gedenkstätten
in erheblichem Maße voranbringen. Doch das muß auch
finanziert werden.

Meine Damen und Herren, in Erinnerung bringen
möchte ich noch – das muß an diesem Ort gesagt wer-
den dürfen, ohne einen Parteiendisput heraufzubeschwö-
ren –, daß die SED/PDS auf ihrem außerordentlichen
Parteitag im Dezember 1989 beschlossen hat, sich dafür
einzusetzen – ich zitiere wörtlich – „daß den Opfern sta-
linistischer Opfer ein bleibendes Gedenken in unserer
Gesellschaft bewahrt wird“. Das heißt für mich auch,
der Opfer in den Gefängnissen Hohenschönhausen und
Waldheim zu erinnern und zu mahnen.


(Beifall bei der PDS)

Erinnerungskultur ist für mich eine rückhaltlose Auf-

deckung des Verlaufs der Geschichte, und deshalb kann
es keine Gleichsetzung geben zwischen dem SED-
Regime, das sich ohne Blutvergießen aufgegeben hat,
und der Nazidiktatur, die – wir wissen das ja alles – in
einem bisher nicht gekannten Ausmaß Menschenleben
aus allen Erdteilen vernichtet hat.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403518700
Herr
Kollege Fink, kommen Sie bitte zum Schluß!


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1403518800
Lassen Sie uns doch histo-
risch gewissenhaft bleiben – um der Opfer willen. Die
nächste Generation wird uns dafür historisch-kritisch zur
Verantwortung ziehen.

Ich unterstütze beide Anträge. Meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition und der CDU/CSU,
untersetzen Sie Ihren Antrag mit der Forderung nach
Bundesmitteln in einer diesen Aufgaben angemessenen
Höhe, um dem Anspruch einer demokratischen Erinne-
rungskultur zu genügen!


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403518900
Als
nächster Redner hat der Kollege Gerd Weisskirchen von
der SPD-Fraktion das Wort.


Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1403519000
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kann gar
nicht anders sein: Dieses Thema kann nur konsensual
behandelt werden – das zeigt auch die Debatte –, und
das ist gut so. Deswegen werden wir alle uns darauf
freuen können, daß Sie, Herr Staatsminister Naumann,
in den nächsten Tagen oder Wochen ein geschlossenes
Gesamtkonzept vorlegen werden. Auf der Grundlage
dessen, was er uns vorlegen wird, werden wir im Aus-
schuß gemeinsam miteinander darüber reden, welche
Schwerpunkte wir setzen werden.

Dr. Heinrich Fink






(B)



(A) (C)



(D)


Staatsminister Naumann kann auf sehr gute Ergebnis-
se zurückgreifen. Er kann auf das zurückgreifen, was die
Vorgängerregierung vorgelegt hat. Er kann darauf zu-
rückgreifen, daß die Enquete-Kommission unter dem
Vorsitz von Rainer Eppelmann eine wirklich hervorra-
gende Arbeit gemacht hat. Lieber Herr Kollege Ko-
schyk, Sie waren mit dabei; für uns hat Siegfried Vergin
verantwortlich daran gearbeitet. Ich finde, das ist ein
wirklich gutes Fundament.

Dieses gute Fundament, das in der letzten Legislatur-
periode erarbeitet worden ist, ist für uns eine Verpflich-
tung, neue Elemente zu schaffen, damit wir dem gerecht
werden, worauf es jetzt ankommt, nämlich dem schwie-
rigen Paradigmenwechsel, der in der Debatte beschrie-
ben worden ist. In diesem historischen Einschnitt, wo
keine Zeitzeugen mehr da sein werden, wo das, was sie
an individuellem Gedächtnis, an Wissen, an Erkenntnis-
sen über eine schreckliche Zeit mitgeben können, ver-
geht und uns zurücklassen, kommt es darauf an, diesen
ungeheuren Schatz von Erfahrungen und Erkenntnissen
zu nutzen und in ein kulturelles Gedächtnis zu verwan-
deln.

Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Noch einmal:
Ich finde, wir haben eine phantastische Grundlage. Ich
wünsche mir, daß diese konsensual geführte Debatte auf
den verschiedenen Stufen auch konsensual bleibt. Denn
das ist ein wichtiger Punkt, den wir gemeinsam festhal-
ten dürfen – Frau Kollegin Vollmer, Sie haben darauf
hingewiesen –: Wenn Sie sich die Geschichte der Ge-
denkstätten in Deutschland, besonders in der Bundes-
republik Deutschland, in Deutschland West, in
Deutschland alt – wenn ich das einmal so sagen darf –,
anschauen, dann werden Sie feststellen, daß sie als Ker-
ne des Wissens um die Vergangenheit entstanden sind.
Sie wurden zunächst weniger vom Staat gefördert.
Vielmehr wurden sie gegen manchen Widerstand der
bundesstaatlichen Strukturen, auch der Länder als eine
Verankerung dessen installiert, was niemals vergehen
darf, nämlich als eine Verankerung der Zivilität der Op-
fer, die in der Stunde der Gefahr in den Konzentrations-
lagern, in den Stätten, in denen sie grausam behandelt
worden sind, ein Zeichen der Zivilität gegenüber einer
ungeheuren Diktatur gesetzt haben. Das haben sie ge-
schaffen, und auf der Grundlage dieses bürgerschaftli-
chen Engagements müssen wir weiterarbeiten.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])


Wir danken also diesen Initiatoren, die die Gedenk-
stätten aufgebaut haben. Mit unendlicher Mühe arbeiten
sie seit vielen Jahren daran, dem Gedenken immer wie-
der neues Leben zu geben. Ihre Leistungen sind uner-
setzlich. Jetzt kommt es darauf an, daß der demokrati-
sche Kulturstaat, also auch der kulturföderale Staat, in
der Lage ist, dies aufzunehmen, dieses Wissen als
Schatz zu nutzen, um das, was an Erfahrung, Wissen
und Fähigkeiten vorhanden ist, in die Zukunft zu trans-
portieren.

Es ist nämlich die Fähigkeit, dieses bürgerschaftli-
che Engagement der einzelnen, die als Opfer zunächst

darüber empört gewesen sind, daß niemand anders als
sie selbst das in die Hand nehmen mußte. Sie haben die-
sen Kern des Erinnerns gegen das Vergessen gebildet.
Dieser Kern muß jetzt vom demokratischen Kultur-
staat verantwortlich aufgegriffen werden. Deswegen bin
ich froh darüber, daß wir gemeinsam den Konsens dahin
gehend suchen wollen, daß dann auch die Komplemen-
tarität der Förderung, auch der finanziellen Förderung,
erhalten bleibt. Wir wissen alle, daß wir da manches
auch mit den Ländern werden bereden müssen. Wir
werden also ein Gleichgewicht zwischen denen, die bür-
gerschaftliches Engagement leisten, den Ländern – übri-
gens auch den Gemeinden – und dem Bund finden müs-
sen. Wenn uns das gelingt – ich bin fest davon über-
zeugt, daß dies gelingt –, dann, glaube ich, werden wir
das schaffen, worauf es ankommt, nämlich die authenti-
schen Erfahrungen in die Gegenwart hineinzunehmen
und in die Zukunft mitzunehmen.

Die Enquete-Kommission hat alle deutschen For-
men der Erinnerung an beide deutsche Diktaturen ge-
sichtet, hat sie bewertet und hat an uns Empfehlungen
gerichtet. Sie greifen wir nun auf.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein we-
sentliches Problem aufmerksam machen, das auch hier
in der Debatte schon zweimal aufgetaucht ist, nämlich
das Problem, wie denn die beiden deutschen Staaten –
ich sage das jetzt etwas verkürzt –, nämlich die vergan-
gene DDR und die Bundesrepublik Deutschland, mit
ebenjenem Wissen in der ersten Phase ihrer Gründung
umgegangen sind. Da gab es auf der einen Seite – wenn
man das einmal so sagen darf – einen staatlich verord-
neten Antifaschismus. Ich bin sehr froh darüber, daß
Sie auch über die Folgen dessen kritisch nachdenken.
Das sind ja gestanzte Schablonen, die vom Staat vorge-
geben worden waren. Aber dieser Antifaschismus hat
die ganze Fülle der Ungeheuerlichkeit dessen, womit es
die Opfer zu tun hatten, nicht erfaßt. Auf der anderen
Seite gab es – wir im Westen sollten auch selbstkritisch
sein – so etwas wie einen aufgesetzten Antitotalitaris-
mus in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutsch-
land. Auch er war so etwas wie eine Schablone, aller-
dings nicht staatlich verordnet. Aber er ist in der Kom-
munität der Geschichtswissenschaftler so erarbeitet
worden. Jetzt kommt es darauf an, daß wir etwas Neues
konstruieren. Denn beide Schablonen taugen nicht mehr
als Grundlage für unseren Staat.


(Beifall bei der PDS)

Das meine ich in dem Sinne, daß wir keine Schablonen
mehr haben wollen. Also weder der staatlich verordnete
Antifaschismus noch der aufgesetzte Antitotalitarismus
wird uns in diesem Punkt helfen, sondern – jetzt komme
ich genau zu dem zurück, was uns die Opfergruppen
zeigen – es kommt darauf an, eine neue Form des anti-
totalitären Konsenses, wie Jürgen Habermas das ge-
nannt hat, nämlich eines wirklich antitotalitären Ver-
ständnisses, zu erarbeiten. Dies aber erwächst aus der
Zivilgesellschaft selbst, erwächst aus der Betroffenheit
der Opfer und erwächst aus dem individuellen Gedächt-
nis und der Erinnerung der Opfer. Jetzt kommt es darauf
an, dieses individuelle Gedächtnis zu transformieren, zu
verwandeln in das kulturelle Gedächtnis derer, die ge-

Gert Weisskirchen (Wiesloch)







(A) (C)



(B) (D)


meinsam in einer Gesellschaft zusammenleben. Das ist
eine andere Zugangsperspektive, also nicht mehr, wenn
Sie so wollen, von oben herab, sondern von unten her-
auf, aus der Gesellschaft.

Aber das wird ein schwieriger Prozeß werden. Das
sehen wir auch an allen Debatten. Ich empfehle zum
Beispiel, sich das Buch von Helmut Dubiel anzuschau-
en, das jüngste, das er geschrieben hat. „Niemand ist frei
von der Geschichte“, so ist der Titel dieses Buches. Das
ist wohl wahr. Aber worauf es doch ankommt, ist, daß
eben jene Grundlage, die neu zu erarbeiten ist, keine
Grundlage mehr ist, die – noch einmal – von oben herab
zu formulieren wäre, sondern eine, die von unten herauf
zu formulieren ist – und übrigens eine, von der ich ver-
stehe, daß wir als Parlament einen Beitrag dazu leisten
können, nicht in dem Sinne, daß wir der Gesellschaft zu
definieren hätten, wie sie sich in diesem Veränderungs-
prozeß selbst versteht, sondern einen Beitrag im, so
würde Habermas dann sagen, gesellschaftlichen Diskurs,
also in der gesellschaftlichen Selbstverständigung,
schaffen.

Was wäre diese gesellschaftliche Selbstverständi-
gung? Ich würde sie so formulieren: daß Freiheit und
Demokratie, Gerechtigkeit und Menschenwürde, Solida-
rität und Menschenrechte die Grundlage ebenjenes neu-
en Selbstverständnisses einer zivilen Gesellschaft wer-
den müßten. Das ist übrigens das, was uns die Opfer ja
auch sagen, was sie uns aus ihrer furchtbaren Erfahrung
der Ungeheuerlichkeit zweier Diktaturen mitgeben.

Allerdings – da gebe ich Ihnen recht, darüber müßten
wir dann neu debattieren – ist die Erfahrung jener zwei-
ten Diktatur manchmal auch verknüpft mit jener der er-
sten Diktatur. Was mich immer sehr erschreckt hat, war
die Tatsache, daß manche der Zwangsanstalten, die frü-
her Konzentrationslager waren, dann leider von der SED
genutzt und genommen worden sind als die vergleichba-
ren – nicht in der Grausamkeit – Zwangsanstalten, wo
die Freiheit in die Gefängnisse geworfen worden ist.
Auch darüber müßte man noch einmal neu debattieren,
inwiefern jene beiden Diktaturen und die Kritik an ihnen
diejenigen sind, die Freiheit verunmöglicht haben. Das
ist, glaube ich, der entscheidende Kern, worauf es mei-
ner Meinung nach ankommt, nämlich: Die Zivilität einer
Gesellschaft mißt sich daran, wie beständig die aktive
und demokratische Bürgerschaft daran arbeitet, die Ver-
hältnisse gewaltfrei zu verändern.

