Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Die Sitzung ist eröffnet.
Ich bin soeben gebeten worden, die Sitzung sofort
wieder zu unterbrechen. Minister Schily ist offensicht-
lich verhindert.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die Sitzung ist wie-
der eröffnet. Der Minister ist eingetroffen.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord-
nung um die Abgabe einer Erklärung durch die Bundes-
regierung zu den gewalttätigen Aktionen aus Anlaß der
Verhaftung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan zu
erweitern. Sind Sie mit dieser Erweiterung der Tages-
ordnung einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so
beschlossen.
Damit rufe ich den Zusatzpunkt 1 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zu den gewalttätigen Aktionen aus Anlaß der
Verhaftung des PKK-Vorsitzenden Abdullah
Öcalan
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung
eine Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden?
– Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Innern, Otto Schily.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Ich bitte Sie zunächstum Entschuldigung für die Verspätung. Es ist mir etwaspassiert, was vielleicht auch einigen anderen schon ein-mal passiert ist: Ich bin in einen Stau auf der Autobahngekommen. Das kann der eine oder andere mir vielleichtnachsehen.Angesichts der mit äußerster Brutalität ausgeführ-ten gewalttätigen Aktionen fanatisierter Anhänger derkurdischen Arbeiterpartei PKK in den letzten Tagenappelliert die Bundesregierung an alle in Deutschlandlebenden Kurden: Tragen Sie Ihre Konflikte nicht inDeutschland aus!
Wie alle rund zwei Millionen türkischen Staatsbür-ger, die in Deutschland leben, sind auch die mehre-ren hunderttausend Kurden unter ihnen willkom-mene Gäste und Mitbürger in Deutschland, dieunserer Fürsorge sicher sein können. Es gilt aberselbstverständlich auch, was in jedem Land derErde zu den Grundregeln der Gastfreundschaft ge-hört: Wer sie in Anspruch nimmt, hat Recht undOrdnung des Gastlandes zu respektieren. Gesetzes-verletzungen und Gewalt in Deutschland, gleich-gültig, von welcher Seite und wie auch immermotiviert, wird die Bundesregierung nicht hinneh-men.
Sosehr wir uns weltweit für den Schutz von Men-schen- und Minderheitenrechten einsetzen, genausoentschieden lehnen wir die gewalttätige Auseinan-dersetzung hierüber in unserem Lande ab. Wer dasGastrecht in Deutschland mißbraucht und straffälligwird, muß mit der vollen Härte unserer Gesetze,mit einem Strafverfahren und mit Ausweisung undAbschiebung rechnen. Dabei wird selbstverständ-lich in jedem Einzelfall geprüft werden, ob demBetroffenen Todesstrafe, Folter oder sonstigerechtsstaatswidrige Behandlung drohen. Deutsch-land ist und bleibt ein Rechtsstaat. Darauf sind wirstolz.
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1384 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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– Diese Sätze haben seinerzeit in der Debatte des Deut-schen Bundestages am 13. April 1994 den Beifall desganzen Hauses gefunden.
Sie sind wortgleich der Rede des damaligen Bundes-außenministers Klaus Kinkel entnommen.
Ihre Gültigkeit haben sie bis heute nicht verloren. Ichfinde es eigentlich bedauerlich, daß die CDU/CSU die-ser Aussage heute nicht Beifall gezollt hat.
Daß diese Sätze heute wiederholt werden müssen, be-weist, daß die Gewaltbereitschaft der straff organisiertenterroristischen PKK nach wie vor ein großes Bedro-hungspotential für Deutschland wie für viele andereMitgliedsländer der Europäischen Union darstellt.Die Ereignisse der jüngsten Tage sind vergleichbarmit den Gewalttaten in den Jahren 1993 und 1994. ImNovember 1993 bilanzierte der damalige InnenministerKanther die Vorfälle wie folgt:Mit den Anschlägen am 4. November sind 25 Ban-ken, 17 Reisebüros, 5 Konsulate und 12 weiteretürkische Objekte getroffen worden. An den über-fallartigen Angriffen von kurdischen Kommandoswaren vielfältig bewaffnete Personen beteiligt. Bü-roeinrichtungen sind demoliert, Brandsätze gewor-fen, Gebäude beschädigt worden. Viele Menschensind zu Schaden gekommen, und ein Mensch istgetötet worden. Dies steht in einer Reihe mit An-schlägen, die in München im Juni schon einmaleinen schlimmen und bis dahin ungewohnten Gip-fel erreicht haben. Es ist kein Zweifel, daß die Aus-einandersetzungen, die Kurden, geführt von derPKK, gegen Türken in unserem Lande betreiben,an Brutalität und Gewalttätigkeit zugenommenhaben.Die Bilanz dieser Tage fällt ähnlich aus: Am 16. Fe-bruar kam es zu insgesamt 10 Aktionen gegen diploma-tische Vertretungen Griechenlands und Kenias. Bei derErstürmung des israelischen Generalkonsulats in Ber-lin am 17. Februar wurden drei Kurden getötet. 27 Poli-zeibeamte wurden bei dem Versuch, die PKK-Anhängeraufzuhalten, verletzt. Insgesamt gab es in Deutschland46 Demonstrationen. 40 Veranstaltungen verliefen er-freulicherweise friedlich. Es kam zu Besetzungen vonParteibüros und Geiselnahmen. Die Polizei nahm in denvergangenen Tagen zirka 2 300 Gewalttäter vorläufig inGewahrsam. Gegen 135 Personen wurden Haftbefehleerlassen. Im gleichen Zeitraum kam es auch in einerReihe anderer europäischer Staaten zu gewaltsamenAktionen.Die deutsche Justiz hat rasch gehandelt. In Stuttgartwurde ein Gewalttäter zu einer Freiheitsstrafe von achtMonaten ohne Bewährung verurteilt. Weitere Verfahrenstehen bevor. Das zeigt, daß die Härte des Gesetzes, diein einer solchen Situation allen deutlich bewußt werdenmuß, keine leeren Worte sind.Inzwischen hat sich die Lage zwar beruhigt. Gleich-wohl bleibt ein Gefährdungspotential bestehen, dasschwer zu kalkulieren ist. Die Länderinnenminister undder Bundesinnenminister wissen sich jedenfalls darineinig, daß nach wie vor Wachsamkeit geboten ist.Die generalstabsmäßig ausgeführten Gewalttaten derkurdischen Organisation PKK sind für die Bundesregie-rung der unwiderlegliche Beweis dafür, daß das von derfrüheren Bundesregierung verhängte Verbot der PKKrichtig war und daß die Entscheidung der neuen Bundes-regierung, das PKK-Verbot aufrechtzuerhalten, eben-falls richtig ist.
Ein Organisationsverbot löst nicht das Problem vonGewaltbereitschaft konspirativ arbeitender Grup-pen, noch dazu von sehr engem Zusammenschluß.Wir wollen deshalb auch unseren Mitbürgern nichtsvormachen. Niemand kann ausschließen, daß dieseGruppe oder andere wieder zu Mitteln der Gewaltgreifen, um in unserem Land ihre Auseinanderset-zungen auszutragen. Aber wir werden nicht zögern,alles zu tun, was rechtlich möglich ist, um diesemUnwesen ein Ende zu bereiten.Diese Sätze stammen aus einer Rede des Bundesinnen-ministers Kanther vom 10. November 1993 vor demDeutschen Bundestag. Sie sind nach wie vor richtig.Nach meiner Überzeugung müssen wir allerdings un-sere Bemühungen verstärken, die Logistik der PKK zuzerschlagen und die Voraufklärung zu verbessern, damitwir nicht, wie in den Jahren 1993 und 1994, jetzt wieder,im Jahre 1999, von den Ereignissen überrascht werden.Insbesondere gilt es, die Informationsgewinnung und-verwertung im internationalen Rahmen auszuweiten,zu intensivieren und zu optimieren. Ich habe eine genaueund sorgfältige Prüfung in diese Richtung angeordnet.Entgegen manchem vorschnellen Urteil hat jedochdie Zusammenarbeit zwischen den Innenministerien derLänder und dem Bundesministerium des Innern gutfunktioniert. Ich habe Anlaß, meinen Innenministerkol-legen aus den Ländern für die gute Zusammenarbeit zudanken. In diesen Dank schließe ich ausdrücklich dieMitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesinnenmini-steriums und die der ihm zugeordneten Bundesbehördenfür ihren sehr engagierten Einsatz ein.
Die aktuellen Ereignisse sind im übrigen ein Belegdafür, daß die Entscheidung der Bundesregierung, imvergangenen Jahr nicht die Auslieferung Öcalans nachDeutschland zu verlangen, richtig war.
Wir sind uns bewußt, daß es sich um eine heikle Ent-scheidung gehandelt hat. Nach Abwägung aller recht-Bundesminister Otto Schily
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lichen, politischen und moralischen Aspekte hat sich dieBundesregierung zwischen dem Anspruch auf Strafver-folgung einerseits und den übergeordneten Interessendes Rechtsfriedens der Bürgerinnen und Bürger unseresStaates andererseits dafür entschieden, keinen Ausliefe-rungsantrag an Italien zu stellen.Eingedenk der jüngsten Ereignisse kann sich jedervorstellen, mit welcher Eskalation der Gewalt wir zurechnen hätten, wenn ein jahrelanger Prozeß gegenÖcalan auf deutschem Boden stattfinden würde. Wir ha-ben allerdings gleichzeitig sehr intensive Verhandlungenaufgenommen, um Öcalan aus internationaler Verant-wortung in einem dafür geeigneten Land vor Gericht zustellen.
Dieses Vorhaben ist jetzt in der Tat obsolet geworden.Die Entscheidung, die Auslieferung Öcalans nicht zuverlangen, wurde von – ich betone – sachkundigen Ver-tretern aus den Reihen der CDU/CSU ausdrücklich un-terstützt.
Der bayerische Innenminister Günther Beckstein hat dasin diesen Tagen fairerweise wieder bestätigt.Ich erinnere aber auch an die Äußerungen des außen-politischen Sprechers der CDU/CSU-Fraktion, KarlLamers, der für sein abgewogenes Urteil bekannt ist.
Er verneinte ausdrücklich die Frage, ob er dafür sei, daßBonn die Auslieferung Öcalans nach Deutschland offen-siv betreibe und erklärte dazu:Man muß in dieser Frage den Nutzen einer Straf-verfolgung gründlich mit dem Schaden abwägen,der damit verbunden wäre. Dieser Schaden bestün-de in einer Gefährdung der inneren Sicherheit inunserem Lande, in dem Aufkommen neuer Strafta-ten, die in Deutschland in der Konsequenz eineStrafverfolgung aller Voraussicht nach erfolgenwürden.Herr Lamers hatte recht.
Wir können selbstverständlich, obwohl sich die Si-tuation vorläufig beruhigt zu haben scheint, nicht ein-fach zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen gemein-sam prüfen, welche Konsequenzen notwendig sind. Ichschließe keine Frage aus der Prüfung aus. Selbstver-ständlich ist es nicht nur erlaubt, sondern sogar erfor-derlich, darüber nachzudenken, ob eine Straffung imAusländerrecht dem Staat eine bessere Möglichkeitverleiht, Gewalttäter außer Landes zu bringen.Ich warne aber davor, sich in dieser Hinsicht illusio-nären Erwartungen hinzugeben. Nach meinem Eindruckbesteht die Schwierigkeit nicht darin, Ausweisungsver-fügungen zu erlassen, sondern im Vollzug, das heißt imBereich der Abschiebung. Bei der Abschiebung habenwir als Rechtsstaat bestimmte Grenzen, die uns die Eu-ropäische Menschenrechtskonvention und unsere Ver-fassung setzen, zu respektieren. Wir dürfen daher nichtund – ich betone – wir wollen auch nicht, Menschen inein Land abschieben, in dem ihnen Folter und die To-desstrafe drohen. Alles andere wäre eines Rechtsstaatesnicht würdig.
Ich werde jedoch sehr sorgfältig untersuchen lassen,ob in Anknüpfung an den Briefwechsel, den seinerzeitmein Amtsvorgänger Kanther mit der Türkei geführthat, durch ein bilaterales Abkommen ein sicheres Ver-fahren vereinbart werden kann, das die Einhaltung desFolterverbots und anderer rechtsstaatlicher Garantien indem Land, in das abgeschoben wird, sicherstellt. Die Er-fahrungen, die auf der Grundlage des soeben erwähntenSchriftwechsels zwischen dem türkischen Innenministerund dem damaligen Innenminister Kanther gemachtworden sind, begründen jedoch nicht allzu große Er-wartungen, daß wir auf diesem Wege weiterkommen.Man muß sich nur einmal die Zahl der Abschiebungenanschauen, die auf Grund dieses Briefwechsels vorge-nommen worden sind.Alle Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stel-len, werden Thema der Konferenz der Innen- und Ju-stizminister der Länder und des Bundes am kommen-den Donnerstag sein. Ich hoffe sehr, daß wir zu einver-nehmlichen Lösungen kommen können. In Zeiten, indenen die Sicherheit bedroht wird, ist es angebracht, daßwir zu gemeinsamen Lösungen kommen und auch Mög-lichkeiten zu verbesserter Informationsgewinnung undBeratung schaffen.Natürlich sind diese Fragen nicht nur im nationalenRahmen zu lösen, sondern es kommt auch darauf an, daßwir die Zusammenarbeit innerhalb der EuropäischenUnion und auch mit Nachbarländern der EuropäischenUnion verbessern. Deshalb habe ich für diesen Tag diezuständigen Minister aus Ländern der EuropäischenUnion, die hauptsächlich von diesen Vorgängen betrof-fen sind, zu einer informellen Konferenz eingeladen, beider wir uns über eine verbesserte Zusammenarbeit un-terhalten und die Fragen einer verbesserten Kooperationklären werden.Meine Damen und Herren, im Deutschen Bundestagbestand stets Einigkeit darüber, daß wir gewalttätigenAktionen von PKK-Anhängern mit aller Entschlossen-heit entgegentreten, gleichzeitig aber den friedliebendenKurden die Unterstützung ihrer legitimen Interessen zu-sichern.
Die Bundesregierung begrüßt daher nachhaltig die ge-stern einstimmig verabschiedete Erklärung des Euro-päischen Rates. Ich darf daraus zitieren:Die Europäische Union bekräftigt ihre Verurteilungjeder Art von Terrorismus. Der legitime Kampf ge-gen den Terrorismus muß in vollem Respekt fürMenschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und demo-Bundesminister Otto Schily
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kratischen Normen geführt werden. Legitime Inter-essen müssen auf politische Weise und nicht mitGewalt durchgesetzt werden. Die Europäische Uni-on bedauert ausdrücklich, daß die Verhaftung vonAbdullah Öcalan massive Unruhen und Gewalttatenausgelöst hat, die zu Tod, Geiselnahme, Einschüch-terung und umfangreichen Zerstörungen geführthaben. Sie bekräftigt ihre Haltung, daß derartigeGewalttaten inakzeptabel und unter keinen Um-ständen hinnehmbar sind.Die EU nimmt die Zusicherung der türkischen Re-gierung zur Kenntnis, daß Abdullah Öcalan einenfairen Prozeß haben wird. Sie erwartet, daß dies ei-ne faire und korrekte Behandlung sowie einen öf-fentlichen Prozeß, Rechtsstaatlichkeit, ein unab-hängiges Gericht mit Zugang zu Rechtsbeistandseiner Wahl und zum Prozeß zugelassenen interna-tionalen Beobachtern bedeutet.
Sie unterstreicht nochmals ihre strikte Ablehnungder Todesstrafe. Die Europäische Union hält invollem Umfang an der territorialen Integrität derTürkei fest. Gleichzeitig erwartet sie von der Tür-kei, daß diese ihr Problem mit politischen Mittelnlöst – unter voller Respektierung der Menschen-rechte, der Rechtsstaatlichkeit und weiterer Grund-sätze.
Soweit Auszüge aus der Erklärung des EuropäischenRates.Wir sollten alle gemeinsam dafür eintreten, daß derWeg zu einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage unterBerücksichtigung aller kulturellen, wirtschaftlichen undsozialen Aspekte gefunden wird, ohne daß – ich wieder-hole diesen Teil aus der Erklärung des EuropäischenRates – die Integrität des türkischen Staates angetastetwird. Die Türkei sollte sich als Mitglied der NATO undder europäischen Familie ihrer Verantwortung stärkerbewußt werden, als das bisher der Fall zu sein scheint.Abschließend will ich noch auf folgendes hinweisen.Die neuerlichen Ausschreitungen kurdischer Extremi-sten werden von einigen in einen Zusammenhang mitder von der Bundesregierung geplanten Reform desStaatsangehörigkeitsrechtes gebracht.
Wer einen solchen Zusammenhang herstellt oder auchnur andeutet, handelt infam und verantwortungslos.
Er bringt die Hunderttausende türkischer Staatsangehö-riger, die bei uns auf Dauer leben und unter denen Hun-derttausende kurdischer Abstammung sind, in einen Ge-neralverdacht und stempelt sie zu potentiellen Gewalt-verbrechern. Dieses Vorgehen ist eines zivilisiertenLandes nicht würdig.
Wer so handelt und spricht, vergiftet den sozialen Frie-den und schadet der inneren Sicherheit. Wer behauptet,ein neues Staatsbürgerschaftsrecht importiere Gewalttä-ter, versucht, in demagogischer Absicht die Öffentlich-keit irrezuführen.
Jedermann weiß, daß es ein solches Gewaltpotentialleider seit Jahren und unter Geltung des veraltetenStaatsangehörigkeitsrechtes in Deutschland gibt. Dasvon uns geplante Staatsbürgerschaftsrecht verschärft dieBedingungen für den Zugang zur deutschen Staatsbür-gerschaft
und verhindert, daß Extremisten und Gewalttäter deut-sche Staatsbürger werden können.
Was aber noch viel wichtiger ist: Das neue Staatsbür-gerschaftsrecht, zu dessen Gestaltung ich Sie alle aus-drücklich einlade, beendet eine Situation, in der Hun-derttausende friedliebender Menschen, die zu unseremwirtschaftlichen Wohlstand beitragen, die Steuern undSozialversicherungsbeiträge zahlen und die als Unter-nehmer Arbeitsplätze schaffen, als Außenseiter behan-delt werden. Wir wollen sie aber zu gleichberechtigtenBürgerinnen und Bürgern machen. Damit dienen wirdem inneren Frieden.
Ich hoffe sehr, daß sich die Debatte um dieses wichti-ge Vorhaben versachlicht. Ich bedanke mich ausdrück-lich bei der F.D.P. und auch bei anderen, die ungeachtetder Meinungsunterschiede in der Lage sind, eine sachli-che Debatte zu führen.
Es gibt durchaus Abgeordnete in den Reihen derCDU/CSU-Fraktion, die zu einer sachlichen Debatte fä-hig sind. Auch Sie lade ich sehr herzlich zu dieser De-batte ein. Entziehen Sie sich ihr nicht! Diese Debattewird verdeutlichen, daß die Abwehr von Extremistenund Gewalttätern eine Bewährungsprobe für den Zu-sammenhalt der Demokraten ist. Zu diesem Zusammen-halt rufe ich ausdrücklich auf.
Ich halte es zum Abschluß meiner Rede für geboten,allen Polizeibeamten der Länder und des Bundes, ein-schließlich der Angehörigen des Bundesgrenzschutzes,Bundesminister Otto Schily
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für ihren besonnenen, tatkräftigen und schweren Einsatzin diesen Tagen sehr herzlich zu danken.
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Erwin Mar-
schewski.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Wer unser
Gastrecht mißbraucht, für den gibt es nur eins: Er muß
raus, und zwar schnell.“
Sie von der Koalition müssen klatschen, denn das hat
der Bundeskanzler vor der Bundestagswahl gesagt. Ich
hoffe, daß Sie mir zumindest jetzt Beifall spenden.
Denn sonst sind meine Sorgen berechtigt. Es darf
nicht so sein wie in der Vergangenheit. Da hat Herr
Scharping ähnliches gesagt, damals noch in höheren
Würden. Er hat damals gesagt, wir müßten die Gesetze
verschärfen. Als die Union dies wollte, nach den Kra-
wallen in Dortmund, als wir gesagt haben, wir wollen
Leute ausweisen, die zu einem Jahr Freiheitsstrafe ver-
urteilt werden, und wir wollen Leute ausweisen, die
Landfriedensbruch begangen haben, wenn der Sach-
verhalt klar ist, auch ohne Strafurteil, da sind Sie, meine
Damen und Herren von der SPD und insbesondere Sie
von den Grünen, diesen Weg gar nicht oder nur sehr be-
grenzt mitgegangen.
Herr Kollege Schily, ich sage dies nicht demago-
gisch, sondern ganz in Ruhe: Wenn wir jetzt keinen
Stopp für den Doppelpaß erreicht hätten, wenn Sie Ihre
Pläne zur Einführung der generellen doppelten Staats-
bürgerschaft durchgesetzt hätten, was durch unsere
Aktion zum Glück verhindert worden ist, wäre eine Ab-
schiebung von Straftätern der PKK offensichtlich nicht
möglich, weil sie Deutsche wären und weil das Auslän-
derrecht keine Anwendung fände.
Dabei ist die Haltung der Union klar. Der Rechts-
bruch, auch der zur Erreichung eines anderen Zieles,
fordert die Demokratie und den Staat, der sie schützt,
zentral heraus. Wenn der demokratische Staat, dem Ver-
fassung und Gesetze das Gewaltmonopol in die Hand
gegeben haben, Gewalt gegen ihn hinnimmt, verliert er
einen Teil seiner Legitimation.
Deswegen müssen wir diejenigen bestrafen, die Men-
schen verletzen und die Sachen beschädigen, die Geiseln
nehmen und die Gewalt gegen Polizeibeamte ausüben.
Wir müssen sie abschieben, auch im Interesse der
500 000 hier friedlich lebenden Kurden.
Kollege Marschew-
ski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wie-
felspütz?
Ich möchte zuEnde reden; vielleicht später, Herr Kollege Wiefelspütz.Deswegen verstehe ich zum Beispiel, die Ausländer-beauftragte Frau Kollegin Beck nicht. Sie haben gesagt,die Union betreibe Panikmache und es sei besser, zusprechen und zu deeskalieren. Das ist wahr, wir müssenmiteinander reden. Wir haben in der Vergangenheit– Herr Schmidbauer ist Zeuge; ich kenne das aus derPKK – sehr oft miteinander geredet. Das müssen wirauch, meine Damen und Herren. Aber eines ist auchklar, Frau Kollegin Beck: Wir sind hier nicht in einemStreichelzoo. Wir haben es mit Gewalttätern zu tun und,was die Anführer betrifft, mit Leuten, die Totschlag be-gehen, die Mord begehen, die Anschläge verüben, diegewaltsam erpressen, um an Spendengelder zu kommen.Das sind unsere Gegner.
Da helfen die Maßnahmen, die die Union durchge-setzt hat. Wir haben 1993 die PKK verboten, weil derenTätigkeit den Strafgesetzen zuwiderläuft, weil sie sichgegen die verfassungsmäßige Ordnung richten. Da ha-ben wir, Herr Kollege Schily, nicht immer die Zustim-mung der SPD gefunden. Die Grünen wollten noch vorein paar Wochen das Verbot der PKK aufheben.Wir haben zweitens trotz Ihres Widerstandes Gesetzebeschlossen, die man jetzt verschärfen muß. Es ist wahr,daß nach geltendem Recht jemand, der wegen schwerenLandfriedensbruchs verurteilt worden ist, auszuweisenist. Es ist wahr, daß jemand auszuweisen ist, der wegenLandfriedensbruchs im Rahmen einer verbotenen Ver-sammlung verurteilt wird. Dies ist sogar ohne Urteilmöglich, wenn schwerwiegende Gründe zur Aufrechter-haltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung es ge-bieten. Ich meine, das ist hier gegeben. Diese Gesetzemuß man natürlich anwenden.Ich weiß aber auch seit Jahren, daß dies nicht immerausreicht. Deswegen fordern wir: Wenn jemand zu ei-nem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt wird, ist er zwingendauszuweisen.
Wir fordern: Wenn jemand Landfriedensbruch begehtund die Rechts- und Sachlage eindeutig sind, dann ist erebenfalls auszuweisen. Das ist vonnöten.
Ich meine, wir müssen auch über eine Ausweisungs-pflicht für den Fall nachdenken, daß jemand Mitglied ineiner verbotenen Organisation ist.Meine Damen und Herren, ich zitiere noch einmal:Wer hier in Deutschland Randale macht oder unter-stützt, den werden wir auffordern, unser Land zuverlassen.Bundesminister Otto Schily
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1388 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Sie können wieder Beifall klatschen, weil dies der Bun-deskanzler noch vor ein paar Tagen gesagt hat.
Herr Bundeskanzler und Herr Bundesinnenminister,an Ihren Taten und nicht an diesen großen Worten wer-den wir Sie – und nicht nur Sie – messen.
