Gesamtes Protokol
Die Sitzung isteröffnet.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ichdem Kollegen Dr. Theodor Waigel, der heute seinen60. Geburtstag begeht, im Namen des Hauses unsereherzlichsten Glückwünsche aussprechen.
Sodann teile ich mit, daß der Kollege Wilhelm Diet-zel am 12. April 1999 auf seine Mitgliedschaft im Deut-schen Bundestag verzichtet hat. Als sein Nachfolger hatder Abgeordnete Wolfgang Steiger am 15. April dieMitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ichbegrüße den Kollegen Steiger, der bereits Mitglied inder 13. Wahlperiode war, herzlich.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktlistevorliegenden Punkte zu erweitern: ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun(Augsburg), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der F.D.P.: 50 Jahre Nordatlan-tisches Bündnis – Drucksache 14/792 – ZP3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommenvom 21. Dezember 1995 über den Beitritt der RepublikÖsterreich, der Republik Finnland und des König-reichs Schweden zu dem Übereinkommen über die Be-seitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Ge-winnberichtigungen zwischen verbundenen Unter-nehmen – Drucksache 14/748 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HildebrechtBraun , Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Füreine sofortige Verhängung umfassender Handelssank-tionen gegen Jugoslawien – Drucksache 14/793 –c) Beratung des Antrags der Abeordneten Gabriele Fogra-scher, Adelheid Tröscher, Günter Oesinghaus, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-ordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Kerstin Müller(Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN: UN-Sondergeneralversammlung –5 Jahre nach der Konferenz für Bevölkerung undEntwicklung in Kairo – Aktive Bevölkerungspolitik inder Entwicklungszusammenarbeit – Drucksache 14/797 –d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fred Gebhardt,Heidi Lippmann-Kasten, Dietmar Bartsch, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der PDS: Ausschluß des Ein-tritts Minderjähriger in die Bundeswehr – Drucksache14/551 –e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fred Gebhardt,Carsten Hübner, Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der PDS: Einsatz von Kindern als Sol-daten wirksam verhindern – Drucksache 14/552 –f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann,Brigitte Adler, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenDr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele,Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Gegen den Einsatz von Kindern als Solda-ten in bewaffneten Konflikten – Drucksache 14/806 – ZP4 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderungdes Bundessozialhilfegesetzes – Drucksachen 14/389,14/474, 14/820 –
ZP5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Hal-tung der Bundesregierung als Bauherr zu Schwarzarbeitund außertariflicher Beschäftigung auf den Baustellen desBundes in Berlin und zu den Auswirkungen auf die Be-schäftigungssituation im Baugewerbe Berlins und Bran-denburgs sowie die ostdeutsche Bauwirtschaft insgesamt ZP6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-JürgenHedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert Blüm, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Entschul-dung armer Entwicklungsländer – Initiativen zum G8-Gipfel in Köln – Drucksache 14/785 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner,Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke-Reymann, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDS: UmfassenderSchuldenerlaß für einen Neuanfang – Drucksache14/800 – ZP7 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. HermannOtto Solms, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen,weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung desSchutzes parlamentarischer Beratungen – Drucksache14/183 –b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. EvelynKenzler, Sabine Jünger, Petra Pau, Dr. Gregor Gysi undder Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Aufhebung der Bannmeilenregelung –Drucksache 14/516 – ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen(Wiesloch), Angelika Krüger-Leißner, Eckhardt Barthel(Berlin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Antje Vollmer, Volker Beck ,Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Konzeption zur Förderungund Festigung der demokratischen Erinnerungskultur– Drucksache 14/796 –
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ZP9 a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Keine weitere Unterstützungder Atomkraftwerke Khmelnytsky 2 und Rivne 4 inder Ukraine – Drucksache 14/795 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angela Mar-quardt, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi undder Fraktion der PDS: Investitionen der EuropäischenBank für Wiederaufbau und Entwicklung in Khmel-nistky 2 und Rivne 4 – Drucksache 14/708 –c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill,Dr. Klaus W. Lippold , Cajus Julius Caesar,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:Festhalten an den Zusagen zum Bau von sicherenErsatzreaktoren in der Ukraine – Drucksache 14/819 – ZP10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun(Augsburg), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der F.D.P.: Entlassung derParlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministe-rium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit GilaAltmann – Drucksache14/798 – ZP11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr.Christa Luft, Dr. Evelyn Kenzler, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der PDS: Zahlungsforderungen schnellerdurchsetzen – Zahlungsmoral bekämpfen – Drucksache14/799 –Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll,soweit erforderlich, abgewichen werden.Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungs-punkt 8 a bis c – es handelt sich um Anträge zuöffentlichen Gelöbnissen der Bundeswehr – abzusetzen.Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d sowieZusatzpunkt 2 auf: 5. a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun-deskanzlers anläßlich des 50. Jahrestagesder Gründung der Nordatlantikpakt-Orga-nisationb) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNATO-Gipfel in Washington und Weiter-entwicklung des Bündnisses– Drucksache 14/599 –Überweisungsvorschlag:
CDU/CSUDie Handlungsfähigkeit der Nordatlan-tischen Allianz für das 21. Jahrhundertsichern– Drucksache 14/316 –Überweisungsvorschlag:
Europäische Sicherheitsarchitektur stattDominanz der Nordatlantischen Allianz– Drucksache 14/454 –Überweisungsvorschlag:
Deshalb wird der Gipfel auch auf eindrucksvolle Weisezeigen, wie fest die NATO-Mitgliedstaaten in diesemgemeinsamen Willen zusammenstehen. Es wird einGipfel der Gemeinsamkeit werden.Präsident Wolfgang Thierse
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Die Völkergemeinschaft hat – wir haben das hier häu-fig diskutiert – nichts unversucht gelassen, die Krise imKosovo mit diplomatischen Mitteln beizulegen. AlleBemühungen um eine friedliche Lösung sind jedoch ander unnachgiebigen Härte und dem verbrecherischenWillen der Belgrader Führung gescheitert. Deshalbmußte gehandelt werden, und deshalb muß weiter ge-handelt werden. Dem Diktator Milosevic, der gegen diealbanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo nach wievor mit brutalsten Mitteln vorgeht und auf das Recht desStärkeren setzt, mußte gezeigt werden, daß die Schwa-chen in der NATO einen starken Verbündeten für dieDurchsetzung ihrer unveräußerlichen Rechte, der Men-schenrechte, haben.
Gleichzeitig, meine Damen und Herren – auch das istsichtbar und soll hier ausgesprochen werden –, tut dieAllianz das ihr Mögliche, um das Elend der Vertriebe-nen, so gut es eben geht, zu mildern. Sie hat die angren-zenden Staaten, die unter den Strömen der Deportiertenund der Flüchtlinge am meisten zu leiden haben, logi-stisch und finanziell unterstützt, und sie wird das auchweiterhin tun. Die NATO hat auch selbst für Zehntau-sende von Flüchtlingen Notunterkünfte zur Verfügunggestellt und damit bewiesen, daß sie in der Lage ist,nicht nur militärisch, sondern auch und gerade zutiefsthumanitär zu agieren.Schließlich haben sich viele Staaten – Deutschlandübrigens wieder einmal an vorderster Stelle – bereiterklärt, Flüchtlinge vorübergehend aufzunehmen. Ichteile die Kritik all derjenigen, die sich gelegentlich ent-täuscht über den Willen des einen oder anderen Partnersin Europa geäußert haben, es in gleicher Weise zu hal-ten, was die – ich betone: vorübergehende – Aufnahmevon Flüchtlingen angeht.
Das Bündnis war und ist aber – es ist wichtig, auchdies immer wieder zu betonen – jederzeit bereit, aufglaubwürdige, das heißt verifizierbare Signale zu reagie-ren. Eine politische Lösung des Konflikts im Kosovound in Jugoslawien bleibt das Ziel aller unserer Bemü-hungen.
Die militärischen Aktivitäten sind Mittel zum Zweck,sie sind nicht Selbstzweck. Das zu unterstreichen ist mirwichtig.In Übereinstimmung mit dem Generalsekretär der Ver-einten Nationen und der gesamten Europäischen Unionhat die NATO ihre Bedingungen für eine Suspendie-rung der Luftschläge genannt. Angesichts der öffentli-chen Diskussion möchte ich sie noch einmal sehr deutlichherausstellen: Erstens geht es uns um die unverzüglicheBeendigung aller Gewaltakte, zweitens um den Rückzugaller militärischen Kräfte, der Sonderpolizeikräfte sowieder paramilitärischen Einheiten aus dem Kosovo unddrittens um die Stationierung internationaler Streitkräfte,damit die Vertriebenen ohne Furcht in ihre Heimat zu-rückkehren können. Dies, meine Damen und Herren, sinddie Bedingungen, die akzeptiert sein müssen und derenUmsetzung verifizierbar begonnen sein muß, bevor dieLuftschläge ausgesetzt werden können.
Deshalb und weil die Forderungen identisch sind,unterstützt die Bundesregierung die Initiative des Gene-ralsekretärs der Vereinten Nationen vom 9. April 1999.Die politischen Gremien der NATO-Staaten, allen vorander Bundesaußenminister, sind unermüdlich bemüht,eine politische Lösung und damit die Rückkehr an denVerhandlungstisch zu erreichen. Aber dies geht eben nurauf der Basis glasklar formulierter Bedingungen, die er-füllt sein müssen. Es liegt nach wie vor ausschließlichan der jugoslawischen Führung, die internationalen For-derungen ohne Abstriche anzunehmen und umgehendmit ihrer Umsetzung zu beginnen.Uns kommt es unverändert auch darauf an, Rußlandzu einer aktiven Rolle bei der Suche nach einer friedli-chen Lösung zu bewegen. Ich bin davon überzeugt, daßeine dauerhafte Befriedung des Balkans im ureigenstenInteresse nicht nur der Europäischen Union, sondernauch Rußlands liegt. Unser langfristiges Ziel muß undwird es sein, eine demokratische und damit wirklichfriedliche Entwicklung in der gesamten Region sicher-zustellen. Dazu gehört ohne jeden Zweifel neben einersicherheitspolitischen auch eine ökonomische Perspekti-ve für die Staaten Südosteuropas.
Europäische Union, OSZE und NATO werden sich imRahmen einer gemeinsamen Strategie für die gesamteRegion um die Eingliederung dieser Staaten in die euro-atlantischen Strukturen bemühen.Deutschland hat bei dem Einsatz der NATO im Ko-sovo seinen Anteil an der gemeinsamen Verantwortungübernommen. Unser Beitrag ist nicht nur selbstver-ständlicher Ausdruck unserer Bündnissolidarität. Nein,gerade wir Deutschen haben auch vor dem Hintergrundunserer eigenen Geschichte die Verpflichtung, im Rah-men der Gemeinschaft demokratischer Staaten für Frie-den und Sicherheit und gegen Unterdrückung, Vertrei-bung und Gewaltanwendung einzutreten.Wir alle wissen, daß unsere Soldaten bei diesem Ein-satz ein hohes persönliches Risiko tragen. Auch imRahmen dieser Debatte sei ihnen deswegen für ihrenaufopferungsvollen Dienst ausdrücklich gedankt.
Das gilt übrigens auch für alle anderen Deutschen, dieauf dem Balkan Hilfe leisten. Auch sie setzen täglich ihrLeben ein, um der leidenden Bevölkerung vor Ort Hilfezu geben.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Mehr als vier Jahrzehnte hat der Ost-West-Gegen-satz die europäische Geschichte geprägt. Dieser Gegen-satz ist heute Gott sei Dank überwunden. Auf dem Gip-fel in Washington – das ist wirklich ein Stück Zeitge-schichte – werden wir drei neue Verbündete begrüßen:Polen, die Tschechische Republik und Ungarn, dreiStaaten, die noch vor zehn Jahren Mitglieder des War-schauer Paktes gewesen sind. Uns Deutschen war dieAufnahme dieser drei neuen Mitglieder eine besondereVerpflichtung.
Wir haben und werden nicht vergessen, welchen un-schätzbaren Beitrag gerade diese drei Völker geleistethaben, als es uns um die Wiedererlangung der staatli-chen Einheit ging. Ohne die feste VerankerungDeutschlands in der Atlantischen Allianz wäre die Ein-heit – auch das gilt es, zu erkennen – nicht gelungen.
Die Öffnung des Bündnisses nach Mittel- und Osteu-ropa ist Teil unseres Wirkens für eine gesamteuropäi-sche Friedensordnung. Frühere Gegner sind unserePartner geworden. Gemeinsam wollen wir nun einestrategische Vision für eine Friedens- und Stabili-tätsordnung entwickeln, die auf den Werten von Men-schenrecht, Gerechtigkeit, demokratischer und sozialerEntwicklung basiert.Dabei ist die Verantwortung Europas gewachsen. Dieeuropäischen Staaten können nur dann ihrer gestärktenBedeutung wirklich gerecht werden, wenn sie eine ge-meinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungs-politik entwickeln. Natürlich werden wesentliche Ele-mente des neuen strategischen Konzeptes in der Konti-nuität der NATO-Tradition seit 1949 stehen. Kernfunk-tion wird auch in Zukunft die Verteidigung des Bünd-nisgebietes bleiben. Gleichzeitig bildet die NATO wei-terhin das Fundament für ein stabiles Sicherheitsumfeld.Wie bisher ist die Allianz das zentrale Konsultationsfo-rum der Verbündeten.Im überarbeiteten strategischen Konzept wird zusätz-lich eine neue Kernfunktion verankert werden. Sie wirdAntwort auf die neuen Herausforderungen für dasBündnis geben. Angesichts der neuen Bedrohungen mußes unser vordringliches Ziel sein, die Sicherheit und dieStabilität auf unserem Kontinent zu stärken. Die durchdie Allianz gewährte Mitwirkung der USA und derenPräsenz in Europa bleiben wesentliche Voraussetzungfür die Sicherheit auf unserem Kontinent.
Nach Überwindung des Ost-West-Konflikts gilt heutemehr denn je: Sicherheit kann immer weniger durch mi-litärische Mittel allein geleistet werden. Eine moderneSicherheitspolitik muß Frieden und wirtschaftlich-soziale Entwicklung zusammendenken. Das verstehe ichunter effizientem Krisenmanagement und wirksamerKrisenprävention. Auch deshalb geht es im Kosovonicht einfach darum, einen militärischen Sieg zu errin-gen. Es geht um eine politische und wirtschaftliche Per-spektive für den gesamten Balkanraum.
Europa hat dabei bereits eine Rolle übernommen, dieseiner gewachsenen Verantwortung, vor allen Dingenseiner gewachsenen ökonomischen Verantwortung inder Welt angemessen ist. Indem dieses Europa bereit ist,Verantwortung für die Durchsetzung der Menschen-rechte, für Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu über-nehmen, leistet Europa im Rahmen der Allianz seinenBeitrag für eine politische Definition unseres Konti-nents: als ein Europa der Menschen und der Rechte derMenschen.Meine Damen und Herren, schon bald nach dem Falldes Eisernen Vorhanges hat das Bündnis das Angeboteiner umfassenden Zusammenarbeit an die Staaten desehemaligen Warschauer Paktes gerichtet. Mit demNordatlantischen Kooperationsrat – seit 1997 demEuro-Atlantischen Partnerschaftsrat – wurde ein neuesGremium der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit insLeben gerufen. Es bezieht neben der Russischen Föde-ration und der Ukraine auch alle anderen Nachfolge-staaten der ehemaligen Sowjetunion sowie die jungenDemokratien in Mittel- und Osteuropa ein.Die 1994 begründete Partnerschaft für den Friedenwurde das erfolgreichste Programm des Bündnissesüberhaupt. In Bosnien stand diese Partnerschaft vor ihrerersten großen Bewährungsprobe. Sie hat diese Probeeindrucksvoll bestanden. Heute gewährleistet die Alli-anz gemeinsam mit Rußland und anderen Partnern dieUmsetzung des Friedensabkommens von Dayton fürBosnien und Herzegowina. Mit dem Abkommen vonDayton konnten unsägliche Grausamkeiten in diesemleidgeprüften Land beendet werden. Die Aufstellung derIFOR-Truppen und deren Weiterführung als SFOR-Truppen sind heute ein beispielgebendes Modell für dasEngagement der NATO bei der Bewältigung von Kri-sen.Auf dem NATO-Gipfel werden wir ein Bündel vonInitiativen verabschieden, um die Partnerschaft für denFrieden noch handlungsfähiger zu machen. Es wird dar-auf ankommen, die Zusammenarbeit zwischen denStreitkräften der Partnerstaaten weiter zu verbessern.Gleichzeitig wollen wir die zivilen Aspekte der Allianzausbauen. Zusammenarbeit über Grenzen hinweg heißtfür das Bündnis aber nicht nur, für den Dialog offen zusein. Es heißt auch, für neue Mitglieder die Tür offenzu-halten. Die Aufnahme Polens, der Tschechischen Repu-blik und Ungarns am 12. März 1999 hat deutlich ge-macht: Die NATO war und ist kein geschlossener Club,und sie darf es auch nicht werden. Auf dem Gipfel wer-den wir interessierten Kandidaten Wege aufzeigen, sichbereits jetzt intern auf eine mögliche Mitgliedschaft vor-zubereiten. Dabei werden wir sie tatkräftig unterstützen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Wir wollen auch das besondere Verhältnis zwischender NATO und der Ukraine weiter vertiefen. Durch die1997 in Madrid verabschiedete Charta über die Partner-schaft zwischen der NATO und der Ukraine hat dasBündnis deren besondere Bedeutung hervorgehoben. InWashington wird nun das erste Gipfeltreffen der NATO-Ukraine-Kommission stattfinden. Dabei werden wir un-terstreichen: Das Bündnis wird auch in Zukunft dieEntwicklung einer stabilen, unabhängigen Ukraine un-terstützen.Ob es sich um die Heranführung an die Mitglied-schaft oder – wie im Falle der Ukraine – um eine ver-stärkte Partnerschaft handelt, eines steht dabei immer imVordergrund: Die betreffenden Staaten suchen militäri-sche Sicherheit. Aber sie wollen und sie brauchen auchwirtschaftliche und soziale Stabilität. Ein Export politi-scher Stabilität macht unseren Kontinent insgesamtsicherer. Niemand in Europa sollte diesem Prozeß miß-trauisch begegnen. Das gilt auch und gerade für Ruß-land. Die Russische Föderation bleibt der wichtigsteSicherheitspartner der Allianz.Die enge Einbindung Rußlands in die Verantwortungfür die europäische Sicherheit ist und bleibt wesentlicherBestandteil der Politik des Bündnisses.
Der mit der NATO-Rußland-Grundakte ins Leben ge-rufene NATO-Rußland-Rat hat sich als ein wertvollesInstrument des Dialogs und der Kooperation bewährt. Inden vergangenen zwei Jahren ist es uns gelungen, denNATO-Rußland-Rat mit Leben zu füllen. Gerade in denBereichen, in denen das Bündnis und Rußland nichteiner Meinung waren, hat dieses Forum immer wiedereine wichtige Rolle gespielt. In vertrauensvoller Zu-sammenarbeit erhielt Rußland die Möglichkeit, dieDenk- und Arbeitsweise der Allianz von innen herauskennenzulernen. Wir wollen diese Zusammenarbeitweiter ausbauen. Auch Rußland sollte die Chancen einerFortsetzung des seit Ende März ausgesetzten Dialogs imRahmen des NATO-Rußland-Rates erkennen. Dabeimuß allerdings auch Rußland selbst seiner Verantwor-tung gerecht werden, konstruktiv bei der Herstellung eu-ropäischer Sicherheit mitzuwirken. Das sage ich beson-ders im Hinblick auf die Kosovo-Krise, bei deren Lö-sung Rußland eine aktive Rolle spielen sollte.Meine Damen und Herren, die Gründung der NATOvor 50 Jahren war ein einmaliger historischer Einschnitt.Erstmals haben Europa und Amerika, „alte“ und „neue“Welt sich zusammengefunden, um gemeinsam die euro-päischen Werte zu verteidigen, die universale Wertegeworden sind: Freiheit, Demokratie und Menschen-rechte. Für uns Deutsche und für die gesamte Europäi-sche Union gibt es zu dieser Westbindung politisch, aberauch kulturell keine Alternative. Die transatlantischePartnerschaft kann jedoch nur gedeihen, wenn sie dergewachsenen europäischen Verantwortung Rechnungträgt. Das wird übrigens auch von unseren amerikani-schen Freunden so gesehen.Wir wollen ein neues Europa für die neue NATO,und wir wollen die neue NATO für das neue Europa.Das gemeinsame Europa hat in den vergangenen Jahrengroße Schritte hin zu einer unumkehrbaren wirtschaftli-chen und politischen Einheit getan. Ein großer Teil derEuropäischen Union hat durch die Einführung einer ge-meinsamen Währung einen genuinen Akt gemeinsamerSouveränität vollzogen.Nun geht es in Europa um zweierlei: Um die Vertie-fung und Erweiterung der Union und um eine Ge-meinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die diesenNamen verdient, sowie die Herausbildung einer europäi-schen Sicherheits- und Verteidigungsdimension als einesunabdingbaren Stützpfeilers in diesem Prozeß.Die Verträge von Maastricht und Amsterdam eröff-nen uns dafür neue, bisher nicht gekannte Handlungs-möglichkeiten. Der Europäische Rat wird gegenüber derWesteuropäischen Union eine Leitlinienkompetenz inverteidigungspolitischen Fragen haben. Die Europäi-sche Union braucht in Zukunft auch eine eigene militä-rische Entscheidungsstruktur. Dabei wollen wir kei-nesfalls bestehende Strukturen verdoppeln. Aber mitdem Vorschlag, das Amt des Generalsekretärs der West-europäischen Union dem Hohen Vertreter der Gemein-samen Außen- und Sicherheitspolitik der EU in Perso-nalunion zu übertragen, wollen wir ein sichtbares Zei-chen dafür setzen, daß Europa künftig auch in sicher-heits- und verteidigungspolitischen Fragen wirklich miteiner Stimme sprechen kann.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist in derAllianz unumstritten, daß internationale Militärein-sätze über das Bündnisgebiet hinaus eine eindeutigevölkerrechtliche Grundlage zur Voraussetzung haben.Ich will deshalb an dieser Stelle sagen, daß ich die Ar-gumente derjenigen, die eine solche Grundlage im Falldes NATO-Einsatzes im Kosovo für nicht gegeben hal-ten, durchaus respektieren kann. Aber nach sorgfältigerAbwägung halte ich sie für falsch. Ich glaube, daß dievölkerrechtliche Grundlage des NATO-Einsatzes zurEindämmung einer humanitären Katastrophe gegeben istund daß sie ausreichend ist.Das Völkerrecht trifft eindeutige Vorkehrungen fürdie Behandlung von Flüchtlingen und ihr Recht aufsichere Rückkehr in ihre Heimat. Ich betone: Niemandist daran interessiert, die Vereinten Nationen als Gremi-um der Völkerverständigung und der Krisenbewältigungzu entwerten. Im Gegenteil: Deswegen habe ich den Ge-neralsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, zumTreffen mit den europäischen Staats- und Regierungs-chefs vergangene Woche in Brüssel eingeladen, unddeshalb begrüße ich ausdrücklich die Bereitschaft desGeneralsekretärs, an einer friedlichen Lösung des Koso-vo-Konflikts nach wie vor mitzuwirken.
Ich freue mich darüber, daß ich Kofi Annan nächsteWoche in Berlin zu weiteren Gesprächen, nicht zuletztüber die Lösung der Kosovo-Krise, empfangen kann.Meine Damen und Herren, hinsichtlich der Achtungvor den Vereinten Nationen besteht im Bündnis Kon-sens. Die NATO ist keine Allianz, in der ein Partner denBundeskanzler Gerhard Schröder
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anderen seine Meinung diktiert. Sie ist und bleibt eineWertegemeinschaft. Deshalb sind wir Partner diesesBündnisses, und deshalb übernehmen wir im Rahmendieses Bündnisses Verantwortung. Wir tun dies nichtund niemals, weil wir dazu gezwungen wurden. Wir tundies aus tiefer Überzeugung und aus der Erfahrung, daßwir uns auf die NATO beim Einsatz für unsere gemein-samen Werte immer verlassen konnten und auch in Zu-kunft verlassen können.
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollege Volker Rühe.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Als die NATO vor etwa einem Jahrdas Datum für ihr Treffen in Washington festlegte, stan-den drei Ziele fest: Das Bündnis wollte 50 Jahre erfolg-reicher Friedenspolitik würdigen; die NATO wollte ihredrei neuen Mitglieder feierlich begrüßen, und sie wolltebestätigen, daß weitere folgen; die Allianz wollte ihrekünftigen Aufgaben bestimmen und einen neuen strate-gischen Konsens präsentieren.Das Gipfeltreffen wird jetzt von der Kosovo-Kriseüberschattet. Das Bündnis braucht eine nüchterne Be-standsaufnahme auf höchster Ebene über das, was in denletzten vier Wochen geschehen ist. Von Washingtonmuß nach Meinung der Union ein richtungweisendesSignal ausgehen, wie Amerika, Europa und Rußland imkonstruktiven Miteinander die Krise beilegen wollen,wie einer durch Vertreibung und Krieg verwüsteten Re-gion geholfen werden kann und wie dem Balkanschließlich Frieden und Stabilität gegeben werden kön-nen.Es geht um einen politisch-militärischen Gesamt-ansatz. Wenn Krieg oder militärische Auseinanderset-zung die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln ist,dann ist dies immer die Fortsetzung von Politik. Dasmuß im Vordergrund stehen. Wir müssen uns zum Bei-spiel selbstkritisch fragen, ob die Selbstdarstellung derNATO, wie sie täglich durch Militärsprecher und militä-rische Videos aus Brüssel kommt, diesem Gesamtansatz– der Bundeskanzler hat es zu Recht gesagt: es ist einpolitisches Bündnis auf der Grundlage gemeinsamerWerte – immer gerecht wird. Das ist für unsere Öffent-lichkeit wichtig. Aber es zeigt sich auch, daß es nochwichtiger für die Öffentlichkeit der neuen Teilnehmer-staaten ist. Deswegen begrüße ich es ausdrücklich, wenndieser politisch-militärische Gesamtansatz wieder voll inden Mittelpunkt gestellt wird.
Dennoch sollte über diese aktuellen Herausforderun-gen nicht der Blick auf die Leistungen der NATO in denletzten 50 Jahren verstellt werden. Ich stelle fest: DieNATO hat allen Grund an ihrem 50. Geburtstag stolzauf den erfolgreichen Schutz von Frieden und Freiheit inEuropa und auf die transatlantische Bindung, die vielenBelastungen getrotzt hat, zu sein.
Sie werden es mir gestatten, einen Schlenker vom50. Geburtstag der NATO zu einem 60. Geburtstag zumachen: Theo Waigel, der das Glück hatte, im WestenDeutschlands aufzuwachsen und als Politiker zu wirken,feiert diesen Geburtstag; er hat sein politisches Leben imBündnis verbracht und für dieses Bündnis in einer Zeitgearbeitet, in der es keine Schönwetterperiode gab: Ererlebte die deutsche Wiederbewaffnung, die hier inBonn im alten Plenarsaal in einer leidenschaftlichenAuseinandersetzung durchgesetzt wurde
– nicht leider, sondern dieser Beschluß war die Grundla-ge für all das, was wir heute im wiedervereinigtenDeutschland gemeinsam genießen können –,
die Kuba-Krise, die Bedrohung des freien Westberlin –wir hätten Anfang dieser Woche nicht gemeinsam imReichstag zusammenkommen können, wenn damals die-ses Bündnis nicht entschieden auf die Bedrohung desfreien Berlin reagiert hätte –,
den NATO-Doppelbeschluß – es war nicht leicht, dazuzu stehen –
– ich sage später noch etwas dazu, im Augenblick wür-dige ich noch Theo Waigel und spreche nicht das abwei-chende Verhalten anderer in der Vergangenheit an –, inden letzten Jahren, nach der deutschen Wiedervereini-gung die Bereitschaft Deutschlands, ein gleichberech-tigter Partner zu sein, die Wiedervereinigung Europasund jetzt die schwierige Situation der NATO auf Grundder Kosovo-Krise. Meinen herzlichsten Glückwunsch anTheo Waigel zum 60. Geburtstag! Ein Leben im und fürdas Bündnis!
Die NATO und die Europäische Union haben imwestlichen Europa einen Stabilitätsraum geschaffen,der in der Geschichte ohne Beispiel ist. Die Kraft derAtlantischen Allianz hat dem Übel der klassischen euro-päischen Machtpolitik ein Ende bereitet. All das darfman in der jetzigen Situation nicht vergessen. Bei derGründung der NATO hatte niemand auf die Überwin-dung der Teilung des Kontinents zu hoffen gewagt, diedurch den Umbruch in den letzten zehn Jahren vollendetwerden konnte. Auch hieran hat die Atlantische Allianzeinen entscheidenden Anteil, ebenso an der Wiederver-einigung Deutschlands und an der WiedervereinigungEuropas, die jetzt politisch geschieht. Die NATO hataber auch bewiesen, daß sie in der Lage ist, flexibel aufdie neuen politischen und strategischen Aufgaben undHerausforderungen durch eine innere Reform und durchdie Öffnung für neue Mitglieder zu reagieren.Es ist schon ein wenig tragisch, daß der Zeitpunkt,auf den sich die Völker Mittel- und Osteuropas aus vol-lem Herzen gefreut hatten, nämlich Mitglied der NATOBundeskanzler Gerhard Schröder
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zu werden, durch die Kosovo-Krise überschattet wird.Deswegen möchte ich auch an dieser Stelle einmal denpolnischen Schriftsteller Andrzej Szczypiorski zitieren,der deutlich macht, worum es in diesem Zusammenhanggeht. Diese Aussage muß auch die Grundlage für dienächsten Jahre bleiben. Er hat gesagt:Es gibt kein Europa ohne die Gotik von Krakau undPrag, ohne den Dresdener Zwinger, ohne die Brük-ken von Budapest und ohne Leipzig, das früher dieHauptstadt des europäischen Buches war. DieWesteuropäer erlagen einer süßen und ziemlich be-quemen Täuschung, daß Big Ben, die Gassen vonSiena, die Anhöhe von Montmartre, der Dom vonWorms genügen, um die Geschichte, die Traditionund die Kultur Europas für die Zukunft zu erhalten.Er führte weiterhin aus:Wir waren in diesem europäischen, politischenOsten nicht taub und blind. Wir hörten Big Ben inLondon läuten, wir sahen von einer weiten Entfer-nung die Kolonnade von Bernini und den Eiffel-turm und die alten Häuser von Lübeck.Sie gestatten mir die Bemerkung, daß mir das letzte be-sonders gut gefällt.Wir werden in den nächsten Jahrzehnten nur dannden politischen Kurs halten, wenn wir uns weiterhin vondiesem Grundton leiten lassen. Das gilt auch für Jugo-slawien.Ich war in der zweiten Hälfte der 80er Jahre oft undgezielt, vor allen Dingen mit Hans-Peter Repnik, in Ju-goslawien. Wir haben dort gespürt, welche Gefahrensich abzeichneten, als die Autonomie der Vojvodina unddes Kosovo zerstört wurde. Aber erinnern wir uns an dieinternationale Stellung Jugoslawiens. Damals warenPolen, Ungarn und Tschechien im Warschauer Pakt weitzurück, sowohl politisch als auch ökonomisch, und alsBeitrittskandidaten für die Europäische Union überhauptnicht im Gespräch. Aber die Hälfte der Gespräche hatsich mit der Frage beschäftigt, wie es mit den ChancenJugoslawiens auf einen Beitritt zur Europäischen Unionsteht. Im Süden gab es ja schon Griechenland als Mit-glied.Deswegen sage ich an dieser Stelle – das muß mansich vor Augen führen –: Die Politik von Milosevic istnicht nur eine verbrecherische Politik gegen die Musli-me in Europa, ob es die Bosniaken oder die Kosovarensind; es ist auch eine verbrecherische Politik gegen dasInteresse des serbischen Volkes, in Europa seinen richti-gen Platz zu finden.
So großartig es für Polen, Ungarn und Tschechien ist,daß sie zur Zeit über einen Beitritt verhandeln, so tra-gisch ist es für Jugoslawien, daß es, obwohl es schonweiter war, im Augenblick keine Beitrittsverhandlungenführen kann und von der Zukunft Europas wieder weiterweggerückt ist. Es liegt in unserem Interesse, die inWesteuropa erreichte Stabilität auf ganz Europa auszu-weiten. Das gilt auch für den Balkan. Deshalb muß dieNATO bei ihrem Gipfeltreffen ein deutliches Zeichensetzen, daß ihre Tür auch für weitere Beitritte offen-bleibt.Stabilität werden wir für das gesamte Europa abernur dann haben, wenn Rußland daran als verantwor-tungsvoller Partner teilhat. Das ist der Grundgedankeder strategischen Partnerschaft mit Rußland. Aber siebleibt Papier, wenn sie nicht auch auf beiden Seitengelebt wird. Ich war ja ein bißchen an der Schaffungdes NATO-Rußland-Rats beteiligt. Herr Bundeskanz-ler, Sie haben zu Recht dessen Bedeutung hervorgeho-ben. Aber ist es nicht ein Fehler, wenn in einer so zu-gespitzten Situation, wie wir sie vor fünf Wochen hat-ten, dieser NATO-Rußland-Rat nicht zusammentrittund statt dessen Primakow im Flugzeug über dem At-lantik über die bevorstehenden militärischen Aktioneninformiert wird? Ich mache mir keine Illusionen überdie Möglichkeiten, die es dort gegeben hätte. Aber ge-rade in einer so schwierigen Situation sollte die Bereit-schaft von NATO und Rußland bestehen, das gemein-sam zu leben.
Das wichtigste Ziel der strategischen Partnerschaft istes, Krisen und Konflikte in Europa nach Möglichkeitgemeinsam zu bewältigen. Deshalb ist es richtig undnotwendig, mit der russischen Regierung in engemKontakt zu bleiben und nach gemeinsamen Lösungs-möglichkeiten im Kosovo-Konflikt zu suchen. Ichmöchte hier ausdrücklich zum einen, was der bayerischeMinisterpräsident Edmund Stoiber mit Karl Lamers inMoskau besprochen hat, und zum anderen die gute Zu-sammenarbeit mit der Bundesregierung in dieser Fragenoch einmal loben. Ich glaube, was dort an Gesprächengeführt worden ist, war im deutschen Interesse.
Rußland muß seinen Einfluß auf den jugoslawischenPräsidenten wahrnehmen, um die Beendigung von Ver-treibung und Völkermord, den Rückzug der serbischenStreitkräfte und Sondereinheiten sowie den Einsatz einerinternationalen Schutztruppe zu erreichen. Wie es dastut, wird auch großen Einfluß auf Rußlands künftigesVerhältnis zum Westen haben und ausschlaggebend da-für sein, ob sich ein partnerschaftliches Verhältnis ent-wickelt, das auch Belastungen in schwierigen Zeitenstandhält.Deutschland ist heute nur noch von Freunden umge-ben. Das wurde möglich, weil sich die Regierung unterKonrad Adenauer mit ihrer Richtungsentscheidung fürdie Westintegration, für die Wiederbewaffnung und fürden Beitritt zur NATO gegen den erbitterten Widerstandder Sozialdemokraten durchgesetzt hatte. Die Grünengab es bei dieser Auseinandersetzung noch nicht. Aberes war auch eine große Leistung, daß Herbert Wehner,Helmut Schmidt und andere dann den Kurs der Sozial-demokratie korrigiert haben, damit in diesen wichtigenGrundfragen der deutschen Außen- und Sicherheitspoli-tik wieder die Chance für eine neue Gemeinsamkeit ent-stehen konnte.Volker Rühe
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Deutschland wurde Mitglied einer Allianz, die sich inden letzten 50 Jahren als der stabilste Staatenverbunderwiesen hat. Daß unser Land heute nur noch vonFreunden umgeben ist, wurde auch möglich, weil dieBundesrepublik Deutschland unter Helmut Kohl zumNATO-Doppelbeschluß gestanden und damit eine ge-fährliche Erosion des Bündnisses vermieden hat.
Der NATO-Doppelbeschluß ist übrigens ein erfolg-reiches Beispiel dafür, wie durch eine überzeugende Mi-schung von militärischem Druck sowie politischen An-geboten und Lösungsvorschlägen Krisen überwundenwerden können, wenn diese Politik mit Ausdauer undÜberzeugungskraft betrieben wird. Heute ist die Zahlder Nuklearwaffen in Europa um 90 Prozent und die derkonventionellen Streitkräfte um 40 Prozent niedriger alszur Zeit des NATO-Doppelbeschlusses. Dies war mög-lich, weil wir in dieser schwierigen Situation zum Bünd-nis und seinen Beschlüssen gestanden haben.
Ich will keine Polemik betreiben; aber über die Ge-schichte darf man sprechen:
Rot und Grün waren damals auf der Straße, um diesePolitik zu bekämpfen.
Ich halte fest: Es ist gut, daß wir uns durchgesetzt haben.
Wenn ich mir die jetzige Konstellation anschaue, HerrBundeskanzler, dann habe ich eine Hoffnung und Bitte –ich will nicht darüber spekulieren, wie die Verhältnissewären und wer auf der Straße wäre, wenn es hier eineandere Regierung gäbe;
ich anerkenne die Leistung, die mit der Wahrung derKontinuität der deutschen Außen- und Sicherheitspolitikverbunden ist –: Wenn hier in der Regierung wiedereinmal andere sitzen,
sollten diejenigen, die jetzt Verantwortung für die Au-ßen- und Sicherheitspolitik dieses Landes tragen, nichtwieder auf die Straße gehen.
Wir haben schließlich dafür gesorgt, daß das wieder-vereinigte Deutschland auch in der schwierigen Frageder militärischen Krisenbewältigung zu einem be-rechenbaren und zuverlässigen Bündnispartner wurde.Ich frage mich angesichts der jetzigen Situation manch-mal, ob es nicht richtig ist, zu sagen: Wer in schwierigerZeit zur NATO gestanden sowie wichtige und richtigeBeschlüsse durchgesetzt hat, kann jetzt auch die Gelas-senheit haben, zu sagen, was er tut und was er nicht tut.Genau so verhält sich die Union. Ich bin der Mei-nung, daß Zuverlässigkeit etwas sehr Wichtiges ist. Aberes darf nicht die einzige und überwiegende Eigenschaftsein, an der Deutschland gemessen wird. Wir müssenunser eigenes Gewicht einbringen. Deswegen finde iches gut, daß von seiten der Union, aber auch der FreienDemokraten immer wieder ein klares Wort zu dem ge-sagt worden ist, was wir zum Beispiel im Zusammen-hang mit einer drohenden militärischen Eskalation undeinem Einsatz von Bodenkampftruppen machen werdenund was wir nicht machen werden. Wir können dies tun,weil wir in schwieriger Situation immer wieder zumBündnis gestanden haben.
Das, was ich in bezug auf das deutsche Gewicht fest-gestellt habe, gilt auch für die Ausgestaltung des neuenstrategischen Konzepts der NATO. Gestalten kannman nur, wenn man die konzeptionelle Initiative hat undfür die anderen Bündnismitglieder ein innovativer Ge-sprächspartner ist, der die sich herausbildende Politikvon Anfang an mit vorantreibt. Wer seine Rolle daraufbeschränken würde, schließlich einem Konsens beizu-treten, hat seine gestalterischen Möglichkeiten einge-schränkt oder aufgegeben.Die NATO braucht ein strategisches Konzept, das dierichtige Balance zwischen Bewahren und Erneuern fin-det. Natürlich muß die NATO die Fähigkeit zur kollek-tiven Verteidigung bewahren. Daraus erwächst Stabilitätauf dem Kontinent. Die Hauptaufgabe der NATO waralso immer die Verteidigung oder Abschreckung gegen-über potentiellen Aggressoren. Das ist und bleibt derKern des Washingtoner Vertrages.Zugleich muß sich die NATO zu einer Gemeinschaftverändern, die nicht nur ihr Territorium, sondern auchgemeinsame Interessen verteidigt, die für die Stabilitätin und für Europa von Belang sind. Ich glaube, die besteFormel, die es gibt, ist noch immer die, in Europa undfür Europa für Sicherheit zu sorgen. Der Feind vonheute und morgen heißt Instabilität. Die Krisenherde aufdem Balkan, im Kaukasus, im Nahen Osten und inNordafrika bergen Gefahren auch für uns in Europa. Dasstrategische Umfeld Europas im Auge zu behalten istsomit eine selbstverständliche Notwendigkeit. Wer aberdeshalb die Allianz als weltweites Interventionsbündniskarikieren will, hat nichts von der Welt, in der wir leben,und von der Wahrnehmung unserer Interessen für dieSicherheit in und für Europa verstanden. Darum geht es.
Für die Übernahme größerer Verantwortung bei derBewältigung von Krisen und Konflikten muß Europahandlungsfähiger werden. Solange Europa geteilt war,lag es nahe, daß sich die größte Energie nach innenrichtete. Europas Beitrag zur kollektiven Sicherheit be-Volker Rühe
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stand aber nicht nur in Truppen für die NATO. Eine be-sondere Leistung lag auch in seiner Fähigkeit zur Inte-gration, weil mit ihr alte Konfliktmuster überwundenund zugleich Demokratie, Prosperität und Stabilität ge-festigt wurden.Deswegen sage ich: Das gemeinsame Korps in Stettinvon Deutschland, Polen und Dänemark, in dem die Sol-daten dieser drei Länder integriert zusammenarbeiten,schafft mehr Frieden für Europa als manche quantitativeTruppenzusammenstellung. Wenn wir überall in Europaein Konzept wie das für das deutsch-niederländischeKorps, das Eurokorps in Straßburg oder das StettinerKorps durchsetzen könnten, dann müßten wir uns keineSorgen um die Stabilität und Sicherheit in Europa ma-chen; denn dann ist das Vertrauen gewachsen.
Europa muß aber als strategischer Partner noch stär-ker nach außen schauen. Ich stimme mit Ihnen überein,Herr Bundeskanzler, wir brauchen die VereinigtenStaaten von Amerika auch im 21. Jahrhundert in Euro-pa. Sie werden aber nicht in Europa bleiben, wenn sieein hilfloses Europa vorfinden. Es geht nicht nach demMotto „Je schwächer wir sind, um so eher werden dieAmerikaner in Europa bleiben“. Wir werden die Ameri-kaner im 21. Jahrhundert nur in Europa binden können,wenn wir ein gleichgewichtiger strategischer Partnersind. Das ist ganz wichtig.
Ich erinnere mich im übrigen an die Debatten über dasEurokorps, das Helmut Kohl zusammen mit FrançoisMitterrand gegen viele Skeptiker durchgesetzt hat. Man-che Nationen – die Engländer und Amerikaner – habendazu gefragt: Vertreibt ihr nicht die Amerikaner aus Euro-pa, wenn ihr europäische Strukturen aufbaut? Ich glaube,inzwischen hat jeder begriffen, daß das Gegenteil richtigist. Nur wenn wir die europäische Sicherheits- und Ver-teidigungsidentität stärken und Strukturen aufbauen, wer-den wir eine größere Rolle spielen können. Nur dann, wennwir einmal eine Krise ohne die Amerikaner lösen können,sind wir ein wichtiger strategischer Partner und binden dieVereinigten Staaten auch in Zukunft in Europa.
Ich muß allerdings sagen, daß Europa auch allen An-laß zur Selbstkritik hat. Ich will nicht darüber sprechen,wie man die Überlegungen zu einem Ölembargo oderdie Tatsache, daß noch während des Bombenkriegs Ölgeliefert worden ist, bewertet.
Dazu könnte ich manches sagen. Man muß sehr sorgfäl-tig darüber nachdenken, ob es gerechtfertigt ist, das Le-ben von Soldaten zu gefährden, wenn man nicht in derLage ist, so etwas vorher zu unterbinden.
Ich weiß, daß Klaus Kinkel als Außenminister nochvor einem Jahr einen Kampf über Monate hinweg ge-führt und gesagt hat: Bevor es um militärische Dingegeht, müssen wir wenigstens dafür sorgen, daß dieFluglinien unterbunden werden. – Viele der europäi-schen Partner, die heute Bomben werfen, waren ausökonomischen Interessen nicht bereit, ihre Flugliniennach Belgrad zu unterbinden. Das ist nicht in Ordnung,das ist kein einsdrucksvolles Verhalten der Europäer.
Für die neuen Mitglieder der NATO ist durch die Ko-sovo-Krise die Zeit der Bewährung schneller als erwar-tet gekommen. Man kann für die Beiträge, die dort ge-leistet werden, nur dankbar sein. Im Hinblick auf dieDebatte in Tschechien möchte ich aber auch sagen: DieSituation in Tschechien ist hinsichtlich der öffentlichenMeinung schwierig. Das bestätigt all diejenigen, die ge-sagt haben: Bewertet neue Mitglieder nicht danach, wiemodern ihre Panzer und Flugzeuge – haben sie amerika-nische Flugzeuge oder die modernsten deutschen Pan-zer? – sind. Was sie in unser Bündnis einzubringenhaben, ist vor allen Dingen eine öffentliche Meinung,die in Krisensituationen zur NATO steht.Wir sollten deswegen sehr vorsichtig darüber spre-chen. Man kann erklären, warum es mit der öffentlichenMeinung in Tschechien so schwierig ist. Das sollte unsaber auch dazu führen, daß wir uns erneut auf dieeigentlichen Stärken und Notwendigkeiten der NATObesinnen. Eine Flugzeug- oder Panzermodernisierungbei den neuen Mitgliedstaaten kann ruhig etwas warten.Was wir aber brauchen, ist das Stehen der öffentlichenMeinung auch in den neuen Beitrittsstaaten zur NATOin einer schwierigen, einer zugespitzten internationalenSituation.
Das Bündnis hat alle Instrumente, um handeln zukönnen. Aber Instrumente können eine weitsichtige undkonsistente Politik mit klaren Zielen nicht ersetzen. Daszeigt auch die Kosovo-Krise. Es darf nicht dazu kom-men, daß der NATO als Folge des Krisengeschehens nurnoch der Zwang zum Handeln bleibt und die Initiativeverlorengeht. Der Schlüssel zum Erfolg und damit zuFrieden und Stabilität liegt im zeitgerechten, entschiede-nen Handeln. Zum richtigen Verständnis gleichberech-tigter strategischer Partnerschaft zwischen Europa undAmerika gehört auch, darauf Einfluß zu nehmen und zu-gleich handlungsbereit zu sein, wenn es politisch gebo-ten ist.Die deutsche Stimme hat ein ungeheures Gewicht,Herr Bundeskanzler. Ich persönlich hätte es zum Bei-spiel nicht unbedingt als Kompliment empfunden, wennmir als Verteidigungsminister ständig gesagt wordenwäre: Du bist aber wirklich zuverlässig.
Volker Rühe
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– Das war jetzt wirklich nicht böse gemeint; das könnenSie dem Duktus, glaube ich, entnehmen. Ich habe die öf-fentliche Meinung im Westen verfolgt.Jetzt kommt es darauf an, daß Deutschland zuverläs-sig zu den Entscheidungen steht und auch das unter-stützt, was wir noch unter der Vorgängerregierung be-schlossen haben. Es kommt aber auch darauf an, daß wirunser eigenes Gewicht einbringen – das ist größer alsdas von anderen –, damit Amerika, Europa und Rußlandversuchen können, einen Weg aus dieser schwierigenKrise zu finden. Darum geht es in dieser Situation.Vielen Dank.
Ich erteile Bundes-verteidigungsminister Rudolf Scharping das Wort.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist schon richtig: Die NATO ist die erfolg-reichste politische und militärische Allianz, die wir ken-nen. Sie feiert ganz zu Recht ihren 50. Geburtstag. Ge-nauso klar ist, daß dieser Gipfel in Washington von denEreignissen im Kosovo überschattet wird. Folglich wirder auch nüchtern gehalten sein.Die Allianz ist in ihrer Substanz, auch in ihremSelbstverständnis, selten so herausgefordert worden wiegerade in den Tagen, in denen sie ihren Geburtstag fei-ert. Sie ist politisch, sie ist militärisch, sie ist übrigensauch moralisch herausgefordert. Im übrigen macht ge-nau dieser Konflikt deutlich, warum die NATO im heu-tigen und auch im künftigen Europa als Eckpfeiler vonFrieden und Sicherheit unentbehrlich und unersetzlichist.Die Allianz hat in den letzten Jahren sehr flexibel undpolitisch klug auf ein grundlegend verändertes sicher-heitspolitisches Umfeld reagiert: Sie hat ihre Strukturenreformiert, sie hat die Zusammenarbeit mit andereneuro-atlantischen Institutionen intensiviert, sie hat sichfür neue Mitglieder geöffnet, und sie hat die Koopera-tion mit neuen Partnern vorangetrieben. Aus dieser Ent-wicklung ist die NATO gestärkt hervorgegangen. Sie hatihre Rolle als zentraler Stabilitätsanker in einem sichwandelnden Europa eindrücklich untermauert – auchangesichts neuer Herausforderungen und Risiken.Es ist also diese neue NATO, die sich zusammen mitihren Partnern im früheren Jugoslawien für Frieden undfür Sicherheit engagiert. Es zeigt sich auch in diesemKonflikt, daß keine andere Organisation so wie dieNATO über Mechanismen zur politischen Konsultation,zur diplomatischen, aber auch zur militärischen Durch-setzung von Zielen verfügt, wenn andere Möglichkeitennicht vorhanden sind und wenn man Krisen effektiv be-gegnen will. Keiner anderen Organisation in Europa istes möglich, ein Regime wie das in Belgrad in dieSchranken zu weisen. Keine andere Organisation verfügt– das haben die Erörterungen mit dem UNHCR sehrdeutlich gemacht – über die Logistik und die Ressour-cen, in kurzer Zeit Hunderttausende von Vertriebenenmit Unterkunft, Verpflegung und medizinischer Hilfe zuversorgen.Unbeschadet dieser Leistungsfähigkeit füge ich hin-zu: Man sollte sich in Zukunft auch darauf konzentrie-ren, originäre Aufgaben anderer internationaler Institu-tionen ebenso ernst zu nehmen und diese in der Wahr-nehmung ihrer Aufgaben zu stärken. Das betrifft zumBeispiel die Vereinten Nationen.
Das ist ja auch der Grund dafür, weshalb die Bundesre-publik Deutschland in dieser Hinsicht an einer Stärkungder Vereinten Nationen interessiert ist.Es waren weitsichtige Staatsmänner, die die NATO inden ersten Stunden nach dem zweiten Weltkrieg konzi-piert haben. Die zentralen Artikel des WashingtonerVertrages spannen einen weiten Bogen vom Europa derunmittelbaren Nachkriegszeit bis in das 21. Jahrhundert.Das sollte, so hat der damalige kanadische Außenmi-nister gesagt, mehr sein als ein altmodisches Militär-bündnis. Auch wenn es in den ersten Jahrzehnten derNATO, jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung,primär um militärische Abwehr einer realen Bedrohungging: Die NATO war nie – und sie wird es auch in Zu-kunft nie werden – ein Bündnis lediglich zur Abwehreiner militärischen Bedrohung. Ein solches Bündnis wä-re ja mit dem Verschwinden dieser Bedrohung in sichselbst zusammengefallen.Nein, die NATO zeichnet ein höchst modernes undumfassendes Verständnis von Sicherheit aus. Das hat siezusammengeführt, hat sie zusammengehalten und wirdsie auch in Zukunft prägen. Wirtschaftlicher Auf-schwung, innenpolitische Stabilität und äußere Sicher-heit gehörten nicht nur in den Augen der Gründungsvä-ter untrennbar zusammen. In diesem Sinne umfassendeSicherheitspolitik zu betreiben, das ist in der Vergan-genheit hier und da dem einen oder anderen durchausschwergefallen; es hat sich aber sehr bewährt. Regelmä-ßige und vertrauensvolle politische Konsultationen,ständiges Bemühen um Konsensfindung und vor allenDingen das feste Fundament gemeinsamer Werte, aus-gedrückt in den Vorstellungen von Freiheit, Demokratieund Gerechtigkeit – das hat im April 1949 die zwölfNationen zusammengeführt, die die NATO gründeten,und das hält ihre 19 Mitglieder auch heute noch zusam-men.Ich füge hinzu, daß wir in Deutschland der Atlanti-schen Allianz außerordentlich viel verdanken. Ich sagedas – Bemerkungen des Kollegen Rühe aufgreifend – alsVertreter einer Partei, die sich mit dem BeitrittDeutschlands zur Allianz und mit dem deutschen Bei-trag zur Allianz durchaus schwergetan hat. Aber, HerrKollege Rühe, ich könnte jetzt mit leisem Spott hinzufü-gen: Man muß die Geschichte schon insgesamt betrach-ten; Sie haben nur über einen Teil geredet. Ich erinneremich daran, daß, um mich höflich auszudrücken, auch„gewisse andere politische Kräfte“ mit Kooperation,Konsultation, Abbau von Spannungen, Gewaltverzichtund ökonomischer Zusammenarbeit – also den Elemen-ten, die wir heute in einem großen Konsens als die ge-Volker Rühe
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meinsamen Eckpfeiler einer umfassenden Sicherheits-politik begreifen – ihre Schwierigkeiten hatten, in einereigenartigen Verbindung zwischen Albanien, Vatikanund CDU/CSU in Deutschland.
Dies, um auch diesen Teil der Geschichte noch in Erin-nerung zu halten.Aber wie auch immer: Von heute aus betrachtet wa-ren die Politik der Westintegration und die Ostpolitikam Ende doch zwei Seiten einer außerordentlichen er-folgreichen Medaille. Ich finde, wir sollten in Deutsch-land diesen Konsens nicht nur im historischen Rück-blick, sondern auch für die Zukunft aufrechterhalten.
Um noch einmal die Weitsicht zu betonen: Es war deramerikanische Präsident Truman, der schon 1948, vorder Gründung der NATO, vehement für eine Perspektiveder deutschen NATO-Mitgliedschaft plädiert hat. DieNATO ohne ein demokratisches und friedlichesDeutschland konnten sich insbesondere auch unsereamerikanischen Freunde – nicht nur sie, aber insbeson-dere auch sie – auf Dauer gar nicht vorstellen. Wir inDeutschland jedenfalls sind anerkanntes Mitglied derwestlichen Wertegemeinschaft geworden, haben dabeiSicherheit, Souveränität, Gewicht, Ansehen und am En-de auch die Einheit gewonnen.Ich sage das im Zusammenhang mit einer histori-schen Parallele. Wir feiern in diesem Jahr ja nicht nurden 50. Geburtstag der NATO, sondern auch den50. Geburtstag unserer eigenen Verfassung, die Grün-dung der Bundesrepublik Deutschland und den zehntenJahrestag des Falles der Mauer, des Wegfalls der altenGrenzen zwischen Ost und West, nicht nur in unseremLand. Wir wissen sehr genau, was wir, gerade mit Blickauf diese Ereignisse, der Nordatlantischen Allianz, aberauch der Europäischen Union, unseren Freunden undPartnern im Westen, unseren Partnern, auch unserenFreunden im Osten Europas zu verdanken haben. Alsosind auch Frieden, Freiheit, Demokratie und Einheitin Deutschland selbst mit dem historischen Erfolg derAllianz verbunden. Die NATO hat Grund, stolz zu sein,wir auch.Nun reicht es aber nicht, die Erfolge der Vergangen-heit zu würdigen. Also werden in Washington auchrichtungsweisende Entscheidungen mit Blick auf dieHerausforderungen, denen wir uns in Zukunft gegen-übersehen, zu treffen sein. Das wird sich in dem neuenstrategischen Konzept ausdrücken; mit ihm werdenAuftrag und Selbstverständnis der Allianz bis weit insnächste Jahrhundert festgelegt. Wir haben uns – ichweiß sehr genau, woher die Formulierung von Sicherheitund Stabilität in Europa und für Europa kommt – alsBundesregierung in diesen Prozeß intensiv und aktiveingeschaltet. Es ging uns nicht nur um die militärischenFähigkeiten der NATO, sondern auch darum, die Ko-operation im Rahmen der Partnerschaft für den Friedenauszubauen und auch auf veränderte Krisenursachenreagieren zu können. Es geht dabei nicht nur um Fragen,die mit der Weiterverbreitung von Massenvernich-tungswaffen zu tun haben, sondern auch um andere. Ichwill vier Punkte nennen.Erstens. Die kollektive Verteidigung und die trans-atlantische Bindung bleiben die unverzichtbaren We-sensmerkmale der Allianz. Gleichzeitig wird sie sich– wir haben versucht, das so gut wie irgend möglichvoranzubringen – auch den neuen Aufgaben stellen, diesich im Zusammenhang mit Sicherheit und Stabilität imeuro-atlantischen Raum ergeben: Partnerschaft und Ko-operation, Konfliktverhütung und Krisenmanagement.Das wird im strategischen Konzept der NATO mit unse-rer vollen Unterstützung – übrigens auch mit unserer In-itiative – einen entsprechenden Ausdruck finden. Da-hinter steckt, daß wir zwischen zwei Möglichkeiten zuentscheiden haben: Entweder warten wir, bis krisenhafteEntwicklungen mitsamt ihren Folgen bei uns angekom-men sind, oder wir treten ihnen dort entgegen, wo sieentstehen.Die Linie der Bundesregierung ist klar: Krisenvor-beugung muß dort ansetzen, wo Krisen selbst entstehen,und dafür braucht man ein breites Spektrum politischerwie militärischer Reaktionsmöglichkeiten und die ent-sprechenden Fähigkeiten dazu. Deshalb ist es gut, daßim neuen strategischen Konzept Krisenprävention undKrisenmanagement einen viel höheren Stellenwert ha-ben werden als in der Vergangenheit. Wir begrüßen undfördern das ebenso ausdrücklich wie die Kooperationmit anderen internationalen Organisationen.
Zweitens. Es gibt im Bündnis einen breiten Konsensdarüber, daß NATO-Einsätze der internationalen Kri-senbewältigung einer unbezweifelbaren Rechtsgrundla-ge bedürfen und in Übereinstimmung mit dem Völker-recht und der Charta der Vereinten Nationen stehenmüssen. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen. Ichergänze das mit dem Hinweis, daß im neuen strategi-schen Konzept entgegen mancher Debatte in den letztenMonaten genau dies ausdrücklich verankert sein wird,nämlich daß die NATO ihr Handeln auf der Grundlagedes Völkerrechts und in Übereinstimmung mit derCharta der Vereinten Nationen entwickeln wird.Wir werden gleichzeitig die Bereitschaft bekräftigen,Friedenseinsätze unter der Autorität der Vereinten Na-tionen oder in Verantwortung der OSZE durchzuführen;das wäre dieselbe unbezweifelbare völkerrechtlicheGrundlage. Entwicklungen wie im Kosovo kommenhinzu. An der völkerrechtlichen Grundlage des Einsatzesder NATO besteht kein Zweifel; es besteht aber auchkein Zweifel – das haben wir ja hier im Hohen Hauseschon einige Male erörtert –, daß wir uns in einem ob-jektiven Zielkonflikt befinden, übrigens die Charta derVereinten Nationen und das Völkerrecht auch. Denn wirsehen an einer Entwicklung wie im Kosovo – und nichtnur dort –, daß die Prinzipien, die die Charta und dasVölkerrecht tragen, nämlich die Souveränität der Staatenund die Ächtung zum Beispiel von schwersten Verbre-Bundesminister Rudolf Scharping
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chen gegen die Menschlichkeit, in einen Konflikt mit-einander geraten können, jedenfalls dann, wenn in einemStaat entsprechende Vorgänge – Mord, Massenmord,Vertreibung, am Ende Völkermord – stattfinden.Drittens. Die NATO wird verdeutlichen, daß Europamehr Verantwortung übernimmt, und Europa wird klar-machen, daß es dazu willens und fähig ist. Das Problem,wenn es überhaupt eines innerhalb der NATO gibt, ist janicht die amerikanische Stärke, sondern die europäischeSchwäche hinsichtlich neuer Herausforderungen und derihnen adäquaten Handlungsmöglichkeiten. Also wollenwir die europäischen Fähigkeiten und Handlungsmög-lichkeiten stärken, und zwar in doppelter Hinsicht: er-stens innerhalb der Allianz selbst – das sind Fragen, diezwischen NATO und WEU vereinbart werden – undzweitens, indem wir die europäische Handlungsfähigkeitim Rahmen der Europäischen Union verstärken.Für Deutschland ist eine solche Entwicklung eigent-lich nicht schwer nachzuvollziehen. Die BundesrepublikDeutschland hat neun Nachbarn. Mit sieben von ihnensind wir in einem gemeinsamen militärischen Bündnisverbunden – nicht mit der Schweiz, nicht mit Österreich,wie wir wissen. Mit sechs von diesen sieben NATO-Partnern und Freunden haben wir mittlerweile multina-tionale Verbände oder Einheiten oder werden sie inKürze haben. Der einzige Nachbar, mit dem wir solcheVerbindungen nicht haben, ist die Tschechische Repu-blik. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich sagen, daßwir hoffen, daß sich das in möglichst naher Zukunft bitteauch ändern möge, damit wir mit allen unseren Nach-barn multinationale Einrichtungen, Verbände und Ver-bindungen haben.
Meine Damen und Herren, völlig zu Recht erwartenunsere amerikanischen Freunde, daß Europa solidarischeinen größeren Teil der gemeinsamen Lasten über-nimmt, und zwar insbesondere dort, wo europäische In-teressen und Verantwortlichkeiten zuallererst berührtsind. Der Aufbau eines europäischen Pfeilers inner-halb der NATO wird seit langem gefordert. Er hat auchviel Zeit erfordert. Aber jedenfalls halte ich für unbe-streitbar, daß Europa ohne Verdopplung von Institutio-nen oder Strukturen in einer ausgewogeneren transat-lantischen Partnerschaft mehr Gewicht erhalten soll undmuß, ganz konkret und auch sehr praktisch.Das hat dann übrigens eine vierte Auswirkung: DasBündnis wird ja im Rahmen der Überprüfung seinesstrategischen Konzeptes auch die Richtlinien für dieStreitkräfte anpassen und die militärischen Fähigkeitenmit Blick auf ein erweitertes Aufgabenspektrum opti-mieren.Wir sehen im Zusammenhang mit dem Kosovo imfrüheren Jugoslawien, daß multinationale Krisenbewäl-tigung veränderte und höchste Anforderungen an Perso-nal und an Material stellt. Bestimmte Schlüsselfähig-keiten – in einer fast militärisch-technokratischen Spra-che würde man sie Mobilität, Verlegungsfähigkeit,Durchhaltefähigkeit, Nachhaltigkeit eines Einsatzesnennen – gewinnen entscheidende Bedeutung. Wer eineschnelle und effektive Reaktion auf Krisen will, mußsich solchen Schlüsselfähigkeiten und ihrer Entwicklungzuwenden.Das neue strategische Konzept und seine Vorgabenfür die Bündnisstreitkräfte sowie entsprechende Gipfel-initiativen werden jedenfalls die entscheidende Orientie-rungslinie auch für die Arbeit der Kommission zur ge-meinsamen Sicherheit und zur Zukunft der Bundeswehrsein. Diese Kommission wird unmittelbar nach demGipfel in Washington ihre Arbeit am 3. Mai aufnehmen.Allein der Termin, aber viel mehr als dieser Termin, solldeutlich machen, daß Deutschland auch in Zukunft aufeine enge zeitliche und inhaltliche Verzahnung vonNATO-Entwicklung und der Entwicklung der eigenenStreitkräfte entscheidenden Wert legt.Ulrich de Maizière, der frühere Generalinspekteur,hat 1982 gesagt: „Eine Armee, die glaubt, fertig zu sein,ist bereits veraltet.“ Das galt damals, und das gilt auchheute. Jedenfalls lehren uns diese Wochen, wie wichtiges ist, über moderne, flexible und einsatzfähige Streit-kräfte zu verfügen. Aber – da stimme ich dem KollegenRühe ausdrücklich zu – auch die im technischen Sinnemodernste Armee ist nichts wert, wenn in ihr nichtgleichzeitig von dem Auftrag für Frieden, Freiheit undMenschenrechte überzeugte Soldatinnen und Soldatenmotiviert und leistungsfähig ihren Dienst leisten. Dassollten wir ausdrücklich anerkennen.
Meine Damen und Herren, ich will kurz resümieren:Das Bündnis war in den letzten 50 Jahren die wichtigsteGrundlage für unsere, die Freiheit und Sicherheit derDeutschen und der Europäer. Die NATO wird auch inden nächsten Jahrzehnten die wichtigste Grundlage füreine sichere, freiheitliche und stabile Entwicklung inEuropa sein, soweit es um die Herausforderungen an un-sere Sicherheit geht. Sie wird zunehmend stärker aufeine enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Unionund den anderen internationalen Institutionen angewie-sen sein, und sie wird das in eigener Kompetenz unddurch Zusammenarbeit mit anderen Staaten oder inter-nationalen Institutionen leisten können, und zwar auf derGrundlage unveränderter gemeinsamer Werte, auf derGrundlage auch gemeinsamer Interessen und im Rah-men einer festen transatlantischen Partnerschaft, die jaDemokratien auf beiden Seiten des Atlantiks verbindet,die auf der Welt eine hohe Bedeutung haben, nicht vonder Zahl ihrer Bevölkerung her, aber von ihrer Lei-stungsfähigkeit, ihrer Freiheit und von ihren festen de-mokratischen Grundlagen her.Mit der Stärkung der NATO wird immer die Stärkungdieser Grundlagen verbunden sein; denn die militäri-schen, die sicherheitspolitischen Belange sind nicht vonden freiheitlichen und stabilen demokratischen Grundla-gen zu trennen.
Bundesminister Rudolf Scharping
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 2773
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Ich erteile dem
Fraktionsvorsitzenden der F.D.P., dem Kollegen Wolf-
gang Gerhardt, das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Am Vorabend der Vertrags-unterzeichnung des Nordatlantikpaktes, am 3. April1949, hatte der amerikanische Präsident Truman dieAußenminister Kanadas und Westeuropas zu sich gebe-ten und ihnen eindringlich erklärt, daß jede alliiertePolitik, die dem deutschen Wiederaufbau keinen hinrei-chenden Spielraum lasse, diese Nation in die Arme derUdSSR treiben könne, und zu einer Politik ermutigt, dieden deutschen wirtschaftlichen Wiederaufbau möglichmacht, die Entwicklung demokratischer Institutionenbeschleunigt und die alten – so will ich es jetzt ausdrük-ken – sowjetischen Absichten aktiv bekämpft.Am nächsten Tag wurde dieser Vertrag von12 Gründungsstaaten unterzeichnet. Freiheit, gemeinsa-mes Erbe, Zivilisation, Grundsätze der Demokratie,Freiheit der Person, Herrschaft des Rechts – das warendie Grundzüge, auch die Entschlossenheit, sich für dieseeinzusetzen.Ich erwähne dies, weil – im wahrsten Sinne desWortes – am Vorabend deutlich geworden ist, was dasBündnis für uns bedeutet. Dieses Bündnis hat eine ge-waltige erzieherische Wirkung auf billigen Nationalis-mus gehabt. Es hat eine Renationalisierung der Si-cherheits- und Außenpolitik verhindert und damit denGrundstein für unsere heutigen Chancen gelegt.
Das bedeutet für uns Deutsche mehr als für manch ande-ren europäischen Nachbarn; denn durch dieses Bündnisist aus unserem Land, einem Land der Geschlagenen,wieder ein Land mit Gewicht und Vertrauen geworden.Wir unterschätzen das heute.Im übrigen erfolgte mit diesem Bündnis die deutscheVereinigung. Es ist bemerkenswert, daß die deutscheVereinigung im wesentlichen im Zeichen dieses Bünd-nisses, der europäischen und internationalen Orientie-rung Deutschlands, vor sich gegangen ist, auch im Zei-chen des Grundgesetzes. Der tiefste Bruch im Ostenwurde mit der höchsten Beständigkeit im Westen ver-bunden. Das ist sehr bedeutsam.Vorhin hat der Kollege Rühe die Frage gestellt – dar-auf darf man in einer solchen Debatte ruhig rekurrieren –,wer in bestimmten Phasen auf der Straße war und auf derStraße sein würde. Wer so redet, wie wir es heute alle ge-tan haben – das sage ich an alle politischen Grundrichtun-gen gewandt –, der kann eigentlich für nichts anderes aufdie Straße gehen als für die zutiefst historische Erkennt-nis, daß mit diesem Bündnis unsere Werteordnung kon-stituiert und gesichert worden ist.
Allen, die das in Zweifel ziehen, müssen wir entgegen-treten. Es geht nicht um die Bündnis- und AußenpolitikDeutschlands; das ist für uns Staatsräson. Daran hat sichnach der Vereinigung unseres Landes nichts geändert.Das Bündnis hat im übrigen Beständigkeit im Wandelbewiesen. Auf dem Gipfel von Rom im Jahr 1991 wur-de quasi eine neue NATO proklamiert. Alle Staatenwaren sich völlig im klaren, daß die Strukturen desBündnisses geändert werden müssen, daß ein Euro-Atlantischer Partnerschaftsrat auf den Weg gebrachtwerden muß, daß das Prinzip der kooperativen Sicher-heit hinzugefügt werden muß, daß es einen NATO-Rußland-Rat, eine NATO-Ukraine-Kommission, eine„Charta über eine besondere Partnerschaft“ geben muß.Jedem ist dies klar.Wir müssen die Anstrengung unternehmen – alle Ab-geordnete aus allen Fraktionen –, der nachfolgendenjungen Generation deutlich zu machen, daß dies ein un-verzichtbarer Pfeiler der deutschen Politik ist; er ist un-verrückbar.
Polen, die Tschechische Republik, Ungarn – Länder, diesich nach Sicherheit gesehnt haben und die keinenRückfall mehr wollten, sind heute unsere Partner.Wahr ist aber auch: Heute, im Jubiläumsjahr, befindetsich das Bündnis ganz eindeutig in der schwierigstenPhase, seit es besteht. Es ist auch wahr, daß dann, wennwir scheiterten, nicht nur die Glaubwürdigkeit derNATO verloren wäre, sondern auch die Folgen für diegesamte globale Stabilität unübersehbar wären. Es gehtjetzt um mehr als nur um eine regional begrenzte Pro-blemlösung, die schon längst nicht mehr den Erforder-nissen gerecht wird. Es geht um eine schwere Prüfungder NATO. Die NATO muß sich im wahrsten Sinne desWortes vergewissern. Freiheit und andere zivilisatorischunverzichtbare Errungenschaften sind zweifelsfreiGrundwerte, die sie verteidigen muß. Die humanitäreHilfe und das Abwehren einer humanitären Kata-strophe sind die Ziele, die jedermann klar vor Augenhat.Die Mittel, die dafür eingesetzt werden, sind die derUltima ratio. Über ihren Einsatz wird nach langen Ver-handlungen und nach offenen Diskussionen in demo-kratischen Gesellschaften entschieden. Aber man mußauch offen ansprechen: Wer sich selbst vergewissernwill, wer die Notwendigkeiten zum Handeln sieht, werweiß, daß im Falle des Nichthandelns die Folgen für dieglobale Stabilität und auch für die amerikanische Füh-rungsmacht unabsehbar wären, der darf keinen Momentdaran zweifeln – to whom it may concern –, im Rahmendes Selbstvergewisserungsprozesses den Partnern in derNATO und der EU mitzuteilen, daß über solche Einsätzenicht nur fünf Minuten debattiert werden kann. Manmuß auch klarmachen, daß ein umfassendes Handels-embargo notwendig ist, wenn man Soldaten in einenKrieg schickt, und daß es unvertretbar ist, mit dem Hin-weis auf ökonomische Interessen gleichzeitig weiterhinÖl zu liefern. Die Bundesregierung muß das mit allerEmotionalität auch sagen dürfen.
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2774 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
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Kein NATO-Mitgliedsland kann rechtfertigen, Güteraußerhalb der humanitären und medizinischen Erforder-nisse nach Jugoslawien zu liefern, die den Zielen, für diedie NATO eintritt, nämlich die Verhinderung einer hu-manitären Katastrophe, zuwiderlaufen.Es ist für uns unbestreitbar, daß die westliche Füh-rungsmacht, die Vereinigten Staaten, nicht nur für dieheutige demokratische Stabilität, sondern auch für denwirtschaftlichen Erfolg unseres Landes viel getan hat.Für die Freien Demokraten muß ich das nicht wieder-holen. Uns ist völlig klar, daß die Führungsmacht derVereinigten Staaten – dies haben nahezu alle Krisen ge-zeigt; auch wenn es manchmal Fehleinschätzungen deramerikanischen Administration gab – notwendig ist undihre Präsenz in Europa unverzichtbar ist.Das liegt im übrigen auch im Interesse der amerikani-schen Gesellschaft. Je weiter man dort in den mittlerenWesten kommt, desto geringer sind die Kenntnisse überdie europäische Situation. Die Präsenz der VereinigtenStaaten und ihrer Gesellschaft in Europa durch Soldatenist auch deshalb erforderlich, damit sich die Amerikanerimmer selber ein Bild über Europa machen können undnicht nur auf die Informationen der Zeitungen an derOstküste angewiesen sind. Es geht also um viel mehr alsnur um die Präsenz von Soldaten.Aber – auch das sei gesagt – es kann keinen Automa-tismus beim Einsatz militärischer Mittel geben, dendie NATO in Gang setzt, nur weil ihn die amerikanischeFührungsmacht für notwendig erachtet. MilitärischeMittel müssen im Konsens der gesamten NATO-Gemeinschaft eingesetzt werden, nicht durch Automa-tismen, die die Administration des größten Bündnispart-ners irgendwann auslösen kann.Damit muß auch die parlamentarische Mandatie-rung klar sein, und zwar im engeren Sinne als bei vielenanderen Fragen, die wir hier erörtern. Das geschiehtnicht auf Grund eines grundsätzlichen Mißtrauens, son-dern aus der Verantwortung für die deutschen Soldatenheraus. Die Mandatierung sollte im übrigen auch fürhumanitäre Einsätze vorgeschrieben werden, damit dieSoldaten und ihre Familien immer die Sicherheit haben,daß das deutsche Parlament den Einsatz für richtig hält.Vorsichtig zu sein ist politisch besser.
Nach Meldungen, die heute morgen über den Tickerkamen, berichtet die „Washington Post“, Generalsekre-tär Solana habe gefordert, daß sämtliche Optionen aufdem Tisch liegen müßten, bevor man über den Einsatzvon Bodentruppen im Kosovo entscheiden könne.Sämtliche Optionen liegen immer auf dem Tisch. Aberes darf trotzdem kein Automatismus entstehen: DasParlament der Bundesrepublik darf nicht mit der Be-gründung, daß sämtliche Optionen auf dem Tisch gele-gen hätten, in eine Entscheidungssituation kommen, inder es über eine bestimmte Option gar nicht mehr be-schließen könnte. Ich lege Wert darauf, daß die Parla-mente der Mitgliedstaaten der NATO Optionen legiti-mieren, niemand anders. Optionen dürfen nicht durcheinen Automatismus in irgendwelchen Stäben zu Be-schlüssen werden.
Wir alle wissen – der Bundeskanzler, der Verteidi-gungsminister und der Kollege Rühe haben es ausge-drückt –, daß ohne Rußland eine politische Lösung desKosovo-Konflikts nicht zu erreichen sein wird. Wennwir den Vorabend der NATO-Gründung, den 3. April1949, betrachten, als es darum ging, Deutschland nichtin die Arme der UdSSR zu treiben, dann sehen wirdeutliche Unterschiede zum Jubiläumsjahr. Die alte Fra-ge hat sich aufgelöst. Die Frage an die NATO heißtheute, ob sie in Kenntnis des Erfordernisses einer politi-schen Lösung nach zwischenzeitlichem Einsatz militäri-scher Mittel zu einer Initiative findet, die Rußland einStück Handlungsspielraum gibt, so daß es zur Problem-lösung beitragen kann. Wir müssen daran ein großes In-teresse haben; an einer Sicherheitspartnerschaft mitRußland – das macht das Jubiläumsjahr überdeutlich –führt kein Weg vorbei.Das wird nicht allein die NATO erreichen können.Dazu brauchen wir ein Zusammenspiel aller euro-atlantischen Institutionen. Die deutsche Ratspräsident-schaft – der Bundeskanzler drückte es in der Regie-rungserklärung aus – weiß das. Sie ist sich dieser Auf-gabenstellung bewußt.Ich muß allerdings auch mit Blick auf die letzte De-batte feststellen, daß mir die aktiven Schritte nicht sorecht deutlich werden, nachdem in vielen Zeitungen derFischer-Plan publiziert worden war. Rückblickend aufdie Debatte in der letzten Plenarwoche hatte ich denEindruck, jetzt bespricht der Bundeskanzler die Vor-schläge des Bundesaußenministers mit den europäischenRegierungschefs. Zu meiner Verwunderung ist das dortaber anscheinend nicht erörtert worden. Es gab lediglichdie sehr zurückhaltende Erklärung der NATO, es han-dele sich um einen Diskussionsvorschlag, über den nochnicht gesprochen worden sei. Auch die amerikanischeSeite erklärte sich, soweit man es den Zeitungen ent-nehmen konnte, äußerst zurückhaltend zu einem Diskus-sionsbeitrag, der in der westdeutschen Blätterlandschafthingegen als von Kofi Annan abgesegnet – das meineich jetzt gar nicht abträglich – dargestellt wurde.Ich hatte den Eindruck, Grundlage des Fischer-Planssei mindestens ein Kabinettsbeschluß. Der Bundes-kanzler erklärte aber, es sei ein begrüßenswerter Vorstoßdes Außenministers. Das soll mir nun alles recht sein,nur möchte ich endlich einmal wissen, wann sozusagenButter bei die Fische kommt.
Wie will die Bundesregierung damit jetzt weiter um-gehen? Wenn Sie morgen zu dem Jubiläumstreffen rei-sen, kann hinterher nicht wieder eine Erklärung abgege-ben werden, wie wir sie nach dem Treffen der europäi-schen Regierungschefs entgegennehmen mußten: Es istnicht besprochen worden. Gerade weil zwischen uns undder amerikanischen Führungsmacht überhaupt keineZweifel an der beiderseitigen Zuverlässigkeit auftreten,Dr. Wolfgang Gerhardt
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ist es unser legitimes Recht als NATO-Mitgliedsland,das die EU-Ratspräsidentschaft in dieser schwierigenSituation mit einsetzen kann, der amerikanischen Füh-rungsmacht und den anderen NATO-Verbündeten mitaller Kraft deutlich zu machen, daß sich nach unsererÜberzeugung jetzt folgende Fragen stellen: Was ge-schieht außerhalb der täglichen Briefings? Welche poli-tischen Lösungen stellt man sich am Ende auch nacheiner Einbindung Rußlands vor? Wie beurteilt man dieheutigen Chancen, politische Lösungen zu erreichen?Wie konkret werden Konzepte, die über einen Waffen-stillstand hinausreichen, mit anderen weiter erörtert?Es muß ja jedermann folgendes klar sein: Je längermilitärische Aktionen andauern, desto notwendiger wirdes, dann auch wieder vornehmlich politisch zu agieren.Dafür genügt mir die Publikation der Fischer-Vorschläge in deutschen Zeitungen allein nicht.
Ich will etwas über die späteren politischen Ver-handlungen erfahren. Das sage ich nicht als Vorwurf,sondern deswegen, weil ich nicht so viele Gespräche mitnamhaften Staatsmännern führen kann, wie es der Bun-deskanzler und der Außenminister tun; ich sage nur, daßes mir nicht deutlich wird. Es gehört gerade zum Cha-rakterbild des Bündnisses, zwar ein kollektives Sicher-heitsbündnis zu sein, aber immer die militärischen Mit-tel als Ultima ratio zu sehen und in erster Linie über In-strumente zu verfügen, die es dem Bündnis erlauben, zupolitischen Problemlösungen zu kommen.
Dieser Charakter des Sicherheitsbündnisses muß jetztausgefüllt werden. Das Bündnis muß seine Fähigkeitunter Beweis stellen, wieder mehr zu politischen Pro-blemlösungen zu kommen. Wir streiten hier nicht dar-über, ob meine Aufforderung an Sie, Ihre Position be-züglich politischer Problemlösungen mehr in Verhand-lungen als auf Pressekonferenzen deutlich zu machen,unbillig ist, nur weil ich Ihnen nicht zutrauen würde, daßSie nicht die gleiche Blickrichtung haben. Über diesenPunkt streiten wir hier nicht. Ich bin überzeugt, daß auchSie am Ende die Notwendigkeit politischer Problemlö-sungen sehen.
– Auch in einer solchen Debatte darf die Oppositiondeutlich machen, daß ihr die Publikation des Plans nichtreicht, wenn sich dahinter nicht festgefügte Verhand-lungspositionen verbergen.
Wir sollten in diesen Diskussionen nicht den Eindruckerwecken, als seien die anderen sozusagen die Päpste,aber wir dürften uns nicht kritisch zu Ihren Vorschlägenäußern. Überhaupt können Sie von Glück sprechen, daßSie es mit einer solchen Opposition zu tun haben! Daswill ich einmal deutlich sagen.
Ich will, daß sich in der jetzigen Situation der deut-sche Beitrag nicht auf die innenpolitische Bedeutung be-schränkt, nämlich den einen Koalitionspartner bei derStange zu halten. Ich will, daß der Vorschlag in den ent-sprechenden NATO-Gremien mit der vollen Unterstüt-zung der gesamten Bundesregierung vorangetriebenwird. Das ist der entscheidende Punkt, der beachtet wer-den muß.
Ich will die Fraktion der SPD ansprechen:
Sie könnten mit verschiedenen Abschnitten der frühenNachkriegspolitik der Bundesrepublik Deutschland,auch wenn wir damals über verschiedene Punkte streitigdiskutiert haben, durchaus Ihren parteipolitischen Frie-den machen. Heute muß jeder anerkennen, daß der ersteSchritt der Nachkriegspolitik unter Konrad Adenauernicht falsch, sondern unverzichtbar notwendig und rich-tig war. Umgekehrt könnten viele aus der Union mehroder weniger leichten Herzens sagen: Ja, wir sind nichtgerne aus der Regierung ausgeschieden, aber wir müs-sen zugeben, es war wohl richtig, daß die Regierungunter Brandt und Scheel Schritte in Richtung Osteuropaunternommen hat, um so dem deutschen Volk über dieTabuschwelle der Oder-Neiße-Linie hinwegzuhelfen.
Heute müßten die Grünen eigentlich sagen: Das Ein-treten für die Ziele, für die wir während der Entstehungder grünen Bewegung auf die Straße gegangen sind, hatdarunter gelitten, daß die Stabilitätsgesichtspunkte derNachkriegsgeschichte und die Staatsräson der Bundes-republik Deutschland nicht beachtet wurden; unser Blickwar nicht durch die tiefen Erkenntnisse aus der deut-schen Geschichte geprägt, die sich nie mehr wiederholendarf.Wir haben heute die Chance, die von mir skizziertePolitik umzusetzen. Deshalb sind wir selbstbewußt ge-nug, die Bundesregierung aufzufordern, im Rahmen die-ses Konsens nachdrücklich auf eine konzeptionelle Lö-sung zu drängen und keine Hemmungen zu haben, ent-sprechende Vorschläge unseren NATO-Partnern zu un-terbreiten. Als gleichberechtigter Partner in einemBündnis müssen wir der amerikanischen Führungsmachtvorgreiflich deutlich machen, daß es für uns bei allenstrategischen Überlegungen keinen Automatismus gebenkann, weil die deutsche Nation, die militärische Ent-scheidungen im Hinblick auf diese Region mittragenmuß, die Geschichte anders zu bewerten hat, als diesunter kühlen administrativen Gesichtspunkten der Fallist. Dies muß vorgreiflich gesagt werden, damit wirnicht irgendwann von Vorschlägen militärischer Stäbeüberrascht werden, die wir dann politisch nicht mehrdiskutieren können. Darum geht es uns.
Dr. Wolfgang Gerhardt
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Ich erteile das Wort
Bundesaußenminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Folgt mander heutigen Debatte, so muß man feststellen, daß Par-lamentsdebatten für die Geschichtsschreibung nur be-dingt tauglich sind. Dies erklärt sich aus der Tatsache,daß Parlamentsdebatten im wesentlichen interessenge-leitet sind.
– Ich komme auf die verschiedenen Aussagen zurück,Herr Kollege Glos. Sie sollten es aber eher als einepositive Entwicklung begreifen, daß ehemalige NATO-Gegner oder NATO-Kritiker heute NATO-General-sekretär bzw. Bundesaußenminister sind. Dazu habenSie durch den Gang in die Opposition ja Erheblichesbeigetragen.
Ich komme jetzt gar nicht aus parteipolitischen Grün-den auf die Geschichte zurück, sondern möchte auf einElement des Widerspruchs in der europäischen Si-cherheitspolitik hinweisen, das seit der Gründung derNATO die ganze Nachkriegszeit hindurch bis in die Ge-genwart hinein – konstitutiv ist. Das ist ein Wider-spruchselement, das man gerade am heutigen Tag nichtignorieren sollte, wenn man über die zukünftige Politikder NATO und über die zukünftige Sicherheits- undAußenpolitik in Europa spricht. Der erste Generalsekre-tär der NATO, Lord Ismay, hat das Gründungspro-gramm der NATO in einem sehr einprägsamen Satz zu-sammengefaßt. Lord Ismay sagte damals, Zweck derNATO sei es, „to keep the Americans in, the Russiansout and the Germans down“. Das heißt, der Zweck seies, nach dem zweiten Weltkrieg die Amerikaner inEuropa zu halten, die Russen draußen zu halten und dieDeutschen unten zu halten. Dieses Programm galt biszum Ende des kalten Krieges.Was Sie heute vergessen haben zu erwähnen, ist dieTatsache, daß Deutschland zu Beginn gar nicht in derNATO war. Das hatte nicht nur damit zu tun, daß dieNATO den ehemaligen Kriegsgegner und FeindDeutschland noch nicht wollte, sondern vor allen Din-gen damit, daß es ursprünglich einen Widerspruch zwi-schen der anglo-britischen Gründung der NATO unddem deutsch-französischen Versuch der Gründung derEuropäischen Verteidigungsgemeinschaft gab. DieserWiderspruch zwischen der Bindung Deutschlands – vonseinem Sicherheitsinteresse her – an die transatlantischeAchse und der gleichzeitigen Bindung Deutschlands– vom seinem europäischen Interesse her – an diedeutsch-französische Achse ist bis heute ein konstituti-ves Element geblieben und macht die sicherheitspoliti-sche Orientierung der Bundesrepublik über alle Regie-rungen hinaus aus. Diesen Widerspruch in eine gemein-same europäische Sicherheits- und Außenpolitik und ineine Stärkung der europäischen Säule innerhalb derNATO aufzulösen wird demnach die entscheidendeHerausforderung der kommenden Jahre sein.