Wenn ich damit schließen darf: Fortschritt, auf den zu
hoffen ist, kann durch nichts und niemanden garantiert
werden als durch das eigenverantwortliche Handeln
eines jeden einzelnen. Immer nur das eigenverantwortli-
che Handeln eines jeden einzelnen konstituiert Freiheit.
Ohne Freiheit ist eine demokratische Gesellschaft nie-
mals lebensfähig. Das haben uns die Opfer gezeigt. In
deren Verantwortung und der Verantwortung dessen,
was sie uns über die Zeiten hinweg erzählen, stehen wir.
Ich hoffe, wir werden dieses Konzept in diesem Sinne
gemeinsam erarbeiten.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403519100
Als
letzte Rednerin in dieser Aussprache hat die Kolle-

gin Margarete Späte von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


Margarete Späte (CDU):
Rede ID: ID1403519200
Sehr verehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ver-
ehrte Damen und Herren! „Wer sich der Vergangenheit
nicht erinnert, lebt ohne Zukunft.“ Ich war 22 Jahre alt,
als ich diesen Satz in einen Granit einmeißelte und die-
sen Stein unübersehbar auf den Ausstellungsplatz unse-
rer Bildhauerwerkstatt im Süden des Bezirkes Sachsen-
Anhalt stellte. Das war 1980.

Es ist zwei Tage her, daß im Berliner Reichstag die
erste Sitzung des Deutschen Bundestages stattfand, zehn
Jahre nach dem Fall der Mauer, nach der Öffnung des
Brandenburger Tores, durch das ich immer wieder gehe
– so auch an jenem Tag – mit dem Gefühl, frei zu sein,
dankbar für diese große Chance in meinem wiederver-
einten Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Erinnern an das, was geschah; Gedenken all derjeni-
gen, die dafür gekämpft haben, daß wir heute in einem
freiheitlich demokratischen Staat leben können! Wie un-
endlich die Dimensionen dessen sind, was nach zwei
Diktaturen in Deutschland geschah, zeigt auch die ge-
genwärtige Diskussion zum Denkmal für die ermordeten
Juden Europas in Berlin. Gerade deshalb ist es so wich-
tig, sich immer wieder dessen zu erinnern, dessen zu ge-
denken, zu mahnen und zu bewahren.

Ich möchte mich heute in meinem Redebeitrag be-
sonders den authentischen Orten der zweiten Diktatur in
unserem Lande widmen. Wieviel Erinnern brauchen
wir? Wieviel Zeitzeugnisse dieser jüngsten Vergangen-
heit sind uns Mahnung? Wieviel Gedenken ist uns
wichtig?

Die Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen
der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ hat
einvernehmlich eine unendlich wichtige Arbeit geleistet,
deren Stellenwert man auf Grund des am 17. Juni 1998
vorgelegten Berichts nicht hoch genug einschätzen kann.
Dafür möchte ich den Mitgliedern dieser Kommission
heute nochmals danken.

In Kapitel VI dieses Berichts, „Gesamtdeutsche For-
men der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen
und ihre Opfer“, wird auf die vom Deutschen Bundestag
1994 formulierten Kriterien, nach denen sich der Bund
an Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung be-
teiligen kann, ausführlich eingegangen.

Der damalige Obmann der SPD in der Enquete-
Kommission, Markus Meckel, sagte vor einem Jahr:

In unserem Abschlußbericht werden wir auch Vor-
schläge für die Förderung von Gedenkstätten, die
an die Opfer von SED-Unrecht erinnern, vorlegen.
Wir sind der Ansicht, daß sich der Bund nicht, wie
bisher geplant, zehn Jahre nach der Einheit aus der
Förderung zurückziehen darf.

Gert Weisskirchen (Wiesloch)







(B)



(A) (C)



(D)


Es ist mir wichtig, Ihnen, Herr Staatsminister Nau-
mann, diese Forderung heute ganz groß auf Ihr Ar-
beitspapier zum Gesamtkonzept für die unter Bundes-
verwaltung stehenden Denkmäler und Gedenkstätten zu
schreiben, an dem Sie seit Januar – zunächst nur für
zwei Wochen, nun aber bis zum Sommer diesen Jahres –
arbeiten und über das wir sicherlich noch diskutieren
werden. Die Umsetzung dessen sollte für Sie eine wich-
tige Aufgabe sein.

Mit welch immer wieder bedrückender Aktualität uns
die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit in der
ehemaligen DDR einholt, zeigt die gestern durch die
Nachrichten verbreitete Meldung, daß an einem weiteren
Ort, in Diesdorf, nördlich von Berlin, durch die Gauck-
Behörde einmal mehr aufgeklärt werden konnte, welch
perfide Werkzeuge von der Stasi erdacht wurden. Für
den Kampf gegen den „westlichen Imperialismus“ ent-
wickelte man Terrorkampfmittel wie Sprengtextilien
westlicher Produktion, die, zog man sie an, am Leibe
explodieren sollten, auch Miniatombomben, um die
westliche Stromversorgung lahmzulegen und Atom-
kraftwerke zu sabotieren. In einer Dienstanweisung
steht: Auf lautloses Töten ist besonderer Wert zu legen.

Viele Menschen aus meiner Heimat leiden noch heute
unter den Folgen des damals geschehenen Unrechts. Wir
müssen den vollen Umfang des Unrechts erkennen. Wir
dürfen nichts vergessen.

Heute, zehn Jahre nach der Wiedervereinigung, hat
die Natur, hat die jüngere Geschichte unseres Landes
Gras über den Grenzstreifen, über die innerdeutsche
Grenze wachsen lassen, auch über den Todesstreifen. Es
darf aber kein Gras über unsere Erinnerungen wachsen.
Es darf sich nie mehr wiederholen, was in 40 Jahren
DDR-Regime passiert ist.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Deshalb möchte die CDU/CSU-Fraktion alles daran-
setzen, um die Zeugnisse der SED-Vergangenheit zu
dokumentieren und authentische Stätten des Geschehens
den nachfolgenden Generationen in Erinnerung zu hal-
ten. Nur in einer intensiven Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit sehe ich eine Chance für unser wieder-
vereinigtes Deutschland, die teilweise verzerrte Wahr-
nehmung durch eine unterschiedliche Erinnerungskultur
in Ost und West in Einklang mit der Wirklichkeit zu
bringen. Der Weg zur inneren Einheit ist nur über die
Aufarbeitung der Vergangenheit zu erreichen.

Wir können unsere gemeinsame Zukunft nicht auf
Irrtümern, Erinnerungslücken, Beschönigungen und Le-
genden aufbauen. Wir brauchen die authentischen
Zeugnisse der DDR-Vergangenheit; sie müssen den
Menschen zugänglich gemacht werden. Fakten statt Le-
genden! Beweise, Dokumente und Originalschauplätze
gegen das Vergessen! Die Vermittlung historischen
Wissens an diesen authentischen Orten muß von Gene-
ration zu Generation der jeweils neu zu gestaltenden
Selbstvergewisserung mitmenschlicher und demokrati-
scher Grundlagen individuellen und gesellschaftlichen
Handelns dienen. Ohne eine menschliche Vorstellung
von den betroffenen und leidenden Menschen, ohne

menschliche Anteilnahme bleibt die Erinnerung eine
bloße Abstraktion von Fakten.

Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Ge-
denkstätten und Mahnmale besonders deutlich. Weil
uns die Förderung und der Erhalt eben jener Gedenk-
stätten in den neuen Ländern besonders am Herzen liegt,
fordert die CDU/CSU mit dem vorliegenden Antrag eine
finanzielle Beteiligung des Bundes an den Kosten für
den Erhalt dieser Gedenkstätten, die entsprechend den
Empfehlungen der Enquete-Kommission an den Bun-
destag und an die Bundesregierung festgeschrieben
wurden und unstreitig den Tatbestand gesamtstaatlicher
Bedeutung erfüllen.

Diesen Empfehlungen möchte die CDU/CSU mit ih-
rem Antrag besonderen Nachdruck verleihen. Wir gehen
dabei noch einen Schritt weiter, nämlich daß insbeson-
dere die Gedenkstätte Normannenstraße in Berlin, die
Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn mit dem
Grenzdenkmal Hötensleben und die Gedenkstätte
Münchner Platz Dresden zusätzlich und dauerhaft in den
Forderungskatalog und damit in die Gedenkstättenkon-
zeption des Bundes aufgenommen werden und dadurch
deren dauerhafte Förderung mit Bundesmitteln zum Er-
halt dieser Gedenkstätten langfristig sichergestellt wird.

Das Haus I in der Normannenstraße in Berlin als
ehemaliger Sitz des Ministeriums für Staatssicherheit
symbolisiert wie kein anderer Ort in Deutschland au-
thentisch und grauenhaft den lautlosen Terror des MfS
der 70er und 80er Jahre. Dieses Haus ist damit exempla-
risch für die spezifische Form der politischen Verfol-
gung im System der DDR-Diktatur. Es war Mielkes
Brutstätte für psychischen und physischen Terror.

Schon oft bin ich mit Besuchern aus meinem Wahl-
kreis dort gewesen. Angesichts der kühlen und ge-
schmacklos spießig-muffigen Inneneinrichtung sind
viele ernüchtert. Es hat den Anschein, als lösten sich
nacheinander mehrere Eisenbänder von den Herzen. Es
wird jedoch immer wieder bedrückend still, wenn die
Menschen direkt vor den erdachten Instrumenten psy-
chischen und physischen Terrors stehen, von denen sie
sich bisher nur selten ein Bild machen konnten, und
wenn die Zeichen und Zeugnisse persönlichen Leids, der
Trennungen der Mütter von ihren Kindern, der isolierten
Gefangenschaft und der Ungewißheit des einzelnen über
sein Schicksal einem heute vor Augen führen, was erst
vor wenigen Jahren inmitten des eigenen Lebensumfel-
des mit Menschen geschah, die nicht bereit waren, Un-
freiheit und Unrecht hinzunehmen.

Dieses stille Entsetzen der heutigen Besucher, ver-
mischt mit Wut, Trauer, aber auch mit dem neuen be-
wußten Erleben von Recht und Freiheit, ist eine Form
der sehr persönlichen Auseinandersetzung mit den Fol-
gen einer selbst erlebten Diktatur, wie man sie nur an ei-
nem solchen Ort begreifbar und erfaßbar machen kann.

Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn mit
dem Grenzdenkmal Hötensleben ist ebenfalls von großer
historischer Bedeutung. Marienborn war bis 1990 der
größte innerdeutsche und alliierte Kontrollpunkt und
Grenzübergang. Millionen von Reisenden haben ihn auf
ihrem Weg über die Transitstrecke nach Berlin sowie im

Margarete Späte






(A) (C)



(B) (D)


deutsch-deutschen Reiseverkehr passiert. Die ehemalige
Grenzübergangsstelle Marienborn wurde am 13. August
1996 als Gedenkstätte vom Land Sachsen-Anhalt einge-
richtet und wird bisher auch allein durch das Land fi-
nanziert. Marienborn ist nicht nur ein Symbol für die
Teilung Deutschlands, sondern durch seine Lage an der
Nahtstelle zwischen den beiden Systemblöcken gleich-
zeitig ein Synonym für die Teilung Europas. Von daher
erachten wir die Erhaltung und Pflege gerade auch die-
ser Gedenkstätte als Aufgabe von Bund und Land als
besonders wichtig.

Die Gedenkstätte Münchner Platz Dresden ist das
dritte Projekt. Im Landgerichtsgefängnis am Münchner
Platz in Dresden waren ab 1934 Sondergerichte und
Senate des Volksgerichtshofes ansässig. Die NS-
Gerichtsbarkeit sprach hier über 2 000 Todesurteile aus
und vollstreckte sie auch hier. Mehr als 1 000 Tschechen
wurden an diesem Ort hingerichtet. Nach Kriegsende bis
1953 vollstreckten dort sowjetische Militärtribunale To-
desurteile. Das Landgerichtsgefängnis in Dresden war
darüber hinaus bis 1956 Schauplatz für Urteilsvollstrek-
kungen durch DDR-Gerichte.

Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat sich be-
reits in der vergangenen Legislaturperiode zur Verant-
wortung des Bundes für eine Vielzahl von Gedenkstät-
ten in den neuen Ländern bekannt und sich an deren Er-
halt und Pflege mit Bundesmitteln beteiligt. Wegen der
erst jetzt wieder zugänglichen Archive und Datenmate-
rialien besteht in diesem Bereich ein besonders großer
Forschungsbedarf. Die Zugänglichkeit von authenti-
schen Orten ehemaliger Verfolgung und Inhaftierung ist
Mahnung und gleichzeitig Gedenken an die Opfer der
Diktatur. Den Opfern widerfährt nicht nur durch materi-
elle Entschädigung ein wenig Gerechtigkeit, sondern
auch dadurch, daß sie wissen, die Orte ehemaliger Ver-
folgung und Inhaftierung werden immer wieder der jun-
gen Generation Zeitzeugnis und Mahnung sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])


Wir können Unrecht nicht wiedergutmachen, aber wir
können Zeichen guten Willens setzen. Deshalb möchten
wir diese Gedenkstätten als Zeugnisse der Vergangen-
heit erhalten und sie dauerhaft im Gedenkstättenkonzept
des Bundes festschreiben. Uns muß bewußt sein: Maß-
stab für die Glaubwürdigkeit der Politik eines wieder-
vereinten Deutschlands wird der Umgang Deutschlands
mit seinen Gedenkstätten sein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403519300
Ich
schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei-
sung der Vorlagen auf Drucksachen 14/656 und 14/796
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Der Antrag der CDU/CSU auf Drucksa-
che 14/656 soll zusätzlich dem Rechtsausschuß über-
wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 9 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine weitere Unterstützung der Atomkraft-
werke Khmelnytsky 2 und Rivne 4 in der
Ukraine
– Drucksache 14/795 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(federführend)Auswärtiger Ausschuß

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angela
Marquardt, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr.
Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Investitionen der Europäischen Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung in Khmel-
nytsky 2 und Rivne 4
– Drucksache 14/708 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(federführend)Ausschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt-
Dieter Grill, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach),
Cajus Caesar, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Festhalten an den Zusagen zum Bau von si-
chereren Ersatzreaktoren in der Ukraine
– Drucksache 14/819 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(federführend)FinanzausschußAusschuß für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
die Kollegin Monika Griefahn von der SPD-Fraktion das
Wort.


Monika Griefahn (SPD):
Rede ID: ID1403519400
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wir befinden uns wieder einmal
wenige Tage vor einem Gedenktag. Am Montag jährt
sich der Tag des Unglücks von Tschernobyl zum 13.
Mal. Die Regierungen der G-7-Staaten und die Europäi-
sche Kommission haben im Dezember 1995 in Ottawa
in einem Memorandum of Understanding ein Pro-
gramm beschlossen, mit dem sie die Ukraine unterstüt-
zen, die Atomkraftwerke, die um Tschernobyl herum
noch in Betrieb sind, im Jahre 2000 zu schließen.

Wir wollen der Ukraine helfen, daß sie dann Alterna-
tiven für ihre Energieversorgung zur Verfügung hat. Wir
unterstützen dieses Memorandum. Wir unterstützen die

Margarete Späte






(B)



(A) (C)



(D)


G-7-Staaten. Wir wollen das Aus von Tschernobyl im
Jahre 2000.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber wir wollen diesen Ausstieg ganz, also nicht mit Er-
satzatomkraftwerken, sondern mit einem GuD-
Kraftwerk und Energieeinspartechnologien.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva-Maria Bulling-Schröter [PDS])


Das entspricht auch der Least-cost-Lösung, die in dem
Memorandum of Understanding beschrieben worden ist.

Der hier zur Debatte stehende Antrag, den SPD und
Bündnis 90/Die Grünen eingebracht haben, bedeutet al-
so nicht, daß wir aus der Gemeinschaft der G-7/G-8-
Staaten ausscheren, sondern daß wir gemeinsam mit den
G-7/G-8-Staaten versuchen, den günstigsten Weg für
eine neue Energieversorgung in der Ukraine zu finden.

In der Zwischenzeit haben sich auch andere europäi-
sche Parlamente dafür ausgesprochen, die geplanten al-
ternativen Atomkraftwerke in Khmelnytsky und Rivne
durch Gaskraftwerke und Energieeinsparung zu erset-
zen. In Großbritannien haben beide Häuser Anträge ge-
gen die Unterstützung des Weiterbaus eingebracht. In
Dänemark gibt es jetzt wieder eine starke Mobilisierung
im Parlament. In Österreich ist die Regierung nicht be-
reit, den Bau der Atomkraftwerke zu finanzieren. Selbst
in Slowenien haben sich jetzt Abgeordnete zusammen-
getan und wollen ihre Regierung auffordern, andere
Energieversorgungsmöglichkeiten in der Ukraine voran-
zubringen.

Das sind ermutigende Signale. Es ist ein politisches
Signal aus Europa, Anlagen, wie wir sie mehrfach in
osteuropäischen Ländern haben, nicht mehr zu unter-
stützen, sondern statt dessen eine Energieversorgung in
diesen Staaten mit auf den Weg zu bringen, wie wir sie
auch hier in der Bundesrepublik auf den Weg bringen
wollen.

Bundeskanzler Schröder hat in seiner Regierungser-
klärung heute morgen das besondere Verhältnis zwi-
schen der NATO und der Ukraine angesprochen. Diese
angestrebte Partnerschaft betrachte ich als äußerst wich-
tig für stabile Verhältnisse in Europa. Deswegen ist die
Bundesrepublik besonders verpflichtet, die Ukraine da-
bei zu unterstützen, ihren Energiesektor und ihre Wirt-
schaft zu reformieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen deshalb die Bundesregierung ermutigen,
in Verhandlungen mit den anderen Ländern genau die-
sen Weg einzuschlagen, nämlich ein Gas- und Dampf-
kraftwerk zu finanzieren, Energieeffizienz und Energie-
sparmaßnahmen zu fördern. Die entsprechenden Kosten
wären geringer als die, die in dem ursprünglichen An-
trag für den Bau alternativer Atomkraftwerke in der
Ukraine veranschlagt sind.

Um die Situation zu verdeutlichen: Wenn wir uns die
Studien anschauen, die zum Beispiel die Europäische

Entwicklungsbank vorgelegt hat, dann kommen wir zu
dem Schluß, daß der Fertigbau der beiden Reaktorblök-
ke etwa 1,8 Milliarden Dollar kostet. Die Errichtung
eines Gas- und Dampfkraftwerks würde nur etwa 1
Milliarde Dollar kosten, also rund 800 Millionen Dollar
weniger. Außerdem wäre der Zeitraum für die Erstel-
lung wesentlich kürzer: Es wird damit gerechnet, daß die
Fertigstellung des Gas- und Dampfkraftwerks etwa zwei
Jahre dauern würde, während die Fertigstellung der
Atomkraftblöcke etwa zwischen drei und fünf Jahre –
einige sagen: sogar bis zum Jahre 2006 – dauern würde.

Über allem steht die Sicherheit. Dies ist ein ganz
wichtiges Kriterium; denn wir wissen alle, daß die
Atomkraft nicht fehlerfreundlich ist. Dies kann bei ei-
nem Gas- und Dampfkraftwerk wirklich ausgeschlossen
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch eine wichtige Bemerkung zu den
Zahlungen machen: Im gesamten Energiesektor der
Ukraine wurden 1998 nur 16,7 Prozent aller Rechnun-
gen bar, 60 Prozent durch Tauschgeschäfte und 23 Pro-
zent überhaupt nicht bezahlt. Atomstrom wurde zu
4,5 Prozent in bar, zu 53 Prozent durch Tauschgeschäfte
und zu 40 Prozent gar nicht bezahlt. Das bedeutet, daß
die Kredite von der Europäischen Entwicklungsbank, an
der die Bundesrepublik Deutschland mit 190 Millionen
Dollar beteiligt wäre, sowie andere Kredite wie Hermes-
Kredite, die sich auf insgesamt etwa 880 Millionen DM
belaufen würden, nur durch Stromreimporte ausgleich-
bar wären. Das gilt natürlich auch für ein Gaskraftwerk.
Aber angesichts der niedrigeren Kosten ist die Wahr-
scheinlichkeit, daß der geringere Kredit zurückgezahlt
werden kann, tatsächlich höher.

Diese Gesichtspunkte sprechen dafür, daß wir die
Regierung auf diesem eingeschlagenen Weg unterstüt-
zen. Ich denke, daß wir diesen Ansatz verfolgen sollten,
und bin sehr froh, daß wir diesen Antrag gemeinsam
eingebracht haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403519500
Als
nächster Redner hat der Kollege Kurt-Dieter Grill von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Kurt-Dieter Grill (CDU):
Rede ID: ID1403519600
Herr Präsident! Mei-
ne sehr geehrten Damen und Herren! Frau Griefahn, Sie
haben am Schluß Ihrer Rede gesagt, es spreche alles da-
für, die Regierung auf ihrem Weg zu unterstützen. Es
muß zunächst aber festgehalten werden, daß die offizi-
ellen Stellungnahmen der Bundesregierung, sowohl die
Stellungnahmen des Bundeskanzleramtes als auch die
des Bundesfinanzministeriums, der Europäischen Ent-
wicklungsbank in London eine klare Unterstützung für
den Bau von K 2 und R 4 in der Ukraine signalisiert ha-
ben.

Monika Griefahn






(A) (C)



(B) (D)


Die Europäische Entwicklungsbank hat sich ausweis-
lich der Berichterstattung und den sonstigen Informatio-
nen, die mir vorliegen, ausdrücklich noch einmal versi-
chert, wie denn die Haltung der G-7-Staaten ist. Wenn
ich richtig informiert bin, dann ist es so, daß Herr
Kutschma für die Bundesregierung deutlich gemacht
hat, daß man an den gegebenen Zusagen festhält. Der
Punkt ist: Wenn die Regierung von Ihnen unterstützt
würde, bedürfte es des Antrages nicht. Also gibt es of-
fensichtlich doch eine Veränderung, die durchaus mehr
Fragen aufwirft, als daß sie Antworten gibt.


(Monika Ganseforth [SPD]: Das Parlament will auch noch etwas zu sagen haben!)


– Das ist ja unbestritten. Ich reagiere doch nur auf das,
was heute festgestellt worden ist, Frau Ganseforth. Die
Widersprüche darf ich wohl noch aufzeigen.

Der Deutsche Bundestag hat sich vor nicht allzu lan-
ger Zeit in der Drucksache 13/8391 – das sind die Un-
terlagen zur Agenda 2000 – mit der Frage „Osteuropa
und nukleare Sicherheit“ beschäftigt. Vielleicht schauen
Sie einfach einmal in dieses Dokument hinein, das Sie
im Bundestag befürwortet haben. Es ist ganz interessant,
daß Sie ein Dokument unterschrieben haben, in dem es
– bezogen auf die Frage der Kernkraftwerke, die unter
Einsatz sowjetischer Technologie errichtet wurden und
internationalen Sicherheitsnormen nicht genügen –
heißt:

Sie einfach stillzulegen, wäre keine Lösung, denn
sie stellen nicht alle dasselbe Risiko dar, und die
Kosten für den Aufbau einer alternativen Energie-
versorgung wären äußerst hoch. Einige Bewerber-
länder haben bereits mit dem Bau neuer Kernkraft-
werke begonnen, da sie dies als den kostengünstig-
sten Weg zur Deckung des wachstumsbedingt stei-
genden Energiebedarfs und zur Erreichung von Un-
abhängigkeit im Energiesektor ansehen.
Die Union steht unter dem Gebot des Schutzes von
Leben und Gesundheit ihrer jetzigen und künftigen
Bürger. Das bedeutet, daß die Bewerberländer un-
eingeschränkt an den Bemühungen mitwirken soll-
ten, die Nuklearsicherheit in ihrem Land auf inter-
nationales Niveau zu bringen.

Genau das ist der entscheidende Punkt im Hinblick
auf Ihre Initiative: Man steht in der Ukraine doch nicht
am Beginn des Baus von zwei Kernkraftwerken, son-
dern mittendrin!

Es ist interessant, daß wir als Abgeordnete eine Ein-
ladung der Gesellschaft für Reaktorsicherheit zu einem
Seminar über Gesetzgebungsverfahren und Aufsicht auf
dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie mit
osteuropäischen Parlamentariern und Behörden bekom-
men und Sie zur gleichen Zeit alle Maßnahmen ergrei-
fen, um in Osteuropa Sicherheit im Vollzug und im Be-
trieb von Kernkraftwerken zu gewährleisten.


(Zuruf von der SPD: Das ist doch kein Widerspruch!)


– Natürlich ist das ein Widerspruch, und zwar insofern,
als Sie heute den Eindruck erwecken, als würden in der

Ukraine Kernkraftwerke gebaut, von denen ein besonde-
res Risiko für uns oder für die Ukrainer ausginge. Das
ist nicht der Fall.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben sich – ich meine das Dokument, das wir ge-
stern auch im Ausschuß vorliegen hatten – der Europäi-
schen Union angeschlossen, und Sie entziehen nicht nur
der Ukraine, sondern auch der internationalen Vereinba-
rung, die ja mit gutem Gewissen so verantwortet und
geplant worden ist, im Grunde genommen ein Stück des
Bodens, auf dem sie steht.