Kollege Marschew-
ski, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen
Graf?
Bitte schön, Herr
Kollege Graf.
Herr Kollege Mar-
schewski, würden Sie bitte dem Hohen Haus erklären,
wie Sie es mit der Menschenrechtscharta und der
Europäischen Menschenrechtskonvention halten, die
eine Abschiebung in Länder, in denen Todesstrafe und
Folter drohen, ablehnen? Das müssen Sie ergänzend
sagen, wenn Sie so starke Worte finden.
Herzlichen Dank,Herr Kollege. Ich werde dies gleich im Zuge der Aus-führungen tun. Eines ist jedoch klar: Die Christlich-Demokratische Union, die die Menschenrechte auf ihreFahnen geschrieben hat, die gegen Kommunisten undNazis gekämpft und sich für Recht und Freiheit einge-setzt hat,
hat es nicht nötig, hier erneut einen solchen Beweis zuerbringen.
Herr Bundeskanzler, Herr Bundesinnenminister, anIhren Taten werden wir Sie, aber auch die SPD messen.Deswegen fordere ich Sie auf, den Vorschlägen derUnion zuzustimmen. Sie gewährleisten den innerenFrieden und die innere Sicherheit.Ich weiß, Herr Kollege Graf, daß bei konkreter Ge-fahr der Folterung und der Todesstrafe keine Abschie-bung möglich ist. Das ist auch richtig, das ist Inhalt un-seres Ausländerrechts, und das ist zu Recht internatio-nales Recht. Das ist klar. Sie wissen aber genausogutwie ich, daß wir die Zusicherung der türkischen Regie-rung haben, in der es ganz klar heißt, daß jederzeit einRechtsanwalt nach freier Wahl aufgesucht werden unddieser den Betreffenden besuchen kann und daß es je-derzeit möglich ist, einen Arzt zu konsultieren. Sie wis-sen auch, daß dies von der türkischen Regierung bishereingehalten worden ist.
Eines aber ist völlig richtig: Hier sind beträchtlicheVerbesserungen vonnöten. Hier ist ein völkerrechtlicherVertrag oder eine ähnliche Abmachung nötig. Wir müs-sen Zusicherungen bekommen, das ist richtig. Die Zusi-cherungen müssen so eindeutig ausgestaltet sein, daß je-der Zweifel darüber ausgeräumt wird, man könnte sichnicht daran halten. Die Zusicherungen müssen gerichts-fest sein, das ist richtig.Es muß eindeutig festgehalten werden, was nachrechtsstaatlichen Grundsätzen mit abgeschobenen Per-sonen zu tun erlaubt ist und was nicht. Wir müssenvielleicht erreichen, daß Verfahrensbeobachter einge-setzt werden. Das sind Möglichkeiten der Verbesserung.Aber diese zu erlangen, meine Damen und Herren vonder SPD, ist Aufgabe des Bundesaußenministers und desBundeskanzlers.Was Herr Fischer getan hat – er hat an die Kurdenappelliert, gewaltfrei zu bleiben –, ist gut. Ich meineaber, das reicht nicht aus. Auch Ihre sehr starken Wortein diesem Bereich, Herr Bundeskanzler und Herr Bun-desinnenminister, reichen nicht aus. Was nötig ist, sindder Wille zum Handeln und die ständige Wachsamkeitgegen den Terrorismus. Sonst – ich zitiere die Presse –„ . . . klingt das volltönige Versprechen Schilys,Gewalttäter müßten die volle Härte des Gesetzesspüren, wie ein schlechter Witz.“Wachsamkeit, Herr Kollege Schily, stets und immer!Deswegen verstehe ich nicht, daß Sie erst beim Früh-stück über die Festnahme Herrn Öcalans informiert wer-den, wenn ein kurdischer Sender das bereits um 2 Uhrmorgens meldet.Dies hat Folgen: Die Polizei in den Ländern ist zuspät unterrichtet worden. Sie war zum Teil nicht gutvorbereitet. Trotzdem, meine Damen und Herren, dankeauch ich wie Sie, Herr Kollege Schily, den Polizeibe-amten für ihren hervorragenden Einsatz. Der Dank desHauses ist der Polizei gewiß.
Aber die Folgen dieser oft mangelnden Vorbereitungwaren Tote, waren Verletzte und erheblicher Sachscha-den. Ich zitiere den „Tagesspiegel“, Herr Schily: DasBüro wollte den Minister nicht wecken. Das ist dochwohl ein einmaliger Vorgang in der Geschichte derBundesrepublik Deutschland. Lassen Sie mich dies ein-fach so sagen.
Die „Süddeutsche Zeitung“, die uns ja nicht immergewogen ist, schreibt: Unerträgliche Leichtigkeit amRhein. Ja, Herr Kollege Schily, eine schlimme Leichtig-keit, muß ich sagen. Dann kommt Herr Hombach undsagt: Ich gebe Pannen zu; wir werden Konsequenzenziehen. Er sagt weiter – ich zitiere nur die Zeitung, HerrHombach –, es würde eine offene, schonungsloseSchwachstellenanalyse geben.Das ist richtig. Sie, Herr Hombach und Herr Schily,müssen Konsequenzen ziehen. Aber die Konsequen-zen können nicht darin liegen, einen Sekretär oder eineErwin Marschewski
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1389
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Sekretärin zu entlassen. Sie tragen, meine Herren, dieVerantwortung. Und wer Verantwortung trägt, handeltauch wie jemand, der Verantwortung trägt. Er sollte eszumindest! Besonders nach solchen Fehlleistungen undbesonders, wenn Sie beide die entsprechenden Schwach-stellen waren.Meine Damen und Herren, es war keine gute Wochefür unser Land. Die CDU/CSU hat die Voraussetzungenfür einen erfolgreichen Einsatz gegen die terroristischePKK geschaffen. Wir haben die PKK verboten. Wir ha-ben konsequente Gesetze verabschiedet. Darauf mußaufgebaut werden. Wenn Sie uns anbieten, mit uns zu-sammenzuarbeiten, Herr Kollege Schily, nehme ich diesan. Aber Sie müssen zunächst die andere Hälfte IhrerFraktion überzeugen und dann mit den Grünen reden,um dies zu erreichen. Wir jedenfalls sind zum gemein-samen Handeln bereit.Wir müssen allen PKK-Aktivisten deutlich machen,daß ihr Kampf für mehr Rechte der Kurden in der Tür-kei keine Gewaltexzesse in Deutschland rechtfertigt.Wir müssen Gewalttäter abschieben, wir müssen sie be-strafen. Denn nur so läßt sich der innere Frieden inDeutschland wiederherstellen. Wer sich hier verweigert,wer hier nur an Koalitionsräson denkt, ist mitverant-wortlich, wenn PKK-Terrorwellen zu einer festen Ein-richtung in Deutschland werden. Denn sonst ist es bitte-re Wahrheit, was die Presse schreibt:Die Regierung Schröder hinterläßt auch auf dem sowichtigen Feld der inneren Sicherheit, des innerenFriedens, einen politischen Scherbenhaufen. Unddies bereits nach etwas mehr als einhundert Tagen.Herzlichen Dank.
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat Kollege Ludwig Stiegler.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Der Kollege Marschewski hat in be-währter, alter, übler Manier wieder versucht, ein innen-politisches Problem zu einem Kampfinstrument zuschmieden, statt zur Lösung der Probleme beizutragen.
Herr Marschewski, was wir im Zusammenhang mitder PKK geerbt haben, ist die Schlußbilanz Ihrer angeb-lich großartigen Politik. Was haben Sie alles gemacht!Und was ist daraus geworden? Was haben Sie verboten,was haben Sie verfolgt, was haben Sie an Gesetzesver-schärfungen gemacht! Wie schaut die Realität des Ta-ges aus? Sie haben einen Augiasstall hinterlassen undführen sich jetzt wie der Herkules auf. Dabei sind Sienur ein kleiner Stallknecht.
Es wird versucht, mit üblen Verdrehungen Stimmungzu machen. So stellt sich der Herr Marschewski hierherund verbreitet den Eindruck, als könne ein PKK-Kämpfer durch das neue Einbürgerungsrecht Deutscherwerden. Entweder, Herr Marschewski, Sie können dieGesetzentwürfe nicht lesen, oder Sie haben hier vor demdeutschen Volke die Unwahrheit gesagt. Sie sollten sichfür diese Art von politischer Auseinandersetzung ent-schuldigen.
Meine Damen und Herren, gerade angesichts der Erfah-rung, die wir alle miteinander gemacht haben, kann mannur davor warnen, solche Probleme für den innenpoliti-schen Kampf zu instrumentalisieren. Das hilft weder zurLösung des Problems noch den Menschen, noch dient esdem inneren Frieden.
Gerade weil Sie so kurzfristig mit Ihrer eigenen Ver-gangenheit konfrontiert werden, müssen Sie hier zurSachlichkeit zurückkehren. Gehen Sie zu HerrnSchmidbauer, fragen Sie ihn nach den Verabredungen,die er getroffen hat, und fragen Sie ihn auch nach denErgebnissen. Dann wissen Sie, daß Sie den Mund nichtso voll nehmen können.
Ich danke dem Bundesinnenminister für seinen sach-lichen und ausgewogenen Bericht. Ich danke ihm fürdas, was er zusammen mit seinen Kolleginnen und Kol-legen in den vergangenen Wochen und Tagen getan hat.An den Anfang aber stelle ich den Dank an die jun-gen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, die für unsalle vor Ort die Hauptlast der Auseinandersetzung zutragen haben.
Für sie hätte ich mir gewünscht, daß unsere Dienste frü-her, schneller und korrekter gemeldet hätten, damit zumBeispiel in Berlin nicht eine kleine Schar von Polizistenzu einer solchen Übermacht geschickt worden wäre unddafür leiden mußte. Das ist doch die Situation. DieseDienste aber haben wir von Ihnen übernommen.Schauen wir uns doch einmal an, was uns der ehema-lige Bundeskanzler übergeben hat! – Sie brauchen garnicht den Kopf zu schütteln.
Diese Dienste sind unter Ihrer Verantwortung entstan-den. Sich jetzt hier hinzustellen und nach wenigen Wo-chen schon der neuen Regierung zu sagen: „Die sindschuld, daß wir nicht rechtzeitig informiert wordensind!“, ist eine Frechheit, meine Damen und Herren.
– Sie als einer der Brandstifter, die Sie sich immer alsBiedermänner gebärden, müssen das gerade sagen.Erwin Marschewski
Metadaten/Kopzeile:
1390 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
(C)
Wir danken der kurdischen Bevölkerung, die sichnicht hat anstiften lassen, die sich nicht hat mitreißenlassen. Diese müssen wir davor schützen, daß sie vonIhnen in den falschen Verdacht gestellt wird. Das isteine Notwendigkeit. Wer nämlich diese Menschen allein einen Topf wirft, der wird die Terroristen nicht vonden anständigen Bürgern mit politischen Anliegen tren-nen, sondern wird die Solidarisierung vorantreiben. Dasist Gift für die künftige Auseinandersetzung, das Sie hiereinträufeln.
Wir danken vor allem dem israelischen Botschafter,der das Gespräch gesucht hat, der gezeigt hat, wie manmit dieser Situation umgeht. Solche Gesten der Versöh-nung und der Zusammenarbeit brauchen wir auch in Zu-kunft.
Ich danke allen, die sich an vielen Stellen an der De-eskalation beteiligt haben und dadurch unter schwereKritik von Ihnen geraten sind.In Deutschland haben wir weiß Gott genügend Erfah-rungen mit dem Terrorismus gemacht. Wir wissen, daßnur Ruhe und Besonnenheit die Dinge wieder in Ord-nung bringen, daß nicht Aufgeregtheit und innenpoliti-sche Instrumentalisierung dazu dienen, mit den Proble-men fertig zu werden.Ich möchte an die Zeit der RAF erinnern und daran,wie sehr wir alle miteinander gekämpft haben, die Sym-pathisantenszene auszutrocknen und den harten Kernvon den Unterstützern zu trennen, auch daran, wie es amEnde gelungen ist, das Problem zu lösen. Das ist derrichtige Weg. Alle Ihre Sprüche in der Vergangenheithaben zur Lösung des Problems bisher nicht beigetra-gen.
Meine Damen und Herren, mit den Problemen umzu-gehen heißt auch, mit den Ursachen der Probleme um-zugehen. Wir können uns in Deutschland nicht hinstel-len und sagen: O Gott, was geht uns an, was in der Weltpassiert! In einer offenen Gesellschaft – wir sind wirt-schaftlich in den Ländern vertreten – müssen wir auchdie Frage stellen, woher das kommt. Es kommt nichtimmer vom Schicksal – wie es der alte Kanzler sagte,um der Frage, wo es herkommt, auszuweichen. Ähnlichhat Max Frisch geschrieben: Sie nennen es Schicksal,damit niemand fragt, wo es herkommt. – Wir müssenvielmehr fragen: Woher kommt das? Welche Ursachengibt es in der Türkei?Seit ich 1967 in Bonn zu studieren begonnen habe,kenne ich das Kurdenproblem. Europa hat aus wirt-schaftlichen, aus militärstrategischen Gründen herauszugesehen, wie hier eine Bevölkerung unterdrückt undbekämpft worden ist. Man hat in Europa zugesehen, nurweil man seine eigenen Interessen durchsetzen wollte.Die Folgen haben wir hier miteinander auszubaden. Manmuß sich selber an die Nase fassen und das Problem be-trachten.
– Wer hat denn die Waffen geliefert, mit denen sie dortbeschossen worden sind? Das waren doch Sie!
Es kommt darauf an, daß die europäische Gesell-schaft – wir haben es mit einem europäischen Problemzu tun – sich fragt: Was haben wir dort unten unterlas-sen, versäumt oder aktiv getan, damit dieser dauerhafteUnfriede entstehen konnte, der auch uns jetzt in unserenPalästen erreicht? So ist die Lage. Mit dieser Einstellungmüssen wir an die Probleme herangehen.Deshalb kommt es jetzt zunächst einmal darauf an,daß wir von der Türkei verlangen, daß sie einen fairenProzeß unter internationaler Beteiligung durchführt.Wenn die Türkei zum Westen gehören will, dann mußsie mit den Grundsätzen des Rechtsstaats, die hier ent-wickelt worden sind, an das Problem herangehen unddarf das nicht nur einäugig und mit dem Gefühl derRache und der Absicht, andere weiter unterdrücken zuwollen, tun.
Das heißt: Es muß internationale Beobachter geben.Das heißt auch, daß sich die europäische Politik – eszeigt sich, daß ein Problem in der Türkei auch ein Pro-blem der europäischen Innenpolitik ist – mit dem Pro-blem auseinandersetzen muß. Jeder weiß, daß, nachdemdie Dinge so lange schiefgelaufen sind, nicht über Nachteine Lösung kommen wird. Aber wenn Millionen Men-schen keine Hoffnung schöpfen können, wird immer einTeil von ihnen in die Radikalität abgleiten; das hat unsdie Geschichte immer wieder gezeigt. Wir haben es mitin der Hand, Hoffnung zu geben, damit diejenigen, dieeinen friedlichen Weg gehen wollen, in ihrem Vertrauendarauf, daß die Probleme gelöst werden, gestärkt wer-den.
Wir müssen mit der Türkei reden; wir müssen auchdie parlamentarischen Möglichkeiten nutzen. Aber wirmüssen auch die vielfach entstandene Sprachlosigkeitgegenüber der kurdischen Bevölkerung und der türki-schen Bevölkerung im Inland überwinden. Ihre unsäg-liche Unterschriftenaktion war ja geradezu der Beweisdafür, daß Sie nicht reden wollen, sondern daß Sie dif-famieren und andere Menschen ausgrenzen wollen.
Meine Damen und Herren, schwierige Probleme ste-hen vor uns. Aber der Rechtsstaat bewährt sich in derKrise. Man kann nicht wie der Kollege Marschewskihier starke Worte von sich geben und dann, wenn manauf die Konsequenzen verwiesen wird, sagen: Wir, Mit-glieder der späteren CDU, haben gegen die NazisLudwig Stiegler
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gekämpft. – Dazu kann ich nur sagen: Lesen Sie die ent-sprechende Stelle im Protokoll nach!
Darüber könnte man viele Worte verlieren. Ich will nursagen: Sie erwecken den Eindruck, als wollten Sie Men-schen in Folter und Unterdrückung schicken. Wenn Siedas nicht wollen, dann wählen Sie gefälligst andereWorte,
und hören Sie auf, den Eindruck zu erwecken, Siekönnten die Leute quasi über Nacht vogelfrei undrechtlos machen.Nein, meine Damen und Herren, nur ein besonnener,fester, konsequenter Rechtsstaat, der auch seine Grenzenbeachtet, wird sich auf die Dauer durchsetzen und wirddafür sorgen können, daß Frieden und Gerechtigkeit zu-sammen bestehen können.Vielen Dank.
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat Kollege Guido Westerwelle.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die gewalttäti-gen Ausschreitungen von PKK-Aktivisten in den ver-gangenen Wochen haben – das ist mehr als verständlich –zu Recht Emotionen in unserem Lande ausgelöst, nichtnur bei den betroffenen Menschen, sondern auch bei derÖffentlichkeit und bei denen, die durch ihr Amt oderdurch ihren Beruf damit zu tun hatten. Deswegen ist esmir ein Bedürfnis, für die F.D.P.-Bundestagsfraktion zu-allererst zwei Feststellungen zu machen.Erstens. Wir als Freie Demokraten danken den Si-cherheitskräften, danken den Beamten. Ich möchte anSie alle appellieren, daß diese Beamten jetzt nicht zuPrügelknaben für politische Auseinandersetzungen wer-den. Die halten für uns den Kopf hin; das sollten wirhier noch einmal erwähnen.
Die zweite Feststellung, die ich treffen möchte, istmir nicht weniger wichtig. Es handelt sich bei diesenGewalttätern nach Schätzungen um etwa 2 000 Persön-lichkeiten.
– Das ist genau der Punkt, um den es geht:
Ich befürchte, daß wir diese Debatte nicht nutzen, umunser Land voranzubringen. Die Menschen wollen vomDeutschen Bundestag und den Regierungen Antwortendarauf, wie derartige Gewalttätigkeiten vermieden wer-den, und keine irgendwie gearteten parteipolitischenDusseligkeiten hier im Parlament.
– Wir haben die Debatte ja auch beantragt.Es handelt sich bei diesen 2 000 Betroffenen um Ge-walttäter einer Minderheit. Wir appellieren an alle, daßnicht die große Mehrheit der in Deutschland friedlichlebenden Ausländerinnen und Ausländer quasi in ge-samtschuldnerische Haftung für kriminelle Terroristengezogen werden. Wer so handelt, nutzt unserer Gesell-schaft nicht.
Die PKK hat in Deutschland gut 10 000 Aktivisten. Die-se können, so sagen Sicherheitsexperten, derzeit etwa50 000 Anhänger mobilisieren. Um die geht es, und aufdie will ich mich beziehen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist ausunserer Sicht begrüßenswert – deswegen will ich dasausdrücklich anerkennend erwähnen –, daß der Bun-desinnenminister am Verbot der PKK festhält unddiesbezüglich die Politik der letzten Bundesregierungfortsetzen will. Wir begrüßen dies ausdrücklich, und wirappellieren an alle Kräfte in diesem Hause, sich dem an-zuschließen.
Das gilt insbesondere für die kleinere Regierungsfrak-tion. Wenn Ihre verteidigungspolitische Sprecherin, FrauBeer, noch im Dezember 1998 erklärt hat, daß das Ver-bot der kurdischen Arbeiterpartei PKK in Deutschlandaufgehoben werden müsse – mit der wörtlichen Begrün-dung: „Die Kriminalisierung von Kurden muß beendetwerden.“ –, dann ist das aus unserer Sicht eine unerträg-liche Verfälschung der Tatsachen. Nicht die Kurdenwerden kriminalisiert, indem die PKK verboten wird,sondern die PKK kriminalisiert sich selbst, indem sieterroristischen Gewalttaten Vorschub leistet und sie ihreAnhänger dazu anstiftet, bürgerkriegsähnliche Zuständeauf deutsche Straßen zu bringen.
Wir sind ein wehrhafter Rechtsstaat. Das muß auchso bleiben. Zu einem wehrhaften Rechtsstaat gehört, daßdiejenigen, die meinen, sie könnten hier in Deutschlandderartige Gewalttaten verüben, mit einem Strafverfah-ren verfolgt werden. Das setzt voraus, daß man zunächsteinmal ihrer Personalien habhaft wird. Wenn man fest-stellt, daß es Besetzungen von Konsulaten, Geiselnah-men, Sachbeschädigungen, Körperverletzungen gibt,dann ist es ein Armutszeugnis für den Rechtsstaat, wennanschließend grüne Europaabgeordnete daherkommen,zwischen diesen kurdischen Gewalttätern und deutschenLudwig Stiegler
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Sicherheitskräften vermitteln und ein Kuhhandel zustan-de kommt dahin gehend, daß diese ohne Feststellung derPersonalien die Räumlichkeiten verlassen können. Wirmüssen solche Täter konsequent verfolgen.
Das hat nichts mit Deeskalation zu tun. Mit demneumodischen Wort „Deeskalation“ wird in Deutschlandoffensichtlich eine Art von Kapitulation erklärt. De-eskalation heißt natürlich auch, mäßigend auf Beteiligteeinzuwirken. Es heißt aber nicht wegsehen. Wenn je-mand Geiseln nimmt, sei es die PKK, sei es einBankräuber, dann muß er wissen: Er kommt nicht miteinem Kuhhandel durch politische Vermittlung davon.
Deswegen sagen wir als Freie Demokraten: Wirwollen, daß derartige Täter belangt werden. Dies heißt:Die Personalien müssen festgestellt und die Täter müs-sen vor Gericht gestellt werden.Es ist in der derzeitigen Debatte eine Diskussion dar-über entbrannt, ob es notwendig ist, die Gesetze an die-ser Stelle zu verschärfen. Ich will mich auf diese Dis-kussion heute nicht einlassen, weil der Bundesinnenmi-nister und die Landesinnenminister erst einmal selbstvortragen müssen, wo sie konkret entsprechende Verän-derungen der Gesetzeslage für notwendig halten.Für mich stellt sich das Problem derzeit anders dar.Wir erleben zur Zeit weniger ein Gesetzesdefizit alsvielmehr ein Vollzugsdefizit; das ist das eigentlicheProblem. Jede dieser Taten ist strafbar. Wenn man dieTäter nicht verfolgt, kann man sie auch nicht vor Gerichtstellen. Wir als Rechtsstaatspartei sagen: Die Täter müs-sen dingfest gemacht, in beschleunigten Verfahren vorGericht gestellt und anschließend ausgewiesen werden.Wenn in Gesprächen mit der Türkei eine den Menschen-rechten entsprechende Verhandlung sichergestellt wird,werden die Täter selbstverständlich auch abgeschoben.Wer hier kriminell wird, kann nicht darauf hoffen, einerAusweisung und Abschiebung zu entgehen.
Die Täter sollten in einem beschleunigten Verfahrenvor Gericht gestellt werden. Die Abschiebung sollte zü-gig erfolgen. Die Strafe muß der Tat auf dem Fuße fol-gen. Wenn Sie sagen, Herr Kollege, das sei neu
– das sei neu bei der F.D.P. –, dann will ich Sie daraufaufmerksam machen, daß der liberale Justizminister inBaden-Württemberg, Herr Goll, von den Möglichkeitender Strafprozeßordnung konsequenten Gebrauch ge-macht hat. Dort gibt es das beschleunigte Verfahren.
Wir appellieren an die Staatsanwaltschaften der anderenLänder, die Möglichkeiten des beschleunigten Verfah-rens zu nutzen; denn es macht keinen Sinn, daß man dieTäter erst einmal wieder freiläßt, daß sie untertauchen,daß sie erst Jahre oder Monate später vor Gericht gestelltwerden, wenn niemand mehr den Zusammenhang re-konstruieren kann. Wir brauchen deshalb beschleunigteVerfahren, Hauptverhandlungshaft. Die Strafe muß derTat auf dem Fuße folgen.
Wir als F.D.P. appellieren daher an die Bundesregie-rung, an Bundesaußenminister Joschka Fischer und anSie, Herr Bundesinnenminister, Ihre Möglichkeiten imRahmen der EU-Präsidentschaft jetzt auch zu nutzen.Treten Sie in Gespräche mit der türkischen Regierungein! Sorgen Sie dafür, daß beide Regierungen für kur-dische Straftäter nach ihrer Abschiebung ein rechts-staatliches Verfahren in der Türkei sicherstellen! Nie-mand wird in Folter oder Tod abgeschoben.