Herr Rühe, ich verstehe ja, daß Sie bundesrepublika-nische Geschichte als Parteigeschichte darstellen.
– Die Union hat viele Gründe, das zu verknüpfen; das istjetzt wirklich nicht polemisch gemeint. – Sie hätten abereinige Punkte hinzufügen müssen: Alle hier sitzendenParteien haben, wenn man die bundesrepublikanischeGeschichte insgesamt anschaut, ihre innerparteilicheEntwicklung gegen die Entwicklung dieser Geschichtegesetzt. Sie haben die ganzen zehn Jahre der Ostpolitiknicht erwähnt und auch nicht die Tatsache, daß diesePolitik entscheidend zur Herausbildung des europäi-schen Sicherheitssystems beigetragen hat.
Diese Ostpolitik war konstitutiv. Daß Sie die Änderungder Politik der Union, nachdem sie 1982 wieder an dieRegierung gekommen ist und diesen ganzen Kurs hint-angestellt hat, und daß Sie die Debatten um den Atom-waffensperrvertrag – „intergalaktisches Versailles“ hießes damals – nicht erwähnen, verstehe ich. Wenn manaber die Geschichte bemüht, dann sollte man sie derWahrhaftigkeit halber als Ganzes erwähnen und dannmuß man dies alles hinzufügen. Denn das sind konstitu-tive Elemente: Ohne die Ostpolitik und ohne die Ent-spannungspolitik hätte es den ganzen Prozeß hin zuGorbatschow und letztlich auch den Prozeß hin zurdeutschen Einheit nicht gegeben. Das wissen Sie ganzgenau.
Das ist aber nur eine Anmerkung, denn ich stimmeallen Rednern zu: Die europäische Sicherheit wird in derTat ganz entscheidend durch die Anwesenheit der USAgeprägt. Der Dreiteiler von Lord Ismay – die Amerika-ner drin, die Russen draußen und die Deutschen untenzu halten – gilt heute nicht mehr. Wenn wir über dastransatlantische Sicherheitsbündnis sprechen, müssenwir über die konstitutiven Bedingungen der Zukunft re-den. Dabei gibt es ein gemeinsames Interesse: Ich be-haupte, in einem sich vereinigenden Europa – und wennman vorausschaut, selbst dann, wenn Europa eines Ta-ges als politisches Subjekt tatsächlich vereinigt ist –wird es sicherheitspolitisch gesehen notwendig sein, daßdie USA dauerhaft in Europa präsent bleiben.Wir befinden uns nicht in einer insularen Lage. Sorichtig und wichtig es ist, zu erkennen, daß europäischeSicherheit von Rußland abhängt, so ist es noch um einVielfaches wichtiger zu erkennen, daß wir den transat-lantischen Brückenbogen auf Dauer sicherstellen müs-
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sen, weil europäische Sicherheit ohne die USA schlech-terdings nicht herstellbar ist.
– Das ist nicht die Rede für den 13. Mai, sondern das istmeine Überzeugung. Das zeigt einmal wieder, meinLieber, wie doch der außenpolitische Nachwuchs IhrerFraktion noch bemüht ist, die parteipolitischen Eier-schalen abzustreifen; das muß ich Ihnen ehrlich sagen.
– Das hat doch nichts mit Arroganz zu tun. Der Zwi-schenruf paßt an der Stelle einfach nicht; geben Sie esdoch zu.Wir diskutieren hier über die zukünftige europäischeSicherheitsarchitektur. Ich bin der festen Überzeugung,daß wir eine Sicherheitsarchitektur entlang von drei Bö-gen brauchen. Wir brauchen das sich vereinigende Euro-pa, das als politisches Subjekt hergestellt wird. Ich unter-stütze in diesem Zusammenhang nachdrücklich alle, diegesagt haben, daß die europäische Säule gestärkt werdenmuß. Gerade der Kosovo-Konflikt macht doch klar – ichmöchte das aufnehmen, was verschiedene Vorredner ge-sagt haben –, daß es vor allen Dingen auch um das politi-sche Gewicht der Europäer im Bündnis geht, das heißtdarum, inwieweit wir unsere eigenen politischen Interes-sen im Bündnis zum Tragen bringen können.Es müssen doch aber auch alle diejenigen, die eineneue Vorstellung von der NATO hatten – die die NATOsozusagen als neue Plattform unter Hintanstellung ande-rer Plattformen, wie etwa der der Vereinten Nationen –,begreifen, daß eine politische Lösung im Kosovo – ichhoffe sehr, daß es eine solche Lösung gibt – ohne Ruß-land nicht herstellbar ist, daß wir diesen zweiten Sicher-heitsbogen, nämlich die Einbindung Rußlands in dieeuropäische Sicherheit im Bündnis über die Kooperationzwischen NATO und Rußland, aber auch über die Ko-operation zwischen EU und Rußland brauchen, daß einepolitische Lösung, wenn es zu massiven Konflikten odersogar zum Krieg gekommen ist, nur mit Rußland mög-lich ist. Das ist eine klare Absage an diejenigen, die inden vergangenen Jahren der Überzeugung gewesen sind,man könne dies allein auf NATO-Plattform machen.
Bei dem Krieg im Kosovo – ich möchte dies noch-mals hervorheben –, geht es nicht nur um Moral undnicht nur um die schwerste Mißachtung der Menschen-rechte, sondern im Kosovo geht es vor allem um dieFrage, in welchem Europa der Zukunft wir leben wollen.Dort geht es um europäische Sicherheit.Die vergangenen Wochen haben intensive Konsulta-tionen auch und gerade mit den Nachbarstaaten mit sichgebracht. In vielen Kommentaren wird gegenwärtig das19. und frühe 20. Jahrhundert beschworen, wird auf diehegemonialen Eingriffe der europäischen Großmächte indas auseinanderbrechende Osmanische Reich Bezug ge-nommen. Das alles ist heute nicht mehr die politischeRealität. Wo gibt es einen hegemonialen Anspruch wel-cher Macht im Kosovo? Gibt es einen europäischen he-gemonialen Anspruch oder einen transatlantischen oderamerikanischen hegemonialen Anspruch? Nichts der-gleichen ist der Fall.Wenn ich mir anschaue, was die Nachbarländer dortwollen, so muß ich sagen: Sie wollen zur EU, und siewollen Sicherheit in der NATO. Albanien, Mazedonien,Kroatien, Slowenien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien,alle diese Länder wollen in das Europa der Integra-tion. Das ist der entscheidende Punkt. Milosevic stehthier gegen das Europa der Integration. Er vertritt einePolitik des extremen Nationalismus, eine Politik derGewalt und der Vergangenheit. Wenn man ihn machenläßt, dann wird das Europa der Integration in dieser Re-gion dauerhaft gefährdet. Das ist neben den Menschen-rechtsprinzipien, neben unseren Grundwerten der ent-scheidende Punkt dafür, warum Milosevic so nicht wei-termachen kann und darf.
Ich füge an dieser Stelle hinzu: Es wird von entschei-dender Bedeutung sein, daß wir eine politische Lösungfinden. Herr Kollege Gerhardt – ich möchte Sie direktansprechen –, da machen Sie sich nur keine Sorgen. Esgeht hier nicht darum, daß irgend etwas in die Zeitungengebracht wird. In den Zeitungen wird heute alles disku-tiert. Vielmehr sage ich Ihnen: Wir haben dieses Kon-zept gerade auf der außerordentlichen NATO-Rats-tagung mit allen unseren wichtigen Bündnispartnernausführlich diskutiert. Seitdem spielt dies in den ständi-gen Telefonkonferenzen, in direkten Treffen und auchbei der Vorbereitung der entsprechenden Schlußdoku-mente eine entscheidende Rolle.Ich möchte Ihnen noch einmal sagen: Alle Vorschlä-ge, die ich bisher gehört habe, beziehen sich letztendlichauf dieses Konzept, und zwar nicht, weil wir besondersklug sind, sondern weil wir die fünf Punkte zur Grund-lage gemacht haben. Wenn Sie diese fünf Punkte opera-tionalisieren, dann stoßen Sie zuerst auf die Frage derEinbeziehung Rußlands. Was heißt Einbeziehung Ruß-lands, wenn man es nicht therapeutisch, sondern realmeint? Einbeziehung Rußlands heißt, daß Rußland seineSelbstblockade im VN-Sicherheitsrat aufgibt und daßwir als erstes eine Resolution nach Kapitel VII im VN-Sicherheitsrat bekommen. Das ist der erste Schritt.Wenn wir diese Resolution haben – der Bundeskanz-ler hat vorhin drei der fünf Kernpunkte genannt –, dannist die erste Voraussetzung der völlige Abzug der be-waffneten Streitkräfte, der Paramilitärs und der Sonder-polizei aus dem Kosovo. Wenn dieser Abzug beginnt,dann halten wir es in der Tat für angemessen und übri-gens auch für praktisch notwendig, daß eine Waffenruhebeginnen kann – allerdings nie mehr durch das Vertrau-en auf Worte, sondern nur noch durch Taten verifiziert –und daß es, wenn innerhalb der festgesetzten Frist derAbzug abgeschlossen ist, nicht nur zur Implementierungeiner internationalen Friedenstruppe kommt, sondern zueinem dauerhaften Schweigen der Waffen, damit dieVoraussetzung für eine Übergangsverwaltung geschaf-Bundesminister Joseph Fischer
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fen wird und die Flüchtlinge zurückkehren können.Wenn es zu einer politischen Lösung kommt, dann wirdman diese Forderungen letztendlich in jedem Konzeptwiederfinden müssen, weil es die Konsequenz der Um-setzung der fünf Punkte ist. Genau das ist der deutscheVorschlag.
– Der jetzige Stand ist, daß wir gegenwärtig auf genaudieser Grundlage über das Gipfeldokument diskutieren,daß wir versuchen, auf dieser Grundlage mit dem VN-Generalsekretär, der sich Gott sei Dank in eine ähnlicheRichtung bewegt und die Initiative übernommen hat, zudiskutieren, daß wir darüber noch vorgestern abend mitunseren Bündnispartnern in Paris gesprochen haben unddaß wir dies auch mit der amerikanischen Seite tun.Was Sie gesagt haben, hört sich in der Tat schön an.Wir bedanken uns dafür, daß wir eine solche Oppositionhaben. Da stimme ich Ihnen zu. Aber eines möchte ichIhnen gleich ins Protokoll diktieren: Die innenpolitischeDebatte in den angelsächsischen Ländern läuft anders.Es ist nicht so, daß da nur die Administration einen an-deren Kurs fährt; vielmehr diskutiert auch der Kongreßanders. Das muß ich Ihnen nicht erzählen, das wissenSie sehr genau. Dasselbe gilt selbstverständlich für dieinnenpolitische Debatte in Großbritannien. Das heißt,daß sich vieles, was es an Vorschlägen gibt, in der ganzanderen innenpolitischen Prioritätensetzung sehr wichti-ger Bündnispartner stößt. Das muß man bei alldem be-denken.
– Das ist ein normaler Vorgang. Nur, bei allem Re-spekt, Sie müssen bedenken: Die Gewichtsverhältnissespielen schon eine Rolle. Wir waren in der Regel mitvier bis sechs Flugzeugen bei insgesamt mehr als 400Flugzeugen beteiligt. Ich sage das, um klarzumachen,was die Gewichtsverhältnisse bei der politischen Ent-scheidungsfindung betrifft.Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur versichern, daßwir mit allem Nachdruck an einer politischen Lösungarbeiten. Wir dürfen uns einer militärischen Eskala-tionslogik in diesem Punkt nicht beugen. Wir führenkeinen Krieg gegen Serbien und gegen das serbischeVolk.
Was wir wollen, ist die Durchsetzung von Menschen-rechten, von Humanität gegen eine Politik der ethni-schen Kriegführung. Das müssen und werden wir durch-setzen, weil ein Beugen, ein Wegducken vor dieserPolitik Milosevics keinen Frieden, sondern noch mehrKrieg, noch mehr Vertreibung und noch mehr Zerstö-rung bedeuten würde. Das haben die vergangenen zehnJahre gezeigt.
Lassen Sie mich zum Schluß noch ganz kurz den Be-zug zwischen neuer NATO und anderen Sicherheitsor-ganisationen ansprechen. Wer sich die Konsequenz derjetzigen Entwicklung anschaut, wer sieht, wie wichtig esist, daß der VN-Generalsekretär wieder eine aktive Rollespielt, wer sieht, wie wichtig es ist, daß Rußland in denVersuch, eine Friedenslösung für den Kosovo zu finden,eingebunden wird, der erkennt, daß manches an der De-batte über die neue NATO in den letzten Jahren verkürztgeführt wurde.Die NATO ist keine Alternative zu den VereintenNationen. Sie ist eine regionale Sicherheitsorganisation.Sie zu überfordern würde bedeuten, sie zu gefährden.Ich glaube, das macht jetzt auch der Kosovo klar.Die Reformdebatte der NATO über das neue Konzeptwird unmittelbar zu einer Debatte über zwei weitere Or-ganisationen führen müssen: über die Rolle der OSZE –wir haben im Kosovo gesehen, daß sie nicht mehr nureine Alternative darstellt, sondern eine wichtige Kom-plementärfunktion zum Sicherheitsbündnis NATO unterden neuen Bedingungen nach dem Ende des kaltenKrieges wahrnimmt, und daß ihr Instrumentarium drin-gend fortentwickelt werden muß – und über eine interes-sengeleitete Reform der Vereinten Nationen, die vordem Tabu der Wahrnehmung des Gewaltmonopolsdurch den Sicherheitsrat nicht haltmachen darf. Es gehtnicht darum, das Gewaltmonopol in Frage zu stellen,aber der Gewaltmonopolinhaber – ich bin nachdrücklichfür das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates in den in-ternationalen Beziehungen des 21. Jahrhunderts – mußsich auch bestimmten Verpflichtungen unterwerfen, da-mit dieses Gewaltmonopol nicht auf nationalen, sondernauf internationalen Interessen gründet; dieses muß auchin den verschiedenen Chartas der Vereinten Nationenumgesetzt werden.
Ich möchte es Ihnen an einem Beispiel verdeut-lichen: Wir vertreten die Ein-China-Politik, und dies –wie ich denke, das ganze Haus – aus Überzeugung. Daßsich Peking darüber aufregt, wenn Mazedonien Taiwananerkennt, kann ich aus Sicht der nationalen PositionPekings nachvollziehen. Ob es aber im Interesse des Si-cherheitsrates, des Gewaltmonopolinhabers in der inter-nationalen Politik, liegt, daß eine sinnvolle VN-Frie-densmission in Mazedonien nicht verlängert wird, weilaus einer aus meiner Sicht berechtigten nationalen Ver-ärgerung heraus ein Veto eingelegt wird, daran habe ichgroße Zweifel. Ich glaube nicht, daß so der Gewalt-monopolinhaber Sicherheitsrat unter den Bedingungendes 21. Jahrhunderts wirklich funktionieren kann.
Die gegenwärtige Diskussion über die Frage, wasvölkerrechtlich zulässig ist oder nicht, ist aus meinernicht-juristischen, aber politischen Sicht eine Formalde-batte. Warum? Weil der Sicherheitsrat im Fall des Ko-sovo schlicht und einfach hätte handeln müssen. Ich wä-re froh gewesen, wenn wir eine Resolution nach Kapi-tel VII bekommen hätten. Ich hoffe, daß jetzt unter Ein-Bundesminister Joseph Fischer
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beziehung Rußlands eine entsprechende Resolution zu-stande kommt; denn alle vorherigen Resolutionen führenauf diesen Punkt hin. Insofern ist für mich die Fragenach einer neuen Strategie der NATO nicht die Frage,ob eine Alternative zu den Vereinten Nationen und ihrenmöglichen Reformen geschaffen wird, sondern letzteresind eine der Voraussetzungen für eine regionale Si-cherheitsorganisation für und in Europa. Eine Überdeh-nung der NATO würde sie meines Erachtens gefährden.Deswegen müssen wir diese Reformdebatte auch inRichtung OSZE und VN führen und zu entsprechendenBeschlüssen kommen.
Das Wort hat nun
Kollege Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll und anständig gewe-sen, wenn die NATO ihr Gipfeltreffen, ihre Feierlich-keiten und die Verabschiedung einer neuen NATO-Strategie verschoben hätte.
Ich befürchte, daß dieser NATO-Gipfel unter dem Zei-chen des Krieges steht und sich in Diskussionen überden Krieg erschöpfen wird.Wir reden über eine NATO, die Krieg führt, Krieg inEuropa, Krieg ohne Mandat der UNO, Krieg unterBruch ihrer eigenen Charta, Krieg ohne ein politischesKonzept. Wir hören dieser Tage von der US-Außen-ministerin, daß sich jetzt – ebenso wie sich in der Ver-gangenheit das Militärische der Diplomatie unterordnenmußte – die Diplomatie dem Militärischen unterordnenmuß. Wir reden von einer NATO und der Rolle unseresLandes in diesem Bündnis, über die der Altbundes-kanzler Helmut Schmidt sagte – ich zitiere ihn –, „ge-gängelt von der USA, haben wir das internationaleRecht und die Charta der Vereinten Nationen mißach-tet“. Daß ausgerechnet ich einmal Helmut Schmidt ge-gen Gerhard Schröder ins Felde führen würde, wäre mirselbst in meinen schlimmsten Träumen nicht in den Sinngekommen.
Die alte NATO gibt es nicht mehr. Eine neue NATOhat sich der Welt vorgestellt. Sie will sich auf ihremGipfeltreffen Ende des Monats eine neue Strategie ge-ben. Das Vorhaben soll nicht gefährdet werden. Ich darfIhnen dazu aus der „New York Times“ zitieren: „Einvermasselter Einsatz könnte das Bestreben ernsthaft ge-fährden, für die NATO eine neue Rolle bei Friedenser-haltung und Krisenmanagement zu formulieren.“Man kann auch nachlesen, was der US-SenatorMcClaim geschrieben hat: „Wir müssen diesen Konfliktgewinnen, egal was es kostet.“ Der Sicherheitsberaterdes US-Präsidenten, Samuel Berger, nannte in der „In-ternational Herald Tribune“ vom 24. März als einen derHauptgründe für die Bombenangriffe „die Demonstra-tion, daß die NATO es ernst meint“.In der Tat – das will ich bedauernd feststellen – hatsich die Politik dem Militärischen untergeordnet. Diemilitärische Logik folgt eigenen Gesetzen. Ob es derBundestag will oder nicht: Wir werden hier vor der Fra-ge stehen, ob wir dem Einsatz von Bodentruppen zu-stimmen sollen. Alle Überlegungen der Regierung gehenin Richtung Eskalation. Als nächstes soll eine Seeblok-kade Jugoslawiens folgen. Die Debatte über die militäri-sche Eröffnung von Korridoren für die Rückkehr vonFlüchtlingen heißt doch im Klartext Einsatz von Boden-truppen. Wie werden Sie diese Frage dann beantworten?Jedes neue Dementi von den Regierungsbänken wirdimmer zweideutiger. Zugleich nehmen die Forderungenaus Washington an Eindeutigkeit zu. Wie war es in die-ser Woche im „Spiegel“ zu lesen? „Die Amis wollenden Krieg.“Nein, auf dem NATO-Gipfel gibt es wenig zu feiern.Es gibt aber allen Anlaß, darüber nachzudenken, wiedieser Irrsinn beendet werden kann.
Ich sage Ihnen voraus – wir werden darüber reden kön-nen –, daß der jetzt eingeschlagene Weg, die jetzt einge-schlagene Politik der NATO etwas fertigbringt, was dieLinken 50 Jahre nicht geschafft haben. Diese Politik istder Anfang vom Ende der NATO. Aber bedanken werdeich mich dafür nicht; der Preis ist mir entschieden zuhoch.
Daß die NATO ihre Strategie nach dem Ende deskalten Krieges, nach der Aufhebung der Spaltung derWelt in zwei Pole, nach der Auflösung des WarschauerPaktes neu durchdenken muß, versteht sich von selbst.Erinnern wir uns noch an die Diskussion über ein ge-meinsames Haus Europa? Denken wir überhaupt nochernsthaft darüber nach, daß Sicherheit nur gemeinsameSicherheit sein kann? Erscheint uns heute nicht der Kerndes neuen Denkens – das sich eng mit dem Namen Gor-batschow verbindet –, die Interessen der Kontrahenten,ja des möglichen Gegners in die eigenen Überlegungenaufzunehmen und Demütigungen zu vermeiden, un-wirklich?Lassen Sie mich aus einem Papier zitieren, das sichwie eine Botschaft aus einer anderen Welt liest:Die neue Bundesregierung hält an dem Ziel dervollständigen Abschaffung aller Massenvernich-tungswaffen fest und wird sich in Zusammenarbeitmit den Partnern und Verbündeten Deutschlands anInitiativen zur Umsetzung dieses Ziels beteiligen.Und weiter:Zur Umsetzung der Verpflichtungen zur atomarenAbrüstung aus dem Atomwaffensperrvertrag wirdsich die neue Bundesregierung für die Absenkungdes Alarmstatus der Atomwaffen sowie für denVerzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen ein-setzen.Bundesminister Joseph Fischer
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Das, Kolleginnen und Kollegen von Rotgrün, ist Ihr Ko-alitionsvertrag. Schon vergessen? Oder glauben Sie nochdaran? Mich zumindest hat es sehr berührt, daß MichaelGorbatschow im Zusammenhang mit der Osterweiterungder NATO schrieb, er fühle sich „vom Westen verraten“und die NATO-Erweiterung sei „eine Absage an einneues europäisches Sicherheitssystem“.Wie viele werden sich noch verraten fühlen, wenn aufdem NATO-Gipfel aus der heutigen NATO, die sich alsBündnis zur kollektiven Verteidigung ihrer Mitglied-staaten versteht, eine Militärmacht wird, die künftigMilitäreinsätze außerhalb des Bündnisgebietes planenund durchführen soll, wenn die NATO künftig weiterhinMilitäreinsätze auch dann vornimmt, wenn dafür keinkonkretes UN-Mandant vorliegt, sie sich also selbstmandatiert – die Fraktion der CDU/CSU unterstützt diesja in ihrem Entschließungsantrag ausdrücklich –, undwenn schließlich die NATO ausdrücklich an ihrer ato-maren Strategie einschließlich der Option des nuklearenErsteinsatzes – auch dies fordert die CDU/CSU – fest-hält? Vom Bundesaußenminister war bereits zu lesen,daß sein diesbezüglicher Vorstoß auf dem Gipfel nichtzur Diskussion stehen wird.Eine Fortschreibung der NATO-Strategie in dieRichtung einer neuen NATO entfernt die NATO auchvon den eigenen Grundlagen. Ich will dies seitens mei-ner Fraktion festhalten. Der geltende NATO-Vertragstellt keinen rechtlich unbegrenzten Handlungsrahmenfür beliebige politische und militärische Zwecke dar.Die NATO ist nach dem Vertrag eine Organisation zurkollektiven Selbstverteidigung ihrer Mitgliedstaaten.Nur dazu haben die Parlamente der Mitgliedstaaten beider Inkraftsetzung des NATO-Vertrages ihre Zustim-mung erteilt.Die PDS-Fraktion ist der Auffassung, daß die NATOzugunsten solcher ziviler Organisationen wie die derUNO und der OSZE abgebaut werden sollte. Im glei-chen Umfang, wie die UNO gestärkt und die OSZEendlich handlungsfähig wird, kann die NATO zurückge-nommen werden.
Um solche Optionen überhaupt aufrechterhalten zu kön-nen, fordern wir, daß es bei den bisherigen vertraglichenRegelungen bleibt, daß die NATO sich nicht globalisiertund selbst mandatiert und daß endlich auch wiederernsthaft über Abrüstung nachgedacht wird. In diesemSinne sind wir für eine gemeinsame europäische Außen-und Sicherheitspolitik. Denn es ist schädlich, wenn inder Welt nur ein starker politischer und militärischer Polvorhanden ist.
Die NATO ist, historisch gesehen – verschiedeneKolleginnen und Kollegen haben etwas zur geschichtli-chen Entwicklung gesagt –, kein Kind der Anti-Hitler-Koalition und keine Schlußfolgerung des Sieges überden Faschismus. Das ist die UNO. Die NATO ist einProdukt des kalten Krieges, und das wirkt bis heute fort.
Der kalte Krieg hat seine Spuren auch im Wertekatalog,in den Wertvorstellungen, der NATO tief eingegraben.Inwieweit die Ambitionen der NATO, europäischeGrundwerte, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüder-lichkeit – dies hat einmal der Kanzler zitiert; ich fügehinzu: Schwesterlichkeit –
– danke –, für sich in Anspruch nehmen zu können, tat-sächlich glaubwürdig sind, wenn es um Menschenrechtegeht, darf nicht nur im Hinblick auf den NATO-PartnerTürkei getrost hinterfragt werden. Zu oft haben auchNATO-Länder – in der Logik der Blockkonfrontation –brutale Diktatoren unterstützt, Vertreibung geduldet,Folter akzeptiert und demokratisch gewählte Regierun-gen gestürzt.Lassen Sie mich – nicht nur mit Blick auf das Koso-vo; aber dies gilt selbstverständlich auch dort – sagen:Keine Ideologie, keine Interessen, keine Heilsmissionenrechtfertigen Unterdrückung, Vertreibung und Terror.
Unterdrückung, Vertreibung und Terror – wo auch im-mer, ob in der Türkei oder im Kosovo – müssen auf Ab-sage und Widerstand stoßen. Dies muß eindeutig undschroff erfolgen.
Menschenrechte aber werden nicht durch Krieg ver-teidigt. Kein politisches Problem unserer Zeit wirddurch Krieg gelöst. Krieg vernichtet Menschenrechte;Krieg verroht, befördert Aggressionen. Bomben sindebensowenig wie Vertreibung in der Lage, Menschendazu zu bringen, solidarisch miteinander zu leben. JederTag Krieg, so meine Furcht, bringt uns einer politischenLösung nicht näher, sondern führt weg von ihr.
Deshalb noch einmal: Die Bombenangriffe müssensofort eingestellt und mit Hilfe der UNO Friedensge-spräche in Gang gesetzt werden. Die serbischen Armee-sicherheitskräfte und Sonderpolizeien müssen sofort zu-rückgenommen, die UCK entwaffnet und eine – auchvon der UNO – gesicherte Rückkehr der Flüchtlingemöglich gemacht werden.
Dem Kosovo ist eine weitestgehende Autonomie einzu-räumen. Mit Hilfe der OSZE und der UNO muß rascheine Balkan-Friedenskonferenz vorbereitet und umfas-sende Aufbauhilfe geleistet werden. Europa muß sichden Balkanländern öffnen, wenn wir Konflikte und Kri-sen mindern wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir imZusammenhang mit den historischen Rückblicken nochein Wort zu einem aktuellen Problem: Der Bundesver-teidigungsminister hat – nicht heute, sondern in voran-gegangenen Reden und mit ihm ein Teil der Presse – dasDrama der Kosovo-Albaner mit dem der Juden im Drit-Wolfgang Gehrcke
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ten Reich verglichen. In diesem Zusammenhang ist vonKZs, von Selektion und Zwangsarbeit die Rede. DasBild provoziert geradezu den Vergleich zwischenAuschwitz und Kosovo. Dieser Vergleich ist unange-messen und falsch.Lassen Sie mich an dieser Stelle den Fernsehjournali-sten Gerd Ruge aus einem Interview mit dem „Tages-spiegel“ zitieren, der davor warnt:Die Gleichsetzung Holocaust und Kosovo kannschließlich dazu führen, daß man fast alles machendarf.Im Kosovo werden die Albaner verfolgt und vertrie-ben. Diese Tatsache allein ist schlimm genug; sie isteine europäische Tragödie. Der Kosovo ist aber nicht dieRampe von Auschwitz, auf der die Verfolgten Europasselektiert und ins KZ getrieben wurden.Auschwitz steht für den industriellen Massenmord anden europäischen Juden und an allen, die die Nazis alsUntermenschen bezeichneten, ein Massenmord, den diedamalige Regierung, die SS und die deutsche Industrie– dafür steht im Zusammenhang mit Auschwitz nament-lich die IG Farben – in Absprache und gemeinsam vor-nahmen.Der Vergleich zwischen dem Kosovo und Auschwitzrelativiert die Einmaligkeit dieses Menschheitsverbre-chens, mehr noch: Der Vergleich nährt die Vorstellung,die Geschichte wiederhole sich; nur diesmal stehtDeutschland auf der richtigen Seite, und die anderensind die Hitlers.So verwandelt sich der jetzige Krieg gegen Jugosla-wien unter der Hand zur Sühne für Auschwitz. DieserKrieg wird zur deutschen Wiedergutmachung für denindustriellen Massenmord am europäischen Judentum,an Sinti, Roma und Slawen.
Kollege Gehrcke,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich den Satz zu
Ende bringen? Dann gerne, Herr Kollege Meckel. – Mit
diesem Krieg würde endlich der Begriff „Deutschland
denken heißt Auschwitz denken“ aufgelöst, und danach
stünde Deutschland sauber da. Diese Umbewertung der
deutschen Geschichte wäre in der Tat eine geistig-
moralische Wende, viel tiefer als die, die Altkanzler
Kohl angestrebt und vorangebracht hat.
Bitte sehr, Herr Kollege Meckel.
Herr Kollege Gehrcke, kön-
nen Sie mir zustimmen, daß es vielleicht doch sehr pro-
blematisch ist, solche Reflexionen historischer Verglei-
che in einer Situation anzustellen, in der die Opfer im
Kosovo unter fürchterlichsten Bedingungen leben, ver-
trieben und umgebracht werden? Ich halte es in dieser
Debatte für zynisch, sich im Angesicht dieser Opfer eine
Reflexion darüber zu leisten, ob es so schlimm sei wie in
Auschwitz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Meckel,
das war nicht meine Reflexion. Ich habe gerade davor
gewarnt, solche historischen Vergleiche anzustellen,
die nicht von mir und meiner Fraktion, sondern von den
Kollegen Ihrer Fraktion gemacht wurden.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zum
Schluß noch eine sehr persönliche Bemerkung auch für
die Kollegen meiner Fraktion machen: Viele in diesem
Hause haben ihre Zerrissenheit in dem schwierigen Ab-
wägungsprozeß deutlich gemacht. Ich kenne die Pro-
zentzahlen, die viele Kollegen von der SPD und den
Grünen genannt haben: 49 Prozent hier, 51 Prozent dort.
Ich nehme für mich persönlich und für die Kollegin-
nen und Kollegen meiner Fraktion in Anspruch, daß wir
uns den Abwägungsprozeß nicht leichter gemacht haben
als andere Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause.
Wir träumen immer noch den großen Traum des Dr.
Martin Luther King von einer Welt, in der man solida-
risch leben kann.
Es war unser Gewissen und nichts anderes, was uns
nein zu diesem Krieg und nein zu dieser NATO-
Konzeption sagen ließ.
Herzlichen Dank.
Ich gebe das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Michael Glos.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren ParlamentarischeStaatssekretärinnen und Staatssekretäre! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich kann gut verstehen, daß dieRegierung den Saal verläßt, wenn die PDS spricht. Ichmuß aber daran erinnern, daß es eine Rede des Partnersin Mecklenburg-Vorpommern, eine Rede des Wunsch-partners in Thüringen und eine Rede des Tolerierungs-partners aus Sachsen-Anhalt war.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu Beginndieser Woche hat der Deutsche Bundestag erstmals imReichtstag in Berlin getagt. Es war ein Tag der Freude.Gemeinsam haben wir den Fall der Mauer und dieglücklich wiedererlangte Vereinigung unseres Vaterlan-des gewürdigt. Die Einheit Deutschlands in Freiheitwurde erst durch die NATO ermöglicht; daran müssenwir an diesem Tag denken. Deswegen sind 50 JahreNATO fünf gute Jahrzehnte für Deutschland.
Wolfgang Gehrcke
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Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, steht anerster Stelle nicht eine Schmähung der NATO, sondernein aufrichtiger und tiefempfundener Dank an unserePartner und Freunde: Danke, daß ihr auch in schwierigerZeit verläßlich an der Seite der BundesrepublikDeutschland gestanden seid und die Bündnisverpflich-tungen in keiner Krise in Frage gestellt habt.
Wir sagen auch den Soldaten des Bündnisses danke,die auf deutschem Boden stationiert und bereit waren,notfalls mit ihrem Leben für unsere Freiheit einzustehen.Danke sagen wir vor allen Dingen auch den amerikani-schen Soldaten, die weitab von ihrer Heimat – teilweiseohne ihre Familie – lange Zeit in unserem Land geblie-ben sind. Sie sind heute eine wichtige transatlantischeBrücke. Der Umzug in das ferne Deutschland hat für siesehr oft Opfer bedeutet.Ich weiß aus persönlicher Anschauung aus meinemWahlkreis, wo immer große amerikanische Garniso-nen waren und heute noch sind, daß die amerikanischenSoldaten geschätzte Mitbürger und Mitbürgerinnen wa-ren und sind. Ich denke in dieser Stunde vor allen Din-gen an die drei gekidnappten amerikanischen Soldaten,die normalerweise in Schweinfurt in meinem Wahlkreisstationiert sind, die jetzt aber in serbischer Gefangen-schaft sind und deren Bilder wir im Fernsehen vorge-führt bekommen haben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, nur unterdem Schutzschild NATO war der Wiederaufstieg unse-res Landes in Frieden und in Freiheit zum wirtschaftli-chen und sozialen Wohlstand denkbar. Ich glaube, auchdaran sollten wir denken.Ich erinnere mich sehr genau, daß die erste Demon-stration meines Lebens, an der ich teilgenommen habe,nicht gegen die NATO, sondern für die Amerikaner war,die damals sehr viele Truppen aus Kitzingen nach Ku-weit verlegt haben. Wir haben spontan eine Demonstra-tion für diejenigen organisiert, die dort Freiheit undMenschenwürde verteidigt haben. Der damalige SPD-Oberbürgermeister Kitzingens hat sich geweigert mit-zutun. Das möchte ich erwähnen; wenn wir schon beider Geschichte sind, müssen wir auch mit geschichtli-chen Wahrheiten operieren.Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsereMitgliedschaft bei der NATO war ein Meilenstein fürunsere Souveränität nach der Katastrophe des zweitenWeltkrieges. Wir feiern den 50. Jahrestag der NATO ineiner schwierigen Zeit. Wir müssen uns daran erinnern,daß Bündnisse keine Schönwetterveranstaltungen sind.Unsere Bündnispartner haben die Bündnisverpflich-tungen in der Zeit des kalten Krieges eingehalten. Des-wegen muß auch das geeinte Deutschland zu seinenBündnisverpflichtungen stehen. Wir haben inzwischenals ganz normales Land gleichberechtigt und gleichge-wichtig Verantwortung für das Bündnis übernommen.Das ist heute im Deutschen Bundestag – Gott sei Dank –Konsens zwischen allen demokratischen Parteien.Wir müssen auch daran erinnern, daß wir beim Ein-satz unserer Soldaten im Kosovo Bündnisverpflichtun-gen übernommen haben. Es ist gut, daß alle demokrati-schen Parteien – die PDS lasse ich aus gutem Grundweg –
hinter unseren Soldaten stehen. Ob dies allerdings nochbei allen Fußtruppen der Regierungsparteien so ist, dasweiß ich nicht.
Zu Äußerungen zum Beispiel aus Amerika heißt es,das seien Übersetzungsfehler. Aber auch, wenn ich mirÄußerungen von Parlamentarischen Staatssekretärenund Staatssekretärinnen anhöre, muß ich sagen – ohnedas überbewerten zu wollen –, daß die Unterstützungunserer Soldaten inzwischen leider stark in Zweifel ge-zogen worden ist.
Es ist schon vom Kollegen Gerhardt angesprochenworden: Unsere Soldaten haben Anspruch darauf, daßsie nicht in einer rechtlichen Grauzone operieren. Es gibtderzeit – jeder kann es nachverfolgen – sehr viele Dis-kussionen darüber, in welcher Form wir uns in Albanienmit unseren Soldaten stärker beteiligen sollen und, wieich meine, auch müssen, insbesondere zur Abwendunghumanitärer Katastrophen.Ich habe mich gewundert, daß wir heute im Deut-schen Bundestag keinen Antrag auf den Tisch bekom-men haben, der die Dinge eindeutig und genau regelt.Der wäre von uns unterstützt worden. Da frage ich michschon, ob nicht auch deswegen auf den Antrag verzich-tet worden ist – man kann das gerne anschließend rich-tigstellen –, weil man sich der Gefolgschaft der eigenenFußtruppen nicht mehr sicher gewesen ist.
Die Bündnisverpflichtung Deutschlands ist ein hohesGut. Sie ist das Fundament deutscher Außenpolitik. Ichfreue mich, daß wir einen zumindest verbal lernfähigenAußenminister haben. Deutsche Sonderwege darf esnach der Lehre der Geschichte nicht mehr geben. Dassehen Gott sei Dank auch die Bürgerinnen und Bürgerunseres Landes so. Auf die Frage, ob Deutschland wei-terhin der NATO angehören soll, antworteten jüngst82 Prozent uneingeschränkt mit Ja. Das halte ich für er-freulich. Vor allem die Jugend sagt ja zur NATO. DieZustimmung der 18- bis 24jährigen – gerade die jungenMänner dieses Alters müßten notfalls dafür einstehen –liegt bei 90 Prozent. Auch das ist, so glaube ich, einGrund zur Freude. Das läßt hoffen, daß wir alsDeutschland im nächsten Jahrhundert einen besserenWeg gehen, als das in diesem Jahrhundert der Fall war,daß wir auf der richtigen Seite mit dabei sind.
Für uns von der CSU war die NATO zu allen Zeitendie Überlebensversicherung für Frieden und Freiheit.Zentrale Fragen waren im Bundestag oft umstritten; ichMichael Glos
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will das hier nicht noch einmal alles aufzählen. Aber esgehört nun einmal zur geschichtlichen Wahrheit, HerrBundeskanzler, daß Ihre Partei gegen die Westintegra-tion und gegen die Wiederbewaffnung unseres Landesgewesen ist. Die heutigen Regierungsparteien haben ve-hement den historischen NATO-Doppelbeschluß be-kämpft und in Kauf genommen, daß ihr eigener Bundes-kanzler gehen mußte.
– War es anders?
Dann können Sie es anschließend vielleicht erklären.Ich freue mich jedenfalls darüber, daß sich dieseÜberzeugungen geändert haben. Zumindest den führen-den Politikerinnen und Politikern traue ich dies zu. Ichtraue denen, die vorne sitzen, auch zu, daß sie die Angst,die sie vor den eigenen Reihen haben, ein Stück über-winden. Gerade deswegen hätte ich mir gewünscht, daßwir hier im Deutschen Bundestag über das vorhin Ange-sprochene abstimmen. Ich könnte jetzt noch einmal dieMittel und Methoden aufzählen, mit denen die NATOfrüher bekämpft worden ist. Das führt uns letztendlichnicht weiter. Wir als Christen wissen: Im Himmel istmehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, als über99 Gerechte.
– Wenn Sie es so sehen, dann verzichte ich darauf, vor-zulesen – ich habe die „Frankfurter Allgemeine“ vom5. März 1990 dabei –, was Lafontaine dazu gesagt hat.
Lassen wir es weg, daß Sie, Herr Schröder, ihm damalsbeigepflichtet haben. Letztendlich geht es immer um dieZukunft. Wir müssen die Zukunft aus der Erfahrung derVergangenheit heraus bewältigen.Ich möchte an dieser Stelle zweifach gratulieren: Ichgratuliere Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl zur Aus-zeichnung in den Vereinigten Staaten zum „Mann desJahrzehntes“.
Ich gratuliere dazu, daß er der einzige Amerikaner ist,der die Freiheitsmedaille – –
– Es ist gut, daß wir wachsame Parlamentarierinnen undParlamentarier haben: Er ist der einzige Nichtamerika-ner – wenn ich das „Nicht“ verschluckt habe, verzeihenSie es mir bitte –, der die Freiheitsmedaille erhaltenhat. Ich finde, das ist gleichzeitig eine Auszeichnung fürDeutschland, daß wir zu unseren Zeiten – ich hoffe, dasbleibt so – immer ein kalkulierbarer Partner gewesensind.
Ich gratuliere auch Theo Waigel, der heute seinen60. Geburtstag feiert. Er gehört zu den Staatsmännern,die es ermöglicht haben, daß Helmut Kohl diese Politikhat gestalten können. Er stand an seiner Seite, war imKaukasus dabei und hat entscheidende Weichenstellun-gen unseres Landes, vor allen Dingen die festere Inte-gration in Europa durch die Einführung des Euro, gelei-stet. Ich bedanke mich selbstverständlich auch bei HerrnKinkel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zurück zu diesemelenden Krieg, dessen Zeugen wir ständig sind. DasBündnis steht heute in der Bewährungsprobe, auch alsWertegemeinschaft. Milosevic führt Krieg gegen daseigene Volk, und Milosevic darf diesen Krieg nicht ge-winnen. Die Bilder der letzten Wochen führen uns vorAugen, wie grausam das Verbrechen der Vertreibungist.
Bei vielen Vertriebenen in unserem Land werden wiederErinnerungen an die Schrecken, die man selbst durchlebthat, wach. Deutschland steht hier ohne Zweifel an derSeite der Bündnispartner, und die CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion hat die Bundesregierung in dieser Frageunterstützt. Unser gemeinsames Ziel muß es natürlichsein, eine weitere Eskalation dieses Krieges mit ganzerKraft zu vermeiden.Es gehört zu den bitteren Realitäten dieser Welt, daßsich Gewalt oft nur mit Gegengewalt stoppen läßt. Al-lerdings sind nicht alle Krisen immer nur gewaltsam zubewältigen. Deswegen sollten wir auch nach friedlichenLösungen suchen und um friedliche Lösungen ringen.Aber das muß dann in der Weise geschehen, daß dieVorschläge dort vertreten werden, wo sie vertreten wer-den können. Ich wünsche dem Außenminister mehr Er-folg, als er bis jetzt gehabt hat. Es hat keinen Sinn, Vor-schläge zu verkünden, von denen man den Eindruck hat,sie würden manchmal nur „just for show“ für die Presseoder aber auch zur Beruhigung der eigenen Partei ge-macht.
Ich glaube, wir sollten an dieser Stelle auch einmaldaran denken, daß sich viele Menschen bei uns im LandSorgen machen – auch auf Grund der geschichtlichenDimensionen, die gerade auf dem Balkan immer mit-spielen. Deswegen finde ich es gut, wenn das Verhältniszu Rußland wieder gepflegt wird, wenn man sich nichtchauvinistisch benimmt, wenn man dort vor Ort ist, undwenn man nicht mehr sagt: Schluß mit dem Scheckbuch;Michael Glos
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wir wollen nicht mehr einfach nur zahlen wie Kohl. –Was weiß ich, wie die Sprüche alle gelautet haben.Ich begrüße es, daß Stoiber dort war und mit den rus-sischen Partnern gesprochen hat. Es ist sicher auch gut,wenn Herr Tschernomyrdin sich jetzt auch bemüht, die-ses slawische Brudervolk – es handelt sich nicht um dieMenschen dort; es handelt sich in erster Linie um HerrnMilosevic – davon zu überzeugen, daß es so, wie es jetztläuft, nicht weitergehen kann.Die Situation, in der wir jetzt sind, ist natürlich aucheine Nagelprobe für die Regierungsfähigkeit nicht nurder Sozialdemokraten. Sie, Herr Bundeskanzler, sind jain dieser Beziehung – um ein Wort zu gebrauchen, dasderzeit umgeht – ein „Scheinselbständiger“, und zwarnicht im sozialversicherungsrechtlichen Sinne.
Vielmehr meine ich damit, daß Sie nur so weit gehenkönnen, wie Frau Radcke, Frau Röstel, Frau Altmann,Herr Trittin – wie sie alle heißen – Sie letztendlich ge-hen lassen. Ich kann Ihnen nur wünschen, daß Sie IhreHandlungsfähigkeit dort wiedergewinnen. Wir könnenIhnen nicht alle Probleme abnehmen und für Sie nichtalle Probleme lösen. Gerade unsere Soldaten haben An-spruch darauf, daß das ganze deutsche Parlament – las-sen wir einmal die Kommunisten weg – hinter ihnensteht, insbesondere auch die Kolleginnen und Kollegenaus den Regierungsparteien.
Ich möchte zum Schluß noch eine Bitte äußern, HerrBundeskanzler. Wir sollten unsere Soldaten gerade indieser Zeit nachhaltig vor Verunglimpfungen schützen.Die politische Konjunktur – Volker Rühe hat ja vorhinein Beispiel dafür gebracht – kann ja wieder einmal um-schlagen. Deswegen sollten wir das, was die CDU/CSUund die F.D.P. im letzten Bundestag eingebracht haben– das ist leider nicht zu Ende beraten worden; es ist derDiskontinuität zum Opfer gefallen –, nämlich Bestim-mungen für den Ehrschutz der Soldaten, gemeinsam wie-der einbringen. Das ist schon im Ausschuß beraten wor-den. Das kann man schnell und direkt beschließen, undman hat mehr Frieden mit der Gesellschaft als durch einesolch komplizierte Geschichte wie die, ein neues Staats-bürgerschaftsrecht im Hauruckverfahren zu machen.
Wir Europäer müssen – das ist heute schon gesagtworden; insbesondere auch vom Kollegen Rühe undvom Kollegen Gerhardt; es hat keinen Widerspruch ge-geben; die Regierung ist der gleichen Meinung – sicherin Zukunft eine größere, eine stärkere Rolle in derNATO übernehmen. Wir sind dazu bereit. Wir sind zuallen Zeiten dazu bereit gewesen und werden auch inZukunft bereit sein, die Grundsätze, die der NATO zu-grunde liegen und die die Demokratien Europas alsStabilitätsinstrumente einsetzen, zu schützen und zuverteidigen. Und wenn wir Bündnispartner in der NATObleiben, haben wir eine gute Perspektive für das nächsteJahrtausend. Nützen wir sie!
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Gernot Erler.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Runde Geburtstage – das zeigtdiese Debatte – verleiten zu Rückblicken. Manch einenverleiten sie auch zu einem nochmaligen Schlagen ver-gangener Schlachten, wie man an den Beiträgen derKollegen Rühe bis Glos in bezug auf Wiederbewaffnungund NATO-Doppelbeschluß sehen konnte.
Ich möchte hier einen Aspekt ansprechen, Herr Glos, deruns vielleicht auch in der Erinnerung etwas näher zu-sammenbringt.
In Deutschland muß ja der Blick auf die besondere Be-deutung der NATO-Mitgliedschaft für den deutschenWeg in die westliche Staatengemeinschaft fallen.Elf Jahre nach dem Krieg holte der Eintritt in dieNATO die Bundesrepublik von der Strafbank weg,machte sie vom Angeklagten zum Partner. Aber da hatteder Kalte Krieg schon begonnen. Die DDR wurde Part-ner des anderen Bündnisses, das wir „WarschauerPakt“ nannten. Und für 33 Jahre lief die waffenstarren-de Systemgrenze mitten durch Deutschland. Mauer undStacheldraht wurden zum Synonym des deutschenSchicksals in der Nachkriegszeit, für viele einzelneMenschen wurden sie zum Verhängnis.Ich behaupte: Für kein anderes NATO-Land hatte dieBündnismitgliedschaft eine solche prägende Bedeutungwie für Deutschland. Man kann sagen: Unsere Integrati-on in die westliche Allianz war für die ganze deutscheNachkriegsgeschichte konstitutiv und existentiell: kon-stitutiv im Sinne unserer Rückkehr in eine westliche In-teressen- und Wertegemeinschaft nach den Verbrechender Nazi-Zeit und der Ausgrenzung als Folge davon,existentiell als einzige Quelle von Sicherheit in unsererPosition als Frontstaat an der Grenze zweier antagonisti-scher Systeme.Weil wir über die NATO Reintegration gewonnenhaben, besteht bei uns ein besonderes Verständnis fürdie Transformationsstaaten in Ost- und in Südosteuropa,die heute ihren Wunsch und ihr Drängen nach Mitglied-schaft in der Allianz als Chance zur Integration in Euro-pa verstehen. Unsere eigene geschichtliche Erfahrungauf beiden Seiten der heute verschwundenen System-grenze macht uns sensibel, gibt uns eine besondere Ver-antwortung, wenn es um den Erweiterungsprozeß derNATO geht.Als das Bündnis im Juli 1997 hierzu Entscheidungenzu treffen hatte, wurde die SPD-Bundestagsfraktion die-ser Verantwortung gerecht, indem sie eine Entschlie-ßung vorlegte, die drei Stichworte hervorhob: Vermei-Michael Glos
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dung neuer Grenzen in Europa, Partnerschaft mit Ruß-land und Fortsetzung des Abrüstungsprozesses. DiesePositionsbestimmung hat bis heute nichts an Aktualitätverloren.
Bei dem Erweiterungsprozeß des Bündnisses, derjetzt mit der Aufnahme von drei neuen Mitgliedern be-gonnen hat, bleibt die Vermeidung neuer Grenzlinienquer durch Europa die vordringlichste Aufgabe. Wirunterstützen insofern das Konzept, das wir im Gipfel-Dokument von Washington erwarten, nachdem die Alli-anz für die neuen Mitglieder offenbleibt, aber sich jetztnicht bereits auf eine zweite oder dritte Runde festlegt.Diese Behutsamkeit ist klug. Sie vermeidet Rückstel-lungseffekte und Ausgrenzungsgefühle. Wir gewinnendamit Zeit. Diese müssen wir aktiv nutzen, um ein Ge-samtkonzept für Sicherheit und Stabilität in Europazu entwickeln, in das der Erweiterungsprozeß der Alli-anz eingebaut ist, und Strategien, wie an den Außen-grenzen des Bündnisses als Integrationsraum trennendeGrenzen zu vermeiden sind.Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Zwischen Polenund der Ukraine läuft heute die Grenze zwischen NATOund Nicht-NATO. Morgen wird dort die Grenze zwi-schen EU und Nicht-EU laufen, und damit werden inPolen die Regeln des Schengener Abkommens gelten.Die Grenze zwischen Polen und der Ukraine ist heuteaber auch eine Brücke für den Austausch von Menschenund Waren, von grenzüberschreitenden Arbeitsverhält-nissen, aber auch von politischen Ideen und von Kultu-ren. Diese Grenze – und es gibt viele ähnliche Grenzenin Osteuropa und in Südosteuropa – darf nicht herme-tisch werden. Die Brückenfunktion muß erhalten blei-ben.
Die Behutsamkeit des Erweiterungsprozesses gibt unsund den zahlreichen neuen Kandidaten auch die Chance,von jetzt zu sammelnden Erfahrungen zu profitieren.Vor wenigen Wochen haben wir Polen, Tschechienund Ungarn in das Bündnis aufgenommen. Wir hättenuns gewünscht, daß unsere neuen Partner nicht als erstesin die bisher schwerste Bewährungsprobe des Bündnis-ses geraten, die sich mit dem Namen Kosovo verbindet.Ich möchte hier unsere Anerkennung und unseren Dankdafür zum Ausdruck bringen, wie die drei neuen Partnerdiese Bewährungsprobe im Moment bestehen.
Namentlich möchte ich Ungarn erwähnen, das einzi-ge NATO-Land mit einer direkten Grenze zur Bundes-republik Jugoslawien, ein Land, das sich Sorgen machenmuß um 350 000 Landsleute jenseits der Grenze, in derVojvodina, wo heute Bomben einschlagen. Wieviel nä-her, wieviel existentieller ist der furchtbare Konflikt indiesem Donauland, dieser Konflikt, der doch schon beiuns zahlreiche Risse in der öffentlichen Meinung, in denParteien, ja, in den einzelnen Menschen selbst erzeugt!Wir haben eine Bringschuld an Solidarität gerade ge-genüber diesem Land, das eine so positive Rolle – diesist heute vom Bundeskanzler noch einmal gewürdigtworden – bei dem deutschen Einigungsprozeß gespielthat, nun unversehens Nachbar eines schrecklichen Ge-schehens wird und die Verantwortung doch voll trägt.Ich möchte diese Solidarität – ich hoffe, im Namen desganzen Hauses – hier im Deutschen Bundestag zumAusdruck bringen.
Bezüglich des Kosovo-Konflikts haben wir unserenRespekt noch für einen anderen Nachbarn im Osten aus-zudrücken – das ist auch in der Debatte in der letztenWoche geschehen –, nämlich für die Russische Födera-tion. Wir wissen, Moskau lehnt die Luftangriffe aufSerbien ab, verhält sich jedoch besonnen und machtpolitische Vermittlungsversuche, auf die sich vieleHoffnungen gründen. Das ist nicht selbstverständlich;denn wir kennen Rußlands Probleme hinsichtlich derOsterweiterung der NATO.Zu den guten Erfahrungen, die wir in diesen Tagenmachen, zählen wir den Erfolg der NATO-Rußland-Grundakte vom 27. Mai 1997 und ihre Umsetzung.Gerhard Schröder hat es schon gesagt: Der ständigeNATO-Rußland-Rat hat sich bewährt. Ich erinnere andie letzte Irak-Krise. In einer Zeit, wo Moskau die Bot-schafter aus Washington und London abzog, ist die All-tagsarbeit in dem ständigen NATO-Rußland-Rat fortge-setzt worden. Das ist ein guter Weg. Ich möchte das indiesem Satz zusammenfassen: Zur Zukunft der NATOgehört unverzichtbar die Partnerschaft mit Rußland undderen weiterer Ausbau.
Das erwarten wir auch von den Dokumenten des bevor-stehenden NATO-Gipfels.Meine Kolleginnen und Kollegen, in der Grundaktewurden auch Zusagen zur Abrüstung gemacht, nament-lich zur konventionellen Abrüstung, zur Anpassungdes KSE-Vertrages. Das war ein schwieriger Prozeß.Ich bin sehr froh, daß es gelungen ist, daß trotz dieserSchwierigkeiten noch rechtzeitig vor dem NATO-Gipfelein Kompromiß zustande kam, ein Erfolg der KSE.
Das war möglich auf der Basis von konstruktiven deut-schen Beiträgen.Ich möchte hier einen Namen nennen. In diesen Ta-gen verabschiedet sich der langjährige deutsche Chef-abrüster, Botschafter Dr. Rüdiger Hartmann, aus seinempolitischen Leben im Dienste der Bundesrepublik. SeinName ist eng mit diesem Erfolg verbunden. Ich möchteihm von dieser Stelle aus herzlich für seine Arbeit dan-ken.
Gernot Erler
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Der Abrüstungsprozeß muß auf anderen Gebietenweitergehen. Es ist trotz mehrerer großer Abrüstungs-verträge noch nicht überall der Weg begonnen worden,sie auch umzusetzen. Es gibt noch immer viel zu vieleAtomwaffen auf diesem Planeten. Es ist noch nicht ge-lungen, ihre weitere Verbreitung mit allen damit ver-bundenen Gefahren aufzuhalten.Ob Nonproliferation, wie es genannt wird, eineChance bekommt, hängt auch davon ab, wie überzeu-gend die offiziellen Atomstaaten ihren Abrüstungsver-pflichtungen nachkommen und welche Rolle das west-liche Bündnis den Atomwaffen zumißt. Hier ist dieNATO-Strategie gefragt.Es gibt bei uns eine Sorge: Wenn wir sagen, wirbrauchen Atomwaffen auch, um Angriffe mit nicht-atomaren Waffen abzuwehren, dann stellt sich die Frage,wie wir anderen Ländern erklären und sie davon über-zeugen können, daß sie keine Atomwaffen brauchen.Hier gibt es ein Überzeugungsproblem im Hinblick aufdas Ziel der Nichtverbreitung. Dieses Problem müssenwir lösen. Deshalb haben wir Bedarf an Diskussionenüber die künftige Strategie der Allianz angemeldet.Es ist erfreulich, daß zu diesem Thema jetzt sehr vor-sichtige Formulierungen in das Strategiepapier der Alli-anz aufgenommen wurden. Es ist noch erfreulicher, daßin dem Gipfeldokument – wir begrüßen das – ein Auf-trag zur Prüfung genau des Aspekts, der in der Öffent-lichkeit „first use“ genannt wird, enthalten sein wird.Das ist wichtig; denn wenn die Strategie der Nichtver-breitung scheitert, dann werden wir vor neuenRüstungswettläufen stehen. Diese wollen wir alle nicht.
Zusammenfassend möchte ich hier erklären: Wir sinduns der Bedeutung der NATO für den politischen WegDeutschlands nach dem Krieg und für seine europäischeReintegration bewußt. Wir sind aus inhaltlicher Über-zeugung verläßliche Partner im Bündnis. Wir sehen einegute Zukunft für das westliche Bündnis, einschließlicheiner breiten öffentlichen Akzeptanz, wenn es gelingt,die von mir genannten drei Rahmenbedingungen undBegleitstrategien zu stärken. Ich fasse sie zusammen:Sie heißen Einbindung in ein europäisches Gesamtkon-zept von Sicherheit und Stabilität, mit dem neue Grenz-linien quer durch Europa vermieden werden und mitdem unsere Fähigkeit zur präventiven Friedenspolitikund zur Konfliktprävention verstärkt wird.Der zweite Aspekt betrifft den Ausbau der Partner-schaft mit der Russischen Föderation und auch mit derUkraine.Der dritte Aspekt betrifft schließlich die Fortsetzungder Abrüstungspolitik mit neuen Anstrengungen undInitiativen, mit dem Ziel der Nichtverbreitung vonAtomwaffen im Zentrum.Wir freuen uns, daß diese Elemente in den Formulie-rungen der neuen NATO-Strategie und in anderen Gip-feldokumenten in angemessener Weise zum Ausdruckkommen werden. Das wissen wir heute schon. Das istein Erfolg von stiller, aber engagierter Diplomatie zurVorbereitung des Gipfels. Auch hier gab es zahlreicheengagierte deutsche Beiträge. Auch für diese Arbeit ha-ben wir hier zu danken.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Helmut Lippelt, Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Die Anträge, über die wir heute eigentlich diskutie-ren wollen, sind Wochen vor dem 24. März 1999 verfaßtworden. Aus dem ursprünglich beabsichtigten Jubi-läumsgipfel ist jetzt ein Arbeitstreffen geworden. Sätzewie die von „der NATO als dem erfolgreichsten Sicher-heits- und Verteidigungsbündnis der Geschichte“ blei-ben uns heute leicht im Munde stecken. Denn wir wis-sen, daß sich die NATO in ihrer tiefsten Krise befindet,wenn ich auch nicht so weit wie der Kollege Gehrckegehen möchte, der jetzt schon den Anfang ihres Endeseingeleitet sieht.Die NATO befindet sich in dieser Krise, weil sichzwischen ihren Mitteln und Möglichkeiten einerseitsund den politischen Zielen andererseits eine wachsendeInkongruenz entwickelt hat, wie es der ehemalige EU-Bosnien-Beauftragte Carl Bildt formulierte: daß ihrehochentwickelte Technologie der Präzisionsbomben und-raketen eben nicht die mordende und brandschatzendeSoldateska treffen konnte, ja nicht treffen kann und siein ihrem Geschäft sogar noch vorantreibt.Die NATO befindet sich in einer Krise, weil sich dieSelbstdefinition der NATO als einer Wertegemeinschaftimmer schwieriger in geeignete Mittel übersetzen läßtund weil sich die Abwehr des Völkermords im Koso-vo, von deren Notwendigkeit wir doch alle überzeugtsind, eben nicht in der Form des 3. September 1939vollzieht, als England und Frankreich dem expansivenRassenwahn eines deutschen Diktators ein entschiedenesHalt entgegenriefen und vom Appeasement zum Kriegübergingen.Heute übertragen wir der NATO 14 Flugzeuge unddelegieren die Kriegführung an einen Apparat NATO.Eine solche Delegation führt dann zu der perversenTrennung von Krieg und Geschäft, wie wir sie in derFrage der Erdöllieferungen gerade erlebt haben. AllenVorstellungen von Alternativen zur Kriegführung wirdhohngesprochen; die Glaubwürdigkeit der NATO stehtauch an diesem Punkte ganz entschieden in Frage.
Es entspricht – das ist absolut richtig – unserem Ver-fassungsverständnis von parlamentarischer Kontrolleund Verantwortung, daß wir Auftrag und Mandat genaudefinieren und limitieren. Dennoch müssen wir zurKenntnis nehmen, daß unser Einfluß auf die Art undWeise der Kriegführung begrenzt und in Relation zuden der NATO übertragenen Mitteln, nämlich den14 Flugzeugen, zu sehen ist. Unserer historischen Erfah-Gernot Erler
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rung, die wir eigentlich einzubringen hätten und die be-sagt, daß ein Bombenkrieg auch kontraproduktiv seinkann und den Graben zwischen Diktator und Volk nichtaufreißt, sondern überbrückt, können wir nicht in dernotwendigen Weise Geltung verschaffen. Wir sind derEskalation der Kriegführung ausgeliefert. Vorstellungen– ich trage sie hier als meine ganz persönliche Meinungvor – von einer Kombination von Festigkeit in den Zie-len, verbunden mit einer Konzentration der Kriegfüh-rung im Kosovo, die alles tut, um die Flüchtlinge dort zuretten, und einer Deeskalation der Kriegführung gegen-über dem übrigen Serbien, die sich als oberstes Ziel set-zen würde, die Loyalität zum Diktator aufzubrechen,haben wenig Chancen.Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen zur Krieg-führung der NATO nun noch einige Bemerkungen zuden inhaltlichen Fragen, die in Washington zur Verab-schiedung anstehen:Erstens. Klar dürfte doch wohl sein, daß die Vorstel-lungen, die um den Begriff einer neuen NATO als derOrganisation des Krisenmanagements schlechthin krei-sen, hinfällig geworden sind. Die NATO sollte bleiben,was sie in ihrer Kernfunktion ist: ein atlantisch-europäisches Sicherheits- und Stabilitätsbündnis.Wer in diesen Wochen Gelegenheit zu Gesprächen mitPolitikern außerhalb dieses Raums hatte, der weiß, daßdas Mißtrauen gegenüber der NATO als einem Herr-schaftsinstrument der hochindustrialisierten Länder desWestens gewachsen ist – trotz aller Verständigungs-möglichkeiten in bezug auf den Kosovo-Konflikt.Zweitens. Der Verzicht auf die UN-Mandatierungbei der NATO-Intervention muß eine absolute Ausnah-me bleiben. Er bedarf der Heilung, und zwar von beidenSeiten: auch von seiten des UN-Sicherheitsrats, in demdie Ausübung eines Vetos stärker an die Prinzipien derinternationalen Gemeinschaft zu binden und von dennationalen Interessen eines einzelnen Sicherheitsrats-mitglieds zu lösen ist. Die Bundesregierung ist mit derverstärkten Einbeziehung Rußlands und des UN-Generalsekretärs in diese Richtung vorangegangen. Wirunterstützen sie darin und ermutigen sie, in diesem Sin-ne fortzufahren.Drittens. Die sich wandelnde NATO – ich sage dasim Gegensatz zu dem vorhin über die sogenannte neueNATO Gesagten –, die NATO der Kooperation in ihrenvielfältigen Formen von NATO-Rußland-Rat, NATO-Ukraine-Charta und Partnership for Peace, ist in jederWeise auf diesem Wege zu bestärken. Das bedeutet: DieÖffnung der NATO muß in steter Wechselwirkung mitder Vertiefung der Einbindung Rußlands stehen. DieRisiken der gegenwärtigen Situation haben eben auchdamit zu tun, daß die NATO, die im Kosovo zugunstender Menschenrechte interveniert, in den Augen der rus-sischen Elite eben die NATO der Osterweiterung ist.Diese Wunden sind noch lange nicht verheilt. Um sohöher ist es der Bundesregierung als Verdienst anzu-rechnen, daß sie sich in Kontinuität zur Politik des frü-heren Bundeskanzlers um die vertiefte EinbindungRußlands bemüht.Viertens. Die NATO muß wieder verstärkt die NATOder Abrüstung, auch der nuklearen Abrüstung und desKSE-Prozesses werden. Auch wenn die Diskussion zu„first use“ auf dem Washingtoner Gipfel wohl keineRolle spielen wird, so erwarten wir uns doch den Ar-beitsauftrag für ihre anschließende Fortsetzung.Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, beiall dem soll nicht vergessen werden, daß dies der ersteGipfel der 19 mit voller Partizipation unserer direktenöstlichen Nachbarn ist. Auch und gerade zu der Kosovo-Problematik haben sie viel zu sagen. Dies soll und mußein Signal auch für die Völker des ehemaligen Jugosla-wien sein – nicht im Sinne einer Zukunft in der NATO,wohl aber im Sinne einer Zukunft in Europa, die aucheinem demokratischen Kosovo in einem demokratischenSerbien offensteht.
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Markus Meckel.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Zum 50. Jahrestag ihrer Gründung istdie NATO in aller Munde, aber nicht wegen ihrer Ver-dienste und nicht wegen dieses Jubiläums, sondern we-gen des Krieges im Kosovo, wo die NATO versucht,dem Morden und den Vertreibungen durch das Milose-vic-Regime Einhalt zu gebieten und ein Ende zu setzen.Vor knapp zehn Jahren, am Ende des Kalten Krieges,glaubten viele noch, die NATO könne sich in naher Zu-kunft auflösen und in einem System gemeinsamerSicherheit in Europa aufgehen. Auch ich hatte anfangsnoch diese Hoffnung. Heute jedoch ist deutlich: Außerder NATO mit ihren militärischen Fähigkeiten gibt esniemanden in Europa, der nach dem Scheitern allerpolitischen Bemühungen fähig wäre, Milosevic in denArm zu fallen und sein verbrecherisches Treiben zu be-enden.Hätten wir nicht die NATO, wir müßten sie erfinden.Ich glaube nicht, daß die NATO heute in einer Krisesteckt. Sie steht vielmehr vor großen und schwierigenHerausforderungen, die heute bewältigt werden müssen.Wir brauchen die NATO nicht etwa – das unterstellenihr heute noch viele – als ein Instrument zur Durchset-zung hegemonialer Interessen der reichen Länder desNordens, sondern wir brauchen sie als Stabilitätsanker inEuropa zur Verteidigung der westlichen, also der demo-kratischen Staatengemeinschaft sowie zum Schutz vorMord und Vertreibung, die wir nach Bosnien nun imKosovo wieder in schrecklichster Weise erleben müssen.Wir merken auch, wie schwer nach dem Scheitern derpolitischen Bemühungen selbst der militärische Schutzdieser Menschen ist.Durch die kollektive Verteidigungsbereitschaft derNATO und die Integrationsleistung der EuropäischenGemeinschaft konnte in der Nachkriegszeit in Westeu-ropa eine Zone der Sicherheit und des Wohlstandesgeschaffen werden. Damit konnte ein neues Kapitel inder europäischen Geschichte aufgeschlagen werden. Da-zu gehört auch – dieser Punkt ist ganz wichtig für uns –Dr. Helmut Lippelt
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die Schaffung einer stabilen Demokratie – zunächstnicht in ganz Deutschland, sondern nur im WestenDeutschlands. Nach 1990 wurde die Demokratie dannauch im Osten unter den Bedingungen möglich, die wiralle kennen.Angesichts der Bedrohung durch die kommunisti-schen Diktaturen des Ostens hat die NATO durch dieFähigkeit kollektiver Verteidigung diese Integrations-leistung erbracht, die gerade der Europäischen Union –dies ist der eigentlich zentral wichtige Punkt für dieGesellschaften – die Integration der Staaten und ihrerGesellschaften ermöglicht hat.Der Antrag der Koalition, der Ihnen, meine Damenund Herren, heute vorliegt, würdigt die Leistungen derNATO in ihrer Geschichte und beschreibt Erwartungen,wie die NATO den Herausforderungen europäischerSicherheit begegnen soll. Sie werden es vielleicht fürbemerkenswert halten, daß diese positive Würdigung derNATO und ihrer Entwicklung von einer Koalition vor-gelegt wird, deren Parteien in der Vergangenheit in be-stimmten Phasen ein durchaus kritisches Verhältnis zurNATO und ihrer Strategie hatten. Auch ich selbst – inder DDR aufgewachsen – hatte, obwohl ich nun wirklichnicht ein Parteigänger der SED und ihrer Helfershelferwar, in den 80er Jahren ein kritisches Verhältnis zurNATO. In welchen Positionen ich falsch lag oder viel-leicht auch nicht, kann an dieser Stelle nicht verhandeltwerden; das gehört ins historische Seminar.Die Würdigung der NATO, an der mir sehr liegt, sollsich heute insbesondere auf die Rolle und die Bedeutungder NATO nach dem Ende des Kalten Krieges beziehen.Die NATO war nach 1990, nach dem Wegfall der aku-ten Bedrohung durch die Sowjetunion, der Garant dafür,daß es eben keinen Rückfall und nicht den Versuch gibt,Sicherheit und Verteidigung wieder national zu organi-sieren. Denn das hätte eine hohe Instabilisierung nichtnur Ost-, sondern auch Westeuropas bedeutet.Die NATO hat sich 1990 und in den Jahren danachgründlich verändert. 1991 gab sie sich ein neues strate-gisches Konzept – damals erstmals öffentlich –, umDurchsichtigkeit und Vertrauen zu schaffen. Seitdem hatsich die Welt weiter verändert: durch den Zusammen-bruch der Sowjetunion und durch den Aufbau verbindli-cher Kooperationsstrukturen mit Rußland und mit derUkraine; davon ist heute schon ausführlich gesprochenworden. Diese Kooperationsstrukturen und dieseDimensionen der NATO, die eben nicht nur militärischhandelt, sondern ganz wesentliche politische und zivileFunktionen hat, stellen die Aufgabe der NATO dar,Sicherheit und Stabilität für den transatlantischen Raumzu schaffen und nicht – wie manche befürchten und an-dere durchaus hoffen – weltweit zu agieren.Für die Sicherheit Europas ist, wie wir alle betonen,die Kooperation mit Rußland und der Ukraine vonzentraler Bedeutung. Auch das ist heute mehrfach ange-sprochen worden. Dazu gehört – nicht in Spannung,sondern komplementär, wie ich meine – die Frage derÖffnung und der Möglichkeit für andere Staaten, derNATO beizutreten. Nach 1990 war es ja nicht die Initia-tive der NATO, sich nach Osten zu erweitern; vielmehrhat es eine Weile gedauert, bis die Mitgliedstaaten bereitwaren, dem Drängen der Staaten Ostmitteleuropas nach-zukommen und sich neuen Mitgliedern zu öffnen. Seiteinigen Wochen sind Polen, Tschechien und Ungarngleichberechtigte Mitglieder. Das ist nicht nur für dieseLänder wichtig, sondern auch für Europa. Denn dieLänder kommen damit aus einer Zwischenlage heraus,die ihnen in der Geschichte verheerende Beziehungenbescherte. Sie wollten nichts anderes als Deutschland:im Westen verankert zu sein, um damit die Möglichkeitund Freiheit zu haben, zum Osten kooperative Struktu-ren aufzubauen.
In Washington wird die NATO deutlich machen, daßdie Tür offenbleibt. Es wird gut sein, daß das nicht nurabstrakt behauptet, sondern durch die Nennung vonStaaten konkretisiert wird, die entsprechend ihrem eige-nen Wunsch eine Perspektive der Mitgliedschaft habensollen. Wichtig ist es deshalb, Kooperationsmöglichkei-ten mit der NATO für die daran interessierten Staatenüber die bisherigen Instrumente hinaus zu stärken. Des-wegen ist sehr zu begrüßen, wenn die NATO künftig in„Membership Action Plans“ die Heranführung beitritts-williger Staaten noch tatkräftiger als bisher unterstützt.1991 hatte sich, wie gesagt, die NATO ein Konzeptgegeben; nun gibt sie sich ein neues. Wichtig ist, daß dieKooperationsstrukturen ganz zentral in dieses Konzepteingebaut sind – und ebenso die neuen Aufgaben, vordenen wir heute in Europa stehen, nämlich auch außer-halb des Bereichs der NATO für Frieden, für Freiheitund für Rechte, für Völkerrecht und für die Rechte derMenschen, einzutreten. In Bosnien übrigens – das warder erste Ort, an dem die NATO außerhalb ihres Territo-riums militärisch aktiv wurde – geschah das nicht allein,sondern gemeinsam mit Nicht-NATO-Staaten, insbe-sondere auch mit Rußland. Man vergesse nicht, daß die-se Zusammenarbeit in Bosnien trotz aller Krisen, Fragenund Spannungen, die es heute zwischen Rußland und derNATO gibt, bis jetzt funktioniert und wirksam ist.Sicherheit hat viele Dimensionen. Darüber ist in denletzten Jahren in unserem Hause viel gesprochen wor-den. Es ist deutlich, daß viele unterschiedliche Institu-tionen nicht nur Europas, sondern weltweit – allen vorandie Vereinten Nationen, aber eben auch die OSZE, derEuroparat und nicht zuletzt die Europäische Union –ganz wesentliche Dimensionen der Sicherheit zumThema haben, daß sie sogar besser damit umgehen kön-nen als die NATO, weil sie die Kompetenzen dazu ha-ben und weil dieses Thema eben wirtschaftliche, soziale,kulturelle und politische Dimensionen hat.Entscheidend ist – dies ist eine zentrale Frage –, daßder Frieden künftig durch eine Zusammenarbeit derNATO mit diesen Institutionen wirklich gesichert wird.Wir lernen nicht zuletzt in Bosnien, daß Frieden durchmilitärische Mittel nicht geschaffen werden kann, son-dern daß dadurch nur die Voraussetzungen für Friedengeschaffen werden können, indem Mord und GewaltEinhalt geboten wird.Deshalb ist es für die Zukunft sehr wichtig, daß derzivile und auch der politische Friedensprozeß in GangMarkus Meckel
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gebracht werden und daß dafür übrigens auch die not-wendigen Ressourcen bereitgehalten werden. Es istdurchaus so, daß die Ressourcen für militärische Akti-vitäten sehr schnell bereitgestellt werden, daß es uns al-len aber sehr viel größere Mühe macht, die erforderli-chen Mittel für die ebenfalls notwendigen zivilen Akti-vitäten sowohl in finanzieller Hinsicht wie auch in Formausgebildeter Beobachter beizusteuern. Auch das ist eine– leider nicht so gute – Erfahrung aus Bosnien.Für die NATO wird es in Zukunft eine zentrale Rollespielen, daß die ihr angehörenden Länder gemeinsamhandeln. Sie ist eine Konsensgemeinschaft. Manche inunserem Land glauben ja, sie sei ein Aggressionspoten-tial. Ich halte dies wirklich für eine falsche Aussage. Ichverweise auf die Schwierigkeiten beim Konsensprozeßinnerhalb der NATO und darauf, daß es in der NATOeben nicht darum geht, daß alle Mitglieder Gefolgsleuteeiner Führungsmacht sind, der sie bedingungslos folgen.In demokratischen Staaten sind Mehrheiten und Regie-rungen nur dann möglich, wenn man einen Konsens ge-funden hat. Dies ist, gerade wenn es darum geht, militä-rische Gewalt anzuwenden, nicht so einfach. Deshalbist, glaube ich, allein von der Struktur her gewährleistet,daß die demokratische Staatengemeinschaft nicht auf-grund hegemonialer Interessen Krieg führt. Vielmehrgeht es darum – ich bin gleich am Ende meiner Ausfüh-rungen, Herr Präsident –, Recht durchzusetzen, Men-schen zu helfen, den Menschen und ihren Rechten ent-gegenzukommen bzw. dem Morden und der Vertreibungein Ende zu bereiten. Deshalb ist es wichtig, daß einegroße Mehrheit in diesem Hohen Hause zur NATO undzu ihren Bemühungen steht, den Menschen im Kosovozu helfen.Ich danke Ihnen.
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Karl A. Lamers.
HerrPräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute,50 Jahre nach Gründung der NATO, können wir fest-stellen: Die Nordatlantische Allianz ist das erfolgreich-ste Bündnis der Geschichte. Sie ist die größte Friedens-bewegung.
Es ist schon bemerkenswert, daß sie heute selbst von ih-ren einstigen Gegnern gepriesen und hoch gelobt wird,also von denen, die mittlerweile in Deutschland regierenund für die Handlungsfähigkeit des Bündnisses Verant-wortung tragen. Das ist gut so.Die NATO ist unstreitig eine Friedens- und Werte-gemeinschaft. Sie stand und steht zu Grundsätzen wieFreiheit, Recht und Demokratie. Sie steht für den Frie-den. Dank schulden wir insbesondere unseren Verbün-deten. Durch die entschlossene Friedenspolitik derNATO erhielt zunächst der westliche Teil Deutschlandsdie Chance, ein demokratisches, stabiles parlamentari-sches Regierungssystem aufzubauen.40 Jahre später, in der historischen Stunde 1989 und1990, als die Mauer brach und der Eiserne Vorhang fiel,waren die Festigkeit und Geradlinigkeit der Freunde inNATO und Europäischer Union der Schlüssel dafür, daßsich auch im östlichen Teil unseres Vaterlandes Demo-kratie, Parlamentarismus, Freiheit und Selbstbe-stimmung durchsetzen konnten.Aber heute frage ich: Was wäre geschehen, wenn sichim Jahre 1983 die damalige Bundesregierung unterHelmut Kohl dem Druck der Friedensbewegung gebeugthätte? Er tat es nicht, er stand wie ein Fels in der linkenBrandung.
– Auch die Damen und Herren der PDS sollten zuhören,dann könnten sie aus dieser Geschichtsbetrachtungvielleicht noch etwas lernen. – Wie wäre die deutscheGeschichte verlaufen, wenn die NATO einseitig abgerü-stet hätte, wie Sie es in Ihrem unsäglichen Antrag heutewieder fordern?
Welche Folgen hätte es für Deutschland und Europa ge-habt, wenn wir die atomare Bedrohung durch sowjeti-sche SS-20-Raketen akzeptiert hätten? Eines ist klar:Wir hätten die historische Stunde am vergangenenMontag, die Rückkehr des frei gewählten Parlamentsdes wiedervereinigten Deutschlands in den Reichstag inBerlin – eine freie Stadt ohne Mauer, ohne Stacheldrahtund ohne DDR-Schießbefehl – wahrscheinlich nicht er-lebt.
Daraus folgt: Festigkeit, nicht Nachgiebigkeit, sichertFreiheit. Die NATO kann heute auf eine stolze Bilanzverweisen. Ihre Anziehungskraft als Wertegemeinschaft,als Stabilitätsraum und als militärischer Integrations-faktor ist auch nach 50 Jahren ungebrochen. Deshalbsind wir aufgerufen, alles zu tun, um die Attraktivitätaufrechtzuerhalten und zu steigern.Wir sollten uns in dieser Stunde aber auch durchausdaran erinnern, daß wir, die CDU/CSU, einen großenAnteil an der Geschichte unseres Landes in 36 JahrenRegierungsverantwortung tragen und daß wir dieGrundlage für die NATO und für die Bundeswehr ge-schaffen haben, die es sonst so vielleicht gar nicht gebenwürde. Bei besonderen geschichtlichen Entwicklungenwar die CDU/CSU stets die berechenbare politischeKraft in Deutschland. Berechenbarkeit ist ein wichtigerFaktor der Politik, national und international.
Wir haben Kurs gehalten. Ich frage Sie: Was wäreheute, wenn in den entscheidenden Schicksalsjahrennach dem zweiten Weltkrieg Rotgrün in tiefer ideologi-scher Zerstrittenheit die Vergangenheit gestaltet hätte,Herr Außenminister? Könnten Sie dann als Außenmi-nister mit der Kraft von heute die Gegenwart meisternund die Zukunft gestalten? Ich glaube, nein. Was wäreMarkus Meckel
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heute in Deutschland – die Frage ist aufgeworfen wor-den –, wenn wir in der Regierung und Sie in der Oppo-sition wären? Das ist für mich eine Frage der politischenGlaubwürdigkeit.
Für uns gilt, daß wir als Opposition nicht bekämpfen,was wir als Regierung für richtig gehalten haben.
Wir sind staatstragend.
Auf die CDU/CSU kann sich Deutschland verlassen. Ineiner beeindruckenden Rede hat Wolfgang Schäuble,unser Fraktionsvorsitzender, die Leitlinien unsererSicherheits- und Außenpolitik auf der Münchener Si-cherheitskonferenz dargelegt und definiert.Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert geht es für dieNATO um die Wahrung gemeinsamer euro-atlantischerInteressen in und für Europa. Das neue strategischeKonzept muß an den bewährten allianzpolitischenGrundsätzen festhalten: kollektive Verteidigung alsKernfunktion des Bündnisses, Annahme der großen si-cherheitspolitischen Herausforderungen, die Übernahmeneuer Aufgaben: Kooperation, Stabilitätstransfer undKrisenbewältigung. Daß das Bündnis reformfähig ist,haben wir mit einem weitreichenden Abrüstungs-, Orga-nisations- und Partnerschaftskonzept bewiesen.Ich möchte an diesem Tage ausdrücklich auch daswürdigen, was Volker Rühe in seiner Zeit als Verteidi-gungsminister geleistet hat, als er immer wieder mitgroßer Klarheit und Stringenz wertvolle Impulse in dasBündnis gegeben hat. Bundeswehr und NATO sind da-durch heute für die großen Herausforderungen der Ge-genwart und der Zukunft gerüstet.
Jetzt brauchen wir ein neues strategisches Konzept.Ich frage Sie mit Blick auf die Anträge, die heute vorlie-gen: Wo sind die unverrückbaren politischen Überzeu-gungen der Grünen und zum Teil auch der SPD? Ichmeine nicht tagespolitisch bedingte aktuelle Positionen,sondern solche, die über den Tag hinaus reichen. Dasunterscheidet CDU/CSU und – mit Verlaub – F.D.P. vonden Regierungsfraktionen. Bei uns formt sich Tages-politik aus Grundsätzen und Überzeugungen. Ob sich,Herr Außenminister, durch Ihre Politik in der Tiefe Ihrergrünen Bewegung dauerhaft tragfähige Überzeugungenbilden, daran habe ich erhebliche Zweifel. Dafür müssenSie an der Basis noch viel arbeiten.Wer wie wir auf dem Boden der Außen- und Sicher-heitspolitik der heutigen Regierung steht, darf auch Kri-tisches anmerken. Ich nehme Ihnen ab, Herr Außenmi-nister, daß Sie für sich persönlich Kasernenbesetzungs-und Belagerungsmentalität überwunden haben. Ich fragemich aber schon, was eigentlich geschehen ist, und auchmanche Ihrer Freunde fragen sich das, Freunde, mit de-nen Sie vor Jahren und Jahrzehnten vor US-KasernenFackelwachen abgehalten, Sitzblockaden durchgeführtund Protestdemos organisiert haben.
– Ich weiß, wovon ich spreche. Ich komme aus Heidel-berg, einer Stadt mit einem US-Hauptquartier, wo wirdas alles erlebt haben.
Gerade jüngst hat mir einer aus Ihrer Partei gesagt, daßer es sich nicht habe träumen lassen,
seinen Joschka, wie er sich ausdrückte, einst als Außen-minister im feinsten Nadelstreifen zu erleben, garniertmit einem Freundschaftskuß für die amerikanische Au-ßenministerin Madeleine Albright. Das ist schon einweiter Weg – vom Saulus zum Joschka.
– Nein, mich sollen Sie auch nicht küssen, das würde ichmir verbitten. – Damit Sie mich aber nicht falsch verste-hen: Ich finde es gut, daß Sie mit der Übernahme desAmtes des Außenministers ein solches Maß an Erkennt-nis und neuer Einsicht in das gewonnen haben, waspolitisch und moralisch richtig und notwendig ist. Dashat so kaum einer für möglich gehalten. Helmut Kohl,meine Damen und Herren, hat einmal gesagt: Europa isteine Sache von Krieg und Frieden. Darauf habe ich vonIhrer Seite nur Gelächter gehört. Heute sagen Sie, HerrAußenminister, lapidar: Kohl hat recht. – Das finde ichin Ordnung.
Lassen Sie mich zu den Anträgen konkret folgendessagen:Erstens. Ich halte es, Herr Außenminister, für absolutschädlich und politisch falsch, daß die Bundesregierungund insbesondere Sie, Herr Fischer, versucht haben, dienukleare Ersteinsatzoption der NATO im neuen stra-tegischen Konzept zu verwässern oder gar zu streichen.Wir müssen auch in Zukunft einen Angreifer im unge-wissen darüber lassen, wie wir als Bündnispartner rea-gieren. Nur so gewinnen wir auch in Zukunft Sicherheitund Freiheit.
Nach unserer Überzeugung würde eine solche Änderungdie Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses erheblichschwächen. Deshalb meine Bitte, an der bewährten Ab-schreckungsstrategie des Bündnisses festzuhalten.Zweitens. Ein wichtiger Punkt, über den wir imBündnis Konsens erreichen müssen, ist die völker-rechtliche Legitimation des Bündnisses für Krisenre-aktionseinsätze auch außerhalb des Bündnisgebietes.Wie wichtig das ist, zeigt doch der Konflikt im Kosovo.Dr. Karl A. Lamers
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Ich meine, es besteht Einigkeit darüber, daß wir einensolchen Einsatz nach Möglichkeit auf einen Beschlußdes Sicherheitsrates der Vereinten Nationen stützenmüssen. Es muß aber auch Einigkeit darüber bestehen,daß die NATO, wenn Menschenrechte verletzt werdenund ihr Handeln im Einklang mit dem Völkerrecht steht,handeln muß. Sonst setzt sie sich dem Vorwurf aus, un-tätig zuzuschauen. Auch hier erwarten und verlangenwir klare Positionen und Aussagen.Die NATO ist für uns Friedensgarant. Sie muß mitden anderen großen kollektiven Sicherheitssystemen,den Vereinten Nationen, der Europäischen Union undder WEU, zusammenwirken, denen in diesem Zusam-menhang wichtige Aufgaben zukommen. Eine einseitigeHervorhebung der OSZE, Herr Minister, lehnen wir al-lerdings ab.Die NATO muß sich für andere öffnen. Von Wa-shington muß das Signal ausgehen, daß die Tür für sol-che offenbleibt, die ihre Zukunft in der NordatlantischenAllianz suchen. Dieses klare Signal muß von Washing-ton ausgehen.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zumSchluß sagen, daß wir Europäer aufgerufen sind, füreine gerechte Lasten- und Pflichtenverteilung imBündnis mehr Verantwortung zu tragen.Heute, zwei Tage vor dem NATO-Gipfel, steht dieNATO auf dem Balkan vor einer der größten Herausfor-derungen seit ihrem Bestehen. Ich bin überzeugt, daßwir aus dieser Prüfung gestärkt hervorgehen, wenn wirgeschlossen sind, wenn wir im Bündnis einig bleiben,wenn wir deutlich machen, daß die NATO keineSchönwetterorganisation ist, sondern ein Bündnis, dasüber Menschenrechte und Werte nicht nur spricht, son-dern diese im Ernstfall auch beherzt verteidigt.Auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert dürfen Dikta-toren, die in zynischer Weise Menschenrechte verletzenund sich über das geltende Recht stellen, keine Chancehaben. Amerika und Europa müssen auch in Zukunft ineiner Allianz des Friedens und als Garant unserer ge-meinsamen Sicherheit zusammenstehen.Ich danke Ihnen.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen.
HerrPräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dasstrategische Konzept, das in den nächsten Tagen veröf-fentlicht werden wird, wird mit Sicherheit nicht derSchlußpunkt einer sehr wichtigen Debatte sein, die wirauch heute hier führen. Dieses Konzept wird der Aus-gangspunkt für die Fortentwicklung der NATO sein, undwir werden die Debatte engagiert begleiten.Der Gipfel wird – das haben viele gesagt – vom ge-genwärtigen Krieg im Kosovo überschattet. Die Folgendes Kosovo-Krieges für die zukünftige Entwicklung undauch für die Strategie der NATO müssen sorgfältig be-obachtet und analysiert und dürfen nicht unterschätztwerden.Ich sage dies vor dem Hintergrund, daß wir uns ausmeiner Sicht heute in einer extrem schwierigen Situationbefinden, und zwar aus zwei Gründen: Erstens. Wir be-finden uns, was die internationalen Beziehungen unddas Völkerrecht betrifft, an einem Wendepunkt. Es gehtum die Frage der Verrechtlichung der zwischenstaatli-chen Beziehungen und der Anerkennung der Tatsache,daß die Transnationalisierung auch Folgen für die Wei-terentwicklung des Völkerrechts haben wird. Diese istpolitisch offen, und wir müssen uns in jeder einzelnenkonkreten Situation entsprechend verhalten, um denZielkonflikt im größtmöglichen Konsens zu lösen.Zweitens. Wir, die Bundesrepublik Deutschland unddie NATO – ich sage das als Grüne ganz bewußt –, sindin einem Krieg. Wir sind zum ersten Mal seit 1945 aneinem Krieg in Europa beteiligt. Dieser Krieg und unserVerhalten in diesem Krieg werden Auswirkungen aufdie europäische Sicherheitsarchitektur und auf die trans-atlantischen Beziehungen haben. Die NATO als Werte-gemeinschaft und als diejenige Organisation, die inter-nationale Sicherheitspolitik effektiv betreiben kann,steht hier in einer ganz besonderen Verantwortung. Esist unser Ziel, gestaltend darauf einzuwirken. Ich sagehier ganz deutlich: Die Frage der Glaubwürdigkeit wirdsich nach diesem Krieg stellen, nämlich dann, wenn wir– die Bundesregierung, aber auch die NATO – entschei-den müssen, wie wir uns ganz ähnlichen Konflikten ge-genüber selbst im eigenen Bündnis – ich nenne als Bei-spiel das Kurdenproblem in der Türkei – verhalten. Zu-künftig wird es ein Verschließen der Augen nicht mehrgeben können.
Vor diesem historischen Hintergrund möchte ich ei-nige Punkte ansprechen, in denen sich die Verantwor-tung der NATO für Stabilität, für Vertrauensbildung,aber auch für Abrüstung in besonders prägnanter Weiseausdrückt.Zunächst zu der völkerrechtlichen Frage: Die Luft-schläge der NATO, die wir jetzt in der fünften Wochedurchführen, finden auf einer völkerrechtlich nicht aus-reichenden Grundlage statt. Wenn es darum geht, dasVölkerrecht weiterzuentwickeln, um aus der Sackgasseherauszukommen und früher nichtmilitärisch agieren zukönnen, wäre es ein Fehler, so zu tun, als wenn wir jetzteine klare völkerrechtliche Grundlage hätten. Wir habensie nicht. Wir werden das Völkerrecht modifizierenmüssen, um stärker internationale humane Politik be-treiben zu können. Dieses Dilemma möchte ich offenansprechen.
Nach dem Gipfel werden wir beginnen müssen, dieseDiskussion ohne Scheuklappen, aber verantwortlich zuDr. Karl A. Lamers
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führen. Denn wir wissen, daß wir uns damit auf einschwieriges Gebiet der internationalen Diplomatie bege-ben.Ich will an dieser Stelle auf die internationalen si-cherheitspolitischen Institutionen eingehen. Die NATOals Wertegemeinschaft ist an den Inhalten, Normen undVerfahren der UNO-Charta orientiert. Das ist im Wa-shingtoner Vertrag so festgehalten, und er durchziehtdas strategische Konzept der NATO, das verabschiedetwird, wie ein roter Faden. Das ist auch gut so.Wir wollen daran festhalten – dafür müssen wir gera-destehen –, daß das, was im Kosovo heute nicht ver-meidbar ist, eine dezidierte Ausnahme bleibt und nichtzum Alltagsgeschäft wird. Wir wollen eine Arbeitstei-lung zwischen den Institutionen. Das heißt, wir wollen,daß die NATO das macht, was sie können soll und wassie können muß. Aber wir wollen natürlich auch, daßdas Gewaltmonopol der UNO gestärkt, die UNO refor-miert und das Vetorecht abgeschafft wird. Denn wir se-hen, daß es auf die aktuellen Konflikte und Kriege derZukunft keine Antworten mehr gibt. Wir brauchen dieStärkung der OSZE, damit wir sagen können, daß dieNATO als Militärbündnis erst dann zum Einsatz kommt,wenn die internationale Staatengemeinschaft keine In-strumente und Antworten mehr findet.
Dazu gehört auch die Verantwortung der NATO, ihrenWeg richtig weiterzugehen, nämlich in Kooperation mitRußland Stabilität in Gesamteuropa zu verfolgen.Lassen Sie mich an dieser Stelle – das kann nichtausgelassen werden – auf den Krieg im Kosovo einge-hen. Wir führen zur Zeit eine problematische Diskussi-on, was den Einsatz von Bodentruppen betrifft. Ichglaube, daß es falsch ist, zu sagen „Wir wollen diesenEinsatz nicht“ und zu befürchten, daß es dann doch ir-gendwann dazu kommt. Ich habe die Sorge, daß durchdas Unterlassen einer Diskussion über den Einsatz vonBodentruppen bzw. durch die Art und Weise, wie dieseDiskussion möglicherweise doch geführt wird, einwichtiges Fenster für politische Initiativen verengt wird.Herr Lamers, wenn Sie die Grünen dahin gehend kri-tisieren, sie seien noch nicht in der Realität angekom-men, kann ich Ihnen nur antworten: Ich habe Angst da-vor, daß wir – ähnlich wie vor fünf Wochen, als wir vorder Alternative standen, ethnische Säuberungen oderNATO-Luftschläge zu akzeptieren – jetzt vor einer neu-en Alternative stehen: vor der Eskalation des Militäri-schen, also vor einem militärischen Automatismus, dersich – mit allen fatalen Konsequenzen, was die Spaltungder Sicherheit Europas betrifft – bis hin zu einem Ein-satz von Bodentruppen in Serbien ausdehnen könnte,oder aber der Initiative, die die rotgrüne Bundesregie-rung im Bündnis nach vorne getrieben hat: Rußland be-findet sich wieder mit uns im Dialog. Kofi Annan istwieder Teil der Diplomatie, um diesen Krieg nicht aufmilitärischem Wege, sondern durch einen Waffenstill-stand zu beenden. Herr Lamers, die Realität ist, auchwenn Sie sie nicht erkennen wollen, anders. Die „Berli-ner Zeitung“ schreibt heute: „Europäer wollen Frie-densplan Fischers für Kosovo übernehmen“. Das ist es,was wir forcieren müssen, nicht eine leichtsinnige De-batte, die letztlich dazu führt, daß wir, ohne daß wir esüberhaupt wollen, in einen Bodenkrieg geraten, den wirübrigens auch nicht verantworten können.
Ich komme zum Schluß: Der zentrale Ansatz für einezukunftsfähige Sicherheitspolitik muß ein Konzept prä-ventiver Sicherheitspolitik sein. Das heißt, daß Sicher-heitspolitik in ihren vielfältigen Dimensionen in ein au-ßenpolitisches Konzept eingebunden wird, in dem denVereinten Nationen und der OSZE nicht nur verbal einewichtige Rolle zugewiesen wird nach dem Motto: OSZEfirst. Wir müssen vielmehr zulassen und ermöglichen,daß sie diese Rolle tatsächlich spielt.
Ich nenne hier beispielsweise den kooperativen Ansatzfür Gesamteuropa und Rußland, den rüstungskontroll-politischen Ansatz – denn wir dürfen auch dann, wennwir Krieg führen, die Abrüstung nicht vergessen – undeine Politik, die auf Grund der bestehenden atomarenGefahr, die möglicherweise wieder näherrückt, abrü-stungspolitische Aufgaben vor Augen hat.Wenn wir es schaffen, diesen Konsens in Europa zustabilisieren und über Europa hinauszutragen und derWeiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen end-lich Einhalt zu gebieten, dann kommen wir vielleichtwieder zu dem Punkt zurück, daß wir sagen können, daßdas Europa der Zukunft friedlich sein wird. Diesen Weggehen wir hoffentlich alle gemeinsam.Danke.
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Peter Zumkley.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Ich möchte mich nach den bisherigenDebattenbeiträgen vor allem den militärischen und si-cherheitspolitischen Aspekten widmen.Durch die Allianz sind die Bündnispartner in der La-ge, sich auf gemeinsame, insbesondere verteidigungs-und sicherheitspolitische Positionen zu verständigen.Dies ist von genauso großer Bedeutung wie die Streit-kräfte der Mitgliedstaaten, die als Garant für die militä-rische europäische Sicherheit und – in der Vergangen-heit – für die Verhinderung militärischer Auseinander-setzungen im Rahmen der Ost-West-Konfrontationdienten.Die Allianz verzeichnet aber auch zwei außerge-wöhnliche politische Erfolge in einem: die Integrationvon westeuropäischen Staaten, die über Jahrhundertenach Dominanz und Kräfteausgleich gestrebt und dabeiAngelika Beer
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häufig verlustreiche, blutige Kriege geführt hatten, undeine vertraglich vereinbarte transatlantische Sicher-heits- und Verteidigungspartnerschaft zwischen denDemokratien Nordamerikas und Europas.Neben vielen zum Beispiel in Politik und Admini-strationen tatkräftig für die Ziele der NATO tätigenMenschen, in der Vergangenheit und in der Gegenwart,sind wir auch allen militärischen und zivilen Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr seit ihrem Be-stehen und ihrer Zugehörigkeit zur NATO für die Be-wältigung ihrer oft nicht leichten Aufgabe und ihrenBeitrag zum Frieden und zur Freiheit zu Dank ver-pflichtet.
In einem Zeitraum von etwa zehn Jahren wurdenStrategien und Konzeptionen politisch und militärischauf die neuen Entwicklungen umgestellt. Die NATOentwickelt sich auch heute weiter, wie die Verabschie-dung des neuen strategischen Konzepts auf demWashingtoner Gipfel an diesem Wochenende zeigenwird. Das sicherheitspolitische Umfeld wandelt sich.Heute stehen wir vor einer Fülle neuer Risiken. Die Ge-fahr von heute ist die Instabilität – aus unterschiedlichenGründen – in einigen Ländern und Regionen. Tief wur-zelnde ethnische, religiöse und nationalistische Kräftemünden, wie schmerzhaft zu erfahren ist, in zerstöreri-sche Konflikte, die uns letztlich alle bedrohen. Das trifftauch auf Europa zu, wie die Lage auf dem Balkan zeigt.Die NATO befindet sich im Anpassungsprozeß ge-genüber einem neuen Risikospektrum. Die politischenund militärischen Strukturen der Allianz werden neu ge-gliedert und gestrafft. Sie werden so verändert, daß dasBündnis auf der Basis einer starken transatlantischenPartnerschaft das geänderte Spektrum seiner Aufgabenwirksamer bewältigen kann. Die Streitkräfte wurdennicht unerheblich reduziert. Die Stufen der Alarm- undEinsatzbereitschaft wurden herabgesetzt. Die Streitkräftewurden umgegliedert, so daß sie weiterhin zur kollekti-ven Verteidigung befähigt sind und den neuen Aufgabenim Rahmen der Krisenbewältigung gewachsen bleiben.Der Anpassungsprozeß ist noch nicht abgeschlossen.Das Bündnis muß diesen Prozeß mit Entschlossenheitund Augenmaß weiter fortsetzen. So müssen die Sicher-heit und der Frieden im euroatlantischen Raum weiter-hin kontinuierlich stabilisiert bleiben sowie der Dialogund die Zusammenarbeit der gleichberechtigten Partnerausgebaut und vertieft werden.Die Öffnung der NATO nach Osten ist ein wichti-ger Schritt. Die Beitritte Polens, Ungarns und derTschechischen Republik zur NATO schaffen zusätzli-che, auch militärische Sicherheit. Die neuen Mitglied-staaten sind fest in Europa verankert. Gerade wir Deut-schen erhalten mit unseren östlichen Nachbarn verläßli-che Bündnispartner.Die Motivation ihrer Soldaten zur Zusammenarbeitmit westlichen Partnern ist bemerkenswert. Ihre Ausrü-stung und Bewaffnung sind überwiegend russischerHerkunft und entsprechen nur zum Teil den Bündnisan-forderungen. Dies muß angemessen berücksichtigt undauch in Kauf genommen werden, damit unsere neuenPartner nicht überfordert werden.Vor allem kommt es darauf an, ihre Kommunikati-onsfähigkeit und Interoperabilität allmählich zu verbes-sern. Dabei müssen sie angemessen unterstützt werden.Dieser Prozeß wird länger dauern, vielleicht zehn Jahreoder sogar mehr. Die Tür zur NATO muß für weitereneue Mitglieder offenstehen, sofern sie die Anforderun-gen des Bündnisses erfüllen, die Zeit reif und das Bünd-nis aufnahmefähig ist. Grundsätzlich stärken neue Mit-glieder die Sicherheit in Europa und bereichern dasBündnis als Ganzes.Die Gründungsakte zwischen der NATO und Ruß-land, die NATO-Ukraine-Charta sowie die gemeinsa-men Übungen im Rahmen der „Partnerschaft für denFrieden“ bilden eine solide Basis für eine gute militäri-sche Zusammenarbeit. Allein in 1998 wurden 26 PfP-Übungen zwischen der NATO und osteuropäischenStaaten durchgeführt. Die Bundeswehr war an15 Übungen mit allen Teilstreitkräften beteiligt.
Die gemeinsame Übungstätigkeit umfaßte militärischeManöver, friedensunterstützende Maßnahmen, humani-täre Operationen sowie Such- und Rettungseinsätze.Diesen Weg müssen wir weiterverfolgen.
Bei den gemeinsamen Übungstätigkeiten wird Ver-ständnis für Zusammenarbeit geweckt, das es zu festigenund weiterzuentwickeln gilt. Darüber hinaus wird Ver-trauen geschaffen, werden Mißverständnisse vermiedenund gegenseitige Vorurteile abgebaut.Das Krisen- und Konfliktpotential in Europa machtdeutlich, wie notwendig der Aufbau einer europäi-schen Sicherheits- und Verteidigungsidentität ist.Europa muß in der Sicherheits- und Verteidigungspolitikeigenständiger und handlungsfähiger werden, ohne sichvon der Nordatlantischen Allianz zu entfernen. Dannkann es seiner sicherheitspolitischen Verantwortung inEuropa besser gerecht werden und zu einer gerechtenLastenteilung innerhalb des Bündnisses beitragen. Diesbedeutet für uns als Konsequenz aber weitere Anstren-gungen und Leistungen in angemessenem Verhältnis zudenen unserer Bündnispartner.Viele Jahre lang haben unsere Verbündeten unseremLand Sicherheit gegeben. Heute beteiligen wir uns ge-meinsam mit unseren Bündnispartnern an der Sicher-stellung der Verteidigungsfähigkeit, der Krisenbewälti-gung, dem Schutz von Menschenrechten und humanitä-ren Hilfsaktionen. Zukünftig muß sich das Bündnis al-lerdings mehr um die Fähigkeit zur Konfliktpräventionbemühen. In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Glos– er ist im Moment nicht da –,
begrüßen wir die offensichtliche Absicht der NATO undvon Nicht-NATO-Staaten, den Flüchtlingen in Albaniendurch Entsendung zusätzlicher, dafür geeigneter Solda-ten noch wirksamer als bisher zu helfen. Kaum jemandPeter Zumkley
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wird sich einer derartigen humanitären Hilfe vor Ortverschließen können.
Wir sehen einem entsprechenden Antrag der Bundesre-gierung entgegen und setzen auf eine breite Zustimmungdes Parlaments. Der Erfolg der NATO wird auch künftigdavon abhängen, ob es ihr weiterhin gelingt, beharrlichund unbeirrt ihr Ziel aufrechtzuerhalten, Frieden, koope-rative Sicherheit und demokratische Stabilität im ge-samten Europa zu fördern.Nicht zuletzt ist die Bundeswehr eines der wichtigenInstrumente deutscher Außen-, Sicherheits- und Bünd-nispolitik. Es führt kein Weg daran vorbei, daß dieStreitkräfte im Bündnis – also auch unsere Bundeswehr– weiterhin gut ausgebildet und für die Aufgabenbewäl-tigung wirksam ausgestattet werden, daß der bestmögli-che Schutz für unsere Soldaten sichergestellt und ihreIntegration in unsere Gesellschaft erhalten bleibt.
Das Wort hat der
Kollege Christoph Zöpel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meineverehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie michauch vor dem Hintergrund dieser Debatte die Geschichteder NATO und ihreWirkung auf Europa als eine Wech-selwirkung zwischen militärischer Anstrengung undderen Grenzen sowie erfolgreicher Abrüstungspolitikund erfolgreicher Friedensbewegungen darstellen.Der Erfolg der NATO für Europa beruhte auf atoma-rer Abschreckung; das war der Kern. Das hat uns sichergemacht, die Menschen in Osteuropa nicht. Die NATOkonnte nicht verhindern, daß Stalin und seine Nachfol-ger in Osteuropa – auch mit militärischer Gewalt – ma-chen konnten, was sie wollten. Im Gegensatz zu Ihnen,Frau Beer, halte ich den derzeitigen Krieg in Jugosla-wien nicht für den ersten in Europa. Der erste war dieInvasion der Sowjetunion in Prag; den konnte dieNATO nicht verhindern.
Daß ähnliches in Polen nicht geschah, lag an der Beson-nenheit eines – wenn auch tragisch verstrickten – Gene-rals, nämlich des Generals Jaruzelski.Das Ende des Kommunismus dann war einerseitssicherlich auch ein politischer Erfolg der NATO undihrer Rüstung. Aber andererseits wäre das Ende desKommunismus nicht möglich gewesen ohne die friedli-che Revolution der Menschen dort. Auch die war nötig,nicht nur die NATO.
Nach dem Ende des Kommunismus kam dann der fürmich vielleicht größte Erfolg der NATO: die gigantischeAbrüstungsleistung in Europa. Herr Kollege Rühe, Siekönnen stolz darauf sein – ich glaube, Sie sind es –, daßSie in dieser Zeit der Abrüstungserfolge Verteidigungs-minister sein konnten. Eine Million weniger Soldatenauf deutschem Boden! Aber die Freude über diesen Ab-rüstungserfolg hat auch damit zu tun, daß wir vorher– zu Recht – erschrocken waren über die bizarre Überrü-stung, die der kalte Krieg mit sich gebracht hatte.
Wer darauf hingewiesen hatte, hatte ebenso recht wieder, der für die NATO stritt.Die meisten Staaten in Mittelosteuropa und Süd-osteuropa begannen dann, sich auf den friedlichen Weghin zu Menschenrechten, Demokratie und nach Europazu machen – mit einer wiederum besonders bizarrenAusnahme: Milosevic in Jugoslawien. Warum wir jetztbetroffen sind? Weil sich die heutige SituationDeutschlands und anderer NATO-Staaten von der vor1989 unterscheidet. Vor 1989 hatten wir nicht die Mög-lichkeit, zu entscheiden, ob wir den Tschechen helfen.Heute haben wir diese Möglichkeit. Damit ist der Frie-densfortschritt gleichzeitig auch wieder ein Schritt hinzu neuen, viel schwierigeren Entscheidungen, die wirunter der Ägide der atomaren Abschreckung nicht zutreffen hatten. Damit sind wir heute – das müssen wirsehen – konfrontiert.Ich sehe den Erfolg des militärischen Engagementsder NATO in Jugoslawien voraus und komme zu denPerspektiven: Wir werden daran gemessen werden, obwir Europäer nach dieser Intervention bereit sind, unsereEuropapolitik hinsichtlich der Integration neuer Mitglie-der zu ändern. Nach Kosovo darf die Frage nicht mehrlauten „Wer darf in die Europäische Union?“, sondernmuß es heißen: Wir wollen sie alle in Europa haben.
Die NATO war nur so erfolgreich, weil eine anderegigantische Friedensleistung historischer Dimensionstattfand: das Ende möglicher Kriege in Westeuropadurch die europäische Integration. Die Vollendung dereuropäischen Integration bedeutete das Ende der Kriegein ganz Europa für alle seine Staaten.Dieses Europa braucht dann auch – dies lernen wirjetzt deutlicher denn je – seine eigene Sicherheitsidenti-tät.
An der zu arbeiten kann nicht mehr wenigen Beamtenüberlassen werden, sondern wird eine eminent politischeAufgabe.
Wenn wir das so formulieren, stellt sich die Fragenach dem Verhältnis zu Rußland und anderen Staatender ehemaligen Sowjetunion. Ich versuche, hier eine Vi-sion zu malen: Ich kann mir vorstellen, daß der nördli-Peter Zumkley
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che Teil der nördlichen Erdhalbkugel in einer Perspekti-ve von 20 Jahren dadurch bestimmt wird, daß drei föde-rale Staatswesen mit je sicherlich unterschiedlicher Si-cherheitsidentität – die Vereinigten Staaten von Ameri-ka, die Europäische Union und die Gemeinschaft Unab-hängiger Staaten, in welcher Formation auch immer –,miteinander sicherheitspolitisch in Partnerschaft ver-bunden, dafür sorgen, daß auf der reichen nördlichenHalbkugel dieser Welt keine Kriege mehr ausgetragenwerden können. Das muß die Vision sein.
Wenn wir das im Blick haben, kommt die letzte Auf-gabe notwendig in die Diskussion: Diese NATO mußdann auch sagen, wie sie sich zu anderen Staaten in die-ser Welt verhält. Man darf nicht darüber hinweggehen.Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, derKollege Klose, hat berichtet, daß Inder und Pakistani derIntervention der NATO im Kosovo nun wirklich nichtbegeistert zustimmen. Vielmehr taucht die Frage auf,was das für den Weltfrieden bedeutet.Unbeschadet des Primats der Vereinten Nationen, andem Sozialdemokraten nie einen Zweifel hatten, gibt eseine weitere Aufgabe. Die NATO darf und muß allenanderen Staaten der Welt weiterhin sagen: Wir lassennicht zu, daß wir angegriffen werden. Vermutlich wür-det ihr einen Angriff im Ernstfall auch nicht überstehenkönnen; denn es gibt noch atomare Waffen. Aber wirmüssen auch deutlich machen: Wann immer die NATOoder NATO-Staaten irgendwo intervenieren, muß dieVerhältnismäßigkeit der sicherheitspolitischen Mittelgelten. Das parteiübergreifende Grummeln über das,was die Vereinigten Staaten und Großbritannien im Iraktun, bestätigt das jetzt ja auch. Es muß also ein deutli-ches Signal sein. Wenn sich die NATO oder NATO-Staaten außer zur Verteidigung irgendwo engagiert, mußder Satz von der Verhältnismäßigkeit der Mittel gelten.Der Einsatz dieser Mittel muß an die Prinzipien derHumanität gebunden sein. Das wird auf Dauer nurerreichbar sein, wenn diese NATO bereit ist, Sicher-heitspartnerschaften mit welchen Ländern dieser Weltauch immer einzugehen, wenn sie es denn wollen. Diesam Schluß einer NATO-Debatte in Zeiten der Globali-sierung zu sagen, halte ich für erforderlich. HerzlichenDank.
Ich schließe die
Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlagen auf den Drucksachen 14/599, 14/316, 14/454
und 14/792 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/454 soll an
den Auswärtigen Ausschuß und den Verteidigungsaus-
schuß, aber nicht an den Rechtsausschuß überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ger-
hard Friedrich , Friedrich Merz, Ilse
Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Deutschland muß verläßlicher Partner in
europäischer Raumfahrt bleiben
– Drucksache 14/655 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung
Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Ilse Aigner.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf derMinisterratskonferenz der Europäischen Raumfahrt-agentur ESA am 11. und 12. Mai in Brüssel stehenrichtungweisende Entscheidungen über die zukünftigeneuropäischen Raumfahrtaktivitäten an. Hierzu gehörenim wesentlichen die Leistungssteigerung der Ariane 5zur Anpassung an die Markterfordernisse, die Nutzungder internationalen Raumstation und die Fortführung deswissenschaftlichen Erdbeobachtungsprogramms. Gleich-zeitig soll in Brüssel über kommerziell ausgerichteteLeitprojekte, die im nationalen Förderprogramm vorge-sehen sind, wie zum Beispiel über Multimedia-Sa-tellitentechnologie, entschieden werden.Vor diesem Hintergrund setzt sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit dem heutigen Antrag entschie-den dafür ein, daß die international eingegangen Ver-pflichtungen am europäischen Raumstations-Entwick-lungsprogramm von Deutschland auch in Zukunft ein-gehalten werden. Die erforderlichen Mittel der deut-schen Beteiligung in Höhe von rund 2,5 Milliarden DM,die noch von der früheren Bundesregierung für die Jahre1998 bis 2004 vorgesehen wurden, müssen bereitgestelltwerden.
Deutschland hat im europäischen Verbund mit 41 Pro-zent Beteiligung die führende Rolle beim Raumstations-programm, und dies muß auch so bleiben.Die bereits erfolgten Budgetkürzungen von rund 30Millionen DM wie die noch geplanten Kürzungen beider Raumfahrt gefährden die deutsche Beteiligung beiden neuen Projekten auf europäischer Ebene, vor allemaber schränken sie den deutschen Arbeitsanteil an wich-tigen technologischen Vorhaben stark ein. Ohne eineAufstockung des deutschen ESA-Beitrages von zur Zeit970 Millionen DM im Jahre 1999 bzw. 980 MillionenDr. Christoph Zöpel
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DM im Jahre 2000 können etliche deutsche Firmen, zumBeispiel die DASA und zahlreiche Mittelständler, abdem Jahr 2000 nicht mehr mitforschen. Die RegierungSchröder verengt damit den Spielraum in wichtigen Fel-dern der Raumfahrtanwendungen und gefährdet Ar-beitsplätze, weil die deutschen Beiträge fehlen.
Es wäre doch schon ein Witz, am Bau eines Labors imWeltraum beteiligt zu sein, dann aber nicht mehr diefinanziellen Mittel zu haben, dieses Labor auch entspre-chend zu nutzen.Viele Projekte auf europäischer Ebene können ohnedeutsche Beteiligung voraussichtlich gar nicht realisiertwerden. Ohne das Wissen der DASA und der MANTechnologie wäre an die Weiterentwicklung der Ariane-5 nicht zu denken. Nur mit eigenen Trägerraketen kön-nen wir Europäer im Zukunftsmarkt Satellitennaviga-tion und Erdbeobachtung mitmischen. Im Momenttransportieren die Amerikaner mehr als 60 Prozent allerSatelliten, militärische wie kommerzielle, ins All undübernehmen mit Neuentwicklungen die Führungspositi-on. Damit gerät Europa erneut in amerikanische Abhän-gigkeit. Langfristig bedeutet das auch den Verlust vonhochqualifizierten Arbeitsplätzen in Deutschland. Miteiner leistungsstärkeren Ariane 5 mit wiederzündbarerOberstufe würde die zukünftige Wettbewerbsfähigkeiteuropäischer Raumtransportsysteme gegenüber deramerikanischen und russischen Konkurrenz gesichert.Für den Zeitraum von 2001 bis 2005 wird mit einemBedarf an Satellitenstarts von 60 bis 90 pro Jahr gerech-net. Die Satelliten werden größer und schwerer. Dasheißt, die Trägerrakete Ariane muß in wenigen Jahren11 Tonnen statt jetzt 6 Tonnen tragen können.Frankreich ist mit 45 Prozent Beteiligung bei Arianeführend. Deutschland hat sich bisher an allen Ariane-Programmen mit 20 Prozent beteiligt. Bezogen auf dieAriane-5-Weiterentwicklung bedeutet das die Bereit-stellung von 100 Millionen DM zusätzlich für die Jahre2000 bis 2003.Weiterhin muß die Bundesregierung die angemesseneBeteiligung Deutschlands am Erdbeobachtungspro-gramm der ESA sicherstellen. In der Erdbeobachtung istdie deutsche Industrie bei Erforschung, Integration unddem Test von kompletten Satellitensystemen federfüh-rend. Dies muß für Wissenschaft wie auch für kommer-zielle Anwendungen weiterentwickelt werden.Auch muß der Aufbau eines europäischen satelliten-gestützten Navigationssystems GNSS unterstützt wer-den. Damit soll die Abhängigkeit von dem amerikani-schen GPS und dem russischen Glonass-System, derenPeilsignale verschlüsselt sind und unter militärischerVerfügungsgewalt stehen, verhindert werden.
Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist eine der for-schungsintensivsten Schlüsselbranchen unserer Volks-wirtschaft. Direkt und indirekt arbeiten 100 000 Men-schen in der deutschen Raumfahrt. Rund 95 Prozent derArbeitsplätze entstehen außerhalb der eigentlichenRaumfahrtindustrie, und zwar vor allem in der mittel-ständischen Wirtschaft. Das bedeutet im Klartext: JederArbeitsplatz in der Raumfahrtindustrie ermöglicht stati-stisch in den Folgemärkten, etwa bei Dienstleistern undEndgeräteherstellern, mehr als zehn weitere Arbeits-plätze.Auf Grund technologischer Innovation ist hier ein be-achtlicher Wachstumsmarkt entstanden, der die Kom-merzialisierung der Raumfahrt ermöglicht und fördert.Besondere Marktpotentiale ergeben sich in den Berei-chen Kommunikation und Satellitentechnik und auch ininterdisziplinären Bereichen wie Mikro- und Optoelek-tronik, Meßsteuer- und Regeltechnik, Robotik undSoftware-Technologie. Hier finden sich hervorragendeZukunfts- und Wachstumsmärkte für deutsche Welt-raumunternehmen. Europaweit setzte diese Branche1997 knapp 5 Milliarden Euro um.Kommerzielle Anwendungen von Satellitennaviga-tion nutzen der Sicherheitspolitik, dem Verkehr, demUmweltschutz und dem Multimedia-Bereich. Vor die-sem Hintergrund ist es eine wichtige Aufgabe der For-schungspolitik, die Arbeitsteilung zwischen öffentlichenund privaten Akteuren für die Zukunft zu definieren undbesonders bei der Anwendung der Satellitentechnik denÜbergang von staatlicher in private Zuständigkeit zuplanen. Für die Erschließung künftiger Märkte sind des-halb gemeinsame Anstrengungen zwischen Staat undWirtschaft in Form einer Private-Public-Partnership er-forderlich.Betrachten wir doch einmal das Ungleichgewicht inden öffentlichen Forschungs- und Entwicklungsbudgetsvon Europa und den USA: Während in den USA 1997mehr als 10,7 Milliarden Euro für die Raumfahrt ausge-geben wurden, waren es in Frankreich 1,86, in Italien0,44 und in Deutschland 0,69 Milliarden Euro. Denamerikanischen Raumfahrtaufwendungen in Höhe vonmehr als 10 Milliarden Euro stehen also knapp 3 Milli-arden Euro auf europäischer Ebene gegenüber.Um der Gefahr eines Substanzverlustes beim tech-nologischen Know-how, aber auch um der zunehmendenAbhängigkeit von den Wettbewerbern in den USA ent-gegenzuwirken, müssen verstärkt europäische Struktu-ren geschaffen werden. Europa muß sich dem interna-tionalen Wettbewerb stellen, indem es seine Kapazitätenweiterentwickelt und gleiche Marktzugangschancenschafft. Die aktuellen Wettbewerbsbedingungen auf denWeltmärkten lassen keine Zweifel darüber zu, daß eineenge Zusammenarbeit in Europa nicht nur eine Chance,sondern eine Überlebensbedingung für die Raumfahrtin-dustrie bedeutet.
Für nahezu alle Großprojekte gilt, daß sie allein in na-tionaler Kompetenz kaum noch mit vertretbarem Auf-wand realisiert werden können, sondern europäische Zu-sammenarbeit erfordern. Im Vergleich zu den wesentlichgeschlossener auftretenden Amerikanern leiden dieEuropäer unter dem vergleichsweise kleinen und zer-splitterten Markt. Die Bereitschaft, Abhängigkeiten ein-Ilse Aigner
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zugehen und Selbständigkeiten aufzugeben, steht einerkonkurrenzfähigen Produktionsstruktur in Europa nochimmer im Wege.Airbus, Arianespace und Eurocopter sind Beispieleerfolgreicher europäischer Zusammenarbeit und einesolide Basis für die Zukunft. Nur eine europäische Luft-und Raumfahrtindustrie, die technologisch anspruchs-volle und finanziell ausreichende Entwicklungsmöglich-keiten hat, ist wettbewerbsfähig und auch für amerikani-sche oder asiatische Partner interessant. Dazu ist einepolitische Flankierung der industriellen Bemühungennotwendig. Eine gemeinsame europäische Raumfahrt-politik muß sich deswegen auch immer als Instrumenteuropäischer Sicherheits-, Wirtschafts- und Verkehrs-politik verstehen.Die USA verstehen die Raumfahrt übrigens auch alsmachtpolitisches Instrument: Das GPS ist zum Beispielauch ein sicherheitspolitisches Instrument. US-ameri-kanische Trägerkapazitäten stehen nur ausländischenKunden zur Verfügung, die politisches „Wohlverhalten“zeigen. Erdbeobachtungsdaten der US-Aufklärung wer-den selbst NATO-Partnern nur in beschränktem Umfangzur Verfügung gestellt. Forschungskooperationen undgemeinsame Technologieentwicklungen können jeder-zeit auf Weisung der US-Regierung gestoppt werden.Immer teurere und komplexere Systeme machen zu-nehmend internationale Kooperationen notwendig. MitRußland, der Ukraine, mittel- und osteuropäischen so-wie einigen fernöstlichen Ländern ergeben sich interes-sante Möglichkeiten der Zusammenarbeit, technologi-sche Kompetenz und Produktionskostenvorteile mitein-ander zu verbinden.Sogar Bundeskanzler Schröder ist sich dieser Not-wendigkeit bewußt. Er sagte kürzlich, anläßlich derÜbergabe des Raumfahrtlabors Spacelab an die DASAam 16. April in Bremen, daß Rußland verstärkt in wis-senschaftliche und technologische Zusammenarbeit ein-gebunden werden müsse, und betonte gleichzeitig, daßdie Bundesregierung alle international eingegangenenVerpflichtungen in der bemannten – oder befrauten –Raumfahrt auch erfüllen werde. Das läßt mich noch hof-fen, Herr Bundeskanzler.Finanzielle Engpässe dürfen nicht dazu führen, daßsich Deutschland von den neusten Entwicklungen ab-koppelt und so den Anschluß an das TechnologiefeldRaumfahrtmarkt verliert.
Deswegen fordern wir die Regierung auf: Auf der Mi-nisterratskonferenz in Brüssel muß eine angemessenefinanzielle deutsche Beteiligung vorgesehen werden.Die europäischen Mitgliedstaaten der ESA benötigen dieversprochene deutsche Unterstützung, um die vorgese-henen Programme politisch und finanziell mitzutragenund verwirklichen zu können.Vielen Dank.
Das Wort hat dieBundesministerin für Bildung und Forschung, FrauEdelgard Bulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Sehr geehrter Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Zwei Ziele bestim-men die Weltraumpolitik der Bundesregierung. Das er-ste Ziel ist, mit den finanziellen Fehlplanungen meinesVorgängers in bezug auf die Weltraumforschung fertigzu werden
– das ist leider so – und die Ministerratstagung zum Er-folg zu führen, ohne den deutschen Beitrag zur Europäi-schen Weltraumorganisation über Gebühr zu erhöhen.Das zweite Ziel ist es – dies ist aus meiner Sicht dasmittelfristig wichtigste Ziel –, Raumfahrt als Dienstlei-stung für exzellente Forschung und für kommerzielleAnwendung zu fördern und dabei mit den Steuermittelnso effizient wie möglich umzugehen.
Die Weltraumforschung hat in der Politik der Bun-desregierung einen hohen Stellenwert. Ich möchte dasan Hand zweier Zahlen deutlich machen: Der Anteil derFörderung der Raumfahrt insgesamt – die Projektför-derung mit ESA, denn auch die ESA-Beiträge sind Pro-jektförderungsmittel, und die institutionelle Förderung –am Forschungshaushalt des BMBF beträgt 16 Prozent.Das ist der weitaus größte Forschungstitel überhaupt.Nur auf die Projektförderung bezogen, beträgt der Anteilder Förderung der Raumfahrtforschung sogar 30 Pro-zent. Das unterstreicht die Priorität der Weltraumfor-schung in diesem Haushalt. Das unterstreicht abergleichzeitig auch das Potential zur Optimierung.Mein Ziel ist es, in der Raumfahrt Strukturen zuschaffen und zu fördern, die eine ganz klare wirtschaftli-che Perspektive haben und eine wissenschaftliche Ex-zellenz ermöglichen. Wenn wir das erreichen wollen,dann stellt sich die Frage, wo das Problem zur Zeit liegt.Das Problem liegt darin, daß 1995 die alte Bundesregie-rung beschlossen hatte, daß Deutschland 41 Prozent derFinanzierung des ESA-Beitrages zur Raumstation über-nimmt. Das ist im übrigen fast doppelt soviel wie unseredurchschnittliche Beteiligung an allen anderen ESA-Programmen. Der deutsche Beitrag zu diesem Projektsteigt demzufolge von 260 Millionen DM 1998 über474 Millionen DM im Jahre 2001 auf sogar 556 Millio-nen DM im Jahre 2003. Das bedeutet einen Anstieg umrund 300 Millionen DM gegenüber 1998, zu dem wirrechtlich verpflichtet sind.
Allein diese Zahlen machen deutlich, daß die Kosten fürdiese Steigerung zum Beispiel höher sind als die Ausga-ben des BMWF für die gesamte Projektförderung imBereich der Biotechnologie im Jahre 2003. Wir sind unsdarüber einig, daß die Biotechnologie auch ein wichtigerZukunftsbereich ist. Das sind keine Peanuts, über dieIlse Aigner
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2798 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
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wir hier reden, zumindest nicht nach meinem Verständ-nis vom Umgang mit Steuermitteln.Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,werden in der Finanzplanung von Herrn Rüttgers kei-nerlei Vorsorge dafür finden, daß sich Deutschland ansinnvollen Projekten wie an der Weiterentwicklung derAriane 5 plus beteiligt.
Sie werden keinerlei finanzielle Vorsorge dafür finden,daß sich Deutschland an der Fortsetzung der Erdbeob-achtung beteiligt. Das ist aus meiner Sicht auch einwichtiges Programm. Das nenne ich, Herr Mayer, eineunsolide Finanzpolitik der alten Bundesregierung, diewir leider auch auf anderen Feldern immer wieder vor-gefunden haben.
Wenn ich mir, Herr Mayer, die letzte von der altenBundesregierung beschlossene mittelfristige Finanzpla-nung anschaue – die Daten liegen ebenso wie die Be-schlüsse vor; sie können Sie alle einsehen –, dann mußich feststellen, daß die alte Bundesregierung ESA-Beiträge in Höhe von 970 Millionen DM bis zum Jahre2001 eingeplant hatte. Dazu ist keinerlei Vorsorge ge-troffen worden.
Wenn Sie, meine Damen und Herren in der Opposition,der jetzigen Regierung vorwerfen, sie lasse die Raum-fahrt im Stich, nachdem Sie in der Vergangenheit mas-siv gekürzt haben und eine Finanzplanung vorgelegt ha-ben, die keinerlei Vorsorge beinhaltet, sondern einfinanzielles Chaos bedeutet, das Sie jetzt kritisieren,dann kann ich nur dazu sagen, daß Sie damit heute IhreTaten von gestern kritisieren. Dazu gehört schon einigesan Chuzpe.
Ich schlage vor, daß wir zu einer sachlichen Ausein-andersetzung zurückkehren, weil ich den Eindruck habe,daß wir in der Zielsetzung in vielen Punkten überein-stimmen. Wir sollten außerdem zu einer sachlichenAuseinandersetzung zurückkehren, weil es wirklich umviel Geld geht, über dessen Verwendung wir miteinan-der entscheiden müssen. Das Geld kann nicht zweimalausgegeben werden.In der Vorbereitung der Ministerratskonferenzder Europäischen Weltraumorganisation am 11. und12. Mai 1999 werden wir versuchen, die wichtigen undsinnvollen Projekte der Raumfahrt zu erhalten. Wirwollen das Wissenschaftsprogramm der ESA weiterfüh-ren. Wir wollen vor allen Dingen eine angemesseneTeilnahme Deutschlands am Projekt „Ariane 5 plus“, fürdas bisher, wie gesagt, überhaupt keinerlei Vorsorge ge-troffen worden ist.
Wir wollen im Rahmen unserer Möglichkeiten auch eineBeteiligung an dem Programm zur Erdbeobachtung.Schließlich müssen wir auch unseren Verpflichtungen inder bemannten Raumfahrt nachkommen.
Es wird nicht einfach sein, dies alles unter einen Hut zubringen. Es wird nur dann funktionieren, wenn alle Be-teiligten daran mitwirken.Wir wollen angemessene Korrekturen, ohne dabeiunsere Verpflichtungen grundsätzlich in Frage zu stel-len. Wir wollen insbesondere nicht, wie es ein Beratereines großen deutschen Raumfahrtkonzerns in einemSchreiben an den Vorsitzenden des Haushaltsausschus-ses vorgeschlagen hat, die Max-Planck-Gesellschaft, dieDeutsche Forschungsgemeinschaft oder die Fraunhofer-Gesellschaft für eine falsch angelegte Raumfahrtpolitikfinanziell büßen lassen.
Wir haben mehr Haushaltsmittel als die Vorgängerregie-rung in unsere mittelfristige Finanzplanung eingestellt.Aber es muß bei einer moderaten Erhöhung bleiben.Ich habe Gespräche mit Vertretern der deutschenWissenschaft und der deutschen Industrie geführt undhabe mich dabei zusammen mit allen Beteiligten darumbemüht, durch Einsparen und Strecken von Mitteln eineLösung für das von der alten Bundesregierung ange-richtete Dilemma zu finden.In Gesprächen mit Frankreich und Großbritannien –in der nächsten Woche folgt noch ein Gespräch mit Bel-gien – habe ich versucht, Lösungen zu finden. All dieseGespräche – das kann ich so zusammenfassen – stim-men mich gedämpft optimistisch, daß wir hier zu einerLösung kommen. Aber ich sage auch ganz deutlich, daßwir noch nicht über den Berg sind.Ich wünsche mir, daß wir eine möglichst parteiüber-greifende Haltung entwickeln können, um unseren Part-nern in der ESA deutlich zu machen, daß wir es mit un-serem Beitrag zur Lösung der Krise ernst meinen, aberauch von unseren Partnern in der ESA einen angemes-senen Beitrag erwarten.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft hat einengrößeren Beitrag zur Bewältigung der anstehenden Auf-gaben zu leisten. Es muß ein Anliegen der Wirtschaftsein, überzeugende Ansätze und Konzepte für innovati-ve Dienstleistungen auf Gebieten wie der Satellitennavi-gation und der Satellitenkommunikation, bei den Träger-raketen und sowie eingeschränkt auch bei der Erdbeob-achtung zu liefern. Bei vorhersehbarer Marktrentabilität,wie es etwa bei der Satellitennavigation ganz klar derFall ist, müssen die Unternehmen eine größere Verant-wortung für die Finanzierung der Programme und eineBeteiligung an den Risiken übernehmen. Die Bündelungder Kräfte, wie sie sich teilweise in der europäischenLuft- und Raumfahrtindustrie vollzieht, schafft hierfürübrigens auch eine gute Voraussetzung.Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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Wachsende Verantwortung sehe ich aber nicht nurauf seiten der Wirtschaft, sondern auch auf seiten derwissenschaftlichen Nutzer. Wir müssen gemeinsamVorschläge entwickeln, wie wir die Eigenverantwortungder Wissenschaft für den Betrieb und die Nutzungraumgestützer wissenschaftlicher Infrastrukturen stärkenkönnen. Die Raumfahrtinvestitionen insgesamt müssensich stärker am Bedarf der fachlichen Nutzer ausrichten.Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, zweiZiele bestimmten unsere Weltraumpolitik. Wenn das er-ste Ziel sein muß, nach der Fehlentwicklung auf der Mi-nisterratstagung von 1995 und nach der gescheitertenMinisterratstagung im Jahr 1998 in diesem Jahr zu einerfür alle Beteiligten akzeptablen Lösung zu kommen, solautet das zweite und eigentliche Ziel: Wir wollenRaumfahrt als Dienstleistung für exzellente Forschungund für kommerziell nutzbare Anwendungen. Wir wol-len keine politischen Luxusprojekte, sondern wir wollenwissenschaftlich und wirtschaftlich sinnvolle Projekte.Dazu brauchen wir mittelfristig einen neuen Ansatz so-wohl in der ESA als auch in der nationalen Raumfahrt-politik.Alle Projekte in der Raumfahrt müssen sich densel-ben Kriterien wie Projekte in anderen Bildungs- undForschungsbereichen unterwerfen. Diese Kriterien sind:wissenschaftliche Qualität im richtigen Verhältnis zufinanziellem Aufwand und kommerziellem Nutzen. Dasrichtige Verhältnis, das ich meine, sollte auch eine an-gemessene Beteiligung der industriellen Nutznießer wi-derspiegeln.Experimente unter Schwerelosigkeit ja, aber alles,was im Raum mit Robotern billiger als mit Menschen zumachen ist, sollten wir den Robotern überlassen. Siebrauchen jedenfalls keine immens teuren Lebenserhal-tungssysteme und erzielen in vielen Fällen den gleichenEffekt zu wesentlich niedrigeren Kosten. Darüber hinaus– auch das ist dabei ein wichtiges Ziel – können solcheTechnologien auch auf der Erde nutzbringend ange-wandt werden, wie man gerade jetzt auf der Industrie-messe gut beobachten kann; ich denke beispielsweise andie Fernwartung. Raumfahrt muß rational und nicht nurals Medienschau von Astronauten geplant werden, auchwenn ich deren Leistung sehr wohl anerkenne und re-spektiere.
Erdbeobachtung zur Klimaforschung ja, aber auchhier in Relation zu anderen Aufwendungen und Not-wendigkeiten, beispielsweise zu der notwendigen Be-schaffung von Höchstleistungsrechnern, um Klimamo-delle effizienter und aussagekräftiger zu machen.
Frau Bundesmi-
nisterin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Thomas Rachel?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Selbstverständlich.
Frau Ministerin, Sie
haben deutlich zu machen versucht, daß das Neue an Ih-
rer Politik darin bestehe, im Bereich der Raumfahrt kein
Medienspektakel für Astronauten zu organisieren und
zugleich zu einer rationellen, durchgerechneten Raum-
fahrtpolitik zu kommen. Wie verträgt sich das damit,
daß sich Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einem
riesigen Medienzirkus beim Empfang des US-
Astronautenveteranen John Glenn im Kanzleramt hat
feiern und ablichten lassen, während Sie dabei sind, den
Raumfahrthaushalt zu kürzen?
Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß die Ministerratskon-
ferenz von 1995 der ESA, die Sie gerade kritisiert ha-
ben, auf Grund der Initiative Ihres Vorgängers, Jürgen
Rüttgers, dazu geführt hat, daß das sogenannte Konzept
„design to budget“ eingeführt wurde, daß also im Be-
reich der Raumfahrt wirtschaftlich gehandelt werden
muß? Ist Ihnen ferner bekannt, daß dieses Konzept
schon ganz konkrete Folgen aufweist? Denn der Rönt-
genastronomie-Satellit Abrixas, der am 28. dieses Mo-
nats in das Orbit gesandt wird, wird einen um einen
Faktor 10 niedrigeren Kostenaufwand als der Vorgänger
Rosat haben. Das heißt: Wir befinden uns auf einem
wirtschaftlich vernünftigen Kurs. Ich finde es insofern
etwas billig – das müssen Sie selbst einräumen –, daß
Sie diese politische Wende hin zu einer vernünftigen
Raumfahrtpolitik plötzlich in Frage stellen.
Herr Kollege Ra-
chel, Sie haben sich zu einer Zwischenfrage gemeldet.
Das waren drei Fra-
gen: ob ihr das bekannt ist.
Herr Kollege Ra-chel, ich möchte keine Diskussion mit Ihnen führen.Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung undForschung.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Herr Kollege Rachel, erstens ist esfalsch, daß ich den Weltraumtitel kürze. Im Gegenteil:Ich erhöhe ihn gegenüber der mittelfristigen Finanzpla-nung der alten Bundesregierung.Zweitens besteht das wichtigste Ziel meiner Politikim Unterschied zur alten Regierung darin, daß ich dieWeltraumforschung insgesamt auf die beiden Ziele wis-senschaftliche Exzellenz und kommerzielle Nutzungausrichten möchte. Ich bin sehr davon angetan, daß die-se Zielsetzung in einem Gespräch mit den Vertretern derdeutschen Industrie wie auch mit den Vertretern derWissenschaftsorganisationen auf eine sehr positive Re-sonanz gestoßen ist und daß sich alle Beteiligten darineinig waren, daß meine Vorschläge einen sinnvollenWeg darstellen.
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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2800 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
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Herr Kollege Rachel, ich möchte auch Ihre weiterenFragen beantworten. Ich bin durchaus der Auffassung,daß die Verwirklichung des Konzepts „design to bud-get“ ein wichtiges Ziel ist, das leider noch nicht erreichtworden ist. Ich gehe nachher noch auf diesen Punkt ein.Ich habe vorhin schon gesagt, daß es mir wichtig ist,daß das gesamte Parlament der ESA gegenüber deutlichmacht, daß wir nicht gewillt sind, hinzunehmen, daß dieESA die Finanzplanung überschreitet, so wie das leiderimmer wieder der Fall gewesen ist, und daß wir nichtgewillt sind, den hohen Anteil der administrativen Ko-sten der ESA weiterhin hinzunehmen. Es wäre mir sehrlieb, wenn man in diesem Punkt eine breite Überein-stimmung im Parlament erreichen könnte, was bishereigentlich immer der Fall war.
Diese Ziele sind gegenüber der ESA leider immernoch nicht durchgesetzt worden. Sie werden aber nichtnur von der deutschen Regierung, sondern auch von un-seren europäischen Partnern verfolgt. Ich würde es fürziemlich fatal halten, wenn man von diesen Zielen mitdem Verweis, daß sie vereinbart, leider aber noch nichterreicht worden seien, Abstand nehmen würde.Auch ich selbst habe den Astronauten Glenn empfan-gen, weil ich seine persönliche Leistung durchaus aner-kenne.
Ich bin der Meinung, daß wir in der Weltraumfor-schung insgesamt – auch das ist eine Einschätzung, dieunsere Partner teilen – die kommerziellen Marktchancenbesser nutzen müssen, als das in der Vergangenheit derFall gewesen ist. Diese Nutzungsmöglichkeiten liegenvor allen Dingen im Bereich der Telekommunikations-satelliten und der Navigationssatelliten. Ich halte es fürfatal – ich sage ganz offen: ich finde es bedauerlich, aberes ist leider so –, daß Europa gerade in diesen wichtigenAnwendungsbereichen im Grunde genommen zehn Jah-re verspielt hat. Ich hätte mir gewünscht, daß wir schonEnde der achtziger Jahre – wir haben häufig im Parla-ment miteinander darüber diskutiert – diese Priorität ge-setzt hätten.
Das war leider bei den damaligen Mehrheitsverhältnis-sen nicht möglich.Ich hoffe aber, daß wir jetzt die richtige Weichen-stellung vornehmen; denn wir wollen die Steuermittelauch zum Nutzen der Menschheit einsetzen. Dazu ge-hört sowohl die Nutzung von Telekommunikation undErdbeobachtung wie auch die Grundlagenforschung.
Meine Damen und Herren, Erdbeobachtung zurKlimaforschung, ja, das ist ein wichtiges Ziel. Aber die-ses Ziel muß in Relation zu Aufwendungen und Not-wendigkeiten stehen. Grundlagenforschung – dies ha-be ich schon in meiner Antwort auf die Zwischenfragegesagt – ja, denn der Weltraum ist eines der wichtigstenThemen für Erkenntnisse über physikalische Zusam-menhänge unserer Welt und damit über die Entstehungdes Weltalls. Auch dafür müssen wir Finanzmittel be-reitstellen.Kommerzielle Anwendungen der Raumfahrt, bei-spielsweise bei der Satellitennavigation: ja, das wollenwir im Rahmen einer Public-Private-Partnership. Ichhoffe, daß es uns bei Galileo wirklich gelingt, das jetztendlich zu machen und nicht nur darüber zu reden. Ichmeine eine Public-Private-Partnership, bei der die Nut-zer der Satellitennavigation das Raumfahrtsegment ent-scheidend mitfinanzieren und die öffentliche Hand dieRahmenbedingungen schafft, die wir dafür brauchen.Trägerraketen: ja, aber mit einer unternehmerischenPerspektive und finanzieller Mitverantwortung der Indu-strie in der Entwicklung.
Meine Damen und Herren, das sind unsere Prioritä-ten. Wir werden diese Prioritäten nur dann erfüllen kön-nen, wenn die Forschung bei der Prioritätensetzungmitwirkt. Das gilt vor allem bei der Entscheidung, obProjekte besser durch die Raumfahrt oder ob sie besserauf der Erde durchgeführt werden können. Dieses Zielläßt sich zur Zeit im Rahmen der eingefahrenen Spielre-geln der ESA – in der Bundesrepublik ist das im übrigenetwas anders – nur äußerst mühsam erreichen. Wir wer-den die Vorhaben nur dann verwirklichen können, wennunsere Unternehmen Prioritäten dort setzen, wo sichneue Märkte mit interessanten wirtschaftlichen Perspek-tiven entwickeln. Schließlich werden wir diese Prioritä-ten nur erfüllen, wenn die Europäische Weltraumorgani-sation für Reformen offen ist, um die Entscheidungssi-tuation transparent und nachvollziehbar zu machen undum das, was als Ziel beschrieben worden ist, endlich er-reichen zu können.Ich möchte ein Zitat vortragen, das aus meiner Sichtnoch immer die Situation beschreibt:Die ESA kennt unsere Anforderungen. Bislang ha-be ich allerdings nicht den Eindruck, daß sie dieBrisanz dieser Fragen und dieses Anliegens voll-ständig erkannt hat und mit dem notwendigenNachdruck arbeitet.Dieses Zitat stammt aus der Rede meines Vorgängers indiesem Amt aus der Bundestagsdebatte vom 29. März1995. Leider trifft es nach wie vor den Punkt.Lassen Sie uns gemeinsam an den notwendigen Kor-rekturen arbeiten, damit wir den Steuerzahlern gutenGewissens sagen können: Wir gehen sparsam mit euremGeld um. Wir investieren es in Projekte, die für denFortschritt der Wissenschaft notwendig sind, für unserewirtschaftliche, gesellschaftliche und technologischeEntwicklung Sinn machen und deshalb Priorität erhaltenmüssen. Das, meine Herren und Damen, nenne ich einerationale Politik auf dem Gebiet der Weltraumfor-schung. Dafür werbe ich um Unterstützung.Vielen Dank.
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Dr. Martin Mayer das
Wort, bitte sehr. – Sie dürfen dann antworten, Frau
Ministerin, wenn Sie möchten.
– Dürfen, nicht müssen!
Frau
Bundesministerin, Sie haben die Raumfahrtpolitik der
alten Bundesregierung in scharfer Weise kritisiert und
dabei auch mich als Mitglied der damaligen Regie-
rungskoalition angesprochen. Das ist ja die alte Platte.
Dazu möchte ich drei Bemerkungen machen.
Erstens. Sie könnten den Haushalt, den wir in der
nächsten Sitzungswoche verabschieden, nicht so gestal-
ten, wenn nicht die Regierung Kohl/Waigel
durch ihre solide Finanz- und Wirtschaftspolitik
die Grundlage dafür gelegt hätte, daß die Steuereinnah-
men wieder besser sprudeln.
Zweitens. In der europäischen Raumfahrtpolitik gab
es gerade in den letzten zehn Jahren einen Umbruch zu
bewältigen, der beispiellos ist und der dadurch bedingt
ist, daß sich die Verhältnisse in der Welt gewandelt ha-
ben und daß Europa von einer autarken Weltraumpolitik
Abschied genommen und sich in die internationalen
Verbünde integriert hat.
Drittens. Es ist Aufgabe der Regierung, die Prioritä-
ten im einzelnen zu setzen. Sie haben vorhin von Zu-
kunftstechnologien und von der Zukunft in der Raum-
fahrt gesprochen. Es ist absolut unverständlich, daß sich
die Bundesrepublik Deutschland offenbar nicht an der
Fortführung der Entwicklung der zentralen Zukunfts-
technologie der Raumtransportsysteme – ich meine die
wiederverwendbaren Systeme – beteiligt.
Sie reden von Zukunft, aber in Wirklichkeit verspie-
len Sie die Zukunft!
Frau Ministerin, Sie
möchten antworten? – Bitte sehr.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ich bringe nur die notwendige Geduld
auf, die wir – das wissen Sie doch seit langem, Herr Hir-
che – bei dieser Technik haben müssen. Geduld muß
man in der Politik manchmal auch haben.
Herr Mayer, es ist falsch, wenn Sie sagen, die Bun-
desrepublik wolle sich nicht an der Weiterentwicklung
der Trägertechnologien beteiligen. Gerade weil ich das
will, habe ich Gespräche mit den Unternehmen, mit der
Wirtschaft, mit den Wissenschaftsorganisationen und
auch mit den europäischen Partnerländern geführt.
Leider ist es aber so, daß die alte Bundesregierung
keinerlei finanzielle Vorsorge für die Beteiligung an die-
sen Projekten getroffen hat. Deshalb muß ich dieses un-
geordnete Erbe – dabei handelt es sich im übrigen um
das Zitat eines Unternehmens – jetzt ordnen. Ich glaube,
daß das gelingen kann und auch gelingen wird; denn ich
habe den Eindruck, daß alle Beteiligten bereit sind, da-
bei mitzumachen. Wir übernehmen unseren Teil der
Verantwortung. Die anderen Beteiligten – Wirtschaft,
ESA-Partner und Wissenschaftsorganisationen – müssen
ihren Teil der Verantwortung übernehmen.
Einen kleinen letzten Hinweis kann ich mir nicht ver-
kneifen, Herr Mayer. Als Sie über das finanzielle Erbe
sprachen und sagten, wie gut dies geordnet sei, lachte
nicht nur die Koalition, sondern auch eine ganze Reihe
von Oppositionsabgeordneten.
Ich kann Ihnen nur sagen: In diesem Feld habe ich
wirklich ein ungeordnetes Erbe vorgefunden. Es wird
sehr schwierig sein, dieses Erbe so zu ordnen, daß wir
wichtige Chancen nicht verspielen. Da ich dies verhin-
dern möchte, haben wir diese Gespräche geführt. Daher
werde ich auch bei den ESA-Verhandlungen zu errei-
chen versuchen, daß wir zu einer Verständigung kom-
men, damit die Beteiligung an der Weiterentwicklung
der Ariane gewährleistet ist, damit wir uns an der Erd-
beobachtung entsprechend beteiligen können – dies
halte ich ebenfalls für ein wichtiges Feld –, damit wir
das Wissenschaftsprogramm fortführen können und da-
mit wir – so, wie ich es gesagt habe – in Zukunft wirk-
lich ein verläßlicher ESA-Partner sind, und zwar nicht
nur auf dem Papier, sondern auch in der konkreten
finanziellen Planung.
Vielen Dank.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Bündnis 90/Die Grünen stehen zur Raumfahrt. Siewerden vielleicht staunen, meine Damen und Herrenvon der Opposition. Wir sind nicht technikfeindlich, wieSie der Öffentlichkeit immer wieder weismachen wol-len.
Allerdings – das unterscheidet uns von der blindenTechnikhörigkeit der vergangenen Jahrzehnte – habenwir andere, sehr gut begründete Bewertungsmaßstäbe.Andere Gewichtungen in der Raumfahrt werden uns
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2802 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
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auch zu anderen Schwerpunktsetzungen bei der Mittel-vergabe führen.Unverzichtbar ist für uns die Erderkundung ausdem Weltall.
Erdbeobachtungen von Satelliten geben uns umfassendund dringend benötigte Daten für die Umweltverände-rungen und die Umweltzerstörungen auf dieser Erde.
In Umweltkonferenzen, zum Beispiel zum Klimaschutz,sind durch Satelliten gewonnene Daten eine wichtigeVerhandlungsgrundlage. Dieses Feld einfach anderenStaaten zu überlassen hieße, die eigene Verhandlungs-position zu schwächen. Damit würde im Falle der jetzi-gen Bundesregierung ein bedeutender Anwalt der Um-welt in eine ungünstige Verhandlungsposition gebracht.Auch die Landwirtschaft und die Entwicklungshilfeprofitieren in zunehmenden Maße von der Satelliten-technik. Die Grundlagenforschung für die Stillung desmenschlichen Wissensdurstes gibt wichtige Rückschlüs-se auf die Stellung des Menschen im Universum. Span-nende Fragen stellen sich bei der Erkundung des Plane-tensystems und beim Blick in die Tiefen des Alls. Be-sonders positive Beispiele astronomischer Grundlagen-forschung sind das Weltraumteleskop Hubble oder derneue Röntgensatellit. Allerdings ist bei der Stillung die-ses Wissensdurstes darauf zu achten, daß wir das Lebenauf der Erde nicht gefährden.Ein besonders negatives Beispiel, das die alte Bun-desregierung mit zu verantworten hat, ist die Verwen-dung von Plutonium in Raumsonden. Cassini wird imAugust beim Swing-by-Manöver um die Erde Leben aufdiesem Planeten gefährden. Die bestehende Gefahr einerradioaktiven Verseuchung legt den Gedanken nahe, dieSonde besser in die Sonne umzuleiten, als ein großes Ri-siko einzugehen. Es war schon unverantwortlich, dieseSonde zu bauen und zu starten. Entweder hätte die alteBundesregierung auf Alternativantriebe setzen sollenoder so lange warten müssen, bis adäquate Antriebe zurVerfügung stehen.Als Erblast der alten Bundesregierung hat die be-mannte Raumfahrt einen finanziellen Stellenwert, derihr unter dem Gesichtspunkt des wissenschaftlichenNutzens nicht zusteht. Daran werden wir leider nichtsändern können, da wir die völkerrechtlich verbindlichenVerträge einhalten müssen. Angesichts knapper Haus-haltskassen stehen alle Ausgaben unter einem hohen Le-gitimationszwang. Ausgaben mit geringer Nutzungseffi-zienz sind gegenüber dem Steuerzahler schwer zu recht-fertigen.
Der Bürger fordert mit Recht, daß sein Geld so sinn-voll wie möglich ausgegeben wird.
– Hören Sie nur zu! – Wir sollten daher jeden noch sokleinen Spielraum nutzen, die Kosten für die Raumsta-tion zu senken. Notfalls sollte auch zeitweise auf eineNutzung verzichtet werden, bevor man, etwas polemischausgedrückt, anfängt, Astronauten Tischtennis spielenzu lassen, um die Flugbahn des Balles unter der Bedin-gung der Mikrogravitation beobachten zu können.
Ich will damit nicht in Zweifel ziehen, daß es selbst-verständlich auch in der Raumstation sinnvolle Forschunggibt. Ich bin Ihnen, meine Damen und Herren von derCDU/CSU, dankbar, daß Sie die Diskussion über die Zu-kunft der Weltraumfahrt mit Ihrem Antrag ein Stück weitwieder in Gang gebracht haben. Aber leider geht Ihr An-trag in die falsche Richtung. Falsche Schwerpunktsetzun-gen der Vergangenheit sollen nochmals verstärkt werden.Sie treten dafür ein, daß der Staat immense Summen indie Weltraumtechnik investiert, die Industrie sich überGeschenke der Politik freut und die Frage nach dem ge-sellschaftlichen Nutzen nicht gestellt wird.In der deutschen Raumfahrtpolitik hat es Tradition,daß weitreichende Entscheidungen über Programme mitlangfristigen Bindungswirkungen auf unzureichender In-formationsbasis gefällt wurden. Insbesondere das Par-lament als eigentlicher Souverän verfügte allenfalls überbruchstückhaftes und oftmals selektiv aufbereitetes Wis-sen. Dies wird die neue Bundesregierung ändern.
Es werden unter anderem Entscheidungen getroffenüber die Nutzung sowie den weiteren Ausbau der Raum-stationen, über die Weiterentwicklung der Ariane-5-Rakete, über die Entwicklung künftiger Raumtransport-systeme, was früher unter den Schlagworten „Hermes“und „Sänger“ lief. Die Forderungen der ESA bergen er-hebliche finanzielle Risiken, die die Bundesregierungzum Glück für die Steuerzahler und die Forschungsland-schaft nicht eingehen wird. Ich werde die Probleme imfolgenden einzeln ansprechen.Die Raumstation hat aus forschungspolitischer Sichtkeine Priorität. Die Effizienz der eingesetzten For-schungsmittel ist gering. Von der Kernfusion vielleichtabgesehen, gibt es wohl kaum einen Bereich, in dem fürjede Forschungsmark weniger Forschungsoutput erwar-tet werden kann.
Die Überlegungen der Bundesregierung, hier Kosteneinzusparen, werden daher von unserer Fraktion aus-drücklich begrüßt.
– Nicht vollständig. Wir wollen eine Senkung derMittel.
Hans-Josef Fell
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– Hören Sie zu, ich gehe weiter darauf ein. – Ich hoffesehr, daß die Entscheidung der alten Bundesregierung,einen zu großen deutschen Finanzierungsanteil zu über-nehmen, gemeinsam mit den europäischen Partnernnoch nach unten korrigiert werden kann.So lautet meine Antwort: Wir sind nicht strikt dage-gen; wir wollen nur geringere Mittel, eine Streckungdieser Aufwendungen über einen längeren Zeitraumhinweg, damit dieser Finanzierungsbuckel im wesentli-chen in den Griff bekommen werden kann.
– Sie ist ja teilweise schon oben, wie Sie wissen.Zur Ariane. Die staatliche Finanzierung der Weiter-entwicklung sollte so gering wie möglich ausfallen. Esist zu begrüßen, daß die Regierung auch hier die Kostensenken will. Die Industrie – da sind wir uns einig – mußstärker an den Kosten beteiligt werden. Zu einem Zeit-punkt, an dem die Ariane 4 Gewinne abwirft und dieAmerikaner die Finanzierung ihrer Trägersysteme mehrund mehr privatisieren, sollte auch die europäische In-dustrie ihren Beitrag leisten und nicht nur die Hand auf-halten. Die Gegenfinanzierung der Forderungen in Ih-rem Antrag ist vollkommen unklar. Bezeichnenderweiseist davon in Ihrem Antrag auch gar keine Rede. Sicherist nur das eine, daß an anderer Stelle Forschungsmitteleingespart werden müßten. 100 Millionen DM in derForschung einzusparen – so hoch läge nach Ihren Forde-rungen der jährliche Aufwuchs mindestens – hieße, daßsinnvolle andere Forschungsmaßnahmen mit hoherWahrscheinlichkeit nicht durchgeführt werden.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Oppo-sition, wollen, daß die Mittel für die Erderkundung ge-strichen werden, dann sagen Sie das auch. Sagen Sie unsaber wenigstens, wo Sie die Schwerpunkte in der Finan-zierung setzen.
– Es geht angesichts knapper Haushaltsmittel einfachnicht an, daß für einen Bereich ein übermäßiger Auf-wuchs vorgesehen wird, der nicht finanzierbar ist.
Wir haben die Forschungsmittel erhöht und werdensie sinnvoll auch in Technologien einsetzen, wo wireinen Aufwuchs wünschen.
Ich nenne Ihnen beispielsweise neue Energieträger,Brennstoffzellen und vieles andere mehr, was Sie jaauch wünschen. Aber wo Sie die Mittel für die Gegen-finanzierung herbekommen, ist mir unklar.
Auf der Tagesordnung der Ministerratskonferenzsteht auch die Entwicklung weiterer Raumfahrttrans-portsysteme. Was sich hier so unscheinbar liest, isteigentlich – ich erwähnte es schon – die klammheim-liche Wiederauferstehung der Raumtransporter Hermesund Sänger. Mit gutem Grund wurden beide Projektenach einer intensiv geführten Diskussion in den 90erJahren bereits beerdigt. Nun soll es anscheinend ohneDiskussion zu einem neuen Anlauf kommen. Mit derunscheinbaren Bezeichnung Atmospheric Reatmosphe-ric Administrator soll der Einstieg gelingen. Statt übersolche weitreichenden und unglaublich teuren Projekteim vorhinein zu diskutieren und zu entscheiden, verfol-gen Sie hier eine Salamitaktik. Schritt für Schritt soll andie Transportsysteme herangegangen werden. Mansteigt mit ein paar Dutzend Millionen ein, geht dann aufeinige hundert Millionen und zielt auf einige Milliardenab. Wenn wir hier nicht aufpassen, werden die Kostensteigen wie eine Rakete.Hermes, der Traum der Franzosen, und Sänger, derTraum deutscher Technokraten, dürfen nicht durch dieHintertür eingeführt werden. Entweder will man dieseSysteme, dann soll man das auch laut sagen und zurDiskussion stellen, oder man will sie nicht, dann sollman auch kein Geld in sie investieren. Die Bundesregie-rung tut daher gut daran, hier keine Gelder zu ver-schwenden.
Bündnis 90/Die Grünen empfehlen der Bundesregie-rung, die Ausgaben für die bemannte Raumfahrt mög-lichst niedrig zu halten, um Spielräume für eine nach-haltige Forschungspolitik zu lassen. Konkret bedeutetdies:
– Aber sehr.
– Aber nicht im Detail.
Die Bundesregierung sollte versuchen, einen degres-siven Finanzierungsmodus für die Raumstation durchzu-setzen, der eine jährliche Kürzung der Mittel um 5 bis10 Prozent beinhaltet. Damit werden wir Anreize füreine stärkere Anwendungsorientierung sowie für diekommerzielle Nutzung der Raumstation geben.Nach 16 Jahren Raumfahrtpolitik, die von übertriebe-nen und teuren Projekten geprägt war, ist es an der Zeit,neue Akzente zu setzen. Im Sinne einer modernen For-schungs- und Innovationspolitik sollte die Bundesregie-rung einen Dialog mit Herstellern und Nutzern vonRaumfahrtsystemen initiieren, um auf diese Weise zu-kunftsfähige Szenarien für die Entwicklung und Nut-zung von Raumfahrtechnik zu entwickeln. Ich weiß, daßSie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und F.D.P., mir grundlos Technikfeindlichkeitvorwerfen. Technik ist elementar, und dies gilt auch fürTeile der Weltraumfahrt. Wir wollen nur, daß die For-Hans-Josef Fell
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schungsmittel dort eingesetzt werden, wo sie helfenkönnen, Probleme zu lösen.Folgende Felder der Weltraumforschung – ichhatte sie eingangs bereits angerissen – halten wir für be-sonders wichtig: erstens die Atmosphären- und Klima-forschung, die wichtige Beiträge zur Diagnose von Kli-maveränderungen oder auch zur Wettervorhersage bei-steuern kann; zweitens die Erdbeobachtung, die unteranderem zur Diagnose von ökologierelevanten Prozes-sen genutzt werden kann. Dort, wo Flugzeuge die Beob-achtungstätigkeit effizienter gestalten können, solltendiese aber Priorität haben, weil sie billiger sind.In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Ent-wicklung von Solarbetrieben in Flugzeugen zur Erder-kundung in den USA hinweisen. Es ist grundsätzlichsinnvoll, die Nutzer an den Kosten zu beteiligen. ImFalle des BMU und BMZ bestehen aber keine finan-ziellen Spielräume, um die mitunter hohen Kosten dek-ken zu können. Hier muß die Bundesregierung insge-samt Vorsorge leisten und darf nicht einfach eine Mit-telverschiebung vom Forschungsministerium zum Um-weltministerium verlangen. Ansonsten besteht die Ge-fahr, daß die Erdbeobachtung und Klimaforschung nichtmehr finanziert werden können.Drittens. Die extraterrestrische Forschung, die zurErweiterung unseres Wissens über unser Planetensystemund den Weltraum beiträgt, halten wir für nötig. DasWissensbedürfnis des Menschen in diesem Bereich istso tiefgehend, daß es ein Armutszeugnis wäre, auf die-ses Engagement zu verzichten.Ich denke, wir vom Bündnis 90/Die Grünen haltendie Raumfahrt für wichtig und zukunftsträchtig. DieSchwerpunkte müssen allerdings am Nutzen für dieMenschheit ausgerichtet werden. Daher werden wir denAntrag der CDU/CSU für ein undifferenziertes Fordernnach dem technisch Machbaren, ohne daß Sie sich Ge-danken gemacht hätten, wo angesichts knapper Haus-haltskassen sinnvolle Schwerpunkte zu setzen wären,
nicht unterstützen. Statt dessen werden wir Frau Bul-mahn in ihrem Bemühen unterstützen, die Raumfahrt-politik der neuen Bundesregierung effizienter aus-zurichten, als es in den letzten zehn Jahren geschehenist.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Jürgen Möllemann, F.D.P.-
Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Bundes-tagsfraktion hatte bereits am 2. März dieses Jahres dieBundesregierung aufgefordert, die Leistungen an dieeuropäische Weltraumorganisation im Haushaltsplan1999 um 50 Millionen DM zu erhöhen. Der Antrag derCDU/CSU folgt dieser parlamentarischen Initiative derF.D.P. Das begrüße ich naturgemäß.
Ich hoffe, daß dem auch entsprochen wird.Es ist jetzt gerade wieder deutlich geworden, natür-lich auch durch die Publikationen in den vergangenenWochen und durch Einlassungen mehr oder weniger di-rekter Art in den Ausschüssen – ich denke an den ge-schätzten Kollegen Fischer, der uns gleich noch seineBesorgnisse vortragen wird –, daß es bei dem Thema,um das es hier geht, innerhalb der rotgrünen Regierungund der Koalition doch beachtliche Meinungsverschie-denheiten gibt. Herr Fell, auf eine solche Aussage, daßSie die Ministerin sehr, aber nicht im Detail unterstüt-zen, muß man erst kommen. So kann man es auch sagen.Das ist, glaube ich, das Leitmotiv dieser Tage, von FrauAltmann über Herrn Trittin bis zu Ihnen, daß Sie dieMinisterin sehr unterstützen, aber leider nicht im Detail.
– Es wird noch schlimmer. Wollen Sie das noch nähererklären?Frau Bulmahn hat zu Beginn ihrer Ministerzeit be-dauert, daß sich die frühere Entscheidung nicht rück-gängig machen ließe, einen erheblichen Teil der verfüg-baren Mittel in die bemannte Raumfahrt zu stecken.Sie haben, Frau Bulmahn, keinen Zweifel daran auf-kommen lassen, daß Sie jedenfalls von der bemanntenRaumfahrt nichts halten, auch wenn Sie heute angefan-gen haben, nach dem Motto „Und sie bewegt sich doch“hier argumentativ als Raumgleiter in Erscheinung zutreten.
Bei der feierlichen Übergabe des ersten Raumfahrtla-bors Spacelab am 16. April hat der Bundeskanzler ver-sprochen, daß die Bundesregierung gegenüber der be-mannten Raumfahrt „alle internationalen Verpflichtun-gen, die wir eingegangen sind, auch erfüllen wird“ –nicht einige und das eine oder andere Detail nicht, son-dern alle. Deswegen wird er sich entscheiden müssen,ob er sein Versprechen halten will, das er gegeben hat,oder seine Ministerin.
– Es geht nicht, daß man sich im Rahmen von interna-tionalen Konferenzen oder feierlichen Anlässen ohneWenn und Aber – manchmal auch ohne Wenn und „La-ber“ – hinter bestimmte Verpflichtungen stellt und dann,wenn es konkret wird, davon spricht, im Detail meineman das nicht ganz so. Das beschädigt unsere Interes-sen.
Hans-Josef Fell
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(D)
Frau Kollegin Bulmahn, die Weltraumforschung,auch die bemannte Weltraumfahrt, ist – um Sie zu zitie-ren – kein „Spielzeug für große Jungs“,
sondern ein Kernbereich unserer zukünftigen Wettbe-werbsfähigkeit in vielen Bereichen, zum Beispiel in derSatellitenkommunikation und Satellitennavigation.Sie hat auch für unsere Sicherheitspolitik eine strategi-sche Bedeutung.Wir sind in diesen Tagen beispielsweise im Kosovo –wir diskutieren darüber manchmal ein wenig verklausu-liert – auf die Aufklärung unsererseits durch langsamfliegende Drohnen angewiesen. Amerika hat ganz ande-re Übersichtsmöglichkeiten. Ich habe auch nach denEinlassungen von Verteidigungsminister Scharping dasGefühl, daß eben doch nicht alle über die gleichen In-formationen verfügen können. Europa ist trotz allerLoyalität im Bündnis gut beraten, sich den gleichenErkenntnisstand selbst zu verschaffen. Das geschiehtparallel zur Umsetzung der Idee einer europäischenSicherheitspolitik.
Die Wettbewerbsfähigkeit wird in Zukunft immer mehrdavon abhängen, wer auf der Welt einen Informations-vorsprung hat. Das gilt nicht nur für fast alle Wirt-schaftsbereiche, sondern auch für die Sicherheitspolitik.Deswegen hat sie einen so hohen Stellenwert.Herr Fell, ich denke, es war nicht Ihre Absicht, aberSie haben indirekt darauf hingewiesen, was Ihr Problemund das Ihrer ganzen Koalition ist. Sie haben verspro-chen – Ihr größerer Partner mehr als Sie, aber Sie indi-rekt auch – und für die Zeit nach den Wahlen angekün-digt, Sie würden die Mittel für investive Aufgaben, dieZukunftsinvestitionen im Bereich von Bildung und For-schung, verdoppeln. Wenn der Bereich, von dem wirjetzt sprechen, keine Zukunftsinvestition im Sinne IhrerDefinition ist, dann wüßte ich gerne, was eineZukunftsinvestition ist.Sie sind überhaupt nicht auf dem Wege, Mittel in die-sem Bereich zu verdoppeln. Sie sagen sogar, wer in die-sem Bereich eine Erhöhung der Mittel fordere, müsse inanderen Bereichen des gleichen Komplexes kürzen. –Das ist doch keine neue Prioritätensetzung.
Wenn Sie das gemeint haben, als Sie Ihren Wählerinnenund Wählern gesagt haben: „Wenn wir an der Regierungsind, werden wir die Mittel für Zukunftsinvestitionen imBildungs- und Forschungsbereich verdoppeln“ und Siejetzt die Mittel innerhalb dieses Bereichs nur hin- undherschieben, dann ist das nicht in Ordnung. Das ist un-redlich.Wir werden Sie auf jedem anderen Gebiet immerwieder an Ihr Versprechen erinnern müssen. Man kannnicht mit einem an die Jugend, an die Wissenschaft undan die Forschung gerichteten Versprechen die Wählerfür sich gewinnen und anschließend nur mit Ausredenkommen.
– Sie haben dieses Versprechen gegeben. Sie werdendaran gemessen. Kommen Sie doch nicht damit, zu sa-gen: Andere haben dies und jenes getan. – Das habenSie doch kritisiert. Sie halten sich nicht an Ihr Verspre-chen. Herr Fell war so freundlich, direkt darauf hinzu-weisen und zu sagen, jedwede Steigerung in dem hierzur Rede stehenden Bereich müsse im Bildungs- undForschungsetat zu Kürzungen führen. Das ist Kraftlo-sigkeit. Das ist außerdem Unredlichkeit angesichts des-sen, was Sie angekündigt haben.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Aber selbstver-
ständlich.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Lieber Herr Kollege Möllemann,
halten Sie eine Erhöhung der Mittel in diesem Jahr im
Bildungs- und Forschungsbereich um rund 900 Millio-
nen DM tatsächlich für unredlich angesichts dessen, daß
in den letzten Jahren unter Ihrer Regierungsverantwor-
tung keine Erhöhung, sondern eine Kürzung stattgefun-
den hat und daß die neue Regierung hiermit ein heraus-
ragendes Signal gesetzt hat, das in dieser Form in den
letzten Jahren nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen war?
Frau Präsidentin,
ich möchte mich kurz vergewissern: Ich habe doch die
Geschäftsordnung richtig in Erinnerung, daß eine solche
Frage und meine Antwort darauf nicht auf meine Rede-
zeit angerechnet werden?
– Das ist gut. Deswegen möchte ich Ihre Frage gründ-
lich beantworten.
Es sei denn, daß Sie
Ihre Ausführungen so unendlich ausdehnen, daß ich
meine, die Frage sei beantwortet. Im Moment haben Sie
die Chance, die Frage zu beantworten, Herr Kollege.
Albert Einstein,Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, hateinmal gesagt: Es gibt zwei Dinge auf dieser Welt, dieunendlich sind, die menschliche Dummheit und dasWeltall. Beim letzteren bin ich mir nicht mehr so ganzsicher. Ich werde die Beantwortung nicht unendlich aus-dehnen.Zu Ihrer Frage, Herr Kollege: Sie wissen, daß derHaushalt, den wir im Mai in zweiter und dritter LesungJürgen W. Möllemann
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2806 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
(C)
verabschieden werden, wenn Sie alle in den zuständigenAusschüssen getroffenen Entscheidungen berücksichti-gen, natürlich nicht auch nur ansatzweise eine Steige-rung der Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und For-schung in einer Größenordnung von etwa 20 Prozentvorsieht. Etwa die müßten es sein, wenn Sie die Ausga-ben in einer Legislaturperiode verdoppeln wollen.Wir werden, wenn die Bereinigungssitzung, die heutestattfindet, berücksichtigt wird, nach dem, was ich höre,eine Steigerungsrate von maximal etwa 5 Prozent haben.Das sind zwar 5 Prozent Steigerung, aber diejenigen, dieeine Verdoppelung in einer Legislaturperiode verspro-chen haben, wissen, daß viermal fünf Prozent 20 Prozentsind. Wir haben dieses Versprechen doch nicht gegeben.Sie haben es gegeben, Sie haben damit Wähler gefan-gen, und Sie schleichen sich jetzt davon!
Sie können doch nicht sagen: Ein kleines Hügelchenist auch ein Hügelchen. Das beeindruckt doch nieman-den.
– Nein, ich bin schon zu lange dabei, als daß ich Ihnendiese Bauernfängertricks noch durchgehen lassen könn-te. Sie müssen sich schon an Ihren eigenen Worten undVersprechungen messen lassen.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, dieeuropäische Weltraumorganisation ESA möchte in denJahren 1999 bis 2006 insgesamt 11,8 Milliarden DM inRaumfahrtvorhaben investieren, jeweils ein Drittel füranwendungsbezogene Vorhaben, Startsysteme und wis-senschaftliche Projekte. Ich glaube, es besteht in der Tatein außerordentliches politisches, strategisches und wirt-schaftliches Interesse, die wissenschaftliche und indu-strielle Kompetenz Europas in diesen Feldern zu sichernund auszubauen. Ein falsches politisches Signal ausDeutschland darf nicht dazu führen, daß solche gesamt-europäischen Projekte scheitern.Mir ist aufgefallen, daß unser Kollege Fischer imAusschuß ein großes Interesse daran hatte, daß wir unsim Ausschuß mit diesem Thema noch vor der Konferenzam 11. und 12. Mai beschäftigen. In seiner Einlassungwar er von der Sorge geprägt – so einfühlsam bin ichihm gegenüber natürlich, weil ich ihn schon so langekenne –, daß sich da ein falscher Trend abzeichnenkönnte. Als ich dann die Äußerungen von GerhardSchröder gelesen habe: Mit mir nicht, und wenn nötig,werde ich das auch der zuständigen Ministerin vermit-teln, habe ich mir gedacht, es muß offenbar eine Be-sorgnis geben, die Fischer und Schröder verbindet.Sie versuchen, hier so zu tun, als gäbe es den Disputgar nicht. Frau Bulmahn, Sie wollten eine andere Linie,als in der Aussage des Kanzlers zum Ausdruck kommt:Wir werden alle eingegangenen Verpflichtungen ein-halten. Darauf hingewiesen zu haben ist das bleibendeVerdienst des Kollegen Fischer, das bleibende Verdienstdieser Debatte. Hier können Sie sich nicht davonstehlen.
Es muß sichergestellt werden, daß für die Beteiligungam europäischen Raumstationsentwicklungsprogramm2,5 Milliarden DM zur Verfügung stehen, daß die Wei-terentwicklung der Ariane 5 mit und nicht ohneDeutschland sichergestellt wird, daß der Aufbau eineseuropäischen satellitengestützten Navigationssystemsnicht gefährdet wird und daß eine angemessene Beteili-gung Deutschlands am Erdbeobachtungsprogramm derESA möglich ist.Eine letzte Bemerkung: Ich möchte natürlich auchgern – ich glaube, darauf könnte sich in der Tat ein Kon-sens zwischen Koalition und Opposition, jedenfalls wasdie F.D.P. angeht, erstrecken –, daß man methodischähnlich wie beim Airbus-Programm sagt: Dort, wo derStaat mit erheblichen Mitteln hilft, daß profitable Zu-kunftsentwicklungen möglich werden, soll derjenige, derdavon profitiert, später in besonderer Weise Rückzah-lungen leisten und mit dazu beitragen, daß neue zu-kunftsorientierte Wege wieder finanziert werden kön-nen. Subventionen, die zweckgebunden, zielgerichtet,zeitlich begrenzt und, wo durch Ertrag möglich, rück-zahlbar sind, haben einen anderen Charakter. Darübersollten wir uns verständigen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die neueForschungsministerin Edelgard Bulmahn hat bei ihremAmtsantritt vollmundig erklärt, daß sie die Rolle vonForschung und Entwicklung stärken will.