Es ist richtig, wenn der Bundeskanzler wie heute mor-
gen auf die besondere Bedeutung der Ukraine hinweist.
Laut Berichten in der „Berliner Zeitung“ und im „Han-
delsblatt“ sowie nach dort zitierten Aussagen des Chefs
der Europäischen Entwicklungsbank hat der Bundes-
kanzler deutlich gemacht, daß die Verpflichtung zum Bau
der Kernkraftwerke in der Ukraine von der Bundesregie-
rung eingehalten wird. Es wird noch eines klaren Wortes
der Bundesregierung bedürfen, denn nach dem deutsch-
französischen Treffen ist es in interessanter Weise zu
unterschiedlichen Darstellungen in der Öffentlichkeit ge-
kommen: einmal seitens des Finanzministeriums und
einmal seitens des Bundesumweltministeriums. Wenn ich
richtig informiert bin, legen die Franzosen großen Wert
darauf, daß Deutschland in der einmal begonnenen Ver-
antwortung bleibt und sich ihr nicht entzieht.


(René Röspel [SPD]: Wenn man mit dem einen Bein im Sumpf steht!)


– Ach, wissen Sie, Ihre Vergleiche taugen nicht so
wahnsinnig viel, weil Sie letztlich auch an einem Punkt
sind – ich sage das unter Berücksichtigung manch ande-
rer Diskussion, die wir in diesem Hause führen –, an
dem Sie über die Frage entscheiden müssen, was andere
Länder zu entscheiden haben und inwiefern wir darauf
Einfluß nehmen. Wenn Sie sich einmal den Anteil
Deutschlands an der Gesamtfinanzierung ansehen, dann
finde ich, daß der Deutsche Bundestag etwas zurück-
haltender mit der Frage umgehen muß, ob er von sich
aus entscheidet, was in der Ukraine gebaut werden darf
und was nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Denn wir haben es mit einem Land zu tun, in dem seit
noch nicht allzu langer Zeit in eigenständigen Parla-
menten Entscheidungen zur Energiepolitik getroffen
werden können.

Die Frage von Gasreaktoren ist mit Sicherheit auch
unter psychologischen Gesichtspunkten eine Frage ande-
rer Abhängigkeiten, als Sie sie für die Kernenergie hier
skizzieren.

Ich meine, daß es der Bundesregierung und auch die-
sem Hause gut ansteht, die der Ukraine gegebenen Zu-
sagen nicht mitten in einem Verfahren zurückzuziehen,
deren Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit – wenn
ich das richtig sehe – durchaus noch geprüft werden; so
ist es ja nicht.

Ich plädiere namens meiner Fraktion dafür, daß wir
der Ukraine die Möglichkeit einräumen, selbst zu ent-

Kurt-Dieter Grill






(B)



(A) (C)



(D)


scheiden, und dabei sicherstellen, daß das, was dann ge-
baut wird, so sicher ist, daß auch wir damit umgehen
können. Ich meine, dies ist der richtige Weg und nicht
die Art und Weise, wie Sie versuchen, auf die Dinge
Einfluß zu nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403519700
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Michaele
Hustedt vom Bündnis 90/Die Grünen.


Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403519800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur wenige
wissen, daß in Jugoslawien in der Nähe von Belgrad ein
Atomkraftwerk steht. Das ist eine weitere Sorge, die ich
mir mache, wenn ich an den Krieg denke.

Wir wissen nicht, wie die politische Situation in 10
oder 20 Jahren in der Ukraine sein wird. Das ist für mich
ein Grund, warum man in dieser Region keine Atom-
kraftwerke finanzieren sollte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt einen zweiten Grund. Warum sollten wir

Atomstrom aus Kraftwerken russischer Bauart finanzie-
ren, der auf Grund der Liberalisierung des Energie-
marktes dann für 1,2 Pfennig nach Deutschland trans-
portiert wird, wodurch deutsche Arbeitsplätze ver-
nichtet werden? Das ist ein zweiter Grund.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich nenne einen dritten Grund. Diese Atomkraftwerke
sind nicht sicher. Herr Grill, Ihre Bundesregierung hat
Stendal mit dem Argument abgeschaltet, diese Technik
sei nicht akzeptabel.


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Stendal war doch gar nicht in Betrieb! Es war doch gar nicht gebaut! Was reden Sie denn da?)


– Sie haben auch Greifswald abgeschaltet.
Es wird, wenn dieser Plan umgesetzt wird, gravierende
Mängel im Feuerschutz, bei der Beständigkeit der
Druckbehälter und im Kontrollsystem geben. Das west-
liche technische Niveau, das auch noch keine Sicherheit
garantiert, aber auf jeden Fall besser ist, ist nicht ge-
wollt. Es ist bei diesem Bau auch nicht möglich.

Hinzu kommt, daß den Arbeitern zum Teil monate-
lang kein Gehalt ausgezahlt wird. Das heißt, die Gefahr
menschlichen Versagens ist hier wesentlich größer als
anderswo.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Entsorgungsfrage ist ungelöst. Die Berge von
Plutonium wachsen an, wobei es eine Mafia gibt, die das
in aller Herren Länder verscherbelt.

Die Sicherheitsfrage ist auch ein Grund, warum man
dort keine AKWs bauen oder finanzieren sollte.

Monika Griefahn hat einen vierten Grund genannt: Es
ist auch billiger, wenn wir dort GuD-Kraftwerke oder
Energieeinsparungen finanzieren. Immerhin soll der
deutsche Bundesbürger ungefähr 3,5 Milliarden DM an
Steuergeldern aufbringen. Das sollte dann auch in einer
sinnvollen Weise verwendet werden.

Die Finanzierung von K 2 und R 4 widerspricht dem
Wortlaut des „memorandums of understanding“, weil es
eben nicht die finanziell günstigste Möglichkeit ist.

Das sind vier gute Gründe dafür, warum wir diesen
Antrag gestellt haben, vier gute Gründe, warum diese
Bundesregierung im Verhältnis zur alten Bundesregie-
rung eine Kurskorrektur vornehmen sollte.

Weil wir so gute und überzeugende Gründe haben,
Herr Grill, kommen Sie jetzt nur noch mit Hilfsargu-
menten. Ich möchte zwei davon aufgreifen.

Das eine Argument ist – das haben Sie schon im Aus-
schuß und auch hier wieder angeführt –, wir greifen in
die Souveränität der Ukraine ein. Zunächst einmal
werden die Auswirkungen eines GAU auch unsere Sou-
veränität beeinflussen; denn radioaktive Strahlen kennen
keine Grenzen, und auch wir werden die Folgen tragen
müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deswegen gibt es ja auch völkerrechtliche Verständi-
gungen über die Sicherheit bei Atomkraftwerken und
dergleichen mehr.

Zweitens war es doch genau umgekehrt. Ich möchte
aus einem Brief des Präsidenten der Ukraine, Leonid
Kutschma, vom 11. Mai 1998 an Tony Blair zitieren, in
dem er – ins Deutsche übersetzt; er hat natürlich Eng-
lisch geschrieben – schreibt:

Das Vorhaben, diese Kraftwerke fertigzustellen,
wurde von den westlichen Partnern vorgeschlagen,
als Alternative zum ukrainischen Vorhaben eines
Gas- und Dampfturbinenkraftwerks bei Slavutic.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Genauso ist es. Sie haben in die Souveränität einge-

griffen, indem Sie mit der Macht des Geldes die ukraini-
sche Regierung dazu gezwungen haben, AKWs und
nicht ein GuD-Kraftwerk zu bauen. In der Ukraine sind
90 Prozent der Bevölkerung gegen AKWs. Nach den Er-
fahrungen von Tschernobyl ist das auch keine Überra-
schung. Auch die ukrainische Regierung wollte etwas
anderes. Sie haben als Gehilfe von Siemens mit der
Macht des Geldes die Ukraine dazu gezwungen. Das ist
ein Eingriff in die Souveränität. Wir kehren jetzt zu
einem offenen Verfahren zurück.

Ich komme zu Ihrem zweiten Hilfsargument. In Ih-
rem Antrag behaupten Sie, daß Trittin die Zusage für die
Mitfinanzierung des Sarkophags von Tschernobyl zu-
rückziehen will. Die Vereinbarung über westliche Hilfe
für den Sarkophag des Unglücksblocks 4 von Tscherno-
byl steht aber in keinerlei Zusammenhang mit dem
„memorandum of understanding“ von 1995; vielmehr
beruht sie auf einem separaten Abkommen von 1997.

Kurt-Dieter Grill






(A) (C)



(B) (D)


Zu keinem Zeitpunkt – das möchte ich hier ganz
deutlich betonen; ich habe mit Herrn Trittin telefoniert;
die Staatssekretärin sitzt dort und kann Ihnen das bestä-
tigen – hat das BMU in Frage gestellt, daß der Sarko-
phag für den zerstörten Block 4 von Deutschland mit
finanziert wird – im Gegenteil. Das Memorandum sieht
nur die Schließung der Blöcke 1 bis 3 als Gegenleistung
für die Schaffung von Ersatzoptionen vor, egal ob es
sich um nukleare oder nicht nukleare handelt. Auch von
diesem Versprechen ist die Bundesregierung nicht abge-
rückt, und sie wird davon auch nicht abrücken. Deswe-
gen ist Ihr Antrag eine absolut infame Unterstellung. Im
Namen der Bundesregierung, des Umweltministeriums
und unserer beiden Fraktionen weise ich sie entschlos-
sen zurück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich bin sehr froh über den Antrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Ich danke auch dem
Umweltministerium, dem Auswärtigen Amt, dem
Finanzministerium und auch dem Bundeskanzleramt,
daß sie bereit sind, in diesem Punkt mit uns zusammen
eine Kurskorrektur vorzunehmen. Es kommt jetzt sehr
viel Arbeit auf sie zu, weil es darum geht, diese Zielvor-
stellung auch diplomatisch umzusetzen.

Der Ukraine muß man die Sorgen nehmen, daß jetzt
nichts mehr finanziert wird. Man muß mit ihr als Partner
sprechen. Man muß mit den G-7-Staaten reden, so daß
sich die Position insgesamt ändert. Das wird nicht ein-
fach sein, insbesondere deswegen, weil es parallel zum
Kosovo-Krieg und der geplanten Friedensinitiative ge-
schehen soll, an der die Ukraine teilnehmen soll. Aber
ich glaube, es wird gelingen. Man muß dabei kein di-
plomatisches Porzellan zerschlagen. Ich habe zutiefst
Vertrauen in unsere Ministerien.

Diese Kurskorrektur war notwendig. Weitere Projekte
dieser Art stehen auf der Tagesordnung. Auch die wer-
den wir hier diskutieren und konsequent verfolgen. Wir
haben die Möglichkeit, ein neues Kapitel internationaler
Energiepolitik aufzuschlagen und zu signalisieren, daß
es Alternativen zu diesen veralteten Technologien gibt.
Andere, neue Technologien sind preiswerter, umwelt-
freundlicher, beherrschbarer und gerade deshalb für ei-
nen weltweiten Einsatz geeignet.

Ich möchte auch meinen Kollegen von der SPD, Mi-
chael Müller, Monika Griefahn und Horst Kubatschka,
außerordentlich für diesen gemeinsamen Antrag danken.
Wir haben es wirklich gut gemacht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403519900
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ulrike Flach
von der F.D.P.-Fraktion.


Ulrike Flach (FDP):
Rede ID: ID1403520000
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Frau Hustedt, ich muß Ihnen entschieden
widersprechen. Was uns mit dem Datum vom 20. April
in geradezu überfallartiger Form von Rotgrün auf den

Tisch geflattert ist, zeigt zum wiederholten Male, daß
sich diese Regierung in der Energiepolitik in die Isola-
tion begibt.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Nachdem sich Herr Trittin mit Paris und London in
Sachen Wiederaufbereitung angelegt hat, will sich die
Regierung jetzt – auch da widerspreche ich Ihnen ent-
schieden – aus dem Konsens der G-7-Staaten zur
Modernisierung der Kraftwerkstechnik in der Ukraine
verabschieden. Die PDS hat ihren Antrag wenigstens
rechtzeitig eingereicht. Aber, ehrlich gesagt, das ist
auch schon das einzig Positive, was ich daran finden
kann.

Sie sprechen selbst davon, daß die beiden Kraftwerke
fast fertiggestellt sind. In der Tat, sie sind zu 80 Prozent
fertig. Wenn Sie jetzt die Kredite zurückziehen, dann
wird das Projekt, genauso wie Sie es planen, scheitern.
Erklären Sie mir bitte einmal die Wirtschaftlichkeit des
Vorhabens, ein zu 80 Prozent fertiges Projekt abzubre-
chen und an seine Stelle den Neubau von Gaskraftwer-
ken zu setzen!