Das können Sie durch entsprechende Vereinbarungensicherstellen.Reisen Sie gemeinsam mit Herrn Fischer nach Anka-ra! Verhandeln Sie, wie das vor Ihnen Bundesinnenmi-nister Kanther und Bundesaußenminister Kinkel getanhaben! Stellen Sie durch eine völkerrechtsverbindlicheVereinbarung zwischen beiden Ländern sicher, daß inder Türkei ein rechtsstaatliches Verfahren möglich wird!Dann kann bei Einhaltung sämtlicher Menschenrechteabgeschoben werden. Wir appellieren an Sie, Ihre Mög-lichkeiten im Rahmen der EU-Präsidentschaft jetzt auchzu nutzen.
Es zeigt sich aber, daß Sie in diesem Zusammenhangnoch einige Dinge klarzustellen haben. Es macht keinenSinn, wenn in Deutschland der Eindruck entsteht, alswürden diese Taten nicht wirklich verfolgt.Herr Bundesinnenminister, Sie sind auch für den Ver-fassungsschutz zuständig. Es ist traurig genug, daß Sieerst nach der PKK erfahren haben, daß Herr Öcalan ver-haftet wurde. Das können Sie nicht damit abtun, daß Siesagen, Sie hätten die Dienste übernommen. Die Weckerhaben jedenfalls zu unserer Regierungszeit funktioniert.Ich möchte Ihnen aber noch etwas anderes sagen.Daß in der letzten Woche in Bonn eine Pressekonferenzstattfinden konnte, zu der auch die PKK – eine verbote-ne Organisation – einlädt, ist ein Skandal. Das kannnicht hingenommen werden.
Ich frage Sie, Herr Bundesinnenminister, ich frage dieBundesregierung: Was tun Sie dafür, daß so etwas nichtmöglich ist, was tun Sie dafür, daß die PKK auch ent-sprechend verfolgt wird und ihrer verbotenen Tätigkeitin Deutschland nicht nachgehen kann? Darauf kommt esan. Es reicht nicht aus, ein paar Zitate vom früherenDr. Guido Westerwelle
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Bundesinnenminister und vom früheren Bundesaußen-minister vorzutragen. Sie müssen konkret sagen, was Sietun, damit die PKK ihr unseliges Wirken in Deutschlandnicht fortsetzen kann.
Das ist eine Pflicht, die Sie gegenüber dem Hause ha-ben. Sie tragen Verantwortung. Also müssen Sie sichvor diesem Hause auch verantworten. Ihre Regierungs-erklärung war diesbezüglich außerordentlich unbefriedi-gend und unzureichend. Den Ansprüchen, wie sie einselbstbewußtes Parlament erheben sollte, ist diese Re-gierungserklärung jedenfalls nicht gerecht geworden.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Um es gleichvorweg zu sagen: Auch meine Fraktion verurteilt dieGewalt, die im In- wie im Ausland von der PKK aus-ging, in aller Schärfe und in jeder Deutlichkeit. Sie istdurch nichts zu entschuldigen, und sie hat gerade derSache des kurdischen Volkes wie überhaupt dem Zu-sammenleben von Deutschen und Nichtdeutschen indieser Republik immensen Schaden zugefügt.
Wenn ich mir diese Debatte heute anhöre, dann wer-de ich das Gefühl nicht los, daß wir in innenpolitischenStellungskriegen verharren, anstatt uns um die Ursa-chenbekämpfung zu kümmern. Die Ursachenbekämp-fung kann nur in der Türkei, in Ankara stattfinden. Dortmuß dieses Problem mit zivilen und rechtsstaatlichenMitteln gelöst werden, damit wir Ruhe auf DeutschlandsStraßen und Ruhe in Europa haben.
Ich habe das Gefühl, daß nicht die deutsche Innen-politik versagt hat, sondern die europäische Außenpoli-tik, denn eine solche gibt es gegenwärtig noch nicht. Dasmuß die Lehre aus diesen Tagen und Wochen sein: Wirbrauchen endlich eine europäische Außenpolitik, abge-stimmt mit den Vereinigten Staaten von Amerika, dieeine klare Position bezieht: Was wollen wir mit der Tür-kei? Wohin gehört die Türkei? Wie stellen wir uns dieLösung der Probleme in und mit der Türkei vor?Um auch dies klarzumachen: Die territorale Integritätder Türkei – auch darauf wurde von Bundesinnen-minister Schily hingewiesen – kann und darf von nie-mandem in Frage gestellt werden. Jede Lösung muß inund mit der Türkei und mit der Mehrheit der Bevölke-rung in der Türkei gefunden werden. Wir sagen, es kanneine solche Lösung geben. Wir – auch das muß man da-zu sagen – sind bereit, unseren Teil dazu beizutragen,damit es zu einer solchen friedlichen politischen Lösungkommt.Lassen Sie mich zum außenpolitischen Teil noch so-viel sagen: Die neue Bundesregierung hat – darüber binich, darüber sind wir sehr froh – gleich zu Beginn ge-sagt: In einem Punkt gibt es in der Außenpolitik Dis-kontinuität, und das ist die Türkeipolitik. Wir müssender Türkei eine ehrlich gemeinte Perspektive für eineMitgliedschaft in der Europäischen Union geben.
Gerade das ist unsere Chance, Verbesserungen in derKurdenpolitik, in der Menschenrechtspolitik und allendamit zusammenhängenden Fragen zu erzielen.
Lassen Sie mich zum innenpolitischen Teil noch ei-niges sagen. Es wurde bereits darauf hingewiesen: Werim Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Eswar die alte Bundesregierung, die die Verhandlungendamals in Syrien in der Bekaa-Ebene führte, es warenHerr Lummer, Herr Schmidbauer und andere, die Kon-takte gehalten haben. Ich will dies gar nicht mit einerfalschen Überheblichkeit sagen. Wahrscheinlich hättenwir damals das gleiche gemacht, weil es aus innenpoliti-schen Gründen möglicherweise sinnvoll war, Kontakt zuhaben, um Eskalation zu verhindern. Aber uns heutevorzuwerfen, daß wir versuchen, Eskalation zu verhin-dern, ist doch ein starkes Stück. Das sollten Sie wirklichnicht machen.
Dieses Thema ist zu ernst, als daß man es für die Innen-politik mißbraucht.Lassen Sie mich zum zweiten Punkt etwas sagen, denHerr Westerwelle und andere angesprochen haben, diejetzt eine Lösung darin sehen, mit der Türkei eine Son-dervereinbarung zu treffen. Es gibt diese Vereinbarungbereits; das wurde schon gesagt. Es waren damals derInnenminister Mentes aus der Türkei und Herr Kanther– beide nicht mehr in Amt und Würden –, die diese Ver-einbarung getroffen haben. Sie konnte nicht umgesetztwerden, weil sie nicht realisiert werden kann. Was istdas Erbe dieser Vereinbarung? Wenn es in der Türkeikeine Menschenrechtsverletzungen gibt, wenn die Kur-den nicht bedroht werden, wofür brauchen wir dann eineSondervereinbarung? Wenn allerdings die Menschen-rechte verletzt werden, wenn Foltergefahr droht, wergibt uns dann die Garantie, daß eine Sondervereinbarungfür Kurden, die aus Deutschland in die Türkei abge-schoben werden, dazu führt, daß sie gerade nicht gefol-tert werden, während andere – die vielleicht aus anderenLändern abgeschoben werden – gefoltert werden? Dashat mit Logik nichts zu tun; das ist nachgerade absurd.Sie wissen, daß in dem Abkommen ausdrücklich gesagtwurde, daß die Zuständigkeit gerade für Staatssicher-heitsgerichte – um die geht es ja – nicht gilt. Ich frageSie: Was ist ein solches Abkommen wert? Ich appellierean etwas mehr Seriosität im Umgang mit diesem Thema.
Dr. Guido Westerwelle
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Lassen Sie mich, weil meine Redezeit fast abgelaufenist, noch etwas zur Integrationspolitik sagen. Die Lehreaus diesen Tagen kann doch nicht weniger Integrationsein. Sie muß gerade heißen: Wir brauchen mehr undbessere Integrationspolitik, damit wir die Überidentifi-kation von Jugendlichen verhindern.
Sie haben doch die Bilder von den drei Jugendlichen ge-sehen, die vor dem israelischen Konsulat umgekommensind. Das sind junge Leute! Die gehören doch nichtdorthin, sondern in die Schule und in diese Gesellschaft.Sie müssen mit einem inländischen Bewußtsein auf-wachsen. Wenn wir deren Überidentifikation mit Kon-flikten im Herkunftsland verhindern wollen, dann brau-chen wir eine bessere Integrationspolitik – zum Beispielein neues Staatsangehörigkeitsrecht – und nicht das Ge-genteil.
Eine letzte Bemerkung. Das alles hat sehr viel mit un-seren Möglichkeiten zu tun. Wir haben heute versucht,uns darüber zu unterhalten, was wir an konkreten Mög-lichkeiten haben. Wir haben gesehen, daß wir zum Teilsehr hilflos sind. Aber eine Möglichkeit haben wir; unddas ist eine Sache, die wir über alle Fraktionsgrenzenhinweg angehen sollten: Hetzerische Berichterstattungvon türkischen oder von kurdischen Tageszeitungen, diein Deutschland hergestellt werden und in denen Politikerdieses Hauses und diese Republik angegriffen werden,darf nicht länger hingenommen werden.
Wir müssen der „Hürriyet“, wir müssen der „Sabah“,wir müssen der „Politika“ und auch – sofern das mög-lich ist – den Fernsehkanälen deutlich machen: Das gehtnicht. Der Bundeskanzler wurde noch vor einigen Jahrenin der „Hürriyet“ mit den Worten „Dieser Mann ist un-ser Feind!“ angegangen. Über andere wird so etwas auchgesagt. Das geht nicht. Wir müssen unsere Möglichkei-ten nutzen, damit diesen Zeitungen klargemacht wird:Die Mehrheit – 90 Prozent – der Türken und Kurden, diehier leben und die nichts mit Gewalt am Hut haben, ge-hört zu uns; diesen Menschen stärken wir den Rücken.Die Fanatiker müssen wissen, daß es so nicht weiterge-hen kann.
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat Kollegin Petra Pau.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Verehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Ich wäre sehr froh, wenn man indiesem Haus feststellen könnte, daß alle einhellig füreine gewaltfreie Politik in bezug auf die Probleme derKurdinnen und Kurden eintreten wollen. Angesichts voninzwischen Zehntausenden Toten, 3 Millionen Vertrie-benen und unzähligen zerstörten Ortschaften war ichsehr froh, als ich in der vergangenen Woche gerade vonkurdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern meinerHeimatstadt Berlin hörte, daß nicht Haß und daß nichtGewalt sie umtreibt. Aber – und darüber kann man nichtfroh sein – sie drückten angesichts der eingetretenenSituation auch sehr viel Verzweiflung und Hilflosigkeitaus. Diese Verzweiflung und Hilflosigkeit bezog sichsowohl auf die Situation in der Türkei als auch auf dieSituation, die angesichts dieser Auseinandersetzungen inder Bundesrepublik, welche viele inzwischen als ihreHeimat betrachten, entstanden ist. Denn sie fühlten sichmit kriminalisiert und aus dieser Gesellschaft ausge-schlossen.Was ist denn nun ihr Ausweg? Für sie lautete immerdie Frage, wer denn nun ihr Anwalt ist und wo sie sichselbst einmischen können oder ob sie Opfer der unter-schiedlichen Interessen werden. In dieser Situation wie-derholt heute der Bundesinnenminister, daß Deutschlandnicht das Feld politischer Auseinandersetzungen werdensolle, die nicht nach Deutschland gehörten. Er appel-lierte heute erneut, diese Konflikte nicht in Deutschlandauszutragen. Ihm ist auch in den vergangenen Tagennichts anderes eingefallen, als reflexartig die Forderun-gen und Ansichten seines Amtsvorgängers zu wieder-holen. Wir brauchen etwas anderes: Wir brauchen dasGespräch, wir brauchen Besonnenheit, und wir brauchenden langen Atem einer europäischen Initiative.
Kollege Marschewski, in diesem Zusammenhangmuß ich sagen: Ich war tief erschrocken – nicht über Ih-re Worthülsen, die aus dem Innenausschuß genauso wieaus dem Plenum sattsam bekannt sind. Sie aber sprechenangesichts dieser Situation von einem Streichelzoo. Wirreden hier über Menschen in einer verzweifelten Situati-on, Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, undnicht über irgend jemanden, der irgendwo gehalten wirdund auf unser Wohlwollen angewiesen ist.
Der Bundesinnenminister muß genauso wie wir allebegreifen: Die Bundesrepublik ist schon lange Partei indiesem Konflikt. Es werden – darüber wurde heuteschon gesprochen – und es wurden Waffen in die Türkeigeliefert. Wozu diese angewandt werden, ist doch keinGeheimnis. Ich stelle die Frage: Wie geht die neue Bun-desregierung mit Waffenlieferungen um? Wie will siesich in Zukunft zu diesem Thema verhalten? Hier wäreKonsequenz gefragt.Ähnliches gilt für die inzwischen schon traditionellepolizeiliche und auch geheimdienstliche Zusammenar-beit. Dazu gehört nicht nur die Nichtgewährung von po-litischem Asyl im November 1998, in welchem europäi-schen Land auch immer, sondern auch, daß die ange-kündigte europäische Friedensinitiative des Bundesin-nenministers und des italienischen Amtskollegen sicheinfach in Nebel aufgelöst hat. Auch das trägt zurCem Özdemir
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beschriebenen Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeitbei.
Wer Gewaltfreiheit will, muß endlich Politik gegenjede Form von Gewalt machen. Da reicht nicht der Ap-pell an die Kurdinnen und Kurden, verbunden mit derDrohung, Gesetze zu verschärfen. Natürlich gehört dazuauch die konsequente Anwendung von Gesetzen, undzwar – das sage ich sehr deutlich – gegenüber Bürgerin-nen und Bürgern mit unterschiedlichem Status in diesemLand, und nicht das Abschieben von Menschen undProblemen in die Türkei.Dazu gehört für mich auch ein Blick über die Grenze,über den Gartenzaun: Wie gehen europäische Nachbarnmit diesem Problem um? Warum entscheiden sich ande-re Regierungen dafür, Menschen mit ihrer politischenMeinungsäußerung nicht in die Illegalität zu drängen?Warum entscheidet man sich dort bewußt für die Zulas-sung von politischer Meinungsäußerung auch aus denReihen der PKK? Ich denke, auch darüber gilt es nach-zudenken. Wenn Sie in der nächsten Woche in denAustausch mit Ihren Ministerkollegen treten, sollten Sievielleicht nicht nur über die Verschärfung von Gesetzenund Umsetzung von Gesetzen sprechen, sondern auchüber diese politischen Erfahrungen.Abschließend: Die Bundesregierung muß die EU-Präsidentschaft tatsächlich auch außenpolitisch zurUmsetzung ihres Mottos „Außenpolitik ist Friedenspoli-tik“ nutzen. Dies schließt die Forderung nach einemrechtsstaatlichen Verfahren gegen Öcalan ebenso einwie die Würdigung der Gesamtumstände dieses Kriegesund des Anteils der europäischen Staaten an den Aus-einandersetzungen.
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat Kollegin Uta Zapf.
Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Ich würde mir wirklich wünschen, daß wir indieser sehr komplizierten innen- und außenpolitischenKonfliktlage zu einer Besonnenheit zurückfänden, wiewir sie in den Jahren 1993, 1994 und 1996 gemeinsamaufgebracht haben. Ich bedaure ausdrücklich, daß derKonsens, der damals in gemeinsamen Entschließungenzu demselben Problem, wie es sich uns heute darstellt,möglich war, offensichtlich zerbrochen ist.Wir haben damals gemeinsam gegen die Gewaltan-wendung von allen Seiten protestiert. Wir haben ge-meinsam die PKK und ihre gewalttätigen Aktionen ver-urteilt. Wir haben gemeinsam an alle Kurden appelliert,zur Gewaltlosigkeit zurückzufinden. Wir haben unsgemeinsam darüber gefreut – das könnten wir auchheute wieder einmal tun –, daß die demokratischen, ge-waltfreien Kurdenorganisationen hier in der Bundesre-publik ausdrücklich zu Gewaltfreiheit aufgerufen haben.Wir haben an die Türkei appelliert, ihrerseits einegewaltsame Bekämpfung unter dem Siegel der reinenTerrorismusbekämpfung nicht als einziges Mittel zurLösung dieses Problems zu betrachten. Wir haben aus-drücklich gesagt, daß es keine militärische Lösung ge-ben kann, sondern daß es eine politische Lösung desProblems geben muß. Ich finde, wir sollten uns die An-träge, die wir damals gemeinsam beschlossen haben,noch einmal genauer anschauen, um vielleicht dochnoch gemeinsam zu einer Position zurückzukehren, diebesser als die derzeitige Diskussion, wie sie Herr Mar-schewski hier geführt hat, geeignet ist, das Problem beiuns, aber auch generell zu lösen. Es ist ein innen- undein außenpolitisches Problem zugleich. Das macht es sounendlich kompliziert.Ich finde die Kritik an der jetzigen Bundesregierung,die – unter der Güterabwägung, was am besten für denFrieden und für die innere Sicherheit dieses Staates ist –keine Auslieferung von Öcalan in die BundesrepublikDeutschland beantragt hat, schlicht und ergreifend ver-logen, weil ich ganz sicher bin, daß Sie, wenn Sie nochauf der Regierungsbank säßen, genauso gehandelt hättenwie diese Regierung.
Sie haben sich nämlich in der Vergangenheit – es istschade, daß ich den Kollegen Schmidbauer nicht mehrsehe – genauso verhalten. Die Besonneneren unter Ihnen– auch im Auswärtigen Ausschuß – haben diese Politikunterstützt; denn es ist eine Güterabwägung, ob mansich die Auseinandersetzungen hier auf die Straße holtund damit noch eine Eskalationsstufe durch die eigenePolitik provoziert.Ich möchte noch einmal auf das hinweisen, was hierschon von zwei Kollegen gesagt worden ist: Die vorhe-rige Bundesregierung hat eine ausdrückliche, wenn auchstillschweigende Politik der Deeskalation gegen diePKK betrieben. Wir haben das gebilligt, wenn auchebenfalls stillschweigend; denn es war in der Tat klug –auch unter innenpolitischen Gesichtspunkten –, eineDeeskalationspolitik zu betreiben. Ich will jetzt nichtweiter darüber reden, wer nun alles nach Damaskus oderin die Bekaa-Ebene gewallfahrt ist. Ich appelliere aberan Sie, die Verlogenheit in diesem Punkte bitte nichtweiterzuführen.
Unter außenpolitischen Gesichtspunkten können wirkein Interesse an einer tiefgreifenden Störung derdeutsch-türkischen oder der europäisch-türkischen Be-ziehungen haben. Wir müssen im Gegenteil großes In-teresse daran haben, daß die Türkei in die europäischePolitik integriert wird – nicht nur, weil sie NATO-Partner ist, nicht nur, weil wir einen großen Anteil antürkischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen in unsererBevölkerung haben, sondern auch, weil es unser eigenesInteresse ist, Stabilität in dem betreffenden geographi-schen Raum zu unterstützen.Dabei sind, wie ich denke, zwei Dinge ausschlagge-bend. Auf der einen Seite die Frage: Wie können wirhelfen, zur Demokratisierung, zum Aufbau der Men-schenrechte in der Türkei und zur politischen LösungPetra Pau
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dieses auch die Türkei enorm belastenden Problems bei-zutragen? Das ist uns bisher, auch wenn es Vorschlägealler Art gegeben hat, nur sehr mangelhaft gelungen.Das liegt zum Beispiel daran, daß die Türkei immer ge-leugnet hat, daß es ein solches Problem gibt. Sie hatimmer gesagt, es gebe kein Kurdenproblem, sondern esgebe ein Terrorproblem. Alles könne erst dann geregeltwerden, wenn der Terror besiegt sei. Daß sich dies alsfalsch erwiesen hat, wissen wir doch mittlerweile. Daßes eine politische Lösung geben muß, die auch von deneuropäischen Staaten unterstützt wird, ist uns allen klar.Wir sollten uns hier zusammentun und wirklich ernsthaftberaten, was wir zu einer solchen politischen Lösung inunserem eigenen Interesse beitragen können.
Ich stimme dem Kollegen Cem Özdemir ausdrück-lich zu, wenn er sagt, daß hier in der Vergangenheit inder Tat grobe Fehler in der europäischen Politik ge-genüber der Türkei gemacht worden sind. Es ist aucheine ganz schwierige Situation, weil wir auf der einenSeite mit Recht eine mangelhafte Menschenrechtslageund eine mangelhafte Demokratie in der Türkei bekla-gen. Darüber hinaus beklagen wir zu Recht, daß dortfortlaufend gefoltert wird, Menschen verschwindenund massive Menschenrechtsverletzungen zu registrie-ren sind.Auf der anderen Seite haben wir den möglichen Bei-tritt der Türkei zur Europäischen Union nicht konse-quent an Kriterien geknüpft wie bei den anderen Bei-trittsländern; vielmehr haben wir der Türkei von vorn-herein erklärt: Das wird sowieso nichts mit euch. – Da-mit wirken wir extrem emotionalisierend. Emotionalisie-rung ist im Moment ein Kennzeichen der gesamten Dis-kussion, nicht nur bei uns. Wir sollten nicht zusätzlichdazu beitragen, indem wir die Debatte innenpolitisch ineiner Art hochpuschen, die nicht adäquat ist, insbeson-dere nicht angesichts der Tatsache, daß in der Türkei imApril dieses Jahres Wahlen stattfinden sollen. Deshalbglaube ich, daß im Moment keine sehr günstige Atmo-sphäre herrscht; aber eine solche wird gebraucht, um denexistierenden Konflikt politisch zu lösen.Andererseits gibt es – das sollten wir in der Tat mas-siv unterstützen – auch in der türkischen Gesellschafteinen Diskurs, in dessen Rahmen durchaus anerkanntwird, daß das Terrorproblem nicht notwendigerweisemilitärisch gelöst werden kann, sondern daß es einepolitische Lösung geben muß, um die Ursachen desKonflikts zu bekämpfen. Wir sind gut beraten, wenn wirmit viel Fingerspitzengefühl auch internationale Hilfeanbieten, um diesen Konflikt politisch zu lösen. Aber esmuß in der Tat mit Fingerspitzengefühl gemacht werdenund nicht mit dem Holzhammer.Es ist positiv zu beurteilen, daß die EU in der Erklä-rung, die Innenminister Schily hier fast in Gänze vorge-lesen hat, ihre finanzielle Hilfe angeboten hat. Aber eswird nicht ausreichen, zu argumentieren, daß die öko-nomischen und sozialen Verhältnisse gerade in Südost-anatolien verbessert werden müßten, weil sich damit dasganze Problem lösen lasse, wenn man gleichzeitig über-haupt nicht bereit ist, zum Beispiel auf die Frage derkulturellen Rechte der Kurden einzugehen. Die Re-spektierung dieser Rechte – bitte erinnern Sie sich – ha-ben wir in der Vergangenheit gemeinsam gefordert. Ichempfehle an dieser Stelle die Lektüre unserer gemein-samen Erklärungen.Ich finde es positiv, wenn die türkische Regierung imMoment überlegt, den PKK-Kämpfern eine Art Amne-stie – ich weiß nicht, ob dieses Angebot, das im Augen-blick im türkischen Parlament verhandelt wird, wirklichAmnestie und Straffreiheit bedeutet – und ein Ausbil-dungsprogramm anzubieten, um sie wieder in die tür-kische Gesellschaft zu integrieren. Wenn ein solchesAngebot erfolgte, wäre das schon ein Stückchen Ursa-chenbekämpfung. Aber ich weiß nicht, ob das Vertrauenin ein solches Angebot tatsächlich so groß ist, daß es da-zu führen kann, der Gewalt abzuschwören.Deshalb möchte ich auch von hier aus ganz aus-drücklich an die Führung der PKK appellieren, endlicheinen ernsthaften Gewaltverzicht anzubieten und zurRealisierung der Behauptung beizutragen, daß es einepolitische Lösung des Problems geben muß. Das wirdnicht gehen, wenn man der Türkei Krieg androht. Daswird nicht gehen, wenn man in Europa den Krieg aufden Straßen vorantreibt. Dies wird nicht dazu führen,daß die kurdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, diehier für ihre kulturellen Rechte und für die Respektie-rung der Menschenrechte gekämpft haben, weiterhinSympathien bekommen; vielmehr wird es dazu führen,daß hier Sympathien verspielt werden. Deshalb ist es be-sonders wichtig, daß wir einen Prozeß unterstützen, dermit Hilfe von Deeskalation – das sage ich ganz aus-drücklich – eine politische und friedliche Lösung desKonflikts mit der Türkei ermöglicht.Ich glaube, daß wir bis dahin durchaus noch einenlangen Weg vor uns haben. Es ist ganz sicher nichtnützlich, wenn wir jetzt unsererseits, da wir von derTürkei verlangen, die Menschenrechte besser einzuhal-ten, hier Menschenrechtskonventionen außer Kraft set-zen wollen. So vorzugehen wäre eine widersprüchlicheHandlungsweise.