Doch die deutsche Raumfahrt merkt nichts davon. ImGegenteil: Bereits in der ersten Sitzung des Forschungs-ausschusses haben Sie, Frau Ministerin Bulmahn, er-klärt, daß Sie es für falsch halten, viel Geld für die be-mannte Raumfahrt auszugeben. Damit haben Sie in derRaumfahrtpolitik bewußt einen politischen Richtungs-wechsel gegenüber Ihrer Vorgängerregierung vorge-nommen. Die alte Regierungskoalition stand hinter derRaumfahrt, weil sie eine strategisch wichtige Industriefür unser Land ist; das ist auch richtig so. Die Tatsache,daß Ihre Bundestagskollegen Bodo Seidenthal und Lo-thar Fischer einen Brandbrief an den Kanzler geschrie-ben haben, weil sie vor den falschen Entscheidungendieser Regierungskoalition warnen wollten, zeigt, daßSie auf dem Irrweg sind.
Jürgen W. Möllemann
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Nun versuchen Sie, Ihrem Vorgänger Fehler unterzu-schieben. Damit lenken Sie aber nur von Ihren eigenenpolitischen Fehlentscheidungen ab. Die Raumfahrt istder einzige Bereich im Forschungshaushalt, in dem eserhebliche Kürzungen gegeben hat. Der frühere For-schungsminister Rüttgers hatte im Haushaltsentwurf für1999 1 Milliarde DM für die ESA vorgesehen. DieseMittel hat Rotgrün um 30 Millionen DM auf 970 Millio-nen DM gekürzt. Rüttgers hatte für den nationalenRaumfahrthaushalt 326 Millionen DM vorgesehen. Mitdem Rotstift haben Sie 16 Millionen DM gestrichen.Das heißt, die erste Amtshandlung der neuen rotgrünenBundesregierung besteht darin, die Raumfahrtmittel uminsgesamt 46 Millionen DM zu streichen. Genau daskritisieren wir.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hilsberg?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Hils-
berg, bitte.
Herr Kollege Rachel, Sie
operieren hier mit Scheinzahlen. Ich möchte Sie bitten,
zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie in der Zeit, als Sie an
der Macht waren, als Sie an der Regierung waren, den
Etat für die Raumfahrt Jahr für Jahr systematisch her-
runtergefahren haben. Wir haben es jetzt das erste Mal
mit unserer Regierung geschafft, den Etat zu verstetigen,
wodurch eine verläßliche Grundlage für Raumfahrtpoli-
tik überhaupt geschaffen wurde, verläßlicher als zu Zei-
ten, in denen Sie an der Regierung waren. Die Zahlen,
mit denen Sie operieren, sind reine Planzahlen. Das war
Wahlkampf. Ich bitte Sie, zur sachlichen Arbeit hier im
Bundestag zurückzukehren.
Das sollte er eigent-
lich in Form einer Frage sagen. Das ist so gerade noch
gelungen, Herr Kollege. – Bitte sehr, Herr Kollege Ra-
chel.
Ich bin mir sicher,
daß die Präsidentin, die gerade so großzügig festgestellt
hat, daß das eine Frage war, mindestens so großzügig
sein wird, wenn ich versuche, das zu beantworten.
Nein, Herr Kollege
Hörster, das stimmt nicht.
Sie haben das Wort, Herr Rachel. Bitte sehr.
Ich bedanke mich. –Lieber Herr Kollege Hilsberg, Sie haben von Schein-zahlen gesprochen. Meine Damen und Herren, liebeFreunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen des Bundestages, mußsich nicht jede Regierung, unabhängig von ihrer partei-politischen Färbung, an den Zahlen für einen Haushaltmessen lassen, die entweder von ihr selbst oder von ih-rer Vorgängerregierung vorgelegt wurden?
Jawohl, so ist es. Das ist ein Faktum. Ich habe die Zah-len dabei und kann sie Ihnen zeigen. Ich meine, Siesollten dazu stehen. Der Haushaltsentwurf für 1999 vonJürgen Rüttgers hat für die ESA 1 Milliarde DM vorge-sehen; Sie kürzen um 30 Millionen DM auf 970 Millio-nen DM. Das ist das Faktum. Das ist eine Kürzung. Dasist ein Minus.
Das erinnert mich an „brutto/netto“. Sie haben damitIhre Erfahrungen.Im nationalen Raumfahrthaushalt – ich beantwortenoch immer Ihre Frage, Herr Hilsberg – haben Sie von326 Millionen DM auf 310 Millionen DM gekürzt, alsoum 16 Millionen DM. Auch das ist eine eindeutige Kür-zung. Das Ganze haben Sie vor dem Hintergrund ge-macht, daß Forschungsministerin Bulmahn in den ver-schiedensten Bereichen von Bildung und Forschung indiesem Jahr 800 Millionen DM mehr ausgeben kann,Herr Kollege Hilsberg, wozu wir Ihnen gratulieren kön-nen.
Aber ist es nicht wahr, daß die Raumfahrt am Haushaltvon 15 Milliarden DM rund 10 Prozent ausmacht? Wärees dann nicht naheliegend, daß Sie bei den Haushalts-steigerungen von 800 Millionen DM 10 Prozent, sprich:80 Millionen DM, mehr für die Raumfahrt ausgeben?Das tun Sie aber nicht. Das kritisieren wir.
Das zeigt: Sie haben ein gestörtes Verhältnis zurRaumfahrt. Sie geben ein falsches politisches Signal,auch gegenüber den internationalen Partnern. Sie wollendie Raumfahrt austrocknen. Nachdem uns die neueBundesregierung schon in der Energiepolitik um jedesAnsehen gebracht hat, ist Rotgrün dabei, das gleicheauch in der Raumfahrtpolitik zu machen. Das ist ein fal-scher Politikansatz.
Nun klagt Frau Bulmahn über mangelnden finanziel-len Handlungsspielraum. Das ist im Bereich der Raum-fahrt unglaubwürdig. Denn der Mangel ist politisch ge-wollt. Stolz verweisen Sie – ich kann es nur noch einmalsagen – auf die Steigerung des Gesamthaushaltes um800 Millionen DM. Im Bereich der Raumfahrt lassen Siedie Steigerung nicht nur unter den Tisch fallen, sondernSie kürzen. Das werden wir kritisieren.Thomas Rachel
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Im gleichen Atemzug kritisieren Sie die eingegange-nen Verpflichtungen für den Bau der Raumstation. Inder Presse finden wir, auch im Vorfeld der Ministerrats-konferenz, nicht ein einziges positives Wort von Ihnenzu dem Bau der Raumstation. Sie haben gerade sogarvon „Fehlentwicklungen“ auf der Ministerratskonferenz1995, wo der Bau der Station beschlossen wurde, ge-sprochen. Das ist schon ein starkes Stück. Denn die SPDhat, übrigens im Gegensatz zu den Grünen, zusammenmit der damaligen christlich-liberalen Regierungskoali-tion im Parlament dem Regierungsabkommen für dieinternationale Raumstation zugestimmt. Sie haben rich-tig gehört: Sie haben ihm zugestimmt. Darüber hinausheißt es in dem Antrag der SPD-Fraktion vom 5. März1996, Drucksache 13/3974 – ich zitiere –:Die Entscheidungen, die die ESA-MitgliedstaatenEnde 1995 getroffen haben, werden vom Bundestaggrundsätzlich begrüßt. Sie sind geeignet, der Wis-senschaft und der Industrie die nötige Planungs-sicherheit zu vermitteln.Wer damals dem Projekt einer internationalen Raum-station zugestimmt hat, heute aber davon nichts mehrwissen will, der macht sich unglaubwürdig.
Die Raumstation wird sich nicht vollständig kommer-ziell tragen – das wußten wir –, aber sie ist eine globaleZusammenarbeit auf internationaler Forschungsebene.Die internationale Raumstation ist aber auch eine ArtFriedensdividende des beendeten kalten Krieges. Denndiejenigen Ingenieure, die vor zehn Jahren an densowjetischen Atomraketen gearbeitet haben, bringenheute ihr Know-how für diese friedliche Raumstationein.Frau Bulmahn, nehmen Sie sich doch einmal ein Bei-spiel an Bundeskanzler Schröder! Übrigens: Wo warenSie eigentlich in Bremen? Früher haben Forschungsmi-nister mit dem Kanzler zusammen die Raumfahrt be-sucht. Der Bundeskanzler hat in Bremen die Raumfahrtals Beispiel für globale Zusammenarbeit gewürdigt. MitBlick auf die Raumstation hat er – ich zitiere – festge-stellt: „Die einstigen Blöcke sind Partner geworden.“Die Raumfahrt, so Schröder, trage zur politischen Stabi-lisierung der internationalen Situation bei. Was hörenwir von der Forschungsministerin? „Es geht nicht dar-um, was den großen Jungs Spaß macht, sondern darum,was allen nutzt“, sagte sie stolz dem Wochenmagazin„Focus“.Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit sagen: Raum-fahrt ist nicht das überteuerte Spielzeug altgewordenerJugendlicher. Ihre vor allem gegen die Raumstationzielende Äußerung ist schon eine ziemliche Frechheit.Sie ist eine Verhöhnung unserer deutschen AstronautenUlf Merbold und Thomas Reiter,
die bereits auf der MIR-Station wichtige Vorarbeitengeleistet haben. Sie ist ein Affront gegenüber den Wis-senschaftlern, die in diesem Bereich tätig sind, und sieist eine Beleidigung der DASA-Mitarbeiter in Bremen,die diese Raumstation bauen.Bundeskanzler Schröder hat im Gegensatz dazu dieDASA-Beschäftigten gelobt – ich zitiere aus seinerRede –: „Sie können stolz darauf sein, ,Columbus‘ ma-chen zu dürfen.“ Zugleich polemisieren Sie gegen denBau dieser Raumstation. Diese Doppelstrategie werdenwir nicht durchgehen lassen.
Die Unionsfraktion erwartet von der rotgrünen Bun-desregierung, daß sie das Nutzungskonzept der Raum-station weiterentwickelt und die finanziellen Vorausset-zungen dafür schafft, daß sich Deutschland an der Nut-zung angemessen beteiligen kann. Es darf doch nicht diewidersinnige Situation entstehen, daß wir Deutschen unszwar am Bau der Station beteiligen, aber vom Boden auszusehen müssen, wie die Japaner, die Russen, die Kana-dier, die Franzosen und die Italiener das von Deutschenmitfinanzierte Weltraumlabor nutzen.Wir wollen die enge Kooperation mit Frankreichim Bereich der Ariane-5-plus-Programme fortsetzen.Wir sind für das Erdbeobachtungsprogramm der ESAund möchten, daß sich Deutschland in einer Art undWeise beteiligt, daß die Übernahme von Systemführer-schaften für unsere Industrie möglich ist, weil dadurchArbeitsplätze gesichert werden. Deutschland soll sich inzukunftsträchtigen Technologieprogrammen engagieren,die auf kommerzielle Raumfahrtanwendungen in derTele- und Breitbandkommunikation zielen.Für eine sachgerechte Vorbereitung der Nutzung derRaumstation ist auch die Fortführung der ESA-Mikro-gravitationsaktivitäten unter deutscher Beteiligung er-forderlich. Wenn ich mir die Beratungen im BMBF, dieVersuche der Bundesregierung anschaue, das ESA-Wissenschaftsprogramm aufzuweichen, dann sage ichganz deutlich: Sie sind zu beenden.
Denn gerade das Wissenschaftsprogramm ist eine zu-tiefst staatliche Aufgabe, bei der in der BundesrepublikDeutschland wir Politiker gefordert sind. Hier stehen wirin der Pflicht, und wir sollten diese europäische Zusam-menarbeit fortsetzen.
Interessant ist das große Interesse unserer europäi-schen Partner an Technologieprogrammen für wieder-verwendbare Träger; Kollege Mayer hat es angespro-chen. Es ist ökonomisch und ökologisch sinnvoller, wie-derverwendbare Trägerraketen zu benutzen. Es wäredoch geradezu ein Treppenwitz, wenn sich die Bundes-regierung unter Beteiligung der Grünen für die Einweg-version Ariane und gegen die Mehrwegversion einerwiederverwendbaren Trägerrakete ausspräche. SteigtDeutschland aus, verbaut es seine Zukunftschancen aufdiesem wichtigen Feld. Herr Fell, hier sind Sie von denGrünen mit gefordert. Zeigen Sie in dem Bereich einmalFlagge!
Thomas Rachel
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Sehr geehrte Damen und Herren, Zitat: Sackgasse insAll. So betitelte das Wochenmagazin „Focus“ einen Ar-tikel über die Forschungs- und Raumfahrtpolitik vonFrau Bulmahn. Sackgasse ins All: Der Satz sagt deut-lich, was Ihrer Weltraumpolitik fehlt, nämlich eine indie Zukunft gerichtete Vision, die über kurzfristiges Ab-arbeiten eingegangener Verpflichtungen hinausgeht.
Das ist kein politischer Luxus. Hier geht es um die tech-nologische Kompetenz unserer Industriegesellschaft undum die Innovationsfähigkeit Deutschlands. Wenn wiruns von strategischen Optionen abschneiden, wird unserLand im 21. Jahrhundert den Anschluß an die Zukunftverpassen. Das hat übrigens nicht nur Auswirkungen aufuns, sondern auf ganz Europa, wenn durch Einsparungenam falschen Platz gemeinsame Projekte, beispielsweisebei den ESA-Programmen, platzen: Arbeitsplätze gehenverloren; die kommerzielle Nutzung neuer Weltraum-projekte, unser wichtiges gemeinsames Anliegen, würdeohne uns stattfinden.Unser Fazit ist: Die Bundesregierung darf nicht alsBremser der europäischen Raumfahrt auftreten, unddeswegen erwarten wir von Ihnen eine andere Politik.Herzlichen Dank.
Nun hat das Wort
der Kollege Lothar Fischer.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Thomas Ra-
chel, ich hätte es ja begrüßt, wenn die CDU/CSU, als sie
noch in der Regierungsverantwortung war, eine Planung
vorgelegt hätte, die ihrem heutigen Antrag gerecht ge-
worden wäre. Das war aber nicht der Fall.
Das sagt alles über die Ernsthaftigkeit Ihres Antrages.
Vorhin ist erwähnt worden, daß Bodo Seidenthal und
ich einen Brief an den Bundeskanzler geschrieben ha-
ben. Dazu sage ich: Selbstverständlich haben wir das
getan.
In diesem Brief haben wir darauf hingewiesen, welche
Konsequenzen es für andere wichtige Projekte hat, wenn
so viel Geld bis zum Jahre 2003 für Zwecke der interna-
tionalen Raumstation gebunden ist. Das waren die
Punkte. Wir haben dabei auch einige Projekte angespro-
chen, wie zum Beispiel die Ariane. Dazu werde ich aber
nachher noch kommen.
Ich möchte allerdings zu deinem Beitrag, lieber Tho-
mas, etwas sagen, weil du aus unserem Antrag vom
März 1996 zitiert hast, der übrigens einstimmig von al-
len Arbeitsgruppen und einstimmig von der Fraktion be-
schlossen worden ist. Du hast eine Passage zur Station
zitiert, du hast aber verschwiegen, welche Vorausset-
zungen dort auch noch genannt werden, daß nämlich an-
dere wichtige Programme finanziell nicht erdrückt wer-
den dürfen, zum Beispiel das nationale Weltraumpro-
gramm. Wir alle waren uns darin einig, daß das natio-
nale Weltraumprogramm nicht so stark zurückgefahren
werden darf. Dafür haben wir früher 40 Prozent der ge-
samten Mittel für das Raumfahrtprogramm aufgewen-
det, und heute sind es noch 20 Prozent. Das ist Ihrer
Politik zu verdanken. Im übrigen ist das Parlament nicht
gefragt worden, ob es mit dieser prozentualen Zahl ein-
verstanden ist. Wir waren dafür, daß sich Deutschland
an der Station beteiligt, weil wir für eine internationale
Kooperation waren. In der CDU waren doch welche da-
gegen – nicht die F.D.P. –, die gesagt haben: Das russi-
sche politische System ist instabil, und die technischen
Systeme sind nicht kompatibel.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mölle-
mann?
Ja.
Herr Möllemann,
bitte sehr.
Frau Präsidentin,
ich möchte den Kollegen Fischer fragen: Habe ich Sie
jetzt richtig verstanden, daß Sie zusammen mit dem
Kollegen Seidenthal den Brief an den Bundeskanzler ge-
schrieben haben, weil Sie über die CDU/CSU beunru-
higt waren, oder könnte es so sein, daß Sie den Brief an
Ihren Bundeskanzler und Parteivorsitzenden geschrieben
haben, weil Sie die stille Sorge beschlichen hat, daß die
seinerzeit einmütige Haltung, wie sie in Arbeitsgruppen,
Arbeitskreisen und Fraktion einstimmig – Sie haben, als
Sie daran erinnerten, ja auch in die richtige Richtung
geguckt – beschlossen wurde, jetzt von Teilen der So-
zialdemokratie in Frage gestellt wird? Kann es sein, daß
dieser Eindruck richtig ist?
Sie hätten gernein klares Ja auf diese Frage. Ich muß Sie leider enttäu-schen.
Ich bin seit 1980 hier im Bundestag und dort unter ande-rem Berichterstatter für Luft- und Raumfahrt. WennThomas Rachel
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man sich so lange mit einem Thema beschäftigt, hat manin der Sache ein bißchen mehr Detailkenntnisse als an-dere, die das nicht tun. Für Bodo Seidenthal trifft dasgenauso zu. Aus diesem Grund haben wir schon eineVorwarnung
oder eine sachliche Hintergrundinformation aussprechenwollen. Das ist ja auch völlig legitim.
– Was ihr mit dem „Zukunftsminister“ Rüttgers erlebthabt, darauf komme ich gleich noch zu sprechen.Wir wissen, daß an der Raumfahrtindustrie mittelbar100 000 Arbeitsplätze hängen, direkt etwa 6 000. Wirsind der Ansicht, Raumfahrt kostet nicht nur Geld, son-dern sie bringt auch Geld und schafft, was wir brauchen:Arbeitsplätze. Sie entfaltet mittlerweile eine starkeBreitenwirkung. Deshalb gilt für meine Fraktion, daß diewissenschaftliche, technologische und industrielle Kom-petenz erhalten und ausgebaut werden muß. Die Raum-fahrt hat sich an Programmen zu orientieren, die einewissenschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung vor-weisen. Sie ist Dienstleistung.Am 11./12. Mai findet die Ministerratskonferenzstatt, die über die weiteren Ziele der europäischenRaumfahrt entscheiden wird. Sie findet zu einer Zeitstatt, die für uns sehr schwierig ist. Über den marodenHaushalt, den die neue Regierung übernommen hat, istja vorhin von dem Kollegen Mayer schon einiges ausge-sagt worden. Die Regierung Kohl hat im Raumfahrtbe-reich Entscheidungen getroffen, die bewirken, daß inden Etats bis zum Jahr 2003 wenig Spielräume für eineinnovative Politik vorhanden sind.
Im Gegenteil: Andere Länder haben finanziell Luft, sozum Beispiel Frankreich, Italien oder auch Belgien.Frankreich beteiligt sich mit 27 Prozent an der Raum-station, die Deutschen mit 41 Prozent. Da liegt mit einGrund, warum diese Länder mehr Luft für andere her-vorragende Projekte haben.Ursprünglich wurde von einigen eine umfassende eu-ropäische Autonomie im Weltraum angestrebt. Aufdiesem Trip sind Sie ja lange gewesen, obwohl alle an-deren erkannt haben, daß das eine anachronistische For-derung ist. Dann wurde das Raumfahrtprogramm nachund nach abgespeckt: keine Planung, keine Strategie.Nicht umsonst hat die Regierung Kohl seit 1986 dieVorlage des 5. Weltraumprogramms immer wieder hin-ausgezögert und letztendlich abgelehnt. Bis heute habenwir noch keine Fortschreibung des 4. Weltraumpro-gramms.Die Folgen dieser Politik bekommen wir jetzt zu spü-ren. Die Kritik der Opposition an dem Haushaltstitel istalso mehr als unredlich. Seit Jahren haben Sie diesenEtat einerseits als Steinbruch mißbraucht, andererseitssind Sie kostspielige langfristige Verpflichtungen einge-gangen. Der ESA-Titel ist von 1,3 Milliarden DM imJahr 1993 auf 970 Millionen DM im Jahr 1998 herunter-gefahren worden. Diese 330 Millionen DM, ohne Be-rücksichtigung eines Inflationsausgleichs, fehlen proJahr.Thomas Rachel war früher ein vehementer Befür-worter der Raumfahrt. Einige haben ihm in dieser Frageaber systematisch das Rückgrat entfernt.Was müssen wir also tun? Wir müssen uns in derRaumfahrtpolitik umorientieren. Erstens. Wir wollenmehr Raumfahrt fürs Geld. Die Strukturen, vor allem inder ESA, sind neu zu überdenken. Dies wird schon fastso lange gefordert, wie ich Mitglied des Bundestagesbin; das sind jetzt 18 Jahre. Jetzt wird es höchste Zeit,das umzusetzen.Zweitens. Die Raumfahrt ist keine alleinige Staats-veranstaltung. Auch die Industrie ist in der Pflicht. Siefordert doch den Abbau von Subventionen; diese gibt esaber nicht nur im sozialen Bereich. Wir müssen auf„private public partnership“ drängen. Im Satellitenbe-reich gibt es das schon.
Im übrigen: Bei Ariane 1 bis Ariane 4 hat der Staatdie Forschung und Entwicklung finanziert, und die In-dustrie hat sie produziert. Ab Ariane 5 beteiligt sich dieIndustrie an der Forschung und Entwicklung. Mit 105Millionen ECU, also 200 Millionen DM – das soll andieser Stelle einmal gesagt werden –, steigt sie bei derAriane 5 plus ein.
– Seit wann bist du Unternehmer? Das habe ich garnicht gewußt.
Ich begrüße es, wenn die Bundesregierung versucht,die Kosten für die Raumstation zu senken, indem sie dasBauprogramm streckt. Natürlich wissen wir, daß durcheine Streckung am Ende die Kosten etwas höher seinwerden. Aber eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.Die Weiterentwicklung der Ariane 5 hat erste Priori-tät; sie muß weiterhin konkurrenzfähig bleiben. Im übri-gen: Etwa 3 000 hochqualifizierte Arbeitskräfte sind inDeutschland am Bau von Ariane 4 und Ariane 5 betei-ligt. Auf europäischer Ebene sind es 14 000.Ariane 4 und Ariane 5 gewährleisten einen eigen-ständigen Zugang Europas in den Weltraum. Als Europanoch keine Trägerrakete hatte, ist folgendes passiert:1972 wurde in Europa der KommunikationssatellitSymphonie gebaut, den die Amerikaner in den Orbit ge-schossen haben, unter der Bedingung, daß er nichtkommerziell genutzt wird. Das war der Grund, warumsich die Europäer entschieden haben, ein eigenes Trä-gersystem zu entwickeln. – Das war 1972.Lothar Fischer
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Und heute? Im November 1998 sind im US-amerikanischen Kongreß Gesetze eingebracht worden,wonach der Technologietransfer im Satellitenbereich nurunter ganz strengen Voraussetzungen erfolgen soll: DasAußenhandels- und das Verteidigungsministerium müs-sen zustimmen. Satellitentransporte werden also be-handelt wie Waffenexporte. Das geht natürlich an dieSubstanz der europäischen Trägerrakete Ariane. Arianehat einen Weltmarktanteil am Transport von kommer-ziellen Satelliten in Höhe von 60 Prozent.
Die Raumfahrt umfaßt nicht nur Raketen und be-mannte Stationen, sondern auch Satelliten. In diesemZusammenhang denke ich an die Erdbeobachtung unddie Satellitennavigation. Dazu werde ich aber nichts sa-gen, da mein Kollege und Freund Bodo Seidenthal dazunachher noch nähere Ausführungen macht.Ich wünsche mir für diesen Bereich, daß genügendMittel zur Verfügung gestellt werden, damit die Durst-strecke bis 2003 keine bleibenden Schäden hinterläßt.Hier gilt es, Märkte zu entwickeln und zu erobern. Dasist richtig verstandene Innovationspolitik, weil sie sichan den Arbeitsplätzen der Zukunft orientiert.Recht schönen Dank.
Jetzt hat das Wort
der Kollege Norbert Hauser, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Vor fast 20 Jahrenwarfen Kritiker der damaligen indischen Ministerpräsi-dentin Indira Gandhi vor, für den Preis eines Satellitenkönne man allen Indern eine Schale Reis geben. IhreAntwort lautete darauf: „Wenn sie die einmal gegessenhaben, bleibt alles beim alten, während ich mit einemeinzigen Satelliten mehrere Millionen Menschen lehre,Reis anzubauen, damit sie jeden Tag essen können.“Liebe Kolleginnen und Kollegen von der rotgrünenKoalition, soviel Verständnis und Sinn für die Möglich-keiten moderner Technologien wünschen wir uns alleauch von Ihnen.
Alles, was mit Zukunft und Fortschritt zu tun hat,stößt bei Ihnen zunächst einmal auf Skepsis und Ableh-nung. Biotechnik, Gentechnologie bis hin zum Transra-pid sind beredte Beispiele. Leider gilt dies auch für dieWeltraumforschung. Es wäre besser, Sie diskutiertenmehr über die Chancen dieser Technologien, als perma-nent ihre Risiken zu betonen.
Wir Menschen brauchen Ziele und Visionen. Geradedie Luft- und Raumfahrt bietet solche Visionen.
Was vor 20 Jahren unvorstellbar war, gehört heute be-reits zum Alltag. Erinnern Sie sich daran, als sich dieUS-Amerikaner nach dem Sputnik-Schock das Zielsetzten, als erste Menschen den Mond zu betreten. Eineganze Nation brach auf. Leider ist bei Ihnen von Auf-bruchstimmung nichts, aber auch gar nichts zu spüren.Sie sind von einer Buchhaltermentalität geprägt.
Ihre Ziele und Visionen bestehen darin, zu versi-chern, daß Sie internationale Verträge einzuhalten ge-denken. Dieses Versprechen wird hier schon wieder re-lativiert. Der Kollege Fischer hat sich vorgenommen,Kosten zu senken. Sie, Herr Kollege, wollen Kostendurch das Strecken von Mitteln senken. Im gleichen Satzhaben Sie darauf hingewiesen, daß sich durch dieseStrekkung die Kosten erhöhen. Dies ist wahrlich einegrandiose Rechnung: Senkung der Kosten durch Erhö-hung der Kosten. Ich gratuliere Ihnen zur Erfindungeiner neuen Grundrechenart.
Wenn Sie sich dauerhaft von der Weltraumforschungverabschieden – wie Sie es hier angedeutet haben –,dann verspielen Sie einen wichtigen Eckpfeiler für dieEntwicklung Deutschlands. Wenn es nach Ihnen ginge,Herr Fischer, säße Christoph Kolumbus noch heute imspanischen Santa Fé und würde noch immer von demSeeweg nach Indien träumen.
Wie wichtig Visionen und ihre Umsetzung sind, siehtman in der heutigen Zeit. Erinnern Sie sich an die 60erund 70er Jahre. Der Weltraum war Experimentierfeld imkalten Krieg. Heute bauen Japaner, Amerikaner, Kana-dier, Russen und Europäer gemeinsam eine bemannteWeltraumstation. Nicht nur die Grenzen auf der Erdewurden durchlässiger. Sie sind im Weltraum sogarüberwunden worden. Die internationale Zusammen-arbeit im Weltraum ist ein wichtiger Beitrag geradeauch zur politischen Stabilität in der Welt. Auf den Fel-dern der internationalen Zusammenarbeit wächst dasgegenseitige Vertrauen. Vor allem in diesen Tagen wirdvor dem Hintergrund der Ereignisse in Jugoslawienschmerzlich deutlich: Zur internationalen Zusammenar-beit gibt es keine Alternative.
Sie laufen zur Zeit Gefahr, sich aus der europäischenund damit auch aus der internationalen Raumfahrtpolitikauszugrenzen. In ungefähr fünf Jahren soll in der inter-nationalen bemannten Weltraumstation ISS die Arbeitbeginnen. Dann werden die Früchte jahrelanger For-schung und Arbeit geerntet und eine weitere Ära in derWeltraumforschung eingeläutet. Wissenschaft und Indu-strie sind aufgerufen, die Möglichkeiten der internatio-nalen Raumstation zu nutzen. Es wäre ein schwererFehler, wenn sich Deutschland ausgerechnet jetzt ausLothar Fischer
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der bemannten Raumfahrt zurückzöge. Wir fordern dieBundesregierung auf, gemeinsam mit unseren Partnerndie Früchte der jahrelangen gemeinsamen Arbeit zuernten.
– Nein, Herr Kollege, es ist heute schon mehrfach ange-sprochen worden, und ich glaube, es muß ein weiteresMal gesagt werden: Sie sind mit Maßstäben angetreten,haben mit Maßstäben Wahlkampf geführt und habensich zu Beginn ihrer Regierungsarbeit mit Maßstäbenvorgestellt, denen zu entsprechen Sie heute nicht mehrin der Lage sind.
Heute versuchen Sie, sich mit Hinweisen auf die Ver-gangenheit aus der Verantwortung zu stehlen. Regie-rungsverantwortung zu übernehmen heißt doch, Ver-antwortung zu tragen. Sie haben gesagt, Sie wolltenzwar nicht alles anders, aber vieles besser machen. Bisheute haben Sie nichts besser gemacht, meine Damenund Herren.
Luft- und Raumfahrt heißt mehr, als nur Raketen insAll zu schießen, um interessante Experimente durchzu-führen. Es geht vielmehr um Forschungsergebnisse, diefür den Alltag von großer Wichtigkeit sind – ich sprechehierbei nicht von der Entwicklung der Teflonbeschich-tung für Bratpfannen, die an dieser Stelle immer heran-gezogen wird.Denken Sie an die Telemedizin. Spezialisten findensich über Kontinente zusammen, um komplizierte Ope-rationen vorzubereiten. Nicht mehr der Kranke, der Pati-ent, muß reisen; Fachkenntnisse und Röntgenbilder rei-sen via Satellit von Klinik zu Klinik. Nicht weit von unsentfernt, im Deutschen Zentrum für Luft- und Raum-fahrt in Köln-Porz, sind aus der Raumfahrt die Voraus-setzungen entwickelt worden, um alten Menschen undRisikopatienten ihre gewohnte Umgebung zu erhaltenund den Einzug in ein Heim zu vermeiden sowie Klein-kinder vor dem frühen Kindstod zu bewahren. MeineDamen und Herren von der Skeptikerkoalition, stehenSie hier nicht abseits! Helfen Sie mit, diese Forschungenzum Wohle der Menschen zur Anwendungsreife zu füh-ren!Auch der Umweltschutz lebt von der Raumfahrt.Klimaveränderungen, Wüstenbildung und die Verände-rung der Eismassen an den Polen werden über Satellitanalysiert und können so besser bekämpft werden.Wettervorhersagen sind ohne Satelliten heute undenk-bar. Anfang der 90er Jahre wurden auf Grund von mete-reologischen Satellitenbeobachtungen eine Million Men-schen evakuiert und so vor dem Wirbelsturm „Andrew“bewahrt, der kurze Zeit später Florida verwüstete. Rück-schlüsse auf Analysen unter Bedingungen in der Schwe-relosigkeit führten bereits in der Vergangenheit ebensozu Einsparungen bei der Verbrennung fossiler Brenn-stoffe wie neuartige Legierungen und Schmelzverfahren,die zu einer Gewichtsreduzierung der fertigen Produktein der Automobil- und Luftfahrtindustrie führten. Auchsie hatten ihren Ursprung in der Weltraumforschung.Durch die Beobachtungen aus dem Weltraum ist esmöglich, Mißernten im Vorfeld zu bekämpfen und da-mit Hungersnöte zu vermeiden. Auch die Verhinderungder Ausbreitung von Pflanzenkrankheiten ist dank derSatellitentechnik heute möglich. Die Weltraumfor-schung ist also auch ein Beitrag zur internationalenSolidarität.Weltraumforschung bedeutet schließlich die Schaf-fung von Arbeitsplätzen. Insgesamt leben über 110 000Menschen und ihre Familien von der Raumfahrtindu-strie. Vor allem mittelständische Unternehmen sind indiesem Bereich tätig. Es ist die Pflicht der Bundesregie-rung, diesem wichtigen Industriezweig die notwendigeHilfe zukommen zu lassen.Die Unterstützung der Luft- und Raumfahrt ist auchein Bündnis für Arbeit. Daran sollte die Bundesregie-rung immer denken. Die Luft- und Raumfahrt ist alsoein wichtiger Beitrag für die Sicherung der ZukunftDeutschlands.Ein Beitrag zu dieser Zukunft ist auch der von derCDU/CSU vorgelegte Antrag. Stimmen Sie daher zu! Esgibt keinen Grund, es nicht zu tun.
Ich hoffe, daß der Weltraum bei SPD und Grünen nichtzu einem Mikrokosmos verkommt, der in den politi-schen Debatten keine Rolle mehr spielt.Vielen Dank.
Ich erteile jetzt das
Wort dem Kollegen Bodo Seidenthal. Bitte sehr.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Herr Hauser, ichwürde Ihnen gerne am Anfang meiner Rede antworten,werde dies aber erst zum Schluß tun.Lassen Sie mich mit etwas Grundsätzlichem begin-nen – diesen Punkt haben auch Sie erwähnt; wir ziehenaber andere Schlüsse daraus –: Noch nicht einmal30 Jahre ist eines der größten Abenteuer der Menschheitjung, nämlich die Landung auf dem Mond. Es vergingennur 12 Jahre vom Start des Satelliten Sputnik bis NeilArmstrong bei der Landung auf dem Mond gesagt hat,daß es nur ein kleiner Schritt für einen Menschen, aberein großer Sprung für die Menschheit sei.Wir wissen, Herr Hauser: Flüge zum Mond findenheute nicht mehr statt; der Wettstreit der Systeme hatdem kommerziellen Wettbewerb und der globalen Zu-sammenarbeit Platz gemacht. Heute müssen wir uns be-züglich der Raumfahrtentwicklungen den aktuellen Her-ausforderungen der Menschheit stellen und die Prioritä-ten daran orientieren. Was aber – diese Frage will ichIhnen nicht vorenthalten – machen Sie? Sie bringeneinen Antrag ein, mit dem Sie den Eindruck erwecken,daß die jetzige Bundesregierung und die zuständigeNorbert Hauser
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Ministerin alles falsch machen und die falschen Priori-täten setzen.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU, kommen mir wie jemand vor, der ein Hausangezündet hat und anschließend nach der Feuerwehrruft.
Denn es war Ihr Zukunftsminister Jürgen Rüttgers, derein Raumfahrtprogramm erstellt hat, das programma-tisch und planerisch unausgewogen war, die falschenPrioritäten gesetzt hat, Mittel gebunden und darüberhinaus wichtige Bereiche mit Zukunftsperspektive ver-nachlässigt hat. Damit Sie nicht sagen können, es han-dele sich sozusagen um eine SPD-gefärbte Aufstellung,will ich erwähnen, daß es eine Aufstellung des DLR ist.Diese Fehler haben Sie in der Vergangenheit gemacht.Wenn Sie auf die neuen Herausforderungen eine Ant-wort geben können, dann sind wir gemeinsam auf demrichtigen Weg.
Mit Ihrem Programm, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der CDU/CSU, wäre die Zukunft der Raumfahrtauf Jahre blockiert worden. Sie haben nämlich selbst dieAmpel auf Rot gestellt. Sie haben, wie es der Parlamen-tarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen einmalformuliert hat, seit 1993 eine dramatische Kluft zwi-schen politischen Ansprüchen – Herr Hauser, hören Siezu – und finanziellen Planungen in der Raumfahrtpolitikentstehen lassen. Daran sollten Sie sich erinnern.
Ihre öffentlichen Klagen über die Vernachlässigungder Raumfahrt – Ihre Rede war ein Beispiel dafür – sindscheinheilig. Sie haben doch Jahr für Jahr die Kürzun-gen des Raumfahretats mitbeschlossen. Ich bin der Mi-nisterin dankbar, daß sie vorhin in ihrer Rede die Fehl-planungen und die jahrelang aufgeschobenen Aufräu-mungsarbeiten in der Raumfahrtpolitik eindrucksvollbeschrieben hat.
Da mein Kollege Lothar Fischer unter anderem schoneinige grundsätzliche Ausführungen zur ESA, zu derWeiterentwicklung der Ariane 5 und zur Bindung im-menser Mittel durch die alte Regierung für die interna-tionale Raumstation gemacht hat, möchte ich zu zweikonkreten Punkten Stellung nehmen: zu den kommer-ziellen erfolgreichen Raumfahrtmärkten – dazu zählen,wie einige es schon gesagt haben, die Satellitenkommu-nikation und die Satellitennavigation – und der Erdbe-obachtung.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,ich bin mir nicht schlüssig und wanke hin und her:Brauchen Sie eine Brille, ein Hörgerät oder funktioniertbei Ihnen noch nicht einmal das Kurzzeitgedächtnis?
Die Ministerin hat vorhin eindeutig gesagt, daß wir dieeben von mir erwähnten Schritte durchführen wollen.Dafür haben Sie, wenn wir da genau hineinschauen,keine – –
– Sie haben nichts eingeplant, Herr Rachel. Herr Möl-lemann, zu Ihnen komme ich zum Schluß meiner Redeauch noch.Sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Edelgard Bul-mahn, Ihren Ausführungen zufolge ist die neue Bundes-regierung entschlossen, unter veränderten finanziellenRahmenbedingungen Fehlentwicklungen der RegierungKohl zu korrigieren und eine Raumfahrtpolitik zu ge-stalten, die – darauf kommt es unserer Meinung nachan – auf wirtschaftliche Perspektiven und wissenschaft-liche Kompetenz setzt. Liebe Kolleginnen und Kollegenvon der alten Regierungskoalition, eines möchte einmalnachfragen: Was haben Sie eigentlich dagegen, daß fürExperimente zukünftig das Kriterium der wissenschaft-lichen Exzellenz gelten soll?
Sie sind es doch gewesen, die das früher immer formu-liert haben. Jetzt macht es Edelgard Bulmahn, und schonhaben Sie etwas dagegen, weil es aus der verkehrtenRichtung kommt.
Frau Ministerin, ich sage Ihnen für das, was ich gera-de ausgeführt habe und was Sie wollen, die Unterstüt-zung der SPD-Bundestagsfraktion zu. Ich möchte Siebitten, den genannten Punkten Ihre besondere Aufmerk-samkeit zu schenken.
Es war, Frau Aigner, ein fataler Fehler der RegierungKohl, mit ihren Weichenstellungen kommerziell erfolg-reiche Raumfahrtmärkte – darum geht es Ihnen dochauch immer – den USA und anderen Ländern zu über-lassen.
Insbesondere auf den Gebieten der Satellitenkommuni-kation, der Satellitennavigation und der dazugehörigenProduktketten wurden in der Vergangenheit wichtigewirtschaftliche Entwicklungen verschlafen. Das wird beiuns und mit Edelgard Bulmahn nicht passieren.
Das größte kommerzielle Potential der Raumfahrtin-dustrie liegt in den raumfahrtgestützten Diensten, insbe-sondere der Telekommunikation, der schon erwähntenErdbeobachtung und der Navigation. Wer über den Zu-gang zum All verfügt, hat – darauf lege ich Wert – dieBodo Seidenthal
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Möglichkeit, diese Dienste auszuüben, und kann, wenner die Möglichkeiten exklusiv besitzt, andere von derProduktion solcher lukrativen Dienstleistungen aus-schließen oder sie durch überhöhte Preise bzw. ungün-stige Konditionen daran hindern, in diese Geschäftsfel-der einzudringen.
– Herr Möllemann, Ihre Tränen – –
Was haben Sie denn in der Vergangenheit bei den Ver-handlungen mit Amerika gemacht? Amerika hat gesagt,die Europäer dürfen nicht ran. Herr Kollege Möllemann,Sie haben nichts auf den Weg gebracht – leider.
Frau Ministerin, ich habe Sie so verstanden, daß Siealles dafür tun wollen, daß die deutsche Industrie ihregute Wettbewerbsposition auf den genannten Gebietenbehält und weitere Marktpotentiale erschließen kann.Das technologische Ziel muß darin bestehen, daßDeutschland in der Raumfahrt im internationalen Maß-stab weiterhin kompetent vertreten ist und vor allem inwichtigen Hochtechnologiebereichen den Anschluß be-hält.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wiese
?
Nein, ich gestatte keineZwischenfrage, weil ich es nämlich nicht einsehe, FrauPräsidentin, daß wir – wie Lothar Fischer es gesagt hat –über diese Dinge seit 1987 im Bundestag diskutierenund die neue Opposition so tut, als ob das alles verkehrtwäre. Wir können darüber demnächst im Ausschuß re-den.
– Diskutieren wir es also dort
– Ich habe keine Angst vor der Öffentlichkeit. Ich wer-de Ihnen, Herr Fischer, auch noch sagen, warum ichkeine Angst vor der Öffentlichkeit habe.Kurzum: Der von Ihnen genannte Public-Private-Partnership-Gedanke, Frau Bulmahn, ist nach unsererAuffassung ein Schritt in die richtige Richtung. Ich gehedavon aus, daß sich die Nutzer dem nicht verschließenwerden.Der Markt der Satellitenkommunikation ist in derkommerziellen Raumfahrt am weitesten entwickelt undläßt im Jahr 2000 weltweit ein Volumen von zirka60 Milliarden US-Dollar erwarten. Die höchste Wert-schöpfung – insofern stimmen wir ja teilweise überein –wird bei der Vermarktung von Endgeräten und Dienst-leistungen erzielt. Deshalb muß die zentrale Zielsetzungdes zukünftigen Kommunikationsprogramms eine er-folgreiche Beteiligung der Industrie am internationalenWettbewerb sein.Die Satellitennavigation als Schlüsselelement eröff-net der Mobilitätsgesellschaft eine Fülle von kommer-ziellen Anwendungen und Dienstleistungen für alle An-wendungsgebiete der Luftfahrt, Schiffahrt und desLandverkehrs. In Deutschland liegen die kommerziellenUmsätze im Raumfahrtsegment und bei Endgeräten, vorallem wegen der Autonavigation, bei zirka 580 Millio-nen DM pro Jahr. Wir erwarten im Jahre 2003 einenUmsatz von 1,3 Milliarden DM. Die eingesetzten Kom-ponenten – das habe ich schon deutlich zu machen ver-sucht – stammen hauptsächlich aus den USA.Das Dienstleistungsangebot in Deutschland, das aufdiesem GPS beruht, nimmt laufend zu. Es leistet schonheute einen wichtigen Beitrag für ein integriertes Ge-samtverkehrssystem, das zum Beispiel zur effizientenNutzung der Verkehrsinfrastruktur, zur Erhöhung derVerkehrssicherheit, zur Verlagerung des Verkehrs vonder Straße auf umweltfreundliche Verkehrsmittel undzur Vermeidung von Umweltbelastungen führt.Insgesamt hat die europäische Industrie hieran bishernur einen Anteil von 5 Prozent am heutigen Weltmarktinne. Wegen des amerikanischen Militärmonopols sindeuropäische Anbieter aus wesentlichen Bereichen derWertschöpfungskette ausgeschlossen.Um sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien, hat dieEU-Kommission das Galileo-Programm vorgeschlagen,das den Aufbau eines europäischen Satellitennaviga-tionssystems vorsieht. Dies ist eine Aufgabe des Ver-kehrsministerrates. Ich möchte schon heute davor war-nen, auf der ESA-Konferenz Nägel mit Köpfen machenzu wollen. Es wäre aber wichtig, ein Signal für einepositive politische Grundsatzentscheidung zu geben.
Die Erdbeobachtung setzt auf Kontinuität in diesemwichtigen Feld angewandter Raumfahrt in Deutschland.Der deutsche Beitrag leitet sich nicht nur aus umwelt-politischen, sondern – wegen der starken Stellung derdeutschen Industrie in diesem Segment – auch aus indu-striepolitischen Interessen Deutschlands her. Deshalb,Frau Ministerin, möchte ich Sie bitten, dafür zu sorgen,daß die deutsche Beteiligung an diesem Programm Prio-rität erhält.
– Der Bitte wird entsprochen. Wenn Sie den Ausführun-gen der Ministerin richtig zugehört hätten, Herr Mölle-mann, dann wüßten Sie dies.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,ich möchte Ihnen noch einen wichtigen Punkt vorhalten:Ihre Bundesregierung – da sieht man wieder einmal, wieernst Sie das alles genommen haben – hat, was die aus-reichende und angemessene Nutzung von SatellitendatenBodo Seidenthal
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angeht, kläglich versagt. Die Daten wurden nämlich aufHalde produziert und nur in geringem Umfang als Da-tenquelle genutzt. Sie haben nichts dafür getan, daß die-ses teure Investment etwas bringt. Wir gehen davon aus,daß gerade satellitengestützte Informationssysteme zu-künftig einen angemessenen Anteil haben werden.Abschließend, Herr Rachel, komme ich auf Sie zusprechen.
Ihre Redezeit ist
aber abgelaufen, Herr Kollege.
Jawohl, Frau Präsidentin.
Ich nehme das zur Kenntnis.
Herr Rachel, als Sie 1994 im Ausschuß für Forschung
und Technologie Ihre ersten Ausführungen zu diesem
Thema gemacht haben, hatte ich den Eindruck, daß Sie
wirklich ein Kämpfer für die Raumfahrt sind. Herr Ra-
chel, Sie sind als Löwe gesprungen und als Bettvorleger
gelandet. Deshalb sind Ihre heutigen Ausführungen
nicht glaubwürdig.
Es ist langsam an der Zeit, daß sich die Opposition
hinter die Ministerin stellt und daß Sie, Herr Rachel,
Ihre Beschimpfungen – teilweise waren es sogar Belei-
digungen –, die Sie im „Handelsblatt“ vom 1. März ge-
äußert haben, endlich zurücknehmen.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank für Ihr Entgegen-
kommen.
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Rachel.
Frau Präsidentin!
Sehr geehrter Herr Kollege Seidenthal, wir haben in den
letzten Jahren verschiedentlich Gelegenheit gehabt, über
die Raumfahrt zu diskutieren. Auch wenn man in einer
argumentativen Schwäche ist, sollte man nicht dazu
übergehen, den Kollegen etwas zu unterstellen, was
nicht richtig ist. Ich glaube, daß gerade die Arbeitsgrup-
pe der CDU/CSU-Fraktion, der ich angehöre, in den
letzten Jahren bewiesen hat, daß sie sich sehr wohl ein-
mal, wenn das von einem Parteifreund geführte Ministe-
rium keine die Raumfahrt so unterstützende Position
einnehmen wollte, wie wir es uns gewünscht haben, für
eine solche eingesetzt hat. Dies haben wir im Gegensatz
zu Ihrer Fraktion getan, die dadurch geglänzt hat, daß sie
keinerlei Haushaltsänderungsanträge eingebracht hat.
Wir haben beispielsweise im letzten Haushalt erreicht,
daß die entsprechenden Haushaltsmittel von 970 Mil-
lionen DM auf 1 Milliarde DM erhöht wurden. Insofern
weise ich Ihre persönlichen Unterstellungen mit aller
Entschiedenheit zurück.
Es liegen keineweiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Ausspra-che.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlageauf Drucksache 14/655 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Über-weisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15a bis 15f sowiedie Zusatzpunkte 3a bis 3f – es handelt sich um Über-weisungen im vereinfachten Verfahren – auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reformdes Staatsangehörigkeitsrechts– Drucksache 14/744 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Überweisungsgeset-zes– Drucksache 14/745 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 8. Dezember 1997 über wirt-schaftliche Partnerschaft, politische Koordi-nierung und Zusammenarbeit zwischen derEuropäischen Gemeinschaft und ihren Mit-gliedstaaten einerseits und den VereinigtenMexikanischen Staaten andererseits– Drucksache 14/684 –Überweisungsvorschlag:
Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung undBeschleunigung des arbeitsgerichtlichen Verfah-rens
– Drucksache 14/626 –Überweisungsvorschlag:
gang Dehnel, Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Hals-brücke), Günter Baumann, weiteren Abgeordne-ten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrach-ten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände-rung des Verkehrswegeplanungsbeschleuni-gungsgesetzes– Drucksache 14/544 –Bodo Seidenthal
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Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen(federführend)Ausschuß für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuß für Tourismus f) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSUÄnderung der Geschäftsordnung des Deut-schen Bundestages– Drucksache 14/542 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungZP3 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 21. Dezember 1995 überden Beitritt der Republik Österreich, der Re-publik Finnland und des Königreichs Schwe-den zu dem Übereinkommen über die Beseiti-gung der Doppelbesteuerung im Falle vonGewinnberichtigungen zwischen verbundenenUnternehmen– Drucksache 14/748 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde-brecht Braun , Rainer Brüderle, ErnstBurgbacher, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P.Für eine sofortige Verhängung umfassenderHandelssanktionen gegen Jugoslawien– Drucksache 14/793 –Überweisungsvorschlag:
Fograscher, Adelheid Tröscher, Günter Oesing-haus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD sowie der Abgeordneten Dr. AngelikaKöster-Loßack, Kerstin Müller , RezzoSchlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIEGRÜNENUN-Sondergeneralversammlung – 5 Jahrenach der Konferenz für Bevölkerung undEntwicklung in Kairo – Aktive Bevölkerungs-politik in der Entwicklungszusammenarbeit– Drucksache 14/797 –Überweisungsvorschlag:
Gebhardt, Heidi Lippmann, Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derPDSAusschluß des Eintritts Minderjähriger in dieBundeswehr– Drucksache 14/551 –Überweisungsvorschlag:
Gebhardt, Carsten Hübner, Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derPDSEinsatz von Kindern als Soldaten wirksamverhindern– Drucksache 14/552 –Überweisungsvorschlag:
Kortmann, Brigitte Adler, Hermann Bachmaier,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, RezzoSchlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENGegen den Einsatz von Kindern als Soldatenin bewaffneten Konflikten– Drucksache 14/806 –Überweisungsvorschlag:
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Selbst wenn Sie darauf hinweisen, daß bereits Gutachtenvorliegen, halte ich entgegen, daß es dennoch wichtigist, daß die Regierung diese Gutachten selber wertet undihre Konsequenzen daraus zieht. Insofern stimmen wireiner Verlängerung der Frist um maximal zwei Jahre zuund lehnen Ihren Vorschlag, sie auf ein Jahr zu begren-zen, ab. Wenn es schneller gehen sollte, ist das in Ord-nung; aber zunächst einmal muß dieser Entscheidungs-spielraum geschaffen werden.Uns ist es natürlich klar, daß damit die Fortschrei-bung der Regelsätze in der bisherigen Weise erfolgt. Wirwissen auch, daß sie zwischen 1993 und 1996 gedeckeltwurden und daß ab 1997 die Erhöhung der Sätze in dergleichen Weise wie in der gesetzlichen Rentenversiche-rung geschieht.Wir haben damals diese Entscheidung als Kompro-miß mitgetragen. Sie wurde uns nachträglich dadurcherleichtert, weil die Preissteigerungsraten in den Berei-chen, die sich auf die Regelsätze auswirken, erträglicherausfielen, als wir befürchtet hatten. So hat sich dieseFortschreibung nicht so gravierend ausgewirkt. Da wirdavon ausgehen können, daß die Renten in den nächstenbeiden Jahren stärker steigen als bisher, halten wir auchdie Verlängerung der Fortschreibung für vertretbar.Erläutern möchte ich Ihnen auch unseren Vorschlag,dem Wunsch der Länder zu entsprechen und Modellvor-haben für Pauschalierungen zuzulassen. Wir verfolgendamit zwei Ziele. Einmal geht es darum, die Autonomievon Sozialhilfeempfängern zu erhalten und zu stärken,wo es geht. Wir hoffen, soweit es bei den nicht geradeüppig bemessenen Beträgen überhaupt möglich ist, einwenig mehr Entscheidungsfreiheit für das eigene Haus-halten zu ermöglichen. Zum zweiten geht es uns darum,die Effizienz der Verwaltung zu verbessern und diemöglicherweise freiwerdenden Ressourcen für die indi-viduelle Beratung der Sozialhilfeempfänger zu nutzen.Es geht nicht darum – das betone ich noch einmalausdrücklich; es kann auch gar nicht darum gehen –,Leistungen zu senken. Es bleibt beim Prinzip der Be-darfsdeckung. Wir haben das ausdrücklich in unsereRegelungen hineingeschrieben.
Einsparungen sind durch Pauschalierungen also nicht zuerwarten; eher das Gegenteil. Denn die Pauschalen müs-sen so bemessen sein, daß sie eine große Zahl der Emp-fänger umfassen und daß nicht dauernd Ausnahmerege-lungen geschaffen werden müssen, die aber – auch dasbetone ich – nach wie vor möglich sein müssen.Wir legen auch Wert darauf, daß die Pauschalen fürdie jeweiligen Leistungen gesondert bestimmt werdenund auf ihre Tauglichkeit geprüft werden können. Des-halb lehnen wir den Änderungsvorschlag der CDU/CSUab, eine Gesamtpauschale zu ermöglichen. Dann kannman nämlich nicht mehr die einzelnen Pauschalen aufihre Tauglichkeit überprüfen. Ganz abgesehen davonwürde es auch § 22 des Bundessozialhilfegesetzeswidersprechen.Wir erhoffen uns von der Einrichtung mehrerer Pau-schalen, daß Verwaltungsaufwand eingespart wird unddadurch mehr Zeit zur individuellen Beratung möglichist, die in den letzten Jahren hat zurückstehen müssen,weil die Sozialamtsmitarbeiter so viele Fälle zu bear-beiten hatten, daß sie wenig Zeit für den einzelnen zurVerfügung hatten. Dadurch wären vielleicht auch mehrErfolge zu verzeichnen, Hilfebezieher in Arbeit zu ver-mitteln. Diese erfolgreiche Vermittlung kann dann mit-telfristig tatsächlich zu Einsparungen führen, wenn esuns gelingt, den Zustrom zu den Sozialhilfeämtern zuBrigitte Lange
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verringern, denn sonst ist es eine Sisyphusarbeit. Wirbrauchen also Veränderungen im Arbeitsmarktbereich,aber auch bei den vorrangigen Leistungen.Ich verstehe, daß die CDU/CSU in den Antrag hin-einschreiben möchte, daß die freiwerdenden Zeitres-sourcen für die Verwaltung verwendet werden sollen,und daß sie nicht dazu beitragen möchte, möglicherwei-se Stellen zu sperren. Aber da endet die Kompetenz desBundes; wir können nicht in die Verwaltungen der Län-der und Kommunen hineinregieren.Pauschalen sind nichts Neues. Wir haben sie bereitsim Gesetz verankert. Wir haben Regelsätze, Mehrbe-darfszuschläge, Blindengeld und Pflegegeld. Das allessind gesetzlich festgelegte Pauschalen. Aber es gibt auchPauschalen, die einzelne Sozialhilfeträger bereits erprobthaben, zum Beispiel bei der Bekleidung. Diese könnenin die neuen Modellvorhaben einbezogen werden.Voraussetzung dafür ist eine Rechtsverordnung derjeweiligen Landesregierung, damit länderspezifischeAnsätze zugelassen werden können, aber andererseitsauch eine vergleichbare Auswertung der Modelle ge-währleistet ist. In diese begleitende Auswertung müssendie Wohlfahrtsverbände unbedingt einbezogen werden.Damit meinen wir, den Bedenken dieser Verbände Rech-nung zu tragen und ihren Einwand, die Hilfe in besonde-ren Lebenslagen von der Pauschalierung auszunehmen,nicht berücksichtigen zu müssen. Deshalb lehnen wirIhren Änderungsvorschlag in diesem Bereich ab.Die SPD-Fraktion wird die Modellvorhaben kritischbegleiten. Wir hoffen, daß sie nicht nur dazu beitragen,Verwaltungshandeln zu optimieren, sondern daß wirdamit vor allen Dingen die Situation von Sozialhilfebe-ziehern verbessern können.Danke.
Ich erteile dem
Kollegen Peter Weiß das Wort.
Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren! Die Vorgeschichtedieses siebten Änderungsgesetzes zum Bundessozialhil-ferecht ist, wie ich meine, ein Musterbeispiel für das an-geblich so entschlossene und klare Handeln der neuenrotgrünen Koalition.Ich möchte den wichtigsten Punkt, die Pauschalie-rungsregelung, herausgreifen. Nachdem Fachleute dar-über seit vielen Jahren diskutiert haben, hat Baden-Württemberg im Mai vergangenen Jahres einen entspre-chenden Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht.Im Herbst vergangenen Jahres hat die neue rotgrüneKoalition in ihre Koalitionsvereinbarung hineinge-schrieben, sie wolle Modellvorhaben bezüglich einerPauschalierung der Sozialhilfe ermöglichen. Dann hatBaden-Württemberg im Bundesrat eine Entscheidung inder Sache beantragt, weil man sich angeblich einig ge-wesen sei. Diese wurde abgelehnt.Im Januar dieses Jahres ist dann vom Arbeitsministe-rium ein Referentenentwurf an die entsprechenden Ver-bände und interessierten Fachleute geschickt worden.Darin war ein eigener Regelungsvorschlag zur Pauscha-lierung enthalten. Im Februar haben wir den diesbezüg-lichen Entwurf der Bundesregierung bekommen. Darinstand plötzlich nichts mehr davon.Daraufhin folgte die Sitzung des Bundestagsaus-schusses für Arbeit und Sozialordnung, in der die Koali-tion flugs per Tischvorlage die Pauschalierung wiederzum Leben erweckt hat. Der entscheidende Satz – dasmöchte ich erwähnen –, der den Unterschied zwischender Gesetzesinitiative Baden-Württembergs und demeinstigen Referentenentwurf markierte, nämlich daß einePauschalierung nur mit ausdrücklicher Zustimmung desSozialhilfeempfängers möglich ist, fehlte. Nach diesemZickzackkurs befinden wir uns heute in der zweiten unddritten Lesung des vorliegenden Entwurfes zur Ände-rung des Bundessozialhilfegesetzes.Meine Damen und Herren, wenn sich die weiterge-henden Pauschalierungen in der Sozialhilfe, die wir,wenn das Gesetz in Kraft tritt, zunächst einmal in einemModellvorhaben erproben werden – wozu wir in der Tatauch die kritische Begleitung sowohl der kommunalenSpitzenverbände als auch der Wohlfahrtsverbände alsauch der Selbstinitiativen der Sozialhilfeempfängerbrauchen –, bewähren, stellen sie in der Tat eine Revo-lutionierung des bisherigen Systems des Sozialhilfebe-zugs dar. Während die laufenden Leistungen zum Le-bensunterhalt in der Sozialhilfe seit dem Inkrafttretendes ursprünglichen Gesetzes durch den Regelsatz quasipauschaliert sind, findet auf den Sozialämtern bis zumheutigen Tag ein oft hartnäckiger und verbitterter Kampfum kleine Beiträge für den Kauf zum Beispiel von Klei-dung, Hausrat, Möbeln, Radios, Fernsehgeräten und an-derem statt.
Obwohl es bestimmte Richtlinien gibt, besteht bei deneinzelnen Trägern der Sozialhilfe eine sehr unterschied-liche Praxis dahin gehend, was dem einzelnen Sozialhil-feempfänger tatsächlich gewährt wird.Eines kommt noch hinzu: Bis zu 40 Prozent der Ent-scheidungen im Hinblick auf den Bezug von einmaligenLeistungen werden rechtlich angefochten. Das heißt, eskommt in einem Großteil der ergangenen Sozialhilfeent-scheidungen zu Widerspruchsverfahren oder gerichtli-chen Auseinandersetzungen. Dieses zum Teil unwürdigeGezerre und Gerangel wollen wir beenden.
Die Zielsetzung ist, daß jedem Sozialhilfeempfängerein berechenbares Haushaltsbudget zur Verfügung steht,daß er wirtschaftliche Eigenverantwortung praktizierenmuß und daß er die Möglichkeit erhält, für die persönli-che Lebensführung Prioritäten zu setzen. Das ist einekonkretere Ausgestaltung dessen, was wir heute auch imSozialhilferecht unter der Würde des Menschen verste-hen. Dieser Weg zu mehr Selbständigkeit des einzelnenSozialhilfeempfängers führt über eine Pauschalierungaller Elemente der Hilfe zum Lebensunterhalt, also auchder Kosten für die Unterkunft.Brigitte Lange
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2820 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
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Aber auch für die Sozialhilfeträger, das heißt für un-sere Städte und Landkreise, ergibt sich eine erheblicheVeränderung. Die Verwaltung der Sozialhilfe wird we-sentlich vereinfacht. Personalkapazitäten werden frei,die für den weiteren Ausbau der Hilfen zum Ausstiegaus der Sozialhilfe dringend gebraucht werden.Die frühere Bundesregierung aus CDU/CSU undF.D.P. hat bereits mit ihren Änderungen im Sozialhilfe-gesetz Wege aufgezeigt, wie Sozialhilfebezieher ver-stärkt wieder Arbeit erhalten können, statt den Sozial-hilfebezug zu konservieren.
Die Pauschalierung, die wir jetzt einführen wollen, setztfür die Aufgaben der Beratung, der Hilfe zum Ausstiegaus der Sozialhilfe und der Hilfe zur verstärkten Ar-beitsvermittlung weitere Kapazitäten und Kräfte frei.Ich will noch einmal ausdrücklich klarstellen – FrauLange, da sind wir uns vollkommen einig –: Die ange-strebte Pauschalierung der Hilfen zum Lebensunter-halt ist kein Vehikel für versteckte Leistungskürzungen,sondern sie ist das Instrument für vermehrte und verbes-serte Hilfen zum Ausstieg aus der Sozialhilfe. Deshalbwollen wir diese Zielsetzung ausdrücklich in das Gesetzhineinschreiben und bedauern, daß die Koalition dasablehnt.
Das neue Instrument der Pauschalierung muß aller-dings auf einer klaren Rechtsgrundlage stehen. Deshalbhaben wir eine Reihe von Änderungsanträgen einge-bracht, die diesem Ziel dienen. Wir wollen den bei je-dem Hilfeempfänger bestehenden Rechtsanspruch aufindividuell bedarfsgerechte Hilfe in einen Gesamtrechts-anspruch auf ein bedarfsdeckendes Budget ausgestalten.Ich verstehe nicht, daß Sie einen Widerspruch hervor-rufen und sagen: Wir wollen kein Gesamtbudget. WennSie das ernsthaft nicht wollen
– so steht es aber im Gesetz –, dann ist die Reform, dieSie jetzt machen, umsonst. Die von uns gemeinsam an-gestrebten Verwaltungskosteneinsparungen wird esdann voraussichtlich nicht geben.Der Städte- und Gemeindebund hat eine klarstellendegesetzliche Formulierung empfohlen. Wer eine solcheKlarstellung ablehnt, muß sich den Vorwurf gefallenlassen, daß er bewußt Unklarheiten hinnehmen will.Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn man IhreGesetzesbegründung liest.Unserer Auffassung nach ist die von uns vorgeschla-gene Regelung notwendig, um Rechtsstreitigkeiten zwi-schen Sozialhilfeträgern und Hilfeempfängern zu ver-meiden. Gesetze sollen Klarheit schaffen und nicht zumehr Gerichtsprozessen führen.
Wir sind weiterhin der Auffassung, daß eine Pau-schalierung von Hilfen in besonderen Lebenslageneigentlich nicht sachgerecht eingeführt werden kann.Das zeigt sich vor allen Dingen bei den Hilfen fürBehinderte, bei denen es so große Unterschiede gibtund bedarfsgerechte Einzelfallentscheidungen notwen-dig sind, so daß es schlichtweg umöglich ist, hierfür all-gemeine Pauschalen festzulegen.Meine Damen und Herren, wir sind uns mit derKoalition einig: Wir wollen die Pauschalierung der So-zialhilfeleistungen. Wenn Sie den Änderungsanträgender CDU/CSU zustimmen würden, würde Ihr Gesetznoch besser werden. Deswegen stellen wir sie heutenoch einmal zur Abstimmung.
Unabhängig von dem Thema Pauschalierung bleibtdie Aufgabe, ein neues Bedarfsbemessungsschema fürdie Sozialhilfe zu finden. Frau Lange hat dazu einigegrundsätzliche Ausführungen gemacht. Mit dem heuti-gen siebten Änderungsgesetz wird nur eines gemacht:Die bisherige Übergangsregelung wird noch einmal umzwei Jahre verlängert. Wir finden, hier will die neueBundesregierung unverhältnismäßig viel Zeit schinden;denn die noch von Horst Seehofer in Auftrag gegebenenRechtsgutachten liegen vor und können ausgewertetwerden. Sie können möglichst bald in einen neuen Re-gelungsvorschlag umgesetzt werden. Wir sind deshalbder Auffassung, daß bereits im kommenden Jahr ein ent-sprechendes Gesetz vorliegen könnte.Ich habe ein gewisses Verständnis, verehrte Kolle-ginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/DieGrünen, daß Sie, nachdem Sie zum Beispiel bei den630-Mark-Jobs und bei der Scheinselbständigkeit un-ausgegorene, unsoziale und nicht handhabbare Gesetzeauf den Weg gebracht haben, jetzt die neue Langsamkeitals Motto für Ihr Regierungshandeln entdecken.
Regierungsverantwortung wird aber übernommen, umzu handeln, und nicht, um abzuwarten und Tee zu trin-ken. Deshalb fordern wir dieses Handeln von Ihnen.Es liegt an den Bundesländern, das neue Sozialhilfe-recht durch entsprechende Rechtsverordnungen umzu-setzen. Ich erwarte einen produktiven Wettbewerb unterden Ländern, damit wieder mehr Menschen aus der So-zialhilfe herausfinden, Hilfen zur Arbeit geschaffenwerden und so letztlich auch der finanzielle Handlungs-spielraum unserer Städte und Landkreise wieder erwei-tert werden kann.Vielen Dank.
Ich erteile das Wortder Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/DieGrünen.
Herr Weiß, auch ich gehöre zu denjenigen, die sehr gernTee trinken. Es kann aber aus meiner Sicht keine RedePeter Weiß
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davon sein, daß wir angesichts dessen, was Sie uns hin-terlassen haben, abwarten wollen.
Die jetzt zu beschließenden Änderungen des Bundes-sozialhilfegesetzes sind ein erster Schritt. Es ist hierschon davon gesprochen worden, daß es dringend nötigist, Änderungen, insbesondere am Mechanismus derFestlegung der Regelsätze, vorzunehmen.Die Hilfe zum Lebensunterhalt dient heute nichtmehr der Absicherung einzelner Personen, die vorüber-gehend in eine persönlich schwierige Lage geraten sind.Dafür waren diese Hilfen ursprünglich aber gedacht;man erinnert sich kaum noch daran. Heute sichern wirden Lebensunterhalt für eine ständig steigende Zahl vonMenschen, darunter mehr als eine Million Kinder.Meine Damen und Herren, die Regierung hat sichzum Ziel gesetzt, dem ein Ende zu machen. Es sollSchluß sein mit einer Sozialhilfe, die das Überlebensichert, aber nicht Leben vor allem im Sinne gesell-schaftlicher Teilhabe gewährleistet. Dazu braucht esnicht nur mehr Geld, sondern auch endlich die Möglich-keit, sich nicht mehr dem entwürdigenden Verfahrenzum Beantragen eines Wintermantels oder Kühlschran-kes aussetzen zu müssen.Dazu sind die vorliegenden Erhebungen der alten Re-gierung leider nicht befriedigend verwendbar. Die in derVergangenheit vor dem Hintergrund der in diesem Jahrablaufenden Regelung zur Regelsatzanpassung er-zeugten Gutachten und Datenreihen hatten zum großenTeil die Zielrichtung, Leistungen einzuschränken. Genaudas haben Sie in den letzten Jahren auch gemacht:Sanktionen zu begründen und die Last der Schuld anihrer Situation weitgehend den Hilfesuchenden in dieSchuhe zu schieben. Die immer wieder geführten De-batten um Mißbrauch im Bereich der Sozialhilfe warenfür diese Ausrichtung untrügliches Zeichen. Ich glaube,wir haben sehr wohl die Verpflichtung, hier unter einemanderen Vorzeichen neue Möglichkeiten zu suchen.Die Koalition will auf der Basis der in den nächstenzwei Jahren anstehenden Arbeit zu diesem Thema solideMechanismen der Regelsatzbemessung und -anpassungerzeugen, die insbesondere dem Prinzip der Bedarfs-deckung entsprechen und die auch den Umfang einbe-zogener Kosten neu und zeitgemäß definieren. Dabeiwerden die zahlreichen und in ihrer Spannbreite weitstreuenden Gutachten, insbesondere von Sozialhilfeträ-gern sowohl aus dem öffentlichen wie auch aus demfreien Trägerbereich, genau zu analysieren sein.Mit der ebenfalls im Änderungsantrag enthaltenenMöglichkeit neuer Pauschalen in der Sozialhilfepraxisverbinden wir vor allem die Hoffnung, daß die Einspa-rung in der Verwaltung zu einer qualitativ besseren,breiteren Beratung für die Hilfesuchenden führt. DieseAusweitungen sind aus unserer Sicht dringend geboten.Eine Studie von Diakonie und Caritas führte unter ande-rem zu dem Ergebnis, daß eine sehr hohe Zahl von Men-schen die ihnen nach dem Sozialhilfegesetz zustehendenLeistungen nicht in Anspruch nehmen. Sie schämensich, zum Sozialamt zu gehen, oder aber sie wissenüberhaupt nichts von den Möglichkeiten der Sozialhilfe.Unser Anliegen muß sein, diesen Menschen mit für sieannehmbarem Rat zur Seite zu stehen. Eine Beratung,die diese Menschen auch erreicht, muß möglich werden.Auch dafür schaffen wir hier die Grundlage.Wir sind uns durchaus bewußt, daß dies alles ein er-ster Schritt ist. Aber – Sie haben es angesprochen – wirmüssen eine solide Grundlage schaffen. Wir müssen denMenschen zu mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Le-ben, zu mehr Selbstbestimmung und mehr Eigenverant-wortung verhelfen. Teilhabe an der Gesellschaft heißtnicht: „Ich darf mitmachen“, sondern: „Ich will mitge-stalten.“ Hier haben wir noch viel Arbeit vor uns, diegewährleisten soll, daß dies tatsächlich geschehen kann.Lassen Sie mich zum Schluß noch sagen, die Kinderund Jugendlichen betreffend, die von Sozialhilfe leben:Wir werden im Herbst dieses Jahres das Familienentla-stungsgesetz neu zu regeln haben. Auch hierbei wird esdarauf ankommen, daß nicht fortgesetzt wird, was dieVorgängerregierung gemacht hat, nämlich Kinder im-mer mehr in Armut zu treiben. Es wird darauf ankom-men, deutlich zu machen, daß, wenn wir von Fami-lienentlastung reden, auch diejenigen Kinder gemeintsind, die von Sozialhilfe leben. Diese müssen hinrei-chend berücksichtigt werden. Die Gesellschaft darfAusgrenzung nicht mehr in Kauf nehmen, wie wir das inden letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt haben. Wirbrauchen für die Zukunft unserer Gesellschaft Miteinan-der, Teilhabe und Gerechtigkeit, und das in aller Konse-quenz.Vielen Dank.
Das Wort hat der
Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Ge-setzentwurf beweist aus meiner Sicht erneut die offen-sichtliche Regierungsunfähigkeit der Koalition.
Es ist in der Tat sonderbar: Mal nehmen Sie sich zu-wenig Zeit, überstürzen Ihre Gesetzgebung ohne Rück-sicht auf die Auswirkungen – Stichworte: 630-Mark-Verträge, Scheinselbständigkeit –, und hier und heutehaben Sie es plötzlich überhaupt nicht eilig, lassen sichZeit, obwohl alle Voraussetzungen für eine politischeEntscheidung – genau darum geht es nämlich hier –vorliegen. Offensichtlich haben Sie nicht den Mut zuentscheiden. Sie verschaffen sich mit der Verlängerungder Übergangsfristen um zwei Jahre bis zur Neuge-staltung der Bemessungsgrundlagen ganz offensichtlichLuft. Sie spielen auf Zeit.
Katrin Göring-Eckardt
Metadaten/Kopzeile:
2822 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
(C)
Wir sind der Ansicht, daß ein Jahr für die Vorberei-tung der Neugestaltung vollkommen ausreichend wäre,zumal in der letzten Legislaturperiode bereits in erhebli-chem Umfang Vorarbeiten geleistet wurden. Ich stimmezu, Frau Lange: Eine neue Regierung muß die Möglich-keit haben, sich das einmal in Ruhe anzuschauen. Aberich glaube, ein Jahr ist sehr viel Zeit. Alle Beteiligten,die Betroffenen wie die Kommunen, haben ein Anrechtdarauf, zu wissen, wie es in diesem Bereich in Zukunftweitergehen soll. Ich hätte es vor diesem Hintergrundauf jeden Fall begrüßt, wenn Sie auf den Kompromiß-vorschlag von CDU/CSU im Ausschuß eingegangen wä-ren.Durch die Verlängerung des Ankoppelns der Erhö-hung der Regelsätze an die Entwicklung der Renten inden alten Bundesländern entstehen Kosten bei denKommunen. Meine Damen und Herren von SPD undGrünen, Sie mögen die Kosten als gering bezeichnen.„Gering“ ist aber ein relativer Begriff. Schon jetzt machtdie Sozialhilfe einen nicht unerheblichen Anteil derKommunalhaushalte aus.Ich erinnere daran – man muß das immer im Gesamt-zusammenhang sehen –, daß die Kommunen in diesemJahr auch eine Tariferhöhung in nicht unerheblichemUmfang zu verkraften haben. Diese Tariferhöhung kamim übrigen unter massiver Mithilfe eines ehemaligenMinisters Ihrer Regierung zustande. Die Verlängerungder Übergangsfristen belastet jetzt die kommunalenHaushalte erneut. Für mich betreiben Sie damit einePolitik zu Lasten der Kommunen – eine Politik, die Sieselbst der Regierung Kohl noch vor wenigen Monatenvorgeworfen haben.
Ich begrüße an dieser Stelle aber ausdrücklich dievorgesehene Experimentierklausel. Eine verstärkteEinführung von Pauschalierungen führt zu einer stärke-ren Orientierung der Sozialhilfe am tatsächlichen Be-darf. Es ist daher aus unserer Sicht verstärkt aufPauschalierungen zurückzugreifen. Dennoch muß, nichtzuletzt im Interesse der Betroffenen, Rechtssicherheitherrschen. Aber auch hier haben Sie versagt, sich kon-struktiven Vorschlägen verschlossen. Ich hoffe nur, daßes nicht auf Grund dieser Ignoranz zu schlicht unnöti-gen Rechtsstreitigkeiten zwischen Sozialhilfeempfän-gern und Sozialhilfeträgern kommt, obwohl ich es – somuß ich ganz offen sagen – befürchte. Auch hier bot derÄnderungsantrag von CDU und CSU im Ausschußeinen Ansatzpunkt für einen möglichen Kompromiß.Daher kann und muß ich zusammenfassen: Erstens.Die Regierung legt ein Gesetz vor, mit dem sie sich Zeitnimmt, die sie eigentlich schlichtweg nicht bräuchte.Zweitens. Dieses Gesetz belastet die Kommunen in ausmeiner Sicht nicht zu akzeptierenden Weise. Drittens.Die vom Grundsatz her positive Experimentierklauselzur Erprobung von Pauschalierungen schafft Rechtsun-sicherheit.Das sind drei schwerwiegende Gründe für die Frak-tion der F.D.P., dieses Gesetz heute abzulehnen. Ichkann nur hoffen, daß wir in Zukunft bei der dann anste-henden grundlegenden Neufassung im Interesse allerBeteiligten, nicht zuletzt der Kommunen, zielführenderans Werk gehen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Grehn, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Eigentlich war nach den vielenAussagen zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu erwarten,daß die erste legislative Maßnahme der neuen Regierungim Bereich Sozialhilfe ein gutes Signal für die Armen indiesem Land sein würde. Was nun vorgelegt wird, bringterneut belastende Mißtöne in den Wohlklang der Wortevon sozialer Gerechtigkeit.Erstens. Für die Betroffenen heißt soziale Gerechtig-keit zuallererst eine bedarfsorientierte Festsetzung derRegelsätze. Die Fortsetzung der Deckelung der Regel-sätze in Form der willkürlichen Anpassung an die Ver-änderung der Renten für weitere zwei Jahre hat nichts,aber auch gar nichts mit einer gerechten Bestimmungder Regelsätze zu tun. – Es ist richtig, Frau Lange. Be-darfsdeckung steht zwar drin; aber Deckelung hat damitnichts zu tun.Das ist auch sehr weit von dem entfernt, was dasBundesverfassungsgericht mit seiner im Januar veröf-fentlichten Entscheidung zum sozialhilferechtlich defi-nierten Existenzminimum ausgeführt hat. Wir lehnen dieFortsetzung dieser Deckelung ab.Mit Ihrem Entwurf überholen Sie geradezu die Kon-servativen und die Liberalen, die es in den Jahren seit1993 geschafft haben, die Unterdeckelung auf fast18 Prozent zu treiben. Auch auf Grund der Auswirkungder Ökosteuer werden Sie es in den nächsten zwei Jah-ren schaffen, die Unterdeckelung um weitere 7 Prozentzu erhöhen. Damit koppeln Sie die Sozialhilfeempfängerweiter vom gesellschaftlichen Fortschritt ab. Die Aus-sage, Sie wollten den Bedarf sichern, wird damit eher zueiner Art platonischer Liebeserklärung.Zweitens. Es gibt wahrlich dringenderen Handlungs-bedarf, als eine Experimentierklausel für neoliberaleEigenverantwortungsstrategien einzuführen. Pauschalenkönnen sinnvoll sein, aber Pauschalen um der Pauscha-len willen sind widersinnig. Regelsätze sind bereits Pau-schalen. Wie unzulänglich sie sind, das ist hinreichendbekannt, und in welchem Schneckentempo sie erhöhtwerden und nach welchen fiskalischen Interessen sie ge-deckelt werden, ist ebenfalls hinlänglich bekannt. Abernun die Tür zu öffnen für eine Pauschalierung von Hil-fen in besonderen Lebenslagen oder für die Kosten derUnterkunft ist völlig unakzeptabel.
Das widerspricht der inneren Logik der Hilfen in beson-deren Lebenslagen genauso, wie es angesichts der Rea-lität auf dem Wohnungsmarkt und der Preisgestaltungam Wohnungsmarkt nicht realisierbar ist.Dr. Heinrich L. Kolb
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 2823
(C)
(D)
Deshalb sage ich Ihnen: Ziehen Sie Ihren Entwurf zu-rück, und fassen Sie ihn unter dem Gesichtspunkt dersozialen Gerechtigkeit neu. Entsprechende Zuarbeitenstehen Ihnen aus den Wohlfahrtsverbänden, den Betrof-fenenorganisationen und auch in Gestalt des Änderungs-antrages der PDS ausreichend zur Verfügung.Lassen Sie mich abschließend sagen: Herr Weiß, dieRevolutionierung durch Pauschalen findet bereits seitgeraumer Zeit statt. Ich nenne etwa die Bekleidungspau-schalen. Das Hinausschieben von Anpassungen, dasVertrösten der Betroffenen ist eine Sache, aber Vorlageneinzubringen, die den Notwendigkeiten widersprechenoder die halbherzig sind, das ist eine ganz andere Sache.Das trifft die Betroffenen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Bundessozialhilfegesetzes auf den Druck-
sachen 14/389 und 14/820. Es liegen Änderungsanträge
der Fraktionen der CDU/CSU und der PDS vor.
Zunächst stimmen wir mit Einverständnis der Antrag-
steller über den Änderungsantrag der Fraktion der PDS
auf Drucksache 14/821 ab. Wer stimmt für diesen Ände-
rungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Damit ist der Änderungsantrag gegen die Stimmen der
PDS abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf in der Ausschußfassung. Die Fraktion der CDU/
CSU hat Einzelabstimmung über eine Reihe von Vor-
schriften verlangt.
Ich rufe Art. 1 Nr. 1 und Art. 1 Nr. 2 Buchstabe a auf.
Ich bitte diejenigen, die den genannten Vorschriften zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Damit sind diese Vor-
schriften gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ange-
nommen.
Ich rufe Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b auf. Hierzu liegt auf
Drucksache 14/825 unter Buchstabe a ein Änderungs-
antrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Wer stimmt für
diesen Änderungsantrag? – Die Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Damit ist der Änderungsantrag gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b ist
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung
der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Art. 1 Nrn. 3 bis 7 auf. Ich bitte diejenigen,
die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist Art. 1
Nrn. 3 bis 7 bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe Art. 1 Nr. 8 in der Ausschußfassung auf.
Hierzu liegt auf Drucksache 14/825 unter Buchstabe b
ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSU? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag
ist gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. bei
Enthaltung der PDS abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die Art. 1 Nr. 8 in der Aus-
schußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Art. 1 Nr. 8
ist in der Ausschußfassung mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU,
F.D.P. und PDS angenommen.
Ich rufe Art. 1 Nrn. 9 und 10 in der Ausschußfassung
auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Art. 1 Nrn. 9 und 10 sind mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der CDU/CSU bei Nichtbeteiligung
der F.D.P. und Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe Art. 2, Einleitung und Überschrift in der
Ausschußfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Die aufgerufenen Vorschriften
sind bei Enthaltung der PDS angenommen. Damit ist die
zweite Beratung abgeschlossen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung! Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS
angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung
auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung als Bauherr zu
Schwarzarbeit und außertariflicher Beschäfti-
gung auf den Baustellen des Bundes in Berlin
und zu den Auswirkungen auf die Beschäfti-
gungssituation im Baugewerbe Berlins und
Brandenburgs sowie die ostdeutsche Bauwirt-
schaft insgesamt
Das Wort hat als erste für die Fraktion der PDS die
Kollegin Petra Pau.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Sehr geehrteKolleginnen und Kollegen! Am Montag haben wir ge-meinsam den neuen, den modernisierten Reichstag alsSitz des Bundestages eingeweiht. Auf Nachfragen vonJournalistinnen und Journalisten, wie mir das Gebäudedenn gefalle, habe ich gesagt: Die Politik und damitauch wir als Politikerinnen und Politiker werden zu tunhaben, werden uns sehr strecken müssen, um die Trans-parenz dieses Hauses und der Kuppel auf dem Reichs-tag in unserem täglichen Tun auch nur halbwegs zu er-reichen.
Dr. Klaus Grehn
Metadaten/Kopzeile:
2824 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
(C)
– Die Gegenstimme gegen eine Ausführung des Baussagt doch noch lange nichts gegen die Bewunderung desBauwerks, Frau Kollegin.
Ich gebe zu, ich habe an diesem Montag auch meineBefürchtungen wiederholt, daß dieser Reichstag, unserzukünftiger Arbeitsplatz, liebe Kollegen, auf einem sehrunsozialen Fundament steht. Nicht nur die Fachgemein-schaft Bau Berlin/Brandenburg, die am Montag ja un-weit des Reichstages demonstriert hat, hat gegenSchwarzarbeit am Reichstag und auf weiteren Bundes-baustellen in Berlin protestiert.
– Es geht sofort los, Kollege, alles nachweisbar – bis hinzu den geprellten Bauarbeiterinnen und Bauarbeitern,die jetzt hochverschuldet wieder zu Hause in Griechen-land sind. Immer wieder waren diese Unregelmäßigkei-ten mediale Themen. Dumpingvorwürfe, mangelnderArbeitsschutz, unmenschliches Arbeitszeitregime undanderes mehr an Bundesbauten sind inzwischen hundert-fach mit Name und Adresse belegt. So berichtete dasARD-Magazin „Report“ am 1. März 1999 über mafiöseStrukturen sowie – ich erlaube mir zu zitieren – „Lugund Trug auf Regierungsbaustellen“. Ausländische Bau-arbeiter, die zu Dumpinglöhnen illegal angestellt, inbaufälligen Unterkünften untergebracht und letztendlichohne Entlohnung nach Griechenland zurückgeschicktwurden, wurden nicht nur zitiert, sondern kamen per-sönlich zu Wort.Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen,wir alle kennen den Slogan, Berlin sei die BaustelleEuropas und im übrigen die Werkstatt der Einheit derBundesrepublik. Zugleich aber müssen wir zur Kenntnisnehmen, daß die Arbeitslosigkeit im Baugewerbe derRegion inzwischen jenseits der 30-Prozent-Marke liegt.Jeder, der dies gegenüberstellt, wird ermessen können,welche Auswirkungen die hier beschriebenen Vorgängegerade in dieser Region haben. Auch Fremdenhaß habenwir erleben müssen. Ich erinnere nur an die zwei briti-schen Bauarbeiter in Mahlow, von denen heute einerquerschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt. Gerade deshalbmöchte ich hier klarstellen: Ausbeutung bleibt Ausbeu-tung, und Dumpinglöhne bleiben Dumpinglöhne, ganzunabhängig davon, welchen Paß die Betroffenen in derTasche haben.
Fremdenhaß, wie er auch im Aufruf einiger Vertreterder Fachgemeinschaft Bau zumindest angelegt war, istdas untauglichste Mittel, gegen Lohndumping und dieseMethoden vorzugehen.
Dies sage ich auch mit Blick auf die zitierte Fachge-meinschaft, die in einer Erklärung am Montag meinte,der Reichstag sei dem deutschen Volke gewidmet, nichtaber europäischen Wanderarbeitern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, kaum ein Rednerhat am Montag in der Sitzung versäumt, auf die Symbo-lik der Tatsache hinzuweisen, daß der Architekt für denUmbau des Reichstages nicht Bürger der Bundesrepu-blik ist, daß also dieser neue Reichstag, unser Arbeits-platz, ein gemeinsames Werk ist. Ich finde, er hätte nochviel mehr Symbolik verdient gehabt: Bauarbeiter ausOst- und West-, aus Nord- und Südeuropa hätten an die-sem Reichstag zu gleichen, menschenwürdigen Bedin-gungen bauen sollen. Wir sollten alles daransetzen, daßvon den übrigen Bundesbaustellen ein solches Beispielaus der Hauptstadt Berlin ausgeht.
Es gibt schwere und anhaltende Vorwürfe gegenüberdem Bauherren. Deshalb interessiert uns schon, welcheHaltung die Bundesregierung zu Schwarzarbeit und au-ßertariflicher Beschäftigung auf Bundesbaustellen inBerlin bezieht.Auf eine Kleine Anfrage der PDS an das Bundesmi-nisterium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zuden „Berichten über Unregelmäßigkeiten auf Baustellendes Bundes“, Drucksache 14/519, kam erst die Bitte umTerminaufschub. Es hieß, man müsse erst umfangreichrecherchieren. In der vergangenen Woche dann, pünkt-lich zur Einweihung des Reichstagsgebäudes, folgte dieAntwort der Bundesregierung – nach langer Recherchekurz und knapp: Die zuständige Bundesbaugesellschafthabe versichert, alles sei gut. Detaillierte Antworten zudiesen Vorwürfen erübrigen sich also. Im übrigen habeder Bundestag auch noch ein Aufsichtsgremium.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, kom-
men Sie bitte zum Schluß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sofort. Nur noch ein Schlußsatz an
die Vertreter der Regierung.