Was kann geschehen? Die Ukraine wird bilateral mit
Rußland verhandeln, um kostengünstige Lösungen zur
Fertigstellung von K 2 und R 4 zu finden. Solche Ver-
handlungen, das wissen wir, finden bereits statt. Oder
Tschernobyl wird weiter betrieben, auch eine uns allen
sicherlich nicht sehr genehme Entwicklung. Kurz, mit
der Kündigung der Kredite erreichen Sie Ihr politisches
Ziel nicht; Sie brechen Verträge, schädigen die deutsche
Exportwirtschaft und machen die Bundesrepublik zu
einem unsicheren Kantonisten in einem europäischen
Konsortium.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Bei der Kreditvergabe, Herr Matschie, ist Deutschland
ja nicht alleine. Für die Modernisierung von K2 und R4
hat sich ein französisch-russisch-deutsches Konsortium
qualifiziert. Haben Sie, Frau Griefahn, mit Frankreich
und Rußland über das gesprochen, was Sie uns hier
heute vorlegen?


(Monika Griefahn [SPD]: Ich habe mit allen gesprochen!)


Sind diese Staaten bereit dazu oder gar begeistert von
Ihrem Vorschlag, Gaskraftwerke zu bauen? – Ich glaube
es nicht, Frau Hustedt.

Haben Sie einmal daran gedacht, welche Wirkung Sie
mit solchen Anträgen in der Ukraine erzielen? Wir bin-
den diesen wichtigen Staat in europäische Programme
ein und brechen sie kurz vor Ende der Projekte wieder
ab. Wie können wir von anderen Staaten die erheblichen
Vorleistungen erwarten, die sie für einen EU-Beitritt
erbringen sollen, wenn Sie sich wie die Axt im Walde
aufführen?


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist ja nun wirklich sehr schwach!)


Ich darf bei dieser Gelegenheit auch noch einmal an
die heutige Rede des Bundeskanzlers erinnern, in der er

Michaele Hustedt






(B)



(A) (C)



(D)


die Ukraine erwähnt hat und darauf hingewiesen hat,
daß man partnerschaftlich mit ihr umgehen sollte. Er
endete mit Bezug auf die osteuropäischen Staaten:

Aber sie wollen und sie brauchen auch wirtschaftli-
che und soziale Stabilität.

Diese, das wissen wir alle, ist besonders von der Ener-
gieversorgung abhängig. Also: morgens schöne Reden
für die Medien und abends Anträge, die genau dieses
Ziel konterkarieren.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [PDS]: So ist das Leben!)


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie-
ßend noch etwas zur Sicherheit sagen. Frau Hustedt, Sie
versuchen K2 und R4 aus ureigenstem ideologischen
Interesse in die Nähe von Schrottkisten zu rücken, die
wir in Osteuropa mit wachsender Sorge beobachten.
Hier handelt es sich aber nicht um Schrott – da stimme
ich Herrn Grill zu –, sondern um Druckwasserreaktoren
modernerer russischer Bauart. Diese sind dem westli-
chen Sicherheitsniveau wesentlich näher, da können
Sie noch so leidend schauen.


(Zuruf von der SPD: Sie müssen mindestens auch gewartet werden!)


Der Kredit, um den es hier geht, zielt darauf ab, die
Technik weiter dem westlichen Sicherheitsniveau anzu-
passen. Die ursprünglich vorgesehene russische Leit-
technik soll durch moderne westliche Sicherheitstechnik
ergänzt und ersetzt werden. Das wissen Sie genauso gut
wie wir.

Auch die F.D.P. will keine Monostrukturen im Ener-
giesektor – es kann nicht nur die Kernenergie geben, da
sind wir uns absolut einig –, sondern wir wollen einen
vernünftigen Energiemix, auch in der Ukraine. Mit Ihren
Anträgen schaden Sie allerdings diesem Ziel. Sie isolie-
ren Deutschland weiter in der Energiepolitik, Sie werden
als Vertragspartner unberechenbar und schädigen die
deutsche Exportwirtschaft.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Flach!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403520100
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Eva-Maria Bulling-
Schröter von der PDS-Fraktion das Wort.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1403520200
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 26. April jährt
sich die Katastrophe von Tschernobyl. Heute haben wir
die Möglichkeit, durch die Annahme des Antrages von
SPD und Grünen, keine Kredite für den Export von
Atomtechnologie in die Ukraine bereitzustellen, ein Zei-
chen dafür zu setzen, daß es uns Ernst ist, aus der Atom-
kraft auszusteigen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun soll man ja sein Licht nicht unter den Scheffel
stellen. Deshalb lassen Sie mich sagen: Ein wenig hat

natürlich die PDS schon mitgeholfen, daß heute das
Haus diese Debatte führt. Man braucht sich nur das Da-
tum unserer Drucksache anzuschauen; Frau Flach hatte
das ja schon bemerkt.

Außerdem hatte ich schon im Herbst letzten Jahres
einen diesbezüglichen Brief an den damaligen Finanz-
minister Oskar Lafontaine geschrieben. Vielleicht sind
Sie aber auch den dankenswerten Appellen der NGOs
wie Urgewald und WEED gefolgt, die sich in dieser
Sache aktiv engagiert haben und immer noch engagie-
ren. Nun gut, uns ist es lieber, wir stimmen einem
Antrag der Regierungskoalition zu, als daß diese einen
inhaltlich identischen Antrag von uns ablehnt.

Positiv festzuhalten bleibt: Offensichtlich sind Sie
noch nicht beratungsresistent; das läßt hoffen. Hoffen
wir, daß wir auch in Fragen des heimischen Atomaus-
stieges weiterkommen.

Die PDS-Fraktion hat am Dienstag beschlossen,
einen Gesetzentwurf zur Beendigung der Wiederaufbe-
reitung zum 1. Januar 2000 einzubringen. Die zeitliche
Nähe der Beratung zum christlichen Pfingstfest läßt
mich hoffen, daß Ihnen vielleicht der Heilige Geist
rechtzeitig in die Glieder fährt und wir auch dort zu
einem positiven Ergebnis kommen.


(Beifall bei der PDS – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In welche Glieder, bitte?)


Nur eines darf nicht passieren: daß, während die An-
träge im parlamentarischen Verfahren sind, anderweitig
Fakten geschaffen werden. Daher möchte ich schon die
öffentliche Zusage von Herrn Finanzminister Eichel ein-
fordern, daß er sich auch ohne förmlichen Beschluß des
Hauses an die politischen Intentionen der Anträge ge-
bunden fühlt. Ich erwarte hier eine Antwort.

Umweltminister Trittin hat sich am 15. April dazu
entsprechend erklärt. Er hat in einem Interview betont,
wir müßten für die Sicherung des Sarkophags in
Tschernobyl finanzielle Mittel bereitstellen und der
Ukraine und anderen Staaten bei der Lösung ihrer Ener-
gieprobleme helfen, ohne sie in die nukleare Sackgasse
zu führen, auch wenn wir Siemens das Geschäft vermas-
seln. Ich denke, das ist richtig. Es gibt Alternativen, wie
den Bau von Gaskraftwerken, die ökologisch vertretbar
sind, und es gibt auch in Osteuropa Potential zur Ener-
gieeinsparung und Effizienzsteigerung. Das ist der Weg,
den wir gehen müssen.

Noch ein Abschlußsatz zu Herrn Grill. Er sprach von
Souveränität; Frau Hustedt hat das schon aufgegriffen.
Ich würde mir wünschen, daß dieses Parlament die Sou-
veränität anderer Länder, die Sie betonen, auch in ande-
ren Fragen ernst nehmen würde,


(Beifall bei der PDS)

zum Beispiel in der Frage des Krieges in Jugoslawien.

Noch ein Satz dazu: Es gab in der letzten Legislatur-
periode eine Besprechung mit Vertretern des Umwelt-
ministeriums aus der Ukraine. Ich habe das schon im
Umweltausschuß berichtet. Sie waren einstimmig der
Meinung, daß sie alternative Energien wollen. Aber sie

Ulrike Flach






(A) (C)



(B) (D)


haben aus eigener Kraft nicht die Möglichkeit, diese al-
ternativen Energien zu finanzieren. Sie werden von den
großen Banken erpreßt; wir kennen das. Ich denke, mit
diesem Antrag ist ein Schritt in die richtige Richtung
gemacht. Deswegen plädiere ich für Zustimmung.


(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403520300
Als
letzter Redner hat das Wort der Kollege Horst Ku-
batschka von der SPD-Fraktion.


Horst Kubatschka (SPD):
Rede ID: ID1403520400
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe immer
gemeint, den Bayern obliege das Recht, auf den Putz zu
hauen. Aber Frau Kollegin Flach, Sie haben heute be-
wiesen, daß auch Sie das können.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Die kann reden, die Frau!)


Es sind schon große Worte, wenn Sie von überfallarti-
gen Anträgen sprechen. Da muß ich Ihnen natürlich sa-
gen, daß Sie offenbar nicht die Presseberichte der letzten
Zeit gelesen haben. Auch dort ist das die ganze Zeit dis-
kutiert worden. Der Begriff Überfall klingt in diesem
Zusammenhang wirklich recht gewaltig. Kollege
Michael Müller hat mir gerade gesagt, er habe seit
Montag 1 200 Zuschriften zu diesem Thema bekommen.
Bei den Bürgern ist das Thema also angekommen, bei
Ihnen nicht.

Zu Ihnen, Herr Kollege Grill. Sie haben gesagt, von
den Kernkraftwerken in der Ukraine gehe kein besonde-
res Risiko aus. Das habe ich schon einmal gehört: vor
1986, vor Tschernobyl. Damals hat man gesagt: kein Ri-
siko, vergleichbarer Standard wie bei uns. Dann ist der
Reaktorunfall in Tschernobyl passiert. Man sollte mit
diesen Argumenten doch etwas vorsichtig sein.

Wir Sozialdemokraten sind davon überzeugt, daß die
heutige Atomtechnik keine Zukunft hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Was wir nicht für zukunftsfähig halten, dürfen wir auch
anderen nicht finanzieren. Deswegen bitten wir die
Bundesregierung im vorliegenden Antrag, bei der Euro-
päischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung dar-
auf hinzuwirken, daß keine Kredite für die Atomkraft-
werke K 2 und R 4 vergeben werden. – K 2 und R 4 sind
übrigens keine Kürzel für Berge und Automarken. –
Außerdem bitten wir die Bundesregierung, die Ukraine
beim Aufbau einer effizienteren und sichereren Energie-
versorgung ohne Atomkraft zu unterstützen.

Auf den außenpolitischen Hintergrund ist bereits
meine Kollegin Griefahn eingegangen.

Bei der Atomtechnik geraten wir in einen gewissen
Widerspruch. Auf der einen Seite steht die Souveränität
von Staaten, auf der anderen Seite stehen die grenzüber-

schreitenden Auswirkungen von GAUs. Seit Tscherno-
byl wissen wir: Sie sind europaweit.

Herr Kollege Grill, wir wollen nicht in das Selbstbe-
stimmungsrecht der Ukraine eingreifen. Wir wollen
vielmehr selbst bestimmen, was wir finanzieren und was
wir nicht finanzieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Ukraine befindet sich in einer schwierigen Situa-
tion. 44 Prozent ihres Strombedarfes werden durch
Kernenergie abgedeckt. Trotzdem ist die Bevölkerung
gegen Atomkraft. Die schlimmen Erfahrungen von
Tschernobyl wirken.

Die beiden Kernkraftwerke K 2 und R 4 sind zu 80
Prozent fertiggestellt. Schöne Bauhüllen! Die Befür-
worter eines Weiterbaus argumentieren, auch die restli-
chen 20 Prozent müßten noch geschafft werden. Dabei
wird übersehen, daß die Hauptmasse der Finanzierung,
nämlich über 3 Milliarden DM, jetzt erbracht werden
muß. Mit dem Bau der beiden Kernkraftwerke wurde in
den 80er Jahren begonnen. Nach Tschernobyl wurde der
Bau unterbrochen. Die lange Bau- und Stillstandszeit
wirkt negativ auf die Kernkraftwerke und deren Sicher-
heit.