Wir dürfen uns das im Sinne einer Befriedung diesesKonflikts im Inneren, aber auch im Äußeren nicht lei-sten.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Ruprecht Polenz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Herr Bundesinnenminister,Sie haben in Ihrer Regierungserklärung mit einemRückblick und vielen Zitaten früherer Minister undUta Zapf
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anderer Kollegen begonnen und sind dann ganz schnellzu den Ereignissen der letzten Tage gekommen. Sie ha-ben weniger darüber gesprochen, was seit dem 12. No-vember 1998 geschehen ist, als Öcalan in Rom aufge-taucht war und auf Grund eines deutschen Haftbefehlsfestgenommen wurde.Ich habe mir bei der ganzen Debatte überlegt: Wiehätten Sie wohl die frühere Bundesregierung angegrif-fen, wenn sie seit dem 12. November 1998 wie Bundes-kanzler Schröder gehandelt hätte? Ich glaube, Sie hättennur Hohn und Spott für diese Bundesregierung übrig ge-habt.
Erst verzichtet man aus Sorge um den Rechtsfriedenund die innere Sicherheit bei uns auf die AuslieferungÖcalans an Deutschland.
Jetzt ist aber der Rechtsfrieden trotzdem massiv gestört,und die innere Sicherheit wird durch gewaltsame Aktio-nen von PKK-Anhängern gefährdet, auch ohne daßÖcalan in Deutschland vor Gericht steht. Gleichzeitigverbittet sich die türkische Regierung Belehrungen – et-wa von unserer Bundesregierung – darüber, wie einrechtsstaatliches Verfahren auszusehen hätte. Sie tut diesmit dem schlichten Hinweis: Regierungen wie die derBundesrepublik Deutschland, die es selber in der Handgehabt hätten, ein rechtsstaatliches Verfahren durchzu-führen, sind die allerletzten, die der Türkei Belehrungenerteilen dürften, wie ein Verfahren gegen Öcalan durch-zuführen sei.Sie, meine Damen und Herren von der Regierung,haben es seit dem 12. November 1998 fertiggebracht,sich zwischen wirklich alle Stühle zu setzen.
Es ist verständlich, daß Sie versuchen, die Oppositiondafür mitverantwortlich zu machen. Herr Schily, Sie ha-ben wiederholt auf Herrn Beckstein und Herrn Lamersverwiesen und damit den Eindruck erweckt, die Opposi-tion habe Ihre Entscheidung mitgetragen, auf einenAuslieferungsantrag zu verzichten. Herr Minister, dasist nicht einmal die halbe Wahrheit. Das entscheidendeDatum in diesem Zusammenhang ist der 27. November1998, als sich Bundeskanzler Schröder mit dem italieni-schen Ministerpräsidenten D'Alema in Bonn getroffenhat. An diesem Freitag hat der Bundeskanzler dem ita-lienischen Ministerpräsidenten mitgeteilt: Die Bundes-regierung hat entschieden, auf ein Auslieferungsersu-chen zu verzichten.Zugegebenermaßen war zum damaligen Zeitpunkt dieEntscheidung über einen Auslieferungsantrag schwierig.Die Entscheidung, Öcalan wegen der besonderen Si-cherheitsprobleme – bei uns leben 2,2 Millionen Türken,davon sind 500 000 Kurden – nicht in Deutschland vorGericht zu stellen, war insoweit vertretbar. Nur dazu ha-ben sich der bayerische Innenminister und auch meinKollege Lamers geäußert. Herr Bundesinnenminister,beide sind aber selbstverständlich davon ausgegangen,es werde sichergestellt, daß Öcalan vor ein Gerichtkommt. Das ist doch der Punkt.
Der Punkt ist nicht, daß man ihn einfach laufenläßt.Für eine solche Strategie der Bundesregierung könnenSie keinen Oppositionspolitiker in Anspruch nehmen.Auch die Justizministerin hat in der „SüddeutschenZeitung“ vom 30. November 1998 festgestellt – sie hattein dem Verfahren eine verfassungsrechtlich besondereStellung –: „Uns in Deutschland gebietet die Rechts-staatlichkeit, ihn vor Gericht zu stellen. Dieses muß abernicht in Deutschland geschehen.“ Die Sachlage ist also,auch juristisch, ganz klar.In der Debatte vom 3. Dezember 1998 wurde nocheinmal über die Art und Weise debattiert, wie die Bun-desregierung die Opposition seinerzeit informiert hatte.Am Vorabend des 27. November 1998 war der Infor-mationsstand folgender: Die Regierung wolle die Ent-scheidung über den Auslieferungsantrag vorläufig offen-lassen und wolle sich gleichzeitig bemühen, daßÖcalan beispielsweise vor einen internationalen Ge-richtshof kommt. In dem Zusammenhang gestatten Siemir den Hinweis, daß ich das für ein vertretbares Vor-gehen halte.Einen Tag bzw. zwölf Stunden später hat der Bun-deskanzler offensichtlich auch diese Angelegenheit wiedie 630-Mark-Jobs zur Chefsache erklärt und gesagt, aufein Auslieferungsgesuch werde endgültig verzichtet, dassei nun definitiv entschieden.
Hier stelle ich die Frage: War es rechtlich überhauptmöglich, in dieser Weise aus dem Legalitätsprinzip ab-zuleitende Ansprüche einfach aufzugeben?
Zweitens. Schröder hat mit D'Alema auch darüber ge-sprochen, daß Öcalan vor ein internationales Gerichtgestellt werden sollte. Ich frage mich und insbesondereauch Sie: Wann war Ihnen klar, daß das mit dem inter-nationalen Gerichtshof nicht klappen würde? Warumhaben Sie dann nicht den Auslieferungsantrag gestellt?Warum haben Sie dann in Kauf genommen, daß Öcalanauf einmal aus Italien verschwindet?Ein Drittes: Der Bundeskanzler und der italienischeMinisterpräsident haben an diesem 27. November 1998eine europäische Initiative angekündigt, um eine politi-sche Lösung für die Streitigkeiten zwischen der Türkeiund den Kurden zu finden. Wenn diesen Worten damalserkennbare Taten gefolgt wären, dann wären diese in derjetzigen Situation sicherlich außerordentlich hilfreichund auch ein Beitrag zur Entspannung der innenpoliti-schen Lage in Deutschland gewesen.Ich frage die Bundesregierung, Herr Staatsminister:Was ist aus der Ankündigung der Bundesregierung vom27. November 1998, eine europäische Initiative zu er-greifen, geworden? Hat der Bundeskanzler wenigstensseit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft eineInitiative ergriffen, mit der die EU die Türkei zu einerRuprecht Polenz
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Lösung des Kurdenproblems bewegen könnte? Sinddie Amerikaner in eine solche Initiative eingebundenworden? Es ist doch auch klar, daß ohne eine Konsul-tation mit den USA in dieser Frage auf die Türkeiüberhaupt kein Einfluß genommen werden kann. Ichdenke, Sie werden gleich etwas dazu sagen, HerrStaatsminister.Ich habe noch eine Frage an Sie: Was haben Sie poli-tisch unternommen, um die Fixierung vieler Kurden inder Bundesrepublik Deutschland auf die PKK ein Stückweit dadurch aufzulockern, daß Sie mit den Vertreternder Kurden, der kurdischen Gemeinden usw. sprechen,die ihre Ziele gewaltfrei und demokratisch zu erreichenversuchen und keinen selbständigen Kurdenstaat anstre-ben? Das wären wichtige politische Initiativen gewesen.Ich habe nichts davon mitbekommen, daß die Bundesre-gierung solche Gespräche geführt hat. Wenn ich nichtsdavon mitbekomme, dann bekommen die Kurden in un-serem Land davon auch nichts mit. Der Effekt, durchsolche Gespräche auch eine Aufwertung gemäßigterkurdischer Politiker zu erreichen, ist dann natürlich nichtzu erzielen.Es ist ja noch einmal darauf hingewiesen worden,Frau Zapf, daß überall Kontinuität herrsche, die Bundes-regierung es aber in der Türkei-Politik wirklich bessermachen wolle. Sie haben den Mund in Sachen Türkei-Politik außerordentlich voll genommen. Wir werden Siean Ihren Taten messen.
Das Wort hat nun
Staatsminister Ludger Volmer, Bündnis 90/Die Grünen.
D
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ge-rade von Herrn Polenz geäußerten Vorwürfe muß ich imNamen der Bundesregierung zurückweisen.
Wir haben uns ständig in Abstimmung mit unseren Part-nern bemüht, im internationalen Bereich eine juristischeLösung zu finden. Auch heute halten diese Anstrengun-gen noch an. Ihr Erfolg ist aber nicht einzig und alleinvon uns abhängig.Ich möchte aber darauf hinweisen, daß dieser Kon-flikt nicht nur eine innenpolitische Dimension hat, son-dern insbesondere auch eine außenpolitische.
In den letzten Wochen hat sich ein Problem zugespitztund ist eruptiv hervorgetreten, das leider jahrelang ver-drängt worden ist. Für diese jahrelange Verdrängungträgt nicht die jetzige Bundesregierung, sondern – wennüberhaupt – die vorherige Bundesregierung die Verant-wortung.
Notwendig ist es, endlich anzuerkennen, daß es einekurdische Frage gibt, die noch nicht gelöst ist.
Man kann dieser Frage nicht ständig dadurch auswei-chen wollen, daß man sie innenpolitisch eingrenzt. Je-der, der sagt, man müsse mit der türkischen Regierungin einen Dialog über dieses Problem eintreten, hat völligrecht. Genau diesen Weg wird die Bundesregierung ein-schlagen.Wie die Europäische Gemeinschaft und die gesamteinternationale Gemeinschaft werden wir uns beim Dia-log mit der Türkei von den Menschenrechten und Min-derheitenrechten leiten lassen.
Wir sagen aber auch, daß das Problem der Kurden nichthier, sondern letztendlich nur in der Türkei selbst gelöstwerden kann.
Wir erleben am Beispiel eines anderen Regionalkon-flikts, um dessen friedliche Lösung zur Stunde in Ram-bouillet noch gerungen wird, daß es zu Kriegen undBürgerkriegen kommen kann und fast zwangsläufigkommen wird, wenn überzogene Ansprüche aufeinan-derprallen.
Wir sind der Meinung: Jedes Volk und jede Ethnie hatein Recht auf kulturelle Eigenständigkeit und auf zu-mindest teilweise Selbstverwaltung in diesem Bereich.Dieses Recht muß aber ganz klar vom Recht auf staatli-che Unabhängigkeit, woraus sich der Separatismus er-gibt, unterschieden werden.
Diese Unterscheidung wird in Rambouillet eingeführt.Sie scheint uns ein Schlüssel dafür zu sein, wie manauch andere Regionalkonflikte lösen kann.Wir hoffen, daß die türkische Regierung die Chanceergreift, die in der Festnahme von Öcalan besteht, unddaß sie den Unterschied zwischen staatlicher Separationund kultureller Eigenständigkeit sieht. Man kann auchvölkerrechtlich argumentieren: Das Selbstbestimmungs-recht der Völker beinhaltet nicht automatisch das Staa-tenbildungsrecht. Aber umgekehrt dürfen Minderheiten-rechte, zum Beispiel das Recht auf kulturelle Eigenstän-digkeit, nicht nur deswegen zurückgewiesen und unter-drückt werden, weil eine berechtigte oder unberechtigteFurcht vor Separatismus besteht.Wir hoffen, daß wir mit der Türkei in einen Dialogeintreten können, aus dem fruchtbare Konsequenzen ab-geleitet werden können. Wir fühlen uns dabei durcheinige ermutigende Äußerungen aus der Türkei selbstbestärkt. So hat sich beispielsweise StaatspräsidentDemirel dafür ausgesprochen, daß es eine Amnestie fürRuprecht Polenz
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PKK-Kämpfer geben könnte. Ministerpräsident Ecevithat sich gegen die Todesstrafe ausgesprochen. Das tür-kische Parlament hat einen Gesetzentwurf eingebracht,wonach eine gewisse Regionalisierung in der Türkeivorgesehen ist. Dies sind ermutigende Zeichen, an diewir gerne anknüpfen, um sowohl für den türkischenStaat als auch für die kurdische Minderheit zu einemtragfähigen Ergebnis zu kommen.
Wir sagen ganz eindeutig: Die Türkei hat ein sehr be-rechtigtes Interesse daran, daß die staatliche Integritätbestehenbleibt. Dabei werden wir sie unterstützen. Aufder anderen Seite haben die Kurden ein absolut legiti-mes Interesse daran, daß sich ihre kulturelle Eigenstän-digkeit entfalten kann. Auch diese Position unterstützenwir. Es wird Zeit, daß dieser berechtigte Anspruch vonder Europäischen Gemeinschaft anerkannt wird.Die Bundesregierung wird demnächst eine entspre-chende Delegationsreise unternehmen; die EU wird eineTroika entsenden.
Wir werden mit der türkischen Regierung über die offe-nen Fragen reden. Die Voraussetzungen für einen Dia-log sind besser als in der Vergangenheit, denn die jetzi-ge Bundesregierung war es, die der Türkei in Aussichtgestellt hat, daß sie in absehbarer Zeit Vollmitglied derEuropäischen Union werden könnte, wenn sie sich anall die Standards hält, die in Kopenhagen für alle Bei-trittsaspiranten der EU festgelegt worden sind. Dabeihandelt es sich insbesondere um Standards im Bereichder Demokratisierung und der Menschenrechte.Wir sind der Meinung, daß die Europäische Unionkeine christliche Religionsgemeinschaft, sondern eineWertegemeinschaft ist. Zu dieser Wertegemeinschaftgehören auch Personen islamischen Glaubens.
In diese Wertegemeinschaft können daher auch Staatenaufgenommen werden, deren grundsätzliche Orientie-rung eher in Richtung Islam geht, solange sie sich an dieallgemeinen Standards von Demokratie und Menschen-rechten halten.
Kollege Volmer, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wester-
welle?
D
Nein, Herr Westerwelle, es tut mir leid. Ich habe
nur noch wenig Redezeit und will deshalb zum Schluß
kommen.
Auch die Diskussionen über eine Verbesserung des
Staatsangehörigkeitsrechtes in Deutschland haben dazu
geführt, daß sich die Dialogbeziehungen mit der Türkei
erheblich verbessert haben. Wenn man der Meinung ist,
die Probleme von Flüchtlingen und Asylbewerbern
müßten dort gelöst werden, wo Fluchtursachen entste-
hen, dann gehört es zu den wichtigsten Vorbedingungen,
daß die Dialogbeziehungen zur Türkei verbessert wer-
den. In diesem Zusammenhang hat unsere Staatsangehö-
rigkeitspolitik eine sehr wichtige Funktion.
Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, daß Sie diesen Zusammenhang begreifen.
Wir hoffen, daß die Türkei die Chance wahrnimmt, die
in der jetzigen Situation liegt, und sich dadurch, daß sie
die Kurdenproblematik auf der Basis der Demokratie,
der Menschen- und Minderheitenrechte löst, Europa ei-
nen Schritt näherbringt.
Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich schließe die Aussprache und unter-
breche die Sitzung vereinbarungsgemäß bis 11 Uhr, also
bis zum Beginn der Haushaltsdebatte.
Meinesehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir setzen dieSitzung fort.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1a und 1b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 1999
– Drucksache 14/300 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht über den Stand und die voraussichtli-che Entwicklung der Finanzwirtschaft– Drucksache 14/350 –
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1400 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Ich weise darauf hin, daß das Ifo-Institut kürzlich er-rechnet hat, daß in unserem Steueränderungsgesetz fürden Mittelstand eine Entlastung in Höhe von dreieinhalbMilliarden DM vorgesehen ist. Wenn Sie dies schon derBundesregierung aus Verblendung nicht glauben, dannglauben Sie wenigstens einem Institut, das dies wissen-schaftlich errechnet hat.
Fünftens. Die ökologische Steuer- und Abgabenre-form wird auf den Weg gebracht.Sechstens. Die Lohnnebenkosten werden gesenkt.Siebtens – das ist ein ganz wichtiger Punkt und einMarkenzeichen dieser Bundesregierung –: Wir startenein Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-keit, weil wir die Jugend nicht allein lassen wollen inihrem Bemühen, sich in den Arbeitsmarkt zu integrierenund Ausbildung und Beschäftigung zu finden.
Achtens. Der Aufbau Ost wird verstärkt.Neuntens. Die unsozialen Kürzungen im Renten- undim Gesundheitsbereich werden zurückgenommen. Dashaben die Wählerinnen und Wähler so gewollt, und wirhaben entsprechend entschieden.
Wichtig war uns, daß die Versprechungen, die wirvor der Bundestagswahl abgegeben haben, direkt nachder Bundestagswahl umgesetzt worden sind. Allzulangehat sich bei den Wählerinnen und Wählern das Vorurteilverfestigt, daß vor Wahlen Versprechungen gemachtwerden, die dann nach den Wahlen nicht eingehaltenwerden. Wir sind stolz darauf, daß dieser Haushalt mitder Überschrift „Versprochen und gehalten“ charakteri-siert werden kann. So muß das in einer Demokratie sein.
Meine Damen und Herren, ich habe auch heute wie-der gelesen, daß einzelne Wirtschaftsverbände sagen:Die ganze Richtung stimmt nicht. – Ich wiederhole: Ar-beitnehmer und Familien werden entlastet, und der Mit-telstand wird nach Berechnungen des Ifo-Instituts umdreieinhalb Milliarden DM entlastet. Ich stelle fest: Dieganze Richtung stimmt; denn es war falsch – wie das inden letzten Jahren geschehen ist –, immer nur dieGroßindustrie zu unterstützen.
Die heutigen Beratungen finden vor dem Hintergrundeiner schwierigen Situation in der Weltwirtschaft statt.Die Krisenregionen in Südostasien erholen sich nurlangsam. Die Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaftsind stärker, als von dem einen oder anderen erwartet.Die wirtschaftliche Entwicklung in Brasilien und Süd-amerika insgesamt kommt hinzu. Auch hier können ne-gative Auswirkungen für die Weltwirtschaft und damitauch für unsere Volkswirtschaft nicht ausgeschlossenwerden. Die instabile wirtschaftliche Lage in Rußlandist auch für unsere Wirtschaft von Bedeutung. Die wirt-schaftlichen Schwierigkeiten dort erfassen zunehmendauch die mittel- und osteuropäischen Reformstaaten.Auch das beeinflußt die ökonomische Entwicklung inDeutschland in diesem Jahr.Die amerikanische Wirtschaft verzeichnet erfreuli-cherweise weiterhin einen klaren Aufwärtstrend. Auf derBasis der Zahlen des letzten Quartals errechnet sich für1998 ein Wachstum von 5,8 Prozent. Aber auch AlanGreenspan weist zu Recht immer wieder darauf hin, daßes Risiken gibt: erstens die sicherlich überzogenen Prei-se auf dem amerikanischen Aktienmarkt, zweitens dieeinmalig negative Sparquote, die, wenn sie in Europavorherrschte, ein gigantisches Nachfrageprogramm nachsich ziehen würde, und drittens Handelsbilanzdefizite,die wieder Rekordmarken erreichen. Das sind dreiGründe, die Veranlassung geben, darüber nachzuden-ken, wie lange die amerikanische Konjunktur allein zueinem solch starken Wachstumstrend in der Weltwirt-schaft führen kann.Insbesondere die Exportentwicklung ist gedämpftworden. Zugleich aber zeigen sich die Vorteile in Euro-pa: die Vorteile einer gemeinsamen Währung und festerWechselkurse bzw. Währungsbänder, die Staaten derEuropäischen Union, die nicht den Euro-11-Staaten an-gehören, eingeführt haben. Allerdings ist auch in Europadas Wachstum deutlich abgeschwächt. Auf der anderenSeite, monetär betrachtet, ist die Euro-Zone im Ver-gleich zu anderen Regionen ein Stabilitätsanker und hatdaher die Voraussetzungen, wieder zu verstärktemWachstum zu finden.Die Auswirkungen der Weltwirtschaftslage auf diedeutsche Wirtschaft werden wir 1999 deutlicher spürenals 1998. Die Wechselkursentwicklungen insbesonderein Südostasien haben die Konkurrenz für deutsche Gü-ter, wie jeder weiß, verschärft. Der deutsche Export –das ist nicht mehr zu bestreiten – hat es schwerer.Gleichzeitig aber profitiert die deutsche Wirtschaft vongesunkenen Erzeugerpreisen auf Grund billigerer Roh-stoffe; die Importpreise fallen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1401
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Wenn der Export als Wachstumsmotor an Bedeutungverliert, muß die Binnennachfrage mehr Verantwor-tung für ein ausreichendes Wachstum übernehmen. Des-halb begrüße ich es, daß sich die Finanzminister der G7am Samstag völlig einig darin waren, daß jetzt eine bin-nenwirtschaftlich gestützte Wachstumsstrategie, die zueiner ausgewogeneren Entwicklung der Länder beitra-gen würde, erfolgen muß. Die Bundesregierung hat diesimmer wieder verlangt; die Finanzminister der G7 habendiese Wirtschaftspolitik am Wochenende bestätigt.
Die Investitionsneigung darf nicht weiter sinken. DieNachfrage nach Investitionsgütern ist Bestandteil dergesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Wir verbessern dieAngebotsbedingungen durch Strukturreformen. Einestärkere Nachfrage sichert den Absatz neuer Güter.Für das Jahr 1999 rechnet die Bundesregierung miteinem Rückgang der Zahl der Arbeitslosen um 150 000bis 200 000. Nach dieser Schätzung wird die Arbeitslo-senquote auf 10,5 Prozent sinken. Voraussetzung ist –das will ich in aller Klarheit hinzufügen –, daß dasWachstum in der zweiten Hälfte dieses Jahres anziehtund daß es wieder Beschäftigungsimpulse gibt.Die Arbeitslosigkeit ist noch immer viel zu hoch; ihreReduzierung bleibt wichtigstes Ziel der Bundesregie-rung. Um dieses Ziel zu erreichen, versuchen wir einenneuen Politikansatz: Wir setzen auf einen internationalabgestimmten kurz-, mittel- und langfristigen Policy-mix. Wir wollen eine ausgewogene Mischung von An-gebots- und Nachfragepolitik.
Dazu ist nicht nur in Deutschland, sondern zumindestauf europäischer Ebene, wenn nicht sogar darüber hin-aus eine gesamtwirtschaftliche Koordinierung notwen-dig. Finanz-, Lohn- und Geldpolitik sollen konfliktfreizusammenwirken. Es darf nicht wieder dazu kommen –wie im Jahre 1992 –, daß überzogenes Ausgabeverhaltendes Staates, über der Produktivität liegende Lohnab-schlüsse und eine Geldpolitik, bei der sich die kurzfristi-gen Zinsen bei 10 Prozent bewegten, auf Wachstum undBeschäftigung wirken und damit die Grundlage füreinen weiteren Aufbau der Arbeitslosigkeit legen. Diesmüssen wir in Zukunft vermeiden.
Die Finanzpolitik der Bundesregierung wird Wachs-tum und Beschäftigung neue Impulse geben. Die jetzigeWirtschaftslage erfordert die Stärkung der Binnennach-frage. Dies soll die Finanzpolitik, soweit sie es kann,unterstützen. Gleichzeitig müssen die Staatsfinanzen sa-niert werden. Solide Staatsfinanzen sind Voraussetzungfür gute Angebotsbedingungen und für eine stabileNachfrage.Im deutschen Stabilitätsprogramm, das wir vor we-nigen Wochen der Europäischen Kommission vorgelegthaben, planen wir für die Zukunft sinkende Defizite so-wie eine sinkende Schulden- und Staatsquote. Voraus-setzung für das Erreichen dieser Ziele ist aber zum einender erfolgreiche Abbau der Arbeitslosigkeit. Zum ande-ren darf es nicht zu einer dauernden Wachstumsschwä-che kommen. Dazu müssen in den nächsten Monaten dienotwendigen Anstrengungen unternommen werden; da-zu muß auch die Lohnpolitik einen Beitrag leisten. Dasläßt sich am besten erreichen, wenn sich die Lohnzu-wächse am mittelfristigen Produktivitätsfortschritt undam Preisstabilitätsziel der Europäischen Zentralbankorientieren.
– Sie müßten aus den Fehlern der letzten 16 Jahre dochallmählich gelernt haben.Wer weiterhin nur auf stetig sinkende Lohnstückko-sten in Deutschland setzt, hat die Lehren der Vergan-genheit nicht begriffen und hat nicht begriffen, warumsich die Arbeitslosigkeit in Deutschland systematischaufbauen konnte.