Ich bewerte diese Antwort so: Erstens. Sie haben die
Brisanz des Problems überhaupt nicht erkannt und die
Probleme der betroffenen Beschäftigten nicht zur
Kenntnis genommen.
Zweitens. Sie halten die erhobenen Vorwürfe für so
nebensächlich, daß Sie ausgerechnet die Beschuldigten
zu den Kronzeugen gegen diese Vorwürfe machen, an-
statt tatsächlich die schon in Briefen an die Betroffenen
angekündigten rechtlichen Prüfungen einzuleiten.
Drittens. Sie haben demonstriert, was Sie tatsächlich
unter dem Aufbau Ost verstehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Sie
müssen jetzt wirklich zum Schluß kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Damit bin ich am Schluß.
Petra Pau
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 2825
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Bundesregie-
rung spricht der Kollege Großmann.
A
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antragder PDS zur Abhaltung einer Aktuellen Stunde mußunter dem Gesichtspunkt, daß bereits alle Fakten zu die-sem Thema sehr umfangreich in Kleinen Anfragen, aberauch in einem Bericht an den Haushaltsausschuß be-sprochen worden sind, schon sehr verwundern. Praktischim Abstand von vier Wochen haben wir darüber berich-tet, was für Kontrollen auf den Baustellen in Berlindurchgeführt wurden und mit welchem Erfolg. Es gabzwei Kleine Anfragen der PDS. Es gab noch im Januardieses Jahres auf Anregung der Kollegin Frau Luft einenBericht an den Haushaltsausschuß, in dem ausführlichdargelegt worden ist, wie oft die Kontrollen auf denBundesbaustellen in Berlin durchgeführt wurden undmit welchen Ergebnissen. Auf diesen Bericht, der denMitgliedern des Hauses vorgelegt worden ist und der anfür sich auch der PDS bekannt sein müßte, werde ichspäter noch ausführlicher eingehen. Zunächst möchte ichzwei Sätze aus ihm zitieren:Grundsätzlich ist zu registrieren, daß auf den Bun-desbaustellen die festgelegten Verstöße von derAnzahl her geringer sind als auf den übrigen Bau-stellen.
– Dazu werde ich gleich noch etwas sagen.Bezüglich des Vorwurfs, der in der „Report“-Sendung, die Sie zitiert haben, erhoben wurde, es gebemafiose Strukturen, kommt der Bericht zu dem Ergeb-nis:Die Sonderprüfgruppe hat keine mafiosen Struktu-ren im Baubereich aufdecken können.Alle wissen, daß es fast unmöglich ist, auf den Bau-stellen Vorfälle völlig auszuschließen, die in die obenbeschriebene Richtung weisen und die wir von vielenEinzelfällen her kennen. Trotzdem hat gerade der Bund– darauf wird in dem Bericht eingegangen, und dassollten Sie zur Kenntnis nehmen – besonders intensivdarüber gewacht, daß eben solche Vorfälle ans Tages-licht gebracht werden und daß die entsprechenden Fir-men mit Bußgeldern belegt werden. Wenn ich jetzt dieEinzelmaßnahmen einmal Revue passieren lasse, dannmuß ich feststellen, daß man dem Bund keine Fahrläs-sigkeit vorwerfen kann. Wir müssen vielleicht zusam-men darüber nachdenken, wie man Kontrollen undStrukturen unter Umständen noch verbessern kann.Wahrscheinlich müssen wir dafür noch einmal Gesetzeverändern.Zunächst einmal ist am 1. März 1996 das Gesetz überzwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreiten-den Dienstleistungen, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz,in Kraft getreten, um die tiefgreifenden Störungen derWettbewerbsbedingungen auf dem Baumarkt zu lindern.Zielsetzung dieses Gesetzes war und ist es, daß auslän-dische Arbeitgeber, die Arbeitnehmer auf Baustellen inDeutschland entsenden, zumindest hinsichtlich der be-sonders wettbewerbsrelevanten Arbeitsbedingungen,nämlich hinsichtlich des Lohns und der Gewährung vonUrlaub, denselben rechtlichen Verpflichtungen unter-worfen werden wie die deutschen Arbeitgeber.Ein Jahr später, am 7. Juli 1997, ist zusätzlich zu die-ser gesetzlichen Regelung eine weitere Sanktionsmög-lichkeit eingeführt worden, und zwar auf Grund einesErlasses des ehemaligen Bundesministeriums für Raum-ordnung, Bauwesen und Städtebau. Diese Tariftreue-erklärung gilt ab dem genannten Datum auf den Bau-stellen des Bundes und damit auch auf denen in Berlin.Danach müssen sich Auftragnehmer in einer gesonder-ten Vereinbarung zur Einhaltung der tarifvertraglichenund öffentlich-rechtlichen Bestimmungen bei der Aus-führung von Baumaßnahmen verpflichten. Insbesonderehaben sich die Auftragnehmer vertraglich ergänzendzur Einhaltung der für sie geltenden tarifvertraglichenBestimmungen bzw. der Mindestentgeltregelungen desArbeitnehmer-Entsendegesetzes zu verpflichten. DerAuftragnehmer darf einen Nachunternehmer nur unterder Voraussetzung beauftragen, daß dieser eine gleich-lautende Erklärung gegenüber dem Auftragnehmer ab-gibt.Schließlich hat sich der Auftragnehmer auch zu ver-pflichten, Subunternehmer nur unter der Voraussetzungzu beauftragen, daß dieser sich zur Zahlung von Ver-tragsstrafen an den Auftraggeber bei entsprechendenVerstößen verpflichtet. Der Verstoß gegen diese Ver-pflichtung wird mit einer Vertragsstrafe sanktioniert.Die Vereinbarung sieht als Kontrollmöglichkeit vor, daßder öffentliche Auftraggeber zur Durchführung vonStichprobenkontrollen Einblick in die Lohnabrechnungvon Auftragnehmern bzw. Nachunternehmern nehmendarf.Schließlich wurde eine weitere Möglichkeit zur Be-kämpfung von illegaler Beschäftigung geschaffen. Am1. März 1998 ist unter der Trägerschaft des Landesar-beitsamtes Berlin/Brandenburg – auch das ist in demBericht an den Haushaltsausschuß deutlich dargestelltworden – die Projektgruppe „Bekämpfung illegaler Be-schäftigung auf den Baustellen des Bundes in Berlin“eingesetzt worden. Die über 40 Mitarbeiter der Sonder-prüfgruppe Bund haben – das war der Stand Mitte De-zember 1998 – 200 Außenprüfungen auf 56 verschie-denen Baustellen des Bundes durchgeführt. Dabei wur-den 8 527 Arbeitnehmer von 2 744 Unternehmen ge-prüft. Im Rahmen dieser Überprüfungen wurden Zuwi-derhandlungen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz,Zuwiderhandlungen nach dem SGB III, Zuwiderhand-lungen nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Ver-gehen nach dem Ausländergesetz bzw. Beihilfe zumVerstoß gegen das Ausländergesetz überprüft. Schließ-lich wurde auch Leistungsmißbrauch überprüft. DieseÜberprüfungen haben bei einer Reihe von Fällen dazugeführt, daß das Landesarbeitsamt und damit die zustän-digen Arbeitsämter über mögliche Verdachtsmomenteinformiert worden sind. Die Arbeitsämter gehen diesenVerdachtsmomenten nach.
Metadaten/Kopzeile:
2826 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
(C)
Bisher habe ich nur das referiert, was unter Federfüh-rung der alten Bundesregierung gemacht worden ist.Darüber hinaus hat die neue Bundesregierung zu Beginndieses Jahres ein Gesetz zur Generalunternehmerhaftungvorgelegt. Das heißt, wir wollen in Kenntnis der Tatsa-che, daß die bisher eingeführten Möglichkeiten unterUmständen nicht völlig ausreichen und daß wir nochmehr tun müssen, um die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer zu schützen, eine Durchgriffshaftung er-möglichen. Diese besagt, daß jeder Generalunternehmer,der Subunternehmer für sich arbeiten läßt, wissen muß,daß wir ihn für den Fall haftbar machen, daß er oder sei-ne Subunternehmer sich an bestimmte Regularien nichthalten. Im Gesetz geregelt sind dabei der Mindestlohnund die Beiträge zur Sozialkasse, also zwei ganz we-sentliche Punkte, die zu Wettbewerbsverzerrungen ge-führt haben.Als SPD-Bundestagsfraktion – ich gebe kurz einmaldie Positionen wieder, die ich als wohnungspolitischerSprecher in der letzten Legislaturperiode vertreten habe– wollten wir vergabefremde Aspekte in das Vergabe-rechtsänderungsgesetz einführen, zum Beispiel die Ta-riftreueerklärung. Sie wissen selbst, daß die CDU/CSUund die F.D.P. das damals abgelehnt haben. Über denVermittlungsausschuß ist zumindest eine Öffnungsklau-sel erwirkt worden, so daß die Tariftreueerklärung ge-setzlich abgesichert werden kann. Diese Maßnahme hatsich übrigens im Freistaat Bayern hervorragend bewährt.Daher sollten wir wirklich darüber nachdenken, sie bun-desweit einzuführen.Faßt man das Ganze zusammen, dann wird man fest-stellen, daß über die Instrumentarien, über die wir schonseit längerem verfügen, aber auch über neue Gesetze,Erlasse und Verordnungen immer wieder versucht wor-den ist, die Zahl des mißbräuchlichen Einsatzes von Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf Baustellen zuminimieren. Auch wenn wir über nach wie vor auftre-tende Vorfälle, die ans Tageslicht kommen, sehr besorgtsind, läßt sich sagen, daß wir auf den Baustellen desBundes deutlich besser als auf allen anderen Baustellendafür gesorgt haben, daß diese Verstöße in der Minder-heit bleiben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, kom-
men Sie bitte zum Schluß. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
A
Ich
bin schon beim letzten Satz.
Wir sind gerne bereit, darüber nachzudenken, wie
weitere Gesetze und Verordnungen aussehen könnten
und wie wir die Handhabbarkeit der bestehenden Vor-
schriften noch verbessern können.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Dietmar Kansy.
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema
der Aktuellen Stunde ist nicht aktuell, sondern ein Dau-
erbrenner in verschiedenen Gremien des Bundestages.
Seit Jahren beschäftigen sich sowohl die Baukommis-
sion des Deutschen Bundestages, was die Parlaments-
bauten betrifft, als auch der frühere Ausschuß für Raum-
ordnung, Bauwesen und Städtebau gemeinsam mit der
Regierung mit diesem Thema. Herr Staatssekretär
Großmann hat eben die ganze Palette von Sanktions-
möglichkeiten vorgetragen; ich möchte das nicht wie-
derholen.
Das Thema ist für uns als Parlament über alle Partei-
grenzen hinweg wichtig. Wenn wir nicht nachweisen
können, daß auf den Baustellen des Bundes – sei es, daß
wir als Bundestag bauen oder daß wir aufpassen, wie die
Regierung baut – nicht gegen geltendes Recht verstoßen
wird, dann können wir uns angesichts der bedenklichen
Entwicklung auf dem Bau nicht rechtfertigen.
Ich will mir die Antwort jetzt nicht zu einfach ma-
chen. Ich habe am Freitag auf Bitte von Bundestagsprä-
sident Thierse mit dem Veranstalter der Demonstration,
mit der Fachgemeinschaft Bau, und später mit der Son-
derprüfgruppe Bund beim Landesarbeitsamt Ber-
lin/Brandenburg gesprochen. Ich habe mir noch einmal
die Fakten vorlegen lassen und habe in diesem Zusam-
menhang leider festgestellt – die PDS ist darauf herein-
gefallen –: Immer wieder zu behaupten, das Reichstags-
gebäude, das zwecks Kontrollen mit Stacheldraht umge-
ben ist und zwischenzeitlich fast wie eine Gefängnisbau-
stelle aussah, sei sozusagen die Inkarnation von
Schwarzarbeit in Deutschland, ist die falsche Politik und
liegt nicht im Interesse der eigenen Sache. Jetzt erfolgt
nämlich nach der 17. die 18. Überprüfung, die die glei-
chen Ergebnisse liefern wird, aber die die Probleme, die
wir zur Zeit am Bau haben, nicht löst. Diese Probleme
sind nämlich struktureller Art, die weit über das Bauen
des Bundes in Berlin hinausgehen.
Staatssekretär Großmann hat schon Zahlen genannt.
Ich will einmal die Zahlen des letzten Jahres in bezug
auf unsere Baustellen nennen: Wir haben im Rahmen
von 338 Außenprüfungen 4 300 Arbeitgeber und rund
15 000 Arbeitnehmer überprüft. Staatssekretär Groß-
mann hat schon gesagt, daß es sich bei den Verstößen
auf unseren Baustellen nicht nur um Verstöße hinsicht-
lich des Mindestlohnes und der Schwarzarbeit, sondern
auch um Verstöße hinsichtlich der Meldepflicht nach
d
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Unsere Baustellen wei-sen im Vergleich zu anderen Baustellen wesentlich we-niger Verdachtsfälle auf. Es kann uns aber nicht auto-matisch zufriedenstellen, wesentlich besser als andere zusein. Die Frage an uns lautet vielmehr: Warum gibt esdiese Verstöße auf Bundestagsbaustellen überhaupt?Bei rund 10 Prozent der Überprüfungen gab es Ver-dachtsfälle, die in der angesprochenen Fernsehsendung,die ich nicht näher kommentieren will, aber bewußt oderunbewußt falsch dargestellt wurden. Dazu sage ich: EinVerdachtsfall ist noch kein erhärteter Fall. WiederumParl. Staatssekretär Achim Großmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 2827
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nur 10 Prozent der Verdachtsfälle führen letzten Endesdazu, daß Strafanzeigen erstattet werden oder Ord-nungswidrigkeiten festgestellt werden. Ich sage nocheinmal: Die Situation, daß bei einem Prozent der Über-prüfungen Verstöße vorliegen, kann uns nicht zufrieden-stellen. Wir müssen uns deshalb überlegen, wie wir zu-künftig auch noch dieses eine Prozent an Verstößenvermeiden.Wir müssen uns im Bundestag über dieses Problemüber alle Fraktionsgrenzen hinweg unterhalten. Die ver-ehrten Kollegen vom Haushaltsausschuß sagen mir alsdem Vorsitzenden der Baukommission nicht: Mein lie-ber Kansy, wir sind dir sehr dankbar, wenn du sicher-stellst, daß jeder nach deutschem Tarif und nicht nurnach Mindestlohn gemäß Entsendegesetz bezahlt wird.Sie fragen vielmehr: Warum baut ihr als Bundestageigentlich teurer – sofern es überhaupt der Fall ist – alsdie anderen?Diese Schizophrenie findet sich auch in der Öffent-lichkeit. Dieselbe Zeitung, die Montag schreibt: „Uner-hört! Während nebenan der Unternehmer X für soundsoviel DM pro Quadratmeter baut, baut der Bund für 5oder 10 DM mehr“, schreibt am Dienstag: „Skandal:Schwarzarbeiter auf Bundesbaustellen!“ – Das ist dieWahrheit.
Man müßte einmal in den Fachausschüssen überle-gen, ob man nicht schon bei Submissionen – damit wirdfachchinesisch die Situation umschrieben, daß die ver-schiedenen Aufträge durch Fachleute überprüft werden– erkennbar machen kann, ob nicht irgendwelche Ge-werke angeboten werden, die so weder zu Tariflöhnennoch zu Löhnen nach dem Entsendegesetz überhaupt er-stellt werden können, bei denen also die Schwarzarbeitund die Einbeziehung von Subunternehmern von vorn-herein einkalkuliert worden sind.Wir sollten die Demonstration und auch diese Aktu-elle Stunde durchaus zum Anlaß nehmen – dies sage ichauch im Namen der CDU/CSU –, über diese Problema-tik nachzudenken. Ich bitte aber alle Beteiligten, dabeinicht mit Totschlagsargumenten zu arbeiten, sondernsich mit der wirklichen Situation auf den Baustellenvertraut zu machen. Obwohl wir uns als Deutscher Bun-destag schon freiwillig genauen Kontrollen unterwerfen,sollten wir dennoch versuchen, den Mißbrauch nochmehr abzustellen.Ich sage zum Schluß in Richtung aller Fraktionen:Wir haben mit großer Mehrheit den Vertrag von Maas-tricht und den Vertrag von Amsterdam beschlossen. Wirhaben uns gefreut, als die Grenzen nach Ost- und Süd-osteuropa aufgingen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Kansy, ich
muß auch Sie an die Redezeit erinnern.
Wir haben,
Frau Kollegin Pau, tatsächlich 70 000 legale Fremdar-
beiter auf Berliner und Brandenburger Baustellen. Das
alles gehört zur Wahrheit. Vielleicht gelingt es uns ja
– über die Fraktionsgrenzen hinweg – in diesem Zu-
sammenhang noch ein Stück mehr Sicherheit zu schaf-
fen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin FranziskaEichstädt-Bohlig das Wort.
Kollegen! Ich möchte Ihnen, Herr Kansy, ausdrücklichdafür danken, daß Sie dem Thema überfraktionelleNachdenklichkeit gegeben haben, denn auch ich halte esfür sehr wichtig, daß wir die dahinterstehenden Proble-me sehr ernsthaft diskutieren.Tatsache ist, daß wir in Berlin zur Zeit Großbaustel-len des Bundes – des Bundestages und der Bundesregie-rung – mit einem Bauvolumen von über 5 MilliardenDM und trotzdem eine anhaltend hohe Arbeitslosigkeitim Baugewerbe haben: In dieser Branche sind in Berlinund in Brandenburg etwa 40 000 Arbeitnehmer arbeits-los. Tatsache ist auch – darauf haben schon meine Vor-redner hingewiesen –, daß in einer Reihe von Fällen du-biose Firmen, untertarifliche Bezahlung, Schwarzarbeitund illegale Beschäftigung aufgedeckt worden sind.Ich warne aber entschieden davor, die Legende zustricken, die Bundesbaustellen seien ein Hort von mafio-sen Strukturen und illegaler Arbeit. Eines möchte ichganz konkret sagen, Frau Kollegin Petra Pau: Der Fallder Firma Octopus, die ihre Leistungen nicht erbrachtund ihre Arbeitnehmer nicht bezahlt hat, ist ein Problem.Das kommt aber leider hin und wieder am Bau vor. Ichfinde das überhaupt nicht gut oder schön; jedoch halteich es für äußerst problematisch, das dem BauherrnBund in einer Form anzuhängen, wie Sie es getan haben.Ich glaube, wir haben die Verantwortung, uns nicht ge-genseitig einzelne Sensationsfälle vorzuhalten, sonderndie strukturellen Probleme anzugehen.Herr Kansy, Sie haben die Fälle angesprochen. Ichmöchte noch einmal darauf hinweisen, daß es auch spe-zifische Probleme der Bundesbaustellen gibt. Das sindriesige Großbaustellen. Sie haben sehr enge Zeit- undAblaufpläne; sie haben sehr große Bau- und Vergabelo-se. Daraus folgt natürlich, daß dort überwiegend Groß-unternehmen zum Zuge kommen und nicht – wie sichdas die Fachgemeinschaft Bau gewünscht hat – derMittelstand. Dadurch haben wir das Problem – das soll-ten wir uns schon bewußt machen – der Subunterneh-mensstruktur und die Tendenz, daß die mittleren Unter-nehmen überwiegend als Subunternehmen eingesetztwerden und deshalb Preise und Löhne enorm drückenmüssen.Das aber ist ein Problem, das wir nicht allein lösenkönnen, obwohl ich dafür bin, immer wieder darauf zuachten, daß die Baulose etwas mittelstandsfreundlicherDr.-Ing. Dietmar Kansy
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„gestrickt“ werden – was dann natürlich Auswirkungenauf die Zeit- und Ablaufpläne hat. Es geht aber auch umein Stück Verantwortung der Anbieter und der Fachge-meinschaft Bau bzw. der entsprechenden Organisationenin anderen Regionen. Wir haben uns immer wieder ge-wünscht – und das auch so in der Baukommission vor-getragen –, daß die Bieter 60 Prozent der angebotenenLeistungen selbst erbringen sollen, um die Subunter-nehmensstruktur auszutrocknen. Bei solchen Großbau-stellen geht das jedoch nur dann, wenn sich die Mittel-ständler vermehrt zu Bietergemeinschaften und Arbeits-gemeinschaften zusammenfinden. Das wollte ich alsBeispiel anführen; es ist also beiderseitiges Entgegen-kommen angebracht.Diese Regierung hat sich schon große Mühe gegeben,das Problem strukturell weiter zu entschärfen. Wir ha-ben im Dezember das Entsendegesetz entfristet, wir ha-ben die Durchgriffshaftung für Generalunternehmer ein-geführt – das heißt: Sie haften auch für die Einhaltungder Tarife sowie für die Entrichtung der Sozialabgabenund Steuern ihrer Subunternehmen –, und wir haben in-zwischen die Möglichkeit, Tarifregelungen auch aufnichttarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer zuerstrecken. Das alles sind Instrumente zur Stärkung dergerechten Entlohnung und solider Tarif- und Abgaben-strukturen.Mir ist wichtig, zu sagen, daß wir bei der Diskussionnicht nur zurück-, sondern auch in die Zukunft schauenmüssen. In Berlin stehen in den nächsten Jahren nocheine Reihe von Baumaßnahmen des Bundes an. Zumüberwiegenden Teil werden diese Baumaßnahmen inZukunft kleiner und überschaubarer. Daher empfehle ichsehr, daß sich der Bund, vertreten durch das Bundes-bauministerium und die BBB, das Bundesbauamt, dieBerliner Verbände und die Gewerkschaften noch einmalzusammensetzen, um in Form eines runden Tisches oderals Teil des Bündnisses für Arbeit zu prüfen, wie die Be-schäftigungssituation unter Einbeziehung mittelständi-scher Unternehmen im Raum Berlin und Brandenburgeffektiver und konstruktiver gestaltet werden kann.Ich glaube, es wäre ein gutes Zeichen, wenn der Bunddeutlich machte, daß er die Kooperation sucht. Das setztbei den Firmen aber auch die Bereitschaft voraus, beider Entlohnung, den Tarifen, den Sozialabgaben undSteuern ihrerseits Transparenz zu zeigen und einen kon-struktiven Umgang zu ermöglichen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich in die The-matik einsteige, möchte ich klar sagen: Schwarzarbeitkann und darf in der Bundesrepublik Deutschland nichtgeduldet werden. Sie ist ein Krebsübel unserer Gesell-schaft und deswegen ein wichtiges Thema, das hier dis-kutiert werden muß.Schwarzarbeit verzerrt den Wettbewerb. Schwarzar-beit stellt die Finanzierungsgrundlagen unserer Solidar-systeme in Frage. Deswegen ist es nur richtig, wenn wiruns die Frage stellen, wie sie bekämpft werden kann.
Lohndumping ist, genauer besehen, kein eigenständigesThema, sondern gehört zu diesem Komplex. Aus meinerSicht sind es letztlich die gleichen Ursachen, die zu bei-den Erscheinungen führen. An diesen Ursachen gilt esanzusetzen.Deswegen hilft es nicht weiter, daß die PDS die Ein-weihung des neuen Plenarsaals in Berlin zum Anlaßnimmt, hier mit Pathos eine Aktuelle Stunde zum ThemaSchwarzarbeit auf den Baustellen des Bundes einzufor-dern.
– Wenn Sie wirklich den Verdacht hegen, Frau KolleginPau, meine Damen und Herren von der PDS, die Bun-desregierung – alt oder neu – fördere die Schwarzarbeit,und wenn es Ihnen wirklich um mehr Beschäftigunggeht, dann frage ich mich, warum Sie nicht schon sehrviel früher Alarm geschlagen haben, sondern auf dieFertigstellung des Reichstages und den Baufortschrittauf den anderen Baustellen des Bundes gewartet haben.Das macht doch letztlich keinen Sinn.Ich glaube, von den Fakten her gibt es wenig An-griffsfläche. Die Kollegen Kansy und Eichstädt-Bohlighaben bereits das Nötige gesagt. Wenn wir die Gelegen-heit nutzen, darüber zu reden, was Politik im allgemei-nen zur Vermeidung von Schwarzarbeit tun kann, dannhat diese Aktuelle Stunde am Ende vielleicht doch nochein lohnendes Ergebnis.Was also sind die Ursachen der Schwarzarbeit? Wieentsteht sie? Zunächst einmal muß man wohl sagen, daßdas Bild vom Unternehmer, der durch Hinterziehungvon Steuern und Sozialabgaben seinen Gewinn maxi-mieren will, ebenso einfach wie falsch ist. Es ist oft,etwa in ertragsschwachen Unternehmen, eher die Not,die zu illegalen Gestaltungen führt. Nicht wenige Unter-nehmen könnten am Markt nicht mehr existieren, wennsie ihre Leistungen unter Einrechnung aller fälligenSteuern und Sozialabgaben anbieten würden.Es ist auch schon deswegen nicht richtig, die Verant-wortung allein bei den Unternehmen abzuladen, weil zurSchwarzarbeit immer zwei gehören, nämlich jemand,der die Schwarzarbeit anbietet, und jemand, der dieSchwarzarbeit nachfragt, Herr Kollege Kutzmutz. Dasgilt für die Kunden-Lieferanten-Beziehung ebenso wiefür die Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehung. Das mußman hier auch einmal sagen.
Ich wage die Behauptung – ich spreche jetzt überSchwarzarbeit allgemein –, daß in den allermeisten Fäl-len auf der einen oder anderen Seite oder auf beidenSeiten Privathaushalte beteiligt sind. Deshalb muß,wenn wir über Schwarzarbeit reden, die Frage auch lau-ten: Weshalb lassen sich denn so viele Privathaushalte– um es anschaulich zu machen – zum Beispiel vonFranziska Eichstädt-Bohlig
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einem angeblichen Bekannten auf Freundschaftsbasis– wir wissen alle, wie diese „Freundschaften“ zustandekommen – das Bad fliesen, anstatt hierfür den örtlichenFliesenlegermeister oder sein Unternehmen zu beschäf-tigen? Die Antwort lautet: Weil ihnen dessen Arbeits-kraft schlicht zu teuer ist. Wer fünf Stunden arbeitenmuß, um sich eine Handwerkerstunde leisten zu können,sucht eben oft nach Alternativen. Ein großer Teil desBaumarktbooms kann auf diesen Sachverhalt zurückge-führt werden.
– Daß Sie das wissen, Herr Gilges, ist mir klar. Ich willIhre Kompetenz gar nicht bestreiten. Aber Herr KollegeGilges, wir sollten hier die Ursachen der Schwarzarbeitdiskutieren und nicht die Tatsache der Existenz vonSchwarzarbeit als solcher – so schlimm Schwarzarbeitauch ist. Wer Schwarzarbeit und Lohndumping bekämp-fen will, der muß im Endergebnis die Standortdebatteführen. Die Arbeitskosten in Deutschland sind zu hoch;sie müssen gesenkt werden.
Das Problem besteht darin, daß sich die Politik derjetzigen Regierung im Kreise dreht, anstatt wirksameSchritte zu gehen. Wegen zunehmender Schwindeligkeitkönnen die Verantwortlichen keinen klaren Gedankenmehr fassen. Dies belegen sehr offenkundig die Ergeb-nisse Ihrer bisherigen Gesetzgebung und das anschlie-ßende Herumgeeiere, Stichwort: Scheinselbständigkeitbzw. 630-Mark-Jobs.Zum Ende meines Beitrages in dieser AktuellenStunde muß ich leider eines voraussagen: Wenn diePolitik der Bundesregierung den gleichen Kurs beibe-hält, den sie heute verfolgt, dann werden wir uns in Zu-kunft noch häufiger, auch ohne Reichstagsgebäude undBundesbauten, mit dem Thema Schwarzarbeit befassenmüssen – dann in den Bereichen Gastronomie, Zei-tungswirtschaft und Gebäudereinigung, um nur einige zunennen. Die Grundsteine dafür haben das BMA undHerr Riester leider schon gelegt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Frak-
tion spricht jetzt die Kollegin Renate Rennebach.
Frau Präsidentin! Ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen! 16 Jahre lang regiertenF.D.P. und CDU/CSU, und plötzlich ist Schwarzarbeitein Problem der Regierung. Die ganze Zeit vorher wares das nicht.Seit längerer Zeit führe ich als Berliner AbgeordneteGespräche mit dem für die Berliner Baustellen zuständi-gen Gewerkschaften IG BAU und IG Metall sowie mitdem Landesarbeitsamt und mit der für die Kontrollenzuständigen AD BAU – jetzt auch in Zusammenarbeitmit dem Staatssekretär Andres und Frau Janz aus meinerFraktion.Ich kenne die Mißstände wie illegale Beschäftigungund erhebliche Verstöße gegen die Arbeitssicherheitbeim Bau. Daher hat es mich schon verwundert, daßausgerechnet nach einer Unternehmerdemo gegen Lohn-fortzahlung im Krankheitsfall, gegen Verbesserung desKündigungsschutzes, aber auch gegen Lohndumpingund Schwarzarbeit am Bau die PDS diese AktuelleStunde jetzt beantragt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der heftigste Protestder Fachgemeinschaft Bau richtete sich am Montag ge-gen die jetzige Bundesregierung, die mit ihrer Politikdas Recht auf dem Arbeitsmarkt wiederhergestellt hat.Im übrigen: Eine Stuckfirma, Mitglied der Fachgemein-schaft, hat die meisten ihrer regulären Arbeitnehmerentlassen, um mit billigen portugiesischen Arbeitneh-mern – unter Tarif – weiter zu arbeiten. Also hat dieFachgemeinschaft auch gegen Mißstände in den eigenenReihen protestiert.Es sind ebenfalls die Arbeitgeber, die der IG Metallseit längerer Zeit Tarifverträge in einigen Bereichen ver-sagen. Auch deshalb gibt es Bestrebungen des Arbeits-ministers Walter Riester, die Tarifverträge im BereichBau für allgemeinverbindlich zu erklären. Zusätzlichfordern die Gewerkschaften, daß ein besonderer Min-destlohn neu festgesetzt wird. Der bisherige, so niedriger schon ist, wird insbesondere in den neuen Ländernimmer wieder unterlaufen.Die Kontrollen auf den Baustellen gehen unvermin-dert weiter. Die Perversion liegt hier auf der Hand, Kol-leginnen und Kollegen: Die Arbeitgeber treiben Miß-brauch, und die Zahlerinnen und Zahler von Beiträgenan die Bundesanstalt für Arbeit finanzieren die Kontrol-len. Die Ermittler von Hauptzollamt und LKA stoßenlaut eigener Aussage auf eine ungeheure kriminelleEnergie. 30 000 Bauarbeiter in der Region sind arbeits-los.Nun möchte ich ein paar Zahlen des Landesarbeits-amtes Berlin/Brandenburg nennen – ich betone, daß ichvom gesamten Bau Berlin/Brandenburg spreche undnicht nur von Bundesbaustellen; denn der Skandal gehtja weiter –: Im Jahr 1998 fanden 16 176 Außenprüfun-gen statt. Dabei wurden 52 000 Arbeitnehmer überprüft.An Bußgeldern wurden 18,9 Millionen DM verhängt. ImJahre 1999 wurden bis jetzt 1 793 Arbeitgeber überprüft.Das Ergebnis ist, daß es bei 21 Arbeitgebern Meldever-stöße gab. Davon betroffen waren 59 Arbeitnehmer.183 Arbeitgeber wurden bei Mindestlohnunterschreitungangetroffen. Betroffen waren 427 Arbeitnehmer. Arbei-ten ohne erforderliche Arbeitsgenehmigung gab es bei38 Arbeitgebern. Davon betroffen waren 60 Arbeitneh-mer. Von unerlaubter Arbeitnehmerüberlassung waren192 Arbeitnehmer betroffen – allein in diesem Jahr.Die Bundesregierung hat das Entsendegesetz ent-fristet und die Bußgelder erhöht. Dies ist geltendesRecht seit dem 1. Januar 1999. Gleichzeitig gibt es neu-Dr. Heinrich L. Kolb
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erdings die Generalunternehmerhaftung. Das haben wirhier schon an verschiedenen Stellen gehört. Es ist aberschwierig, Kolleginnen und Kollegen, ein seit 16 Jahrenimmer mehr verfeinertes Freibeutertum in der Branchedurch politische Maßnahmen von heute auf morgen zubeseitigen.
Nun noch kurz zum Thema Bundesbaustellen: DieVerträge hat die alte Bundesregierung geschlossen.Teilweise hat sie die Verantwortung auf die Bundesbau-gesellschaft abgewälzt. Die wiederum sieht trotz Män-gelberichten bei Kontrollen – kürzlich mußte die Arbeitauf der Baustelle Bundeskanzleramt wegen Verstößengegen die Arbeitssicherheit teilweise gestoppt werden –,trotz entdeckter Verstöße gegen Tariftreue und trotz ent-deckter Schwarzarbeit – zugegeben, weniger als auf an-deren Baustellen, aber das Problem bleibt trotzdem –keinen Grund zum Handeln und weist dieses als Baga-telle und völlig normal aus.
Während die alte Bundesregierung untätig blieb,verschließt die neue, rotgrüne Bundesregierung nicht dieAugen vor den Machenschaften der Bauunternehmer.Neben den vorgetragenen Gesetzesmaßnahmen hat siegleichzeitig das Zugangsrecht für Gewerkschaften aufden Bundesbaustellen erleichtert, um so eine bessereKontrolle auch von dieser Seite her zu ermöglichen. SeitJuli 1998 sieht die Baustellenverordnung Sicherheitsko-ordinatoren vor. Für alte Baustellen gilt dies allerdingsnur auf freiwilliger Basis. Debis am Potsdamer Platz hatdies freiwillig eingeführt. Ich wünschte mir von derBundesbaugesellschaft, wenn ich als Mitglied einer Re-gierungsfraktion einmal einen Wunsch an die Bundes-baugesellschaft äußern darf, daß auch sie auf freiwilligerBasis Sicherheitskoordinatoren einstellen und mit gutemBeispiel auch für andere Bauten vorangehen würde.
Zum Schluß noch ein Zitat aus der „Märkischen All-gemeinen“ vom 16. April 1999:Trotz aller zur Schau getragenen Entschlossenheit,illegale Beschäftigung zu bekämpfen, blieb einegewisse Skepsis. „Es ist fraglich, ob Kontrollenwirklich einen Gesetzesbruch verhindern könnenoder ob dazu nicht die Gesellschaft verändert wer-den muß.“Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter
Friedrich.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sind nicht nurin Berlin und Brandenburg ein Thema, aber speziell da,weil die Baustellen, wie wir gehört haben, dort beson-ders groß sind und es, wie wir am Montag gesehen ha-ben, dort besonders viele gibt. Aber, meine Damen undHerren, die Bekämpfung von Schwarzarbeit und vonillegaler Beschäftigung ist bundesweit eine Daueraufga-be im Vollzug der bestehenden Gesetze.
Darauf haben die Kollegen Kolb und Kansy bereits hin-gewiesen.Es geht nämlich darum, daß sozialversicherungs-pflichtige Arbeitsplätze dadurch zerstört werden undverlorengehen, daß Unternehmen, die sich an Recht undOrdnung, an Gesetze halten, im durch Schwarzarbeitund illegale Beschäftigung verzerrten Wettbewerb nichtbestehen können. Deswegen hat die frühere Bundesre-gierung eine ihrer wichtigsten Aufgaben immer daringesehen, neue Umgehungsmöglichkeiten zu bekämpfenund den fairen Wettbewerb aufrechtzuerhalten.
Beispiele hat Ihr Staatssekretär ja heute zuhauf genannt.Dennoch wird uns dieses Problem noch einige Zeiterhalten bleiben, jedenfalls so lange, wie ein massiverUnterschied bei den Realeinkommen zwischen den Län-dern Mittel- und Osteuropas und beispielsweise Berlinbesteht. Ich möchte darauf hinweisen, daß wir insbeson-dere das Thema, wie es dem Mittelstand beispielsweisenach dem Beitritt von Polen und Tschechien zur EU er-gehen wird, unbedingt in den Blick nehmen und Über-gangsfristen bis zur vollkommenen Freizügigkeit gegen-über diesen neu beitretenden Staaten festlegen müssen.Die hohe Kaufkraft der D-Mark – darüber muß man sichim klaren sein – wird weiterhin ihre Sogwirkung speziellin Richtung Polen und Tschechien entfalten. DiesesProblem trifft mittelständische Unternehmen in Berlinund Brandenburg ebenso wie in Hof, Marktredwitz oderim Bayerischen Wald. Verständlich also, daß die Mittel-ständler und ihre Beschäftigten auf die Straße gehen, sowie es am Montag in Berlin geschehen ist.Frau Rennebach, es ist eigentlich unglaublich, daßSie in die gleiche Kerbe wie der Bundesbauministerschlagen, der, von der „Leipziger Volkszeitung“ auf die-se Demonstrationen angesprochen, folgendes sagte:Diese Tarifgemeinschaft Bau, die das organisierthat, ist eine Arbeitgebervereinigung. Und interes-santerweise eine, die gegen Kündigungsschutz undLohnfortzahlung war. Also, da ist auch Heucheleiim Spiel.
Im Klartext heißt das: Wer die Politik von Rotgrün zukritisieren wagt, wird abgestraft, indem man seine be-Renate Rennebach
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rechtigten Anliegen nicht mehr ernst oder nicht mehr zurKenntnis nimmt.
Diese Art und Weise, mit kritischen Geistern umzuge-hen, ist nicht in Ordnung. Sie sollten zur Kenntnis neh-men, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer in diesemLand, gerade im Mittelstand, längst in einem Boot sit-zen. Vielleicht könnte Ihnen das auch der Kollege Wie-sehügel, wenn er einmal zu solchen wichtigen Debattenkäme, bestätigen.
Diese Regierung verschärft das Problem derSchwarzarbeit durch eine katastrophale Gesetzgebungbei den 630-Mark-Jobs und durch die Rücknahme derFlexibilisierung am Arbeitsmarkt. Die bayerische Staats-regierung hat in einer Bundesratsinitiative einen durch-dachten Vorschlag zur Bekämpfung der illegalen Be-schäftigung und der Schwarzarbeit gemacht. DieserVorschlag sah unter anderem die Einrichtung einesAußendienstes bei den zuständigen Behörden für ver-dachtsunabhängige Kontrollen, die Stärkung der Prü-fungsmöglichkeiten der Handwerkskammern und dieEinführung eines steuerlichen Abzugsverfahrens für dieLohnsteuer vor, wenn ausländische Subunternehmer be-auftragt werden. Statt diese wichtigen Überlegungeneinmal aufzunehmen, schmort Rotgrün lieber im eigenenideologischen Saft.
Der gut durchdachte bayerische Vorschlag zur Bekämp-fung der illegalen Beschäftigung ist am 19. März vonder rotgrünen Mehrheit im Bundesrat abgelehnt worden.
Statt dessen treiben Sie mit Ihrer falschen Politik immermehr Menschen in die Schwarzarbeit. Ich frage mich, obSie sich eigentlich darüber im klaren sind, welche ver-heerenden Auswirkungen Ihre Mehrwertsteuererhö-hungsphantasien insbesondere auf die Bauindustrie unddas Handwerk hätten.
Hören Sie endlich auf, Symptome zu bekämpfen;bekämpfen Sie endlich die Ursachen! Runter mit denSteuern und Abgaben, Schluß mit dem Abkassieren beiBürgern und Unternehmern,
mehr Freiheit für tarifpolitische Gestaltung – das sinddie besten Mittel gegen Schwarzarbeit.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat dieKollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grünen.
ren! Weil sich die Zustände auf den Baustellen, undzwar nicht nur auf den Bundesbaustellen, sondern aufallen Großbaustellen, in den letzten Jahren so katastro-phal entwickelt haben, haben wir immer wieder überdieses Problem gesprochen und auch sprechen müssen.Handeln konnten wir als rotgrüne Bundesregierung al-lerdings erst ab letztem Herbst. Die alte Bundesregie-rung hat sich – das haben wir ihr auch immer wiederklargemacht – nicht zu wirklich wirksamen und ver-bindlichen Schritten zum Schutz der Tarifautonomiedurchringen können. Sie hat statt dessen zugelassen, daßder Bausektor zum Experimentierfeld für Lohn- und So-zialdumping gemacht worden ist.
Die neue Bundesregierung hat unmittelbar nachAmtsantritt wichtige Schritte gegen die Mißstände aufden Baustellen unternommen. Zu ihren ersten gesetzli-chen Maßnahmen gehörte – das war absolut dringendund richtig –, das bis dahin ausgesprochen löchrige Ent-sendegesetz, das für „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“sorgen sollte, zu entfristen, die Allgemeinverbindlicher-klärung für Tarifverträge zu Mindestlöhnen auch imKonfliktfall zu ermöglichen und die Durchgriffshaftungfür den Generalunternehmer festzuschreiben, damit dieVerantwortung des einzelnen Arbeitgebers für Sozial-versicherung und für tarifliche Arbeitsbedingungen nichtmehr in einer unübersichtlichen Kette von Sub- undSubsubunternehmen verschwinden kann.
Das waren wichtige und längst überfällige Schritte,die aber erstens nicht von einem Tag auf den anderen ih-re Wirkung entfalten können – erst recht nicht in dervöllig verfahrenen Situation in Berlin – und zweitensallein nicht ausreichen, um die Probleme auf den Bau-stellen zu lösen. Da wird Weiteres notwendig sein, unddarüber sind wir uns im klaren; Weiteres ist auch ge-plant.
– Das werde ich gleich noch tun. – Die Probleme, vordenen wir stehen, sind nämlich immens. Ich behauptenicht – was Sie offensichtlich unterstellen –, daß mitdem Akt der Regierungsübernahme schon alles in Ord-nung sei oder in Ordnung sein könne.
Ich sehe die Kritik an den Zuständen auf den Bau-stellen keineswegs als Kritik an Rotgrün, wie es KollegeFriedrich eben bezeichnet hat. Für die Zustände amReichstag können Sie uns in Mithaftung nehmen, wieman uns alle dafür in Mithaftung nehmen kann. Aber ichglaube nicht, daß die Aufträge im Rahmen des Reichs-Dr. Hans-Peter Friedrich
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tagsumbaus erst seit Oktober letzten Jahres vergebenworden sind. Dann hätten wir in kurzer Zeit wirklichviel erreicht, und so schnell ist selbst Rotgrün nicht.
Es geht hier um Probleme, bei denen auch Ihre Ver-antwortung nicht einfach unter den Tisch gekehrt wer-den kann, da auch das ein Ergebnis der Politik der letz-ten Jahre ist. Es herrscht nämlich seit Jahren auf denBaustellen übelstes Lohn- und Sozialdumping. Oft lie-gen die Löhne – das gilt leider immer noch – bei 5 bis10 DM in der Stunde. Die Unterbringung ist miserabel,wird aber dennoch zu Wucherpreisen vom Lohn, der imFall der offiziellen Überprüfung immer dem gesetzli-chen Mindestlohn entspricht, abgezogen. Zum Teil wer-den die Unterbringungskosten direkt einbehalten.Von vernünftigem Arbeits- und Unfallschutz kanndabei keine Rede sein. Der Sicherheitsingenieur JürgenRubarth sprach noch im September 1998 unter Bezugauf die Berliner Baustellen von Daimler von einemChaos und hat beschrieben, daß dort zwei Drittel derMenschen ohne Sicherheitsschuhe und Helm arbeitenund daß Monteure auf zusammengebundenen Leitern„turnen“. Ich zitiere ihn: „Wie da gearbeitet wird, istnicht mehr zu verantworten, ist ein rechtsfreier Raum.“Hier müssen die Kontrollen verstärkt werden. Dennsolche Arbeitssituationen können und werden wir nichthinnehmen, weder auf Bundesbaustellen noch auf ir-gendwelchen anderen Baustellen.
Der Grund dafür ist die unglaublich scharfe Unterbie-tungskonkurrenz am Bau. Die Arbeitssicherheit bleibt daschnell auf der Strecke, genau wie die Qualität der Ar-beit, von der sozialen Absicherung oder der tariflichenBezahlung der Beschäftigten gar nicht zu reden.Zwischen General-, Sub- und Subsubunternehmern,Arbeitnehmern aus Werkvertragskontingenten und sol-chen aus der EU blühen nach wie vor Scheinselbstän-digkeit und illegale Leiharbeit.
– Das Gesetz gilt seit dem 1. April 1999. Natürlich wirdes auch auf die Scheinselbständigkeit am Bau Auswir-kungen haben. Wir hoffen, daß wir mit dem Gesetz ge-gen die Scheinselbständigkeit genau wie mit dem Ein-griff, den wir beim Entsendegesetz vorgenommen ha-ben, dazu beitragen, daß die Menschen wieder in ver-nünftigen Sozialversicherungsverhältnissen arbeitenkönnen und daß die tariflichen und die Sozialversiche-rungsbedingungen eingehalten werden.
Inzwischen sind mehrere Fälle öffentlich geworden,in denen portugiesische oder türkische Arbeiter von denUnternehmern, die sie ins Land geholt haben, nicht ord-nungsgemäß gemeldet und um ihren Lohn geprellt wur-den. Sie haben statt einer Unterstützung und einer Ver-tretung ihrer Rechte gegenüber solchen Betrügern eherdie Abschiebung zu erwarten. Hier müssen wir – das isteiner der Schritte, die wir noch dringend unternehmenmüssen – die Rechtsstellung gerade der ausländischenKollegen und Kolleginnen stärken und sicherstellen, daßdiese Arbeitgeber belangt werden.Unser Ziel ist es, die Situation des Lohn- und Sozi-aldumpings am Bau aufzubrechen. Um aus dieser Dum-pingspirale auszubrechen, haben wir erste Schritte getan,weitere Schritte stehen an. Dazu gehören das Verbands-klagerecht und die Bindung der Vergaberichtlinien andie Tariftreue. Die Vergabe öffentlicher Aufträge mußvon der Sozialversicherungspflicht und der Tariftreueabhängig sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, ich
muß auch Sie an die Einhaltung Ihrer Redezeit erinnern.
Ich glaube, daß wir für ausländische Kollegen und
Kolleginnen ganz dringend Beratung und Anlaufstellen
brauchen und daß eine Verbesserung ihrer Rechtsstel-
lung dringend nötig ist. Denn Lohn- und Sozialdumping
führt sonst zu nationalen Ressentiments – das haben wir
am Bau allzu schmerzlich festgestellt – und nicht zu
einem weltoffenen Europa.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
der Kollege Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es müßte der Bundesregie-rung zu denken geben – daß dies so ist, haben wir vomzuständigen Staatssekretär gehört –, wenn das Landesar-beitsamt Berlin unter der Schlagzeile „Deutlicher An-stieg der verhängten Bußgelder – Erfolge bei der Be-kämpfung illegaler Beschäftigung 1998“ weiterhin zahl-reiche Verstöße meldet.Frau Rennebach hat hier eine Reihe von Zahlen ge-nannt. Ich könnte sie erweitern. Wenn bei Firmenüber-prüfungen bis zu 63 Prozent Verstöße gegen die Zah-lung von Mindestlohn festgestellt werden und wenn biszu 30 Prozent Verstöße gegen die Meldepflicht ermitteltwerden,
– das sind die Zahlen, die ich mir gestern vom Landes-arbeitsamt Berlin/Brandenburg habe geben lassen, FrauRennebach –, dann läßt sich der Schaden ahnen, der mitder in einigen Bereichen des Bauwesens mit kriminellerEnergie betriebenen Aushöhlung der rechtlichen Rege-lungen angerichtet wird.Annelie Buntenbach
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Natürlich kritisieren wir genauso wie Sie das Vorge-hen der Fachgemeinschaft Bau gegen Schlechtwetter-geld, Lohnfortzahlung und andere Bereiche, aber Anlaßdieser Aktuellen Stunde war für uns nicht die Demon-stration der Fachgemeinschaft Bau, sondern die realeLage am Bau und die hier genannten Probleme, die un-ter anderem von Bundesminister Müntefering nicht aus-reichend behandelt wurden.Das Baugewerbe, als Konjunkturlokomotive noch vorJahren hoch im Kurs, ist in Verruf gekommen. Baufach-arbeiter zu sein galt und muß wieder gelten als hochan-gesehener Berufsstand, als Schöpfer und Errichter vonNeuem, Bleibendem, als Beruf gerade für junge Men-schen, als Beruf mit Zukunft. Wir beklagen auch und ge-rade den Verlust dieser Werte; denn es ist eine Schande,daß bei dem gewaltigen Bauboom nach der deutschenEinheit Zehntausende Bauarbeiter allein in Berlin undBrandenburg ohne Arbeit sind, daß Baufirmen im OstenBankrott gehen, und das keineswegs witterungsbedingt.Gehen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in dieostdeutschen Arbeitsämter, gehen Sie in die Arbeitslo-senzentren, sprechen Sie mit den entlassenen oder im-mer noch arbeitslosen jungen und älteren Männern undFrauen vom Bau! Vermindern Sie ihre Wut, erklären Sieihnen das Unerklärliche!Von 1996 bis heute sind allein in Berlin die Zahlender im Baugewerbe Beschäftigten von 56 000 auf23 000 zurückgegangen. Die Arbeitslosenquote im Bau-hauptgewerbe in den neuen Bundesländern liegt bei über30 Prozent. Sie, meine Damen und Herren von SPD undBündnisgrünen wie von CDU/CSU und F.D.P., reden anso vielen Stellen über Ostdeutschland und stellen an-gebliche Defizite in den Köpfen der Menschen jenseitsder Elbe fest. Auf ganz Naheliegendes kommen Sie da-bei nicht: Es sind die Defizite in der Politik, die Sieselbst zugelassen haben und zulassen. Wie soll maneinem Bauarbeiter erklären, daß er keine Arbeit hat? Ersieht den Bauboom ringsum. Wohnungen, Straßen,Brücken und öffentliche Gebäude werden errichtet odersaniert, und er wird dabei nicht gebraucht? Es sind nichtdie Polen, Ukrainer, Rumänen, Iren, Portugiesen oderItaliener, die er an seiner Stelle arbeiten sieht, schulddaran, daß irgend etwas nicht stimmen kann mitDeutschland einig Vaterland.Sie, meine Damen und Herren von der regierendenKoalition, sind nicht nur dafür verantwortlich, Regelun-gen zu schaffen, die verhindern, daß den Ihnen anver-trauten Bürgerinnen und Bürgern – in diesem Fall sindes die Bauarbeiter – Schaden zugefügt wird; Sie sindauch dafür verantwortlich, daß durch solche Regelungendie kriminellen oder halblegalen Praktiken wirksam be-kämpft werden.
Wir behaupten nicht, daß Baufirmen dazu ermuntertwerden, mit Lohndumping, außertariflicher Bezahlung,illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit nach Sonder-profiten zu streben. Dennoch müssen wir die Frage stel-len, warum das kriminelle Verhalten von Unternehmernseit Jahren nicht mit der gleichen Konsequenz bekämpftwird wie andere Rechtsverstöße. Es ist im übrigen völligegal, ob, wie in der Vergangenheit, gesetzliche Rege-lungen fehlten oder, wie gegenwärtig, nicht greifen, weilMittel, Methoden oder Konsequenz zur Durchsetzungfehlen. Die Wirkungen auf Art und Umfang der Be-schäftigung sind die gleichen.Wer als Auftraggeber der öffentlichen Hand, von denKommunen bis hin zur Bundesrepublik Deutschland, aufseinen eigenen Baustellen nicht für vorbildliche, bei-spielhaft saubere Arbeitsverhältnisse sorgt oder sorgenkann, der setzt sich dem Verdacht aus, so zu kalkulieren,daß Ungesetzlichkeiten am Bau natürlich unter Umstän-den die Kosten des Bundes senken. Interessiert es dieBundesregierung nicht, wie die Bundesbaugesellschaftin Einzelfällen sogar kalkulierte Baukosten unterbietet?Das Schäbigste, was getan werden kann, ist dieSchuldzuweisung an die Leidtragenden, die letztlich ir-gendwann bereit sind, ihre Arbeitskraft weit unter demTariflohn zu verkaufen oder schwarzarbeiten zu gehen.
Niemand arbeitet schwarz, wenn nicht Schwarzarbeitangeboten wird. Jemand, der keine legale Arbeit aufdem Bau oder anderswo findet, wird, wenn er keineLohnersatzleistungen erhält, dazu greifen müssen.Die Fraktion der PDS fordert von der Bundesregie-rung Maßnahmen, die sichern, daß richtige Gesetzedurch die Praxis auf vielen Baustellen nicht zu bloßerMakulatur abqualifiziert werden. Besondere Überlegun-gen und Maßnahmen sind gefordert, mit deren Hilfe dieostdeutsche Bauwirtschaft, in deren Wirkungsbereich esunendlich viel Arbeit gibt, wieder zum Motor des Auf-schwungs Ost wird. Das zu erreichen dürfte eigentlichnicht schwer sein, wo doch der Aufbau Ost in der Regie-rungskoalition Chefsache ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht die Kollegin Gabriele Iwersen.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Nachdem schon sämtliche einschlä-gigen Gesetze herangezogen worden sind, von den ande-ren Mitgliedern der Baukommission – jedenfalls vonHerrn Dr. Kansy und Frau Eichstädt-Bohlig – ausführ-lich auf die Bedingungen auf den Baustellen des Bundesin Berlin eingegangen worden ist und wir den anderenVorträgen haben entnehmen müssen, daß die Bundes-baustellen in der Statistik nirgends gesondert aufgeführtwerden, kann ich feststellen, daß die vordergründigenVorwürfe hinsichtlich der Bundesbaustellen – besondersvon seiten der Antragsteller dieser Aktuellen Stunde –im Grunde genommen nicht belegbar sind.Ich will Ihnen einmal ganz kurz schildern, mit wel-chem System versucht worden ist und wird, Illegalitätauf den Baustellen des Bundestages in Berlin zu ver-meiden, was natürlich nie hundertprozentig funktionie-ren kann, weil es bei den verschiedenen am Bau Betei-ligten – wie schon erwähnt worden ist – eine erheblichekriminelle Energie gibt.Dr. Klaus Grehn
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2834 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
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Die Baustellen sind praktisch hermetisch abgeschlos-sen. Um als Arbeitnehmer auf eine solche Baustelle zukommen, muß man in eine Liste eingetragen werden.Diese Listen werden nach den Angaben erstellt, die vorArbeitsantritt auf der Baustelle von den entsprechendenUnternehmern und Subunternehmern – Sub-Subunter-nehmer sind nicht zugelassen – gemacht werden müssen.
Nach diesen Listen werden Tagesausweise produziert.Die werden morgens oder bei Schichtwechsel an derBaustelle ausgegeben und gegen ein gültiges Papier,zum Beispiel einen Paß oder einen Personalausweis,eingetauscht. Durch diesen Austausch ist auch für dieKontrollen immer ein Ausweispapier verfügbar.Wer einen Arbeitnehmer illegal in eine Baustelle ein-schleusen will, muß erst einmal einen Namen aus einersolchen Liste haben und dazu die passenden Papiere fäl-schen. Daß man Ausweispapiere gut fälschen kann,müßten eigentlich gerade die Berliner gut wissen; dennjahrelang hat es eine Mauer gegeben, die keine Baustel-len eingefriedet hat und nur mit Schwierigkeiten zuüberwinden war. Einige Jahre nach dem Bau dieserMauer war auch das Fälschen von Pässen eine vielge-übte Methode, um diejenigen, die vorher freizügig inBerlin hin und her wandern konnten, in den jeweils an-deren Teil von Berlin zu bringen.
– Es ist jedenfalls so. – Ich kann mir vorstellen, daß Sie,wenn heute von seiten der PDS Kontrollen gerade anden Bundesbaustellen als nicht ausreichend effektiv kri-tisiert werden, Ihr Expertenwissen einbringen wollen,weil Sie sicherlich einiges mehr darüber wissen als wir,wie man irgendwann dichtmacht.
Jedenfalls ist es zweifellos so, daß diese Baustellennicht so leicht zu stürmen sind und daß dazu mehrereFälschungsvorgänge notwendig sind. Sie behaupten, daßsei in einer „Report“-Sendung nachgewiesen worden.Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Schauen Sie sich daseinmal genau an! Dort wurde ein Zeuge benannt undauch gezeigt, der lediglich aussagt, ihm sei das angebo-ten worden, er habe aber selbstverständlich abgelehnt.Angeboten worden war ihm, gegen die Zahlung von1 000 DM gefälschte Papiere zu bekommen, in die Bau-stelle eingeschleust zu werden, um anschließend 6 DMdes Mindestlohnes, der bei 16 DM liegt, an den Polierabzugeben, dem er die Arbeit abgenommen hätte. – Dassind natürlich völlig illegale Zustände. Aber Sie habenkeinen Beweis dafür erbracht – leider hat uns auch dasLandesarbeitsamt keinen Beweis dafür erbracht –, daßsolche Fälle tatsächlich vorgekommen sind.Wir als Baukommissionsmitglieder fragen natürlichjedesmal, wenn die Medien über solche Zustände be-richten, nach Fakten; denn wir würden gerne dagegenvorgehen. Da ist aber nichts zu machen. Man kommt ankeine Fakten heran. Es handelt sich immer nur um einenVerdacht. Von einer Überprüfung und anschließendenOffenlegung eines tatsächlich illegalen Falls, der mitSicherheit auch eine Buße für den Arbeitgeber, also dieBauunternehmung, zur Folge haben muß, haben wirnichts erfahren, auch dann nicht, wenn wir Kolleginnenund Kollegen gefragt haben.Ich will Ihnen sagen, was passiert ist, als auf derKanzleramtsbaustelle fünf illegale Bauarbeiter, die spa-nische Pässe hatten, aber kein Wort spanisch sprachen– das war allerdings verdächtig –, gefaßt wurden: Seit-dem wird diese Baustelle hermetisch abgeriegelt; es gibteine Paßkontrolle nach den Richtlinien des SchengenerAbkommens. Auf dieser Baustelle werden die Ausweis-papiere sogar durchleuchtet, um sie auf Echtheit zuüberprüfen.Ich habe mir das Berlin nach dem Fall der Mauer an-ders vorgestellt. Jetzt wird von allen Seiten geschrien,man müsse noch mehr kontrollieren, noch strenger ab-schirmen, um Illegalität zu vermeiden. Ich glaube, wirwerden uns noch so viel Mühe geben können; wir wer-den das nicht in den Griff kriegen, solange in den unter-schiedlichen europäischen Regionen ein so großes so-ziales Gefälle herrscht. Deshalb kommt es zwar immerwieder zu vergleichbaren Fällen. Aber das speziell denBundesbauten nachzusagen ist grundsätzlich falsch.Keiner von denen, die sich mit diesem Thema auseinan-dergesetzt haben, hat ausreichende Beweise offengelegt,um sagen zu können: Das Reichstagsgebäude wird aufdem Fundament der Illegalität und der Schwarzarbeit– so ähnlich waren die Zitate – errichtet.Ich möchte alle, die an der Situation etwas ändernwollen, ganz dringend darum bitten, sich etwas konkre-ter damit zu befassen, was wirklich nachweisbar ist, undnicht all den Gerüchten zu glauben, die in dieser Stadtherumgeistern.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion hat jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann das
Wort.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ganz gut,daß der Bundestag einmal über die Zustände auf dendeutschen Baustellen – ich glaube, das kann man nichtauf Berlin begrenzen – debattiert. Denn das ist unter denBauarbeitern und der deutschen Arbeitnehmerschaft ins-gesamt ein riesiges Thema.Ich sage einmal vorweg: Ich habe vor jedem Bauar-beiter Respekt, der dafür kein Verständnis hat und dieMeinung vertritt, es dürfe nicht sein, daß Bauarbeiter inBerlin und Brandenburg arbeitslos sind, obwohl sie ineinem Gebiet leben, wo es die größten Baustellen derRepublik gibt. Aber so leicht, wie es sich zum BeispielFrau Rennebach gemacht hat, ist die Lösung des Pro-blems nicht.
Gabriele Iwersen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 2835
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Die Bundesbaugesellschaft Berlin, eine private Ge-sellschaft, ist eine hundertprozentige Tochter des Bun-des. Der Bundesfinanzminister, der Bundesbauministerund der Bundestagspräsident haben in dieser Bundes-baugesellschaft ein Vetorecht; gegen die drei kann danichts entschieden werden. Das gilt auch für die Verga-be von Aufträgen. Ich frage mich: Warum wird davoneigentlich nicht mehr Gebrauch gemacht?Das Problem liegt aber viel tiefer: Wenige Kilometervon Berlin entfernt gibt es Menschen, die bereit sind, fürfünf, sechs, sieben oder acht Mark die Stunde zu arbei-ten.
– Das hat mit unserer Politik überhaupt nichts zu tun.Das ist die Situation in Osteuropa, und da haben be-kanntlich Kommunisten regiert. Die haben dieses GebietEuropas heruntergewirtschaftet.
Reden Sie doch nicht so einen Quatsch! Das hat mit derUnion überhaupt nichts zu tun.
Die Wahrheit ist: Wenn Menschen bereit sind, für ei-nen solch geringen Lohn zu arbeiten, dann werden wirsoviel kontrollieren können, wie wir wollen; man wirdnicht jeden Verstoß ausschließen können.Dietmar Kansy hat darauf hingewiesen, daß die öf-fentliche Hand – durch die Rechenschaft vor der Öf-fentlichkeit, durch den Bundesrechnungshof und durchandere Kontrollorgane – gezwungen ist, möglichstpreisgünstig zu bauen.
Die Zeitungen schreiben am Montag, bei der Reichs-tagseröffnung, es sei nicht richtig, daß es dort so wenigedeutsche Bauarbeiter gegeben habe, und kritisieren amMittwoch, daß der Bau um einige Prozent teurer gewor-den ist, als man gedacht hat. Ich glaube, es wäre gut,wenn aus dieser Debatte hervorginge, daß bei öffentli-chen Ausschreibungen – wenn wir als Staat also Auf-traggeber sind – die Angebote geprüft und keine Dum-pingangebote, die solche Verhältnisse nach sich ziehen,genommen werden.
Das wäre eine vernünftige Lösung.Ich glaube, daß ein weiterer Punkt ziemlich wichtigist. Am Beispiel der Bauwirtschaft können wir sehen,welche Verwerfungen es auf dem Arbeitsmarkt aufGrund der Osterweiterung der Europäischen Gemein-schaft, die wir politisch wollen, geben wird und gebenkann. Wir sollten uns als Arbeitnehmervertreter imDeutschen Bundestag zumindest über eine Frage einigsein, nämlich darin, daß wir den deutschen Arbeitsmarktfür viele Jahre vor der Freizügigkeit von Arbeitnehmernaus Osteuropa schützen müssen.
Sonst werden wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt einWaterloo erleben.Weiterhin denke ich, daß wir überlegen müssen, wiewir unsere Strukturen so anpassen können, damit wirmöglichst wettbewerbsfähig sind. Ich glaube, daßÜberlegungen bei den Koalitionsfraktionen zum Bei-spiel dahin gehend, daß Schlechtwettergeld wiederein-zuführen, eine einmal gefundene tarifrechtliche Rege-lung außer Kraft zu setzen – Bauhandwerker in meinemWahlkreis sagen mir, daß das die Arbeitsstunde vondeutschen Bauhandwerkern etwa um 6 Prozent verteu-ern wird –, mit Sicherheit auch nicht das richtige Signalsind, um solche Entwicklungen einzudämmen, wie wirsie zur Zeit auf einigen Baustellen haben.
Sinnvoll wäre auch, wenn wir gemeinsam, egal inwelcher Fraktion wir sind, dafür sorgen, daß zumindestbei öffentlichen Baustellen, auch schon bei der Vergabe,eine gesamtgesellschaftliche Rechnung aufgemachtwird. Dabei darf man auch mit einrechnen, daß geradeöffentliche Baustellen Arbeitsplätze bieten sollten, andenen tarifvertraglich und sozialversicherungsrechtlicheinwandfrei gearbeitet werden kann. Wir sollten da aucheine Vorbildfunktion haben.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Weiermann.
Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Es ist immer das alte Strickmuster derReden, die wir hören. Wir befinden uns nicht in der er-sten Debatte über die Zustände in der Bauwirtschaft.Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, daß es hier zumafiaähnlichen Strukturen gekommen ist. Ich sprechenicht von der Baustelle des Reichstages oder von Bun-desbaustellen. Ich meine vielmehr, daß die heutige Ak-tuelle Stunde Verpflichtung und Anreiz sein muß, überdie Situation auf deutschen Baustellen insgesamt nach-zudenken. Die Arbeitnehmer, die in diesem Bereich tätigsind, haben ein Recht darauf, daß sich der DeutscheBundestag ernsthaft mit dieser Angelegenheit beschäf-tigt und nicht jeder von uns nur seine Position verteidigt.Hier geht es um die Menschen draußen und nicht um dieMitglieder des Deutschen Bundestages.
Wer in der Vergangenheit vergessen hat, seiner Sorg-faltspflicht nachzukommen, als führende Repräsentantender deutschen Wirtschaft ihre Sympathie gegenüberRechtsbruch und Bruch der Tarifvertragstreue am BauKarl-Josef Laumann
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2836 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
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bekundet haben, der darf sich nicht wundern, wenn dieseskandalösen Dinge heute weiter betrieben werden. Dasgeht eindeutig zu Lasten der Menschen.
Ich habe vor mir die Entwicklung der Zahlen für dasgesamte Bundesgebiet. 1994 hatten wir noch 601 Buß-geldentscheidungen von mehr als 200 DM, 1997 warenes 2 239. Während 1994 die Bußgeldsumme für illegaleBeschäftigung 23,64 Millionen DM betrug, lag sie 1997bei 42,36 Millionen DM. Während 1994 für die illegaleArbeitnehmerüberlassung eine Bußgeldsumme von fast23 Millionen DM gezahlt wurde, waren es 1997 fast75 Millionen DM. Sie sehen, daß es hier eine Tendenznach oben gibt.Ich unterstelle nicht, daß nirgendwo ernsthaft derVersuch unternommen wird, die Einhaltung gesetzlicherund tarifvertraglicher Rahmenbedingungen zu überprü-fen. Ich stelle an Hand dieser Zahlen allerdings fest, daßdie Entwicklung, sich um die Einhaltung der Rahmen-bedingungen, der gesetzlichen Verpflichtungen und dertarifvertraglichen Verpflichtungen herumzudrücken, inder Vergangenheit immer stärker geworden ist. Das giltes festzuhalten.
Die SPD-Fraktion stellt mit erheblicher Sorge fest,daß sich die Unternehmen unberechtigte Wettbewerbs-vorteile verschaffen. Wir müssen in diesem Zusammen-hang auch ein bißchen über Wirtschaftspolitik reden. Sieverschaffen sich diese Wettbewerbsvorteile gegenüberden gesetzestreuen und tarifvertragstreuen Arbeitgebern.
Bei aller Wertschätzung, lieber Herr Laumann – ichweiß, daß Sie im gewerkschaftlichen Lager nach wie vortätig sind, zumindest waren Sie dort tätig –: Ihre Einstel-lung, wonach der Arbeitnehmer bei solchen Entwicklun-gen gleichzeitig Opfer und Täter ist, teile ich nicht.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer schafften tarifvertragli-che Rahmenbedingungen. Die Arbeitnehmer vertrauendarauf, daß sich die Arbeitgeber dem Tarifvertrag, densie mit unterzeichnet haben, letzten Endes auch ver-pflichtet fühlen und die Löhne und Gehälter zahlen, dieim Bau zu zahlen sind, und sie nicht auf 3,50 DM,5 DM, 6 DM oder 7 DM pro Stunde in den Keller drük-ken. Das ist ein Skandal, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, und dagegen gehen wir vor.Ich bedaure, daß auf der anderen Seite des Hauses dieEinsicht fehlt, daß die auf deutschen Baustellen Be-schäftigten nichts anderes wollen, als daß bestehendeGesetze und Tarifverträge eingehalten werden. Nichtmehr und nicht weniger wollen sie. Darin wollen wir sieunterstützen.
Wir wollen auch zu Maßnahmen kommen, die das, washeute noch in der Gesetzgebung fehlt, ergänzen.Ich komme zum Schluß, da ich sehe, daß ich mitmeiner noch zur Verfügung stehenden Redezeit bei „mi-nus Null“ angelangt bin:
Experten schätzen den Umfang der Einkünfte ausSchwarzarbeit mittlerweile auf rund 550 Milliarden DM.– Ich verstehe nicht, warum Sie darüber lachen. Kannman eigentlich kaltschnäuziger sein als Sie, wenn es umdie Belange dieser Menschen geht?
Sie tun dies ab, als sei es Fliegendreck. Hier geht es umdie Existenzen von Menschen nicht nur in Berlin, son-dern in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Wirhaben gefälligst die Ohren offenzuhalten und die ent-sprechenden Beschlüsse vorzubereiten. Das erwartetman vom Deutschen Bundestag.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich
muß Sie ermahnen aufzuhören. Sie haben selber schon
darüber reflektiert.
Diese 550 Milliarden
DM gehen insbesondere dem deutschen Mittelstand
verloren. Da gehen Arbeitsplätze verloren. Da gerät die
wirtschaftliche Weiterentwicklung in Gefahr. Darüber
sollten Sie nachdenken!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, kom-
men Sie bitte zum Schluß.
Wir werden den Weg
einschlagen, die deutschen Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer nicht nur auf dem Bau zu unterstützen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner indieser Debatte ist der Kollege Konrad Gilges. Ihm wirddann noch ein Redner der CDU/CSU-Fraktion folgen.
– Entschuldigung, die CDU/CSU-Fraktion hätte sicheher überlegen müssen, daß noch ein Redner seitensihrer Fraktion sprechen soll.
Herr Kollege Gilges, Sie haben das Wort.Wolfgang Weiermann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 2837
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Meine sehr verehrten Damenund Herren! An dem Chaos in diesem Hohen Hause binich unschuldig. Ich bitte deshalb darum, mir die nötigeAufmerksamkeit zu schenken.Ich möchte zunächst eine Bemerkung zu der KolleginPau machen, die leider nicht mehr anwesend ist, wasmich in großes Erstaunen versetzt und was ich kritisiere.Ich finde es nicht fair, daß hier jemand eine Debatte er-öffnet und dann, wenn die anderen Kollegen zu diesemThema reden, nicht mehr anwesend ist.
Dann hätte sie nicht reden sollen. Das ist nicht demo-kratisch. Ich sitze hier jetzt auch über eine Stunde undmuß mir das anhören und antun, was Sie hier veranstal-ten. Auch die Kollegin hätte jetzt hier sein müssen. Da-für gibt es auch keine Entschuldigung. Das will ich ersteinmal feststellen.
Zweite Bemerkung: Den Kollegen von der PDS mußich natürlich sagen: Man muß aufpassen, daß man sichnicht vor den Karren von Interessenverbänden spannenläßt. Bei dieser Diskussion hat es aber diesen Anschein.Denn bei dem, was ich in dieser Debatte gehört habe,gehen das fachliche Fundament und das, was Wahrheitund Wirklichkeit ist, ein bißchen verloren. Ich will aufdiese Frage gleich noch einmal zurückkommen. Ich willaber zuerst noch etwas zu Herrn Laumann sagen.Herr Laumann, ich bin mit vielem, was Sie sagen,einverstanden. Nur das mit den Polen hat mich etwas ir-ritiert. Es gibt überhaupt keine Indizien dafür, daß diePolen diejenigen sind, die als Schwarzarbeiter, als ille-gale Arbeiter in der Bundesrepublik arbeiten. Das war soein bißchen antipolnisch, würde ich sagen, es hatte denTouch der Diskriminierung von polnischen Arbeitneh-mern. Das möchte ich nicht. Es geht nicht um Polen,sondern es geht um alle die, die als Ausländer hier inDeutschland von Unternehmen ausgebeutet werden –
gegen die bestehenden Tarifverträge und gegen die Ge-setze, unabhängig von ihrer Nationalität.Ich gestehe zu: Es gibt natürlich an den Baustellen inBerlin Ausbeutung, von Deutschen und von Ausländern.Es trifft zu, daß Lohndumping – richtigerweise muß esLohnwucher heißen, wie die Juristen sagen – in Berlinstattfindet. Es trifft auch zu, daß die Verletzung von Ge-setzen und Unfallvorschriften stattfinden. Das wissenwir alle. Das kann von uns auch nicht toleriert werden.Das wird von der Regierung nicht toleriert, das wird,nehme ich an, auch von der Opposition nicht toleriert,weil wir alle daran interessiert sind – jenseits der Frage,ob wir dem Gesetz jeweils zugestimmt haben –, daß dieGesetze, die es gibt, eingehalten werden. Das muß unsergemeinsames Ziel sein. Wenn es Gesetzesbrecher gibt,müssen sie auch über die Exekutive und die Judikativeso bestraft werden, wie es sich in einem Rechtsstaat ge-hört.
Wir können auch nicht zulassen, daß an den Baustellender Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Das muß unser ge-meinsames Interesse sein.Ein weiterer Punkt ist die Frage, welche Maßnahmendenn zu ergreifen sind. Die Vertragsgestaltung des Bau-trägers ist nach meinem Kenntnisstand ausreichend. Wasdie Bundesbaugesellschaft an Vertragsmaßnahmen mitden jeweiligen Bauunternehmen ausgehandelt hat, istglaubwürdig. Das kann man sich ansehen. Ich weißnicht, was man daran kritisieren muß, kritisieren kannoder kritisieren sollte. Man kann hier und da noch etwasbesser machen, kann die Bußgelder erhöhen usw., aberdas ist in Ordnung.Zur internen Überprüfung kann man als Bauherr sa-gen: das muß der Bauträger verstärken. Auch ich alsMitglied der Baukommission und des Ausschusses fürArbeit und Sozialordnung würde in Richtung des Bau-trägers sagen, daß man dort stärker nachprüfen müßte,daß es dort keine illegalen oder inkorrekten, nach demVertrag nicht vorgesehenen Beschäftigungen gibt. Dennes gibt sie ja, und es hat sie auch im Reichstag gegeben,wie die Untersuchungen zeigen. Also da, meine ich,könnte man etwas tun. Das gilt auch für die externenKontrollen, also die Kontrollen, die durch das Arbeits-amt Berlin/Brandenburg stattfinden. Auch da kann mansagen, das muß noch verschärft werden, da müssen Be-amte hineingehen und etwas unternehmen.Der Gesetzgeber kann natürlich gegen die kriminellenAktivitäten am Bau noch mehr tun. Er kann zum Bei-spiel das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verschärfen.Ob wir damit näher an das Ziel herankommen, werdenwir dann im Einzelfall sehen, das muß diskutiert wer-den. Wir können auch die Durchgriffshaftung, die nachdem Entsendegesetz schon besteht, noch weiter ver-schärfen, vielleicht die Strafen noch etwas erhöhen usw.In bezug auf den Mindestlohn am Bau hatte ich im-mer schon meine Zweifel. Wir als Sozialdemokratenhatten auch eine andere Vorstellung. Wir wollten nachder EG-Richtlinie, Herr Laumann, durchsetzen, daßnach dem ortsüblichen Tarifvertrag zu zahlen ist. Ichsage Ihnen im nachhinein: Es wäre eine bessere Rege-lung gewesen, wenn wir ein Entsendegesetz gemachthätten, in dem gestanden hätte: Es ist nach dem ortsübli-chen Tarifvertrag zu bezahlen. Das hätte eben nicht zurSpaltung der Arbeitnehmerschaft am Bau geführt: dieeinen, die Bezahlung nach Tarifvertrag fordern, und dieanderen, die nach Entsendegesetz bezahlt werden kön-nen, das heißt mit Mindestlöhnen. Das haben wir selbstverursacht, das heißt, Sie haben es verursacht. Wir wa-ren anderer Meinung.
– Herr Kolb, Sie werden doch nicht zustimmen.Wenn Sie sagen würden, wir stimmen dem ortsüblichen
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2838 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
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Tarifvertrag im Arbeitnehmer-Entsendegesetz als neuerKlausel zu, dann können wir das morgen zusammen ma-chen. Aber Sie sind ein Feigling, weil Sie dazwischen-reden und nicht bereit sind, die Konsequenzen zu tragen.Also reden Sie nicht so daher.
Ich möchte zum Schluß kommen. Die Tarifvertrags-parteien müssen selbst dafür sorgen – ich sage das ganzkritisch als jemand, der selber Funktionär einer Gewerk-schaft ist –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Gilges, Sie
müssen wirklich zum Schluß kommen.
– das ist mein letzter Satz –,
daß die Bestimmungen des Tarifvertrages durchgesetzt
werden. Das kann der Gesetzgeber ihnen nicht abneh-
men. Deswegen müssen wir dafür sorgen, daß die Ge-
setze eingehalten werden, besonders auch auf den Bau-
stellen in Berlin, weil es nämlich unser zukünftiger Re-
gierungssitz ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, entgegen der üblichen Praxis haben zwei
Mitglieder der SPD-Fraktion hintereinander geredet. Die
CDU/CSU-Fraktion hat leider zu spät ihren Redebedarf
für den vierten Beitrag angemeldet. Deshalb spricht jetzt
ausnahmsweise der Kollege Karl-Josef Laumann.
Sehr verehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin meiner Fraktion sehr dankbar, daß ich hier die Mög-
lichkeit habe, auf den Kollegen Weiermann und auch
auf Konny Gilges zu antworten.
– Selbstverständlich kann ich die Redezeit für die
CDU/CSU-Fraktion wahrnehmen. Das werde ich jetzt
auch machen.
Herr Kollege Weiermann, wir sollten nicht so mitein-
ander umgehen, daß wir uns gegenseitig das Wort im
Mund umdrehen. Auch für mich ist völlig klar, daß es
auf einer Arbeitsstelle, auch auf einer Baustelle men-
schengerechte Arbeitsbedingungen geben muß. In dieser
Einschätzung liegen wir überhaupt nicht auseinander.
Das gilt sowohl für deutsche wie für jeden anderen Bau-
arbeiter. Auch von meinem Menschenbild her denke ich
darüber nicht anders. Das wollte ich hier nur klarstellen.
Es ist aber auch die Wahrheit: Es gibt zwischen
West- und Osteuropa ein riesiges Wohlstandsgefälle.
Für einen osteuropäischen Bauarbeiter, dessen Familie
in Osteuropa wohnt, ist ein Stundenlohn von 6 oder
7 DM – egal unter welchen Bedingungen er ihn erzielen
kann – eine attraktive Entlohnung. Der deutsche Maurer
dagegen kann mit 7 oder 8 DM seine Familie in Berlin
oder irgendwo sonst in Deutschland nicht ernähren, weil
er hier unsere Mieten und unsere Lebensmittelpreise be-
zahlen muß. Deswegen kann er diesem Lohndumping
überhaupt nicht standhalten. Wenn die Unterschiede
zwischen der Entlohnung so groß sind, dann gibt es im-
mer Anreize dafür, sich billige Arbeitskräfte zu holen.
Auf dem Bau ist das alles noch schwieriger zu kontrol-
lieren als in einer Fabrik im Ruhrgebiet oder bei uns im
Münsterland.
In der Textilindustrie gibt es ähnliche Verwerfungen.
Nur finden diese nicht auf deutschem Boden statt. Der
deutsche Textilarbeiter konkurriert mit dem Textilar-
beiter, der für einen Stundenlohn von 3 DM irgendwo in
Osteuropa oder im asiatischen Bereich arbeitet. Aber es
ist schon ein Riesenunterschied, wenn es in diesem Land
passiert. Auch ich bin der Meinung, daß in diesem Land
der Grundsatz „gleiche Arbeit, gleiche Baustelle, gleiche
Entlohnung“ gelten muß. Das ist eine logische Sache.
Wir haben als öffentlicher Arbeitgeber – das wollte
ich deutlich machen; bei unseren Bauvorhaben treten
wir als öffentlicher Arbeitgeber auf; der Staat ist einer
der größten Bauträger in Deutschland; besonders in
Berlin gehören wir zur Zeit zu den größten Bauträgern –
eine besondere Verpflichtung. Ich erwarte von den
Leuten, die letzten Endes über die Vergabe von öffentli-
chen Baumitteln entscheiden – unabhängig von deren
Parteibuch –, daß sie schon bei der Vergabe darauf ach-
ten, ob die von den Baufirmen vorgelegten Preise reali-
stisch sind. Schon bei der Vergabe müssen wir fordern,
daß auf den Baustellen sozialversicherungspflichtige
Arbeitnehmer eingesetzt werden. Wir wollen, daß die
Standards der Berufsgenossenschaften und die Bestim-
mungen der Gewerbeaufsicht auf den Baustellen einge-
halten werden. Letzten Endes müssen wir gemeinsam
versuchen, das auf den Baustellen durchzusetzen. Daher
ist es auch nicht richtig, den Schwarzen Peter von der
einen zur anderen Seite zu schieben.
Wir sind uns sicherlich alle einig, daß beschlossene
Gesetze und vereinbarte Tarifverträge durchgesetzt wer-
den müssen, weil wir anderenfalls eine Bananenrepublik
wären. Es werden ja auch viele Kontrollen durchgeführt;
Dietmar Kansy hat davon berichtet, wie viele es gerade
auf den Bundesbaustellen gegeben hat. Diese Kontrollen
müssen wir noch verstärken. Aber auch Arbeitgeber und
Arbeitnehmer müssen auf den Baustellen aufklärend
wirken, damit wir die schwarzen Schafe erwischen kön-
nen. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn diejenigen, die
einmal als schwarzes Schaf erwischt wurden, zumindest
für eine gewisse Zeit keine öffentlichen Aufträge mehr
bekämen.
Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache und rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie dieZusatzpunkte 6 a und 6 b auf:Konrad Gilges
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 2839
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7. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEntschuldungsinitiative anläßlich des Welt-wirtschaftsgipfels der G-7/G-8-Staaten in Köln– Drucksache 14/794 –ZP6 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. NorbertBlüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUEntschuldung armer Entwicklungsländer –Initiativen zum G-8-Gipfel in Köln– Drucksache 14/785 – b) Beratung des Antrags der Abgeordneten CarstenHübner, Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derPDSUmfassender Schuldenerlaß für einen Neuan-fang– Drucksache 14/800 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste spricht zu unsdie Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenar-beit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerinfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor drei Monaten hat die Bundesregierung für denWirtschaftsgipfel der G-7-Staaten in Köln im Juni1999 eine Initiative zur Entschuldung armer Ländervorgelegt. Ziel der „Kölner Initiative“, wie wir sienennen, ist die weitere deutliche Entlastung hochver-schuldeter armer Länder erstens durch die Beschleuni-gung des Verfahrens zur Entschuldung – bisher sind essechs Jahre; wir wollen, daß es auf drei Jahre reduziertwird – und zweitens durch die Ausweitung des Volu-mens an Schuldenerleichterungen. Drittens geht es unsum die Umorientierung des Entwicklungsweges in denbetroffenen Entwicklungsländern in Richtung auf Ar-mutsbekämpfung und sozial und ökologisch nachhal-tige Entwicklung.Für alle öffentlichen Gläubiger zusammen bedeutenunsere Vorschläge zusätzliche Schuldenerlasse voninsgesamt 40 bis 45 Milliarden US-Dollar. Wir wollendamit vielen Millionen Menschen den Start in das näch-ste Jahrhundert erleichtern und einen substantiellen Bei-trag zur Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingun-gen und vor allem zum Abbau von Krisen- und Kriegs-ursachen in der Welt leisten. Gerade angesichts vonMord, Vertreibung und Krieg in Jugoslawien muß be-tont werden, daß es das Ziel der Bundesregierung bleibt,mit allen Möglichkeiten der Entwicklungspolitik, alsoauch mit unserem Schuldenerlaß, für gerechtere Ver-hältnisse in der Welt, für den Schutz der Menschen-rechte und für die Vermeidung von Krisen und Kriegenzu sorgen und mit solchen vorbeugenden zivilen Mittelnauch dazu beizutragen, daß Menschen in ihren Heimat-ländern menschenwürdig leben können.
Die hochverschuldeten armen Länder haben ganz be-sondere Probleme. In den ärmsten Ländern sterben dieMenschen durchschnittlich 25 Jahre früher als in den In-dustrieländern. 130 Millionen Kinder dürfen nicht zurSchule gehen, weil die Schule für die Familien zu teuerist. Wenn Devisen für den Schuldendienst erwirtschaftetwerden oder verarmte Menschen die kargen Ressourcenübernutzen müssen, geht das zu Lasten der Umwelt.Krisen und Bürgerkriege sind in vielen Ländern zumeistin der bitteren Armut der Menschen und in Verteilungs-konflikten begründet, deren gewaltsame Austragung dieLänder nur noch tiefer ins Elend stürzt. Jährlich 40 Mil-liarden US-Dollar würden nach Aussagen der VereintenNationen ausreichen, um die Grundbedürfnisse derMenschen in den Entwicklungsländern zu stillen. 780Milliarden US-Dollar geben Industrieländer, aber auchEntwicklungsländer jährlich immer noch für Waffen undRüstung aus. Dieses krasse Mißverhältnis muß geändertwerden.
Die ungeheure Verschuldung der betroffenen Länderwirkt sich aber nicht nur auf deren eigene, sondernauch auf unsere Situation aus. Verschuldung ist teil-weise auch eine Folge von unerwarteten wirtschaftli-chen Belastungen, sinkenden Rohstoffpreisen, hoheninternationalen Zinsen in früheren Jahren sowie unvor-sichtiger Kreditvergabe öffentlicher und privater Gläu-biger.Wir wollen gemeinsam Verantwortung für unsereWelt übernehmen und dazu beitragen, daß die Chancengerechter verteilt werden. Wir brauchen eine weltweiteSolidarität, um eben jener Ungleichheit entgegenzuwir-ken. Lassen Sie mich bitte aus aktuellem Anlaß sagen:Solidarität von Bürgern und Bürgerinnen zeigt sich inden Spenden in Millionenhöhe für die Flüchtlinge in Al-banien und Mazedonien. Solidarität müssen wir aberauch gegenüber den Ländern zeigen, die Flüchtlinge ingroßem Maße aufgenommen haben, wie Mazedonienund Albanien.
Das Schuldenmoratorium des Pariser Clubs für Al-banien und Mazedonien ist deshalb ein erster Einstieg.Ich plädiere darüber hinaus dafür, Albanien und Maze-donien die sogenannten DDR-Altschulden zu erlassen.Diese Schulden, die die Entwicklungsländer nicht zu-rückzahlen können und die noch zu Buche stehen, sindentstanden, weil damals von seiten der DDR Kredite fürWarenlieferungen vergeben worden sind. Der entspre-chende Betrag ist angesichts dessen, was für andereBereiche ausgegeben wird, nicht sehr hoch: Für Alba-nien betragen diese Schulden 13 Millionen DM und fürVizepräsidentin Petra Bläss
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Mazedonien 17 Millionen DM. Ich denke, es wäre einAkt der Solidarität, auch diese Schulden zu erlassen.