Vor diesem Hintergrund ist jetzt noch – auch aus fi-
nanziellen Gründen – ein Umstieg möglich und vor al-
lem sinnvoll. Es bestehen außerdem begründete Zweifel,
ob der in diesen Kernkraftwerken produzierte Strom in
der Ukraine überhaupt benötigt wird. Die Vermutung
liegt nahe, daß der dort produzierte Strom nach Westeu-
ropa exportiert wird. Der würde dann zu Dumpingprei-
sen verkauft werden und unseren Standort gefährden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden jetzt
nach Alternativen fragen. Die Ukraine wollte eigentlich
eine Alternative – Frau Kollegin Hustedt hat darauf hin-
gewiesen –: Sie wollte GuD-Kraftwerke. Diese Tech-
nik wäre billiger, zuverlässiger und vor allem sicherer.
Sie hätte auch den Vorteil, daß sie schrittweise ausge-
baut werden könnte, wenn ein etwaiger Bedarf vorhan-
den wäre. Zwei große Kernkraftwerke von je 1 000 MW
sind in diesem Zusammenhang sehr unflexibel. Der Bau
bindet außerdem Finanzen, und zwar 3 Milliarden DM.
Dieses Geld fehlt beim Einstieg in eine andere Energie-
versorgung.

Nun noch zum Antrag der CDU/CSU: Nach Aussage
der CDU/CSU stehen die Reaktoren kurz vor ihrer
Fertigstellung. Das ist schlicht und einfach falsch. Die
Fertigstellung dauert noch mindestens bis zum Jahre
2004. Die Kernkraftwerke sind also kein Ersatz für
Tschernobyl.

In der Begründung des CDU/CSU-Antrages wird auf
die Sarkophag-Sicherung in Tschernobyl eingegan-
gen. Ich muß sagen: Da bringen Sie zwei Probleme
durcheinander. Das ist ein ganz anderes Problem, dessen
Lösung wir auf internationaler Ebene angehen sollten.
Dies wäre viel wichtiger als der Weiterbau dieser beiden
Kernkraftwerke. Ich weiß, die Situation für die Bundes-
regierung ist schwierig: Die G-7-Staaten hatten zunächst

Eva-Maria Bulling-Schröter






(B)



(A) (C)



(D)


den falschen Weg eingeschlagen. Jetzt muß umgesteuert
werden.

Ich möchte zum Schluß noch auf zwei Punkte einge-
hen:

Erstens. Die Reaktoren wären in Westeuropa nicht
genehmigungsfähig. Sie würden bei uns nie gebaut wer-
den.

Zweitens. Außer in Japan wird zur Zeit in keinem der
anderen G-7-Staaten ein neues Atomkraftwerk geplant.
Die meisten Industriestaaten verabschieden sich still aus
dieser nicht zukunftsfähigen Technik. Wir sollten sie in
der Ukraine nicht finanzieren.

Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403520500
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/795, 14/708 und 14/819 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksa-
che 14/795 soll zusätzlich an den Ausschuß für Wirt-
schaft und Technologie sowie an den Ausschuß für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung überwie-
sen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt der heutigen
Sitzung, Tagesordnungspunkt 10, auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Roland Claus, Wolfgang
Gehrcke, weiteren Abgeordneten und der Frakti-
on der PDS eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetz-

(Verjährung Schadensersatzforderungen für Zwangsarbeit)

– Drucksache 14/554 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat Frau Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion das Wort. Herr Präsident! Meine sehr geehrten – noch verbliebenen – Damen und Herren! Wie in der Begründung unseres Gesetzentwurfs näher ausgeführt, drohen Schadensersatzansprüche von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern des NSRegimes mit dem 13. Mai dieses Jahres zu verjähren. Damit wäre den Betroffenen der Rechtsweg vor deutschen Gerichten verschlossen. 10 Millionen Frauen und Männer wurden vom HitlerRegime zu Zwangsarbeit ohne adäquate Vergütung und unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen gezwungen. Der Hauptprofiteur war die deutsche Industrie, deren Reichsverband 1933 dem Nazi-Regime mit einer Adolf-Hitler-Spende für die Sicherung der Wirtschaft vor Störungen und politischen Schwankungen gedankt hat. Es ist deshalb höchste Zeit, daß sich die an der Zwangsarbeit beteiligte deutsche Wirtschaft sowohl zu ihrer moralischen Schuld als auch zu ihrer finanziellen Verantwortung bekennt. Wir begrüßen die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, auch wenn diese für viele Opfer viel zu spät kommt. Bisher gibt es hierzu jedoch mehr Fragen als Antworten. Es ist äußerst fraglich, ob bis zum 1. September, dem 60. Jahrestag des Überfalls auf Polen, eine für alle Betroffenen gerechte Lösung gefunden wird. Seit der gemeinsamen Erklärung des Bundeskanzlers und einiger Unternehmen vom 16. Februar sind bereits zehn Wochen verstrichen, ohne daß konkrete Konturen zu erkennen sind. Dies bestätigt auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion. Darin heißt es unter anderem: Die genaue Ausgestaltung der Stiftungsiniative liegt jedoch naturgemäß, da es sich um ein freiwilliges Projekt handelt, maßgeblich in den Händen derjenigen Unternehmen, die die Mittel zu ihrer Finanzierung aufbringen werden. Daher kann die Bundesregierung weder Angaben zum Einzahlungsschlüssel, zur Ausgestaltung der zu errichtenden Kontrollorgane noch zur Höhe der humanitären Hilfsleistungen im Einzelfall machen. Entsprechendes gilt für den Zeitplan zur Errichtung der Stiftungsinitiative. Zur geplanten Bundesstiftung können ebenfalls keine Angaben gemacht werden, da die Initiative bei SPD und Bündnis 90/Die Grünen liegt. Danach ist noch alles offen. Man kann den Betroffenen jedoch nicht zumuten, daß ihnen der Rechtsweg ohne die Sicherheit versperrt wird, daß eine angemessene Entschädigung aus einem noch nicht existenten Fonds fließen wird. Viele der Betroffenen sind zur Zeit nach anfänglicher Hoffnung extrem verunsichert. In einem Brief der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ an die Bundestagsabgeordneten aus Nordrhein-Westfalen zur ersten Sitzung im Reichstag heißt es: Unsere Organisationen stellen nun mit Sorge fest, daß wieder Ruhe eingekehrt zu sein scheint und die Schaffung der im Koalitionsabkommen versprochenen Einrichtungen für Entschädigung nicht vorankommt. Es steht somit nach Auskunft der die Stiftungsinitiative begleitenden Bundesregierung noch nicht fest, ob und, wenn ja, wann eine solche Stiftung wirklich ins Leben gerufen wird, wie die konkrete Ausgestaltung aus Horst Kubatschka sieht, welche Gruppen von ehemaligen Zwangsarbeitern davon erfaßt sein werden und welche nicht, und das zu einem Zeitpunkt, an dem zu befürchten steht, daß die Verjährungsfrist abläuft. Diese Gefahr sehen auch die Betroffenen und ihre Rechtsbeistände. Nicht umsonst wurden in den letzten Wochen umfangreiche Klagen vor deutschen Gerichten eingereicht. Wenn die Verjährungsfrist nicht geändert wird, ist zu erwarten, daß bis zum 13. Mai viele weitere solcher Klagen folgen werden. Durch die vorgeschlagene Fristverlängerung kann dieser unwürdige Zustand, daß die Opfer von Zwangsarbeit 54 Jahre nach Ende des Kriegs noch zum letzten Mittel der Klage greifen müssen, vermieden werden. Eine solche Gesetzgebungsmaßnahme stört auch nicht den Gang der Verhandlungen, sondern befördert ihn sogar. Durch das Offenhalten des Rechtswegs werden die Betroffenen eben nicht gezwungen, überstürzt zu klagen. Das ist für sie nach so langer Zeit mit erheblichen Kosten, einem großen Prozeßrisiko und viel unnötiger Aufregung verbunden. Bei einer angemessenen Entschädigung auf dem Stiftungswege werden sie deshalb nicht zum letzten Mittel der gerichtlichen Geltendmachung greifen. Es ist somit nicht zu befürchten, daß dann über geleistete Zahlungen hinaus noch geklagt wird. Diese Position teilen auch die Verfolgtenverbände. Meine Damen und Herren, in Anbetracht unserer Verantwortung den Opfern gegenüber und angesichts der von mir geschilderten und weiterer Versäumnisse hält es die Fraktion der PDS für erforderlich, den Tag der Verjährung von Ansprüchen aus Zwangsarbeit neu festzulegen. Der 8. Mai 2005, also der 60. Jahrestag der Beendigung der nationalsozialistischen Herrschaft, wäre dem politischen Gewicht der Angelegenheit angemessen. Die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit, Verhältnismäßigkeit und die Interessen der Beteiligten bleiben gewahrt. Sie gebieten das Offenhalten des Rechtsweges für einen bestimmten, überschaubaren Zeitraum zugunsten eines Personenkreises, der im NS-Staat maßlos entrechtet und von der Bundesrepublik bislang vernachlässigt wurde. Danke schön. Als nächster Redner hat der Kollege Joachim Stünker von der SPD-Fraktion das Wort. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu später Stunde debattieren wir über ein ernstes und wichtiges Thema. Ich hoffe, daß die leeren Reihen nicht gleichsam Synonym dafür sind, welche Bedeutung das Hohe Haus diesem Thema in den nächsten Wochen und Monaten beimessen wird. (Alfred Hartenbach [SPD]: Aber die wichtigsten Abgeordneten sind da!)

Dr. Evelyn Kenzler (PDS):
Rede ID: ID1403520600

(Beifall bei der PDS)





(A) (C)


(B) (D)


(Beifall bei der PDS)

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403520700
Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1403520800

Meine Damen und Herren, den Opfern der NS-
Gewaltherrschaft angemessene Entschädigungen zu ge-
währen bleibt die fortwährende Aufgabe auch des verei-
nigten Deutschlands.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Das gilt für die staatlichen Institutionen in besonderer
Weise; das gilt aber auch für die Wirtschaft und die ge-
samte Gesellschaft.


(Beifall bei der SPD)

Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen diese Aufga-
be leisten. Es ist eine Aufgabe des gesamten deutschen
Volkes.

Wir müssen uns dabei auch immer wieder bewußt
machen – und gelegentlich vielleicht auch kritisch und
leise hinterfragen –, inwieweit begangenes NS-Unrecht
durch staatliches Handeln und normative Rechtssetzung
überhaupt jemals im eigentlichen Wortsinne wiedergut-
gemacht werden kann;


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

denn das Ausmaß der Verletzung der Würde des Men-
schen, seiner Freiheit und seiner persönlichen Integrität
läßt sich letztendlich nicht in geldwerter Entschädigung
ausdrücken oder gar aufwiegen.

Der Deutsche Bundestag diskutiert in diesen Wo-
chen und auch heute abend, in welcher Form den Op-
fern des Holocaust mit einem in unserer wiederver-
einigten Hauptstadt Berlin zu errichtenden Mahnmal
oder Denkmal auch für zukünftige Generationen wür-
dig und bleibend gedacht werden kann. Da ist es, wie
ich meine, Aufgabe und Verpflichtung zugleich, zu-
mindest den noch lebenden Opfern des NS-Un-
rechtsregimes für das erlittene Unrecht, für die mas-
senhafte Verletzung ihrer Menschenwürde die Hilfe
zuteil werden zu lassen, die heute nach über 50 Jahren
menschlich noch möglich ist.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


In der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und
Bündnis 90/Die Grünen heißt es daher unter der Über-
schrift „Rehabilitierung und Entschädigung“:

Die neue Bundesregierung wird ... unter Beteili-
gung der deutschen Industrie eine Bundesstiftung
„Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“ auf den
Weg bringen.

Meine Damen und Herren, Sie können sicher sein: In
diesem Sinne werden die Koalitionsfraktionen in diesem
Hohen Hause auch initiativ werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir würden der Bedeutung dieser Aufgabe aber, wie
ich meine, nicht gerecht werden und es wäre völlig un-
angemessen und unzumutbar, wollte der Gesetzgeber die
heute noch lebenden Opfer von Zwangsarbeit in der NS-
Zeit nunmehr auf das Zivilrecht und damit, Frau Kenz-
ler, sozusagen auf die Rechtsordnung für den Normalfall

Dr. Evelyn Kenzler






(B)



(A) (C)



(D)


verweisen, das heißt verweisen auf die individuelle
Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegen die Fir-
men oder Privatpersonen bzw. deren Rechtsnachfolger,
die die Zwangsarbeiter seinerzeit beschäftigt haben.