Auch in den vergangenen drei Jahren, meine Damen undHerren – schauen Sie in die internationalen Statistiken –,gab es sinkende Lohnstückkosten in Deutschland. Dieswar aber offensichtlich kein Patentrezept zum Abbau derArbeitslosigkeit. Der Anteil der Löhne am Bruttosozial-produkt ist in Deutschland 1998 so niedrig wie nie zuvorgewesen. Das ist schlicht und einfach eine Tatsache.Daher darf man nicht immer nur auf die Lohnseiteschauen, wenn die Frage gestellt wird: Wer kann denn –im Sinne von Zurückhaltung – einen Beitrag fürWachstum und Beschäftigung leisten?Die realen Nettolöhne sind mit der Ausnahme desJahres 1996 seit Jahren rückläufig. Die Daten der Indu-strieländer, die uns oft als Vorbild vorgehalten werden,zum Beispiel die Vereinigten Staaten, zeigen hingegensteigende Reallöhne. Ich wiederhole: Im Gegensatz zurEntwicklung bei uns zeigt die Entwicklung in den Ver-einigten Staaten, daß steigende Reallöhne Grundlageauch von Wachstum und Beschäftigung sind. In denVereinigten Staaten – auch wenn das Vorurteilen wider-spricht, aber es sind Tatsachen – gibt es keine sinkendenLohnstückkosten, sondern es gibt statt dessen eine sta-bile Konsumentennachfrage. Sie ist offensichtlich aucheine wichtige Voraussetzung für eine stabile Investitions-tätigkeit.Meine Damen und Herren, da das offensichtlich einStreitpunkt ist, will ich ihn mit einigen Sätzen noch ein-gehender behandeln. Wer ständig auf sinkende Lohn-stückkosten setzt, kann dies vielleicht in einer kleinenVolkswirtschaft tun, wo etwa, wie in Nachbarländern,der Exportanteil bei weit über 50 Prozent liegt. SolcheStaaten in der Europäischen Gemeinschaft können viel-leicht noch auf eine solche Strategie setzen. Wer aberwie wir eine Relation von 75 Prozent Binnennachfrageund 25 Prozent Export hat, der kann nicht auf ständigsinkende Lohnstückkosten setzen, weil er damit zwaretwas für den Export gewinnt, aber das, was er in bezugauf den Export gewinnt, in bezug auf die Binnen-Bundesminister Oskar Lafontaine
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1402 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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nachfrage und besonders hinsichtlich von Wachstumund Beschäftigung verliert. Diesen Zusammenhang ha-ben Sie lange Jahre ignoriert; Sie müssen ihn endlich zurKenntnis nehmen, wenn wir zu einem fruchtbaren Dia-log in der Wirtschaftspolitik kommen wollen.
Es ist eben ein Fehler gewesen, immer wieder daraufzu setzen, daß man im Export gewinnt. Eine nüchterneBetrachtung hätte doch jedem die Einsicht erschließenmüssen, daß diese Strategie nicht für alle Staaten aufge-hen kann. Nicht alle Staaten können ihre Beschäfti-gungsprobleme über den Export lösen, insbesondere diegroßen Industriestaaten können ihre Beschäftigungspro-bleme nicht über den Export lösen. Um das noch deutli-cher zu formulieren: Ich wüßte nicht, wo die Weltwirt-schaft angelangt wäre, wenn etwa die Vereinigten Staa-ten der Versuchung erlegen wären, ihre binnenwirt-schaftichen Probleme verstärkt über den Export zu lö-sen. Ich will mir das Szenario überhaupt nicht ausmalen.Ich möchte zur Lohnpolitik nur eine Bemerkung ma-chen: Wer ständig für sinkende Lohnstückkosten oder –anders ausgedrückt – für eine moderate Lohnpolitik plä-diert, der muß die Frage beantworten, was am Ende ei-ner solchen Strategie steht. Er kann in diesem Fall stei-gende Exporterlöse zum Ziel haben. Das kann auch eineZeit lang funktionieren. Aber wenn der Export einbricht,dann schrumpft das Wachstum sofort auf marginaleWerte zusammen und kann die Probleme nicht mehr lö-sen. Deswegen war die Strategie der letzten Jahre falsch.Es gibt allerdings eine Kombination, die unbestrittengilt: Wenn sich die Lohnpolitik moderat verhält – zudeutsch: hinter dem Produktivitätsfortschritt herhinkt –,dann muß jemand dagegenhalten. Nach der internatio-nalen Diskussion muß das die Geldpolitik sein. In die-sem Fall muß die Geldpolitik, weil die Lohnpolitik nichtmehr inflationär ist, expansiv sein und für Nachfragesorgen. Geschieht das nicht, dann ist das Ergebnis das,was wir in Europa seit Jahren feststellen können, näm-lich eine steigende Arbeitslosigkeit – obwohl wir doch,wie Sie vorgeben, in den letzten 16 Jahren eine solch er-folgreiche Regierung hatten. Schauen Sie auf die Ar-beitslosenzahlen! Die Arbeitslosenzahlen sind letztend-lich die Meßlatte für eine richtige oder falsche Wirt-schaftspolitik.
Eine andere gibt es leider nicht.
– Ja, selbstverständlich: Wiedervorlage. Der Maßstab,der für Sie gegolten hat, gilt auch für uns. Das ist über-haupt keine Frage.
Wenn wir ein solches Wachstum der Arbeitslosigkeit zuverantworten hätten, wie Sie es in Ihrer Regierungszeitzu verantworten hatten, dann würden wir mit demselbenRecht abgewählt werden, wie das bei Ihnen der Fall war.Wir lassen für uns die gleichen Maßstäbe gelten.
Wenn Finanz- und Lohnpolitik für ein stabiles Um-feld sorgen, entsteht Spielraum für die Geldpolitik, auchihrerseits Wachstumsimpulse zu geben. Genauso sehendas der Maastrichter Vertrag und das Statut der Europäi-schen Zentralbank vor. Dort wird als Ziel zuerst diePreisstabilität genannt. Der Text fährt aber fort:Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles derPreisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB dieallgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft,um zur Verwirklichung der in Artikel 2 dieses Ver-trages festgelegten Ziele der Gemeinschaft beizu-tragen.Diese Ziele sind – ich zitiere –: „ein beständiges, nichtinflationäres und umweltverträgliches Wachstum“ und„ein hohes Beschäftigungsniveau“.Das, was für Deutschland gilt, gilt für die gesamteEuropäische Union. Wir werden eine Akzeptanz der eu-ropäischen Einigung bei den Bürgerinnen und Bürgernin Europa nur erreichen, wenn es in Gesamteuropa ge-lingt, Wachstum und Beschäftigung aufzubauen und dieArbeitslosigkeit zurückzuführen und zu beseitigen.
– Auf den Zuruf „Sie sind ein Repetitor!“ möchte ichantworten: Das ist ein ganz bewährtes Instrument, dasSie beispielsweise hier an der Bonner Universität ken-nenlernen können. Es wird insbesondere bei Schülernangewandt, die Lernschwierigkeiten haben.
Insofern muß ich als Repetitor auftreten. Vielen Dankfür diesen Zuruf; ich erwarte die Fortsetzung.Wenn Inflationsgefahren bestehen, müssen diese be-kämpft werden. Wenn sie nicht bestehen, hat die Geld-politik Spielräume, das Wachstum zu unterstützen.Geldpolitik ist, entgegen manchem Urteil, nicht wachs-tumsneutral. So kann beispielsweise der Zinsmechanis-mus genutzt werden, um in einem stabilen wirtschaftli-chen Rahmen Wachstumsimpulse zu geben. NiedrigeKurzfristzinsen können positive Effekte auf die Gewinn-erwartungen, die Investitionen und die Beschäftigunghaben. Sie regen zu Umschichtungen in längerfristigeTitel an und senken die Finanzierungskosten für Investi-tionen. Sie stimulieren den Konsum, weil kurzfristigeAnlagen dann unattraktiver werden.Das Beispiel Japan zeigt allerdings, daß eine funktio-nierende Geldpolitik eine Voraussetzung hat: daß dasBundesminister Oskar Lafontaine
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Bankensystem in Ordnung ist. Ohne funktionierendeBankenaufsicht sind auch die Möglichkeiten der Geld-politik nicht gegeben. Dazu kommt: Wenn bestimmtegeldpolitische Impulse zu spät gesetzt werden, verpuffensie, weil sie von den Verbrauchern und Investoren nichtmehr angenommen werden.Dieser wirtschaftspolitische Ansatz mit einer engenKoordination von Finanz-, Lohn- und Geldpolitik basiertauf einer stärkeren Beachtung makroökonomischer Zu-sammenhänge. Er bedeutet nicht, daß wir Strukturre-formen aus dem Auge verlieren. Deshalb werden wirauch die Investitionsbedingungen in Deutschland weiterverbessern. Wir haben beide Bereiche fest im Blick:Angebot und Nachfrage. Die empirischen Daten zeigenallerdings deutlich, daß in Deutschland und Europa der-zeit vor allem eines fehlt: eine Stärkung der Binnen-nachfrage.
Diesem Ziel dient auch die Steuerpolitik. Der Wechselin der Steuer- und Abgabenpolitik ist in den Bundes-haushalt integriert worden. Die Steuerpolitik ist einwichtiges Element unseres Politikkonzeptes für Wachs-tum und Beschäftigung.Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tragenheute die Hauptlast bei der Finanzierung des Staates. Ichwiederhole das: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer tragen heute die Hauptlast bei der Finanzierung desStaates. Viele, insbesondere multinationale Unterneh-men, aber auch die Bezieher hoher Einkünfte, haben ihreSteuerzahlungen geschickt reduziert. Sie entziehen sichihrer Verantwortung für die Finanzierung der Gemein-schaftsaufgaben. Es ist und bleibt ein ehrgeiziges Zieldieser Koalition und dieser Bundesregierung, inDeutschland wieder Steuergerechtigkeit herzustellen.
Der Prozeß, der sich über Jahre aufgebaut hat – eineEntwicklung, die über Jahre nicht gestoppt werdenkonnte und damit von Ihnen zu verantworten ist – undso aussieht, daß die Vermögenden und die Einkom-mensstarken durch legale Inanspruchnahme des Steuer-rechtes ihre Steuerlast praktisch immer mehr gegenNull führen konnten, während die Arbeitnehmer immerhöhere Abgaben und immer höhere Steuern zahlenmußten, ist einer der Gründe für die Unzufriedenheit inder Bevölkerung und einer der Gründe dafür, warum Siedas Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger verlorenhaben. Wir brauchen in Deutschland wieder mehrSteuerehrlichkeit und mehr Steuergerechtigkeit, um dasVertrauen in unseren Staat und seine Institutionen wie-derherstellen zu können.
Wir sind angetreten – das ist unser Auftrag, wir neh-men ihn ernst –, die in den letzten 16 Jahren entstandeneGerechtigkeitslücke zu schließen, von der auch einigeaus den Reihen der Opposition gesprochen haben. Ichdenke da an Herrn Geißler und Herrn Rühe. Es ist nochkeine vier Jahre her, daß sie die Gerechtigkeitslückefestgestellt haben. Wir sind angetreten, diese Gerechtig-keitslücke zu schließen. Schon wenige Wochen nach derRegierungsübernahme haben wir mit der ersten Stufeder Einkommensteuerreform einen wichtigen Schritt da-zu getan. Wir wollen, daß Arbeitnehmer und Familienwieder mehr Geld in der Tasche haben. So einfach istdas.
Die Konzentration der Steuerentlastung auf Arbeit-nehmer und Familien stärkt die Kaufkraft und gibt derNachfrage Impulse. Allerdings muß auch die Steuer-politik das Gebot solider Staatsfinanzen beachten. Des-halb werde ich nicht müde, darauf hinzuweisen, daßDeutschland die niedrigste Steuerquote in der Europäi-schen Gemeinschaft hat. Ich wiederhole das: Trotz derAufgabe, etwa den Aufbau Ost zu finanzieren – wirmüssen das auf europäischer Ebene immer wieder inErinnerung rufen –, haben wir die niedrigste Steuerquotein der Europäischen Gemeinschaft. Sie betrug 1998 inder Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrech-nung 22,5 Prozent.Nun wird die eine oder der andere unserer Zuschaue-rinnen und Zuschauer sagen: Das kann doch nicht wahrsein, daß wir die niedrigste Steuerquote in der Euro-päischen Gemeinschaft haben; ich zahle doch sovielSteuern.– Ich will die Erklärung dafür liefern – die Ant-wort ist ganz einfach –: Die einen zahlen treu und bravihre Steuern, die anderen können sich der Steuer auf derGrundlage eines Steuerrechtes, das sich völlig verfehltentwickelt hat, ganz oder teilweise entziehen. Genau dasmuß geändert werden. Wir sind dabei, das zu tun.
Die Steuerentlastungen müssen daher gezielt erfolgenund mit den volkswirtschaftlichen Erfordernissen undden Finanzierungsmöglichkeiten von Bund, Ländernund Gemeinden im Einklang stehen. Zugunsten dermittelständischen Wirtschaft haben wir an unserem Ge-setzentwurf Korrekturen vorgenommen, die sich in denBilanzen dieser Unternehmen mit 6 Milliarden DM undsteuerlich – wie das Ifo-Institut ausgerechnet hat – mit3,5 Milliarden DM niederschlagen. Deshalb ist die Ein-kommensteuerreform in den ersten Schritten aufkom-mensneutral. Trotzdem führt die Einkommensteuerre-form – und das ist gewollt – zu einer Entlastung der Be-zieher kleiner und mittlerer Einkommen sowie zu einerEntlastung der Familien mit Kindern; denn der Ein-gangssteuersatz wurde abgesenkt, das Kindergeld spür-bar angehoben. Durch Umschichtungen im Steuersy-stem, durch Herstellung von mehr Steuergerechtigkeitläßt sich die Binnennachfrage auch bei Aufkommens-neutralität stärken.Ich sage jetzt noch etwas zum Eingangssteuersatz:Es ist nicht so, als könnte man das Steuerrecht nur unterformalen Gesichtspunkten oder nur unter Gesichts-punkten der sozialen Gerechtigkeit betrachten, die imWiderspruch zu vernünftigen volkswirtschaftlichen Er-wägungen stehen. Es wird viel – und oft allein – vomBundesminister Oskar Lafontaine
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1404 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Eingangssteuersatz geredet. Wir haben in den letztenJahren immer wieder moniert, daß er viel zu hoch ist.Nach meiner Meinung ist er jetzt im ersten Anlaufeigentlich noch zuwenig gesenkt worden. Es ist abernotwendig, ihn zu senken, weil ein zu hoher Eingangs-steuersatz eben die Schwarzarbeit begünstigt. Dies liegtauch im Interesse der Staatsfinanzen.
Für die Unternehmen planen wir eine Steuerreform,an deren Ende eine rechtsformunabhängige Besteue-rung mit einem Steuersatz von höchstens 35 Prozentsteht. In Richtung Mittelstand möchte ich dazu sagen,daß es sich bei diesen 35 Prozent um einen Höchst-steuersatz handelt, nicht um einen Steuersatz, den jederentrichten muß. Hier ist es da und dort zu Mißverständ-nissen gekommen. Für das normale mittelständischeUnternehmen wird der tatsächliche Steuersatz niedrigersein. Hier gab es einen systematischen Fehler einzelnerEntwürfe – ich sage dies jetzt nicht nur in eine Richtung–, die in den letzten Jahren vorgelegt worden sind. Manhat auch bei den Unternehmensteuern allzu stark immerauf die Höchststeuersätze gestarrt. Das war insbesonderegegenüber den kleinen und mittleren Betrieben falsch,die die Höchststeuersätze gar nicht erreichen.
Deshalb genügt es nicht, immer nur auf die Höchst-steuersätze zu starren.Es ist auch falsch, wenn beispielsweise einzelneWirtschaftsverbände bei ihren Debatten immer nur dieHöchststeuersätze nennen. Das ist ein Irrtum auch dieserVerbandsvertreter. Es geht um die Durchschnittsbela-stung der mittelständischen und der kleinen Betriebe.Die muß heruntergefahren werden. Dies erreicht manaber nicht über eine Betrachtung allein der Höchst-steuersätze.
Die Bundesregierung hält nach wie vor an dem Zielfest, die ökologische Steuer- und Abgabenreformdurchzuführen. Dieses Ziel, das über Jahre unstreitigwar und auf europäischer Ebene inzwischen von derMehrheit der Staaten akzeptiert wird, ist Ausdruck ver-nünftiger Modernisierung, vernünftiger Strukturrefor-men und vor allen Dingen Ausdruck einer längerfristigangelegten Politik. Natürlich kann man – in den letztenWochen und Monaten haben sich die Beispiele wiedergehäuft – kurzfristig Punkte machen, indem man da unddort gegen die Steuerreform polemisiert und sich nurden Belastungsteil herausgreift.
Aber es ist keine seriöse Diskussion, nur den Bela-stungsteil zu nennen und den Entlastungsteil zu ver-schweigen.Ich sage an die Verbandsvertreter der Wirtschaft undan die Einzelunternehmen: Eine faire steuerliche De-batte ist notwendig, um zu guten Ergebnissen zu kom-men. Das setzt voraus, daß man bei der Steuer- und Ab-gabenreform – der ökologischen Steuer- und Abgaben-reform – nicht nur den Belastungsteil benennt, sondernbitte schön auch vorrechnet, was man bei den Lohnne-benkosten an Einsparungen hat. Sonst ist die ganze De-batte nicht seriös und verstimmt im Grunde genommenauch. So kann man doch nicht vorgehen.
Wenn ich jetzt sehe – man müßte etwas differenzie-ren, aber die Zeit läßt es nicht zu –, wie die Opposi-tionsparteien diskutieren, so stelle ich fest: Das ist wirk-lich billiger Populismus und im Grunde auch Irrefüh-rung der Öffentlichkeit. Ich habe es von dieser Stelle ausimmer wieder begrüßt, daß sich einzelne in ihren Reihen– einige wollen dies heute scheinbar nicht mehr wissen –für die ökologische Steuer- und Abgabenreform einge-setzt haben. Es gab hier vor den Bundestagswahlen eineAuseinandersetzung zwischen der CDU und der CSU.Ich verstehe die Beweggründe der Parteivorsitzenden,ich kenne die Notwendigkeit zusammenzuführen usw.;das soll man auch tun. Aber so ein bißchen darf man zuden Überzeugungen, die man einmal vertreten hat, nochstehen. Die ökologische Steuer- und Abgabenreform istein Projekt der Modernisierung, ist ein Zukunftsprojekt.Wir dürfen es nicht einfach preisgeben und einem billi-gen Populismus opfern.
Ich spreche von Zukunftsorientierung. Oft wird be-klagt, daß die Politik nur auf die Schlagzeile des näch-sten Tages starrt. Diese Kritik ist sicherlich gerechtfer-tigt. Jeder von uns
– jeder von uns, Herr Kollege Schäuble, habe ich gesagt,sogar Sie – muß sich eine solche Kritik teilweise gefal-len lassen und sich die Frage stellen, ob er nicht allzuleicht solchen Versuchungen entspricht. Wir haben Her-ausforderungen gegenüber kommenden Generationen.Ich erinnere daran, weil ich den früheren BundeskanzlerKohl hier im Plenum sehe. Wir sind angesichts derkommenden Generationen gefordert, eine langfristigeOrientierung vorzulegen. Ich erinnere mich noch gut anIhre Reden, die Sie vor zwei, drei Jahren im Vorfeld desGipfels von Rio und anderer Gipfel, auch in Berlin, ge-halten haben, als Sie für stärkere Maßnahmen im Um-weltschutz geworben haben. Bleiben wir doch gemein-sam bei dieser Grundüberzeugung! Der Umweltschutzist angesichts unserer Verantwortung für Generationen,die noch gar nicht geboren sind, eine wichtige Aufgabe.
Bundesminister Oskar Lafontaine
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1405
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Im übrigen ist doch in vielen Debatten zuvor – icherinnere an die Einführung des Katalysators, ich erin-nere an die verstärkten Auflagen bei der Luftreinhal-tung – zu Recht darauf hingewiesen worden, daß aufdiesem Sektor Technologien induziert und marktfähiggemacht worden sind, die auch in Deutschland Beschäf-tigung gebracht haben. Das ist doch von allen hier im-mer wieder festgestellt worden, und an diesem Sachver-halt hat sich gar nichts geändert. Nur die Produkte wer-den die Märkte der Zukunft erobern, die nicht mit zustarken Belastungen der Umwelt verbunden sind.
Der Haushalt 1999 ist ein erster Schritt, aber – viel-leicht ist es ungewöhnlich, wenn ich als derjenige, derihn, zumindest was die Aufstellung angeht, zu verant-worten hat, das sage – er ist ein bei weitem noch unzu-reichender Schritt zur Sanierung der Staatsfinanzen.
– Herr Kollege Zwischenrufer, wenn Sie bei einer sol-chen Debatte, in der es um einen sachlichen Ansatz geht,dann, wenn ich feststelle, daß wir bei weitem noch nichtgenügend Anstrengungen unternommen haben, um dasstrukturelle Defizit abzubauen, sagen, das sei der ersterichtige Satz gewesen, so qualifiziert dieser ZwischenrufSie selber. Ich lasse ihn so stehen.
Wir haben bei weitem noch nicht genug Anstrengun-gen unternommen, um den Staatshaushalt zu sanieren.Zu rechtfertigen ist das nur, weil ich der Auffassung bin,die von vielen geteilt wird, daß der Staat in einer Phasezurückgehender Konjunktur diesen Prozeß nicht nochdurch verstärkte Sparmaßnahmen oder Steuererhöhun-gen verschärfen soll.
Man kann sich zu dieser Auffassung bekennen odernicht. Ich halte diese Auffassung für richtig. Wenn Ge-fahren bestehen, daß das Wachstum zu stark zurückgeht,dann kann der Staat nicht verstärkt Ausgaben kürzenoder Steuern erhöhen. Zu dieser Auffassung kann man jaoder nein sagen, aber man sollte an dieser Stelle einegewisse Konsequenz entwickeln.Im Vergleich zum Haushaltsentwurf der alten Bun-desregierung haben die Ressorts grundsätzlich einenKonsolidierungsbeitrag in Höhe von 0,5 Prozent ihresAusgabevolumens erbracht. Ich sagte bereits: Das wirdin Zukunft nicht ausreichen. Entsprechend dem Finan-zierungsvorbehalt des Koalitionsvertrages mußten dieRessorts neue Ausgaben durch Einsparungen innerhalbdes eigenen Einzelplanes finanzieren. Durch diese Um-schichtung von Mitteln ist es möglich geworden, neuepolitische Weichenstellungen vorzunehmen. Bei demnotwendigen Einstieg in die Sanierung der Staatsfinan-zen haben alle Ressorts einen Beitrag zu leisten. Es kannniemand davon ausgenommen werden. Auch das wollteich heute in aller Klarheit noch einmal festgestellt haben.Die Neuverschuldung wird im Bundeshaushalt 1999auf 56,2 Milliarden DM zurückgeführt. Sie liegt damitleicht unter dem Niveau von 1998. Trotz des hohenSchuldenberges, der zu erheblichen Zinsbelastungenführt, die niemand bestreiten kann, wird die Nettokre-ditaufnahme unterhalb der verfassungsrechtlich vorge-gebenen Verschuldungsgrenze gehalten. Die Investi-tionsausgaben liegen um 2 Milliarden höher als dieNettokreditaufnahme. Mit dieser Begrenzung der Neu-verschuldung setzt die Bundesregierung ein Stabilitäts-signal – wenn ich auch hinzufüge: Im Hinblick auf dielängerfristige Perspektive ist das noch nicht ausreichend.Wir haben die durchlaufenden Posten bereinigt. Dereffektive Anstieg der Ausgaben wird auf 1,7 Prozentbegrenzt. Er liegt damit unter dem erwarteten Wachstumdes Bruttosozialproduktes. Das entspricht den Vereinba-rungen des Finanzplanungsrates für den Gesamtstaat.Um auch in den kommenden Jahren die sich ausArt. 115 des Grundgesetzes ergebende Verschuldungs-grenze einzuhalten, müssen wir die Deckungslückeschließen, die die Regierung Kohl hinterlassen hat. Eshandelt sich um eine strukturelle Deckungslücke von30 Milliarden DM. Bisher haben wir immer von nur 20Milliarden DM gesprochen. Diese Lücke ist bisherdurch Veräußerung von Vermögenswerten geschlossenworden. Jetzt kommen aber die Folgen des Urteils desBundesverfassungsgerichtes zum Tragen: Auf denBundeshaushalt kommen weitere 10 Milliarden DM zu,auf die Länderhaushalte ebenfalls 10 Milliarden.Meine Damen und Herren, man kann diese Debatteum Himmels willen nicht so führen – dann würden dochdie Grenzen fairen Umgangs miteinander verletzt –, alswäre das die Verantwortung der jetzigen Bundesregie-rung. Der Beschluß des Verfassungsgerichtes ist bitter.Er bedeutet nämlich, daß Sie den Familien – wie oftwurde auf Parteitagen der CDU/CSU die Familienpoli-tik in den Mittelpunkt gestellt? – Jahr für Jahr20 Milliarden DM vorenthalten haben. Welch vernich-tendes Urteil über die Familienpolitik der letzten Jahre!