Unsere Initiative – dafür bedanke ich mich an dieserStelle ausdrücklich – baut auf der Arbeit vieler kirchen-naher Organisationen und auf der Kampagne „Erlaßjahr2000“ auf, die ganz wichtige Anstöße gegeben haben unddie wir im Rahmen unserer Initiative aufgreifen. Dasheißt, wir entwickeln die sogenannte Weltbank/IWF-Initiative zugunsten hochverschuldeter armer Länderweiter. Sie bietet aus unserer Sicht einen guten Rahmen,weil dabei alle Gläubiger, Weltbank, IWF, die entspre-chenden Länder, die regionalen Entwicklungsbanken unddie EU, beteiligt sind. Wir erwarten – das sage ich an die-ser Stelle auch – von den im Londoner Club zusammen-geschlossenen privaten Gläubigern, daß sie sich mitgleichgerichteten Maßnahmen anschließen. Auch darinmuß unsere gemeinsame Anstrengung liegen.
Für unsere im Detail vorgelegten Vorschläge bedeutetdies, daß der Erlaß von Schulden aus der Entwicklungs-zusammenarbeit für die Bundesrepublik Deutschlandaktuell für fünf Länder möglich wäre – unabhängig da-von, was ich vorhin über Albanien und Mazedonien ge-sagt habe –: Bolivien, die Elfenbeinküste, Guyana, Nica-ragua und Honduras.Wir wollen aber auch, daß die Schuldnerländer dengewonnenen finanziellen Spielraum für Vorhaben nut-zen, die eine nachhaltige und auf Beseitigung von Armutund sozialer Ungerechtigkeit gerichtete Entwicklungfördern; denn damit könnte nicht nur der Bau vonGrundschulen und von Basisgesundheitsstationen finan-ziert werden, sondern damit könnte auch ein Beitrag zurbesseren Entwicklung und zu mehr Stabilität geleistetwerden.Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: In Nicaraguamuß Schulgeld entrichtet werden, weil der Staat das Bil-dungssystem nicht allein finanzieren kann. Das gilt fürviele Länder dieser Kategorie. Zusätzlich müssen dieFamilien selbst Bücher, Schuluniform und dergleichenbezahlen. Trotz staatlicher Schulpflicht können vieleKinder nicht die Schule besuchen. Mehr noch: Viele vonihnen müssen durch ihre Arbeit zum Lebensunterhalt derFamilie beitragen oder leben als Straßenkinder, weil ihreFamilien an der Armut zerbrochen sind. Als Analpha-beten werden sie aber den Kreislauf der Armut niemalsmehr durchbrechen können.Ich nenne Ihnen das Beispiel der Zwillinge Pedro undMiguel aus Santo Domingo in Nicaragua. Die beidenJungen müssen in einer Ziegelei arbeiten. Selbst dasSchulgeld können sie mit dem, was sie dort erarbeiten,nicht ausreichend finanzieren. Sie versuchen deshalbmühsam, sich das Lesen mit Hilfe alter Zeitungen bei-zubringen.Deshalb geht es jenseits der Zahlen, die die Fachleutediskutieren, bei unserer Entschuldungsinitiative darum,daß die Menschen in den betroffenen Ländern bessereChancen für ihr Leben haben. Das sollten wir alle ge-meinsam als unsere große Aufgabe verstehen und ver-wirklichen.
Schuldenerlaß allein ist sicherlich kein Allheilmittelfür die vielschichtigen Probleme armer Entwicklungs-länder; und Schuldenerlaß allein gibt sicherlich auchnicht die Möglichkeit, die Armut bis zum Jahre 2015 zuhalbieren, wie es sich die OSZE-Staaten vorgenommenhaben. Schuldenerleichterungen müssen in ein reform-und entwicklungsstrategisches Gesamtkonzept einge-bunden sein. Vor allen Dingen gilt es sicherzustellen,daß die Freiräume von den Ländern richtig genutzt wer-den. Ich sage an dieser Stelle ganz eindeutig: Der FallUganda, wo im letzten Frühjahr kurz nach umfassendenSchuldenerleichterungen eine deutliche Anhebung derMilitärausgaben angekündigt wurde, darf sich auf kei-nen Fall wiederholen.
Deshalb muß bei den entsprechenden Schuldenerleichte-rungen jeweils durch Anpassungsprogramme sicherge-stellt werden, daß kein falscher Weg gewählt wird.Ich bekenne mich ausdrücklich dazu, daß dieseOrientierung von uns ausgegeben wird. Wir werdendabei auch auf eine stärkere Verantwortung von nach-haltiger Entwicklung und sozialer Ausgewogenheit inden Reformprogrammen von Weltbank und IWF ach-ten. Nächste Woche tagt das Development Committeein Washington. Wir werden in diesem Sinne dort Stel-lung nehmen. Im übrigen wissen wir: Wir werden vonJames Wolfensohn und seiner Neuorientierung derWeltbank, die absolut in unsere Richtung geht, unter-stützt.Wir dürfen bei den notwendigen Reformen aber nichtnur an die Partnerländer denken. Ob Entschuldung oderKrisenprävention – daß solche Maßnahmen notwendigsind, liegt immer auch ein Stück an uns. UngehemmteWährungsspekulationen, Rüstungsexporte
und Handelshemmnisse eines Teils unserer Welt tragenzu den Problemen in den anderen Teilen der Welt bei.
Auch das ist Globalisierung und macht Reformen beiuns unerläßlich. Wir fordern von den Schuldnerländerneine Begrenzung der Militärausgaben. Dazu stehe ich;aber ich stehe auch dazu, daß wir als Industrieländer undwir als Bundesrepublik Deutschland eine sehr restriktiveWaffen- und Rüstungsexportpolitik betreiben müssen.Beides gehört zusammen.
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Natürlich gibt es immer kritische Stimmen. Ich kenneja die Anträge, die heute vorliegen und die sagen, dasalles gehe nicht weit genug und es gebe noch mehrHandlungsbedarf.
Ich kann das gut verstehen. Ich bitte Sie aber, zu ver-stehen, daß die Haushalte insgesamt begrenzt sind. Dasgilt auch für die Weltbank, wo die Frage, wie die darananschließende Kapitalaufstockung aussieht, und diedamit verbundenen Konsequenzen diskutiert werdenmüssen.International hat die deutsche Initiative eine lebhafteDiskussion über das Entschuldungsthema ausgelöst.Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Frankreich undKanada sind inzwischen mit eigenen Vorschlägen an dieÖffentlichkeit gegangen. Ihre generellen Zielsetzungenentsprechen den unseren; alle setzen sich für eineschnellere und umfangreichere Schuldenerleichterungein. Höchstens in der Frage des Ausmaßes der zusätzlichzu gewährleistenden Schuldenerleichterungen gibt es imDetail noch unterschiedliche Einschätzungen. In per-sönlichen Gesprächen haben mir – was ich sehr wichtigfinde – sowohl James Wolfensohn als auch der ge-schäftsführende Direktor des Internationalen Währungs-fonds, Michel Camdessus, gesagt, daß sie unsere Initia-tive im Grundsatz und in der Zielsetzung begrüßen undfür richtig halten. Unser Anstoß hat dazu geführt, daß esjetzt – wie Camdessus gesagt hat – einen positiven„contest“ um die Zahlen gibt. Die amerikanische Seitehat ganz hohe Schuldenentlastungen genannt; alle Zah-len liegen auf dem Tisch.Letztlich geht es aber nicht darum, ob vorrangig daseine oder das andere Detail aus dem deutschen oder bri-tischen Vorschlag oder anderen Vorschlägen zum Tra-gen kommt. Es geht darum, daß den Menschen in LaPaz, Managua und Abidjan schnell geholfen wird. Dar-um müssen wir alle uns beim G-7-Gipfel kümmern.
Wir sind stolz darauf, daß wir als Bundesregierungdas Startsignal für diese gemeinsame Sache gegeben ha-ben. Was jedoch zum Schluß zählt, ist nicht die Ankün-digung – das habe ich gerade bei Schuldenerlassen sehrgenau gelernt –, sondern die reale Umsetzung. Deshalbwird es die Hauptaufgabe sein, dafür zu sorgen, daß dieZielvorstellungen in den nächsten Monaten konkret inentsprechende Verfahrensschritte umgesetzt werden.Nach dem G-7-Gipfel wird es dann bei der Herbsttagungvon IWF und Weltbank darum gehen, das gemeinsamePaket der G 7 konkret vorzulegen und umzusetzen.Für unseren Beitrag für die Entwicklung und Zukunftvon Millionen Menschen gibt es hohe internationale An-erkennung. Das ist schön. Das Allerwichtigste aber ist –um bei dem Beispiel von vorhin zu bleiben –: Wenn Pe-dro und Miguel Schulbücher bekommen und die Schulebesuchen können, dann ist es in ihrem Interesse und fürihre Zukunft. Es ist aber auch eine Investition in unseregemeinsame Zukunft in einer Welt.Ich bedanke mich sehr herzlich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!Zunächst einmal möchte ich an dieser Stelle den Initia-toren der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ sehr nachhaltigdafür Dank sagen, daß sie mit dieser Initiative die Pro-bleme der dritten Welt noch einmal deutlich ins Be-wußtsein gerufen haben. Dabei haben sie insbesonderedie Frage der Verschuldung unter die Lupe genommen.Dies ist eine besondere Frage, die uns hier beschäftigt.Aber gerade in einer Zeit, in der wir uns intensiv mitdem Kosovo beschäftigen, wird in diesem Zusammen-hang vernachlässigt, daß das auch eine Frage der Kon-flikte und der sozialen Spannungen in der Welt ist. Al-banien – das wissen selbst die wenigsten Leute inDeutschland und Europa – gehört zu den ärmsten Län-dern dieser Erde. Albanien ist ärmer als manches afrika-nische Entwicklungsland. Das macht deutlich, daß dieProbleme im wahrsten Sinne des Wortes hautnah vor derTür sind.Diese Initiative hat mit Sicherheit zur Schärfung desöffentlichen Bewußtseins beigetragen. Aber ich willnicht verhehlen, daß man sich doch über manche Nuan-cen wundern muß. Wenn laut Presseberichten der briti-sche Finanzminister Gordon Brown allen Ernstes dieThese vertritt, die Schuldenlast sei der wichtigste Grundfür Armut und Ungerechtigkeit auf dieser Erde undstelle eine der größten Gefahren für den Frieden dar, somuß man mit aller Vorsicht von Übertreibung reden.Niemand wird behaupten können, daß die Armut invielen Entwicklungsländern mit der Verschuldung zutun hat. Hat die Armut in Angola etwas damit zu tun,daß das Land über verhältnismäßig hohe Schulden ver-fügt,
während der Staatschef dos Santos ein privates Vermö-genskonto hat, das auf 4 bis 5 Milliarden US-Dollar ge-schätzt wird, ganz abgesehen von seiner Militärclique?Ich verweise auch auf das Beispiel Indien, das sich, wasdie Schuldenproblematik betrifft, in einer verhältnismä-ßig günstigen Situation befindet, in dem aber rund 450bis 500 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgren-ze leben. Das ist die größte Zahl von Armen in einemLand der Welt. Am Beispiel Indien wird sehr deutlich,daß die Probleme der sozialen Ungerechtigkeit mit derVerschuldung überhaupt nichts zu tun haben, sonderndamit, daß sich die Verantwortlichen in dem Land wei-gern, sich um die Probleme der Armen zu kümmern.
Die Forderungen sind zutreffend, daß eine schnelleund umfassende Schuldenentlastung für die hochver-Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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schuldeten armen Länder dringend geboten ist. Die Fra-ge lautet jedoch: Welches Land ist wirklich arm? Wirhaben uns gestern im Ausschuß – davon darf man wohlberichten – mit der Problematik von Nigeria beschäftigt,einem Land, das auf dem Hintergrund der letzten20 Jahre zu vorsichtigem Optimismus Anlaß gibt. Manhat auch darüber gesprochen, daß wir der neuen, einerdemokratisch legitimierten Regierung gewisse Chancenfür einen positiven Start einräumen sollten. Allein ge-genüber Deutschland hat Nigeria eine Schuldenver-pflichtung von rund 6 Milliarden DM. Die Frage einesMoratoriums ist sicherlich ernsthaft zu prüfen.Wir waren uns im Ausschuß über Fraktionsgrenzenhinweg einig, daß ein Land wie Nigeria kein klassischerFall für Schuldenerlaß ist; denn es verfügt über natürli-che Ressourcen, die das Land eigentlich in die Lage ver-setzen müßten, überhaupt ohne internationale Hilfe aus-zukommen. Ich habe mich sehr gefreut, Frau Ministerin,daß der Vertreter der Bundesregierung im Ausschuß dieUnterstützung aller Anstrengungen durch die Bundesre-gierung zugesagt hat, die dazu beitragen, die in derSchweiz und im Libanon vermuteten Konten der bishe-rigen Machthaberclique aufzuspüren und die Gelderdem Lande wieder zuzuführen, um damit der Ver-pflichtung der Armutsbekämpfung nachzukommen.
Die bisherigen Entschuldungsmaßnahmen waren zuhalbherzig, und die betroffenen Länder waren nicht aufden Weg einer wirtschaftlichen Gesundung gebracht. Estaucht immer die Forderung auf, wir müßten uns nüch-tern ansehen, daß über die letzten Jahrzehnte hinwegeine ständige Verbesserung der Schuldenerleichte-rungsmaßnahmen der Gebernationen gegenüber denEntwicklungsländern auf den Weg gebracht worden ist.Auch hierzu können wir feststellen, daß es viele Ländergibt, die nicht ihrer eigenen Verpflichtung gegenübereiner Entschuldung und einer Reformpolitik in ihrenLändern nachgekommen sind. Auf diesem Hintergrundzeigt sich, daß Schuldenmaßnahmen nicht greifen, wenndie Länder keine entsprechenden Reformanstrengungenunternehmen.Die HIPC-Initiative, die Maßnahme für die amhöchsten verschuldeten armen Länder, die nicht zuletztauch auf deutsche Initiative hin zustande gekommen ist,ist nach Auffassung aller Experten ein probates Mittel,um Entschuldung zu ermöglichen. Die Anhörung desAusschusses bestätigt diese These für den Fall, daß dieMaßnahme großzügig und umfassend durchgeführtwird.Ich möchte dazu durchaus nüchtern anmerken: DieBundesregierung schlägt vor, daß man die Entschul-dungsmaßnahmen von sechs auf drei Jahre verkürzensollte, wenn ein Land entsprechende Reformen auf denWeg gebracht hat. Ich kann aus ganz persönlicher Be-trachtung der entsprechenden Länder nur feststellen, daßwir drei Jahre als nicht ausreichend betrachten müssen,um wirklich die Ernsthaftigkeit von Reformanstrengun-gen in einem Lande bewerten zu können. Die Ministerinselbst hat vorhin dankenswerterweise an dem vielge-rühmten und als Vorbild dienenden Fall Uganda deut-lich gemacht, daß die Machthaber dort, als sie kaum einbißchen Geld übrig hatten, es gleich wieder in die Rü-stung gesteckt haben. Wenn Uganda bei der Umschul-dung höhere Auflagen hätte spüren müssen, dann hätteman mit Sicherheit eine solche Verwendung dieser Gel-der bewirken können.
Wir bedauern, daß die Ministerin selbst zwar viel vonBedingungen gesprochen hat, daß aber in dem Antragder Koalitionsfraktionen von Konditionalität, also vonVorbedingungen für Umschuldung, wenig zu lesen ist.Das müssen wir als einen schweren Mangel des Antra-ges der Koalitionsfraktionen bewerten.
Wir müssen deshalb ganz nüchtern darauf verweisen,daß es notwendig ist, auch auf Bedingungen zu achten.Übrigens, man hätte sich viel Mühe ersparen können,wenn man sich zur Grundlage der Diskussion den Arti-kel von Manfred Schäfers der „FAZ“ von gestern mitder Überschrift „Schulden und Entwicklung“ zu Gemütegeführt hätte. In diesem Artikel wird die gesamte Pro-blematik deutlich gemacht. Ich darf aus einem Absatzdieses Artikels zitieren.
Herr Kollege,
es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage. Kön-
nen wir die vorziehen, oder wollen Sie gerne abschlie-
ßen?
Die können
wir selbstverständlich vorziehen, Frau Präsidentin. Ich
habe schon einmal einem anderen Präsidenten gesagt:
Werner Schuster darf bei mir immer eine Zwischenfrage
stellen, denn er ist mein Freund. Werner, wenn du willst,
bitte.
Dann erteilen
wir dem Freund das Wort. Bitte.
Herr Staatssekretära. D., ich bedanke mich für diese Zuwendungsleistung.Sie werden sicherlich verstehen, daß wir als Antragstel-ler nicht in der Lage waren, zeitgerecht auf den „FAZ“-Artikel von gestern zu reagieren, da unsere Vorbereitun-gen etwas früher abgeschlossen waren. Meine Frage anSie lautet: Sie weisen, wie ich meine, in Ihrem Antragzu Recht auf die Bedingungen in den Entwicklungslän-dern hin. Ist es aber umgekehrt ein Zufall, daß in IhremAntrag die Bereiche, die uns betreffen, zum Beispiel dieVerantwortung von IMF und Weltbank, die Strukturan-passung und die Finanzkrisen, fehlen? Auf all das hatdie Frau Ministerin hingewiesen. Darf ich vermuten, daßvon Ihrer Seite auch in Zukunft vermehrt einäugig ar-gumentiert wird?
Klaus-Jürgen Hedrich
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Sie könnennicht davon ausgehen, daß wir das in Zukunft so machenwerden. In diesem Zusammenhang kann ich nur daraufverweisen, daß gerade die Einbindung der internationa-len Institutionen Bestandteil der in der letzten Legisla-turperiode auf den Weg gebrachten HIPC-Initiative ist.Wir waren uns immer darüber einig, daß es unsinnig ist,die Schuldenproblematik immer nur bilateral anzugehen.Vielmehr haben wir die Auffassung vertreten, daß auchdie internationalen Finanzorganisationen einen Beitragzur Entschuldung der Entwicklungsländer leisten müs-sen. Ich glaube, da sind wir, Herr Kollege Schuster,nicht unterschiedlicher Meinung.Ich darf kurz aus dem Artikel von Schäfers zitieren:Wer kann sich da gegen einen Schuldenerlaß wen-den? Doch es gibt auch kritische Töne. Sie kom-men vor allem aus den Reihen der Banken und derÖkonomen. Sie sind aus guten Gründen gegen dasRasenmäher-Prinzip im Umgang mit der DrittenWelt. So ermöglicht eine allgemeine Entlastungschlecht wirtschaftenden Regierungen, ihre frühe-ren Fehler und Versäumnisse fortzuführen. Dannwürde aber nach der völligen Entschuldung nur einneuer Verschuldungskreislauf in Gang gesetzt.
Der entscheidende Punkt ist, daß wir bei Entschul-dungsmaßnahmen darauf achten müssen, daß die Bedin-gungen in den Ländern so ausgerichtet sind, daß Ent-schuldung wirklich den ärmeren Bevölkerungsschichtenzugute kommt. Nur wenn das gewährleistet ist, wirdeine Entschuldungsmaßnahme sinnvoll sein.
Sie haben am Beispiel Uganda – ich wiederhole michhier – selbst demonstriert, daß die Maßnahmen nicht sogegriffen haben, wie wir das geglaubt haben. Deshalb istin diesem Zusammenhang zum Beispiel auf die Gegen-wertfonds zu verweisen, mit denen wir angefangen ha-ben, derartiges zu praktizieren. Das sind Fonds, in diedie entschuldeten Länder einen Beitrag einzahlen, derdann für ganz bestimmte Zwecke verwendet wird. Bis-her hat Deutschland mit seinen Fonds, durch die Eigen-mittel und Mittel der Partnerländer für Bildungsmaß-nahmen, für soziale Zwecke und Umweltzwecke zurVerfügung gestellt werden, positive Dinge erreicht.Wir können aber auch feststellen, daß sich die Regie-rungen unserer Partnerländer in zunehmendem Maßeweigern, den Geberländern Einfluß auf die Verwendungdieser Mittel zu gewähren. Deshalb plädieren wir fürMechanismen, durch die Nichtregierungsorganisationen,Kirchen usw., in den Entwicklungsländern in stärkeremMaße ein Mitspracherecht bei der Verwendung dieserMittel bekommen. Hier kann ich übrigens auf das Bei-spiel der Schweiz verweisen; die Organisation Justitia etPax hat uns auf dieses Modell aufmerksam gemacht. Ichwürde der Bundesregierung und dem Deutschen Bun-destag raten, sich mit der Vorgehensweise in derSchweiz etwas intensiver auseinanderzusetzen. Ichglaube, das wäre eine gute Maßnahme.
Eine weitere These lautet: Entschuldung reicht nichtaus, wir werden auch in Zukunft auf große Finanztrans-fers in die Entwicklungsländer angewiesen sein. In derTat ist es richtig – hier unterstützen wir die Ministerinund ihr Ministerium –, daß der Deutsche Bundestagauch seiner Verpflichtung für den Haushalt nachkommtund entsprechende Finanzmittel zur Verfügung stellt.Ich muß noch einmal – ohne aus der Haushaltsdebattenachzukarten – darauf verweisen, daß der jetzige Haus-halt des BMZ für das Jahr 1999 das nicht hergibt. Soll-ten der Finanzminister und der Haushaltsausschuß dieEinsparmaßnahmen wahr machen, werden wir imwahrsten Sinne des Wortes deutlich unter den Haus-haltsansätzen von 1998 liegen. Das bedeutet dann, daßdas Stichwort der eben hier beschworenen Solidaritätnicht ausreicht. Es wäre übrigens ein Armutszeugnis fürdie deutsche Politik, nicht zuletzt vor dem Hintergrundder vielen privaten Spenden, die jetzt wieder für denKosovo eingegangen sind und die Tag für Tag bei denHilfsorganisationen eingehen, um den Menschen in derdritten Welt zu helfen, wenn sich die öffentliche Hand,hier vorrangig die Bundesrepublik Deutschland, ihrerVerpflichtung entziehen würde.Ich möchte aber auch noch auf ein anderes Problemhinweisen. Ein Großteil der Probleme, mit denen wir eszu tun haben, sind vorrangig aus der schlechten Regie-rungsführung unserer Partnerländer entstanden. Daß wir,sowohl die privaten Banken des Nordens als auch dieinternationale Gebergemeinschaft, bei so manchemGroßprojekt und so mancher Regierung mit der Gewäh-rung von Krediten zu großzügig waren, soll hier einge-räumt werden. Hoffentlich läßt sich das in der Zukunftvermeiden.Ganz entscheidend ist natürlich auch, daß die in denEntwicklungsländern Verantwortlichen – da geht eseben nicht nur um die Regierungen, sondern um alle, diean dem Entscheidungsprozeß in einem Land beteiligtsind – darauf achten müssen, daß die Reformanstren-gungen wirklich vorangetrieben werden. Das ist eineganz wichtige Maßnahme. Denn was nützt uns all das,was wir hier auf den Weg bringen, was wir den Ent-wicklungsländern, besonders den armen Entwicklungs-ländern, in einem fairen Angebot unterbreiten, wenn dieMittel, die durch Schuldenerleichterung frei werden,nicht für die Armen in der dritten Welt zur Verfügunggestellt werden? Deshalb müssen wir bei allen unserenMaßnahmen darauf achten: Schuldenerleichterung istnicht Selbstzweck, sondern sie muß ein Beitrag zurMinderung der sozialen Ungerechtigkeit auf dieser Erdesein.Herzlichen Dank.
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2844 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
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Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Heute mor-gen ist – in einer ganz anderen Debatte, nämlich zurNATO – an diesem Pult erwähnt worden, daß einige ausmeiner Fraktion sowie auch einige aus der SPD-Fraktionund aus anderen Fraktionen früher auf der Straße gewe-sen seien, um gegen bestimmte Strategien der NATO zuprotestieren und eine Veränderung zu erwirken.
Viele von uns waren aber auch in den letzten Jahrzehn-ten auf der Straße, etwa bei der IWF- und Weltbankta-gung in Berlin, weil wir uns dagegen engagieren woll-ten, dagegen protestieren wollten und eine Veränderungder Politik erreichen wollten, die mit der hohen Ver-schuldung der Länder des Südens zu tun hatte, weil wirein bißchen mehr Gerechtigkeit in der Weltwirtschaftund Entwicklungschancen auch für die Länder des Sü-dens erreichen wollten, sozusagen durch Demonstratio-nen herbeizwingen wollten.Jetzt stehen wir hier und haben eine Regierung undeine Regierungskoalition, die die Entlastung der ammeisten verschuldeten Länder des Südens von hohenSchulden in ihr Regierungsprogramm aufgenommen ha-ben, eine Regierung, die eine Initiative dazu ergriffenhat, und ein Parlament, das drauf und dran ist, diese Re-gierung in diesem Bemühen zu unterstützen und ihr Hil-fen auf dem Weg zum G-7-/G-8-Gipfel zu geben, weiles in der Tat weltpolitisch unerträglich ist, daß es Länderwie Nicaragua oder Ruanda gibt, um einmal zwei Län-der in zwei verschiedenen Erdteilen zu nennen, die fünfJahre lang ihre gesamten Exporteinnahmen ausgebenmüßten, um ihre Schulden bei den Geberländern, denIndustrieländern des Nordens, und den internationalenOrganisationen zu bezahlen.Die Folge davon ist, daß diese Länder und derenÖkonomie derzeit faktisch keine Entwicklungschancenhaben. Wenn sie überhaupt Kredite bedienen können,müssen sie dafür einen Großteil ihrer Einnahmen ausdem Export – wenn man das auf Deutschland umrech-net, wären das horrende Summen – aufbringen. Was vielschlimmer ist: Die Landwirtschaft, die gesamte Wirt-schaft ist auf die Bedürfnisse der Schuldenbedienungauszurichten. Wir alle kennen Beispiele dafür, daß Län-der in Afrika nicht mehr für die Versorgung bzw. dieErnährung ihrer Bevölkerung Landbau betreiben, son-dern dazu, um billiges Mastfutter für Kühe, Kälber undSchweine in Deutschland und in der EU exportieren zukönnen.Wir wollen das ändern. Dazu soll unsere Initiativedienen, die zunächst für eine Reihe von sehr wenigenLändern, für diejenigen, die am meisten verschuldetsind, gelten soll. Mit unserem Antrag wollen wir errei-chen, daß die Initiative der Bundesregierung unterstütztwird. Es geht nicht um milde Gaben oder um Mitleid. Esgeht um erste Korrekturen hin zu einer gerechterenWeltwirtschaftsordnung.Denn die Schulden der jeweiligen Länder sind – zumBeispiel durch Korruption oder Mißwirtschaft – nur zumTeil hausgemacht. Sie sind häufig auch Folge von nach-kolonialen Kriegen, Bürgerkriegen und Versuchen, eineneue Ordnung in Afrika oder in Lateinamerika zu schaf-fen. Aber sie sind eben auch – die Ministerin hat völligzu Recht darauf hingewiesen – zu einem ganz überwie-genden Teil – dies ist im Hinblick auf die einzelnenLänder unterschiedlich – Folge ungerechter Aus-tauschverhältnisse und des Verfalls der Rohstoff- undAgrarpreise. Wenn heute zum Beispiel ein Pfund Kaf-fee in einem deutschen Supermarkt die Hälfte des Prei-ses, der vor zwölf Jahren üblich war, kostet, bedeutetdies, daß der Kaffeepflücker in Nicaragua oder Guate-mala doppelt so lange arbeiten muß, um seinen Reisoder sein Brot kaufen zu können.
Die Länder benötigen doppelt so hohe Einnahmen ausExporten, um ihre Kredite bedienen zu können.Gemeinsam mit Initiativen wie zum Beispiel „Erlaß-jahr 2000“ fordern wir deshalb für die ärmsten Ländereine faire Chance durch einen Erlaß der Schulden. Es istzwar einfach zu sagen – das sage ich jetzt in RichtungPDS –: „Wir streichen alle Schulden“, aber nicht immerrichtig. – Das gilt gerade auch für die Streichung allerSchulden aus Krediten der ehemaligen DDR. – Denn wirhaben in einer diesbezüglichen Anhörung unter anderemerfahren – das konnte man auch schon vorher wissen –,daß eine Streichung der Schulden die bestehenden Pro-bleme vieler Länder nicht löst, sondern möglicherweisenur verschiebt.Deshalb muß die Bundesrepublik Deutschland bereitsein, für eine Lösung zu kämpfen. Dabei muß daraufhingewiesen werden – das steht in unserem Antrag –,daß ein Erlaß der Schulden nicht nur den Oligarchienbzw. den Reichen in den jeweiligen Ländern zugutekommen darf. Es darf nicht dazu kommen, daß dasGeld, das dann zur Verfügung steht, in die Rüstung bzw.in die Führung von Kriegen gesteckt wird. Uganda istdafür nur ein Beispiel. Es gibt viele andere Länder inAfrika und auf anderen Kontinenten, wo wir ein solchesVorgehen feststellen können. Die freiwerdenden Mittel– so steht es in unserem Antrag – müssen im Sinne einernachhaltigen, auf die Bekämpfung der Armut ausge-richteten Entwicklung eingesetzt werden. Das muß si-chergestellt werden.Sie, Herr Kollege Hedrich, haben gerade sieben Be-dingungen gestellt, unter anderem die, es müsse einemarktfreundliche Wirtschaftsordnung aufgebaut undpraktiziert werden. Das kann man vielleicht wünschen.Auch darüber kann man sich streiten. Aber ob es richtigist, dies zu einer Bedingung für eine faire Entwicklungzu machen, bezweifle ich. Man kann es auch übertreibenund kann die Länder mit einem Netz von Bedingungenüberziehen, das einer freien, selbständigen und selbstbe-stimmten Entwicklung im Wege steht.
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Ich denke, das ist in Ihrem Antrag übertrieben. DerSchuldenerlaß soll helfen, eine demokratische Entwick-lung in den Ländern zu fördern und eine nachhaltigeEntwicklung für den Umweltschutz, für die Verbesse-rung der Situation der Armen und für die Bildung zuermöglichen. Darüber sind wir uns im Ausschuß einig,und das ist gut so.Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu denwichtigsten Gläubigerländern. Sie verfügt darüber hin-aus mit ihrer ökonomischen Kraft über besonderen Ein-fluß in den internationalen Organisationen wie IWF undWeltbank. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben derneuen Koalition – so ist es im Programm beider Koaliti-onsparteien ebenso wie in der Koalitionsvereinbarung,die Grundlage unserer gemeinsamen Regierungsarbeitist, festgeschrieben –, einen wesentlichen Beitrag zu lei-sten und die Vorreiterrolle zu übernehmen, um endlichzu einer anderen Wirtschaftsordnung zu kommen unddamit ein bißchen mehr soziale und ökonomische Ge-rechtigkeit weltweit herzustellen.Deshalb wünschen wir mit unserem Antrag der Bun-desregierung viel Erfolg bei den Verhandlungen mit denG-7-/G-8-Staaten. Unser Antrag soll dazu dienen, sie aufdem Wege zu begleiten, zu unterstützen und ein wenigden Weg zu weisen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Joachim Günther.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei derEntschuldungsfrage geht es seit langem nicht mehr umdas Ob, sondern es geht darum, wer unter welchen Be-dingungen entschuldet wird. Wenn Länder nicht in derLage sind, die Zinsverpflichtungen zu bedienen oder garzu tilgen, müssen die Ursachen erforscht und muß denLändern geholfen werden, aus eigener Kraft die Fähig-keit zum Schuldendienst und zur Entwicklung des Lan-des zu erlangen.Dies entspricht auch unseren liberalen Forderungennach der Förderung der Selbsthilfebereitschaft und derSelbsthilfefähigkeit der Partnerländer. Die in den 80erJahren rasch angewachsene Auslandsverschuldung vie-ler Entwicklungsländer bleibt deshalb eine große Her-ausforderung auf wirtschaftlichem und politischem Ge-biet. Bei allem dringenden Handlungsbedarf muß jedochpositiv vermerkt werden, daß die Verschuldungskriseheute nicht mehr ein Problem ist, das die Staaten der so-genannten dritten Welt alle in gleicher Weise betrifft.Denn eine große Anzahl ehemals hochverschuldeterEntwickungsländer hat inzwischen ihre Schuldenpro-bleme unter Kontrolle oder zum Teil gelöst.Entscheidend hierfür war die wirksame internationaleZusammenarbeit von Gläubiger- und Schuldnerländern,von internationalen Organisationen und Banken, die da-für gesorgt hat, daß trotz der asiatischen Finanzkrise dieSchuldenprobleme einzelner Länder nicht zu einer Krisedes internationalen Finanzsystems wurden.Bei aller Notwendigkeit, die Verschuldungssituationinsbesondere in den am höchsten verschuldeten Ent-wicklungsländern in den Griff zu bekommen, muß auchgesehen werden, daß die Verschuldung an sich kein Ma-kel ist; denn jedes aufstrebende Unternehmen wäreschlecht beraten, wenn es in der Entwicklungsphase sei-nes Unternehmens ohne Kreditaufnahme arbeiten wür-de.Auch die Auslandsverschuldung ist zur Sicherstel-lung des notwendigen Zustroms internationalen Kapitalsein normaler und ökonomisch sinnvoller Vorgang. Diessetzt jedoch voraus, daß mit diesem Geld tragfähige In-vestitionen getätigt und Produktivitätssteigerungen er-wirtschaftet werden, durch die im Endeffekt der Schul-dendienst bedient werden kann.
Die langjährigen Erfahrungen mit teilweise geschei-terten Ansätzen für eine wirtschaftlich und politisch ver-nünftige Strukturanpassungspolitik in vielen Ent-wicklungsländern haben gezeigt, daß dauerhaftesWachstum nur auf der Grundlage einer marktorientier-ten Politik und durch Eigenanstrengungen der Schuld-nerländer insgesamt erreicht werden kann.Schuldenerleichterungen ohne durchgreifende Re-formprozesse in der Wirtschafts- und Finanzpolitik derEntwicklungsländer sind keine Grundlage zur dauerhaf-ten Lösung der Finanzprobleme.
Ich begrüße es daher ausdrücklich, daß dieser zentraleAspekt in dem vorliegenden Koalitionsantrag aufgegrif-fen wurde.Trotz der finanziellen Sonderbelastung infolge derdeutschen Wiedervereinigung hat sich die frühere Bun-desregierung mit Unterstützung unserer Fraktion nach-träglich für eine umfassende Entlastung hochverschul-deter und armer Entwicklungsländer eingesetzt. Gegen-über den am wenigsten entwickelten Ländern hatDeutschland unter unserer Mitverantwortung Forderun-gen aus der entwicklungspolitischen Zusammenarbeitvon über 9 Milliarden DM erlassen. Darüber hinauswurde im Rahmen multilateraler Umschuldungsverein-barungen gegenüber Entwicklungsländern auch auf For-derungen aus Handelsgeschäften in einer Gesamthöhevon 3 Milliarden DM verzichtet.Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist überdies der Auf-fassung, daß pauschale Schuldenerlasse auch unterentwicklungspolitischen Gesichtspunkten keine befrie-digende Lösung bilden.
Die Erfahrungen aus vier Entwicklungsdekaden habengezeigt, daß Ent- bzw. Umschuldungsmaßnahmen in derRegel nur dann einen wirkungsvollen Beitrag zur Errei-chung des Zieles der nachhaltigen Entwicklung leistenkönnen, wenn sie gleichzeitig mit wirtschaftlichen In-Hans-Christian Ströbele
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itiativen verbunden sind. Auch insofern stimmen wir mitdem Ansatz des Koalitionsantrages überein.Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt die Forde-rung, das bestehende bilaterale und multilaterale Instru-mentarium zur Erleichterung von Schulden besondersverschuldeter Entwicklungsländer weiterzuentwickelnund vor allem den Kreis der zugangsberechtigten Länderzu erweitern.Ferner gibt es immer auch aktuelle Situationen. Da istzwischen Soforthilfe, Krediten und Schuldenerlaß stetsein Zusammenhang herstellbar. Nehmen wir als Beispieldie vom Wirbelsturm „Mitch“ betroffenen Länder, diedurch diese Katastrophe in ihrer Entwicklung um vieleJahre zurückgeworfen wurden. Hier gibt es aus unsererSicht keine Alternative zum Schuldenerlaß, zumal einLand wie Honduras sowieso zu den ärmsten LändernLateinamerikas zählt.Denken wir an die heute vom Kosovo-Elend, also andie von den Folgen der Flucht und Vertreibung betroffe-nen Anrainerstaaten Albanien und Mazedonien. Soweitdas Thema Schuldenerlaß hier überhaupt ein zentralesThema ist, muß es als Teil der Maßnahmen verstandenwerden, die ergriffen werden, um die Folgen desFlüchtlingselends für die wirtschaftliche und sozialpoli-tische Entwicklung dieser Länder abzumildern oder so-gar umzukehren. In Mazedonien geht es darum, demLand trotz wachsender ethnischer Konflikte und extre-mer Belastungen der innenpolitischen Situation durchdie Flüchtlinge zu helfen, einen eigenen marktwirt-schaftlichen und demokratischen Entwicklungsweg zukonsolidieren.
Albanien – das wurde vorhin bereits gesagt –, nachwie vor das Armenhaus Europas, wo es zum Teil hoff-nungsvolle Entwicklungsanstrengungen gibt, solltenwir angesichts der großen Hilfsbereitschaft darin unter-stützen, die Lasten des Flüchtlingselends weiter zumildern.
Bei der Entschuldung muß also für jedes Entwick-lungsland im Hinblick auf seine spezifische Entwick-lungssituation eine angemessene Antwort gefundenwerden.
Ein genereller Schuldenerlaß ist nach wie vor nichtsinnvoll,
da dann die Gerechten und die Ungerechten gleichbe-handelt werden. Gute Regierungsführung im Rahmeneines demokratischen und, Herr Kollege Ströbele, einesmarktwirtschaftlichen Entwicklungsweges muß mitKraft unterstützt werden. Der differenzierte Umgang mitdem Thema „Entschuldung“ muß gesichert werden.Unsere Fraktion hat sich bereits vor einem guten hal-ben Jahr, gegen Ende der letzten Legislaturperiode, ineinem Entschließungsantrag für die HIPC-Initiativeausgesprochen und dafür plädiert, das bestehende bi-und multilaterale Entschuldungsinstrumentarium behut-sam fortzuentwickeln. Nach unserer Auffassung ist dieseInitiative ein wesentlicher Schritt, um hochverschuldetearme Länder substantiell von ihren erdrückenden Schul-den zu entlasten, damit sie ihre wirtschaftlichen Re-formprogramme und auch die Maßnahmen zur Armuts-bekämpfung auf den Weg bringen können.Diese Initiative fügt sich in den Rahmen der von unsmitgetragenen internationalen Schuldenstrategie ein,die die wirtschaftliche Reform der Schuldnerländer undeine Verbesserung der weltwirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen vorsieht. Insofern begrüßen wir auch die indem vorliegenden Antrag enthaltene Aufforderung andie Bundesregierung, sich für eine Verbesserung dervolkswirtschaftlichen Effizienz der hochverschuldetenLänder einzusetzen und dafür zu sorgen, daß Handels-hemmnisse abgebaut werden.Die im Koalitionsantrag geforderte Umwandlung vonAltschulden in den sogenannten Gegenwertfonds, insbe-sondere beim zukünftigen Erlaß von Forderungen ausder ehemaligen DDR, ist zu begrüßen. Die frühere Bun-desregierung hat mit Zustimmung unserer Fraktion be-reits Schuldenumwandlungen von Forderungen gegenUmweltschutzmaßnahmen und Armutsbekämpfung inHöhe von 310 Millionen DM geleistet. Selbstverständ-lich sollte von diesem Instrument insbesondere bei denLändern Gebrauch gemacht werden, die von Naturkata-strophen heimgesucht wurden.Ebenfalls im Gegensatz zum vorliegenden Antragsind wir der Ansicht, daß zukünftig von dem Instrumentnicht rückzahlbarer Zuschüsse grundsätzlich nichtmehr, sondern eher weniger Gebrauch gemacht werdensollte. Auch hier zeigt die Erfahrung, daß vernünftigeKreditkonditionen zu verantwortlichem Umgang mit denMitteln und somit zu einer höheren Effizienz der ent-wicklungspolitischen Projekte führen.
Das gleiche gilt für die Vergabe von Darlehen der inter-nationalen Finanzinstitutionen.Wir meinen, daß in begründeten Einzelfällen zwarerhebliche Konzessionen hinsichtlich der Marktkondi-tionen gemacht werden können, auf die Marktkonfor-mität der Maßnahmen jedoch nicht völlig verzichtetwerden sollte. Die Forderung nach einer stärkeren Ein-bindung des Privatsektors bei der Vorbeugung undLösung internationaler Finanzkrisen hingegen verstehenwir als einen Anstoß, die von der F.D.P.-Bundes-tagsfraktion seit langem geforderte privatwirtschaftlicheKomponente in der Entwicklungspolitik weiter zu för-dern.Unter diesen erwähnten Vorbehalten und unter Zu-rückstellung von Bedenken in Einzelfragen stimmen wirdem Koalitionsantrag zu.
Joachim Günther
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Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Adelheid Tröscher.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Herr Günther, daß Sie unserem An-trag zustimmen, ist eine große Freude und eine froheBotschaft für uns alle. Auf breiter Ebene ist allmählichdie Erkenntnis gewachsen, daß wir diese Entschul-dungsinitiative brauchen. Wir wissen alle, daß auf die-sem Gebiet etwas erfolgen muß und daß diese InitiativeErfolg haben muß.Unter uns Entwicklungspolitikern gibt es natürlichNuancen in den Auffassungen und Differenzen – das istklar –, aber insgesamt ist der Keil der gemeinsamenSicht, was die Entschuldung dieser ärmsten Länder an-belangt, recht breit.Die Entschuldungsinitiative muß Erfolg haben, dennseit dem Beginn der „Schuldenkrise“ hat sich an derVerschuldung vieler Staaten kaum etwas geändert. Fürviele Entwicklungsländer hat sich die Situation aller-dings noch verschärft. Dies führt dazu, daß die Ent-wicklungschancen vieler Länder durch die anhaltendeöffentliche Verschuldung massiv beeinträchtigt sind.Anstatt zufließende Mittel in den Bereichen Armutsbe-kämpfung und Bewahrung der natürlichen Lebens-grundlagen einsetzen zu können, werden diese Mittelhauptsächlich für die anstehenden Schuldendienste ver-wendet. Das erinnert mich an Familien, die sich so ver-schuldet haben, daß sie sich eigentlich gar nichts mehrleisten können und nur noch von Graupensuppe leben,damit sie die Schulden, die sie angehäuft haben, bezah-len können. Hier muß geholfen werden.Wir müssen Mittel für die Armutsbekämpfung haben.Wir müssen Mittel für die Grundbildung haben. Wirmüssen Mittel für Umweltschutz- und Infrastrukturmaß-nahmen sowie in ganz besonderem Maße für die Frauen-förderung haben; denn letztere bleibt auf der Strecke,wenn wir diese Gelder anders nutzen können. Über-schuldung ist zu einem der am meisten entwicklungs-hemmenden Probleme geworden. Selbst die Weltbankhat das längst begriffen und neue Initiativen gestartet.James Wolfensohn imponiert mir in diesem Punkte sehr.Ich hoffe nur, daß er es fertigbringt, die Weltbank insge-samt so zu reformieren, daß sie der Entwicklungspolitikauf lange Sicht dient und dies diesen Ländern zugutekommt.Der von der Weltbank eingeschlagene Weg, eineninternationalen Fonds zur Entschuldung der multilate-ralen Forderungen zu schaffen, könnte wegweisendsein für die Entschuldung privater und bilateraler Forde-rungen. Die bisherigen Bemühungen von IWF undWeltbank gegenüber den hochverschuldeten armen Län-dern sind kleine Schritte in die richtige Richtung. Den-noch sind beide auch weiterhin gefordert, innovativeMaßnahmen zu ergreifen, um die Belastungen der armenSchuldnerländer auf ein tragbares Niveau zu reduzieren.Eine Aufrechterhaltung der vollen Finanzforderung istnicht zu rechtfertigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir den Men-schen in den Entwicklungsländern ihre Chancen zu einerumfassenden Entwicklung nicht nehmen wollen, müssenwir jetzt neue Initiativen ergreifen und von unserer Seiteaus zur Entschuldung dieser Länder beitragen. Die Mi-nisterin hat einige Länder genannt, die zuerst von dieserInitiative erfaßt werden sollen. Manche haben schonAngst davor, daß jetzt alle Länder auf einen Schlag ent-schuldet werden sollen. Ich denke, wir werden uns dasganz genau überlegen und die Kriterien dahin gehendentsprechend anwenden, welche Länder an die Reihekommen.Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits in der letztenLegislaturperiode Vorschläge zur Entschuldungspro-blematik erarbeitet und in den Deutschen Bundestageingebracht. Wir hatten seinerzeit die Vorschläge derWeltbank begrüßt, einen internationalen Fonds für die40 ärmsten Länder einzurichten. Dieser Fonds sollte un-seres Erachtens unverzüglich auf einer internationalenSchuldenkonferenz im Hinblick auf Umsetzung undKonzeption diskutiert und geprüft werden. Wir habendazu auch eine Reihe von Fragen formuliert. Hierzu ge-hören etwa, gegenüber welchen Ländern der Fonds Ent-schuldungen durchführen könnte, welche Kriterien zu-grunde gelegt werden sollten – es ist uns allen ja sehrwichtig, daß es einen Kriterienkatalog für Entschul-dungsmaßnahmen gibt –, ob im Zuge von Entschuldun-gen Gegenwertfonds für entwicklungspolitische Maß-nahmen in den betreffenden Ländern eingerichtet wer-den sollen – ich bin froh, daß diese Gegenwertfondsimmer mehr auf die Zustimmung anderer Parteien tref-fen –, wie man sicherstellt, daß die Entschuldungspro-gramme auch wirklich der breiten Bevölkerung zugutekommen und welche Anteile am Fonds durch Einlagender internationalen Finanzinstitutionen, IWF und Welt-bank vor allen Dingen, aber auch den regionalen Ent-wicklungsbanken selbst, durch einen Teilverkauf derIWF-Goldreserven, durch eine Erhöhung von Sonder-ziehungen und gegebenenfalls durch bilaterale Einlagenabgedeckt werden könnten.Hinzu kommt, daß es sinnvoll ist, in bestimmten Fäl-len der Entwicklungsfinanzierung diese nur noch inForm von Zuschüssen zu gewähren. Das wäre für diebetreffenden Länder sicher sehr viel besser.Darüber hinaus sollten wir prüfen, wo es noch mehrSpielräume für Entschuldungsmaßnahmen gibt, vor al-lem dann, wenn der Schuldendienst armer Entwick-lungsländer nicht ihrer Leistungsfähigkeit entspricht unddeshalb Investitionen in Entwicklung verhindert. Aufdeutsch: Mit neuen Krediten werden alte Schulden be-zahlt. Das ist absurd. Dies kann nicht so weitergehen;dies müssen wir ändern.
Daher begrüße ich es außerordentlich – ich bin wirk-lich sehr froh darüber –, daß die neue Bundesregierungdas aufgegriffen hat. Hier muß ich die Ministerin wirk-lich loben. Denn sie hat das von Anfang an zu ihremThema gemacht und das bis zu dieser Entschuldungs-
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initiative durchgezogen. Ich hoffe sehr, daß Sie damitErfolg haben werden.
Hier geht es darum, daß die Menschen in den hochver-schuldeten Ländern eine neue Chance für nachhaltigesWachstum haben und Innovationen und eine sozial ge-rechte und ökologisch verträgliche Entwicklung eröffnetbekommen.Mit der Kölner Schuldeninitiative hat die Bundesre-gierung die Anregung der vielen entwicklungspolitischengagierten Einzelpersonen und Organisationen in unse-rem Land, die sich seit Jahren für eine weitgehende Ent-schuldung der Entwicklungsländer einsetzen, aufgegrif-fen. Beispielhaft seien die zahlreichen Gruppen, Initiati-ven, NGOs, Kirchengemeinden und Entwicklungsorga-nisationen an dieser Stelle einmal erwähnt, die sich imRahmen der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ zusammenge-schlossen haben. Ich finde, das ist eine einmalige Bür-gerbewegung. Man sollte das wirklich auch einmal ganzdeutlich sagen.
– Und sie loben; natürlich.Wir begrüßen deswegen die Vorschläge der Bundes-regierung, die Vorlaufzeit für Schuldenerlasse im Rah-men der HIPC-Initiative für die ärmsten hochverschul-deten Länder zu verkürzen, den Ländern bis zum Jahr2000 Klarheit über den Zeitpunkt des Schuldenerlasseszu verschaffen, die Leistungsfähigkeit bzw. das Ent-wicklungspotential jedes einzelnen von der Verschul-dung betroffenen Staates stärker zu berücksichtigen, zuinsgesamt abgestimmten Vorgehensweisen im PariserClub zu kommen und den Außenwirtschaftssektor in denEntwicklungsländern durch Finanzierung von Bera-tungsprojekten in der Entwicklungszusammenarbeit zustärken. Dazu gehören die NGOs, dazu gehören aberauch unsere staatlichen Einrichtungen. Ich frage mich,warum sie eigentlich vor Ort nicht wirklich gut zusam-menarbeiten sollten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Initiativeder Bundesregierung setzt die Bundesrepublik Deutsch-land ein Zeichen der Solidarität und der Partnerschaft.Das zeigt, daß wir uns zusammen mit unseren G-7-Partnern und internationalen Finanzinstitutionen in Zei-ten fortschreitender Globalisierung wirklich zusam-mentun können und uns für die Belange der hochver-schuldeten ärmsten Entwicklungsländer einsetzen. Dazugehört auch, daß die Schuldnerländer Maßnahmen hin-sichtlich der Stärkung der Demokratie und der Partizi-pation, der Wahrung der Menschenrechte, von „goodgovernance“ – und dazu gehört natürlich das leidigeThema Korruption – in all seinen Aspekten und derRechtsstaatlichkeit ergreifen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Entwicklungbraucht Entschuldung. Wir, die SPD-Bundestags-fraktion, begrüßen daher außerordentlich die Gipfel-initiative, die sich positiv auf die Lebenssituation vonMillionen von Menschen in vielen Ländern auswirkenkann und auswirken wird.Ich lade Sie, alle Fraktionen dieses Hauses, ein, demAntrag der Koalitionsparteien zuzustimmen, damit dieEntwicklungspolitiker wie so oft – warum nicht auchhier? – mit einer Stimme sprechen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen der Regierungsfraktionen! Frau Ministe-rin! In Ihrer Koalitionsvereinbarung ist zu lesen: „Inter-nationale Entschuldungsinitiativen für die ärmsten undhöchstverschuldeten Länder werden unterstützt.“ Zu-mindest diesem einen Satz zur Entwicklungspolitik fol-gen mit der angekündigten Schuldeninitiative 1999 nunerste, wenn auch außerordentlich zaghafte Schritte. Dasist gut so, aber – das müssen Sie auch zugeben – dasVersprechen war ja auch bescheiden und unkonkretgenug.Selbst die jetzt eingeleiteten Schritte lassen strukturellwie quantitativ leider wenig Innovatives und Neues er-kennen. Auch das muß, denke ich, gesagt werden. Stattdessen bewegen Sie sich in der Praxis – ich denke, dashat die Rede des Kollegen Hedrich deutlich gemacht –im wesentlichen in der Logik und den Spielräumen derbisherigen Regierung. Und diese waren längst nicht hin-reichend, gaben oft keine überzeugenden Antworten aufdie Herausforderungen, mit denen wir auf Grund einerungerechten Weltwirtschaftsordnung, Armut und Kriegin weiten Teilen der Erde konfrontiert sind.Ein erster Schritt also, für den Sie sich nicht allzudolle auf die Schulter klopfen sollten, gerade wenn wiruns vor Augen halten, daß er ohne den Druck der mitt-lerweile über 500 Organisationen der Kampagne „Er-laßjahr 2000“ sicher nicht zustande gekommen wäre.Denn es sind, wie so oft, die NGOs, die dafür gesorgthaben, daß ein Problembewußtsein überhaupt erst ent-standen ist, daß Blockaden überwunden und von derPolitik praktische Konsequenzen gezogen wurden.Aber genau diese Initiativen, meine Damen und Her-ren, sind es auch, die sich inzwischen sehr kritisch zurKölner Schuldeninitiative geäußert haben, sowohl wasden Umfang als auch was die politischen Eckwerte die-ses Vorstoßes betrifft. In einer Erklärung von WEEDheißt es etwa:Einen radikalen Plan für Schuldenerlasse stellt sie– also die Initiative –ebensowenig dar, wie sie einen neuen Start für einezukunftsfähige Entwicklung einleiten wird. EineAdelheid Tröscher
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glaubwürdige Rolle als Vorreiter in der internatio-nalen Schuldenpolitik kann die Bundesregierungnur dann für sich reklamieren, wenn sie konsequentihre bilateralen Handlungsmöglichkeiten aus-schöpft und sich für weitreichende Schuldenerlasseund strukturelle Reformen auf der multilateralenEbene einsetzt.Sie wissen so gut wie ich: Insbesondere bilateral hät-ten mit dem Haushaltsentwurf 1999 deutlichere Zeichengesetzt werden müssen. Ich nenne hier nur einige Stich-punkte: zum Beispiel den sofortigen und hundertpro-zentigen Erlaß für die ärmsten Staaten über die80-Prozent-Quote des Pariser Clubs hinaus oder diekonsequente Streichung der DDR-Schulden in Höhe von5,5 Milliarden DM, deren Legitimität durchaus nicht nurvon uns angezweifelt wird und die sich gegebenenfalls,etwa bei undemokratischen Regimen, zumindest in Ge-genwertfonds mit einer sinnvollen Zielsetzung undKontrolle umwandeln ließen.Darüber hinaus sind Schritte längst überfällig hin-sichtlich einer konsequenten Reform der Kreditvergabeüber Hermes-Bürgschaften mit Zielrichtung Transparenzund Nachhaltigkeit, also nach sozialen, entwicklungs-politischen und ökologischen Kriterien. Schließlich ma-chen genau diese Kredite bekanntlich einen Löwenanteilder bilateralen Forderungen der Bundesrepublik aus.Und last, but not least ist längst überfällig, woraufauch der Kollege Hedrich hingewiesen hat: Dem Ziel,0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für öffentlicheEntwicklungshilfe einzusetzen, werden wir mit diesemHaushalt wahrscheinlich nicht näherkommen, sondern –das befürchte ich – wir werden uns davon weiter entfer-nen. Damit werden auch die notwendigen Zuschüsse fürhochverschuldete arme Länder in weite Ferne rücken.Eines nämlich muß klar sein: Entschuldung darf nichtauf Kosten des eh schon sehr beschränkten Etats derEntwicklungszusammenarbeit gehen.Sagen Sie mir nicht, daß das nicht zu bezahlen seivon einem Staat, dessen Verteidigungshaushalt milliar-denschwer ist und der täglich Millionen Mark für einenirrsinnigen und perspektivlosen Krieg aus dem Fensterwirft! Wann, meine Damen und Herren von der Regie-rungskoalition und natürlich auch von CDU/CSU undF.D.P. – das frage ich Sie ernsthaft –, hat die Bundesre-publik in ihrer Geschichte jemals soviel Geld für einegerechtere Weltwirtschaftsordnung, gegen Armut undVerelendung sowie zur Krisenprävention und Friedens-sicherung eingesetzt wie für die Finanzierung der Bun-deswehr und, wie in den letzten Jahren, für verschiedeneinternationale Militäreinsätze? Wenn ich nicht irre, hatallein die Bundesrepublik 16 Milliarden DM zur Finan-zierung des Irak-Krieges beigesteuert; das macht rundzwei Haushalte des BMZ aus. Das muß man sich einmalvorstellen.Meine Damen und Herren von der Regierungskoaliti-on, ich will dennoch nicht bestreiten, daß Sie sich, wieIhrem Antrag zu entnehmen ist, schon eines Teils derKritik angenommen und versucht haben, diese im For-derungsteil zu verarbeiten. Es bleibt aber weiterhin un-klar, in welchem Zeitraum damit begonnen werden soll.Wann, wenn nicht jetzt mit dem Haushalt 1999, soll mitersten Schritten in Richtung Abbau bilateraler Schuldenbegonnen werden?Ich möchte noch einen weiteren Aspekt ansprechen,und zwar die Frage der Verantwortung für die hoheSchuldenlast, unter der viele Staaten leiden und die inder Regel von der dortigen Bevölkerung ausgebadetwird. Die hohe Schuldenlast liegt nämlich mitnichtenallein bei den ärmsten und hochverschuldeten bzw. beiden am wenigsten entwickelten Staaten, wobei ich na-türlich nicht die Verantwortung der häufig wiederumvon den Industrienationen gestützten Eliten in diesenLändern abstreiten will. Dennoch: Die Industriestaatendes Nordens mit ihrer kolonialen Vergangenheit und ih-rer überwiegend gewinn- und eigennutzorientierten Ge-genwart, die Geberländer und multilateralen Geberin-stitutionen wie IWF und Weltbank tragen eine wesentli-che Verantwortung für die Schuldenkrise, die nun schonseit Ende der 70er Jahre anhält. Dieser Verantwortungmüssen sie sich endlich stellen und ihr im Sinne derMenschen dort gerecht werden. Das betrifft insbesonde-re Deutschland als einen der größten Geber und als An-teilseigner an den multilateralen Geberinstitutionen.Die in langwierigen und zähen Verhandlungen aus-gehandelten Erleichterungen und Umschuldungen habenin der Vergangenheit nachweislich keinen Neuanfangfür Länder wie zum Beispiel Nicaragua – mit inzwi-schen 29 Umschuldungsabkommen – oder für die afri-kanischen Staaten gebracht. Strukturanpassungspro-gramme von IWF und Weltbank haben die Schulden-spirale statt dessen weitergedreht und zum Teil so-zioökonomische Abraumhalden zurückgelassen. Werdas heute noch leugnet, der fällt sogar hinter den zag-haften Lernprozeß zurück, den die Weltbank derzeit inder Entschuldungsfrage durchmacht, weshalb mit Blickauf den IWF eigentlich nur noch gesagt werden kann,daß seine sogenannten Strukturanpassungsprogrammeschlichtweg abgeschafft gehören und statt dessen seitensder Geberländer und -institutionen endlich mit demAufbau eines fairen Insolvenzrechts begonnen werdenmuß.
Aber mit einer einmaligen Entschuldung allein – ichdenke, da herrscht fraktionsübergreifend Einigkeit –werden die meisten Länder nicht vom Tropf kommen.Zahlreiche Maßnahmen und Programme müssen diesenProzeß flankieren. So zum Beispiel müssen Weltbankund IWF, das gesamte Instrumentarium sowie der Krite-rienkatalog des Schuldenmanagements grundsätzlich re-formiert werden, muß sich der IWF aus der Entwick-lungszusammenarbeit zurückziehen, muß eine Tobin-Tax eingeführt werden, tut eine internationale Banken-aufsicht not und muß der Handel mit risikoreichem Ka-pital unterbunden oder zumindest restriktiv flankiertwerden.
Außerdem darf die Entwicklungspolitik nicht in demSinne zusätzlich konditioniert werden – dies ist vorhinCarsten Hübner
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angeklungen –, daß sie zu einem von den Reichen dik-tierten Korsett für die Armen wird. Das hätte mit einerPartnerschaft wenig zu tun. Diese, so denke ich, strebenwir gemeinsam an.Letztendlich bedeutet all das nichts anderes, als daßdie Bundesrepublik gemeinsam mit den anderen Indu-strienationen zukünftig endlich bereit sein muß, überschöne Worte und temporäre Betroffenheit hinaus wirk-liche Schritte zur Herstellung einer gerechten Weltwirt-schaftsordnung zu unternehmen – nicht mehr und nichtweniger. Das heißt, die Ungleichgewichte sind aktiv ab-zubauen und die noch verbliebenen Strukturen dürfennicht durch Druck zu wirtschaftlicher Liberalisierungund ökologischem und sozialem Standortwettbewerbzerschlagen werden. Im Gegenteil, der Schutz von re-gionalen und eigenständigen Wirtschaftskreisläufen undEntwicklungsansätzen in den Ländern des Südens unddes Osten muß akzeptiert und ausgeweitet werden.Das sind Rahmenbedingungen, die in Ihrem Antragleider deutlich zu kurz kommen. Den Teufelskreis derUnterentwicklung, zu dem die Überschuldung unstrittiggehört, werden wir aber nur so durchbrechen können.Danke.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Frank Hempel.
Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen!Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat inVorbereitung des G-7-Gipfels in Deutschland die KölnerSchuldeninitiative ergriffen. Ziel ist es, den ärmstenhochverschuldeten Entwicklungsländern durch zusätzli-che Schuldenerleichterungen zu helfen. Die Fraktion derSPD begrüßt ausdrücklich diesen Schritt.Die Bundesregierung verbindet mit dieser Initiativedie nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung inden ärmsten Entwicklungsländern. Viele entwicklungs-politisch engagierte Nichtregierungsorganisationen,Gruppen, Kirchen und Einzelpersonen haben sich imRahmen der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ zur Entschul-dungsproblematik geäußert. Die Bundesregierung hatdie Hinweise dankbar in ihrer Initiative aufgegriffen. Ih-re Initiative richtet sich an arme Entwicklungsländer miteiner Schuldenlast, die so hoch ist, daß die zu zahlendenZinsen und Tilgungen eine nachhaltige und auf die Be-seitigung von Armut und Ungerechtigkeit gerichteteEntwicklung stark behindern.Die Überschuldung der armen Länder ist unter ande-rem eine Folge von ungewöhnlichen wirtschaftlichenBelastungen der Vergangenheit. Beispielhaft seien derRückgang der Rohstoffpreise, hohe internationale Zin-sen, aber auch die mangelnde Entwicklungsorientierungder Schuldnerregierungen genannt. Die unvorsichtigenKreditvergabepolitiken öffentlicher und privater Gläubi-ger taten ihr übriges.Ein weiterer Aspekt der Überschuldung und ihrer Ur-sachen ist am Beispiel der Länder im südlichen Afrikabisher weitestgehend außer acht gelassen worden. Ichspreche von den sogenannten Apartheidschulden. Ichbitte, meine folgenden Ausführungen als Denkanstoß zunehmen. Mir ist selbstverständlich bewußt, daß Südafri-ka selbst nicht für die HIPC-Initiative in Frage kommt,da es nicht zu den ärmsten Ländern gehört. Die Politikdes Apartheidregimes hatte jedoch Auswirkungen aufdie Nachbarstaaten.Was sind nun Apartheidschulden? Thabo Mbeki, de-signierter Nachfolger Nelson Mandelas in Südafrika,sagte:Das herrschende Apartheidregime bürdete demLand eine beispiellose Schuldenlast auf, um durchderen Übernahme das Machtverhältnis während derÜbergangsphase von der Apartheid zur Demokratiezugunsten der antidemokratischen Gruppierungenzu verschieben und die demokratische Bewegungzu schwächen.Von der internationalen Öffentlichkeit bislang kaumwahrgenommen, geht nach Meinung von Finanzexper-ten ein hoher Anteil der Verschuldung der Länder imsüdlichen Afrika auf das Konto des ehemaligen Apart-heidsystems.
Damit beschränken sich die Apartheidschulden nicht nurauf Südafrika und seine unverantwortliche Schulden-politik. Jahrelang destabilisierte es die sogenanntenFrontstaaten, die ein Opfer von Rebellenbewegungenwurden, wie zum Beispiel der Renamo in Mosambikund der Unita in Angola. Die Stellvertreterkriege wur-den massiv von Südafrika unterstützt und verwüstetendie gesamte Region. Millionen Menschen wurden zuFlüchtlingen. Einer ganzen Generation wurde eine schu-lische Ausbildung vorenthalten. Aber auch Simbabwe,Sambia und Tansania waren Zielscheibe des Apart-heidterrors und litten stark unter der von Südafrika ver-hängten Handelsblockade.Zwar gehören zu der 14köpfigen Staatengruppeder Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrikas,SADC, mit Südafrika und Mauritius die reichsten undproportional am wenigsten verschuldeten Länder desKontinents. Aber mit Angola, der Republik Kongo, mitMalavi, Mosambik, Sambia und Tansania gehören auchdie ärmsten der hochverschuldeten Länder des Südenszu ihren Mitgliedern.Gewiß, Mißwirtschaft und Korruption sind auch Ur-sachen der Verschuldung in diesen Ländern. Das dama-lige Apartheidregime Südafrikas ist jedoch durch seineDestabilisierungspolitik mitverantwortlich zu machen.Bei der Frage der Entstehung von Schulden und Armutin der Region ist das auf alle Fälle zu berücksichtigen.Ich unterstütze ausdrücklich, daß beim Zugang zurHIPC-Initiative eine Erleichterung angestrebt wird. Diebisher geforderten sechs Jahre erfolgreicher Durchfüh-rung eines Strukturanpassungsprogramms sind zu langeund unakzeptabel. In den Anhörungen des AusschussesCarsten Hübner
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ist darauf hingewiesen worden. Das Institut Südwind seihier stellvertretend genannt.Eine Halbierung des Zeitraumes sollte angestrebtwerden. Ich begrüße, daß die Bundesregierung diesesProblem erkannt hat und an einer Verkürzung arbeitet.Frau Ministerin hat dies in ihrer Rede bestätigt.Ich freue mich, daß die Bundesregierung grund-sätzlich ihre Bereitschaft zum Erlaß der Ex-DDR-Forderungen erklärt hat. Dabei handelt es sich ja umeinen Sonderfall der bilateralen Handelsschulden. Mo-sambik, aber auch Angola sind beispielsweise davonbetroffen. Die Umwandlung der Ex-DDR-Forderungenin Gegenwertfonds für Vorhaben der Armutsbekämp-fung oder der Stärkung der Demokratiebewegungen inden ärmsten Ländern ist ein wichtiger Ansatz.Gerade in Mosambik und Angola müssen wir dabeiauf folgende Entwicklungsziele achten: daß es erstenszu einer Konsolidierung des Friedens- und des Versöh-nungsprozesses kommt, daß zweitens die Demokratisie-rung der Gesellschaft und der Aufbau der Zivilgesell-schaft vorangetrieben werden, daß drittens die ökonomi-sche und soziale Reintegration von Flüchtlingen, Ver-triebenen, demobilisierten Soldaten, Kriegsversehrtenund kriegstraumatisierten Kindern erfolgt, daß viertensdie wirtschaftliche Entwicklung beschleunigt vorange-trieben wird und daß fünftens die Armutsbekämpfungim Auge behalten wird. Dies erfordert hohe Anstren-gungen der in Frage kommenden Länder. Unsere Initia-tive verschafft ihnen mehr finanziellen Spielraum, umdas anzupacken.Generell ist jedoch zu sagen, daß wir den Regierun-gen, denen wir eine Hilfe in Aussicht stellen, sehr ge-nau auf die Finger schauen müssen. Wir erwartenselbstverständlich „good governance“ in all seinenFormen wie die Bekämpfung der Korruption sowie dieWahrung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlich-keit. Es ist auch nicht hinzunehmen, wenn Regierungenvon Staaten, die zu den ärmsten Ländern Afrikas gehö-ren, in Kampfhandlungen im Kongo involviert sind,was selbstverständlich auch für Angola gilt. Überpro-portionale Rüstungsausgaben sind dabei ebenfalls zuhinterfragen.Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, die Bundesre-gierung greift all diese Aspekte in ihrer Initiative auf. Esist festzustellen, daß für die ärmsten verschuldeten Ent-wicklungsländer ein Weg aus ihrer Verschuldung hin zueiner nachhaltigen Entwicklung aufgezeigt wird. Die In-itiative ist ein Schritt in die richtige Richtung, und ichbedanke mich ausdrücklich bei Ministerin HeidiWieczorek-Zeul für ihr Engagement in der Sache. Stattwie in der Vergangenheit restriktiv geht die neue Bun-desregierung die Problematik sehr konstruktiv an.Herzlichen Dank noch einmal an die Frau Ministerinsowie Dank an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, fürIhre Aufmerksamkeit.
Ihnen, lieber
Herr Kollege Hempel, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer
ersten Rede im Bundestag.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Ralf Brauk-
siepe.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bedrückend hoheVerschuldung vieler gerade auch sehr armer Entwick-lungsländer gehört sicherlich zu den traurigsten Erfahrun-gen, die wir in der Entwicklungspolitik der letzten Jahr-zehnte gemacht haben. Hier sollten wir gemeinsam nachLösungswegen suchen. Ich erkenne deshalb ausdrücklichan, daß die rotgrüne Bundesregierung mit ihrer Entschul-dungsinitiative für den G-8-Gipfel in Köln die Politik derfrüheren Bundesregierung konsequent fortsetzt und ihrenKurs der Entschuldungs- und Umschuldungspolitik weiterbetreibt. Deshalb hat der Kollege Hedrich bereits für dieCDU/CSU-Fraktion erklärt, daß wir an unserem grund-sätzlichen Ja zu einer Politik der Schuldenerleichterungund des Schuldenerlasses gerade für die Ärmsten der Ar-men entschieden festhalten.Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hatte des-wegen auch im Bereich des bi- und multilateralen Schul-denerlasses für die ärmsten Länder schon in den letztenJahren dafür gesorgt, daß immerhin über 9 Milliarden DMan Schulden nicht zurückgezahlt werden müssen. Ichglaube, man muß das hier doch noch einmal in Erinne-rung rufen, weil in manchen Reden von Vertretern derRegierungsfraktionen der Eindruck erweckt wurde, esfange mit der Entschuldung jetzt erst an.
Ich muß allerdings auch feststellen, daß Ihre Ent-schuldungsinitiative darüber hinaus eigentlich kaumneue Akzente enthält. Da, wo neue Akzente gesetztwerden, halte ich Zweifel an ihrer Sinnhaftigkeit für an-gebracht.Ich komme in diesem Zusammenhang auf die Vor-stellung in Ihrer Initiative zurück, einen Schuldenerlaßfür die ärmsten Entwicklungsländer grundsätzlich nichtmehr erst nach einer Frist von sechs Jahren, sondern be-reits nach drei Jahren zu gewähren. Ich glaube nicht, daßman ernsthaft erwarten kann, daß bereits nach drei Jah-ren der Nachweis nachhaltiger Reformbemühungen er-bracht ist.Das ist im übrigen kein Sonderproblem der Entwick-lungsländer. Herr Kollege Schuster, Sie haben ange-mahnt, daß man nicht nur auf die Entwicklungsländerzeigen sollte. Ich will das gerne tun: Wir haben in denletzten Jahren in Deutschland eine Reihe von Reformendurchgeführt, von denen anerkannte internationale Or-ganisationen wie die OECD gesagt haben: Genau dieseReformen gehen in die richtige Richtung. Wir müssenaber feststellen, daß Sie die Reformen, die die interna-tionalen Organisationen für richtig halten, innerhalb vonrecht kurzer Zeit zurückgenommen haben.
Frank Hempel
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Das heißt, wenn wir auf Kredite angewiesen wären,würde man uns ebenfalls sagen: Ihr habt im letzten hal-ben Jahr Schritte unternommen, die eure internationaleKreditwürdigkeit erheblich herabsetzen. So ist die Lage.Man kann also sagen, daß drei Jahre keine allzu langeZeit für Reformen sind. Diese Feststellung kann manauch bezüglich der eigenen Situation treffen.CDU und CSU hegen große Sympathie für die Initia-tiven nicht zuletzt kirchlicher Gruppen und andererNichtregierungsorganisationen, die sich unter demStichwort „Erlaßjahr 2000“ für einen Schuldenerlaßstark machen. Diese Initiativen leisten einen unverzicht-baren Beitrag zur Bewußtseinsbildung in unserem Land.Das Bewußtsein dafür, daß in der Frage der Überschul-dung der Entwicklungsländer etwas getan werden muß,ist zweifellos unerläßlich.Ich finde es im übrigen schon bemerkenswert, wennin diesem Zusammenhang von Misereor auch ein quali-fizierter Schuldenerlaß in der Form gefordert wird, daßfreiwerdendes Geld in Projekte für die Armen, zum Bei-spiel im Gesundheits- und Bildungsbereich, gestecktwerden soll. Diese Haltung ist nicht weit entfernt vonunserer Vorstellung von Gegenwertfonds, mit denenGelder in Entwicklungsländer in sinnvolle Projekte undMaßnahmen geleitet werden sollen. Es geht eben nichtum einen pauschalen Schuldenerlaß ohne Wenn undAber, von dem allein gerade die Menschen in den Ent-wicklungsländern nichts hätten.Ob Sie von den Regierungsfraktionen nun die Forde-rungen der Kirchen und Nichtregierungsorganisationenwirklich in dem Maße aufgegriffen haben, wie Sie fürsich in Anspruch nehmen, halte ich im übrigen für frag-würdig. Auf Grund vieler Gespräche mit Initiatoren undauf Grund ihrer eigenen offiziellen Publikationen weißich, daß sie Ihre Initiativen nicht für weitgehend genughalten. Ich halte diesen Standpunkt für menschlich ver-ständlich und kritisiere deshalb Ihre Politik in diesemPunkt nicht. Sie haben jetzt in der Regierungsverant-wortung – anders als früher – auch mit der Notwendig-keit zu tun, das Wünschenswerte mit dem in Einklang zubringen, was auch sachgerecht ist.Bei der Frage, was sachgerecht ist, muß man sichsicherlich noch einmal vor Augen führen, was denneigentlich die Ursachen der heutigen Verschuldenspro-blematik sind, worin die heutigen Probleme im wesent-lichen liegen und welche Lösungsansätze man darausableiten kann. Wenn wir das in seriöser Weise tun wol-len, dann können wir natürlich nicht so vorgehen, wie esIhr Schweriner Koalitionspartner in seinem Antrag vor-schlägt. Er erweckt in seinem Antrag den Eindruck, alshätte der Internationale Währungsfonds 1917 die Okto-berrevolution gewonnen und wäre deshalb für die russi-sche Politik der letzten 80 Jahre und für die Rußland-krise von heute verantwortlich. So einfach kann man essich eben nicht machen.
Das mit Abstand meiste Geld haben wir im übrigen inden letzten Jahren für die Überwindung Ihrer Hinterlas-senschaften ausgegeben und nicht für Kriege und Kon-flikte anderswo in der Welt. Das sei noch einmal in Er-innerung gerufen.
Der Ausgangspunkt der internationalen Verschul-dungskrise war ja nun einmal die großzügige sowohlöffentliche als auch private Kreditvergabe an Entwick-lungsländer insbesondere in den siebziger Jahren, als dasGeld noch ein bißchen lockerer saß. Es ist ja kein Zufall,daß die Verschuldungsproblematik an Hand der Proble-me Mexikos im Jahre 1982 öffentlichkeitswirksam wur-de, das heißt an Hand der Verschuldungsprobleme einesLandes, das im Vergleich zu anderen Entwicklungslän-dern noch relativ wohlhabend war und ist. Deswegentrifft ganz objektiv die Feststellung zu, daß Verschul-dung nicht automatisch das größte Armutsproblem ist.Erst später nach ähnlich fortgeschrittenen lateinamerika-nischen Schwellenländern gerieten auch ärmere Ent-wicklungsländer verstärkt in den Sog der internationalenVerschuldungskrise.Zunächst einmal waren diejenigen Länder besondersstark betroffen, die zuvor in die vergleichsweise glück-liche Lage gekommen waren, überhaupt als kreditwür-dig angesehen zu werden und insofern in der Entwick-lung schon relativ weit fortgeschritten zu sein.Das Problem ist doch gewesen, daß das erhalteneGeld schlecht angelegt worden ist, daß es in einer ineffi-zienten Verwaltung versickert ist, daß es infolge vonKorruption und Vetternwirtschaft veruntreut oder inPrestigeobjekten versandet ist, daß es Opfer einer dirigi-stischen Politik des Staates geworden ist, der sich viel zustark in die Wirtschaft zum Nachteil der Menschen ein-gemischt hat, und daß – auch das gehört zur Wahrheit –das Geld auf Grund vielfach noch kolonialbedingter, fürdie Entwicklungsländer ungünstiger Handelsstrukturennicht die erforderliche und erwünschte Wirkung erzielenkonnte.Das Zusammenspiel einer undifferenzierten großzü-gigen Kreditvergabe mit dem ineffizienten Mitteleinsatzhat also zu der Verschuldung beigetragen. Das ist derobjektive Befund. Es kann nicht um Schuldzuweisungan irgendeine Seite gehen.
Was sind denn die heutigen Hauptprobleme der ver-schuldeten Länder? Das Problem ist doch nicht, daß dieSchulden einfach zurückbezahlt werden müssen. Wenndas so wäre, dann wären Verschuldungskrisen zumin-dest vorübergehend recht schnell beendet, sobald einLand seine Zahlungsunfähigkeit erklären würde. Dannwäre der Handlungsbedarf gar nicht so groß, den manzur Bekämpfung dieser Schuldenkrise hätte. Aber dasProblem ist ja nicht nur, daß das Geld zurückgezahltwerden muß. Vielmehr ergibt sich als Konsequenz ausdem ineffizienten Einsatz der erhaltenen Kredite dasProblem, daß diesen Ländern heute neues Geld fehlt –Geld, das sie dringend brauchen, um neue entwicklungs-fördernde Maßnahmen finanzieren zu können.Dr. Ralf Brauksiepe
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Deshalb warne ich in diesem Zusammenhang vorübertriebenen Hoffnungen in die Wirkungen des vonIhnen angesprochenen Internationalen Insolvenz-rechts. Ich verspreche mir davon nicht allzuviel. Dennletztlich würde ein solches Insolvenzrecht bzw. seine In-anspruchnahme erst einmal voraussetzen, daß das je-weilige Land seine Zahlungsunfähigkeit erklärt. WennSie für öffentliche und gerade für private Gläubiger An-reize setzen wollen, neues Geld zu geben, dann müssenSie, so glaube ich, davon ausgehen, daß das ähnlich wieim privaten Leben und im privaten Insolvenzrecht ab-läuft: Wenn Sie erst einmal erklären, daß Sie die altenSchulden nicht zurückzahlen können, dann ist das nichtdie beste Voraussetzung, um an neues Geld zu kommen.Unabdingbar für die notwendige Vertrauensbildungzur Vergabe weiterer Kredite und nicht rückzahlbarerZuschüsse ist deshalb der Nachweis ernsthafter undnachhaltiger Reformanstrengungen in den Entwick-lungsländern selbst. An dieser Voraussetzung, die wir inunserem Antrag klar formuliert haben, führt im Rahmenvon Schuldenerleichterung und Schuldenerlaß für dieärmsten Länder kein Weg vorbei.
Wir, CDU und CSU, sprechen uns darüber hinaus da-für aus, bei der Schuldenerleichterung multilateral vor-zugehen. Die frühere Bundesregierung hat dazu bereitsdankenswerte Initiativen ergriffen. Denn ansonsten lie-fen wir Gefahr, nur den berühmten Tropfen auf den hei-ßen Stein bereitzustellen. Wenn wir den Nachweisernsthafter und nachhaltiger Reformanstrengungen ver-langen, dann bedeutet das konsequenterweise, daß wirzu Einzelfallentscheidungen über Schuldenerleichterungund Schuldenerlaß kommen müssen – je nachdem, obwir den Nachweis als erbracht erachten oder nicht.Wenn ich in Ihrem Antrag aber lese, daß Sie umfassendeEigenanstrengungen der Schuldnerländer und ein mitden internationalen Finanzinstitutionen abgestimmtesProgramm fordern, dann ist mein Eindruck, daß wir indiesem Punkt in der Tat nicht weit auseinander sind.Ich stelle mit großem Interesse fest – der KollegeGünther hat es schon angesprochen –, daß mittlerweileauch Sie sich die notwendige Liberalisierung desWelthandels auf die Fahnen schreiben und verlangen,daß Handelshemmnisse im Sinne der ärmsten Entwick-lungsländer verringert werden. Wenn ich an die ent-wicklungspolitischen Diskussionen der vergangenenJahre denke, dann erinnere ich mich, das von VertreternIhrer Parteien auch schon ganz anders gehört zu haben.In diesem Zusammenhang möchte ich Sie dringendwarnen: Wenn Sie von der notwendigen Liberalisierungsprechen, dann holen Sie bitte nicht undifferenziert dieKeule der angeblich oder tatsächlich fehlenden ökologi-schen und sozialen Standards heraus. Über diese Stan-dards haben wir in Anhörungen im Ausschuß ja schondiskutiert. Häufig kann ein Entwicklungsland nun ein-mal eine bestimmte Zeit lang unsere ökologischen undsozialen Standards noch nicht erfüllen. Ich warne des-halb dringend davor, sich bequem zurückzulegen und –wie das häufig diskutiert wird – zu sagen, wir könnenunsere Märkte in Deutschland und in Europa weiterdichthalten, weil andere unsere Ansprüche an Lohnfort-zahlung im Krankheitsfall und vieles andere mehr nochnicht erfüllen. Das kann eben nicht die Lösung der Pro-bleme sein.
Ein wesentlicher Lösungsbeitrag liegt sicherlich auchdarin – diese Einschätzung teilen wir mit Ihnen –, daßwir gemeinsam Druck dahin gehend ausüben müssen,daß der rückläufige Trend öffentlicher Entwicklungs-finanzierung in den OECD-Staaten gestoppt wird. Dasist wahr, und so kann Ihr Antrag sicherlich abschließendbehandelt werden.Sie können uns als CDU und CSU zu Ihren Unter-stützern zählen – Herr Kollege Hedrich hat Ihnen bereitsdieses Angebot gemacht –, wenn Sie nach dem erfolglo-sen Versuch der letzten Monate erneut den Versuch un-ternehmen, den BMZ-Etat entsprechend zu steigern. Wirwollen Ihnen dabei helfen.Vielen Dank.
Für die Bun-
desregierung spricht nun die Staatssekretärin Dr. Uschi
Eid.
Dr
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen undHerren! Die heutige Debatte ist für all diejenigen, diesich seit Jahrzehnten entwicklungspolitisch engagieren,ein kleiner Triumph, Herr Kollege Schuster, und Grundzur Freude. Ich verhehle nicht meine ganz persönlicheGenugtuung darüber, die ich mit alten Weggefährten ausOppositionszeiten, wie der gesamten Fraktion vonBündnis 90/Die Grünen, den Aktivisten der Kampagne„Erlaßjahr 2000“ oder einigen Kolleginnen und Kolle-gen auf dieser Seite des Hauses, teile.Herr Brauksiepe, daß Sie sich jetzt auf die Gruppender Kampagne „Erlaßjahr 2000“ beziehen, freut michsehr. Es freut mich auch, daß mit Ihnen und dem Kolle-gen Weiß endlich einmal CDU-Kollegen in das Hauseingezogen sind, die sich diesen kirchlichen Gruppennahe fühlen.
Mit der Kölner Schuldeninitiative hat die neue Re-gierung den dringend notwendigen Kurswechsel vollzo-gen. Damit wird ein Versprechen eingelöst, das meineFraktion und die Fraktion der SPD im Koalitionsvertraggegeben haben. Der Grundsatz unserer gemeinsamenPolitik lautet: Internationale Entschuldungsinitiativenfür die ärmsten und höchstverschuldeten Länder werdenunterstützt.Genau das tun wir. Wir lösen eine Bremse, die diealte Regierung in der internationalen SchuldenpolitikDr. Ralf Brauksiepe
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viel zu lange fest angezogen hatte. Herr KollegeHedrich, da hilft auch jegliche nachträgliche Beschöni-gung nichts. Es ist hinlänglich bekannt, daß sich die alteRegierung regelmäßig für restriktive Lösungen einge-setzt hat.Ich verkenne nicht, daß unter den Vorgängerregie-rungen bereits Schulden im Rahmen der bilateralenEntwicklungszusammenarbeit erlassen wurden. Seit1979 waren es rund 9 Milliarden DM. Auch möchte ichin diesem Zusammenhang ausdrücklich die Verdienstedes verstorbenen ehemaligen EntwicklungsministersHans Klein würdigen.Hinsichtlich der multilateralen Schulden, die dieärmsten Länder zum Beispiel bei IWF, Weltbank oderRegionalbanken haben, bewegte sich die alte Regierungjedoch keinen Millimeter, und dies, obwohl sie dochselbst 1995 im Konzert der G 7-Staaten IWF und Welt-bank beauftragt hatte, ein umfassendes Konzept zur Lö-sung der multilateralen Schuldenprobleme der ärmstenund am höchsten verschuldeten Länder vorzulegen.1997 betrug die Schuldenlast der ärmsten Länder al-lein rund 200 Milliarden US-Dollar. Wer könnte be-streiten, daß die zu zahlenden Zins- und Tilgungslei-stungen eine wirtschaftlich effiziente, ökologisch ver-trägliche und sozial gerechte Entwicklung behindern?In einem Land wie Mosambik liegt der Schulden-stand um 500 Prozent über den Exporteinnahmen. InTansania ist die Verschuldung so hoch, daß jeder Mann,jede Frau und jedes Kind mit einer Summe verschuldetist, die ihrem Gesamteinkommen von zweieinhalb Jah-ren entspricht.Herr Kollege Hedrich, Sie haben Angola als Beispielangeführt. Ich meine, da haben Sie haarscharf daneben-gegriffen; denn Angola erfüllt überhaupt nicht die re-formerischen Voraussetzungen und wird sich für dieHIPC-Initiative nicht qualifizieren.UNDP schätzt, daß staatliche Finanzmittel, die heutein die Schuldenrückzahlung fließen, ausreichten, umallein in Afrika 21 Millionen Kindern das Leben zu ret-ten und über 90 Millionen Mädchen und Frauen eineGrundbildung zu sichern.Nachhaltigkeit bedeutet Zukunftssicherung für jetzigeund kommende Generationen in gemeinsamer Verant-wortung, insbesondere auch in der internationalenSchuldenpolitik. Die rotgrüne Regierung stellt sich die-ser Verantwortung trotz der prekären Finanzlage und derHaushaltslöcher, die die alte Regierung hinterlassen hat,damit die Politik der Gläubiger in Zukunft Entwicklungfördert und nicht verhindert.Die multilateralen Schulden sind die drückendste Lastfür die betroffenen Länder; denn zum einen liegt ihrAnteil an den langfristigen Gesamtschulden mittlerweilebei 37 Prozent, und zum anderen müssen diese Schuldenbevorzugt behandelt werden. Der BundesrepublikDeutschland kommt zur Lösung dieses Problems einebesondere Bedeutung zu, gehören wir doch zu denwichtigsten Anteilseignern bei IWF und Weltbank.