Das durch Zwangsarbeit erlittene Unrecht kann nach
meiner Überzeugung nicht im Wege der zivilrechtli-
chen Subsumtion wiedergutgemacht werden. Bereits
die zivilrechtliche Analyse möglicher individueller An-
sprüche zeigt, daß sich bei Anlegen normaler zivilrecht-
licher Maßstäbe nicht sicher sagen läßt, ob und welche
Ansprüche auch nur dem Grunde nach gegen Unterneh-
men oder Privatpersonen bestehen, die Zwangsarbeiter
beschäftigt haben. Die Rechtslage ist insoweit äußerst
komplex. Das gilt sowohl für mögliche Ansprüche aus
Vertrag, Geschäftsführung ohne Auftrag, zivilrechtlicher
Aufopferung, Delikt oder ungerechtfertigter Bereiche-
rung. Das gilt aber bereits ebenso für die Frage der zi-
vilprozessualen Zulässigkeit derartiger Klagen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst bei Annahme
zum Beispiel eines deliktischen Ersatzanspruches dem
Grunde nach: Wie sollte heute, nach über 50 Jahren, ein
deutscher Richter, der die NS-Zeit nur aus dem Ge-
schichtsunterricht kennt, zum Beispiel bei der Prüfung
eines Schmerzensgeldanspruches der Höhe nach gemäß
§ 847 BGB im Einzelfall das Ausmaß des erlittenen Un-
rechts unter dem Gesichtspunkt der Genugtuungs- und
Ausgleichsfunktion unseres Schadensersatzrechtes an-
gemessen abwägen? Dies ist insbesondere deshalb mit
unübersehbaren Problemen behaftet, da die Zwangsar-
beiter in ganz unterschiedlichen Bereichen der Wirt-
schaft, der Landwirtschaft und selbst in privaten Haus-
halten eingesetzt worden sind.

Auch ihre Behandlung ist unterschiedlich gewesen.
Während Betroffene aus Westeuropa vergleichbare
Löhne wie Deutsche erhielten, bekamen insbesondere
Ostarbeiter keine oder nur geringe Bezahlung. Am
schlechtesten ging es den jüdischen Sklavenarbeitern.
Von ihnen sind die meisten in der Zwangsarbeit zu Tode
gekommen. Das heißt: Ersatzansprüche für die Ab-
kömmlinge? Nach welchem Maßstab? Ich meine, ein für
die Opfer entwürdigender Vorgang; aber auch eine für
den zur Entscheidung berufenen Richter mit der erlern-
ten Subsumtionstechnik kaum zu leistende Aufgabe. Zu
welch unterschiedlichen Einzelergebnissen würde es da-
bei von Gericht zu Gericht kommen! Auch dies ist eine
nicht zumutbare Folge der zivilrechtlichen Lösung.

Zudem kämen in einem Zivilrechtsstreit in vielen
Verfahren kaum lösbare Probleme der Beweisführung
und der Beweislast angesichts des Zeitablaufs von Jahr-
zehnten seit dem zu beurteilenden Sachverhalt hinzu.
Quälend lange Verfahren, womöglich durch mehrere In-
stanzen, wären die notwendige Folge. Es würde Jahre
dauern, bis sich eine Vereinheitlichung der Rechtspre-
chung herausgebildet hätte. Diese Zeit ist nicht mehr ge-
geben, für die überwiegende Mehrheit der Opfer von
NS-Zwangsarbeit bereits auf Grund ihres Lebensalters
nicht mehr. Für die Bundesrepublik Deutschland ist die-
se Zeit über fünf Jahrzehnte nach dem begangenen Un-
recht und dem Ende der NS-Diktatur aber gleichfalls
nicht mehr gegeben. Unser Ansehen würde national und
international Schaden nehmen. Die zunehmenden öf-

fentlichen und politischen Reaktionen aus dem Ausland
sowie die in den USA vermehrt erhobenen Sammelkla-
gen belegen dies mit Nachdruck. Im übrigen gibt es –
worauf Sie zu Recht hingewiesen haben – Sammelkla-
gen zwischenzeitlich auch vor deutschen Gerichten.

Es ist daher zu meiner Überzeugung der falsche An-
satz, die angemessene Entschädigung von noch lebenden
Zwangsarbeitern aus der NS-Zeit unter dem Gesichts-
punkt einer Sonderregelung über die Verjährung mögli-
cher deliktischer Ansprüche von NS-Zwangsarbeitern zu
diskutieren, wie es der Gesetzentwurf vorsieht, den die
PDS heute eingebracht hat.

Damit komme ich auch zu dem eigentlichen Inhalt
der uns vorliegenden Initiative der PDS-Fraktion. Durch
Ergänzung des § 852 Abs. 1 BGB sollen deliktische An-
sprüche aus geleisteter Zwangsarbeit in Deutschland
bzw. des Einflußgebietes während des nationalsozialisti-
schen Unrechtsregimes von 1933 bis 1945 unabhängig
von der dreijährigen Verjährungsfrist erst am 8. Mai
des Jahres 2005 verjähren. Hierdurch soll nach Auffas-
sung der PDS, wie eben ausgeführt worden ist, der in
Kürze drohende Ablauf der Verjährungsfrist verhindert
werden. Aber bereits die Prämisse ist meines Erachtens
höchst zweifelhaft. Zum einen ist es der Systematik des
BGB fremd, innerhalb ein und desselben Anspruchsty-
pus unterschiedliche Fallgruppen des Verjährungsein-
trittes zu begründen. Zum anderen: Entweder sind die
Ansprüche bereits verjährt, nämlich wenn die dreijährige
Verjährungsfrist gilt, oder aber, wenn die 30jährige
Verjährungsfrist gilt, wir haben, von 1990 an gerechnet,
bis zum Jahre 2020 Zeit.

Die Verjährungsfrist für Ansprüche aus unerlaubter
Handlung im Sinne des Gesetzesantrags zu verlängern
macht, wie ich ausgeführt habe, zudem nur Sinn, wenn
wir die Betroffenen wirklich auf den Zivilrechtsweg und
die Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche verwei-
sen wollten. Das kann, wie ich versucht habe auszufüh-
ren, jedoch nicht ernsthaft erwogen werden. Jedem Be-
troffenen würde ein quälender Zivilprozeß mit einem
unter Umständen völlig unbefriedigenden und unange-
messenen – möglicherweise negativen – Ergebnis zu-
gemutet. Ebenso würde den in Anspruch genommenen
deutschen Unternehmen und Privatpersonen über Jahre
ein nicht hinnehmbarer Zustand der Rechtsunsicherheit
zugemutet.

Aus diesem Grunde vermag die SPD-Fraktion dem
Gesetzentwurf der PDS nicht zuzustimmen. Es ist der
falsche Weg zu dem sicherlich gewünschten Ergebnis.
Es muß vielmehr unsere Aufgabe sein, eine Lösung zu
finden, bei der es auf die Zivilrechtslage und damit
letztlich auch auf die Verjährungsfrage überhaupt nicht
ankommt.

Nach meiner Überzeugung ist es daher die Aufgabe
dieses Hohen Hauses, neue, originäre Ansprüche jedes
Betroffenen für eine angemessene individuelle Entschä-
digung zu schaffen.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Machen wir doch!)

Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt daher die diesbe-
züglichen Bemühungen der Bundesregierung, unter Ein-

Joachim Stünker






(A) (C)



(B) (D)


beziehung deutscher Unternehmen eine Stiftungsinitia-
tive „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ auf
den Weg zu bringen.

Diese Initiative der Wirtschaft versteht sich als un-
mittelbare gesellschaftliche Ergänzung zur staatlichen
Wiedergutmachungspolitik der vergangenen Jahre. Sie
soll Rechtssicherheit und Rechtsfrieden schaffen und
dazu beitragen, den Ruf und das Ansehen unseres Lan-
des und der deutschen Wirtschaft zu schützen. Hiermit
müssen wir am Ende des Jahrhunderts gesamtgesell-
schaftlich ein abschließendes materielles Zeichen setzen,
ein Zeichen aus Solidarität, Gerechtigkeit und Selbst-
achtung.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Fangt doch sofort an!)

– Wir sind ja dabei.

Mit dieser Stiftungsinitiative sollten drei Ziele ver-
folgt werden: erstens eine Antwort auf die moralische
Verantwortung aus den Bereichen der Zwangsarbeiter-
beschäftigung zu geben, zweitens aus diesem Verständ-
nis der NS-Vergangenheit humanitäre und zukunftswei-
sende Projekte zu fördern und drittens dadurch eine
Grundlage zu schaffen, um Klagen, insbesondere Sam-
melklagen, zu begegnen und Kampagnen gegen den Ruf
unseres Landes und unserer Wirtschaft den Boden zu
entziehen.

Diese Initiative könnte aus zwei gleichgewichtigen
Teilen bestehen. Der erste Teil ist ein humanitärer Fonds
zugunsten von ehemaligen Zwangsarbeitern und anderen
NS-Geschädigtengruppen; der zweite Teil ist eine ge-
eignete Zukunftsstiftung für Projekte, die eine Bezie-
hung zur Veranlassung dieses Fonds haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte es zum
Abschluß noch einmal betonen: Die Zeit drängt. Auch
diese Initiative sollte mit Unterstützung des Deutschen
Bundestages – ebenso wie die Diskussion über das Ho-
locaust-Denkmal – noch in diesem Jahr zu einem erfolg-
reichen Abschluß kommen, damit angesichts des hohen
Alters der Betroffenen noch in diesem Jahr schnell und
wirksam geholfen werden kann. Helfen können wir aber
in diesem Fall mit einer fragwürdigen Verlängerung der
Verjährungsfrist in § 852 BGB nicht. Die gesamte
Initiative dieses Hauses muß darauf gerichtet sein, mit
dazu beizutragen, den Opfern neue und, wie ich meine,
originäre Ansprüche zu verschaffen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403520900
Herr
Kollege Stünker, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede vor dem Deutschen Bundestag. Herzlichen
Glückwunsch.


(Beifall)

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Wolfgang

Götzer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1403521000
Herr Präsident!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Frage
der Entschädigung für Zwangsarbeit während des zwei-
ten Weltkriegs beschäftigt den Deutschen Bundestag seit
vielen Jahren. So hat zum Beispiel auf Aufforderung des
Bundestags die Bundesregierung in der 11. Wahlperiode
über private Initiativen berichtet, die im Zusammenhang
mit Zwangsarbeit während des zweiten Weltkriegs
ergriffen wurden. In einer Entschließung vom 31. Okto-
ber 1990 hat der Deutsche Bundestag die Bundesregie-
rung aufgefordert, zu prüfen, ob eine Fondslösung für
Entschädigungsleistungen an Zwangsarbeiter aus dem
zweiten Weltkrieg möglich ist, außerdem Kontakt mit
der Privatwirtschaft aufzunehmen und sie zu fragen, ob
sie zu solchen Leistungen bereit ist, und die Höhe der
benötigten Mittel festzustellen. Der entsprechende Be-
richt der Bundesregierung wurde am 21. Januar 1992
abgegeben.

In seiner Entschließung vom 24. Februar 1994 hat der
Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert,
umfassend über bisherige Wiedergutmachungsleistun-
gen deutscher Unternehmen zu berichten, ferner alle
Unternehmen anzuschreiben, bei denen oder bei deren
Rechtsvorgängern Zwangsarbeiter beschäftigt worden
sind, und diese Unternehmen aufzufordern, nach Mög-
lichkeiten zu suchen, eine der gegründeten Stiftungen
finanziell zu unterstützen. Dabei hat der Deutsche Bun-
destag seine Aufforderung an Bundesregierung und
Wirtschaft bekräftigt, daß insbesondere diejenigen Un-
ternehmen der deutschen Wirtschaft, in denen oder in
deren Rechtsvorgängern Zwangsarbeiter tätig waren,
finanzielle Beiträge zu den gegründeten Stiftungen lei-
sten sollten.

Die Bemühungen um eine Fondslösung sind, wie
jeder weiß, im vollen Gange, und ich hoffe, daß sie
möglichst bald zu einem zufriedenstellenden Abschluß
gebracht werden können. Denn wir alle sind uns einig,
daß diesen Menschen großes Unrecht zugefügt worden
ist, das mit Geld ohnehin nicht im eigentlichen Sinne
wiedergutzumachen ist.

Was den vorliegenden Antrag der PDS angeht, so
möchte ich hierzu folgendes feststellen: Der Antrag der
PDS beschränkt sich inhaltlich nur auf die Frage der
Verjährung nach § 852 BGB, also auf Schadenersatzan-
sprüche aus unerlaubter Handlung. Eine solche Be-
schränkung ist für mich nicht nachvollziehbar. Denn In-
dividualansprüche können sich auch aus anderen
Rechtsgründen ergeben, zum Beispiel zivilrechtliche
oder öffentlich-rechtliche Aufopferungsansprüche oder
Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung.


(Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])

– Herr Kollege, das Stichwort Nachbesserung ist ja,
glaube ich, das meistgebrauchte Wort in dieser neuen
Legislaturperiode. Es steht Ihnen also nichts im Wege,
Ihren Antrag nachzubessern.