Daß dabei oft auch finanzielle Zwänge eine Rolle ge-spielt haben, wer wollte das in Abrede stellen? Daß da-bei Fehleinschätzungen der letzten Jahre, die beträcht-liche Ausmaße hatten, eine Rolle gespielt haben, werwollte das in Abrede stellen? Aber hier zeigt sich wiedereinmal, daß man die finanziellen Probleme auf Dauereben nicht zu Lasten einzelner Gruppen lösen kann.Auch hier zeigt sich das Problem der Gerechtigkeit.Wie ich gesagt habe, daß es ungerecht war, die Arbeit-nehmer über Gebühr mit Steuern und Abgaben zu bela-sten, um die Staatsaufgaben zu finanzieren, so sage ich:Es war eine nicht hinnehmbare Ungerechtigkeit, daß dieFamilien in den letzten Jahren so stark benachteiligtworden sind.
Bundesminister Oskar Lafontaine
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1406 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Ich sage in allem Freimut, daß es keine leichte Auf-gabe sein wird, diese Deckungslücke von 30 MilliardenDM zu schließen. Ich rate dazu, ein Mindestmaß anintellektueller Redlichkeit walten zu lassen.
– Da die Opposition erfreulicherweise reagiert, will ichdas etwas deutlicher machen.
Wer auf der einen Seite weitere Steuersenkungen undauf der anderen Seite zwar allgemein Ausgabenkürzun-gen, aber in seinem speziellen Bereich Ausgabenerhö-hungen fordert, der macht sich in einer solchen Debattevöllig unglaubwürdig. Das ist in aller Deutlichkeit zusagen.
Ich kann Ihnen aus langjähriger Erfahrung mit Opposi-tionen auf anderen Ebenen sagen, daß solche Politik inder Regel keine Chance hat.Meine Damen und Herren, nicht nur die Haus-haltseckwerte, sondern auch die Struktur des Haushaltessetzt neue politische Akzente. Mit dem Haushalt 1999vollziehen wir in wichtigen Bereichen den Neuanfang,den wir den Bürgerinnen und Bürgern vor der Wahl ver-sprochen haben. Deshalb noch einmal: Das Motto heißt„Versprochen – gehalten“.Ich komme zum Aufgabenschwerpunkt Wissenschaftund Bildung. Der Wohlstand in Deutschland hängt ingroßem Umfange von unserer wirtschaftlichen Lei-stungsfähigkeit ab. Diese Leistungsfähigkeit kann nurerhalten werden, wenn wir die international führendePosition Deutschlands bei Forschung und Wissenschaftausbauen. Das wichtigste Kapital der deutschen Wirt-schaft sind der hohe Ausbildungsstand und das Wissender Menschen in diesem Land. Im Bundeshaushalt 1999werden daher die Zukunftsinvestitionen für Forschung,Bildung und Wissenschaft gegenüber 1998 um 1 Mil-liarde DM erhöht. Dies ist ein Signal zur Zukunftssiche-rung und zur Unterstützung von Innovationen.Es kann jeder berechtigt einwenden, 1 Milliarde DMsei angesichts der großen Herausforderungen der Zu-kunft im Grunde genommen noch ein sehr bescheidenerBetrag. Wir hätten hier auch gerne stärkere Signale ge-setzt; ich sage das in aller Klarheit. Aber die Lage desHaushaltes ließ das nicht zu. Jedoch hatten wir den Bür-gerinnen und Bürgern und den Menschen, die in diesenBereichen arbeiten, vor der Bundestagswahl eine Auf-stockung versprochen, und dieses Versprechen wird mitdiesem Bundeshaushalt gehalten.
Für die kommenden Jahre ist eine weitere Verstärkungdieser Zukunftsinvestitionen vorgesehen. Der Bundstockt jetzt endlich wieder die Zukunftsinvestitionen auf.Wer die Zukunft gewinnen will, der darf nicht bei For-schung, bei Bildung und bei Wissenschaft sparen; sokann man die Zukunft nicht gewinnen.
Der Etat enthält Mittelaufstockungen für die Förde-rung der Forschung kleiner und mittlerer Unternehmen,für die Förderung moderner Schlüsseltechnologien, fürdie Förderung von wissenschaftlichem Nachwuchs undfür ein Sonderprogramm zum Ausbau der Forschungs-landschaft in den neuen Ländern. Für den Hochschulbauwerden 200 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung ge-stellt. Auch hier wiederum der Bezug auf die Vergan-genheit: Jahrelang haben wir hier im Bundestag kriti-siert, daß der Bund zuwenig Mittel für den Hochschul-bau zur Verfügung stellt. Hinsichtlich der 200 MillionenDM kann wieder kritisiert werden, daß dieser Betrag zugering sei. Was will man dieser Kritik entgegenhalten?Aber wir sind stolz darauf, daß wir jetzt einen Anfangmachen und die Raumnot an den Universitäten nicht nurauf den Lippen führen, sondern einen Akzent zu ihrerBekämpfung setzen.
Die BAföG-Mittel für 1999 werden gegenüber demVorjahr um 6 Prozent erhöht. Die Entwicklung an dendeutschen Hochschulen – über die in den letzten Mona-ten verstärkt berichtet worden ist –, daß immer wenigerKinder aus Haushalten mit niedrigem Einkommen eineChance haben, ein Hochschulstudium zu absolvieren,sollte doch uns alle herausfordern. Es ist nicht damitgetan, daß wir einfach irgend jemandem die Schuld zu-weisen. Wir müssen das schlicht und einfach ändern.Das ist einer der Gründe, warum wir sagen: Es ist bes-ser, die finanzielle Situation dieser Familien überBAföG zu stärken, als noch Studiengebühren draufzu-setzen. Wie sollen denn dann die Arbeiterhaushalte dasStudium ihrer Kinder noch finanzieren können? Ichweiß die Antwort dann nicht mehr.
Wenn ich schon bei diesem Bereich bin, sage ichauch an die Adresse der Liberalen einmal ein Wort. Esist begrüßenswert, wenn Sie immer wieder sagen: Wirunterstützen den Ansatz, auf die Zukunft gerichtet For-schung, Wissenschaft, Bildung usw. zu stärken. – Es istgut, wenn man an dieser Stelle Übereinstimmung hat.Wenn man aber gleichzeitig weiß, daß wir jetzt im Bun-deshaushalt ein strukturelles Defizit von 30 MilliardenDM haben, und wenn man gleichzeitig weiß, daß die ur-sprünglichen Planungen, den Aufbau Ost zu unterstüt-zen, nicht eingehalten werden können – weder imZeitrahmen noch in der Höhe der aufzubringenden Mit-tel –, dann ist es vor diesem Hintergrund nicht glaub-würdig, sich auf die Forderung nach immer weiterenSteuersenkungen im Saldo zu reduzieren. Das war derFehler Ihres Konzeptes vor der Bundestagswahl. Nachder Bundestagswahl und nach dem Urteil des Bundes-verfassungsgerichts ist dieses Konzept völlig in sichBundesminister Oskar Lafontaine
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1407
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zusammengebrochen. Da muß man doch einfach wahr-haftig und redlich sein.
Wir setzen auch einen Schwerpunkt auf den AufbauOst, wie wir es bereits vor den Wahlen gesagt haben.Wir haben versprochen, den Aufbau in den neuen Län-dern auf hohem Niveau fortzusetzen. Wir halten diesesVersprechen. Im Bundeshaushalt werden für Leistungenin den neuen Ländern Mittel von 100 Milliarden DM zurVerfügung gestellt. Im Vordergrund steht der Ausbauder Infrastruktur. Die Verkehrsprojekte Deutsche Ein-heit werden zügig fertiggestellt. Damit gewinnt derStandort neue Länder weiter an Attraktivität.Im Rahmen der regionalen Wirtschaftsförderungkönnen in den neuen Ländern 1999 neue Bewilligungenin einer Größenordnung von 6 Milliarden DM eingegan-gen werden. Ein besonderer Schwerpunkt des AufbausOst ist die Förderung von Mittelstand und Handwerk.Die Sonderprogramme für Forschung und Entwicklungin den neuen Ländern werden auf 325 Millionen DM er-höht. Für die Nachsorge bei ehemaligen Treuhandunter-nehmen durch die Bundesanstalt für vereinigungsbe-dingte Sonderaufgaben stellen wir in diesem Jahr 500Millionen DM mehr zur Verfügung. Diese zusätzlichenMittel können eingesetzt werden, um Investitionen undArbeitsplätze bei den ehemaligen Treuhandunternehmenzu sichern. Hinzu kommen aus dem Bundeshaushaltüber 1 Milliarde DM für die anderen Treuhandnachfol-geeinrichtungen. Diese Mittel tragen ebenfalls zur Um-strukturierung der ostdeutschen Wirtschaft bei. Sie die-nen auch der Sanierung der ostdeutschen Braunkohle-reviere.Die robuste Struktur der deutschen Volkswirtschaftist in großen Teilen von einem sehr flexiblen Mittel-stand geprägt. Diesen Mittelstand wollen wir erhaltenund fördern. Bei der Schaffung von Arbeitsplätzen set-zen wir auf kleine Betriebe, auf den Mittelstand und aufdas Handwerk. Wir haben dem Mittelstand Steuersen-kungen versprochen, und wir halten dieses Verspre-chen. Ich verweise in diesem Zusammenhang noch ein-mal auf die 3,5 Milliarden DM, die das Ifo-Institut er-rechnet hat. Die Förderung des Mittelstandes im Einzel-plan des Bundesministers für Wirtschaft und Technolo-gie wird gegenüber dem Entwurf der alten Bundesregie-rung auf 2,2 Milliarden DM erhöht. Die Forschungsför-derung für kleine und mittlere Unternehmen wird ge-genüber 1998 um rund 100 Millionen DM aufgestockt.Mit dem Haushalt 1999 starten wir auch ein neues Pro-gramm zur Verbesserung der Innovationsfähigkeit derkleinen und mittleren Unternehmen.Gerade der Mittelstand ist nicht in erster Linie undallein im Export tätig. Er ist abhängig von einer stabilenNachfrage. Deshalb ist auch der Mittelstand und sindauch die kleinen Betriebe in Deutschland, sind vor allenDingen auch die Handwerksbetriebe in Deutschland aufeine stabile Binnennachfrage angewiesen.Es ist erfreulich, daß seit November im Einzelhandelwieder höhere Umsätze getätigt werden. Das ist eine er-freuliche Entwicklung, die man jetzt nicht durch ir-gendwelche Fehlentscheidungen wieder abbrechen oderbelasten darf. Auch vor diesem Hintergrund bitte ich,die Debatten der letzten Tage zu verstehen. Daher wärees auch falsch, wenn wir in einer solch labilen Situationdie Bevölkerung und die Wirtschaft mit ständig neuenPrognosen über Mehrwertsteuererhöhungen verunsi-chern. Ich bleibe dabei – ich sage das auch im Auftragdes Bundeskanzlers –: Die jetzige schwierige ökonomi-sche Situation verträgt sich überhaupt nicht mit wö-chentlich wiederkehrenden Steuererhöhungsdebatten.
Mit unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik wollenwir vor allem die Beschäftigungsmöglichkeiten auf demersten Arbeitsmarkt verbessern. Auch das ist unstreitig.Aber das Bekenntnis zum ersten Arbeitsmarkt löst nichtdie Probleme der vier Millionen Menschen, die keineBeschäftigung haben, zumindest nicht kurzfristig. Diesbitte ich zu beachten, wenn immer allzu leichtfertig überden sogenannten zweiten Arbeitsmarkt gesprochenwird. Wenn man selbst in der Lage wäre, nämlich daßman sich als Langzeitarbeitsloser oder als jungerMensch monatelang – manchmal sogar ein Jahr oderlänger – vergeblich um einen Arbeits- oder Ausbil-dungsplatz bemüht, dann würde man begreifen, daß fürdiese Menschen auch der zweite Arbeitsmarkt ein An-gebot ist, das wir machen müssen, natürlich mit demZiel, sie in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.
Es geht hier auch um etwas, was ökonomisch garnicht zu quantifizieren ist. Es geht um den Verlust desSelbstwertgefühls der Menschen und um den Verlust desZutrauens in die eigenen Fähigkeiten. Das ist ökono-misch oder in Zahlen gar nicht auszudrücken. Wir sindaber auch nicht nur dazu da, um auf Zahlen zu starren;vielmehr müssen wir uns auch konkret klarmachen, wasdie Zahlen bedeuten. Angesichts der vielen Menschen,die Arbeit und Ausbildung suchen, sind verstärkte An-strengungen der Arbeitsmarktpolitik auf dem sogenann-ten zweiten Arbeitsmarkt notwendig. Wir haben das ver-sprochen. Wir setzen das jetzt auch mit unserem Bun-deshaushalt um.
Das Programm zur Bekämpfung der Jugendar-beitslosigkeit habe ich bereits genannt. Wir sind stolzdarauf. Das Programm zur Bekämpfung der Langzeit-arbeitslosigkeit wird fortgesetzt. Für die Jahre 1999 bis2002 stellen wir weitere Mittel von insgesamt2,25 Milliarden DM zur Verfügung. Mit diesen Mittelnfinanzieren wir Lohnkostenzuschüsse an Arbeitgeber,die Langzeitarbeitslose einstellen.Die Zuschüsse des Bundes an die gesetzliche Ren-tenversicherung steigen um 18,5 Milliarden DM aufinsgesamt 119 Milliarden DM. Diese Steigerung erlaubtes, den Beitragssatz ab 1. April 1999 von 20,3 auf 19,5Prozent abzusenken. Dazu möchte ich eine BemerkungBundesminister Oskar Lafontaine
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1408 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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an die rechte Seite des Hauses richten: Wir haben, alsder Beitragssatz Ihnen zu entgleiten drohte, zugestimmt,die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Wir wußten, daß daskeine populäre Entscheidung war. Ich hoffe, daß diesnoch in Erinnerung ist. Ich wünsche mir manchmal, daßmit ähnlicher Sachlichkeit, mit der wir Ihnen vor einigenMonaten begegnet sind, auch das Bemühen der jetzigenKoalition begleitet würde, die Lohnnebenkosten zusenken und den Beitragssatz der Rentenversicherung inGrenzen zu halten.
Ich möchte zu den Angeboten auf dem Arbeits-markt eines hinzufügen: Wir können hier von Skandi-navien und vielleicht auch von den angelsächsischenLändern noch lernen. Das ist meine Überzeugung. Wirkönnen lernen, daß das Angebot auf dem Arbeitsmarktallein nicht ausreichend ist; vielmehr muß es mit Maß-nahmen verbunden sein, die dazu führen können, daßMitbürgerinnen und Mitbürger, die dieses Angebot nichtannehmen wollen, mit Kürzungen und Streichungenbei den sozialen Transferleistungen zu rechnen haben.Ich meine, daß es nicht nur Rechte, sondern auchPflichten in unserem Staat gibt. Dies muß auch in derSozialgesetzgebung zum Ausdruck kommen.
Im neuen Haushalt für Verkehr, Bau und Wohnungs-wesen sind die Investitionen für die öffentliche Infra-struktur gebündelt. Für den Ausbau der öffentlichenInfrastruktur stehen insgesamt 25,7 Milliarden DM zurVerfügung. Dabei handelt es sich vor allem um Investi-tionen in den Bereichen Schiene, Straße, Wasserwege,Städtebau und sozialer Wohnungsbau. Für diese Investi-tionen werden 1999 1,5 Milliarden DM mehr als 1998zur Verfügung gestellt. Für die Lärmsanierung an beste-henden Schienenwegen werden erstmals 100 MillionenDM angesetzt. Im Städtebau setzen wir einen neuen Ak-zent. Unter dem Titel „Die soziale Stadt“ starten wir mitdem Haushalt 1999 ein neues Programm zur Förderungvon Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf.Dieses Programm hat einen Verpflichtungsrahmen von100 Millionen DM. Die Mittel für Wohngeld werden1999 gegenüber dem Vorjahr um 240 Millionen DM er-höht. Damit beträgt der Bundesanteil an den Wohngeld-ausgaben 1999 über 4 Milliarden DM.Ich habe vorhin etwas zur Energiepolitik und zurökologischen Steuer- und Abgabenreform gesagt. Wirhaben auch hier einen Akzent gesetzt. Ich meine dasMilliardenprogramm zur Förderung der Solarenergie,das „100 000-Dächer-Programm“, mit einem Gesamt-volumen von 1,1 Milliarden DM. Auch hiergegen kanneingewandt werden, wir bräuchten weitaus größere An-strengungen; dennoch meine ich, daß wir eine Debattenach der Maßgabe „Kurzfristig reichen die fossilenBrennstoffe aus“ nicht führen können. Diese Maßgabesteht außer Zweifel; das gilt im besonderen für dieWeltkohlevorräte, das gilt aber – mit deutlichen Ab-schlägen – auch für die Gasvorräte und für die Mineral-ölvorräte, das gilt mit noch weiteren Abschlägen für dieVorräte an Uranerzen.Nur, so kann man nicht arbeiten. Angesichts unseresWissensstandes können wir Politik heute nicht mehrmachen, indem wir lediglich etwa in Jahreszeiträumenplanen. Wir müssen vielmehr in längeren Zeiträumenplanen und deshalb jetzt die Chance ergreifen, die soge-nannten erneuerbaren Energien auszubauen. Ein wichti-ger Akzent in diesem Haushalt ist die Finanzierung desProgramms zum Ausbau der Solarenergie.
Angesichts der aktuellen Diskussionen im Bereichder Außenpolitik weise ich darauf hin: Durch den Haus-halt 1999 wird sichergestellt, daß die Bundeswehr ihrenAuftrag erfüllen kann. Der Plafond des Verteidigungs-etats wird gegenüber dem Vorjahr um rund 400 Millio-nen DM erhöht. Auf der anderen Seite hat – ebenso wiedie anderen Ressorts – auch der Verteidigungsetat einenKonsolidierungsbeitrag in Höhe von 0,5 Prozent desEtatvolumens im Vergleich zum Haushaltsentwurf derVorgängerregierung geleistet.Ich sage aber dazu – jeder in diesem Hause weiß das –,daß wir auch angesichts der internationalen Herausfor-derungen den bereits durchgeführten Reformen weitereStrukturreformen hinzufügen müssen. Gerade in denletzten Monaten ist deutlich geworden, daß die Heraus-forderungen dieser Tage andere als die Herausforderun-gen vor zehn Jahren sind. Dem haben wir Rechnung zutragen. Deshalb mahne ich auch im Rahmen dieserHaushaltsberatungen die notwendigen Strukturreformenan und bitte, sie zügig in Angriff zu nehmen.
Ich möchte auch diese Haushaltsdebatte zum Anlaßnehmen, angesichts der jüngsten Diskussionen an dieserStelle den deutschen Soldaten für ihren Dienst zu dan-ken. Dies gilt insbesondere für die Bundeswehrangehö-rigen, die zur Zeit im ehemaligen Jugoslawien ihrenDienst tun. Was sie dort tun, ist ein Friedensdienst, derim Interesse ganz Europas liegt.
Wir, die wir politische Verantwortung tragen, dürfenniemals vergessen und müssen uns immer bewußt sein,daß wir schwierige Entscheidungen treffen, für die ande-re einzustehen haben, notfalls mit ihrem Leben. Das istdie Tragweite der Herausforderung, und deshalb sindwir unseren Soldaten zu großem Dank verpflichtet.
Ich möchte noch ein Wort zu den Entwicklungslän-dern Afrikas, Asiens und Südamerikas sagen. Wir be-weisen internationale Solidarität. Im Bereich der inter-nationalen Zusammenarbeit enthält der Haushaltsent-wurf einen besonderen Akzent. Die Ausgaben für Ent-wicklungshilfe werden gegenüber dem alten Regie-rungsentwurf um 124 Millionen DM angehoben. AufBundesminister Oskar Lafontaine
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1409
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dem Weltwirtschaftsgipfel im Juni in Köln wird dieBundesregierung zusammen mit den anderen Ländernder G7 eine neue Entschuldungsinitiative zugunsten derärmsten Entwicklungsländer auf den Weg bringen.Wir sollten das Thema gar nicht streitig stellen, son-dern uns nur über folgenden Sachverhalt im klaren sein.Wir hatten in den letzten Jahren angesichts der deut-schen Einheit, angesichts der Schwierigkeiten in Europa,insbesondere in Osteuropa, und angesichts der Notwen-digkeit, auch Rußland unter die Arme zu greifen, großeHerausforderungen zu bewältigen. Dennoch meine ich,daß wir darüber nicht vergessen dürfen – so möchte iches formulieren –, daß es in anderen Teilen der Welt im-mer noch große Probleme und große Herausforderungengibt und daß Menschen in anderen Teilen der Welt im-mer noch in großer Not leben und teilweise verhungern.Deshalb meine ich, daß unser großer Industriestaat trotzder Herausforderungen, denen er gegenübersteht, dieMenschen in diesen Teilen der Welt nicht vergessendarf. So rechtfertigt sich unser Mitwirken an der Ent-schuldungsinitiative, die der Bundeskanzler in Köln mitden Staats- und Regierungschefs beschließen wird.
Noch ein kurzes Wort zu den Aufstockungen derMittel für Kultur: Wie versprochen, werden die Mittelfür die Kulturförderung für die Hauptstadt Berlin undfür die neuen Länder um 180 Millionen DM erhöht. Daswerden alle begrüßen. Ich füge aber eines hinzu – dasgilt nicht nur für den Bereich, in dem die CSU Verant-wortung trägt, die sich an dieser Stelle etwas zu wichtignimmt –: Wenn wir Berlin und die neuen Länder zu-sätzlich aus dem Bundeshaushalt bei der Förderung derKultur unterstützen, dann folgt daraus für jeden, derredlich mit dem Bundeshaushalt umgeht, der Schluß,daß wir die bisherige Praxis, Ländern, die auf Grund ih-rer finanziellen Lage selbst in der Lage sind – es gehtnicht nur um ein Land –, die Kultur zu finanzieren, auchnoch aus dem Bundeshaushalt kulturelle Veranstaltun-gen in größerem Umfang zu finanzieren, nicht fortsetzenkönnen. Ich will das hier in aller Klarheit sagen. Anson-sten würde ja die Redlichkeit wirklich im Salto springen.Ich bitte Sie deshalb, an dieser Stelle zu einer redlichenDebatte zurückzukehren. Ich weise noch einmal daraufhin: Das, was ich hier vorgetragen habe, gilt nicht nurfür ein Bundesland, sondern für eine ganze Reihe vonLändern, die vielleicht darauf hoffen, daß man nichtweiß, welche Mittel aus dem Bundeshaushalt gewährtwerden. Kulturpolitik ist in erster Linie – das dürfen wirnicht vergessen – Aufgabe der Länder.Noch ein Wort zur Technik: Mit dem neuen Haushaltschaffen wir mehr Haushaltswahrheit und Haushalts-klarheit. Die alte Bundesregierung hat Milliardenschul-den in Schattenhaushalte geschoben. Das haben wirimmer kritisiert. Wir werden diese Schuldenlast jetzt imBundeshaushalt ausweisen. Im einzelnen geht es um denErblastentilgungsfonds, den Verstromungsfonds und dasBundeseisenbahnvermögen. Eine Entlastung des Bun-deshaushalts 1999 ist mit dieser Übertragung der Schat-tenhaushalte nicht verbunden.Die Schulden des Erblastentilgungsfonds werden nachden gleichen Regeln wie vor der Schuldübernahme be-dient. Der bei über 7 Milliarden DM liegende Bundes-bankgewinn wird unverändert voll und ganz zur Tilgungdes Erblastentilgungsfonds eingesetzt. Zusätzlich werdenwir – das ist das eigentliche Novum gegenüber der Rege-lung der bisherigen Regierung – die Zahlungen der neuenLänder für kommunale Altschulden in Höhe von jährlich300 Millionen DM jetzt nur noch zur Schuldentilgungverwenden. Der Restbetrag für den Schuldendienst wirdvom Bund wie bisher zur Verfügung gestellt. Ich bitte al-so, daß Sie Ihre ständig wiederholten öffentlichen Be-hauptungen korrigieren. Es hat keinen Sinn, immer wie-der – vielleicht auf der Grundlage fehlender Informatio-nen – falsche Behauptungen aufzustellen.