Die Bundesregierung ist allerdings keinesfalls sovermessen, vom Kölner Weltwirtschaftsgipfel eine ra-dikale Lösung des Schuldenproblems zu erwarten. Aber:Mit unserer Schuldeninitiative gehen wir einen Schritt indie richtige Richtung; denn sie zielt darauf ab, dieHIPC-Initiative, die Entschuldung der ärmsten undhochverschuldeten Länder, auszuweiten und zu be-schleunigen.Ich verschweige nicht, daß sie mir an der einen oderanderen Stelle nicht weit genug geht. Nach dem Welt-wirtschaftsgipfel werden wir uns intensiv mit den Fra-gen des internationalen Insolvenzrechtes – das wurdehier schon angesprochen –, mit dem schrittweisen Erlaßder Schulden der ehemaligen DDR – mit dem Vorschlagder Ministerin in bezug auf Albanien haben wir schonden ersten Schritt getan –, mit der Reform der Struk-turanpassungsmaßnahmen und mit den staatlichen Ex-portbürgschaften beschäftigen müssen.Ich möchte aber auch all jene warnen, die glauben,man könne mit einem vollständigen Schuldenerlaß dieProbleme der Dritten Welt auf einen Schlag lösen.Schuldenerlaß ist ein Beitrag zur Bekämpfung der Ar-mut. Ich glaube, darin sind wir alle hier uns einig. Aberdamit dieses Ziel erreicht werden kann, nämlich die Be-kämpfung der Armut, muß der Schuldenerlaß in eineEntwicklungsstrategie und in Reformmaßnahmen einge-bettet sein. Diese müssen ein menschenwürdiges Leben,gesellschaftliche Pluralität und technologische Innova-tionen sowie nachhaltiges breitenwirksames Wirt-schaftswachstum fördern.Das bedeutet: Die betroffenen Länder müssen zumBeispiel Vetternwirtschaft und Korruption bekämpfen,nationale Finanzinstitutionen reformieren und sie vonklientilistischen und politischen Einflüssen lösen, dieMenschenrechte respektieren und die Teilhabe der Be-völkerung an Entscheidungen sichern. Eine solche Poli-tik werden wir im Rahmen unserer Entwicklungszu-sammenarbeit fördern.Ihnen, Herr Kollege Hedrich, sei zum Schluß nochgesagt: Wir tun dies mit einem Haushalt, der über demPlafond von 1998 liegt. Dies möchte ich zum Schlußnoch einmal betonen, weil Sie vorhin etwas anderes be-hauptet haben.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurz-
intervention gebe ich nun dem Abgeordneten Hedrich
das Wort.
Frau Präsi-dentin! Um Ihre letzte Bemerkung aufzugreifen: DerHaushalt 1999 liegt unter dem Ist des Haushaltes 1998.Daran ändert auch die Intervention der Kollegin Eidnichts.
– Ich habe nur den Sachverhalt genannt, mehr nicht.Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid
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Es ging nicht um diese Frage, sondern um die Initia-tive für die am höchsten verschuldeten armen Länder,also um die sogenannte HIPC-Initiative. Dazu kannman nur feststellen: Die Bundesregierung, der Bundes-kanzler und übrigens auch der damalige Arbeits- undSozialminister, hat auf dem Kopenhagener Gipfel 1995als erste Regierung darauf hingewiesen, es gehe nichtmehr, daß die Entschuldung nur auf bilateraler Ebene er-folge; vielmehr müßten sich die internationalen Finanz-organisationen ebenfalls an diesen Maßnahmen beteili-gen. Darauf wollte ich zur Klarstellung aufmerksam ma-chen.Die Kollegin Eid hat übrigens nicht völlig unrecht,wenn sie darauf verweist, daß insbesondere das Finanz-ministerium sehr restriktiv verfahren ist. Das Ministeri-um hatte zum Teil aber auch nicht unrecht. In der HIPC-Initiative hatten wir uns auf bestimmte Länder verstän-digt, die als erste angegangen werden sollten. Dann ha-ben unsere französischen Freunde zum Beispiel durch-gesetzt, daß ein Land wie Elfenbeinküste nachgeschobenwurde, von dem man nur sagen kann, daß das dortigekorrupte Regime Geld verschwendet und die Umweltschädigt. Wir sollen auch noch die schlechte Politik die-ses Landes mit Entschuldungsmaßnahmen finanzieren.Aber auch wenn Länder die Kriterien erfüllten, mußteman feststellen, daß die Vorsorge der internationalenGemeinschaft nicht verhindern konnte, daß diese Länderihre freigewordenen Finanzmittel falsch verwendeten.Ich komme zum dritten Mal auf das Beispiel der Mi-nisterin zu sprechen: Ein Land wie Uganda hat die Un-terstützung der internationalen Gemeinschaft bekom-men. Als Dank dafür kauft man dort mehr Waffen undinterveniert beim Bürgerkrieg im Kongo. Wenn wir soetwas nicht verhindern, dann ist all das, was wir hiergemeinsam diskutiert haben, für die Katz. Darauf wollteich noch einmal hingewiesen haben.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dagmar Schmidt.
Frau Präsi-dentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! MitEntschuldung Entwicklung fördern und Entwicklungmöglich machen, das wollen wir alle mit Entwicklungs-politik erreichen. Wie können aber die Schuldenerlassefür die ärmsten Länder auf bestwirksame Weise wirklichden Armen zugute kommen? Welche Perspektiven ha-ben hochverschuldete Länder ohne die Streichung vonForderungen? Wir diskutieren heute die Entschul-dungsinitiative, die die Bundesregierung auf dem Gip-fel in Köln vorschlagen wird und die genau diese Fragenanpackt. Insofern stellt sie einen Meilenstein in der deut-schen Entwicklungspolitik dar. Es werden neue Akzentegesetzt.
Spät, aber hoffentlich nicht zu spät reagieren wirendlich auf die derzeitige Verschuldungskrise, die nunschon 17 Jahre andauert. Endlich begreift eine Bundes-regierung, daß die Verschuldungsproblematik uns alleangeht. Die Schuldenfalle ist der Grund für die Nicht-entwicklung zahlreicher Länder. Es muß auch gesehenwerden, daß sie das Potential für eine drohende interna-tionale Finanzkrise enthält. Wir handeln also nicht nurgönnerhaft, sondern auch im wohlverstandenen Eigen-interesse.Es sind daher neue, zusätzliche Initiativen notwen-dig, und da es sich vorrangig um ein Problem dermultilateralen Institute handelt, sollte von diesenauch die Initiative ausgehen.Dieser Satz meines ehemaligen CDU-Kollegen Feilckestammt aus der entwicklungspolitischen Debatte vomFebruar 1996.
Weil das schon so lange her ist – immerhin drei Jahre –,möchte ich den Satz wiederholen:Es sind daher neue, zusätzliche Initiativen notwen-dig, und da es sich vorrangig um ein Problem dermultilateralen Institute handelt, sollte von diesenauch die Initiative ausgehen.
Warum habe ich gerade diesen Satz herausgegriffen?Der aktuelle CDU/CSU-Antrag spricht sich für einekonsequente Fortsetzung der bisherigen Entschuldungs-und Umschuldungspolitik aus.
Für mich hieße das, in alten Bremsspuren weiter brem-sen.
Seit 1996 ist nichts weiter passiert. Ich erinnere an IhrePosition im EU-Ministerrat. Es konnte ja auch nichtspassieren angesichts der Grundeinstellung der alten Re-gierung. Die Sachlage sahen und sehen wir anders. Beiuns folgen Taten.Zwei Pflöcke sind eingeschlagen, der eine von denKirchen und NGOs durch ihre Kampagne „Erlaßjahr2000“ – diese bemerkenswerte Initiative hat für einebreite Akzeptanz künftiger Schuldenerlasse in der Be-völkerung gesorgt; wir sind den Initiatoren dafür sehrdankbar – und der andere durch die Kölner Schulden-initiative der Bundesregierung. Auf dem Gipfel werdennicht nur wirtschafts- und finanzpolitische Themen iso-liert behandelt, sondern endlich Aufgaben und Instru-mente der Finanzpolitik mit denen der Entwicklungs-politik verzahnt.Die Leinwand zwischen den beiden Pflöcken bildetder Antrag von SPD und Grünen. Hier wird ausführlichprojiziert, daß in der Schuldeninitiative der Impuls fürerstens nachhaltiges Wachstum, zweitens Innovationund drittens eine sozial gerechte und ökologisch ver-trägliche Entwicklung der ärmsten Länder liegt.Klaus-Jürgen Hedrich
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Wir sind uns natürlich darüber im klaren, daß dieserImpuls allein nicht reicht. Wir brauchen flankierendeentwicklungspolitische Maßnahmen. Wir brauchen einnicht nur staatliches Problembewußtsein für Verschul-dung in der Entwicklungsarbeit. Hier sind auch die pri-vaten Gläubiger gefordert, verantwortungsbewußter mitihren Schuldnern umzugehen. Gerade um die Fehler derVergangenheit nicht zu wiederholen, müssen erstensMittel gewissenhafter vergeben werden, zweitens Krite-rien einer nachhaltigen Entwicklung stärker berücksich-tigt werden und darf es drittens keine Risikoabsicherungohne ökologische, soziale und entwicklungspolitischeAuflagen mehr geben, denn damit heizen wir Verschul-dung nur noch mehr an.Unsere Regierung will auch mit den Instrumenten derAußenwirtschaftsförderung die Finanzierung vonentwicklungspolitischen Projekten fördern. Wir müssennach meiner Auffassung aber verhindern, daß sich Tritt-brettfahrer an die verschuldeten Länder heranmachenund sie erneut zu Ausgaben veranlassen, die absolutnichts mit entwicklungspolitischen Maßnahmen und mitArmutsbekämpfung zu tun haben.
Aber auch Korruption, teilweise in Verbindung mitHermes-Absicherung, trägt nicht selten zu einer unnöti-gen Verschuldung bei. Manche Entwicklungsprojektewären ohne Bestechungsgelder nie realisiert worden, soder Flughafen in Kamerun. Hätte das BMZ bei denHermes-Krediten von seinem Vetorecht Gebrauch ma-chen können, hätte das Land 700 Millionen DM wenigerSchulden gemacht.
Das entspricht der in fünf Jahren geleisteten Entwick-lungshilfe für dieses Land.Wir sind nicht die Oberlehrer der Welt, die den Län-dern Vorschriften machen. Allerdings müssen sich dieLänder auf die Bekämpfung von sozialen Ungerechtig-keiten, Armut und Umweltproblemen und auf die Be-achtung demokratischer Grundsätze einlassen. Auflagen– da stimmen wir wohl alle überein – müssen sein.Längst nicht alle Partner sehen in der Armutsbekämp-fung ein vorrangiges Ziel. In der Initiative liegt jetzt einegroße Chance, nämlich den HIPC-Ländern wieder Luftzum Atmen für innerstaatliche Gestaltung und damit zurArmutsbekämpfung zu geben.
Nun noch ein paar Worte zu DDR-Altschulden.
Frau Kollegin,
das ist leider nicht mehr möglich. Sie müssen jetzt zum
Schluß kommen.
Ja.
Ich weiß, daß
Sie etwas zuviel Text hatten. Das habe ich gesehen.
Hinter dem
§ 24 des Einigungsvertrages kann man sich wunderbar
mit einer Fundamentalablehnungshaltung verstecken.
Man kann aber auch politisch handeln und Schulden-
erlasse oder –erleichterungen bedenken. Das müssen
wir in diesem Fall tun. Wir dürfen nicht die Möglich-
keiten, die sich hier eröffnen, pauschal in den Wind
schreiben.
Ich appelliere an alle ängstlichen Buchhalterseelen:
Legen Sie Vor- und Nachteile auf die Waage, und
kommen Sie zu dem Schluß: Entwicklung braucht Ent-
schuldung.
Ich schließedamit die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zueiner Entschuldungsinitiative anläßlich des Weltwirt-schaftsgipfels der G-7-/G-8-Staaten in Köln; Drucksache14/794. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der F.D.P. gegen die Stimmender CDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommenworden.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion derCDU/CSU zur Entschuldung armer Entwicklungsländer;Drucksache 14/785. Wer stimmt dafür? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der PDS bei Enthaltung derF.D.P. gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehntworden.Abstimmung über den Antrag der Fraktion der PDSmit dem Titel „Umfassender Schuldenerlaß für einenNeuanfang“; das ist die Drucksache 14/800. Wer stimmtdafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antragist mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P., Bündnis 90/Die Grünen und SPD gegen die Stimmen der PDS ab-gelehnt worden.Ich rufe die Zusatzpunkte 7a und 7b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.Hermann Otto Solms, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Neuregelung desSchutzes parlamentarischer Beratungen– Drucksache 14/183 –Dagmar Schmidt
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Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung(federführend)InnenausschußRechtsausschuß b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.Evelyn Kenzler, Sabine Jünger, Petra Pau, Dr.Gregor Gysi und der Fraktion der PDS einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-bung der Bannmeilenregelung– Drucksache 14/516 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung(federführend)InnenausschußRechtsausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktionen der F.D.P. und der PDS jeweils fünf Minutenerhalten sollen. – Widerspruch höre ich nicht. Dann istso beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstder Kollege Solms.
Frau Präsiden-tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! DieF.D.P.-Fraktion legt Ihnen heute einen Gesetzentwurfzum Schutz der parlamentarischen Beratungen auch inBerlin vor. Damit bringen wir als erste Fraktion einenkonstruktiven Vorschlag für eine Erneuerung, Verbesse-rung und Liberalisierung der sogenannten Bannmeilen-regelung ein. Eine gänzliche Abschaffung einer solchenRegelung zum Schutze der parlamentarischen Beratun-gen, wie sie von den Grünen und der PDS gefordertwird, kommt allerdings für die F.D.P. nicht in Frage.
Sie hat sich in Bonn als notwendig erwiesen. Ich erinne-re nur an die Demonstrationen anläßlich der Verab-schiedung der Änderungen des Asylrechts oder imRahmen des NATO-Doppelbeschlusses vor 18 Jahren.Das hat doch gezeigt, daß wir auch in Berlin eine solcheRegelung brauchen.Die Beratungen des Parlaments müssen weiter unbe-einträchtigt von gewalttätigen Ausschreitungen möglichsein. Ein demokratischer Rechtsstaat muß die freie Wil-lensbildung des Parlaments sichern. Die Parlamentariermüssen – quasi ohne Druck der Straße – frei beraten undentscheiden können.
Ziel des F.D.P.-Gesetzentwurfes ist der Schutz desParlaments und seiner Beratungen und damit der derdemokratischen Verfassung der BundesrepublikDeutschland. Es geht nicht darum, Bürger aus dem Um-feld der Abgeordneten zu verbannen, wie es der Namedieses Gesetzes fälschlicherweise zum Ausdruck bringt.Deswegen soll der Begriff „Bannmeile“ nicht mehr ver-wendet werden. Es geht auch nicht um Objektschutz, beidem unabhängig vom Einzel fall oder einer tatsächlichenBeeinträchtigung der Parlamentsarbeit Demonstrationengrundsätzlich ausgeschlossen wären. Bei dem F.D.P.-Entwurf geht es vielmehr um einen Funktionsschutz.Das heißt, er ermöglicht eine flexible Handhabung – jenachdem, ob die einzelnen Demonstrationen das Parla-ment bei seiner Arbeit wirklich behindern oder nicht.
Der Entwurf trägt im übrigen der Rechtsprechung desBundesverfassungsgerichts Rechnung.Demonstrationen in dem geschützten Bereich bedür-fen einer Zulassung. Sie erfolgt durch das Bundestags-präsidium – nicht durch den Präsidenten und auch nicht,wie bisher, durch den Bundesinnenminister. Dadurch istgesichert, daß ein gewisser Konsens vorhanden seinmuß, damit eine solche Entscheidung erfolgen kann.Die Zulassung soll ausgesprochen werden, wenn eineBeeinträchtigung der parlamentarischen Beratungennicht zu befürchten ist, und zwar insbesondere in sit-zungsfreien Zeiten. Denn dann gibt es eigentlich nichtszu schützen. Es geht ja nicht um den Schutz der Gebäu-de. Bisher waren Demonstrationen innerhalb der Bann-meile grundsätzlich verboten. Die Zulassung von Aus-nahmen lag im Ermessen des Bundesinnenministers.Aus dem bisherigen Straftatbestand der Bannmeilen-verletzung wird eine Ordnungswidrigkeit, um damit derPolizei nach dem sogenannten Opportunitätsprinzip dieMöglichkeit zu differenziertem Eingreifen zu geben.
Die Aufforderung zur Verletzung der Bannmeile bleibtweiterhin strafbar.
Der Umfang des befriedeten Bezirks orientiert sichunmittelbar an den Ratschlägen der Polizei, in diesemFalle also denen der Berliner Polizei. Er ist auf denSchutzzweck des Gesetzes zugeschnitten und berück-sichtigt die Möglichkeiten der Polizei, diesen Schutzauch wirklich zu gewährleisten. Die polizeilichen Ein-griffsmöglichkeiten nach allgemeinem Versammlungs-recht und Maßnahmen des Objektschutzes bleiben na-türlich von diesem Gesetzentwurf unberührt.Der Gesetzentwurf befaßt sich nur mit dem Schutz desBundestages. Ob und inwieweit der Bundesrateinen Schutz seiner Arbeits- und Funktionsfähigkeit inBerlin für erforderlich hält, sollte seiner eigenen Ent-scheidung überlassen bleiben. Gegebenenfalls könnte inden parlamentarischen Beratungen eine solche Regelungaufgenommen werden. Das gleiche sollte für das Bundes-verfassungsgericht gelten. Darüber müssen wir uns eini-gen. Dazu müßte es Gespräche mit dem Bundesrat geben.Die F.D.P. ist der Auffassung, daß der Schutz derparlamentarischen Tätigkeit in Berlin in größtmögli-chem Einvernehmen behandelt werden sollte. Der Ge-setzentwurf bietet eine Grundlage für konstruktive Ge-spräche mit allen Fraktionen in diesem Hause. Deswe-gen hoffe ich, daß wir in dieser Frage einen Konsens er-zielen werden.Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Abschließend bleibt mir, einen Dank an unseren frü-heren Kollegen und Bundestagsvizepräsidenten Burk-hard Hirsch auszusprechen,
der diesen Gesetzentwurf im Auftrag des damaligen Prä-sidiums im wesentlichen schon in der letzten Legislatur-periode erarbeitet hatte.
Meine Bitte: Behandeln Sie diesen Gesetzentwurf mitdem Ziel, eine einvernehmliche Lösung des gesamtenHauses zustande zu bringen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Dieter Wiefelspütz.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich will mich dem Dank anden Kollegen Hirsch anschließen, der diesen Gesetzent-wurf in der Tat ganz maßgeblich in der letzten Legisla-turperiode mitgeprägt hat.Der Gesetzentwurf, Herr Solms, den Sie eingebrachthaben, ist ein gutes Beispiel dafür, daß die Oppositionsehr wohl Einfluß auf die Gesetzgebung haben kann,wenn sie vernünftige Vorschläge macht.
– Ich bitte das als den Versuch einer humorvollen ironi-schen Bemerkung zu diesem Gesetzentwurf, den ich öf-fentlich immer als eine brauchbare und ernstzunehmen-de Gesprächsgrundlage bezeichnet habe, zu verstehen.Dieser anerkennenswerte Gesetzentwurf ist für uns –Herr Solms, ich weiß nicht, ob Sie das wissen – derAuslöser geworden, uns hinzusetzen und uns diesen Ge-setzentwurf vorzunehmen, um ihn noch ein bißchen zuverbessern.Ich will hervorheben, was an dem Gesetzentwurf po-sitiv und gut ist. Es ist gut, daß wir die Rechtslage inso-weit verändern, als in dem Entwurf der F.D.P. ein ge-schützter Bezirk erfaßt wird, der sich räumlich auf dasNotwendige erstreckt, auf nicht mehr. Beispielsweisefehlt der Schutz des Bundeskanzleramts. Die Bannmeileoder der befriedete Bezirk schützt das Parlament in sei-ner Funktionsfähigkeit und nicht das wichtige Bundes-kanzleramt oder andere Ministerien. Darauf wollen wiruns auch beschränken.In dem Gesetzentwurf, den wir auf der Grundlage Ih-res Gesetzentwurfs, Herr Solms, vorlegen werden, bleibtes bei der räumlichen Erstreckung, die Sie gewählt ha-ben. Sie ist sorgfältig bedacht worden, sie ist gut. Wirhaben nur eine kleine Feinabstimmung in einem Stra-ßenbereich vorgenommen, ansonsten ist die Erstreckungso, daß wir einen Konsens erzielen werden. Wir werdenihn sogar mit Herrn Ströbele erzielen, der sich nochüberlegt, ob auch er dem Gesetzentwurf eines Tages zu-stimmen wird.Ich glaube, wir haben eine gute Chance, daß wir einebreite Mehrheit für den Entwurf bekommen. Ich würdemir sehr wünschen, Herr Solms – es geht hierbei nunwirklich nicht um irgendeine Prestigeangelegenheit –,daß wir, wenn es um Angelegenheiten des gesamtenParlaments geht, im Parlament breite Mehrheiten finden.Das gilt für Statusfragen der Abgeordneten, Herr Solms,und für Diäten. Das gilt aber auch für parlamentsrechtli-che Regelungen wie beispielsweise für eine Regelungder Bannmeile oder eines befriedeten Bezirks.Ich glaube, daß wir bei der Bannmeile einen breitenKonsens finden werden. Ich will aber, weil wir auch einwenig fachlich diskutieren sollten, gleich auf ein, zweiPunkte hinweisen, an denen ich meine, daß das, was wir,die Bündnisgrünen und die SPD, in einem Entwurf, derinzwischen durch unsere Arbeitsgruppen gelaufen ist,der die Fraktionen noch durchlaufen muß, den Sie in dennächsten Tagen bekommen werden und zu dessen Dis-kussion wir Sie einladen werden – wir werden gemein-sam darüber reden müssen – an Veränderungen vorge-nommen haben, überzeugender ist.Ausnahmegenehmigungen für Demonstrationen, fürVersammlungen innerhalb der Bannmeile sollte nichtder Parlamentspräsident, sondern wie bislang der In-nenminister im Einvernehmen mit dem Präsidium ertei-len; denn es ist nicht gut, wenn wir den Bundestagsprä-sidenten zu einem Streitgegner vor einem Verwaltungs-gericht machen. Ihre Fraktion hat vor einiger Zeit einesolche Situation erleben müssen: Da hat eine Partei ineinem anderen Rechtsbereich, nämlich bei der Parteien-finanzierung, legitimerweise den Bundestagspräsidentenverklagt. In eine solche Situation möchte ich das Präsi-dium nicht bringen.Die Sicherheitsbehörde ist das Innenministerium.Die Belange des Bundestages werden durch eine Ein-vernehmensregelung sichergestellt. Ich glaube, das istdie richtige Regelung. Sie gilt derzeit und hat sich be-währt; wir sollten sie nicht ändern. Herr Solms, wir wer-den Sie und Herrn Schmidt-Jortzig überzeugen, daß diederzeitige Regelung die bessere ist – bei aller Wert-schätzung für Ihren, wie ich finde, ansonsten sehr ge-lungenen Entwurf.Zum zeitlichen Erstreckungsbereich: Ich finde essehr wichtig, daß die Bannmeile nur dann gilt – das istin Ihrem wie auch in unserem Entwurf vorgesehen; dasist wichtig –, wenn das Parlament tagt, also nicht in dersitzungsfreien Zeit.Im übrigen sollte man das Ganze relativ entspanntund gelassen diskutieren. Der Reichstag, der DeutscheBundestag, das Gebäude Reichstag wird das meistbe-suchte Gebäude Deutschlands werden, übrigens mitRecht. Das Haus unserer Demokratie soll ein Magnet,ein Anziehungspunkt sein, so wie das jetzt beim Tag deroffenen Tür der Fall war. Nur wenn Parlamentsberatun-gen stattfinden, soll der engere Bereich um das Parla-ment herum demonstrationsfrei sein, damit das Parla-ment seine Entscheidungen in völliger Freiheit treffenkann. Damit haben wir hier in Bonn gute ErfahrungenDr. Hermann Otto Solms
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gemacht. Wir sollten einige gute Erfahrungen aus Bonnmit nach Berlin nehmen.Ich räume ein – deswegen bin ich auch dafür, dasThema niedriger zu hängen –: Es gibt innerhalb und au-ßerhalb Deutschlands demokratische Parlamente, dieohne eine Bannmeilenregelung auskommen; das will ichhier freimütig anerkennen. Ich glaube aber, daß dieBannmeilenregelung hier in Bonn stilbildend gewesenist. Man sollte die Sinnhaftigkeit einer solchen Regelungim übrigen nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Verlet-zung, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Achtungdiskutieren. Ich weiß von Hunderten von Demonstratio-nen, die hier in Bonn am Rande der Bannmeile stattge-funden haben, ohne daß diese durch die Polizei vertei-digt werden mußte. Die Leute haben akzeptiert, daß manüberall in Bonn demonstrieren kann, auch in Parla-mentsnähe, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze undnur zu einer bestimmten Zeit. Man darf eben nicht de-monstrieren, wenn das Parlament hier tagt.Im übrigen ist der Deutsche Bundestag ein publikums-offener Bereich. Er hat gerne Bürger als Zuhörer, Zu-schauer und Gäste. Nur in ganz bestimmten Bereichensoll nicht demonstriert werden.Was viele Menschen nicht wissen: Auch in der Bon-ner Bannmeile werden Demonstrationen genehmigt,nämlich wenn die Funktionsfähigkeit des Parlamentsnicht beeinträchtigt wird. Das wird auch in Berlin sosein.Wir wollen eine Regelung über einen befriedeten Be-zirk in Berlin, die die Funktionsfähigkeit des Parlamentsgewährleistet und gleichzeitig grundrechtsfreundlich ist.Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist einzentrales, konstitutives Grundrecht unserer Demokratie.Deswegen sollte es sich in einer Regelung über einenbefriedeten Bezirk wiederfinden.Wir haben die erste Sitzung in Berlin ohne Bannmei-lenregelung abgehalten. Jedoch war der engere Bereichum den Reichstag an diesem Tag interessanterweise ab-geschirmt. Ob das so ganz richtig war, weiß ich nicht.Die Frage stelle ich in den Raum. Ich habe dazu keineabgeschlossene Meinung. Ich weiß nicht, ob das voraus-eilender Gehorsam gegenüber dem Gesetzgeber war, dernoch gar nicht gesprochen hat. Es gab eine Abschir-mung, ohne daß eine Bannmeilenregelung vorhandengewesen wäre. Man hat sich offenbar des Versamm-lungsrechtes bedient. Alles in allem will ich das abernicht kritisieren.Wir sind ja alle miteinander sehr beeindruckt von derEröffnung des Bundestages im Reichstagsgebäude – einschönes Gebäude, das noch nie so schön war wie in derGestalt, die es jetzt gefunden hat. Es hat sehr viel Zu-spruch durch die Öffentlichkeit erfahren. Wir werdenIhnen, Herr Solms, anbieten, im Juni mit diesem Ge-setzgebungsverfahren zu Rande zu kommen und es dannauch zu beenden.Herr Hörster, die letzten Sätze gehen an Ihre Adresse.Denn das, was an die F.D.P. gerichtet ist, gilt natürlichauch für die größte Oppositionspartei, die CDU/CSU. Eswäre schön, wenn wir uns auch mit Ihnen auf eine ver-nünftige Regelung einigen könnten. Ich sichere Ihnenausdrücklich zu, daß die Gespräche Verhandlungen sindund nicht etwa ein Diktat. Wir werden um eine vernünf-tige Regelung ringen.Ich bitte, zu berücksichtigen, daß die Regelung, die inBerlin gelten wird, im wesentlichen dem entsprechenwird, was wir in Bonn erfolgreich und vernünftig ge-staltet haben. Insofern handelt es sich nur um eine ver-fassungskonforme Weiterentwicklung, moderat und ver-nünftig. Ich hoffe, daß eine solche Regelung einerseitsdem Parlament dient, andererseits aber nicht ausschließt,daß in der Nähe des Parlamentes das Grundrecht aufVersammlungsfreiheit natürlich auch in Zukunft gilt.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Schmidt-
Jortzig hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet.
Bitte.
Frau Präsi-
dentin! Ich möchte die sehr sachliche Argumentation des
Kollegen Wiefelspütz in einem Punkt aufgreifen und
erläutern, welche Überlegung hinter unserem Vorschlag
steht, für die Entscheidung über eine Ausnahmege-
nehmigung den Bundestag in Gestalt seines Präsidiums
vorzuschlagen.
Der Ansatz, daß es sich nicht um einen starren Ob-
jektschutz handelt – aus rein ordnungs- und sicherheits-
politischen Aspekten heraus –, sondern daß wir lediglich
differenzierten Schutz der Funktion „parlamentarische
Beratung“ bieten wollen, ist neu. Für uns sind zwei Er-
wägungen, die miteinander verwandt sind, bedeutsam
dafür gewesen, das Präsidium als entscheidende Stelle
vorzuschlagen.
Erstens. Was die parlamentarische Funktion – die
Funktion „Beratung in einem demokratischen Staat“ –
schädigt, stört oder eben nicht stört, kann am besten das
Parlament selbst entscheiden. Damit verwandt ist zwei-
tens der Aspekt der Autonomie: Wenn es um Parla-
mentsangelegenheiten geht, sollte sich das Parlament in
allem Selbstbewußtsein dazu bekennen, die Entschei-
dung selbst auf sich zu nehmen, auch wenn das unter
Umständen strittige Entscheidungen verlangt.
Das steht dahinter. Aber wir werden dazu noch im
einzelnen ins Gespräch kommen. Ich freue mich, daß
Sie ausdrücklich Gesprächsbereitschaft signalisieren.
Vielen Dank.
Herr Schmidt-Jortzig, andieser Frage wird die Einigung sicherlich nicht schei-tern. Wenn ich es aber richtig wahrgenommen habe, istauch das gegenwärtige Präsidium mit deutlicher Mehr-heit dafür, daß es diese Entscheidung nicht alleine zutreffen hat, sondern das die Entscheidung wie in derDieter Wiefelspütz
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Vergangenheit eher beim Innenminister liegt, daß aberEinvernehmen mit dem Präsidium hergestellt werdenmuß, so daß das letzte Wort in dieser Angelegenheitimmer der Bundestag hat. Aber wir werden das diskutie-ren.Ich will eine kleine Ergänzung machen: Inzwischenhat es Gespräche mit Bundesrat und Bundesverfas-sungsgericht gegeben. Informell gibt es auch eine Eini-gung. Selbstverständlich haben wir den Wünschen desVerfassungsorgans Bundesverfassungsgericht und desVerfassungsorgans Bundesrat Rechnung zu tragen. DieEinigung ist schon erzielt, so daß wir das alles mit ein-binden könnten. Wir sollten dies in breiter Mehrheit ge-meinsam regeln und auf diese Weise signalisieren, daßwir dann, wenn es um das Parlament geht, einen breitenKonsens erarbeiten und sicherstellen.
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Hörster.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Zum Sinn und Zweck einesGesetzes zum Schutze der parlamentarischen Beratun-gen ist von dem Kollegen Solms und von dem KollegenWiefelspütz eigentlich alles vorgetragen worden, so daßich diese hehren Erwägungen und Grundsätze nicht zuwiederholen brauche. Ich kann mich dem, was gesagtwurde, insoweit nahtlos anschließen. Auch ich halte denGesetzentwurf, den die F.D.P. zu dieser Frage hier ein-gebracht hat, trotz der Federführung des KollegenHirsch für durchaus diskussions- und erwägenswert.
Gleichwohl will ich folgendes sagen, weil bei ande-ren Beratungsgegenständen, die uns zu diesem Tages-ordnungspunkt vorliegen, anders angedeutet worden ist:Ein solcher Gesetzentwurf verfolgt ja nicht das Ziel, derpolitischen Diskussion oder dem politischen Streit ausdem Wege zu gehen. Vielmehr hat ein Gesetz zumSchutze der parlamentarischen Beratungen lediglich denZweck, daß darauf geachtet wird, daß das Parlament dennotwendigen tatsächlichen und – wenn man so will –körperlichen Freiraum hat, den es braucht, um seine Be-ratungen ungestört durchzuführen. Wenn man sich dieErgebnisse der umfangreichen Anhörung, die der Ge-schäftsordnungsausschuß im Jahre 1993 auf Grund einesGesetzentwurfes der damaligen Gruppe Bündnis 90/DieGrünen zur Abschaffung der Bannmeile durchgeführthat, anschaut, dann wird man finden, daß dies dort gera-dezu bestätigt wird. Es geht nicht um die Abschaffungder politischen Kultur; es geht nicht um die Verhinde-rung von politischen Auseinandersetzungen, sondernschlicht und einfach darum, dem Parlament einen unge-störten Freiraum für seine nach der Verfassung gebote-nen Entscheidungen zu ermöglichen.Ich will einige Anmerkungen unter praktischen undrechtlichen Gesichtspunkten machen, von denen ichmeine, daß wir sie miteinander erörtern müssen. Dennich glaube schon, daß es sinnvoll wäre, wenn die demo-kratischen Kräfte in diesem Haus in dieser Frage zueinem Konsens kämen. Das würde ich für unglaublichwichtig halten.Als erste möchte ich die Frage der räumlichen Ab-grenzung des Bezirks nennen. Das sehe ich ziemlichemotionslos, und ich nehme an, daß das in meiner Frak-tion genauso sein wird. Die Frage, ob man das Kanzler-amt einbezieht oder nicht, halte ich nicht für eine Glau-bensfrage. Man sollte sie auch nicht unter diesem Ge-sichtspunkt diskutieren. Das ist allenfalls eine polizei-taktische Frage. Da müssen uns Fachleute beraten. Auchwenn die Regierung gewechselt hat: Ich hätte, wenn diePolizeitaktiker uns empfehlen, das aus praktischen Er-wägungen mit in die Bannmeile hineinzunehmen, nichtsdagegen, das auch jetzt zu machen.Etwas schwieriger verhält es sich mit der Streichungder Strafvorschrift des § 106 a Abs. 1 des Strafgesetz-buches, mit der der Verstoß gegen das Schutzgut derHandlungsfähigkeit des Parlaments zu einer Ord-nungswidrigkeit herabgestuft wird. Es gilt dann näm-lich nicht mehr das Legalitätsprinzip, das Staatsanwalt-schaften und Polizei eine eindeutige Handlungsanleitunggibt. Vielmehr gilt dann, wenn es sich nur noch um eineOrdnungswidrigkeit handelt, das Opportunitätsprinzip,und dann muten wir der Polizei und den Staatsanwalt-schaften zu, im Kern darüber zu entscheiden, ob einEingreifen zum Schutz der Entscheidungsfreiheit desParlamentes erforderlich ist oder nicht. Ich glaube, überdiese Frage muß man sehr intensiv nachdenken, weil mitder neuen Regelung die Handlungsfreiheit des Parla-mentes zu einem minderen Schutzgut herabgestuft wird.Es ist für mich auch nicht ganz logisch, daß dann dieAnstiftung zur Bannkreisverletzung wiederum eineStraftat sein soll. Mir erscheint die konkrete Verletzungdes Bannkreises doch etwas schwerwiegender als dieAnstiftung dazu. Ich finde, hierüber müssen wir genauberaten. Denn nach welchen Kriterien sollen Polizei undStaatsanwaltschaften entscheiden, ob die parlamentari-schen Beratungen durch eine Bannkreisverletzung be-einträchtigt worden sind oder nicht oder ob sie in Gefahrgeraten, beeinträchtigt zu werden? Mir scheint, daßdiese Frage in der Praxis nicht einfach zu entscheidensein wird.Es gibt Leute, die darüber nachgedacht haben, obman, um die Flexibilität zu erhöhen, nicht auch den§ 106 a StGB von einem Offizialdelikt zu einem An-tragsdelikt umgestalten sollte. Davon würde ich aberdringend abraten, weil wir als Parlament dann in dieSchwierigkeit gerieten, Antragsteller zu sein und je nachideeller Nähe zu denjenigen, die die Bannkreisverlet-zung begangen haben, für oder gegen sie zu entscheiden.Das halte ich für nicht praktikabel und würde davon ab-raten.Deswegen finde ich, daß wir alles, was an praktischenAuswirkungen mit dieser Regelung zusammenhängt,doch noch einmal genau unter die Lupe nehmen müssen,und zwar nicht zu dem Zweck, Streit zu erzeugen, son-dern um einfach zu schauen, ob das, was wir in das Ge-setz hineinschreiben, auch praktikabel ist.Das gleiche gilt für die Frage, ob man das Bannmei-lengesetz oder das Gesetz zum Schutz der parlamenta-Dieter Wiefelspütz
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rischen Beratungen so ausgestalten sollte, daß es in dennach unseren Plänen sitzungsfreien Zeiten nicht gilt.Ich fände das recht spannend: Das Präsidium hat eineDemonstration genehmigt, und dann wird eine Sonder-sitzung des Bundestages oder mehrerer parlamentari-scher Gremien beantragt; diejenigen, die demonstrierenwollen, haben tausende Leute organisiert, die die De-monstration durchführen sollen. Dann soll das Präsidiumvor dem Problem stehen – im übrigen dann aber auchdie Genehmigungsbehörde, wenn man es bei dem altenRecht läßt –, eine solche Demonstration zu unterbindenund zu sagen: Sie darf jetzt nicht stattfinden. Das scheintmir ein sehr gewagtes Unterfangen zu sein. Ich meine,es tut der Demonstrationsfreiheit und dem Demonstra-tionsrecht keinen Abbruch, wenn man sich solcherSchwierigkeiten auch in den sitzungsfreien Zeiten ent-hebt, indem man sagt: Demonstriert außerhalb derBannmeile, dann seid ihr jedenfalls mit eurer Meinungs-äußerung aus dem Schneider. Warum muß denn unbe-dingt in der Bannmeile demonstriert werden? Man kanndas ja überall tun. Wir kommen dann auch aus denSchwierigkeiten heraus, in konkreten Fällen auf einmalgenötigt zu sein, Demonstrationen zu verweigern, zuuntersagen, zu verhindern, obwohl diejenigen, die de-monstrieren wollen, alle ihre Vorbereitungen getroffenhaben.Ich finde also, es gibt ein paar Punkte, über die wirsachlich und ruhig nachdenken müssen. Ich bedankemich, Herr Kollege Wiefelspütz, daß Sie auch dieCDU/CSU-Fraktion in Ihre Beratungen einbeziehenwollen. Vielleicht ist das – wenn ich so an das Staats-bürgerschaftsrecht denke, wo man ja keinen Wert darauflegte, uns einzubeziehen – ein bißchen ein neuer Stil.Aber immer wenn es um Geschäftsordnungsangelegen-heiten geht, wird es etwas freundlicher, etwas anders, sodaß ich tatsächlich auf eine fraktionsübergreifende Lö-sung zu hoffen wage.Der Ordnung halber will ich abschließend nur nochhinzufügen, daß ich den Gesetzentwurf der PDS, der jaauch Beratungsgegenstand ist, weder hinsichtlich seinerZielsetzung noch hinsichtlich seiner Begründung fürernsthaft erörterungsbedürftig halte.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.
gen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist ja im-mer eine wichtige Aufgabe der Opposition, der Regie-rung und der Regierungskoalition Beine zu machen. Soverstehe ich auch, daß dieser Antrag heute hier aufge-setzt worden ist: Der Bundestag zieht jetzt bald um, undda wollen Sie diese gesetzliche Regelung einführen. DerKollege Wiefelspütz hat darauf hingewiesen, daß wir jaseit langem in vielen sehr ernsten Diskussionen mit vie-len Sachverständigen – auch aus der Polizei – aus Bundund Ländern dabei sind, eine solche Regelung zu gebä-ren, die von allen getragen werden kann.Es ist sicher richtig, uns ein bißchen Beine zu ma-chen. Nur, ich sage Ihnen: In diesem Falle bin ich froh,daß Sie das nicht eher gemacht haben und auch nochnicht eher Erfolg hatten. So hatten wir die Gelegenheit,am letzten Montag einmal zu sehen: Wie ist es denn inBerlin ohne Bannmeile? Mir wurde vorher gesagt – ichhabe hier einen Aufruf der Fachgemeinschaft Bau, diedort zu großen Demonstrationen aufgerufen hat –: Dassind auch so Rechte, und die kommen da mit Baufahr-zeugen; 300 oder 500 haben sie angekündigt, und dasind möglicherweise 5 000 oder 10 000 Leute – undkeine Bannmeile! Das muß man sich einmal vorstellen!Außerdem sind wir jetzt im Krieg, und es gibt viele, dieetwas gegen den Krieg haben. Die kommen auch allenach Berlin. Das wird ganz fürchterlich.Nun haben wir das alles letzten Montag erlebt. BeideDemonstrationen haben stattgefunden. Die Demonstra-tion der Fachgemeinschaft Bau fand im wesentlichen aufder Straße des 17. Juni statt; sie ging bis zum Branden-burger Tor. Dort standen auch die Baufahrzeuge; diekonnte man besichtigen. Die Demonstranten hatten Pla-kate mit und haben Parolen gerufen. Die andere Demon-stration fand sehr viel näher statt, vis-à-vis dem Reichs-tag. Es gab ein Sperrgitter, und dahinter haben dieseDemonstranten ihre Meinung kundgetan. – Hat das ir-gend jemanden vom Bundestag an seiner Arbeit imReichstag gehindert? Doch niemanden. Mich hat esnicht gehindert, Sie auch nicht. Im Gegenteil, das ist le-bendige Demokratie.
Heute morgen kam ich hier aus dem Bundestag. FünfMeter vom Gebäude entfernt stand eine Frau, die Pla-kate hochhielt. Andere standen um sie herum. Ich habesie gefragt: Sie sind doch wohl nicht mehr als zwei Per-sonen? Nein, hat sie gesagt, ich bin alleine. Die anderengehören nicht zu mir. Sie stehen nur um mich herum undgucken. – Ja, habe ich gesagt, wenn Sie drei wären, dannwäre dies eine unerlaubte Versammlung. Das wärestrafbar. Dann müßten Sie aufpassen, daß Sie nicht vordem Amtsgericht in Bonn landen.
Sie hat immer wieder betont, sie sei alleine. Ob sie nunwirklich allein war, weiß ich nicht.Das aber zeigt doch die Absurdität sowohl der altenRegelung als auch der von Ihnen jetzt vorgeschlagenen.Sie sollten gemeinsam mit uns überdenken, ob es nichtin den alten westlichen Demokratien, auf die wir zuRecht immer gucken, Beispiele dafür gibt, daß es andersgeht. Schauen Sie einmal nach England und Frankreich,nach London und Paris! Dort gibt es keine Bannmeile,auch in den USA nicht. Das sind Beispiele für ein funk-tionierendes demokratisches Leben. Bilder, auf denenvor dem Kapitol in Washington 500 000 Menschen fürdie Gleichheit der Menschen, gegen Rassendiskriminie-Joachim Hörster
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rung und ähnliches demonstrieren, gingen nicht um dieWelt, wenn es dort eine Bannmeile gäbe. Die gibt esaber dort nicht und in vielen anderen Staaten auch nicht.Noch ein weiteres Argument: Die neuen Bundeslän-der, auch CDU-geführte Bundesländer, haben es nachDiskussionen überwiegend abgelehnt, Bannmeilen zuerrichten. So gibt es etwa bei Herrn Biedenkopf in Dres-den keine Bannmeile. Dieses Länder haben uns vonihren Erfahrungen berichtet, und diese sind alle positiv.Warum wollen wir dahinter zurückfallen? Was wirdmit dem Platz der Republik, dem berühmtesten Platz inder neuen Bundesrepublik, dem Platz mit den berühmte-sten Freiheitsdemonstrationen, dem Platz, auf dem Hun-derttausende gewesen sind, als Willy Brandt, als ErnstReuter und andere dort immer am 1. Mai gesprochenhaben? Warum wollen wir die neue, die Berliner Repu-blik mit einem grundsätzlichen Verbot von Demonstra-tionen auf dem Platz der Republik beginnen?
Ich denke, die Abgeordneten brauchen ein bißchenmehr Mut und ein bißchen mehr Selbstbewußtsein. Siesind ja nicht schutzlos, wenn es kein Bannmeilengesetzgibt. Im Strafgesetzbuch gibt es weitere Vorschriften,zum Beispiel in § 105 und § 106 b, die die Funktions-fähigkeit des Parlaments meiner Ansicht nach ausrei-chend schützen.Wir sind noch in der Diskussion, wir verabschiedennoch kein Gesetze. Deshalb mein Appell: Liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der Freien DemokratischenPartei, überlegen Sie sich doch einmal, ob Sie wirklicheinen solchen Antrag einreichen und zur Debatte stellenwollen oder ob wir uns nicht auf etwas anderes einigenkönnen.Danke sehr.
Als
letzter Redner in dieser Aussprache hat der Kollege Ro-
land Claus von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der
F.D.P. ist unseres Erachtens ein Schritt in die richtige
Richtung. Er bedeutet gegenüber der gegenwärtigen
Bannmeilensituation eine erhebliche Verbesserung. Wir
meinen aber, daß dies ein zu kleiner Schritt ist. Gemes-
sen an dem großen Schritt, nach Berlin zu gehen, müßte
er noch ein klein wenig weiter gehen, um den Heraus-
forderungen gerecht zu werden.
Aber wir alle haben eine Alternative, nämlich den
PDS-Gesetzentwurf zur Aufhebung der Bannmeilenre-
gelung. Sie alle, die Sie von der Sache eine Menge ver-
stehen, wissen selbstverständlich, daß die Aufhebung
keineswegs einen gesetzlosen Raum schafft. Selbstver-
ständlich wissen auch Sie, Herr Kollege Solms – im
Augenblick: Herr Präsident –, daß gewalttätige Ausein-
andersetzungen, die Sie in Ihrer Rede als Problem be-
schworen haben, auch auf anderer rechtlicher Grundlage
unterbunden werden können.
Noch ein Stück weiter geht der Kollege Hörster,
wenn er mit Blick auf die Bannmeilenregelung den
Konsens der Demokraten im Bundestag beschwört. Ich
muß ihn einmal fragen, ob er angesichts der Tatsache,
daß es nur noch in vier westeuropäischen Demokratien
Bannmeilen gibt, die anderen westeuropäischen Parla-
mentarier von dem Konsens der Demokraten aus-
nimmt.
Bannmeilenregelungen bedeuten immer Einschrän-
kung demokratischer Rechte, besonders des Ver-
sammlungsrechtes. Aber – das muß noch hinzugefügt
werden – sie setzen immer auch die Strafe für diejenigen
fest, die sich an diese Regelungen nicht halten.
Nun schlägt die F.D.P. vor, eine historisch überlebte
Regelung etwas aufzubessern – wie gesagt, nicht uner-
heblich. Wir meinen, die Bannmeile wird nicht dadurch
zeitgemäß, daß sie ein wenig modernisiert wird. Dieser
alte Zopf gehört nicht zum Barbier von Berlin; vielmehr
gehört dieser alte Zopf mittelalterlicher Rituale abge-
schnitten.
Das schlägt Ihnen die PDS mit ihrem Gesetzentwurf
vor. Ich verweise auf die ausführliche Begründung unse-
res Gesetzentwurfes.
An die Adresse der neuen Bundesregierung sage ich:
Wir hätten von Ihnen schon erwartet, daß Sie sich mal
der Überlegung nähern, ob man nicht eine Aufhebung
der Bannmeilenregelung betreiben könnte. Wenn der
Redner der SPD zu unserem Gesetzentwurf rein gar
nichts zu sagen hat, so, als wäre er überhaupt nicht vor-
handen, dann ist das eine gewisse Ignoranz, die ich nicht
nur auf unsere Fraktion beziehe, sondern die natürlich
auch mit den Erwartungen der Gesellschaft an den Ber-
lin-Umzug zu tun hat.
Herr
Kollege Claus, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wiefelspütz?
Ja, natürlich.
Herr Claus, ich bin striktgegen den Gesetzentwurf Ihrer Fraktion,
wenn Sie das tatsächlich wissen wollen. Ich finde das,was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vorgelegt haben, nichtbesonders erwähnenswert. Das ist ja auch mein gutesRecht.Ich möchte Sie darauf hinweisen – weil Sie geradevon der neuen Bundesregierung gesprochen haben –:Dies ist kein Thema der Bundesregierung. Die Diskus-Hans-Christian Ströbele
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sion über die Bannmeile oder über einen befriedeten Be-zirk ist Sache des Parlamentes.
Ich würde mich strikt dagegen verwahren – das ist meinVerständnis von Parlamentarismus; auch das aller ande-ren Kollegen –, wenn die Bundesregierung dem Parla-ment Vorschriften über die Regelung des befriedetenBezirks machte. Das geht auf gar keinen Fall.Wir fragen da schon mal die Meinung der Sicher-heitsbehörden ab, aber die Bannmeilenregelung ist einekonstitutive Angelegenheit des Parlamentes. Wer wä-ren wir denn, wenn wir das anderen überließen?Ich räume ein, daß das in einem anderen deutschenStaat einmal anders war. Dort hat das alles die Regie-rung geregelt, weil es dort kein wirkliches Parlamentgab.
Dieses Parlament, Herr Claus, ist ein richtiges Parlamentund nimmt sich das Recht, eigene Angelegenheiten ineigener Autonomie zu entscheiden.
In dieser Frage, Herr Kollege,
besteht zwischen uns keine Differenz. Ich denke, Sie
wissen das. Ihr Hinweis auf DDR-Zustände kommt für
mich auch nicht überraschend. Ich kann mich sehr gut
an die Zustände vor zehn Jahren erinnern, als quasi die
ganze DDR von einer Bannmeile umgeben war. Ich
kann mich gut erinnern, wie diese plötzlich weg war
und wie ich in Halle an der Saale, in Sachsen-Anhalt,
Abend für Abend und Demonstration für Demonstration
die erste Adresse für die berechtigte Kritik der Bürge-
rinnen und Bürger an den Zuständen war. Das war eine
bittere Lehre; sie hat sich mir für lange Zeit eingeprägt.
Ich möchte diesen Vorgang, den ich als geistige Befrei-
ung erlebt habe, nicht so schnell wieder aufgehoben se-
hen und nicht durch Belehrungen über Verantwortung
gemindert wissen.
Ich möchte einmal auf den historischen Ursprung
des Bannmeilenbegriffs im deutschsprachigen Raum
zurückblicken. Vielleicht hilft uns das bei der heutigen
Entscheidung. Woher stammt dieses kuriose Wort? Der
Begriff reicht in das 13. Jahrhundert zurück, als sich
deutsche Städtegründer in Schlesien und Mähren der
Konkurrenz der Bauern beim Handeltreiben erwehren
wollten. Sie haben die Töpfer, die Bürstenmacher und
die Besenbinder von den Toren ihrer Stadt ferngehalten.
Im 19. Jahrhundert haben England und besonders Preu-
ßen eine Bannmeile um die Parlamente geschaffen. Hier
ging es nicht mehr um die Besenbinder, sondern um das
Abwehren protestierender Demokratinnen und Demo-
kraten. Wenn man sich das einmal vor Augen hält, sind
Bannmeilen in der Tat unzeitgemäß.
Ich sagte bereits, daß nur vier westeuropäische De-
mokratien dieses Instrument noch kennen. In den neuen
Ländern gibt es die Bannmeile nur in Thüringen. Ich
erinnere mich sehr gut daran – ich sage dies an die Da-
men und Herren der F.D.P. gewandt –, daß wir im
Landtag von Sachsen-Anhalt zu Beginn der ersten
Wahlperiode einen Antrag der F.D.P.-Fraktion behan-
delt haben, eine solche Bannmeile einzurichten. 1991
haben wir nach gründlicher Diskussion im Innenaus-
schuß in aller Friedfertigkeit und aller Gemeinsamkeit,
auch in aller Stille und Gründlichkeit diesen Gesetzent-
wurf beerdigt. Wir haben gesagt, so etwas bräuchten wir
in Sachsen-Anhalt nicht, und haben gemeint, dies könne
ein Signal aus den neuen Ländern sein, das vielleicht
von der Bundespolitik aufgenommen wird. Das ist unse-
re Hoffnung auch jetzt noch.
Deshalb sollten wir die Chance mit dem Umzug nach
Berlin nutzen und einen alten preußischen Hut entsor-
gen. Es paßt doch auch nicht zusammen! In allen Frak-
tionen waren am Montag – vor drei Tagen – in Berlin
die freundlichsten Fensterreden an die Berlinerinnen und
Berliner zu hören, in denen wir zum Ausdruck gebracht
haben, daß wir gern bei ihnen sein und mit ihnen zu-
sammenkommen wollen und daß wir die Begegnung
suchen. Nun, am Donnerstag, erklären wir ihnen, daß ihr
Versammlungsrecht eingeschränkt werde und daß sie
eine Bannmeile bekämen, die auch noch besonders be-
deutsame historische Stätten betrifft. Man muß nur ein-
mal „Ein weites Feld“ von Günter Grass lesen, um zu
erkennen, welche Bedeutung dieses Terrain für die Stadt
hat.
Bannmeilen um Parlamente ziehen immer die Gefahr
nach sich, daß sie auch Bannmeilen in den Köpfen mit
sich bringen, womit solche Gesetze auf ihre geistigen
Urheber zurückschlügen. Eigentlich sind solche Gesetze
„bannmeilenweit“ vom wirklichen Leben entfernt. Dem
können Sie dadurch entgehen, daß Sie dem Gesetzent-
wurf der PDS zur Aufhebung der Bannmeile zustimmen.
Anderenfalls – das ist aber nicht allzu ernst gemeint –
können Sie dann vielleicht noch einmal die alten Schil-
der verwenden, die es in Berlin gab und auf denen steht:
„Ende des demokratischen Sektors“.
Vielen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwür-fe auf Drucksachen 14/183 und 14/516 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nichtder Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 8auf: 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten HartmutBüttner , Margarete Späte, Dr. Mi-Dieter Wiefelspütz
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chael Luther, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUBeteiligung des Bundes an Gedenkstätten undMahnmalen zur Erinnerung an die beidendeutschen Diktaturen und ihre Opfer– Drucksache 14/656 –Überweisungsvorschlag:
, Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter
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Die Koalitionsfraktionen begrüßen daher ausdrück-lich die Absicht der Bundesregierung, ein Konzept zurFörderung der Gedenkstätten in der Bundesrepublikvorzulegen. Wir sehen es mit großer Genugtuung, daßfür dieses Konzept die Empfehlungen der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der Deutschen Einheit“ aus der ver-gangenen Legislaturperiode zur Grundlage gemachtwerden sollen. Dies ist für uns Sozialdemokraten des-halb eine Genugtuung, weil in den Empfehlungen dielangjährigen Anträge und Aktivitäten der SPD-Fraktionseit den 80er Jahren ihren Niederschlag gefunden haben.Es sollte aber für uns alle eine Genugtuung sein, weildiese Empfehlungen auf einem Konsens aller Fraktionendieses Hauses beruhen. Ich hoffe, daß wir bei unserenBeratungen und Entscheidungsfindungen diesen wert-vollen Konsens aus der Enquete-Kommission, der insbe-sondere mit dem Namen Siegfried Vergin verbunden ist,fortführen.
Die Suche nach einer Zukunft für die Erinnerung, dasBewahren des Andenkens an die Opfer zweier Diktatu-ren in Deutschland eignet sich aus meiner Sicht in keinerWeise für parteipolitische Instrumentalisierung. DieBewahrung der Erinnerung ist eine Aufgabe und Ver-pflichtung für uns alle in ganz Deutschland.
Die Empfehlungen der Enquete-Kommission sinddabei eine gute Grundlage für unsere weitere Arbeit. Sieberuhen auf Erkenntnissen und langjähriger Zusammen-arbeit mit den Ländern, Gedenkstätten und Experten.Am Dienstag haben uns die Leiter der Gedenkstätten imKulturausschuß mitgeteilt, daß sie diesen Empfehlungenvoll zustimmen. Aber auch Opferverbände, Wissen-schaftler und Fachleute sind vom Konzept der Enquete-Kommission überzeugt. Wir sollten dieses Lob für einGremium des 13. Deutschen Bundestages als Ver-pflichtung für unsere jetzige Arbeit betrachten. Hierwurden Maßstäbe gesetzt.
In voller Übereinstimmung mit den Empfehlungender Enquete-Kommission sehen wir Sozialdemokratenin den Gedenkstätten an den authentischen Orten diestärksten Pfeiler der Erinnerungskultur in Deutschland.Wir verfügen in Deutschland über eine einzigartige de-zentrale Gedenkstättenlandschaft. Diese Landschaft istgekennzeichnet von der Vielfalt der historischen Bezü-ge, sei es bei den Gedenkstätten zur nationalsozialisti-schen Terrorherrschaft, sei es bei denjenigen zur SED-Diktatur.Die dezentrale Vielfalt der Gedenkstätten machtübrigens sehr anschaulich, daß sich die historische Ver-antwortung nicht auf wenige zentrale Standorte konzen-trieren kann. Die Gesichter der Diktaturen zeigen sichgerade in den Machenschaften und Verbrechen vor Ort.Die Schreibtische der Täter, die Gefängnisse und Lager,vor allem aber die Leidenswege der Opfer, die Zeugnis-se ihrer Erniedrigung waren über das gesamte Landverteilt.Die Vielfalt der Gedenkstätten in Deutschland istaber auch das Ergebnis des bürgerschaftlichen Engage-ments von vielen, insbesondere jungen Menschen. Ohnediese bürgerschaftliche Verankerung bliebe das Erinnernangeordnet, letztlich hohl. Viele wissen: Wir haben inder ehemaligen DDR mit solchen Verordnungen unsereganz besonderen Erfahrungen gesammelt.Wir Sozialdemokraten erwarten daher ein deutlichesZeichen der Bundesregierung zur Sicherung und Förde-rung dieser gewachsenen demokratischen Erinnerungs-kultur. Ich freue mich deshalb, daß unser Kulturstaats-minister Naumann bei seinem Besuch in der Gedenk-stätte Sachsenhausen im Januar dieses Jahres erklärt hat,daß die Förderung der Gedenkstätten für die Bundesre-gierung höchste Priorität hat.
Hier kann also ohne weiteres das erarbeitete Konzeptder Enquete-Kommission zur Grundlage gemacht wer-den; denn das Rad muß nicht neu erfunden werden.Als Eckpunkte einer Gedenkstättenkonzeption se-hen wir deshalb folgende Aufgabenstellungen an:Erstens. Die Gedenkstätten als authentische Orte mitihrem historischen Erbe, mit den Zeugnissen und Sach-beweisen für die Verbrechen des Nationalsozialismusund für das Unrecht des Stalinismus müssen weiter zuLernorten, zu lebendigen Orten der Erinnerung entwik-kelt werden. Die Gedenkstätten an Orten der Verbrechengegen die Menschlichkeit sind heute Botschafter derHumanität. Dort wird die Geschichte des unsäglichenLeids der Opfer so vermittelt, daß es auch mit dem Her-zen erfahren und begriffen werden kann. Verbunden mitdieser emotionalen Betroffenheit können diese Orte hi-storisches Wissen vermitteln, das eine Beziehung zurGegenwart schafft, moralische Sensibilität und politi-sche Verantwortung ermöglicht.Daraus folgt zweitens, daß die Gedenkstätten an denauthentischen Orten für diese Aufgabenwahrnehmungeine angemessene und verläßliche Finanzierung brau-chen. Für den Bund muß dies heißen, daß die bisher be-grenzte institutionelle Förderung der Gedenkstätten vongesamtstaatlicher Bedeutung in den neuen Ländern un-befristet über das Jahr 2003 fortgeführt wird.
Drittens. Ebenso müssen die Gedenkstätten von ge-samtstaatlicher Bedeutung in den alten Ländern, zumAngelika Krüger-Leißner
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Beispiel Dachau, Neuengamme und Bergen-Belsen,künftig in diese institutionelle Förderung aufgenommenwerden.
Ich erinnere daran: Die Bundesförderung für die Ge-denkstätten in den neuen Ländern hat insbesondere Bu-chenwald – aber hoffentlich bald auch Sachsenhausen –dank der Umgestaltung nach 1990 zur maßstabsetzendenEinrichtung gemacht. Hier kann der Westen vom Ostenlernen.
Viertens. Ich gebe zu bedenken, daß in Anerkennungder dezentralen Gedenkstättenlandschaft der Bund künf-tig auch Einzelprojekte im Wege der Projektförderungmit unterstützen und dafür einen Fonds einrichten sollte.Möglicherweise müssen wir dringend auch Sondermittelbereitstellen, um den bedrohlichen Verfall der authenti-schen Orte – ich denke hier wieder ganz besonders anSachsenhausen – zu stoppen.Fünftens. Wir sehen die Gedenkstättenförderungselbstverständlich als eine gemeinsame Aufgabe des fö-deralen Staates an. Das heißt, auch die Länder sind wei-terhin in der Pflicht, die Gedenkstättenarbeit zu fördern.Diese gemeinsame Förderung ist nicht nur ein Gebot desFöderalismus, sondern auch ein Zeichen, daß sich alleEbenen des Staates der historischen Verantwortung be-wußt sind.
Sechstens. Schließlich erwarten wir eine gezielteUnterstützung für die Gedenkstätten zur SED-Diktatur,die sich oftmals noch in einem sehr schwierigen Auf-baustadium befinden.Meine Damen und Herren, wir wissen: Die Gedenk-stätten sind auch als Orte der Aufklärung, Forschungund Bildung heute unersetzlich geworden. Sie stehenaber vor dem schweren Einschnitt des Wegfalls derZeitzeugen. Dieser Verlust der Zeitzeugenschaft betrifftunsere gesamte demokratische Erinnerungskultur. Daherist es um so wichtiger, daß die Gedenkstätten zu moder-nen zeithistorischen Museen entwickelt werden. Fürkünftige Generationen wird nämlich nur die Vermittlungvon Wissen zu einem Gedenken führen können. Aufklä-rung und Bildung sind daher die großen Aufgaben fürdie Zukunft der Erinnerung. Und genau hier wirken dieGedenkstätten mit ihrer langjährigen pädagogischen undwissenschaftlichen Kompetenz.
Wir wissen: Die Jugendbegegnungsstätten in denGedenkstätten sind lange ausgebucht. Die Gedenkstättenverzeichnen seit Jahren einen großen Zuwachs an Besu-chern. Heute sind diese Gedenkstätten zu lebendigenOrten der Auseinandersetzung mit der Geschichte, aberauch mit der Gegenwart geworden. Der verantwortungs-volle Umgang mit Geschichte, die Aufklärung an denGedenkstätten, vor allem aber die zahlreichen Jugend-begegnungen dort sind ein Stück Wertevermittlung undDemokratieerziehung. An den Gedenkstätten liegt dieZukunft der Erinnerung kommender Generationen. Beiden Gedenkstätten, an den authentischen Orten, ist alldas vorhanden, was der Erinnerung eine Zukunft gibt.Schaffen wir gemeinsam ein Netzwerk gegen das Ver-gessen, geknüpft von Schulen, Wissenschaft, Politik,Bürgerschaft und eben den Gedenkstätten! DiesesNetzwerk muß uns auch etwas wert sein, nicht zuletzteine seriöse und verläßliche Finanzierung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, sorgen wir miteiner neuen Gedenkstättenkonzeption dafür, daß die Ge-denkstätten ihre wichtigen Aufgaben sachgerecht erfül-len können! Verknüpfen wir diese Verantwortung auchmit dem Willen, ein Denkmal für die ermordeten Ju-den Europas in Berlin zu schaffen, das sich in dieLandschaft der gewachsenen demokratischen Erinne-rungskultur einreiht! Diese Erinnerungskultur zu festi-gen und vorzuführen, so wie es in unserem Antrag steht,sollte uns Verpflichtung sein.Integriert in eine Gesamtkonzeption gegen das Ver-gessen sollten wir am Haus der Erinnerung, das eslängst gibt, weiterbauen. Sein Fundament ist das bür-gerschaftliche Engagement, und seine Etagen sind diezahlreichen Gedenkstätten an den authentischen Orten.Daran mitzuarbeiten war stets unser Anliegen. Das solles bleiben.Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans-Joachim Otto von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Prä-sident! Meine Damen und Herren! Es ist durchaus be-merkenswert, welchen Stellenwert Gedenkstätten mo-mentan in der politischen Agenda unseres Landes haben.Wichtig aber ist, daß wir in Deutschland nicht nur überdas Holocaust-Mahnmal sprechen, sondern auch überdie zahlreichen Gedenkstätten an authentischen Orten,die sich zum Teil in jammervollem Zustand befinden. Esmag eine modische Wortschöpfung sein, von der „de-mokratischen Erinnerungskultur“ zu sprechen, aber ichteile ausdrücklich die Einschätzung, daß Erinnern undGedenken in einem engen Zusammenhang mit der Kul-tur stehen. Umgekehrt und zugespitzt formuliert: Eineder Voraussetzungen für einen Kulturstaat ist die Fähig-keit und Bereitschaft seiner Bürger, sich der eigenenwechselvollen Geschichte stets bewußt zu sein und sichzu ihr zu bekennen. Dies gilt nun leider in besonderemMaße für uns Deutsche. Wir gedenken beispielsweisenicht nur des Lebenswerkes Johann Wolfgang vonGoethes und anderer großer Dichter und Denker, son-Angelika Krüger-Leißner
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dern auch der beiden Diktaturen in unserem Land undderen zahlreicher Opfer.Meine Damen und Herren, Gedenkstätten haben im-mer eine Doppelfunktion: Sie erinnern an Vergangen-heit und weisen zugleich in die Zukunft. Indem sie anhistorische Ereignisse oder Persönlichkeiten erinnern,enthalten sie im Positiven wie im Negativen Lehrenauch für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln. Siealle kennen das berühmte Zitat: Nur wer die Vergangen-heit kennt, kann die Zukunft gewinnen. DemokratischeErinnerungskultur streitet deshalb gegen die sich leiderausbreitende Geschichtslosigkeit. Notwendige Bestand-teile demokratischer Erinnerungskultur sind also nichtnur Gedenkstätten und Mahnmale, schon gar nicht Do-kumentationszentren und Bücherwände, sondern nichtzuletzt auch geschichtliche Bildung.Es ist schon ein Problem, eigentlich mehr als das,nämlich eine Schande, welch geringen Raum der Ge-schichtsunterricht inzwischen in den Lehrplänen dermeisten Länder einnimmt. Geschichtskenntnisse schaf-fen erst den Boden für das Interesse an Gedenkstätten.Die besten Erläuterungen, Museen und Dokumentati-onszentren nützen gar nichts, wenn Menschen wegenfehlendem Geschichtsbewußtsein ihre Gedenkstättenerst gar nicht aufsuchen. Wir appellieren deshalb in er-ster Linie an die Länder. Sie haben in doppelter Hinsichteine primäre Kompetenz und Verantwortung, nämlichfür Kultur und für Bildung. Der Bund kann und will dieLänder aus dieser Primärverantwortung nicht entlassen.Der Bund hat aber durchaus im Sinne des viel beschwo-renen kooperativen Föderalismus eine sekundäre bzw.Mitverantwortung für die Gedenkstätten zu übernehmen,die eine gesamtgesellschaftliche Rolle spielen. Da binich mir mit Ihnen einig.In diesem Sinne halten wir den Bericht der altenBundesregierung zur Förderung von Gedenkstättenaus dem Jahre 1997 unverändert für eine gute und an-gemessene Grundlage. Ich habe bisher eigentlich wenigüberzeugende Kritik gegen diesen Bericht gehört.
Wir sollten zunächst einmal davon ausgehen, daß nichtsehr viel daran zu ändern ist. Aber dieser Bericht mußselbstverständlich überprüft und aktualisiert werden.Die Ankündigung der neuen Bundesregierung, eineGesamtkonzeption zur Förderung und Festigung derdemokratischen Erinnerungskultur zu erarbeiten, neh-men wir mit Interesse und Offenheit zur Kenntnis. Wirhaben uns allerdings angewöhnt – angewöhnen müssen–, die neue Bundesregierung nicht an ihren hehren An-kündigungen, sondern an ihren realen Taten zu messen.Für eine solche Zurückhaltung geben gerade unsere täg-lichen Erfahrungen mit anderen wohlgesetzten Wortendes Herrn Kulturbeauftragten Dr. Naumann immer wie-der Anlaß.Keine Frage ist es, daß die verdienstvolle Arbeit derEnquete-Kommission und ihre Vorschläge Berücksich-tigung bei unseren weiteren Überlegungen finden müs-sen. Dies gilt insbesondere für die Auflistung von be-sonders bedeutsamen Gedenkstätten in den neuen Bun-desländern, die sicherlich zum großen Teil die Unter-stützung und Förderung auch des Bundes verdienen.
– Ich bedanke mich.
Der Bericht der Enquete-Kommission enthält aller-dings auch Punkte, über die wir uns einmal in Ruhe Ge-danken machen sollten. Insofern will ich einige zarteFragezeichen machen. Es erstaunt mich, offen gesagt,wenn ausgerechnet die Enquete-Kommission zur Über-windung der Folgen der SED-Diktatur und auch Sie,verehrte Kollegin Krüger-Leißner, die bisherige, wie ichmeine, sinnvolle Konzentration der Förderung des Bun-des auf Gedenkstätten in den neuen Bundesländern auf-geben und nunmehr eine bundesweite Förderung einfüh-ren wollen. Vielleicht wäre es sehr viel sinnvoller, inden neuen Bundesländern größere Schwerpunkte zu set-zen. Fragwürdig erscheint mir auch, wenn die Enquete-Kommission die zeitliche Befristung der Bundesförde-rung auf zehn Jahre bereits jetzt aufheben und in eineDauerförderung übergehen will. Ich meine, da solltenwir noch Feinarbeit leisten. Diese Punkte können wir inRuhe im Ausschuß besprechen. Ich möchte jedenfalls,um das ganz klar zu sagen, die Länder aus ihrer Primär-verantwortung für Kultur und damit auch für Gedenk-stätten nicht so pauschal und schnell entlassen. Hier be-darf es noch einiger Gespräche, die wir sicherlich imKonsens führen werden. Das hoffe ich jedenfalls.Abschließend noch ein Punkt, der uns besonders amHerzen liegt. Ich freue mich sehr, daß sich auch beideVorredner Gedanken darüber gemacht haben, wie wirmehr bürgerschaftliches Engagement bei der Errich-tung, vor allem aber bei der Unterhaltung von Gedenk-stätten initiieren können. Zu Recht weist der Bericht derEnquete-Kommission darauf hin, daß viele Gedenkstät-ten erst aus dem Engagement von Vereinen, Bürgerin-itiativen oder einzelnen Menschen heraus entstandensind.
Unsere Aufgabe liegt nun darin, zusätzliche Anreize fürsolche privaten Initiativen zu schaffen. Es wird Siesicherlich nicht überraschen, wenn ich hierin ein wichti-ges Betätigungsfeld für Stiftungen sehe.
Denn Stiftungen sind auf eine Verstetigung von Enga-gement angelegt, was gerade im Sinne einer dauerhaftenSicherung und Betreuung von Gedenkstätten von gro-ßem Vorteil ist.Fortschreibung und Aktualisierung der Gedenkstät-tenkonzeption ist eine Aufgabe, bei der wir uns, liebeFrau Kollegin Krüger-Leißner, in einem fraktionsüber-greifenden Konsens bewegen sollten; das ist ganz klar.Ich signalisiere Ihnen, daß sich die F.D.P.-Fraktion ohneScheuklappen und ohne Einengungen in voller Offenheitan dieser Diskussion beteiligen wird. Wir werden kon-Hans-Joachim Otto
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struktiv an der Fortschreibung des Gedenkstättenkon-zepts mitarbeiten.Danke schön.
Als
nächster Redner hat das Wort die Kollegin Antje Voll-
mer von Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Es liegt in der Natur dieses Themas, daß es sichnicht für parteipolitische Debatten eignet. Das hat auchkeiner getan, und das finde ich gut. Die Gedenkstättenbrauchen die Unterstützung des ganzen Hauses. Dievorliegenden Anträge haben signalisiert, daß wir unsalle darum bemühen müssen und wollen. An realen Ta-ten, Herr Kollege Otto, wird nicht nur die jetzige Regie-rung gemessen, sondern muß auch die vorherige gemes-sen werden, die den Bericht der Enquete-Kommissionschon vorliegen hatte und daraus schon Schlüsse folgernkonnte.Interessant ist, daß diese Debatte wie die Debatteüber das Holocaust-Denkmal in einem ganz besonderenZeitraum stattfindet. Sie findet zu einem Zeitpunkt statt,an dem die Stimme der wirklichen Zeugen, der weni-gen Überlebenden, schwächer, leiser und seltener wird.Gerade deswegen ist es so wichtig, über die Gedenk-stätten zu sprechen. Wenn die wirklichen Zeugen nichtmehr reden können – manch einer fragt sich natürlich,ob man sie in der Zeit, in der sie noch reden konnten,nicht zuwenig angehört hat –,
dann müssen Steine, Bilder und Baracken sprechen unduns von dem berichten, was man sich aus eigener Phan-tasie gar nicht vorstellen könnte. Deswegen begrüße ichdiese Debatte außerordentlich.Weil ich sie begrüße, möchte ich noch ein paar Wortezu der Anhörung, die wir in dieser Woche hatten, sagen:Da ist seitens der Vertreter der Gedenkstätten einemerkwürdige Verunsicherung geäußert worden, umnicht von einer gewissen Konkurrenz zu dem Projektdes Holocaust-Mahnmals zu sprechen. Wir sollten unsalle darum bemühen, diese Verunsicherung nicht zuschüren, sondern ihr entgegenzutreten.
So wie in dieser Woche in Berlin möchte ich allen Ver-tretern der Gedenkstätten, die natürlich wie immer Sor-gen um ihre eigene Existenz haben – das hat auch seineVorgeschichte –, sagen, daß sie nicht geschwächt wer-den, sondern außerordentlich gestärkt werden, wenn die-ses Land und diese Republik darüber diskutiert, diesesGedenken auch an einer ganz wesentlichen sichtbarenStelle, im Zentrum der Metropole, an einem ganz her-ausgehobenen Ort in Berlin stattfinden zu lassen. Ichglaube, daß die Republik, die sich in ihrem Zentrum die-ser Geschichte stellt, auch mit ihren Gedenkstätten anhistorischen Orten besser und sorgfältiger umgehenwird. Da besteht für mich keine Alternative. Das einewird vielmehr das andere bestärken. Dies sollte man denVertretern der Gedenkstätten deutlich sagen.
Gedenkstätten haben natürlich ihre Geschichte, auchihre Zeitgeschichte. Dies ist eine Geschichte – sie ist imOsten und im Westen deutlich unterschiedlich –, ange-sichts deren Verlauf man viel über frühere Generationenund ihr Verhältnis zu unserer Vergangenheit begreifenkann. Im Westen, so muß man sagen, war diese Ge-schichte vielfach sehr mühselig. Das Gedenken ist gera-de nicht von staatlicher Seite, sondern auf Grund desEngagements der Bürger entstanden, die auf teilweisesehr entbehrungsreiche Weise Gedenkstätten aufgebauthaben, wie zum Beispiel in Stukenbrock, Bergen-Belsenund Dachau. Das heißt, das Gedenken hat mit den Men-schen vor Ort begonnen, die sich auf Grund der histori-schen Spuren und des Unfaßbaren, daß dies in ihrerUmgebung entstanden ist, dafür verantwortlich gefühlthaben. Erst allmählich und dann immer stärker ist diesauch ein Thema der öffentlichen Debatten geworden. Esscheint so, als ob sich die Bundesrepublik auf ihrerwestlichen Seite lange Zeit nicht zugetraut hätte, sichdiesen historischen Orten auch offiziell zu stellen.Im Osten wiederum – auch hier kann man Schale umSchale der Geschichte, der Erinnerung abheben – gab esein staatlich verordnetes, aber sehr selektives Gedenken.Gedacht wurde nicht der Opfer in ihrer ganzen Breiteund in ihren unterschiedlichen Spektren. Es wurde viel-mehr eine Art Hierarchie der Opfer errichtet. Einen be-sonderen Erinnerungswert erhielt also der verfolgtekommunistische Kämpfer. Andere wurden dabei fast garnicht mehr erwähnt. Erwähnt wurde auch nicht dieNachgeschichte, die Sonderlager der sowjetischen Be-satzungsmacht oder der SED-Diktatur. An dem Verlaufdieser Geschichte im Westen wie im Osten kann manüber die Schwierigkeit, sich der ganzen Geschichte zustellen, viel begreifen.Die Enquete-Kommission hat eine, wie ich finde,sehr solide Arbeit gemacht. Ich begrüße, daß Sie unsEmpfehlungen gegeben hat, die in den beiden heutevorliegenden Anträgen erwähnt werden. Das sind einer-seits allgemeine Grundsätze, an die ich noch einmal er-innern will, daß also ehrenamtliche und professionelleArbeit im Rahmen der Gedenkstättenkultur gleich wich-tig ist, daß der dezentrale und plurale Charakter der Ge-denkstättenlandschaft nicht durch falschen Zentralismusgestärkt werden darf und daß vor allen Dingen die Ar-beit der Gedenkstätten international vernetzt sein muß.Das ist außerordentlich wichtig. Welches waren denndie ersten Gruppen, die zu den kleinen Gruppen vor Ortgekommen sind? Das waren oft internationale Gruppen,die gesagt haben: Wir trauen uns wieder an diesenfurchtbaren Ort.Grundsätze der Beteiligung des Bundes sind eben-falls im Enquete-Bericht festgehalten: Die Gedenkstät-ten müssen sich an einem historischen Ort befinden,Hans-Joachim Otto
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dessen Bedeutung der Bevölkerung bewußt ist. DieAuthentizität des Ortes ist wichtig. Die Arbeit der Ge-denkstätten soll durch das Engagement der Opferver-bände verstärkt werden, und diejenigen, unter denen be-sonders viele Opfer waren, sollen eine besondere Rolleeinnehmen. Das Land, in dem die Gedenkstätte steht,soll an der Finanzierung beteiligt sein.Interessant und sehr wichtig finde ich den Vorschlag,einen wissenschaftlichen Beirat beim BMI für die För-deranträge für die Gedenkstätten einzurichten.
– Das war die Empfehlung in diesem Bereich. Ich meine,daß gerade ein solcher besonderer Beirat, der auch dieSensibilität besitzt, mit diesen Gruppen umzugehen. –
– Ich war noch nicht zu Ende. Das haben wir jetzt neugeordnet. Wir haben das auch insofern neu geordnet, alsd
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir werden das vorrangig
behandeln.
Daß es diesen Beirat gibt, daß wir es nicht mehr wie
so oft in Entschädigungsfragen mit dem Finanzministe-
rium zu tun haben, ist außerordentlich wichtig. Deswe-
gen wollte ich das hervorheben und diese Anregung be-
sonders betonen.
Im einzelnen gibt es Empfehlungen in diesem Bericht
der Enquete-Kommission, nämlich daß Sachsenhausen
und die Stiftung „Topographie des Terrors“ zu 50 Pro-
zent vom Bund und von den Ländern gefördert werden
sollen, daß die Gedenkstätte Münchner Platz Dresden
– das ist eine Gedenkstätte, die nur sehr wenig bekannt
ist, in der aber über 1 000 Tschechen hingerichtet wur-
den – und die Gedenkstätte für die Opfer der NS-
Euthanasie vom Bund gefördert werden sollen, ebenso
wie die internationalen Jugendbegegnungsstätten. Ich
weiß aus meiner Arbeit in Dachau, wie schwer es gerade
die Jugendbegegnungsstätten gehabt haben. Ich glaube,
gerade diese brauchen, wenn wir die Erinnerung an die
nächste Generation weitergeben wollen, außerordentlich
große, starke und sichtbare Unterstützung vom Bund.
Ich glaube, daß die Gedenkstätten vom Willen der
Bürger dieser Republik leben, die Geschichte als Teil
der Voraussetzung unserer Demokratie zu begreifen.
Deswegen unterstütze ich auch die Idee, Stiftungen auf-
zufordern, sich hier zu engagieren. Es ist ein Stück der
besonderen Selbstvergewisserung der Demokratie in
Deutschland, daß wir die Bürger nicht außen vor lassen,
sondern als wesentlichen Teil dieser Erinnerungsarbeit
verstehen.
Ich will noch einen letzten Satz sagen. Lassen Sie uns
nicht vergessen, daß wesentliche Gedenkstätten, die Teil
unserer Geschichte sind, nicht auf deutschem Boden
stehen, sondern insbesondere in Polen. Ich selbst bin das
erstemal in den 60er Jahren in Auschwitz gewesen und
danach regelmäßig noch einige Male. Ich habe gesehen,
wie sich Schicht um Schicht grauen Staubs auf den
grauenhaften Dokumenten abgelagert und das Bild im-
mer wieder verändert hat. Ich habe auch gemerkt, daß es
für die Polen sehr schwer ist, dieses unglaublich große
Lager im Sinne einer Gedenkstätte zu erhalten.
Ich glaube, daß wir, wenn wir uns jetzt über den Er-
halt für Gedenkstätten bei uns unterhalten, diese anderen
Gedenkstätten nicht vergessen sollten. Daran sieht man
das wirklich gigantische Ausmaß der Verbrechen, die
man vor den Augen der deutschen Bevölkerung ver-
heimlichen wollte. Das gehört dazu, wenn wir über die-
ses Thema reden.
Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich Fink von
der PDS-Fraktion das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es scheint einegewisse Zusammenarbeit in dem Ausschuß für Kulturund Medien zu geben, da die meisten Mitglieder diesesAusschusses hier reden. Ich kann mich sehr vielem vondem anschließen, was hier gesagt wurde. Ich möchteaber sehr konkret von einigen Erfahrungen berichten,die auch Ergänzung für die Anträge sein können.Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben ge-zeigt, daß nicht alle neuen Bundesländer in der Lagesind, die von der Bundesregierung erwartete Summe fürdie Gedenkstättenerhaltung aufzubringen und in ihreLandeshaushalte aufzunehmen. Das hat zur Folge, daßdiese Länder auch nicht die entsprechenden Bundesmit-tel bekommen. Deshalb können zum Beispiel im LandBrandenburg in den KZ-Gedenkstätten Sachsenhausenund Ravensbrück wichtige Erhaltungsarbeiten nichtmehr realisiert werden.
Dadurch besteht in Ravensbrück die Gefahr, daß dasGelände des Konzentrationslagers, auf dem Betriebsan-lagen in einmaliger Weise erhalten geblieben sind, dieein beredtes Zeugnis vom Zusammenwirken von SS unddeutscher Industrie ablegen, nicht angemessen in dieGedenkstätte einbezogen werden kann. Gleiches gilt fürdas fast vergessene Jugend-KZ Uckermark, weil die-ses Gelände nach dem Krieg durch die Sowjetarmee ge-nutzt wurde und deshalb nicht als Erinnerungsstätte inder DDR zur Verfügung stand. Das Gelände ist jetzt frei,die Erinnerungsstätte muß neu errichtet werden. Weildie Mittel fehlen, mußten wichtige Forschungsergeb-Dr. Antje Vollmer
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nisse vergangener Jahre unveröffentlicht bleiben. Siealle wissen: Langfristige Forschungsarbeit ist mit ABM-Stellen nicht zu leisten,
sosehr sie für den einzelnen als Alternative zur Arbeits-losigkeit der einzige Ausweg sind.Die Anhörung der Gedenkstättenleiter zum Holo-caust-Denkmal am 20. April im Reichstag in Berlin – sieist schon mehrfach erwähnt worden – machte deutlich,daß es allen bis auf Buchenwald an Haushaltsmitteln fürden elementaren Erhalt der Gebäude mangelt, ganz zuschweigen von der Finanzierung von Forschungsarbei-ten und pädagogischen Mitarbeitern. Alle betonen hin-gegen, daß die Besucherzahlen gestiegen sind, beson-ders die Zahl Jugendlicher. Viele ehemalige Häftlingeführen als Zeitzeugen – 86jährige, 88jährige, im letztenJahr sogar ein 90jähriger – durch die Gedenkstätten undberichten von ihrer Vergangenheit. Authentischere Zeu-gen gibt es nicht.
Viele ehrenamtliche Bürgerinnen und Bürger sind zuFührungen bereit und entlasten somit die kleine Zahl derunterbezahlten hauptamtlichen Mitarbeiter. Bei denenmöchte ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe zu Zeitender DDR an 20 Workcamps mit Gruppen vom Bund derAntifaschisten und mit Aktion Sühnezeichen in Bu-chenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück teilgenom-men. Die Synode meiner Berlin-Brandenburger Kirchehat allen Pfarrern empfohlen, diese Gedenkstätten mitihren Konfirmanden zu besuchen. Eine ganze Konfir-mandengeneration ist in diesen Gedenkstätten geschultworden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Auswahlvon Gedenkstätten, denen gesamtstaatliche Bedeutungzukommt, sind dringlich Ergänzungen nötig. Ich denkevor allem an die KZ-Gedenkstätten Dachau und Neuen-gamme, in denen von westlichen Alliierten Nazitäterinterniert wurden, wie es die SMAD auf Alliiertenbe-schluß hin auch getan hat. Wenn die fatale Nachnutzungin Buchenwald und Sachsenhausen mit großem finan-ziellen Aufwand so ausführlich dokumentiert wurde,sollte eine Dokumentation für Dachau und Neuengam-me nicht unterlassen werden. Das ist nicht nur meineMeinung, sondern auch die der dortigen Gedenkstätten-leiter.
Unvollständig sind die Empfehlungen der Enquete-Kommission auch in bezug auf die bisher vergessenenOpfergruppen. Es gibt in Buchenwald jetzt ein Denkmalfür die ermordeten Sinti und Roma, aber es gibt zumBeispiel keinen Gedenkort für Euthanasieopfer, die etwain Brandenburg, Grafeneck, Hartheim, Sonnenstein undHadamar ermordet wurden.Ausdrücklich unterstützen möchte ich den Staatsmi-nister Naumann in den bei der Anhörung zum Holo-caust-Mahnmal hier in Bonn angesprochenen Bemühun-gen um eine Öffnung des Archivs des InternationalenRoten Kreuzes in Arolsen. Der Zugang zu diesem Ar-chiv würde demokratische Erinnerungskultur in SachenNS-Forschung und damit die Arbeit der Gedenkstättenin erheblichem Maße voranbringen. Doch das muß auchfinanziert werden.Meine Damen und Herren, in Erinnerung bringenmöchte ich noch – das muß an diesem Ort gesagt wer-den dürfen, ohne einen Parteiendisput heraufzubeschwö-ren –, daß die SED/PDS auf ihrem außerordentlichenParteitag im Dezember 1989 beschlossen hat, sich dafüreinzusetzen – ich zitiere wörtlich – „daß den Opfern sta-linistischer Opfer ein bleibendes Gedenken in unsererGesellschaft bewahrt wird“. Das heißt für mich auch,der Opfer in den Gefängnissen Hohenschönhausen undWaldheim zu erinnern und zu mahnen.
Erinnerungskultur ist für mich eine rückhaltlose Auf-deckung des Verlaufs der Geschichte, und deshalb kannes keine Gleichsetzung geben zwischen dem SED-Regime, das sich ohne Blutvergießen aufgegeben hat,und der Nazidiktatur, die – wir wissen das ja alles – ineinem bisher nicht gekannten Ausmaß Menschenlebenaus allen Erdteilen vernichtet hat.