Rechtlich beruht der Antrag der PDS auf einer Min-
dermeinung in der Literatur, nach der die Verjährungs-
frist des § 852 BGB durch die in der Nachkriegszeit
herrschende Rechtsauffassung gehemmt worden sei,
nach der individuelle Ansprüche von Zwangsarbeitern

Joachim Stünker






(B)



(A) (C)



(D)


ausgeschlossen waren: Die Gerichte haben damals, in
der Nachkriegszeit, Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter
unter Berufung auf § 5 Abs. 2 des Londoner Schulden-
abkommens vom 27. Februar 1953 als „zur Zeit unbe-
gründet“ abgewiesen. Die damals herrschende Meinung
vertrat die Ansicht, es sei völkerrechtlicher Grundsatz,
daß der aus Kriegs- und Besatzungshandlungen erwach-
sende Schaden nur durch Reparationen von Staat zu
Staat unter Ausschluß von individuellen Ansprüchen ab-
zugelten sei. Deshalb – so die Mindermeinung – wäre
auf jeden Fall die Verjährung aus Rechtsgründen ent-
sprechend § 202 BGB gehemmt gewesen.

Dies – so weiter die Mindermeinung – gelte aber nur
bis zur Verkündung des Beschlusses des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 13. Mai 1996. In dieser Entscheidung
das Bundesverfassungsgericht in einem obiter dictum
festgehalten, daß es keine Exklusivität zwischenstaatli-
cher Vereinbarungen zur Regelung von kriegsbedingten
Entschädigungszahlungen gibt, sondern daß Ansprüche,
die das deutsche Recht gewährt, daneben bestehen kön-
nen.

Dieser Auffassung steht meines Erachtens jedoch
entgegen, daß § 202 BGB hier kaum anwendbar sein
dürfte. § 202 BGB betrifft die Hemmung der Verjährung
aus Rechtsgründen und beruht auf dem Gedanken, daß
die Zeit, während der der Gläubiger den Anspruch we-
gen rechtlicher oder tatsächlicher Hindernisse vorüber-
gehend nicht geltend machen kann, bei sachgerechter
Interessenabwägung nicht in die Verjährungsfrist einbe-
zogen werden darf. § 202 BGB greift auch dann ein,
wenn der Geltendmachung des Anspruchs ein vorüber-
gehendes rechtliches Hindernis entgegensteht, das nicht
auf einer Einrede im technischen Sinn beruht. Hierbei
muß das rechtliche Hindernis aber auf seiten des
Schuldners vorliegen.

Zweifel an der Rechtslage oder eine anspruchsfeind-
liche ständige Rechtsprechung sind aber nach ganz herr-
schender Meinung keine Hemmungsgründe im Sinne
der §§ 202 oder 203 BGB, da ansonsten jede Änderung
in der ständigen Rechtsprechung auf längst abgeschlos-
sene Sachverhalte zurückwirken würde und beispiels-
weise Ansprüche, denen eine unrichtige ständige Recht-
sprechung entgegensteht, auf diese Weise praktisch un-
verjährbar wären. Schon aus diesen Gründen ist dem-
nach der PDS-Antrag abzulehnen.

Im übrigen glaube ich – und auch da stimme ich mit
meinem Vorredner überein –, daß den Betroffenen mit
einer Fondslösung besser geholfen werden kann als mit
langwierigen, kostspieligen und juristisch äußerst kom-
plizierten Gerichtsverfahren, die wir gerade diesem Per-
sonenkreis nicht zumuten sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403521100
Als
nächster Redner hat der Kollege Winfried Nachtwei
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403521200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den

letzten Jahren haben wir als Bündnis 90/Die Grünen die
Verbände der Opfer massiv unterstützt, wenn sie in Kla-
gen gegen Firmen oder die damalige Bundesregierung
ihre Ansprüche geltend machen wollten. Wie bekannt,
hat die alte Bundesregierung und zur damaligen Zeit
auch die deutsche Industrie nicht die notwendige Ver-
antwortung für die Opfer übernommen. Das gilt für die
neue Bundesregierung nicht mehr.

Wir drängen bei der Industrie darauf, daß möglichst
schnell und unbürokratisch die dort früher eingesetzten
Zwangsarbeiter eine Entschädigung bekommen, und
zwar durch die Bildung eines Fonds, der möglichst eng
mit einer zweiten Initiative verkoppelt werden muß: mit
der in der Koalitionsvereinbarung festgelegten Bun-
desstiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“.

Wir stehen seit vielen Jahren in engem Kontakt mit
den Verfolgtenverbänden in Deutschland, mit interna-
tionalen jüdischen Opferverbänden und auch mit Ver-
folgtenverbänden in Osteuropa sowie mit diplomati-
schen Vertretungen osteuropäischer Staaten.

Dabei ist deutlich geworden, daß wegen des hohen
Alters und der Armut vieler Opfer der folgende Grund-
satz praktisch Allgemeingut ist: Wir dürfen die Opfer
nicht in neue juristische Verfahren mit ungewissem
Ausgang schicken, die über viele Jahre dauern und deren
Ende sie nicht mehr erleben werden. Und wir wissen,
daß viele Opfer die Kosten eines solchen Verfahrens
nicht tragen können.

Von daher haben die Opferverbände, insbesondere
wenn es sich um Initiativen aus Osteuropa handelte, die
Verfahren vor deutschen Gerichten vor allem als eine
Form der Öffentlichkeitsarbeit angesehen, um auf ihre be-
rechtigten Anliegen aufmerksam zu machen. Das ist ihr
gutes Recht; wir unterstützen sie auch weiterhin dabei.

Wir haben sie auch in den letzten Jahren darauf auf-
merksam gemacht, welche neuen, aber auch sehr be-
grenzten rechtlichen Chancen die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1996 eröffnet hat.
Allerdings haben wir den Betroffenen nie Illusionen
gemacht, daß sie im Prozeß auch Recht bekommen wer-
den. Wer sich nämlich mit der komplizierten Materie
einigermaßen auskennt, der kann niemanden ermuntern,
einfach ein mal in einen solchen Prozeß zu gehen.

Wenn wir nun versuchten, das BGB so zu reformie-
ren, daß die Verjährungsfrist verlängert wird, nährten
wir die Illusion, die Opfer würden auf dem Klageweg zu
ihrem Recht kommen, und das noch in einem über-
schaubaren Zeitraum. Wir sind da aber sehr skeptisch.
Die Industrie hat schon jetzt angekündigt, daß sie dann
den Instanzenweg beschreiten würde. Eine rechtskräfti-
ge Entscheidung über alle Instanzen wird nach bisheri-
gen Erfahrungen fünf bis acht Jahre benötigen. Ob die
Opfer dies durchhalten, ist völlig offen.

Schließlich aber wollen wir der Industrie keinen
Vorwand dafür schaffen, nichts in den Industriefonds
oder in die Bundesstiftung zu zahlen. Dies würde un-
weigerlich passieren. Man würde wiederum sagen: Wir
warten ab, wie das Gesetz genau aussieht, für welche
Bereiche es paßt usw. Die Industrie würde wieder – so
auch die Äußerungen wegen der in den USA anhängigen

Dr. Wolfgang Götzer






(A) (C)



(B) (D)


Verfahren – mit dem Argument kommen: Wir können
nichts in einen Fonds zahlen, wenn wir nicht wissen, ob
wir nicht zeitgleich auch noch verklagt werden. Genau
dieses Schlupfloch der angeblich notwendigen Rechtssi-
cherheit wollen wir der Industrie nicht bieten. Auch wir
ärgern uns darüber, daß die deutsche Industrie mit die-
sem Argument offenbar nach wie vor hantiert, wenn es
um die in den USA anhängigen Klagen geht, für die üb-
rigens die deutschen Verjährungsfristen überhaupt keine
Bedeutung haben.

Aus all diesen Gründen, und zwar ausdrücklich nur
zum Schutz der Opfer, haben wir den Weg der Bun-
desstiftung gewählt und drängen wir die Industrie zu
ihrem Fonds. Wir wollen die Opfer nicht weiter auf den
Klageweg verweisen und ihnen Illusionen über eine aus-
sichtsreiche Gerichtsentscheidung machen. Wir wollen
eine politische Lösung, die die Verantwortung des Par-
laments, der Bundesregierung, auch der Länder und
Kommunen sowie der Privatwirtschaft umfaßt. Deshalb
werden wir diesen Gesetzentwurf der PDS nicht unter-
stützen.

Nehmen wir hinzu, daß die PDS zum gleichen Thema
just vor einer Woche einen unausgereiften Gesetzent-
wurf – damals zum Einkommensteuergesetz – einge-
bracht hat, stellen wir ernsthaft die Frage, ob mit diesen
eilig eingebrachten Vorstößen die Initiative der deut-
schen Industrie und der Bundesstiftung torpediert wer-
den sollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die ehemaligen Zwangsarbeiter brauchen endlich

eine würdige und angemessene Entschädigung. Der Ge-
setzentwurf der PDS leistet dazu leider keinen konstruk-
tiven Beitrag. Im Gegenteil!

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403521300
Als
letzter Redner hat der Kollege Rainer Funke von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1403521400
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Der Antrag der PDS beschäftigt sich
zweifellos mit einem sehr ernst zu nehmenden Problem,
nämlich der Schadensersatzforderung für Zwangsarbeit
während des zweiten Weltkriegs. Dieses Problem ist
virulent geworden nicht nur durch einzelne Klagen frü-
herer Zwangsarbeiter vor deutschen Gerichten – diese
sind in der Regel abgewiesen worden, zumindest in
zweiter Instanz –, sondern auch durch Sammelklagen
einiger Geschädigter in den USA. Es ist auch nicht ab-
zuschätzen – auch das muß einbezogen werden –, in
welchem Verhältnis die Sammelklagen, möglicherweise
auch deren Erfolg, zu den späteren Regelungen in der
Bundesrepublik stehen werden.

Es ist zu begrüßen, daß diese Probleme 54 Jahre nach
Kriegsende gelöst werden sollen. Die PDS versucht dies
über die Verjährungsfrist. Ich glaube, daß der Weg der

Koalitionsfraktionen richtiger ist, nämlich die Lösung
über eine Bundesstiftung.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das wollen wir doch auch!)


Dieses Problem auf die juristische und dann noch auf die
zivilrechtliche Ebene zu schieben, dürfte im Ergebnis we-
nig sachdienlich sein. Das hängt sicherlich auch damit zu-
sammen, daß eigentlich politische Problemstellungen
durch noch so gute Gesetze wohl kaum geregelt werden
können. Das sage ich auch ausdrücklich als Jurist.

Juristisch stellen sich nämlich so viele Fragen, daß
man sie in der Kürze der Zeit gar nicht lösen kann. Dar-
auf hat der Kollege Stünker in seiner beachtenswerten
Rede zu Recht hingewiesen. Ich erspare mir, auf Ihre
Rede im einzelnen einzugehen, weil Sie, Herr Kollege
Stünker, fast alles aufgelistet haben. Ich möchte nur zu-
sätzlich auf das Verhältnis zwischen Völkerrecht, insbe-
sondere der Regelungen des Londoner Schuldenab-
kommens, und den zivilrechtlichen Ansprüchen der Be-
troffenen hinweisen. Man spricht ja von der Exklusivität
des Völkerrechtes. Dann stellt sich die Frage, inwieweit
das Zivilrecht noch betroffen sein kann. Muß es nicht
eine generelle Lösung der Kriegsfolgenregelung geben,
so wie es im Londoner Schuldenabkommen vorgesehen
ist? Auch mit dieser Frage müssen wir uns sicherlich in
dieser Legislaturperiode beschäftigen.

Die Anspruchsgrundlagen – vom Deliktrecht über das
Bereicherungsrecht bis hin zum Arbeitsrecht – sind so
umfangreich und so schwierig, daß ich nicht wage zu
beurteilen, wie die Gerichte in fünf, acht oder zehn Jah-
ren entscheiden werden. Das ist in der Tat, Herr Kollege
Nachtwei, den Betroffenen auch nicht zuzumuten. Des-
wegen glaube ich, daß der gerichtliche Weg der falsche
Weg wäre. Insoweit schließe ich mich dem Kollegen
von der CDU/CSU-Fraktion an. Hier muß ein politischer
Weg gefunden werden. Diesen Weg werden wir ge-
meinsam in den Beratungen des Bundestags finden. Ich
hoffe, daß wir dann zu einer allseits befriedigenden Lö-
sung gelangen werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403521500
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-
entwurfes auf Drucksache 14/554 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 23. April 1999, 9 Uhr
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.