Meine Damen und Herren, wir bitten, dem Bundes-haushalt zuzustimmen. Wir begründen das wie folgt: Mitdiesem Haushalt schaffen wir neue Impulse für mehrWachstum und mehr Beschäftigung. Sowohl die Ange-bots- als auch die Nachfragebedingungen werden durchdie im Bundeshaushalt ergriffenen Maßnahmen verbes-sert. Die deutsche Volkswirtschaft wird davon profitieren.Der Etat 1999 ist konjunkturgerecht. Da der Exportschwächer wird, soll der Haushalt dazu beitragen, dieBinnennachfrage als Wachstumspfeiler aufzubauen. DieAusgabenpolitik der Bundesregierung setzt klare Akzentebei Zukunftsinvestitionen, beim Aufbau Ost und bei derFörderung von Mittelstand und Handwerk.Der Bundeshaushalt 1999 leistet einen Beitrag, dieGerechtigkeitslücke in unserer Gesellschaft zu schlie-ßen. Dies ist ein Gebot sozialer Verantwortung und auchein Gebot der wirtschaftspolitischen Vernunft. Weil wirversprochen haben, die Gerechtigkeitslücke zu schlie-ßen, sind wir von den Wählerinnen und Wählern beauf-tragt worden, die Regierung zu bilden. Dieser Haushaltzeigt: Wir halten unser Versprechen. Daher bitten wirum Zustimmung zu diesem Bundeshaushalt.
Ich er-öffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Fried-rich Merz von der CDU/CSU-Fraktion.Friedrich Merz (von Abgeordneten derCDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Wenn man einenEindruck vom Zustand der rotgrünen Regierung gewin-nen wollte, dann mußte man während der Rede von Os-kar Lafontaine nur auf die Regierungsbank schauen.
In den ersten 30 Minuten Ihrer Rede zur Einbringung Ih-res ersten Bundeshaushaltes, Herr Lafontaine, war nochnicht einmal ein Drittel der Mitglieder des Bundeskabi-netts anwesend.
Bundesminister Oskar Lafontaine
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1410 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Diese Tatsache scheint Ihnen völlig gleichgültig zu sein.Uns ist sie aber nicht gleichgültig, weil Ihr Verhaltennicht der Achtung vor dem Parlament entspricht.
Während Ihrer Rede war der Gesichtsausdruck desHerrn Bundeskanzlers ziemlich gequält, aber jetzt lachter wieder.
Vorher hat er 60 Minuten lang die goldene Regel „Im-mer lachen“ nicht eingehalten.
Lassen Sie uns nun auf die wichtigen Punkte desBundeshaushaltes zu sprechen kommen. Ich will einigeStichpunkte aufgreifen, die der Bundesfinanzministergenannt hat und die für die allgemeine wirtschafts- undfinanzpolitische Ausrichtung der BundesrepublikDeutschland langfristig von Bedeutung sind.Herr Lafontaine, Sie haben erneut das Thema Steu-erquote angesprochen. Dieses Thema greifen Sie immerwieder auf und erwecken damit bewußt den Eindruck,als ob sich große Teile der Privatpersonen, aber auchgroße Teile der Unternehmen in der BundesrepublikDeutschland der Steuerpflicht entziehen. Ich will diesemEindruck mit Nachdruck widersprechen. Mit einer reinvolkswirtschaftlichen Betrachtung der Steuerquote kön-nen Sie nämlich überhaupt keine Aussage darüber tref-fen, wie denn die tatsächliche Steuerbelastung von Steu-ersubjekten ist.
Ich will Ihnen diesen Sachverhalt an einer konkretenZahl deutlich machen. Das Bundeswirtschaftsministeri-um sagt bis zum heutigen Tag – diese Auffassung hatsich durch den Regierungswechsel nicht geändert –, daßweniger als die Hälfte der Einnahmen, die in der Bun-desrepublik Deutschland erzielt werden, aus Ertragsteu-ern resultiert. Wenn aber nur ungefähr die Hälfte derEinnahmen aus Ertragsteuern resultiert, dann ist dieSteuerbelastung hinsichtlich der anderen Hälfte mit realdeutlich über 40 Prozent zwangsläufig zu hoch. DiesenGesamtzusammenhang verschweigen Sie in jeder öf-fentlichen Betrachtung über die Steuerquote.
Die Aushöhlung der Steuerbasis hat im wesentlichenzwei Ursachen: Die erste Ursache ist eine von uns ge-meinsam gewollte und richtige steuerpolitische Grund-entscheidung, nämlich die Steuerfreistellung des Exi-stenzminimums und damit die Steuerfreistellung vonrund einem Drittel der Arbeitnehmereinkommen in derBundesrepublik Deutschland. Das ist die ganze steuer-politische Wahrheit, die Sie erwähnen müssen, wenn Sieüber die Steuerquote sprechen.Die zweite Ursache für die anhaltende Aushöhlungder Steuerbasis liegt in der Vielzahl der Möglichkeitender steuerlichen Gestaltung im Rahmen der Gewinn-ermittlungsvorschriften.
Wenn Sie heute diesen Zustand beklagen, dann muß ichIhnen, Herr Lafontaine, sagen, daß schon vor zwei Jah-ren eine Lösung hätte erreicht werden können; denngroße Teile der Steuerbasis wären wiederhergestelltworden, wenn es im Jahre 1997 in Deutschland zu dervon uns konzipierten großen Steuerreform gekommenwäre.
Ihr ständiger Hinweis auf die Steuerquote ist deswe-gen irreführend. Wir müssen Ihnen den Vorwurf ma-chen, daß Sie mit der Zahl, die Sie im Zusammenhangmit der Steuerquote isoliert nennen, ganz bewußt die Öf-fentlichkeit in Deutschland spalten wollen, um auf dieseArt und Weise Neidkomplexe in die Gesellschaft zu tra-gen, damit Sie darauf Ihre Umverteilungs- und Steuer-politik aufbauen können.
Ich will einen zweiten Punkt ansprechen, den Sie hierausformuliert haben, nämlich die Frage der steuerlichenBehandlung der Familien. Wir sind uns einig, daß daerheblicher Korrekturbedarf besteht. Nur bitte, erlaubenSie mir die Feststellung, daß der vom Bundesverfas-sungsgericht für verfassungswidrig erklärte Zustand mitdem, was Sie am 1. Januar 1999 in Kraft gesetzt haben,nicht beendet worden ist.
Es ist nicht etwa so, als ob Sie seit dem 1. Januar 1999den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtes ge-recht geworden wären. Das ist nicht zutreffend.
Im übrigen – bevor Sie weitere Zwischenrufe machen –
will ich Sie auf einen Punkt hinweisen, der Ihnen nochviel Freude machen wird: Wenn Sie dabei bleiben, in ei-nem System der progressiven Steuerbelastung kontinu-ierlich nur eine lineare Entlastung durchzusetzen, dannwerden Sie mit diesen Entscheidungen des Bundesver-fassungsgerichtes wirklich in ernsthafte Konflikte gera-ten. Denn wenn Sie einen Umfang von nur rund 10 000DM für Familien mit zwei Kindern zusätzlich steuerfreistellen und diese bei einer gleichzeitigen Grenzsteuer-belastung von 40 oder gar 50 Prozent in Transferleistun-gen überführen, dann werden Sie mit den von Ihnenskizzierten 10 Milliarden DM nicht hinkommen. Des-wegen sage ich Ihnen von dieser Stelle aus noch einmal:Die Zeiten, in denen Sie progressiv belasten und nur li-near entlasten, sind mit diesen Entscheidungen des Bun-desverfassungsgerichtes vorbei. Da sind wir sehr ge-spannt, welche Lösungen Sie anbieten. Im übrigen hättees der von Ihnen immer wieder zitierten Haushaltsklar-heit und Haushaltswahrheit gedient, wenn Sie schon dienotwendige Vorsorge für das Jahr 1999 angesprochenhätten. Denn Sie werden zumindest bei den Kinder-Friedrich Merz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1411
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freibeträgen rückwirkende Korrekturen der Steuerbe-scheide bis in das Jahr 1983 vornehmen müssen. Daswird den Haushalt 1999 möglicherweise belasten, weilder Bundesfinanzhof Sie aufgefordert hat, bis EndeMärz 1999 zu erklären, wie Sie das regeln wollen. WennSie das nicht öffentlich sagen, dann werden wir Siedurch eine Anfrage im Parlament veranlassen, wenig-stens hier zu sagen, wie Sie dieses Problem lösen wol-len, das Sie eben beschrieben haben und bei dem Siejede Antwort schuldig geblieben sind.
Sie haben, Herr Lafontaine, die Steuerreform ange-sprochen. Ich habe mir das Vergnügen gemacht, Sie mirspät abends bei einer Fernsehübertragung der Pressekon-ferenz anzusehen, die Sie nach der sogenannten Klau-surtagung des Bundeskabinetts am 10. Februar gegebenhaben, bei der Sie eine Reihe von Korrekturen vorge-nommen haben. Ich will zunächst einmal ausdrücklichbegrüßen, daß Sie eine Reihe von Steuererhöhungen zu-rückgenommen haben, etwa im Umfang von 6,6 Milli-arden DM. Sie sind dann allerdings auf dieser Presse-konferenz in geradezu peinlicher Weise jede Antwortdarauf schuldig geblieben, wie Sie denn die Steuererhö-hungen von mehr als 8 Milliarden DM, die Sie im Bun-deskabinett gleichzeitig beschlossen haben, in das Ge-setzgebungsverfahren einbringen wollen. Ich habe beidieser Gelegenheit das erste Mal das Gefühl gehabt, daßSie auch von der fachlichen Seite her bei dem, was Siean Steuerpolitik machen, offensichtlich überfordert sind.
Das war jedenfalls der Eindruck, der auch in der Bun-despressekonferenz allgemein bestand.Damit das nicht wieder passiert – Herr Bundeskanz-ler, Sie haben den Bundesfinanzminister gestern offen-sichtlich aufgefordert, bis übermorgen ein Unterneh-mensteuerkonzept vorzulegen,
damit die Bündnisgespräche nicht platzen – und damites nicht weitere Probleme gibt, die Sie nicht vorhergese-hen haben, will ich Sie nur auf einen Sachzusammen-hang hinweisen: Wenn Sie es weiter durchhalten wollen,ein Betriebsteuerkonzept mit einem einheitlichen Steu-ersatz von 35 Prozent für sämtliche Unternehmensge-winne, unabhängig von der Rechtsform, zu erstellen,dann wird es zwei Fragen geben, die Sie beantwortenmüssen. Die erste lautet: Beziehen Sie bei diesem Be-triebsteuerkonzept die Gewerbesteuer mit ein, ja odernein? Wenn Sie die Gewerbesteuer nicht einbeziehen,dann hat es keinen Sinn, ein solches Konzept zu ma-chen, denn dann wird die Steuerbelastung zu hoch blei-ben.Zweitens – dies ist ein verfahrenstechnischer Hin-weis, den ich Ihnen geben will, weil der Kollege Struck,der gerade nicht da ist, in anderem Zusammenhang et-was hochmütig gesagt hat: Wir brauchen die Oppositionnicht –: Bei diesem Konzept werden Sie die Oppositionbrauchen. Denn wenn Sie in Deutschland eine neueSteuer einführen – die Betriebsteuer ist als Objektsteuereine neue Steuerart, die wir in Deutschland bisher nichtkennen –, dann werden Sie zumindest in die Finanzver-fassung des Grundgesetzes eine Zuweisungsnorm auf-nehmen müssen, die dem Grunde nach etwas darüberaussagt, wem das Steueraufkommen aus dieser neuenSteuerart zusteht. Vielleicht lassen Sie das in IhremHause vorbereiten,
damit Sie nach einer Klausurtagung des Bundeskabinettsin einer Pressekonferenz nicht wieder ratlos dasitzen undauf die Fragen der Journalisten keine Antwort gebenkönnen.
Meine Damen und Herren, ich will aus den aktuellensteuerpolitischen Debatten nur zwei Punkte herausneh-men, die mir wichtig zu sein scheinen, um deutlich zumachen, daß Sie offensichtlich konzeptionell wiedereinmal nicht verstanden haben, welche Probleme Sieauslösen: Sie wollen in Zukunft die sogenannten Ver-lustzuweisungsgesellschaften nicht mehr ermöglichen.Das ist Teil Ihrer Politik der Mindestbesteuerung.Nun ist Staatsminister Naumann nicht da. Ich hätteihn ansonsten gern darauf hingewiesen, daß es eine Ver-lustzuweisungsgesellschaft gibt, die einen ganz wesent-lichen Teil seiner Politik, nämlich die Förderung derdeutschen Filmwirtschaft, ausmacht. Wenn diese Ver-lustzuweisungsgesellschaften gestrichen werden – Siehaben die Kultur angesprochen –, wird zumindest einTeil Ihrer Kulturförderungspolitik in Zukunft nicht mehrmöglich sein.Nun mögen Sie sagen, das ist nur ein kleiner Teil.Aber was ist mit der Immobilienwirtschaft, mit den ge-werblich und privat genutzten Immobilien? Sie erhaltendoch im Augenblick eine Vielzahl von Briefen, in denenSie darauf hingewiesen werden, welche nachhaltigenProbleme es für den Wohnungs- und Immobilienbau inDeutschland schlechthin geben wird, wenn Sie die Ver-lustzuweisungsgesellschaften in Zukunft verbieten. Of-fensichtlich sind Sie nicht in der Lage, in der Kürze derselbst gesetzten Zeit zu überblicken, welche Konsequen-zen Ihre steuerpolitischen Vorschläge haben.Ich nenne Ihnen den zweiten Punkt: Sie sind auf dieIdee gekommen, das sogenannte Abzinsungsgebot nichtnur für Rückstellungen auf Geldleistungsverpflichtun-gen, sondern auch für Sachleistungsverpflichtungen ein-zuführen. Herr Bundesminister Oskar Lafontaine, damitstellen Sie Rückstellungen in der deutschen Wirtschaftin einer Größenordnung von fast 60 Milliarden DM inFrage, die zum Teil kurzfristig aufgelöst werden müs-sen, um die Haushaltsprobleme, die Sie durch Ihr Aus-gabengebaren ausgelöst haben, zu beseitigen.Ich will Ihnen Beispiele sagen: Sie werden die Förde-rung der Braunkohle im Westen mit 2 Milliarden DMzusätzlich belasten, im Osten mit 1 Milliarde DM. DieRuhrkohle AG, darunter auch die saarländische Kohle,Friedrich Merz
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1412 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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wird Rückstellungen in einer Größenordnung von2 Milliarden DM – das sind Verpflichtungen beispiels-weise für die Rekultivierung oder die Begleichung vonBergschäden – auflösen müssen. Wie sollen diese Un-ternehmen in Zukunft noch die Schäden bezahlen kön-nen, wenn Sie sie vorher durch Ihre Steuerpolitik ge-zwungen haben, Rückstellungen aufzulösen?
– Die Zwischenrufe, Herr Kollege Poß, zeigen mir nur,daß auch der finanzpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion nicht verstanden hat, um was es hiergeht.
Den allergrößten Teil machen die Rückstellungen derVersicherungswirtschaft aus. Nun kann man ja in be-währter Klassenkampfmanier auf die Versicherungs-wirtschaft in Deutschland zugehen und sagen: Raus mitdem Geld! Aber das, was Sie jetzt vorschlagen, bedeutetfür die Versicherungswirtschaft in der BundesrepublikDeutschland die Auflösung von Rückstellungen in einerGrößenordnung von 17 Milliarden DM, davon allein4 Milliarden DM im ersten Jahr. Hierbei handelt es sichum sogenannte Regulierungskosten, die Sie nicht mehrals rückstellungsfähig anerkennen wollen.Was das für die Versicherungsnehmer in der Bundes-republik Deutschland bedeutet, machen Sie sich offen-sichtlich nicht klar. Vielleicht ist es Ihnen auch völliggleichgültig, was aus den Versicherungsunternehmenwird, die Ihnen in einem umfangreichen Brief klar unddeutlich gesagt haben, daß Ihr Vorschlag für eine Reihevon großen und kleinen Versicherungsunternehmen inder Bundesrepublik Deutschland die Standortfrageschlechthin ist und daß es im europäischen Ausland inkeinem einzigen Land eine solche Regelung gibt, wieSie sie vorschlagen.Meine Damen und Herren, das ist die Finanz- undSteuerpolitik von Oskar Lafontaine für mehr Beschäfti-gung und mehr unternehmerische Tätigkeit in Deutsch-land. Das Gegenteil wird eintreten, wenn Sie das durch-ziehen, was Sie vorhaben.
Mit leichter Hand wird Steuer- und Finanzpolitik ge-macht. Gleichzeitig haben Sie großzügig in den Zahlen-werken, die Sie vorgelegt haben, verheimlicht, daß aufdie Ökosteuer – ich werde in anderem Zusammenhangnoch einmal darauf zu sprechen kommen – auch nochMehrwertsteuer in Höhe von 16 Prozent zu zahlen ist.Das ist ein sogenannter Kaskadeneffekt, der durch dieMehrwertsteuer auf die höheren Mineralölsteuerbela-stungen von 1,4 Milliarden DM entsteht und der imBundeshaushalt überhaupt nicht ausgewiesen ist. MitHaushaltswahrheit und Haushaltsklarheit, Herr Lafon-taine, hat das nun wirklich überhaupt nichts mehr zu tun.
Wir fordern Sie – das gilt für die ganze Bundesregie-rung – auf: Kehren Sie zu einer sachlich und zeitlichmöglichen, der Sache angemessenen Beratung im Deut-schen Bundestag und insbesondere im Finanzauschußzurück! Ich darf bei dieser Gelegenheit – Sie mögenvielleicht darüber lachen – sagen: Wenn gegen dieStimmen der Opposition eine Sondersitzung des Finanz-ausschusses erzwungen wird – parallel zum Plenum, zurKanzlerdebatte im Deutschen Bundestag und zwar nur,weil Sie sonst in Zeitdruck geraten –, zeigt das denUmgang, den Sie mit dem Parlament und insbesonderemit der Opposition pflegen. Ich kündige an dieser Stellean: Wir lassen das einmal durchgehen. Aber ein zweitesMal werden wir es nicht akzeptieren, daß Sie die Oppo-sition auf diese Art und Weise von der parlamentari-schen Mitwirkung an der Gesetzgebung in der Bundes-republik Deutschland ausschließen. Das machen wirnicht ein zweites Mal mit!
Zweitens. Herr Lafontaine, beenden Sie den völliginakzeptablen Druck, den Sie jetzt durch Ihre Partei aufdie hessische Landesregierung ausüben!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Merz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Vom Kollegen Poß, ja.
Kollege Merz, sind Sie erstens
in der Zwischenzeit darüber informiert worden, daß es
zwischen dem Bundesfinanzministerium und der betrof-
fenen Wirtschaft Abklärungsgespräche über die Höhe
der Maßnahmen, die Sie hier zitiert haben, gegeben hat
und daß zum Beispiel der Betrag von 17 Milliarden DM
von der Versicherungswirtschaft nicht mehr aufrechter-
halten wird? Sind Sie von Frau Hasselfeldt weiter dar-
über informiert worden, daß die Sitzung, die wir morgen
durchführen, von den Fraktionen einvernehmlich ver-
einbart wurde?
Herr Kollege Poß, ichbin darüber informiert, daß die Versicherungswirtschaftwie eine Reihe anderer Branchen dem Bundesfinanzmi-nister auf Anforderung einen Brief geschrieben hat, des-sen Beantwortung dem Finanzausschuß bis jetzt nichtvorliegt. Ich kann mich nur auf das beziehen, was bisgestern abend allgemeiner Sachstand war. Ich räumeaber eines ein: Bei Ihnen ändert sich in kürzester Zeit soviel,
daß man selbst während einer solchen Rede ständiginformiert werden müßte, um zu wissen, was sich beiIhnen geändert hat.Wenn es so ist, daß das, was ich hier vorgetragenhabe, nicht mehr zutreffend ist, dann läßt sich überFriedrich Merz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1413
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diesen Sachverhalt sprechen. Nur, ich bin gleichzeitigdarüber informiert worden, daß im Finanzausschuß, andessen Sitzungen ich leider nicht mehr so häufig teil-nehmen kann, wie ich das in der letzten Legislatur-periode konnte, gegen die Stimmen der Opposition einZeitplan beschlossen worden ist, auf dessen Grundlagesich eine sachgerechte Beratung all der neuen Dinge, diein der vorletzten Woche vom Bundeskabinett vorgelegtworden sind, nicht ermöglichen läßt.
Das ist der Sachverhalt, den ich kritisiere, Herr Poß.Sie setzen uns bei der Behandlung dieser Steuerreformunter einen nicht akzeptablen Zeitdruck. Wenn derFinanzminister dem Bundeskanzler innerhalb von 48Stunden ein Konzept vorlegen soll, wie die Unterneh-mensteuerreform auszusehen hat, dann sage ich Ihnenschon jetzt: Aus diesem Flickwerk kann nichts werden,weil Sie keine steuerpolitischen Konzeptionen haben.
Drittens. Herr Lafontaine, ich möchte Sie bitten, einklares Bekenntnis zum Thema Mehrwertsteuer abzu-geben. Ich habe genau hingehört, was Sie eben gesagthaben. Sie haben – ich habe es sinngemäß mitgeschrie-ben – gesagt: Die jetzige wirtschaftliche Situation in derBundesrepublik Deutschland verträgt sich nicht mit wö-chentlich wiederkehrenden Diskussionen über Steuerer-höhungen. – Das ist wohl wahr! Sie können diese wö-chentlich wiederkehrenden Diskussionen über Steuerer-höhungen in der Bundesrepublik Deutschland ein fürallemal beenden, indem Sie von dieser Stelle aus – odermeinetwegen auch an anderer Stelle – öffentlich klar-stellen, daß es in dieser Legislaturperiode des DeutschenBundestages keine Mehrwertsteuererhöhung geben wer-de. Das können Sie tun; dann ist die Diskussion beendet.
Allein Ihre Wortwahl heute morgen zeigt, daß Sie offen-sichtlich nur die Diskussion vermeiden wollen, daß Sieaber offensichtlich gleichzeitig dabei sind, eine Mehr-wertsteuererhöhung zu planen. Denn mit Ihrer Finanz-politik werden Sie gar nicht anders über die Rundenkommen.Jetzt wende ich mich der Ausgabenseite zu. Dazuwieder eine grundsätzliche Vorbemerkung, weil Sieauch hier die alte Bundesregierung sehr stark kritisierthaben: Wenn es nach 1990 eine bemerkenswerte finanz-politische Entwicklung gegeben hat, dann die, daß in derBundesrepublik Deutschland weder die Geldentwer-tungsrate noch die Defizitquote der öffentlichen Haus-halte im Vergleich zu anderen Industrienationen über-proportional angestiegen ist. Wenn Sie uns dies als Op-position – wofür ich Verständnis habe – nicht glauben,dann sollten Sie doch vielleicht dem Leiter der Unter-abteilung „Gesamt- und finanzwirtschaftliche Analysenund Projektionen“ aus Ihrem eigenen Hause, HerrnWalther Otremba, vertrauen, der in einer Publikation desHWWA-Instituts in Hamburg im Januar 1999, also vorwenigen Tagen, folgendes wörtlich veröffentlicht hat:Insgesamt kann bei nüchterner Analyse der Faktenvon einer extremen Defizitfinanzierung des Wie-dervereinigungsprozesses nicht gesprochen werden.So lag zum Beispiel das durchschnittliche Finanzie-rungsdefizit Deutschlands im letzten Jahrzehnt mit... 3,2 Prozent noch um 0,8 Prozentpunkte unterdem Durchschnitt der EU-Staaten. Die OECD-Länder waren bei der Kreditaufnahme mit 2,7 Pro-zent im Durchschnitt nur geringfügig bescheidenerals das durch die Wiedervereinigung extrem bela-stete Deutschland.Das ist eine Publikation eines UnterabteilungsleitersIhres Hauses, kenntlich gemacht als private Meinungdes Autors. Es wäre hilfreich, wenn Sie hier hin undwieder auch einmal solche Stimmen Ihres Hauses wie-dergeben, wenn Sie sagen, welche Einschätzungen vonden Fachleuten des Bundesfinanzministeriums publiziertwerden. Wir jedenfalls teilen diese Einschätzung. Das istder Erfolg der alten Bundesregierung, meine Damen undHerren.
Nun will ich einige Positionen auf der Ausgabenseitedes Bundeshaushaltes aufgreifen. Ich fange einmal miteiner vergleichsweise bescheidenen Größenordnung an,nämlich den Ausgaben für die bekannte Zeitungsanzei-ge kurz vor der hessischen Landtagswahl. Diese Anzei-ge verstößt in geradezu eklatanter Weise gegen diePflicht zur parteipolitischen Neutralität der Tätigkeit desPresse- und Informationsamtes der Bundesregierung beibesonders aktuellen politischen Themen, insbesonderevor Wahlen. Niemand kann bestreiten, daß in den Tagenvor der hessischen Landtagswahl dieses Thema beson-ders aktuell war. Das ist wohl mittlerweile allgemein ak-zeptiert.