Herr
Kollege Fink, kommen Sie bitte zum Schluß!
Lassen Sie uns doch histo-
risch gewissenhaft bleiben – um der Opfer willen. Die
nächste Generation wird uns dafür historisch-kritisch zur
Verantwortung ziehen.
Ich unterstütze beide Anträge. Meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition und der CDU/CSU,
untersetzen Sie Ihren Antrag mit der Forderung nach
Bundesmitteln in einer diesen Aufgaben angemessenen
Höhe, um dem Anspruch einer demokratischen Erinne-
rungskultur zu genügen!
Als
nächster Redner hat der Kollege Gerd Weisskirchen von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kann garnicht anders sein: Dieses Thema kann nur konsensualbehandelt werden – das zeigt auch die Debatte –, unddas ist gut so. Deswegen werden wir alle uns darauffreuen können, daß Sie, Herr Staatsminister Naumann,in den nächsten Tagen oder Wochen ein geschlossenesGesamtkonzept vorlegen werden. Auf der Grundlagedessen, was er uns vorlegen wird, werden wir im Aus-schuß gemeinsam miteinander darüber reden, welcheSchwerpunkte wir setzen werden.Dr. Heinrich Fink
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Staatsminister Naumann kann auf sehr gute Ergebnis-se zurückgreifen. Er kann auf das zurückgreifen, was dieVorgängerregierung vorgelegt hat. Er kann darauf zu-rückgreifen, daß die Enquete-Kommission unter demVorsitz von Rainer Eppelmann eine wirklich hervorra-gende Arbeit gemacht hat. Lieber Herr Kollege Ko-schyk, Sie waren mit dabei; für uns hat Siegfried Verginverantwortlich daran gearbeitet. Ich finde, das ist einwirklich gutes Fundament.Dieses gute Fundament, das in der letzten Legislatur-periode erarbeitet worden ist, ist für uns eine Verpflich-tung, neue Elemente zu schaffen, damit wir dem gerechtwerden, worauf es jetzt ankommt, nämlich dem schwie-rigen Paradigmenwechsel, der in der Debatte beschrie-ben worden ist. In diesem historischen Einschnitt, wokeine Zeitzeugen mehr da sein werden, wo das, was siean individuellem Gedächtnis, an Wissen, an Erkenntnis-sen über eine schreckliche Zeit mitgeben können, ver-geht und uns zurücklassen, kommt es darauf an, diesenungeheuren Schatz von Erfahrungen und Erkenntnissenzu nutzen und in ein kulturelles Gedächtnis zu verwan-deln.Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Noch einmal:Ich finde, wir haben eine phantastische Grundlage. Ichwünsche mir, daß diese konsensual geführte Debatte aufden verschiedenen Stufen auch konsensual bleibt. Denndas ist ein wichtiger Punkt, den wir gemeinsam festhal-ten dürfen – Frau Kollegin Vollmer, Sie haben daraufhingewiesen –: Wenn Sie sich die Geschichte der Ge-denkstätten in Deutschland, besonders in der Bundes-republik Deutschland, in Deutschland West, inDeutschland alt – wenn ich das einmal so sagen darf –,anschauen, dann werden Sie feststellen, daß sie als Ker-ne des Wissens um die Vergangenheit entstanden sind.Sie wurden zunächst weniger vom Staat gefördert.Vielmehr wurden sie gegen manchen Widerstand derbundesstaatlichen Strukturen, auch der Länder als eineVerankerung dessen installiert, was niemals vergehendarf, nämlich als eine Verankerung der Zivilität der Op-fer, die in der Stunde der Gefahr in den Konzentrations-lagern, in den Stätten, in denen sie grausam behandeltworden sind, ein Zeichen der Zivilität gegenüber einerungeheuren Diktatur gesetzt haben. Das haben sie ge-schaffen, und auf der Grundlage dieses bürgerschaftli-chen Engagements müssen wir weiterarbeiten.
Wir danken also diesen Initiatoren, die die Gedenk-stätten aufgebaut haben. Mit unendlicher Mühe arbeitensie seit vielen Jahren daran, dem Gedenken immer wie-der neues Leben zu geben. Ihre Leistungen sind uner-setzlich. Jetzt kommt es darauf an, daß der demokrati-sche Kulturstaat, also auch der kulturföderale Staat, inder Lage ist, dies aufzunehmen, dieses Wissen alsSchatz zu nutzen, um das, was an Erfahrung, Wissenund Fähigkeiten vorhanden ist, in die Zukunft zu trans-portieren.Es ist nämlich die Fähigkeit, dieses bürgerschaftli-che Engagement der einzelnen, die als Opfer zunächstdarüber empört gewesen sind, daß niemand anders alssie selbst das in die Hand nehmen mußte. Sie haben die-sen Kern des Erinnerns gegen das Vergessen gebildet.Dieser Kern muß jetzt vom demokratischen Kultur-staat verantwortlich aufgegriffen werden. Deswegen binich froh darüber, daß wir gemeinsam den Konsens dahingehend suchen wollen, daß dann auch die Komplemen-tarität der Förderung, auch der finanziellen Förderung,erhalten bleibt. Wir wissen alle, daß wir da manchesauch mit den Ländern werden bereden müssen. Wirwerden also ein Gleichgewicht zwischen denen, die bür-gerschaftliches Engagement leisten, den Ländern – übri-gens auch den Gemeinden – und dem Bund finden müs-sen. Wenn uns das gelingt – ich bin fest davon über-zeugt, daß dies gelingt –, dann, glaube ich, werden wirdas schaffen, worauf es ankommt, nämlich die authenti-schen Erfahrungen in die Gegenwart hineinzunehmenund in die Zukunft mitzunehmen.Die Enquete-Kommission hat alle deutschen For-men der Erinnerung an beide deutsche Diktaturen ge-sichtet, hat sie bewertet und hat an uns Empfehlungengerichtet. Sie greifen wir nun auf.Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein we-sentliches Problem aufmerksam machen, das auch hierin der Debatte schon zweimal aufgetaucht ist, nämlichdas Problem, wie denn die beiden deutschen Staaten –ich sage das jetzt etwas verkürzt –, nämlich die vergan-gene DDR und die Bundesrepublik Deutschland, mitebenjenem Wissen in der ersten Phase ihrer Gründungumgegangen sind. Da gab es auf der einen Seite – wennman das einmal so sagen darf – einen staatlich verord-neten Antifaschismus. Ich bin sehr froh darüber, daßSie auch über die Folgen dessen kritisch nachdenken.Das sind ja gestanzte Schablonen, die vom Staat vorge-geben worden waren. Aber dieser Antifaschismus hatdie ganze Fülle der Ungeheuerlichkeit dessen, womit esdie Opfer zu tun hatten, nicht erfaßt. Auf der anderenSeite gab es – wir im Westen sollten auch selbstkritischsein – so etwas wie einen aufgesetzten Antitotalitaris-mus in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutsch-land. Auch er war so etwas wie eine Schablone, aller-dings nicht staatlich verordnet. Aber er ist in der Kom-munität der Geschichtswissenschaftler so erarbeitetworden. Jetzt kommt es darauf an, daß wir etwas Neueskonstruieren. Denn beide Schablonen taugen nicht mehrals Grundlage für unseren Staat.
Das meine ich in dem Sinne, daß wir keine Schablonenmehr haben wollen. Also weder der staatlich verordneteAntifaschismus noch der aufgesetzte Antitotalitarismuswird uns in diesem Punkt helfen, sondern – jetzt kommeich genau zu dem zurück, was uns die Opfergruppenzeigen – es kommt darauf an, eine neue Form des anti-totalitären Konsenses, wie Jürgen Habermas das ge-nannt hat, nämlich eines wirklich antitotalitären Ver-ständnisses, zu erarbeiten. Dies aber erwächst aus derZivilgesellschaft selbst, erwächst aus der Betroffenheitder Opfer und erwächst aus dem individuellen Gedächt-nis und der Erinnerung der Opfer. Jetzt kommt es daraufan, dieses individuelle Gedächtnis zu transformieren, zuverwandeln in das kulturelle Gedächtnis derer, die ge-Gert Weisskirchen
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meinsam in einer Gesellschaft zusammenleben. Das isteine andere Zugangsperspektive, also nicht mehr, wennSie so wollen, von oben herab, sondern von unten her-auf, aus der Gesellschaft.Aber das wird ein schwieriger Prozeß werden. Dassehen wir auch an allen Debatten. Ich empfehle zumBeispiel, sich das Buch von Helmut Dubiel anzuschau-en, das jüngste, das er geschrieben hat. „Niemand ist freivon der Geschichte“, so ist der Titel dieses Buches. Dasist wohl wahr. Aber worauf es doch ankommt, ist, daßeben jene Grundlage, die neu zu erarbeiten ist, keineGrundlage mehr ist, die – noch einmal – von oben herabzu formulieren wäre, sondern eine, die von unten heraufzu formulieren ist – und übrigens eine, von der ich ver-stehe, daß wir als Parlament einen Beitrag dazu leistenkönnen, nicht in dem Sinne, daß wir der Gesellschaft zudefinieren hätten, wie sie sich in diesem Veränderungs-prozeß selbst versteht, sondern einen Beitrag im, sowürde Habermas dann sagen, gesellschaftlichen Diskurs,also in der gesellschaftlichen Selbstverständigung,schaffen.Was wäre diese gesellschaftliche Selbstverständi-gung? Ich würde sie so formulieren: daß Freiheit undDemokratie, Gerechtigkeit und Menschenwürde, Solida-rität und Menschenrechte die Grundlage ebenjenes neu-en Selbstverständnisses einer zivilen Gesellschaft wer-den müßten. Das ist übrigens das, was uns die Opfer jaauch sagen, was sie uns aus ihrer furchtbaren Erfahrungder Ungeheuerlichkeit zweier Diktaturen mitgeben.Allerdings – da gebe ich Ihnen recht, darüber müßtenwir dann neu debattieren – ist die Erfahrung jener zwei-ten Diktatur manchmal auch verknüpft mit jener der er-sten Diktatur. Was mich immer sehr erschreckt hat, wardie Tatsache, daß manche der Zwangsanstalten, die frü-her Konzentrationslager waren, dann leider von der SEDgenutzt und genommen worden sind als die vergleichba-ren – nicht in der Grausamkeit – Zwangsanstalten, wodie Freiheit in die Gefängnisse geworfen worden ist.Auch darüber müßte man noch einmal neu debattieren,inwiefern jene beiden Diktaturen und die Kritik an ihnendiejenigen sind, die Freiheit verunmöglicht haben. Dasist, glaube ich, der entscheidende Kern, worauf es mei-ner Meinung nach ankommt, nämlich: Die Zivilität einerGesellschaft mißt sich daran, wie beständig die aktiveund demokratische Bürgerschaft daran arbeitet, die Ver-hältnisse gewaltfrei zu verändern.Wenn ich damit schließen darf: Fortschritt, auf den zuhoffen ist, kann durch nichts und niemanden garantiertwerden als durch das eigenverantwortliche Handelneines jeden einzelnen. Immer nur das eigenverantwortli-che Handeln eines jeden einzelnen konstituiert Freiheit.Ohne Freiheit ist eine demokratische Gesellschaft nie-mals lebensfähig. Das haben uns die Opfer gezeigt. Inderen Verantwortung und der Verantwortung dessen,was sie uns über die Zeiten hinweg erzählen, stehen wir.Ich hoffe, wir werden dieses Konzept in diesem Sinnegemeinsam erarbeiten.
Als
letzte Rednerin in dieser Aussprache hat die Kolle-
gin Margarete Späte von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr verehrter HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ver-ehrte Damen und Herren! „Wer sich der Vergangenheitnicht erinnert, lebt ohne Zukunft.“ Ich war 22 Jahre alt,als ich diesen Satz in einen Granit einmeißelte und die-sen Stein unübersehbar auf den Ausstellungsplatz unse-rer Bildhauerwerkstatt im Süden des Bezirkes Sachsen-Anhalt stellte. Das war 1980.Es ist zwei Tage her, daß im Berliner Reichstag dieerste Sitzung des Deutschen Bundestages stattfand, zehnJahre nach dem Fall der Mauer, nach der Öffnung desBrandenburger Tores, durch das ich immer wieder gehe– so auch an jenem Tag – mit dem Gefühl, frei zu sein,dankbar für diese große Chance in meinem wiederver-einten Deutschland.
Erinnern an das, was geschah; Gedenken all derjeni-gen, die dafür gekämpft haben, daß wir heute in einemfreiheitlich demokratischen Staat leben können! Wie un-endlich die Dimensionen dessen sind, was nach zweiDiktaturen in Deutschland geschah, zeigt auch die ge-genwärtige Diskussion zum Denkmal für die ermordetenJuden Europas in Berlin. Gerade deshalb ist es so wich-tig, sich immer wieder dessen zu erinnern, dessen zu ge-denken, zu mahnen und zu bewahren.Ich möchte mich heute in meinem Redebeitrag be-sonders den authentischen Orten der zweiten Diktatur inunserem Lande widmen. Wieviel Erinnern brauchenwir? Wieviel Zeitzeugnisse dieser jüngsten Vergangen-heit sind uns Mahnung? Wieviel Gedenken ist unswichtig?Die Enquete-Kommission „Überwindung der Folgender SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ hateinvernehmlich eine unendlich wichtige Arbeit geleistet,deren Stellenwert man auf Grund des am 17. Juni 1998vorgelegten Berichts nicht hoch genug einschätzen kann.Dafür möchte ich den Mitgliedern dieser Kommissionheute nochmals danken.In Kapitel VI dieses Berichts, „Gesamtdeutsche For-men der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturenund ihre Opfer“, wird auf die vom Deutschen Bundestag1994 formulierten Kriterien, nach denen sich der Bundan Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung be-teiligen kann, ausführlich eingegangen.Der damalige Obmann der SPD in der Enquete-Kommission, Markus Meckel, sagte vor einem Jahr:In unserem Abschlußbericht werden wir auch Vor-schläge für die Förderung von Gedenkstätten, diean die Opfer von SED-Unrecht erinnern, vorlegen.Wir sind der Ansicht, daß sich der Bund nicht, wiebisher geplant, zehn Jahre nach der Einheit aus derFörderung zurückziehen darf.Gert Weisskirchen
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Es ist mir wichtig, Ihnen, Herr Staatsminister Nau-mann, diese Forderung heute ganz groß auf Ihr Ar-beitspapier zum Gesamtkonzept für die unter Bundes-verwaltung stehenden Denkmäler und Gedenkstätten zuschreiben, an dem Sie seit Januar – zunächst nur fürzwei Wochen, nun aber bis zum Sommer diesen Jahres –arbeiten und über das wir sicherlich noch diskutierenwerden. Die Umsetzung dessen sollte für Sie eine wich-tige Aufgabe sein.Mit welch immer wieder bedrückender Aktualität unsdie Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit in derehemaligen DDR einholt, zeigt die gestern durch dieNachrichten verbreitete Meldung, daß an einem weiterenOrt, in Diesdorf, nördlich von Berlin, durch die Gauck-Behörde einmal mehr aufgeklärt werden konnte, welchperfide Werkzeuge von der Stasi erdacht wurden. Fürden Kampf gegen den „westlichen Imperialismus“ ent-wickelte man Terrorkampfmittel wie Sprengtextilienwestlicher Produktion, die, zog man sie an, am Leibeexplodieren sollten, auch Miniatombomben, um diewestliche Stromversorgung lahmzulegen und Atom-kraftwerke zu sabotieren. In einer Dienstanweisungsteht: Auf lautloses Töten ist besonderer Wert zu legen.Viele Menschen aus meiner Heimat leiden noch heuteunter den Folgen des damals geschehenen Unrechts. Wirmüssen den vollen Umfang des Unrechts erkennen. Wirdürfen nichts vergessen.Heute, zehn Jahre nach der Wiedervereinigung, hatdie Natur, hat die jüngere Geschichte unseres LandesGras über den Grenzstreifen, über die innerdeutscheGrenze wachsen lassen, auch über den Todesstreifen. Esdarf aber kein Gras über unsere Erinnerungen wachsen.Es darf sich nie mehr wiederholen, was in 40 JahrenDDR-Regime passiert ist.
Deshalb möchte die CDU/CSU-Fraktion alles daran-setzen, um die Zeugnisse der SED-Vergangenheit zudokumentieren und authentische Stätten des Geschehensden nachfolgenden Generationen in Erinnerung zu hal-ten. Nur in einer intensiven Auseinandersetzung mit derVergangenheit sehe ich eine Chance für unser wieder-vereinigtes Deutschland, die teilweise verzerrte Wahr-nehmung durch eine unterschiedliche Erinnerungskulturin Ost und West in Einklang mit der Wirklichkeit zubringen. Der Weg zur inneren Einheit ist nur über dieAufarbeitung der Vergangenheit zu erreichen.Wir können unsere gemeinsame Zukunft nicht aufIrrtümern, Erinnerungslücken, Beschönigungen und Le-genden aufbauen. Wir brauchen die authentischenZeugnisse der DDR-Vergangenheit; sie müssen denMenschen zugänglich gemacht werden. Fakten statt Le-genden! Beweise, Dokumente und Originalschauplätzegegen das Vergessen! Die Vermittlung historischenWissens an diesen authentischen Orten muß von Gene-ration zu Generation der jeweils neu zu gestaltendenSelbstvergewisserung mitmenschlicher und demokrati-scher Grundlagen individuellen und gesellschaftlichenHandelns dienen. Ohne eine menschliche Vorstellungvon den betroffenen und leidenden Menschen, ohnemenschliche Anteilnahme bleibt die Erinnerung einebloße Abstraktion von Fakten.Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Ge-denkstätten und Mahnmale besonders deutlich. Weiluns die Förderung und der Erhalt eben jener Gedenk-stätten in den neuen Ländern besonders am Herzen liegt,fordert die CDU/CSU mit dem vorliegenden Antrag einefinanzielle Beteiligung des Bundes an den Kosten fürden Erhalt dieser Gedenkstätten, die entsprechend denEmpfehlungen der Enquete-Kommission an den Bun-destag und an die Bundesregierung festgeschriebenwurden und unstreitig den Tatbestand gesamtstaatlicherBedeutung erfüllen.Diesen Empfehlungen möchte die CDU/CSU mit ih-rem Antrag besonderen Nachdruck verleihen. Wir gehendabei noch einen Schritt weiter, nämlich daß insbeson-dere die Gedenkstätte Normannenstraße in Berlin, dieGedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn mit demGrenzdenkmal Hötensleben und die GedenkstätteMünchner Platz Dresden zusätzlich und dauerhaft in denForderungskatalog und damit in die Gedenkstättenkon-zeption des Bundes aufgenommen werden und dadurchderen dauerhafte Förderung mit Bundesmitteln zum Er-halt dieser Gedenkstätten langfristig sichergestellt wird.Das Haus I in der Normannenstraße in Berlin alsehemaliger Sitz des Ministeriums für Staatssicherheitsymbolisiert wie kein anderer Ort in Deutschland au-thentisch und grauenhaft den lautlosen Terror des MfSder 70er und 80er Jahre. Dieses Haus ist damit exempla-risch für die spezifische Form der politischen Verfol-gung im System der DDR-Diktatur. Es war MielkesBrutstätte für psychischen und physischen Terror.Schon oft bin ich mit Besuchern aus meinem Wahl-kreis dort gewesen. Angesichts der kühlen und ge-schmacklos spießig-muffigen Inneneinrichtung sindviele ernüchtert. Es hat den Anschein, als lösten sichnacheinander mehrere Eisenbänder von den Herzen. Eswird jedoch immer wieder bedrückend still, wenn dieMenschen direkt vor den erdachten Instrumenten psy-chischen und physischen Terrors stehen, von denen siesich bisher nur selten ein Bild machen konnten, undwenn die Zeichen und Zeugnisse persönlichen Leids, derTrennungen der Mütter von ihren Kindern, der isoliertenGefangenschaft und der Ungewißheit des einzelnen übersein Schicksal einem heute vor Augen führen, was erstvor wenigen Jahren inmitten des eigenen Lebensumfel-des mit Menschen geschah, die nicht bereit waren, Un-freiheit und Unrecht hinzunehmen.Dieses stille Entsetzen der heutigen Besucher, ver-mischt mit Wut, Trauer, aber auch mit dem neuen be-wußten Erleben von Recht und Freiheit, ist eine Formder sehr persönlichen Auseinandersetzung mit den Fol-gen einer selbst erlebten Diktatur, wie man sie nur an ei-nem solchen Ort begreifbar und erfaßbar machen kann.Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn mitdem Grenzdenkmal Hötensleben ist ebenfalls von großerhistorischer Bedeutung. Marienborn war bis 1990 dergrößte innerdeutsche und alliierte Kontrollpunkt undGrenzübergang. Millionen von Reisenden haben ihn aufihrem Weg über die Transitstrecke nach Berlin sowie imMargarete Späte
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deutsch-deutschen Reiseverkehr passiert. Die ehemaligeGrenzübergangsstelle Marienborn wurde am 13. August1996 als Gedenkstätte vom Land Sachsen-Anhalt einge-richtet und wird bisher auch allein durch das Land fi-nanziert. Marienborn ist nicht nur ein Symbol für dieTeilung Deutschlands, sondern durch seine Lage an derNahtstelle zwischen den beiden Systemblöcken gleich-zeitig ein Synonym für die Teilung Europas. Von dahererachten wir die Erhaltung und Pflege gerade auch die-ser Gedenkstätte als Aufgabe von Bund und Land alsbesonders wichtig.Die Gedenkstätte Münchner Platz Dresden ist dasdritte Projekt. Im Landgerichtsgefängnis am MünchnerPlatz in Dresden waren ab 1934 Sondergerichte undSenate des Volksgerichtshofes ansässig. Die NS-Gerichtsbarkeit sprach hier über 2 000 Todesurteile ausund vollstreckte sie auch hier. Mehr als 1 000 Tschechenwurden an diesem Ort hingerichtet. Nach Kriegsende bis1953 vollstreckten dort sowjetische Militärtribunale To-desurteile. Das Landgerichtsgefängnis in Dresden wardarüber hinaus bis 1956 Schauplatz für Urteilsvollstrek-kungen durch DDR-Gerichte.Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat sich be-reits in der vergangenen Legislaturperiode zur Verant-wortung des Bundes für eine Vielzahl von Gedenkstät-ten in den neuen Ländern bekannt und sich an deren Er-halt und Pflege mit Bundesmitteln beteiligt. Wegen dererst jetzt wieder zugänglichen Archive und Datenmate-rialien besteht in diesem Bereich ein besonders großerForschungsbedarf. Die Zugänglichkeit von authenti-schen Orten ehemaliger Verfolgung und Inhaftierung istMahnung und gleichzeitig Gedenken an die Opfer derDiktatur. Den Opfern widerfährt nicht nur durch materi-elle Entschädigung ein wenig Gerechtigkeit, sondernauch dadurch, daß sie wissen, die Orte ehemaliger Ver-folgung und Inhaftierung werden immer wieder der jun-gen Generation Zeitzeugnis und Mahnung sein.
Wir können Unrecht nicht wiedergutmachen, aber wirkönnen Zeichen guten Willens setzen. Deshalb möchtenwir diese Gedenkstätten als Zeugnisse der Vergangen-heit erhalten und sie dauerhaft im Gedenkstättenkonzeptdes Bundes festschreiben. Uns muß bewußt sein: Maß-stab für die Glaubwürdigkeit der Politik eines wieder-vereinten Deutschlands wird der Umgang Deutschlandsmit seinen Gedenkstätten sein.Vielen Dank.
Ich
schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei-
sung der Vorlagen auf Drucksachen 14/656 und 14/796
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Der Antrag der CDU/CSU auf Drucksa-
che 14/656 soll zusätzlich dem Rechtsausschuß über-
wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 9 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine weitere Unterstützung der Atomkraft-
werke Khmelnytsky 2 und Rivne 4 in der
Ukraine
– Drucksache 14/795 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(federführend)Auswärtiger Ausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angela
Marquardt, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr.
Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Investitionen der Europäischen Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung in Khmel-
nytsky 2 und Rivne 4
– Drucksache 14/708 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(federführend)Ausschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt-
Dieter Grill, Dr. Klaus W. Lippold ,
Cajus Caesar, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Festhalten an den Zusagen zum Bau von si-
chereren Ersatzreaktoren in der Ukraine
– Drucksache 14/819 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(federführend)FinanzausschußAusschuß für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
die Kollegin Monika Griefahn von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Wir befinden uns wieder einmalwenige Tage vor einem Gedenktag. Am Montag jährtsich der Tag des Unglücks von Tschernobyl zum 13.Mal. Die Regierungen der G-7-Staaten und die Europäi-sche Kommission haben im Dezember 1995 in Ottawain einem Memorandum of Understanding ein Pro-gramm beschlossen, mit dem sie die Ukraine unterstüt-zen, die Atomkraftwerke, die um Tschernobyl herumnoch in Betrieb sind, im Jahre 2000 zu schließen.Wir wollen der Ukraine helfen, daß sie dann Alterna-tiven für ihre Energieversorgung zur Verfügung hat. Wirunterstützen dieses Memorandum. Wir unterstützen dieMargarete Späte
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G-7-Staaten. Wir wollen das Aus von Tschernobyl imJahre 2000.
Aber wir wollen diesen Ausstieg ganz, also nicht mit Er-satzatomkraftwerken, sondern mit einem GuD-Kraftwerk und Energieeinspartechnologien.
Das entspricht auch der Least-cost-Lösung, die in demMemorandum of Understanding beschrieben worden ist.Der hier zur Debatte stehende Antrag, den SPD undBündnis 90/Die Grünen eingebracht haben, bedeutet al-so nicht, daß wir aus der Gemeinschaft der G-7/G-8-Staaten ausscheren, sondern daß wir gemeinsam mit denG-7/G-8-Staaten versuchen, den günstigsten Weg füreine neue Energieversorgung in der Ukraine zu finden.In der Zwischenzeit haben sich auch andere europäi-sche Parlamente dafür ausgesprochen, die geplanten al-ternativen Atomkraftwerke in Khmelnytsky und Rivnedurch Gaskraftwerke und Energieeinsparung zu erset-zen. In Großbritannien haben beide Häuser Anträge ge-gen die Unterstützung des Weiterbaus eingebracht. InDänemark gibt es jetzt wieder eine starke Mobilisierungim Parlament. In Österreich ist die Regierung nicht be-reit, den Bau der Atomkraftwerke zu finanzieren. Selbstin Slowenien haben sich jetzt Abgeordnete zusammen-getan und wollen ihre Regierung auffordern, andereEnergieversorgungsmöglichkeiten in der Ukraine voran-zubringen.Das sind ermutigende Signale. Es ist ein politischesSignal aus Europa, Anlagen, wie wir sie mehrfach inosteuropäischen Ländern haben, nicht mehr zu unter-stützen, sondern statt dessen eine Energieversorgung indiesen Staaten mit auf den Weg zu bringen, wie wir sieauch hier in der Bundesrepublik auf den Weg bringenwollen.Bundeskanzler Schröder hat in seiner Regierungser-klärung heute morgen das besondere Verhältnis zwi-schen der NATO und der Ukraine angesprochen. Dieseangestrebte Partnerschaft betrachte ich als äußerst wich-tig für stabile Verhältnisse in Europa. Deswegen ist dieBundesrepublik besonders verpflichtet, die Ukraine da-bei zu unterstützen, ihren Energiesektor und ihre Wirt-schaft zu reformieren.
Wir wollen deshalb die Bundesregierung ermutigen,in Verhandlungen mit den anderen Ländern genau die-sen Weg einzuschlagen, nämlich ein Gas- und Dampf-kraftwerk zu finanzieren, Energieeffizienz und Energie-sparmaßnahmen zu fördern. Die entsprechenden Kostenwären geringer als die, die in dem ursprünglichen An-trag für den Bau alternativer Atomkraftwerke in derUkraine veranschlagt sind.Um die Situation zu verdeutlichen: Wenn wir uns dieStudien anschauen, die zum Beispiel die EuropäischeEntwicklungsbank vorgelegt hat, dann kommen wir zudem Schluß, daß der Fertigbau der beiden Reaktorblök-ke etwa 1,8 Milliarden Dollar kostet. Die Errichtungeines Gas- und Dampfkraftwerks würde nur etwa 1Milliarde Dollar kosten, also rund 800 Millionen Dollarweniger. Außerdem wäre der Zeitraum für die Erstel-lung wesentlich kürzer: Es wird damit gerechnet, daß dieFertigstellung des Gas- und Dampfkraftwerks etwa zweiJahre dauern würde, während die Fertigstellung derAtomkraftblöcke etwa zwischen drei und fünf Jahre –einige sagen: sogar bis zum Jahre 2006 – dauern würde.Über allem steht die Sicherheit. Dies ist ein ganzwichtiges Kriterium; denn wir wissen alle, daß dieAtomkraft nicht fehlerfreundlich ist. Dies kann bei ei-nem Gas- und Dampfkraftwerk wirklich ausgeschlossenwerden.
Ich möchte noch eine wichtige Bemerkung zu denZahlungen machen: Im gesamten Energiesektor derUkraine wurden 1998 nur 16,7 Prozent aller Rechnun-gen bar, 60 Prozent durch Tauschgeschäfte und 23 Pro-zent überhaupt nicht bezahlt. Atomstrom wurde zu4,5 Prozent in bar, zu 53 Prozent durch Tauschgeschäfteund zu 40 Prozent gar nicht bezahlt. Das bedeutet, daßdie Kredite von der Europäischen Entwicklungsbank, ander die Bundesrepublik Deutschland mit 190 MillionenDollar beteiligt wäre, sowie andere Kredite wie Hermes-Kredite, die sich auf insgesamt etwa 880 Millionen DMbelaufen würden, nur durch Stromreimporte ausgleich-bar wären. Das gilt natürlich auch für ein Gaskraftwerk.Aber angesichts der niedrigeren Kosten ist die Wahr-scheinlichkeit, daß der geringere Kredit zurückgezahltwerden kann, tatsächlich höher.Diese Gesichtspunkte sprechen dafür, daß wir dieRegierung auf diesem eingeschlagenen Weg unterstüt-zen. Ich denke, daß wir diesen Ansatz verfolgen sollten,und bin sehr froh, daß wir diesen Antrag gemeinsameingebracht haben.Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Kurt-Dieter Grill von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Mei-ne sehr geehrten Damen und Herren! Frau Griefahn, Siehaben am Schluß Ihrer Rede gesagt, es spreche alles da-für, die Regierung auf ihrem Weg zu unterstützen. Esmuß zunächst aber festgehalten werden, daß die offizi-ellen Stellungnahmen der Bundesregierung, sowohl dieStellungnahmen des Bundeskanzleramtes als auch diedes Bundesfinanzministeriums, der Europäischen Ent-wicklungsbank in London eine klare Unterstützung fürden Bau von K 2 und R 4 in der Ukraine signalisiert ha-ben.Monika Griefahn
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Die Europäische Entwicklungsbank hat sich ausweis-lich der Berichterstattung und den sonstigen Informatio-nen, die mir vorliegen, ausdrücklich noch einmal versi-chert, wie denn die Haltung der G-7-Staaten ist. Wennich richtig informiert bin, dann ist es so, daß HerrKutschma für die Bundesregierung deutlich gemachthat, daß man an den gegebenen Zusagen festhält. DerPunkt ist: Wenn die Regierung von Ihnen unterstütztwürde, bedürfte es des Antrages nicht. Also gibt es of-fensichtlich doch eine Veränderung, die durchaus mehrFragen aufwirft, als daß sie Antworten gibt.
– Das ist ja unbestritten. Ich reagiere doch nur auf das,was heute festgestellt worden ist, Frau Ganseforth. DieWidersprüche darf ich wohl noch aufzeigen.Der Deutsche Bundestag hat sich vor nicht allzu lan-ger Zeit in der Drucksache 13/8391 – das sind die Un-terlagen zur Agenda 2000 – mit der Frage „Osteuropaund nukleare Sicherheit“ beschäftigt. Vielleicht schauenSie einfach einmal in dieses Dokument hinein, das Sieim Bundestag befürwortet haben. Es ist ganz interessant,daß Sie ein Dokument unterschrieben haben, in dem es– bezogen auf die Frage der Kernkraftwerke, die unterEinsatz sowjetischer Technologie errichtet wurden undinternationalen Sicherheitsnormen nicht genügen –heißt:Sie einfach stillzulegen, wäre keine Lösung, dennsie stellen nicht alle dasselbe Risiko dar, und dieKosten für den Aufbau einer alternativen Energie-versorgung wären äußerst hoch. Einige Bewerber-länder haben bereits mit dem Bau neuer Kernkraft-werke begonnen, da sie dies als den kostengünstig-sten Weg zur Deckung des wachstumsbedingt stei-genden Energiebedarfs und zur Erreichung von Un-abhängigkeit im Energiesektor ansehen.Die Union steht unter dem Gebot des Schutzes vonLeben und Gesundheit ihrer jetzigen und künftigenBürger. Das bedeutet, daß die Bewerberländer un-eingeschränkt an den Bemühungen mitwirken soll-ten, die Nuklearsicherheit in ihrem Land auf inter-nationales Niveau zu bringen.Genau das ist der entscheidende Punkt im Hinblickauf Ihre Initiative: Man steht in der Ukraine doch nichtam Beginn des Baus von zwei Kernkraftwerken, son-dern mittendrin!Es ist interessant, daß wir als Abgeordnete eine Ein-ladung der Gesellschaft für Reaktorsicherheit zu einemSeminar über Gesetzgebungsverfahren und Aufsicht aufdem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie mitosteuropäischen Parlamentariern und Behörden bekom-men und Sie zur gleichen Zeit alle Maßnahmen ergrei-fen, um in Osteuropa Sicherheit im Vollzug und im Be-trieb von Kernkraftwerken zu gewährleisten.
– Natürlich ist das ein Widerspruch, und zwar insofern,als Sie heute den Eindruck erwecken, als würden in derUkraine Kernkraftwerke gebaut, von denen ein besonde-res Risiko für uns oder für die Ukrainer ausginge. Dasist nicht der Fall.
Sie haben sich – ich meine das Dokument, das wir ge-stern auch im Ausschuß vorliegen hatten – der Europäi-schen Union angeschlossen, und Sie entziehen nicht nurder Ukraine, sondern auch der internationalen Vereinba-rung, die ja mit gutem Gewissen so verantwortet undgeplant worden ist, im Grunde genommen ein Stück desBodens, auf dem sie steht.Es ist richtig, wenn der Bundeskanzler wie heute mor-gen auf die besondere Bedeutung der Ukraine hinweist.Laut Berichten in der „Berliner Zeitung“ und im „Han-delsblatt“ sowie nach dort zitierten Aussagen des Chefsder Europäischen Entwicklungsbank hat der Bundes-kanzler deutlich gemacht, daß die Verpflichtung zum Bauder Kernkraftwerke in der Ukraine von der Bundesregie-rung eingehalten wird. Es wird noch eines klaren Wortesder Bundesregierung bedürfen, denn nach dem deutsch-französischen Treffen ist es in interessanter Weise zuunterschiedlichen Darstellungen in der Öffentlichkeit ge-kommen: einmal seitens des Finanzministeriums undeinmal seitens des Bundesumweltministeriums. Wenn ichrichtig informiert bin, legen die Franzosen großen Wertdarauf, daß Deutschland in der einmal begonnenen Ver-antwortung bleibt und sich ihr nicht entzieht.
– Ach, wissen Sie, Ihre Vergleiche taugen nicht sowahnsinnig viel, weil Sie letztlich auch an einem Punktsind – ich sage das unter Berücksichtigung manch ande-rer Diskussion, die wir in diesem Hause führen –, andem Sie über die Frage entscheiden müssen, was andereLänder zu entscheiden haben und inwiefern wir daraufEinfluß nehmen. Wenn Sie sich einmal den AnteilDeutschlands an der Gesamtfinanzierung ansehen, dannfinde ich, daß der Deutsche Bundestag etwas zurück-haltender mit der Frage umgehen muß, ob er von sichaus entscheidet, was in der Ukraine gebaut werden darfund was nicht.
Denn wir haben es mit einem Land zu tun, in dem seitnoch nicht allzu langer Zeit in eigenständigen Parla-menten Entscheidungen zur Energiepolitik getroffenwerden können.Die Frage von Gasreaktoren ist mit Sicherheit auchunter psychologischen Gesichtspunkten eine Frage ande-rer Abhängigkeiten, als Sie sie für die Kernenergie hierskizzieren.Ich meine, daß es der Bundesregierung und auch die-sem Hause gut ansteht, die der Ukraine gegebenen Zu-sagen nicht mitten in einem Verfahren zurückzuziehen,deren Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit – wennich das richtig sehe – durchaus noch geprüft werden; soist es ja nicht.Ich plädiere namens meiner Fraktion dafür, daß wirder Ukraine die Möglichkeit einräumen, selbst zu ent-Kurt-Dieter Grill
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scheiden, und dabei sicherstellen, daß das, was dann ge-baut wird, so sicher ist, daß auch wir damit umgehenkönnen. Ich meine, dies ist der richtige Weg und nichtdie Art und Weise, wie Sie versuchen, auf die DingeEinfluß zu nehmen.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Michaele
Hustedt vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur wenigewissen, daß in Jugoslawien in der Nähe von Belgrad einAtomkraftwerk steht. Das ist eine weitere Sorge, die ichmir mache, wenn ich an den Krieg denke.Wir wissen nicht, wie die politische Situation in 10oder 20 Jahren in der Ukraine sein wird. Das ist für michein Grund, warum man in dieser Region keine Atom-kraftwerke finanzieren sollte.
Es gibt einen zweiten Grund. Warum sollten wirAtomstrom aus Kraftwerken russischer Bauart finanzie-ren, der auf Grund der Liberalisierung des Energie-marktes dann für 1,2 Pfennig nach Deutschland trans-portiert wird, wodurch deutsche Arbeitsplätze ver-nichtet werden? Das ist ein zweiter Grund.
Ich nenne einen dritten Grund. Diese Atomkraftwerkesind nicht sicher. Herr Grill, Ihre Bundesregierung hatStendal mit dem Argument abgeschaltet, diese Techniksei nicht akzeptabel.
– Sie haben auch Greifswald abgeschaltet.Es wird, wenn dieser Plan umgesetzt wird, gravierendeMängel im Feuerschutz, bei der Beständigkeit derDruckbehälter und im Kontrollsystem geben. Das west-liche technische Niveau, das auch noch keine Sicherheitgarantiert, aber auf jeden Fall besser ist, ist nicht ge-wollt. Es ist bei diesem Bau auch nicht möglich.Hinzu kommt, daß den Arbeitern zum Teil monate-lang kein Gehalt ausgezahlt wird. Das heißt, die Gefahrmenschlichen Versagens ist hier wesentlich größer alsanderswo.
Die Entsorgungsfrage ist ungelöst. Die Berge vonPlutonium wachsen an, wobei es eine Mafia gibt, die dasin aller Herren Länder verscherbelt.Die Sicherheitsfrage ist auch ein Grund, warum mandort keine AKWs bauen oder finanzieren sollte.Monika Griefahn hat einen vierten Grund genannt: Esist auch billiger, wenn wir dort GuD-Kraftwerke oderEnergieeinsparungen finanzieren. Immerhin soll derdeutsche Bundesbürger ungefähr 3,5 Milliarden DM anSteuergeldern aufbringen. Das sollte dann auch in einersinnvollen Weise verwendet werden.Die Finanzierung von K 2 und R 4 widerspricht demWortlaut des „memorandums of understanding“, weil eseben nicht die finanziell günstigste Möglichkeit ist.Das sind vier gute Gründe dafür, warum wir diesenAntrag gestellt haben, vier gute Gründe, warum dieseBundesregierung im Verhältnis zur alten Bundesregie-rung eine Kurskorrektur vornehmen sollte.Weil wir so gute und überzeugende Gründe haben,Herr Grill, kommen Sie jetzt nur noch mit Hilfsargu-menten. Ich möchte zwei davon aufgreifen.Das eine Argument ist – das haben Sie schon im Aus-schuß und auch hier wieder angeführt –, wir greifen indie Souveränität der Ukraine ein. Zunächst einmalwerden die Auswirkungen eines GAU auch unsere Sou-veränität beeinflussen; denn radioaktive Strahlen kennenkeine Grenzen, und auch wir werden die Folgen tragenmüssen.
Deswegen gibt es ja auch völkerrechtliche Verständi-gungen über die Sicherheit bei Atomkraftwerken unddergleichen mehr.Zweitens war es doch genau umgekehrt. Ich möchteaus einem Brief des Präsidenten der Ukraine, LeonidKutschma, vom 11. Mai 1998 an Tony Blair zitieren, indem er – ins Deutsche übersetzt; er hat natürlich Eng-lisch geschrieben – schreibt:Das Vorhaben, diese Kraftwerke fertigzustellen,wurde von den westlichen Partnern vorgeschlagen,als Alternative zum ukrainischen Vorhaben einesGas- und Dampfturbinenkraftwerks bei Slavutic.
Genauso ist es. Sie haben in die Souveränität einge-griffen, indem Sie mit der Macht des Geldes die ukraini-sche Regierung dazu gezwungen haben, AKWs undnicht ein GuD-Kraftwerk zu bauen. In der Ukraine sind90 Prozent der Bevölkerung gegen AKWs. Nach den Er-fahrungen von Tschernobyl ist das auch keine Überra-schung. Auch die ukrainische Regierung wollte etwasanderes. Sie haben als Gehilfe von Siemens mit derMacht des Geldes die Ukraine dazu gezwungen. Das istein Eingriff in die Souveränität. Wir kehren jetzt zueinem offenen Verfahren zurück.Ich komme zu Ihrem zweiten Hilfsargument. In Ih-rem Antrag behaupten Sie, daß Trittin die Zusage für dieMitfinanzierung des Sarkophags von Tschernobyl zu-rückziehen will. Die Vereinbarung über westliche Hilfefür den Sarkophag des Unglücksblocks 4 von Tscherno-byl steht aber in keinerlei Zusammenhang mit dem„memorandum of understanding“ von 1995; vielmehrberuht sie auf einem separaten Abkommen von 1997.Kurt-Dieter Grill
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Zu keinem Zeitpunkt – das möchte ich hier ganzdeutlich betonen; ich habe mit Herrn Trittin telefoniert;die Staatssekretärin sitzt dort und kann Ihnen das bestä-tigen – hat das BMU in Frage gestellt, daß der Sarko-phag für den zerstörten Block 4 von Deutschland mitfinanziert wird – im Gegenteil. Das Memorandum siehtnur die Schließung der Blöcke 1 bis 3 als Gegenleistungfür die Schaffung von Ersatzoptionen vor, egal ob essich um nukleare oder nicht nukleare handelt. Auch vondiesem Versprechen ist die Bundesregierung nicht abge-rückt, und sie wird davon auch nicht abrücken. Deswe-gen ist Ihr Antrag eine absolut infame Unterstellung. ImNamen der Bundesregierung, des Umweltministeriumsund unserer beiden Fraktionen weise ich sie entschlos-sen zurück.
Ich bin sehr froh über den Antrag der Fraktionen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen. Ich danke auch demUmweltministerium, dem Auswärtigen Amt, demFinanzministerium und auch dem Bundeskanzleramt,daß sie bereit sind, in diesem Punkt mit uns zusammeneine Kurskorrektur vorzunehmen. Es kommt jetzt sehrviel Arbeit auf sie zu, weil es darum geht, diese Zielvor-stellung auch diplomatisch umzusetzen.Der Ukraine muß man die Sorgen nehmen, daß jetztnichts mehr finanziert wird. Man muß mit ihr als Partnersprechen. Man muß mit den G-7-Staaten reden, so daßsich die Position insgesamt ändert. Das wird nicht ein-fach sein, insbesondere deswegen, weil es parallel zumKosovo-Krieg und der geplanten Friedensinitiative ge-schehen soll, an der die Ukraine teilnehmen soll. Aberich glaube, es wird gelingen. Man muß dabei kein di-plomatisches Porzellan zerschlagen. Ich habe zutiefstVertrauen in unsere Ministerien.Diese Kurskorrektur war notwendig. Weitere Projektedieser Art stehen auf der Tagesordnung. Auch die wer-den wir hier diskutieren und konsequent verfolgen. Wirhaben die Möglichkeit, ein neues Kapitel internationalerEnergiepolitik aufzuschlagen und zu signalisieren, daßes Alternativen zu diesen veralteten Technologien gibt.Andere, neue Technologien sind preiswerter, umwelt-freundlicher, beherrschbarer und gerade deshalb für ei-nen weltweiten Einsatz geeignet.Ich möchte auch meinen Kollegen von der SPD, Mi-chael Müller, Monika Griefahn und Horst Kubatschka,außerordentlich für diesen gemeinsamen Antrag danken.Wir haben es wirklich gut gemacht.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ulrike Flach
von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Frau Hustedt, ich muß Ihnen entschiedenwidersprechen. Was uns mit dem Datum vom 20. Aprilin geradezu überfallartiger Form von Rotgrün auf denTisch geflattert ist, zeigt zum wiederholten Male, daßsich diese Regierung in der Energiepolitik in die Isola-tion begibt.
Nachdem sich Herr Trittin mit Paris und London inSachen Wiederaufbereitung angelegt hat, will sich dieRegierung jetzt – auch da widerspreche ich Ihnen ent-schieden – aus dem Konsens der G-7-Staaten zurModernisierung der Kraftwerkstechnik in der Ukraineverabschieden. Die PDS hat ihren Antrag wenigstensrechtzeitig eingereicht. Aber, ehrlich gesagt, das istauch schon das einzig Positive, was ich daran findenkann.Sie sprechen selbst davon, daß die beiden Kraftwerkefast fertiggestellt sind. In der Tat, sie sind zu 80 Prozentfertig. Wenn Sie jetzt die Kredite zurückziehen, dannwird das Projekt, genauso wie Sie es planen, scheitern.Erklären Sie mir bitte einmal die Wirtschaftlichkeit desVorhabens, ein zu 80 Prozent fertiges Projekt abzubre-chen und an seine Stelle den Neubau von Gaskraftwer-ken zu setzen!Was kann geschehen? Die Ukraine wird bilateral mitRußland verhandeln, um kostengünstige Lösungen zurFertigstellung von K 2 und R 4 zu finden. Solche Ver-handlungen, das wissen wir, finden bereits statt. OderTschernobyl wird weiter betrieben, auch eine uns allensicherlich nicht sehr genehme Entwicklung. Kurz, mitder Kündigung der Kredite erreichen Sie Ihr politischesZiel nicht; Sie brechen Verträge, schädigen die deutscheExportwirtschaft und machen die Bundesrepublik zueinem unsicheren Kantonisten in einem europäischenKonsortium.
Bei der Kreditvergabe, Herr Matschie, ist Deutschlandja nicht alleine. Für die Modernisierung von K2 und R4hat sich ein französisch-russisch-deutsches Konsortiumqualifiziert. Haben Sie, Frau Griefahn, mit Frankreichund Rußland über das gesprochen, was Sie uns hierheute vorlegen?
Sind diese Staaten bereit dazu oder gar begeistert vonIhrem Vorschlag, Gaskraftwerke zu bauen? – Ich glaubees nicht, Frau Hustedt.Haben Sie einmal daran gedacht, welche Wirkung Siemit solchen Anträgen in der Ukraine erzielen? Wir bin-den diesen wichtigen Staat in europäische Programmeein und brechen sie kurz vor Ende der Projekte wiederab. Wie können wir von anderen Staaten die erheblichenVorleistungen erwarten, die sie für einen EU-Beitritterbringen sollen, wenn Sie sich wie die Axt im Waldeaufführen?
Ich darf bei dieser Gelegenheit auch noch einmal andie heutige Rede des Bundeskanzlers erinnern, in der erMichaele Hustedt
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die Ukraine erwähnt hat und darauf hingewiesen hat,daß man partnerschaftlich mit ihr umgehen sollte. Erendete mit Bezug auf die osteuropäischen Staaten:Aber sie wollen und sie brauchen auch wirtschaftli-che und soziale Stabilität.Diese, das wissen wir alle, ist besonders von der Ener-gieversorgung abhängig. Also: morgens schöne Redenfür die Medien und abends Anträge, die genau diesesZiel konterkarieren.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie-ßend noch etwas zur Sicherheit sagen. Frau Hustedt, Sieversuchen K2 und R4 aus ureigenstem ideologischenInteresse in die Nähe von Schrottkisten zu rücken, diewir in Osteuropa mit wachsender Sorge beobachten.Hier handelt es sich aber nicht um Schrott – da stimmeich Herrn Grill zu –, sondern um Druckwasserreaktorenmodernerer russischer Bauart. Diese sind dem westli-chen Sicherheitsniveau wesentlich näher, da könnenSie noch so leidend schauen.
Der Kredit, um den es hier geht, zielt darauf ab, dieTechnik weiter dem westlichen Sicherheitsniveau anzu-passen. Die ursprünglich vorgesehene russische Leit-technik soll durch moderne westliche Sicherheitstechnikergänzt und ersetzt werden. Das wissen Sie genauso gutwie wir.Auch die F.D.P. will keine Monostrukturen im Ener-giesektor – es kann nicht nur die Kernenergie geben, dasind wir uns absolut einig –, sondern wir wollen einenvernünftigen Energiemix, auch in der Ukraine. Mit IhrenAnträgen schaden Sie allerdings diesem Ziel. Sie isolie-ren Deutschland weiter in der Energiepolitik, Sie werdenals Vertragspartner unberechenbar und schädigen diedeutsche Exportwirtschaft.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Eva-Maria Bulling-
Schröter von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 26. April jährtsich die Katastrophe von Tschernobyl. Heute haben wirdie Möglichkeit, durch die Annahme des Antrages vonSPD und Grünen, keine Kredite für den Export vonAtomtechnologie in die Ukraine bereitzustellen, ein Zei-chen dafür zu setzen, daß es uns Ernst ist, aus der Atom-kraft auszusteigen.
Nun soll man ja sein Licht nicht unter den Scheffelstellen. Deshalb lassen Sie mich sagen: Ein wenig hatnatürlich die PDS schon mitgeholfen, daß heute dasHaus diese Debatte führt. Man braucht sich nur das Da-tum unserer Drucksache anzuschauen; Frau Flach hattedas ja schon bemerkt.Außerdem hatte ich schon im Herbst letzten Jahreseinen diesbezüglichen Brief an den damaligen Finanz-minister Oskar Lafontaine geschrieben. Vielleicht sindSie aber auch den dankenswerten Appellen der NGOswie Urgewald und WEED gefolgt, die sich in dieserSache aktiv engagiert haben und immer noch engagie-ren. Nun gut, uns ist es lieber, wir stimmen einemAntrag der Regierungskoalition zu, als daß diese eineninhaltlich identischen Antrag von uns ablehnt.Positiv festzuhalten bleibt: Offensichtlich sind Sienoch nicht beratungsresistent; das läßt hoffen. Hoffenwir, daß wir auch in Fragen des heimischen Atomaus-stieges weiterkommen.Die PDS-Fraktion hat am Dienstag beschlossen,einen Gesetzentwurf zur Beendigung der Wiederaufbe-reitung zum 1. Januar 2000 einzubringen. Die zeitlicheNähe der Beratung zum christlichen Pfingstfest läßtmich hoffen, daß Ihnen vielleicht der Heilige Geistrechtzeitig in die Glieder fährt und wir auch dort zueinem positiven Ergebnis kommen.
Nur eines darf nicht passieren: daß, während die An-träge im parlamentarischen Verfahren sind, anderweitigFakten geschaffen werden. Daher möchte ich schon dieöffentliche Zusage von Herrn Finanzminister Eichel ein-fordern, daß er sich auch ohne förmlichen Beschluß desHauses an die politischen Intentionen der Anträge ge-bunden fühlt. Ich erwarte hier eine Antwort.Umweltminister Trittin hat sich am 15. April dazuentsprechend erklärt. Er hat in einem Interview betont,wir müßten für die Sicherung des Sarkophags inTschernobyl finanzielle Mittel bereitstellen und derUkraine und anderen Staaten bei der Lösung ihrer Ener-gieprobleme helfen, ohne sie in die nukleare Sackgassezu führen, auch wenn wir Siemens das Geschäft vermas-seln. Ich denke, das ist richtig. Es gibt Alternativen, wieden Bau von Gaskraftwerken, die ökologisch vertretbarsind, und es gibt auch in Osteuropa Potential zur Ener-gieeinsparung und Effizienzsteigerung. Das ist der Weg,den wir gehen müssen.Noch ein Abschlußsatz zu Herrn Grill. Er sprach vonSouveränität; Frau Hustedt hat das schon aufgegriffen.Ich würde mir wünschen, daß dieses Parlament die Sou-veränität anderer Länder, die Sie betonen, auch in ande-ren Fragen ernst nehmen würde,
zum Beispiel in der Frage des Krieges in Jugoslawien.Noch ein Satz dazu: Es gab in der letzten Legislatur-periode eine Besprechung mit Vertretern des Umwelt-ministeriums aus der Ukraine. Ich habe das schon imUmweltausschuß berichtet. Sie waren einstimmig derMeinung, daß sie alternative Energien wollen. Aber sieUlrike Flach
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haben aus eigener Kraft nicht die Möglichkeit, diese al-ternativen Energien zu finanzieren. Sie werden von dengroßen Banken erpreßt; wir kennen das. Ich denke, mitdiesem Antrag ist ein Schritt in die richtige Richtunggemacht. Deswegen plädiere ich für Zustimmung.
Als
letzter Redner hat das Wort der Kollege Horst Ku-
batschka von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe immergemeint, den Bayern obliege das Recht, auf den Putz zuhauen. Aber Frau Kollegin Flach, Sie haben heute be-wiesen, daß auch Sie das können.
Es sind schon große Worte, wenn Sie von überfallarti-gen Anträgen sprechen. Da muß ich Ihnen natürlich sa-gen, daß Sie offenbar nicht die Presseberichte der letztenZeit gelesen haben. Auch dort ist das die ganze Zeit dis-kutiert worden. Der Begriff Überfall klingt in diesemZusammenhang wirklich recht gewaltig. KollegeMichael Müller hat mir gerade gesagt, er habe seitMontag 1 200 Zuschriften zu diesem Thema bekommen.Bei den Bürgern ist das Thema also angekommen, beiIhnen nicht.Zu Ihnen, Herr Kollege Grill. Sie haben gesagt, vonden Kernkraftwerken in der Ukraine gehe kein besonde-res Risiko aus. Das habe ich schon einmal gehört: vor1986, vor Tschernobyl. Damals hat man gesagt: kein Ri-siko, vergleichbarer Standard wie bei uns. Dann ist derReaktorunfall in Tschernobyl passiert. Man sollte mitdiesen Argumenten doch etwas vorsichtig sein.Wir Sozialdemokraten sind davon überzeugt, daß dieheutige Atomtechnik keine Zukunft hat.
Was wir nicht für zukunftsfähig halten, dürfen wir auchanderen nicht finanzieren. Deswegen bitten wir dieBundesregierung im vorliegenden Antrag, bei der Euro-päischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung dar-auf hinzuwirken, daß keine Kredite für die Atomkraft-werke K 2 und R 4 vergeben werden. – K 2 und R 4 sindübrigens keine Kürzel für Berge und Automarken. –Außerdem bitten wir die Bundesregierung, die Ukrainebeim Aufbau einer effizienteren und sichereren Energie-versorgung ohne Atomkraft zu unterstützen.Auf den außenpolitischen Hintergrund ist bereitsmeine Kollegin Griefahn eingegangen.Bei der Atomtechnik geraten wir in einen gewissenWiderspruch. Auf der einen Seite steht die Souveränitätvon Staaten, auf der anderen Seite stehen die grenzüber-schreitenden Auswirkungen von GAUs. Seit Tscherno-byl wissen wir: Sie sind europaweit.Herr Kollege Grill, wir wollen nicht in das Selbstbe-stimmungsrecht der Ukraine eingreifen. Wir wollenvielmehr selbst bestimmen, was wir finanzieren und waswir nicht finanzieren.
Die Ukraine befindet sich in einer schwierigen Situa-tion. 44 Prozent ihres Strombedarfes werden durchKernenergie abgedeckt. Trotzdem ist die Bevölkerunggegen Atomkraft. Die schlimmen Erfahrungen vonTschernobyl wirken.Die beiden Kernkraftwerke K 2 und R 4 sind zu 80Prozent fertiggestellt. Schöne Bauhüllen! Die Befür-worter eines Weiterbaus argumentieren, auch die restli-chen 20 Prozent müßten noch geschafft werden. Dabeiwird übersehen, daß die Hauptmasse der Finanzierung,nämlich über 3 Milliarden DM, jetzt erbracht werdenmuß. Mit dem Bau der beiden Kernkraftwerke wurde inden 80er Jahren begonnen. Nach Tschernobyl wurde derBau unterbrochen. Die lange Bau- und Stillstandszeitwirkt negativ auf die Kernkraftwerke und deren Sicher-heit.Vor diesem Hintergrund ist jetzt noch – auch aus fi-nanziellen Gründen – ein Umstieg möglich und vor al-lem sinnvoll. Es bestehen außerdem begründete Zweifel,ob der in diesen Kernkraftwerken produzierte Strom inder Ukraine überhaupt benötigt wird. Die Vermutungliegt nahe, daß der dort produzierte Strom nach Westeu-ropa exportiert wird. Der würde dann zu Dumpingprei-sen verkauft werden und unseren Standort gefährden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden jetztnach Alternativen fragen. Die Ukraine wollte eigentlicheine Alternative – Frau Kollegin Hustedt hat darauf hin-gewiesen –: Sie wollte GuD-Kraftwerke. Diese Tech-nik wäre billiger, zuverlässiger und vor allem sicherer.Sie hätte auch den Vorteil, daß sie schrittweise ausge-baut werden könnte, wenn ein etwaiger Bedarf vorhan-den wäre. Zwei große Kernkraftwerke von je 1 000 MWsind in diesem Zusammenhang sehr unflexibel. Der Baubindet außerdem Finanzen, und zwar 3 Milliarden DM.Dieses Geld fehlt beim Einstieg in eine andere Energie-versorgung.Nun noch zum Antrag der CDU/CSU: Nach Aussageder CDU/CSU stehen die Reaktoren kurz vor ihrerFertigstellung. Das ist schlicht und einfach falsch. DieFertigstellung dauert noch mindestens bis zum Jahre2004. Die Kernkraftwerke sind also kein Ersatz fürTschernobyl.In der Begründung des CDU/CSU-Antrages wird aufdie Sarkophag-Sicherung in Tschernobyl eingegan-gen. Ich muß sagen: Da bringen Sie zwei Problemedurcheinander. Das ist ein ganz anderes Problem, dessenLösung wir auf internationaler Ebene angehen sollten.Dies wäre viel wichtiger als der Weiterbau dieser beidenKernkraftwerke. Ich weiß, die Situation für die Bundes-regierung ist schwierig: Die G-7-Staaten hatten zunächstEva-Maria Bulling-Schröter
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den falschen Weg eingeschlagen. Jetzt muß umgesteuertwerden.Ich möchte zum Schluß noch auf zwei Punkte einge-hen:Erstens. Die Reaktoren wären in Westeuropa nichtgenehmigungsfähig. Sie würden bei uns nie gebaut wer-den.Zweitens. Außer in Japan wird zur Zeit in keinem deranderen G-7-Staaten ein neues Atomkraftwerk geplant.Die meisten Industriestaaten verabschieden sich still ausdieser nicht zukunftsfähigen Technik. Wir sollten sie inder Ukraine nicht finanzieren.Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/795, 14/708 und 14/819 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksa-
che 14/795 soll zusätzlich an den Ausschuß für Wirt-
schaft und Technologie sowie an den Ausschuß für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung überwie-
sen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt der heutigen
Sitzung, Tagesordnungspunkt 10, auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Roland Claus, Wolfgang
Gehrcke, weiteren Abgeordneten und der Frakti-
on der PDS eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetz-
– Drucksache 14/554 –
Überweisungsvorschlag:
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Meine Damen und Herren, den Opfern der NS-Gewaltherrschaft angemessene Entschädigungen zu ge-währen bleibt die fortwährende Aufgabe auch des verei-nigten Deutschlands.
Das gilt für die staatlichen Institutionen in besondererWeise; das gilt aber auch für die Wirtschaft und die ge-samte Gesellschaft.
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen diese Aufga-be leisten. Es ist eine Aufgabe des gesamten deutschenVolkes.Wir müssen uns dabei auch immer wieder bewußtmachen – und gelegentlich vielleicht auch kritisch undleise hinterfragen –, inwieweit begangenes NS-Unrechtdurch staatliches Handeln und normative Rechtssetzungüberhaupt jemals im eigentlichen Wortsinne wiedergut-gemacht werden kann;
denn das Ausmaß der Verletzung der Würde des Men-schen, seiner Freiheit und seiner persönlichen Integritätläßt sich letztendlich nicht in geldwerter Entschädigungausdrücken oder gar aufwiegen.Der Deutsche Bundestag diskutiert in diesen Wo-chen und auch heute abend, in welcher Form den Op-fern des Holocaust mit einem in unserer wiederver-einigten Hauptstadt Berlin zu errichtenden Mahnmaloder Denkmal auch für zukünftige Generationen wür-dig und bleibend gedacht werden kann. Da ist es, wieich meine, Aufgabe und Verpflichtung zugleich, zu-mindest den noch lebenden Opfern des NS-Un-rechtsregimes für das erlittene Unrecht, für die mas-senhafte Verletzung ihrer Menschenwürde die Hilfezuteil werden zu lassen, die heute nach über 50 Jahrenmenschlich noch möglich ist.
In der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD undBündnis 90/Die Grünen heißt es daher unter der Über-schrift „Rehabilitierung und Entschädigung“:Die neue Bundesregierung wird ... unter Beteili-gung der deutschen Industrie eine Bundesstiftung„Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“ auf denWeg bringen.Meine Damen und Herren, Sie können sicher sein: Indiesem Sinne werden die Koalitionsfraktionen in diesemHohen Hause auch initiativ werden.
Wir würden der Bedeutung dieser Aufgabe aber, wieich meine, nicht gerecht werden und es wäre völlig un-angemessen und unzumutbar, wollte der Gesetzgeber dieheute noch lebenden Opfer von Zwangsarbeit in der NS-Zeit nunmehr auf das Zivilrecht und damit, Frau Kenz-ler, sozusagen auf die Rechtsordnung für den NormalfallDr. Evelyn Kenzler
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2884 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999
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verweisen, das heißt verweisen auf die individuelleDurchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegen die Fir-men oder Privatpersonen bzw. deren Rechtsnachfolger,die die Zwangsarbeiter seinerzeit beschäftigt haben.Das durch Zwangsarbeit erlittene Unrecht kann nachmeiner Überzeugung nicht im Wege der zivilrechtli-chen Subsumtion wiedergutgemacht werden. Bereitsdie zivilrechtliche Analyse möglicher individueller An-sprüche zeigt, daß sich bei Anlegen normaler zivilrecht-licher Maßstäbe nicht sicher sagen läßt, ob und welcheAnsprüche auch nur dem Grunde nach gegen Unterneh-men oder Privatpersonen bestehen, die Zwangsarbeiterbeschäftigt haben. Die Rechtslage ist insoweit äußerstkomplex. Das gilt sowohl für mögliche Ansprüche ausVertrag, Geschäftsführung ohne Auftrag, zivilrechtlicherAufopferung, Delikt oder ungerechtfertigter Bereiche-rung. Das gilt aber bereits ebenso für die Frage der zi-vilprozessualen Zulässigkeit derartiger Klagen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst bei Annahmezum Beispiel eines deliktischen Ersatzanspruches demGrunde nach: Wie sollte heute, nach über 50 Jahren, eindeutscher Richter, der die NS-Zeit nur aus dem Ge-schichtsunterricht kennt, zum Beispiel bei der Prüfungeines Schmerzensgeldanspruches der Höhe nach gemäߧ 847 BGB im Einzelfall das Ausmaß des erlittenen Un-rechts unter dem Gesichtspunkt der Genugtuungs- undAusgleichsfunktion unseres Schadensersatzrechtes an-gemessen abwägen? Dies ist insbesondere deshalb mitunübersehbaren Problemen behaftet, da die Zwangsar-beiter in ganz unterschiedlichen Bereichen der Wirt-schaft, der Landwirtschaft und selbst in privaten Haus-halten eingesetzt worden sind.Auch ihre Behandlung ist unterschiedlich gewesen.Während Betroffene aus Westeuropa vergleichbareLöhne wie Deutsche erhielten, bekamen insbesondereOstarbeiter keine oder nur geringe Bezahlung. Amschlechtesten ging es den jüdischen Sklavenarbeitern.Von ihnen sind die meisten in der Zwangsarbeit zu Todegekommen. Das heißt: Ersatzansprüche für die Ab-kömmlinge? Nach welchem Maßstab? Ich meine, ein fürdie Opfer entwürdigender Vorgang; aber auch eine fürden zur Entscheidung berufenen Richter mit der erlern-ten Subsumtionstechnik kaum zu leistende Aufgabe. Zuwelch unterschiedlichen Einzelergebnissen würde es da-bei von Gericht zu Gericht kommen! Auch dies ist einenicht zumutbare Folge der zivilrechtlichen Lösung.Zudem kämen in einem Zivilrechtsstreit in vielenVerfahren kaum lösbare Probleme der Beweisführungund der Beweislast angesichts des Zeitablaufs von Jahr-zehnten seit dem zu beurteilenden Sachverhalt hinzu.Quälend lange Verfahren, womöglich durch mehrere In-stanzen, wären die notwendige Folge. Es würde Jahredauern, bis sich eine Vereinheitlichung der Rechtspre-chung herausgebildet hätte. Diese Zeit ist nicht mehr ge-geben, für die überwiegende Mehrheit der Opfer vonNS-Zwangsarbeit bereits auf Grund ihres Lebensaltersnicht mehr. Für die Bundesrepublik Deutschland ist die-se Zeit über fünf Jahrzehnte nach dem begangenen Un-recht und dem Ende der NS-Diktatur aber gleichfallsnicht mehr gegeben. Unser Ansehen würde national undinternational Schaden nehmen. Die zunehmenden öf-fentlichen und politischen Reaktionen aus dem Auslandsowie die in den USA vermehrt erhobenen Sammelkla-gen belegen dies mit Nachdruck. Im übrigen gibt es –worauf Sie zu Recht hingewiesen haben – Sammelkla-gen zwischenzeitlich auch vor deutschen Gerichten.Es ist daher zu meiner Überzeugung der falsche An-satz, die angemessene Entschädigung von noch lebendenZwangsarbeitern aus der NS-Zeit unter dem Gesichts-punkt einer Sonderregelung über die Verjährung mögli-cher deliktischer Ansprüche von NS-Zwangsarbeitern zudiskutieren, wie es der Gesetzentwurf vorsieht, den diePDS heute eingebracht hat.Damit komme ich auch zu dem eigentlichen Inhaltder uns vorliegenden Initiative der PDS-Fraktion. DurchErgänzung des § 852 Abs. 1 BGB sollen deliktische An-sprüche aus geleisteter Zwangsarbeit in Deutschlandbzw. des Einflußgebietes während des nationalsozialisti-schen Unrechtsregimes von 1933 bis 1945 unabhängigvon der dreijährigen Verjährungsfrist erst am 8. Maides Jahres 2005 verjähren. Hierdurch soll nach Auffas-sung der PDS, wie eben ausgeführt worden ist, der inKürze drohende Ablauf der Verjährungsfrist verhindertwerden. Aber bereits die Prämisse ist meines Erachtenshöchst zweifelhaft. Zum einen ist es der Systematik desBGB fremd, innerhalb ein und desselben Anspruchsty-pus unterschiedliche Fallgruppen des Verjährungsein-trittes zu begründen. Zum anderen: Entweder sind dieAnsprüche bereits verjährt, nämlich wenn die dreijährigeVerjährungsfrist gilt, oder aber, wenn die 30jährigeVerjährungsfrist gilt, wir haben, von 1990 an gerechnet,bis zum Jahre 2020 Zeit.Die Verjährungsfrist für Ansprüche aus unerlaubterHandlung im Sinne des Gesetzesantrags zu verlängernmacht, wie ich ausgeführt habe, zudem nur Sinn, wennwir die Betroffenen wirklich auf den Zivilrechtsweg unddie Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche verwei-sen wollten. Das kann, wie ich versucht habe auszufüh-ren, jedoch nicht ernsthaft erwogen werden. Jedem Be-troffenen würde ein quälender Zivilprozeß mit einemunter Umständen völlig unbefriedigenden und unange-messenen – möglicherweise negativen – Ergebnis zu-gemutet. Ebenso würde den in Anspruch genommenendeutschen Unternehmen und Privatpersonen über Jahreein nicht hinnehmbarer Zustand der Rechtsunsicherheitzugemutet.Aus diesem Grunde vermag die SPD-Fraktion demGesetzentwurf der PDS nicht zuzustimmen. Es ist derfalsche Weg zu dem sicherlich gewünschten Ergebnis.Es muß vielmehr unsere Aufgabe sein, eine Lösung zufinden, bei der es auf die Zivilrechtslage und damitletztlich auch auf die Verjährungsfrage überhaupt nichtankommt.Nach meiner Überzeugung ist es daher die Aufgabedieses Hohen Hauses, neue, originäre Ansprüche jedesBetroffenen für eine angemessene individuelle Entschä-digung zu schaffen.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt daher die diesbe-züglichen Bemühungen der Bundesregierung, unter Ein-Joachim Stünker
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. April 1999 2885
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beziehung deutscher Unternehmen eine Stiftungsinitia-tive „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ aufden Weg zu bringen.Diese Initiative der Wirtschaft versteht sich als un-mittelbare gesellschaftliche Ergänzung zur staatlichenWiedergutmachungspolitik der vergangenen Jahre. Siesoll Rechtssicherheit und Rechtsfrieden schaffen unddazu beitragen, den Ruf und das Ansehen unseres Lan-des und der deutschen Wirtschaft zu schützen. Hiermitmüssen wir am Ende des Jahrhunderts gesamtgesell-schaftlich ein abschließendes materielles Zeichen setzen,ein Zeichen aus Solidarität, Gerechtigkeit und Selbst-achtung.
– Wir sind ja dabei.Mit dieser Stiftungsinitiative sollten drei Ziele ver-folgt werden: erstens eine Antwort auf die moralischeVerantwortung aus den Bereichen der Zwangsarbeiter-beschäftigung zu geben, zweitens aus diesem Verständ-nis der NS-Vergangenheit humanitäre und zukunftswei-sende Projekte zu fördern und drittens dadurch eineGrundlage zu schaffen, um Klagen, insbesondere Sam-melklagen, zu begegnen und Kampagnen gegen den Rufunseres Landes und unserer Wirtschaft den Boden zuentziehen.Diese Initiative könnte aus zwei gleichgewichtigenTeilen bestehen. Der erste Teil ist ein humanitärer Fondszugunsten von ehemaligen Zwangsarbeitern und anderenNS-Geschädigtengruppen; der zweite Teil ist eine ge-eignete Zukunftsstiftung für Projekte, die eine Bezie-hung zur Veranlassung dieses Fonds haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte es zumAbschluß noch einmal betonen: Die Zeit drängt. Auchdiese Initiative sollte mit Unterstützung des DeutschenBundestages – ebenso wie die Diskussion über das Ho-locaust-Denkmal – noch in diesem Jahr zu einem erfolg-reichen Abschluß kommen, damit angesichts des hohenAlters der Betroffenen noch in diesem Jahr schnell undwirksam geholfen werden kann. Helfen können wir aberin diesem Fall mit einer fragwürdigen Verlängerung derVerjährungsfrist in § 852 BGB nicht. Die gesamteInitiative dieses Hauses muß darauf gerichtet sein, mitdazu beizutragen, den Opfern neue und, wie ich meine,originäre Ansprüche zu verschaffen.Schönen Dank.
Herr
Kollege Stünker, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede vor dem Deutschen Bundestag. Herzlichen
Glückwunsch.
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Wolfgang
Götzer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Frageder Entschädigung für Zwangsarbeit während des zwei-ten Weltkriegs beschäftigt den Deutschen Bundestag seitvielen Jahren. So hat zum Beispiel auf Aufforderung desBundestags die Bundesregierung in der 11. Wahlperiodeüber private Initiativen berichtet, die im Zusammenhangmit Zwangsarbeit während des zweiten Weltkriegsergriffen wurden. In einer Entschließung vom 31. Okto-ber 1990 hat der Deutsche Bundestag die Bundesregie-rung aufgefordert, zu prüfen, ob eine Fondslösung fürEntschädigungsleistungen an Zwangsarbeiter aus demzweiten Weltkrieg möglich ist, außerdem Kontakt mitder Privatwirtschaft aufzunehmen und sie zu fragen, obsie zu solchen Leistungen bereit ist, und die Höhe derbenötigten Mittel festzustellen. Der entsprechende Be-richt der Bundesregierung wurde am 21. Januar 1992abgegeben.In seiner Entschließung vom 24. Februar 1994 hat derDeutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert,umfassend über bisherige Wiedergutmachungsleistun-gen deutscher Unternehmen zu berichten, ferner alleUnternehmen anzuschreiben, bei denen oder bei derenRechtsvorgängern Zwangsarbeiter beschäftigt wordensind, und diese Unternehmen aufzufordern, nach Mög-lichkeiten zu suchen, eine der gegründeten Stiftungenfinanziell zu unterstützen. Dabei hat der Deutsche Bun-destag seine Aufforderung an Bundesregierung undWirtschaft bekräftigt, daß insbesondere diejenigen Un-ternehmen der deutschen Wirtschaft, in denen oder inderen Rechtsvorgängern Zwangsarbeiter tätig waren,finanzielle Beiträge zu den gegründeten Stiftungen lei-sten sollten.Die Bemühungen um eine Fondslösung sind, wiejeder weiß, im vollen Gange, und ich hoffe, daß siemöglichst bald zu einem zufriedenstellenden Abschlußgebracht werden können. Denn wir alle sind uns einig,daß diesen Menschen großes Unrecht zugefügt wordenist, das mit Geld ohnehin nicht im eigentlichen Sinnewiedergutzumachen ist.Was den vorliegenden Antrag der PDS angeht, somöchte ich hierzu folgendes feststellen: Der Antrag derPDS beschränkt sich inhaltlich nur auf die Frage derVerjährung nach § 852 BGB, also auf Schadenersatzan-sprüche aus unerlaubter Handlung. Eine solche Be-schränkung ist für mich nicht nachvollziehbar. Denn In-dividualansprüche können sich auch aus anderenRechtsgründen ergeben, zum Beispiel zivilrechtlicheoder öffentlich-rechtliche Aufopferungsansprüche oderAnsprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung.
– Herr Kollege, das Stichwort Nachbesserung ist ja,glaube ich, das meistgebrauchte Wort in dieser neuenLegislaturperiode. Es steht Ihnen also nichts im Wege,Ihren Antrag nachzubessern.Rechtlich beruht der Antrag der PDS auf einer Min-dermeinung in der Literatur, nach der die Verjährungs-frist des § 852 BGB durch die in der Nachkriegszeitherrschende Rechtsauffassung gehemmt worden sei,nach der individuelle Ansprüche von ZwangsarbeiternJoachim Stünker
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ausgeschlossen waren: Die Gerichte haben damals, inder Nachkriegszeit, Klagen ehemaliger Zwangsarbeiterunter Berufung auf § 5 Abs. 2 des Londoner Schulden-abkommens vom 27. Februar 1953 als „zur Zeit unbe-gründet“ abgewiesen. Die damals herrschende Meinungvertrat die Ansicht, es sei völkerrechtlicher Grundsatz,daß der aus Kriegs- und Besatzungshandlungen erwach-sende Schaden nur durch Reparationen von Staat zuStaat unter Ausschluß von individuellen Ansprüchen ab-zugelten sei. Deshalb – so die Mindermeinung – wäreauf jeden Fall die Verjährung aus Rechtsgründen ent-sprechend § 202 BGB gehemmt gewesen.Dies – so weiter die Mindermeinung – gelte aber nurbis zur Verkündung des Beschlusses des Bundesverfas-sungsgerichts vom 13. Mai 1996. In dieser Entscheidungdas Bundesverfassungsgericht in einem obiter dictumfestgehalten, daß es keine Exklusivität zwischenstaatli-cher Vereinbarungen zur Regelung von kriegsbedingtenEntschädigungszahlungen gibt, sondern daß Ansprüche,die das deutsche Recht gewährt, daneben bestehen kön-nen.Dieser Auffassung steht meines Erachtens jedochentgegen, daß § 202 BGB hier kaum anwendbar seindürfte. § 202 BGB betrifft die Hemmung der Verjährungaus Rechtsgründen und beruht auf dem Gedanken, daßdie Zeit, während der der Gläubiger den Anspruch we-gen rechtlicher oder tatsächlicher Hindernisse vorüber-gehend nicht geltend machen kann, bei sachgerechterInteressenabwägung nicht in die Verjährungsfrist einbe-zogen werden darf. § 202 BGB greift auch dann ein,wenn der Geltendmachung des Anspruchs ein vorüber-gehendes rechtliches Hindernis entgegensteht, das nichtauf einer Einrede im technischen Sinn beruht. Hierbeimuß das rechtliche Hindernis aber auf seiten desSchuldners vorliegen.Zweifel an der Rechtslage oder eine anspruchsfeind-liche ständige Rechtsprechung sind aber nach ganz herr-schender Meinung keine Hemmungsgründe im Sinneder §§ 202 oder 203 BGB, da ansonsten jede Änderungin der ständigen Rechtsprechung auf längst abgeschlos-sene Sachverhalte zurückwirken würde und beispiels-weise Ansprüche, denen eine unrichtige ständige Recht-sprechung entgegensteht, auf diese Weise praktisch un-verjährbar wären. Schon aus diesen Gründen ist dem-nach der PDS-Antrag abzulehnen.Im übrigen glaube ich – und auch da stimme ich mitmeinem Vorredner überein –, daß den Betroffenen miteiner Fondslösung besser geholfen werden kann als mitlangwierigen, kostspieligen und juristisch äußerst kom-plizierten Gerichtsverfahren, die wir gerade diesem Per-sonenkreis nicht zumuten sollten.
Als
nächster Redner hat der Kollege Winfried Nachtwei
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In denletzten Jahren haben wir als Bündnis 90/Die Grünen dieVerbände der Opfer massiv unterstützt, wenn sie in Kla-gen gegen Firmen oder die damalige Bundesregierungihre Ansprüche geltend machen wollten. Wie bekannt,hat die alte Bundesregierung und zur damaligen Zeitauch die deutsche Industrie nicht die notwendige Ver-antwortung für die Opfer übernommen. Das gilt für dieneue Bundesregierung nicht mehr.Wir drängen bei der Industrie darauf, daß möglichstschnell und unbürokratisch die dort früher eingesetztenZwangsarbeiter eine Entschädigung bekommen, undzwar durch die Bildung eines Fonds, der möglichst engmit einer zweiten Initiative verkoppelt werden muß: mitder in der Koalitionsvereinbarung festgelegten Bun-desstiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“.Wir stehen seit vielen Jahren in engem Kontakt mitden Verfolgtenverbänden in Deutschland, mit interna-tionalen jüdischen Opferverbänden und auch mit Ver-folgtenverbänden in Osteuropa sowie mit diplomati-schen Vertretungen osteuropäischer Staaten.Dabei ist deutlich geworden, daß wegen des hohenAlters und der Armut vieler Opfer der folgende Grund-satz praktisch Allgemeingut ist: Wir dürfen die Opfernicht in neue juristische Verfahren mit ungewissemAusgang schicken, die über viele Jahre dauern und derenEnde sie nicht mehr erleben werden. Und wir wissen,daß viele Opfer die Kosten eines solchen Verfahrensnicht tragen können.Von daher haben die Opferverbände, insbesonderewenn es sich um Initiativen aus Osteuropa handelte, dieVerfahren vor deutschen Gerichten vor allem als eineForm der Öffentlichkeitsarbeit angesehen, um auf ihre be-rechtigten Anliegen aufmerksam zu machen. Das ist ihrgutes Recht; wir unterstützen sie auch weiterhin dabei.Wir haben sie auch in den letzten Jahren darauf auf-merksam gemacht, welche neuen, aber auch sehr be-grenzten rechtlichen Chancen die Rechtsprechung desBundesverfassungsgerichts vom Mai 1996 eröffnet hat.Allerdings haben wir den Betroffenen nie Illusionengemacht, daß sie im Prozeß auch Recht bekommen wer-den. Wer sich nämlich mit der komplizierten Materieeinigermaßen auskennt, der kann niemanden ermuntern,einfach ein mal in einen solchen Prozeß zu gehen.Wenn wir nun versuchten, das BGB so zu reformie-ren, daß die Verjährungsfrist verlängert wird, nährtenwir die Illusion, die Opfer würden auf dem Klageweg zuihrem Recht kommen, und das noch in einem über-schaubaren Zeitraum. Wir sind da aber sehr skeptisch.Die Industrie hat schon jetzt angekündigt, daß sie dannden Instanzenweg beschreiten würde. Eine rechtskräfti-ge Entscheidung über alle Instanzen wird nach bisheri-gen Erfahrungen fünf bis acht Jahre benötigen. Ob dieOpfer dies durchhalten, ist völlig offen.Schließlich aber wollen wir der Industrie keinenVorwand dafür schaffen, nichts in den Industriefondsoder in die Bundesstiftung zu zahlen. Dies würde un-weigerlich passieren. Man würde wiederum sagen: Wirwarten ab, wie das Gesetz genau aussieht, für welcheBereiche es paßt usw. Die Industrie würde wieder – soauch die Äußerungen wegen der in den USA anhängigenDr. Wolfgang Götzer
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Verfahren – mit dem Argument kommen: Wir könnennichts in einen Fonds zahlen, wenn wir nicht wissen, obwir nicht zeitgleich auch noch verklagt werden. Genaudieses Schlupfloch der angeblich notwendigen Rechtssi-cherheit wollen wir der Industrie nicht bieten. Auch wirärgern uns darüber, daß die deutsche Industrie mit die-sem Argument offenbar nach wie vor hantiert, wenn esum die in den USA anhängigen Klagen geht, für die üb-rigens die deutschen Verjährungsfristen überhaupt keineBedeutung haben.Aus all diesen Gründen, und zwar ausdrücklich nurzum Schutz der Opfer, haben wir den Weg der Bun-desstiftung gewählt und drängen wir die Industrie zuihrem Fonds. Wir wollen die Opfer nicht weiter auf denKlageweg verweisen und ihnen Illusionen über eine aus-sichtsreiche Gerichtsentscheidung machen. Wir wolleneine politische Lösung, die die Verantwortung des Par-laments, der Bundesregierung, auch der Länder undKommunen sowie der Privatwirtschaft umfaßt. Deshalbwerden wir diesen Gesetzentwurf der PDS nicht unter-stützen.Nehmen wir hinzu, daß die PDS zum gleichen Themajust vor einer Woche einen unausgereiften Gesetzent-wurf – damals zum Einkommensteuergesetz – einge-bracht hat, stellen wir ernsthaft die Frage, ob mit dieseneilig eingebrachten Vorstößen die Initiative der deut-schen Industrie und der Bundesstiftung torpediert wer-den sollen.
Die ehemaligen Zwangsarbeiter brauchen endlicheine würdige und angemessene Entschädigung. Der Ge-setzentwurf der PDS leistet dazu leider keinen konstruk-tiven Beitrag. Im Gegenteil!Danke.
Als
letzter Redner hat der Kollege Rainer Funke von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Der Antrag der PDS beschäftigt sich
zweifellos mit einem sehr ernst zu nehmenden Problem,
nämlich der Schadensersatzforderung für Zwangsarbeit
während des zweiten Weltkriegs. Dieses Problem ist
virulent geworden nicht nur durch einzelne Klagen frü-
herer Zwangsarbeiter vor deutschen Gerichten – diese
sind in der Regel abgewiesen worden, zumindest in
zweiter Instanz –, sondern auch durch Sammelklagen
einiger Geschädigter in den USA. Es ist auch nicht ab-
zuschätzen – auch das muß einbezogen werden –, in
welchem Verhältnis die Sammelklagen, möglicherweise
auch deren Erfolg, zu den späteren Regelungen in der
Bundesrepublik stehen werden.
Es ist zu begrüßen, daß diese Probleme 54 Jahre nach
Kriegsende gelöst werden sollen. Die PDS versucht dies
über die Verjährungsfrist. Ich glaube, daß der Weg der
Koalitionsfraktionen richtiger ist, nämlich die Lösung
über eine Bundesstiftung.
Dieses Problem auf die juristische und dann noch auf die
zivilrechtliche Ebene zu schieben, dürfte im Ergebnis we-
nig sachdienlich sein. Das hängt sicherlich auch damit zu-
sammen, daß eigentlich politische Problemstellungen
durch noch so gute Gesetze wohl kaum geregelt werden
können. Das sage ich auch ausdrücklich als Jurist.
Juristisch stellen sich nämlich so viele Fragen, daß
man sie in der Kürze der Zeit gar nicht lösen kann. Dar-
auf hat der Kollege Stünker in seiner beachtenswerten
Rede zu Recht hingewiesen. Ich erspare mir, auf Ihre
Rede im einzelnen einzugehen, weil Sie, Herr Kollege
Stünker, fast alles aufgelistet haben. Ich möchte nur zu-
sätzlich auf das Verhältnis zwischen Völkerrecht, insbe-
sondere der Regelungen des Londoner Schuldenab-
kommens, und den zivilrechtlichen Ansprüchen der Be-
troffenen hinweisen. Man spricht ja von der Exklusivität
des Völkerrechtes. Dann stellt sich die Frage, inwieweit
das Zivilrecht noch betroffen sein kann. Muß es nicht
eine generelle Lösung der Kriegsfolgenregelung geben,
so wie es im Londoner Schuldenabkommen vorgesehen
ist? Auch mit dieser Frage müssen wir uns sicherlich in
dieser Legislaturperiode beschäftigen.
Die Anspruchsgrundlagen – vom Deliktrecht über das
Bereicherungsrecht bis hin zum Arbeitsrecht – sind so
umfangreich und so schwierig, daß ich nicht wage zu
beurteilen, wie die Gerichte in fünf, acht oder zehn Jah-
ren entscheiden werden. Das ist in der Tat, Herr Kollege
Nachtwei, den Betroffenen auch nicht zuzumuten. Des-
wegen glaube ich, daß der gerichtliche Weg der falsche
Weg wäre. Insoweit schließe ich mich dem Kollegen
von der CDU/CSU-Fraktion an. Hier muß ein politischer
Weg gefunden werden. Diesen Weg werden wir ge-
meinsam in den Beratungen des Bundestags finden. Ich
hoffe, daß wir dann zu einer allseits befriedigenden Lö-
sung gelangen werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-
entwurfes auf Drucksache 14/554 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 23. April 1999, 9 Uhr
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.