Nur, Herr Lafontaine, wo kommt eigentlich das Geldfür diese Anzeige her? So eine Anzeige kostet etwa600 000 bis 700 000 DM. Nun mögen Sie sagen, das seinicht besonders viel. Aber weil Sie keinen festgestelltenBundeshaushalt haben, haben Sie das Nothaushaltsrecht.Sie müssen also schon erklären, womit das Bundespres-se- und -informationsamt eine solche Anzeige finanziert.Diese Ausgabe verstößt gegen das Nothaushaltsrecht;denn Sie dürfen in dieser Zeit nur sachlich notwendigeund unaufschiebbare Ausgaben tätigen.
Sie können doch nicht im Ernst behaupten, daß dieseAnzeige zu den sachlich notwendigen und unaufschieb-baren Ausgaben der Bundesregierung zählt. Um es klarzu sagen: Wir werden, damit den Anfängen dieses Fi-nanzgebarens gewehrt wird, erstens wegen des Versto-ßes gegen das Neutralitätsgebot und zweitens wegen desVerstoßes gegen das Nothaushaltsrecht das Bundesver-fassungsgericht anrufen und zu einer Klärung beitragen.
Es muß von Anfang an klar sein, daß wir dies nicht ak-zeptieren.Friedrich Merz
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1414 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Im übrigen lassen Sie mich noch zu dem ThemaBundespresseamt sagen: Sie haben früher aus Ihrer Op-positionsrolle heraus eine Kürzung der Mittel für dasBundespresse- und -informationsamt um 20 Prozent ge-fordert. In Wahrheit heben Sie die Mittel jetzt von 167Millionen auf 171 Millionen DM an. Herr Bundeskanz-ler, ich kann gut verstehen, daß Sie dieses Geld brau-chen.Lassen Sie uns nun aber einmal über die großenBlöcke reden. Ich will nicht kritisieren, daß der Bundauch in Zukunft – das ist ein Auftrag, den das Bundes-verfassungsgericht klar formuliert hat – den zwei beson-ders kleinen und strukturschwachen Bundesländern,nämlich Saarland und Bremen, Strukturbeihilfen ge-währt. Es gab aber überhaupt keinen Grund, dies sozu-sagen im Eilmarsch zu tun, nämlich ohne die Bundes-länder an der Kofinanzierung dieses Aufwandes zu be-teiligen. Sie hätten mindestens eine hälftige Mitfinanzie-rung durch die übrigen Bundesländer anstreben müssen.Sie aber haben dies schnell und relativ unproblematischgenehmigt. Daß etwas dahintersteckt, konnte man voreinigen Tagen in der „Saarbrücker Zeitung“ nachlesen.Dies geschah nämlich nicht in Erfüllung einer gesetzli-chen Pflicht des Bundes, sondern war eine politisch ge-wollte – nicht zufällige – Demonstration im Saarlandund in Bremen, wo in diesem Jahr Wahlen stattfinden.
– Das ist überhaupt nicht unanständig.Ich lese Ihnen einmal vor, wie Sie an Ort und Stellewiedergegeben worden sind. Die „Saarbrücker Zeitung“zitiert Sie am 25. Januar 1999 aus Ihrem HeimatortPachten wie folgt. Es beginnt:„Am liebschden ben ich dahemm …“Das ist Ihnen herzlich gegönnt. – Dann geht es weiter:Nach Bonn habe er gewollt, „um endlich an dieBundeskasse zu kommen“,– das ist ein Zitat –und das Saarland habe schon davon profitiert.
– Es wird noch besser. – Es geht weiter:„An der Saar fehlt uns die ,Kohle‘, und die besorgeich in Bonn für das Land“, erklärte er unter demBeifall der Zuschauer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Merz,
es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.
Lassen Sie diese zu?
Ja, gerne.
Herr Kollege Merz, nach
diesen Ausführungen gestatten Sie bitte zwei Fragen.
Die erste Frage ist: Wie erklären Sie sich nach Ihrer
Kritik an dem Finanzierungsweg des Bundesfinanzmi-
nisters die Lösung, die sein Vorgänger, der Bundesfi-
nanzminister Waigel, im Rahmen des Föderalen Konso-
lidierungsprogramms 1993 gewählt hat?
Zweitens. Haben Sie schon davon Notiz genommen,
daß in Bremen eine große Koalition regiert, daß der
dortige Finanzsenator, der CDU-Kollege Perschau, al-
lergrößten Wert darauf gelegt hat, daß diese Regelung
gleichzeitig mit dem Haushaltsjahr 1999 – Haushaltsjah-
re müssen ja auch in den Ländern beachtet werden –
umgesetzt wird, und daß er dieses Ergebnis, das Mi-
nister Lafontaine vorlegt, dort als einen Erfolg des Vor-
gängers, also Theo Waigels, feiert?
Herr Kröning, zu-nächst einmal habe ich festgestellt, daß in beiden Bun-desländern Wahlen stattfinden; ich habe nicht festge-stellt, daß dort rotgrüne Landesregierungen sind. Das istnun einmal der zeitliche Ablauf.Daß die große Koalition in Bremen arbeitet und wei-terarbeiten will, ist gar nicht Gegenstand meiner Kritikgewesen. Vielmehr habe ich nur darauf hingewiesen,daß durch die Politik des Bundesfinanzministers kurzfri-stig Geld in diese beiden Länder transferiert wird, ob-wohl es ausdrücklich die Möglichkeit einer Kofinanzie-rung durch die übrigen Bundesländer gibt.
Theo Waigel hat diese 3 Milliarden DM zu Recht alsnicht haushaltsreif erklärt, weil er sich im letzten Jahrdarum bemüht hat, eine Kofinanzierung durch die übri-gen Bundesländer hinzubekommen. Ich sage damit garnichts gegen die Strukturbeihilfen für Bremen und dasSaarland; ich habe ja ausdrücklich gesagt, daß ich siebefürworte, zumal es einen entsprechenden Auftrag desBundesverfassungsgerichtes gibt. Nur, die Art und Wei-se, wie Sie das kurzerhand finanziert haben, ist zu kriti-sieren.In bezug auf das Saarland haben Sie, Herr Lafontaine,bei anderer Gelegenheit noch erklärt: Das darf der Deut-sche Bundestag jetzt noch absegnen. – Das läßt ja auchRückschlüsse auf die Art und Weise zu, wie Sie mit Ih-ren eigenen Leuten umgehen.
Das müssen Sie mit Ihren eigenen Leuten ausmachen.Nur, die Frage der Kofinanzierung ist damit nicht be-antwortet. Offensichtlich ist bei dieser Tagung mit Lan-desfinanzministern von der SPD, die Sie Ende Dezem-ber letzten Jahres veranstaltet haben, irgendeine Abspra-che in bezug auf eine Verrechnung mit dem, was für dasKindergeld noch mitfinanziert werden muß, getroffenworden. Noch einmal: Das hat mit Haushaltsklarheit undHaushaltswahrheit nichts zu tun.
Friedrich Merz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1415
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– Entschuldigung; ich sage das, weil „Haushaltswahr-heit“ und „Haushaltsklarheit“ vom Bundesfinanzmi-nister mehrfach als Überschrift über seinen Haus-haltsentwurf 1999 gewählt worden ist. Man wird ihnwohl noch an diesen Ansprüchen, die er sich selber ge-setzt hat, messen dürfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, es gibt
den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.
Nein. Ich finde, es gibt
auch noch andere wichtige Themen.
Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Erblasten-
tilgungsfonds sagen. Hier geht es in der Tat um etwas
andere Größenordnungen. Herr Lafontaine, der Bundes-
haushaltsplan, den Sie vorgelegt haben, weist für den
Erblastentilgungsfonds eine Zinszahlung von 18,9 Milli-
arden DM aus, obwohl eigentlich Zuführungen in Höhe
von 26,3 Milliarden DM notwendig wären, um den
Auftrag, der im Erblastentilgungsfonds-Gesetz formu-
liert ist, erfüllen zu können, nämlich die Schulden, die
wir von der ehemaligen DDR übernommen haben, in
Deutschland binnen einer Generation zu tilgen. Auf
hartnäckige Nachfragen von dieser Stelle und von ande-
ren Stellen aus haben Sie keine Auskunft darüber erteilt,
ob Sie dabei bleiben wollen, daß innerhalb einer Gene-
ration die noch bestehenden Verpflichtungen aus den
Erblastentilgungsfonds in Höhe von rund 300 Milliarden
DM wirklich getilgt werden. Diese Antwort müssen Sie
geben, wenn Sie eine Begründung auch dafür liefern
wollen, warum Sie diesen Betrag in den Bundeshaushalt
einstellen. Ich will Ihnen sagen: Es gibt eine ganz andere
Begründung. Sie brauchen zum einen einen höheren
Finanzierungsspielraum, und Sie brauchen zum anderen
– das klang in Ihrer Rede mehrfach an – langfristig trag-
fähige Argumente für den relativ hohen Schuldenstand
des Bundeshaushaltes. Indem Sie andere Titel, die zu
Recht außerhalb des Bundeshaushaltes geführt, aber je-
derzeit mitveröffentlicht worden sind, in den Bundes-
haushalt einbeziehen, werden Sie eine höhere Gesamt-
verschuldung politisch in der Weise darstellen können,
daß der alten Koalition in den nächsten Jahren und Jahr-
zehnten vorgehalten werden kann: Das sind die Erb-
schulden der Regierung Kohl. – In Wahrheit ist es, zu-
mindest was die 300 Milliarden angeht, eine Erbschuld
des alten Sozialismus in der DDR. Das ist die Wahrheit!
Sie verschleiern auf diese Art und Weise langfristig den
öffentlichen Schuldenstand. Wir werden es nicht hin-
nehmen, daß Sie so vorgehen.
Ich hätte gern noch etwas zum Thema Ökosteuer ge-
sagt, aber dazu wird im Laufe der Woche noch genü-
gend Gelegenheit sein.
Ich will noch etwas zum G-7-Gipfel vom vergange-
nen Wochenende sagen. Es ist schon ein bemerkens-
wertes Stück Kühnheit – um das einmal so zu formulie-
ren –, daß Sie sich hier hinstellen und sagen, Sie hätten
am Wochenende von den Partnern der G 7 eine große
Zustimmung zu Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik er-
fahren.
Das ist schon ein tolles Stück. Die Überschriften in den
Zeitungen in Deutschland, in Großbritannien, in Frank-
reich, in Amerika – welches Land Sie auch nehmen –
lauten doch ganz anders. Sie lauten: „Lektionen für La-
fontaine und Co.“, „Amerikas Lehrstunde für Lafon-
taine“. Sie können doch nicht im Ernst erzählen, daß
das, was Sie gesagt haben, auf Zustimmung gestoßen
sei. Das Gegenteil ist richtig.
Mittlerweile werden Sie und Ihr verehrter Herr
Staatssekretär in der englischsprachigen Presse schon als
die makroökonomischen Clowns dieser Welt karikiert.
Vor diesem Hintergrund nun noch zu behaupten, Sie
hätten am Wochenende Zustimmung erfahren, das ist
ein Stück der politischen Dreistigkeit, das ich von Ihnen
in dieser Weise bis jetzt nicht erlebt habe. Das Gegenteil
ist richtig.
Lassen Sie mich noch ein Wort zur relativen Schwä-
che des Euro sagen, die Sie erneut begrüßt haben.
– Ich sage Ihnen etwas zur Sache: Sie haben ja darauf
hingewiesen, daß die Schwäche des Euro dem deutschen
Export behilflich sei. Darüber kann man reden. Aller-
dings möchte ich darauf hinweisen, daß seit der Einfüh-
rung des Euro fast die Hälfte des deutschen Exports kein
Export im eigentlichen Sinne mehr ist; denn Ausfuhren
in Länder mit derselben Währung sind zumindest wäh-
rungspolitisch ein neutraler Vorgang. Aber sei es drum!
Nur: Was ist denn die Ursache für die Schwäche des Eu-
ro, die ja nun langsam wirklich besorgniserregend ist?
Denn innerhalb von sechs Wochen, vom 4. Januar 1999
bis heute, ist der Euro von 1,18 US-Dollar auf unter 1,10
US-Dollar abgerutscht. Es gibt zwei Gründe für diese
Entwicklung, Herr Lafontaine. Der erste ist die anhal-
tende Stärke der amerikanischen Volkswirtschaft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Merz,
denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja, ich bin gleich fer-tig. Lassen Sie mich noch zwei Sätze sagen. – Die an-haltende Stärke der amerikanischen Volkswirtschaft istder erste Grund. Der zweite Grund ist, daß Sie dabeisind, die Stabilität des Euro politisch herunterzureden.
Friedrich Merz
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1416 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Sie werden auf diese Art und Weise im Laufe des Jahres1999 ein erhebliches Problem bekommen. Denn wennsich die Geldentwertungstendenz des Euro, die sich ge-genwärtig in der Schwächung des Außenwertes doku-mentiert, in seinem Innenwert widerspiegelt, dann wirddie Europäische Zentralbank gezwungen sein, die Zin-sen in der Euro-Zone wieder anzuheben.
Dann wird genau das Gegenteil von dem eintreten, wasSie durch politischen Druck auf die Europäische Zen-tralbank auslösen wollen. Deswegen ist die Politik, dieSie machen – auch gegenüber der Zentralbank –, dieProbleme in Deutschland ständig nur über die Geldpoli-tik zu lösen, von vornherein zum Scheitern verurteilt.Sie werden möglicherweise sogar das Gegenteil vondem erreichen, was Sie erreichen wollen.
Sie werden nicht darum herumkommen – der Bun-deshaushalt, den Sie hier vorgelegt haben, ist leider einDokument ziemlicher Ratlosigkeit in diesen Fragen –, inder Bundesrepublik Deutschland eine Reihe von struktu-rellen Veränderungen des Steuersystems und des Sozial-systems anzugehen, wenn Sie die Probleme des deut-schen Standortes langfristig lösen wollen. So lösen Siesie nicht nur nicht, Sie verschärfen sie mit Ihrer Haus-halts- und Finanzpolitik. Sie sind international isoliertund treffen offensichtlich auf immer größere Widerstän-de, auch innerhalb des Bundeskabinetts der Bundesre-publik Deutschland.Dies weiter zu beobachten und kritisch zu begleitenwird unsere Aufgabe sein. Herr Lafontaine, Sie geheneinen schweren Weg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Ingrid Matthäus-
Maier.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer denHaushaltsentwurf dieser Bundesregierung unvoreinge-nommen bewerten will, muß sich über drei Dinge klar-werden: Erstens. Wie war die Bilanz bei der Übernahmeder Regierung vor vier Monaten? Zweitens. Was hat dieRegierung bisher geleistet? Drittens. Wie wird es wei-tergehen?Zur Bilanz. In der Finanzpolitik haben wir eineschwere Hinterlassenschaft übernommen. Allgemeinnennt man das „Erblast“. Ich möchte es aber nicht beidiesem allgemeinen Wort belassen, sondern an fünf Bei-spielen konkret zeigen, wie schwierig und schwer dieHinterlassenschaft ist.Erstens Hinterlassenschaft Staatsschulden. In diesenTagen hat die Bundesbank 1,4 Billionen DM – das sind1 400 Milliarden DM – Staatsschulden allein beim Bundund seinen Schattenhaushalten festgestellt.Zweitens Hinterlassenschaft Zinsen. Fast jede vierteSteuermark des Bundes wird für Zinsen ausgegeben.Das schnürt die Handlungsfähigkeit des Bundes massivein. Wir haben die Finanzen in einer Situation über-nommen, in der fast 80mal mehr für Zinsen ausgegebenwird als für den Umweltetat des Bundes. Dieses Prinzipder Lastenverschiebung in die Zukunft hatte bei IhnenMethode: Tilgungsaussetzung, Vorbelastung des Vertei-digungshaushaltes mit schweren, auf Jahre hinaus wir-kenden Beschaffungsvorhaben, Angriff auf die Postpen-sionskassen und Verscherbelung des Tafelsilbers.Drittens Hinterlassenschaft Abgabenlast. In diesemLande gab es das vorher nie: eine Belastung mit Sozial-abgaben in Höhe von über 42 Prozent. Da darf man sichnicht wundern, daß das Einstellen von Menschen in die-sem Lande so zögerlich geschieht.
Viertens Hinterlassenschaft Arbeitslosigkeit. Sie istnicht nur, wie Oskar Lafontaine zu Recht gesagt hat,schlimm für die einzelnen Menschen, für ihre Familien.Sie bedeutet auch eine schlimme finanzielle Erblast;denn 100 000 Arbeitslose kosten die Sozialversiche-rungsträger und den Haushalt etwa 4 Milliarden DM. Sievon der Opposition sind ganz sicher nicht für alle Ar-beitslosen verantwortlich. Aber ich bin der festen Über-zeugung – und deswegen sind Sie abgewählt worden –:Durch Fehler in Ihrer Politik, durch die einseitige Beto-nung der Angebotspolitik und der Entlastung der Wirt-schaft, durch die Vernachlässigung der Nachfrageseiteund durch das mutwillige Zerstören eines Bündnisses fürArbeit haben Sie die Arbeitslosenzahlen sehr viel höhergetrieben, als sie sein dürften.
Fünftens Hinterlassenschaft verfassungswidrige Be-steuerung der Familien mit Kindern. Vor wenigen Wo-chen hat das Bundesverfassungsgericht praktisch jedenTag eine Entscheidung verkündet, durch die Ihre frühereFamilienpolitik für verfassungswidrig erklärt wurde:Kinderfreibeträge, Kinderbetreuungskosten, Beamten-kinder, Haushaltsfreibetrag. Es bleibt dabei: Sie habenimmer nur gehandelt, wenn Karlsruhe Sie gezwungenhat. Niemand hat das besser ausgedrückt als meine Kol-legin Margot von Renesse. Sie hat hierzu einmal gesagt:Theo Waigel verhält sich wie ein unterhaltsverpflichte-ter Vater, der erst dann zahlt, wenn er vollstreckbar ver-urteilt worden ist. – Das war Ihre Familienpolitik.
Herr Merz, da Sie in dieser Frage den Bundesfinanz-minister, wie ich finde, recht arrogant – das ist Ihnenmanchmal eigen – angesprochen haben,
darf ich darauf hinweisen: Wenn Ihre Arroganz an ir-gendeiner Stelle völlig fehl am Platze ist, dann bei Er-mahnungen an uns, die Familien mit Kindern besser-Friedrich Merz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1417
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zustellen. Das haben wir im Unterschied zu Ihnen näm-lich getan.
Wer sich allein diese fünf Hinterlassenschaften, diemassive Auswirkungen auf die öffentlichen Haushaltehaben, vor Augen führt, der weiß: Wir sind dabei, dieseErblast abzutragen. Aber um das zu schaffen, brauchtman mehr als vier Monate.
Zu dem zweiten Punkt: Was haben wir bisher gelei-stet? Ich habe mir eine kleine Karte herausgesucht, dieim Wahlkampf von Gerhard Schröder herausgegebenwurde. Auf der Karte steht: „10 gute Gründe, SPD zuwählen“. Da steht außerdem: „Bewahren Sie diese Karteauf, und Sie werden sehen, daß wir halten, was wir ver-sprechen.“
Ich habe die Karte aufbewahrt und möchte jetzt auf eini-ge Punkte eingehen, die darauf angesprochen werden.Auf dieser Karte steht: Erhöhung des Kindergeldes fürdie ersten beiden Kinder auf 250 DM. – Meine Damenund Herren, das haben wir im Dezember beschlossen.Die ersten Familien, die zwei Kinder haben, haben dieÜberweisung von 500 DM bereits erhalten.
Ich darf daran erinnern, weil Sie jetzt darüberschweigen: Das haben wir nicht mit Ihnen gemacht– einige haben am Schluß im Dezember mitgestimmt –,das mußten wir gegen Ihren massiven Widerstanddurchsetzen.
Jede Mark beim Kindergeld haben wir Ihnen aus der Nasegezogen. Noch im November und Dezember mußte ichmich mit Herrn Schäuble und all den klugen Professorenwie Bareis und von den Forschungsinstituten auseinan-dersetzen, die gesagt haben: Laßt die Erhöhung des Kin-dergeldes als Sozialtransfer – daß sie nicht „Sozialklim-bim“ gesagt haben, ist schon alles –, senkt statt dessenbesser den Spitzensteuersatz. – Stellen Sie sich einmalvor, wir hätten das Kindergeld nicht erhöht! Wie ständenwir angesichts der Entscheidungen von Karlsruhe da?
Weiterhin steht auf dieser Karte, wir würden dasRentenniveau, das Sie von 70 auf 64 Prozent abgesenkthaben, wieder anheben. Im Dezember haben wir genaudas beschlossen.Außerdem haben wir versprochen, die von Ihnen vor-genommene Verschlechterung des Kündigungsschutzeswieder rückgängig zu machen. Genau das haben wir imDezember beschlossen.
– Wir haben noch ein paar Karten da, Herr Thiele. Diekönnen Sie sich bei uns abholen.
Ferner haben wir versprochen, die Senkung der Lohn-fortzahlung auf 80 Prozent rückgängig zu machen unddie Lohnfortzahlung wieder auf 100 Prozent anzuheben.Genau das haben wir im Dezember beschlossen.
Weiter haben wir auf dieser Karte versprochen, dieBelastung der chronisch Kranken durch höhere Zuzah-lungen rückgängig zu machen. Sie kennen den Spruchschon, der heißt: Genau dies haben wir im Dezemberbeschlossen.Außerdem steht auf dieser Karte, daß wir verspre-chen, daß es wieder für junge Leute unter 16 JahrenZahnersatz, Brücken und Kronen, gibt, den Sie abge-schafft haben. Genau das haben wir im Dezember be-schlossen.
– Weiterhin haben wir – Ziffer 3 dieser Karte, wenn Siees nachsehen wollen – versprochen, den Aufbau Ost zurChefsache zu machen und dort mehr zu tun. Genau dashaben wir getan. Erinnern Sie sich? Wir alle sind mit ei-nem kurzen Gedächtnis behaftet.
– Nicht alle, da haben Sie recht. Aber Sie wollen sichernicht gern das hören, was ich jetzt sage. – Sie hatten imletzten Jahr Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vorgese-hen. Aber die meisten sollten nur bis Dezember 1998laufen und manche nur bis 1. Oktober 1998. Was für einseltsames Datum! Es gab eine Kollegin von Ihnen, diedie Wirtschaft aufgefordert hat, genau bis zum 30. Sep-tember Wahlkampf-ABM zu machen und den Leutenvorzugaukeln, daß Sie die Arbeitslosigkeit verringern.Bei uns, meine Damen und Herren, wird die Arbeits-marktpolitik dagegen verstetigt, und das ist gut so.
Weiterhin haben wir versprochen, den Mittelstand,das Handwerk, Existenzgründer zu fördern. Auch diesfindet sich im Haushaltsentwurf von Oskar Lafontaine.Ich will eines hinzufügen: Ich bin der festen Überzeu-gung, allein mit Geld werden wir das Thema „Existenz-gründungen“ sowohl im Osten als auch im Westen nichtin den Griff bekommen. Wir werden alle miteinander,wo immer wir politisch stehen, dafür eintreten müssen,daß sich auch die Mentalität in diesem Lande ändert. Ichwar vor kurzem in den USA. Man weiß es, aber wennman wiederkommt, spürt man es noch einmal: DerTraum der Amerikaner ist, sich selbständig zu machen,der Traum des Deutschen ist ein Job im öffentlichenDienst. Solange wir das nicht ändern, können wir nochsoviel Geld ausgeben. Wir brauchen mehr Existenz-gründungen.
Ingrid Matthäus-Maier
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1418 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Dann haben wir auf dieser kleinen Karte unter Ziffer4 versprochen: „Deutschland als Ideenfabrik durch Ver-doppelung der Investitionen in Bildung, Forschung undWissenschaft in 5 Jahren“. Der Bundesfinanzministerhat vorgetragen – Verdoppelung würde 5 Milliarden DMbedeuten –, daß die erste Milliarde in diesem Haushaltbereits enthalten ist. Das ist ein erster guter Schritt.
Ferner haben wir ein Milliardenprogramm zur Förde-rung der Solarenergie versprochen, das 100 000-Dächer-Solarenergie-Programm. Auch dieses ist mitdiesem Haushalt in Gang gesetzt.Es gibt einiges, was uns handwerklich nicht so gutgelungen ist. Da muß man schon einmal korrigieren, undda muß man schon einmal am nächsten Tag etwas zu-rücknehmen, was man am Tag davor gesagt hat. Aberwenn eine Regierung in diesen vier Monaten so enormviel von dem hält, was sie versprochen hat, dann kommtes nicht auf die kleinen Holpereien an, sondern auf das,was sie materiell gemacht hat, und darauf sind wir stolz.
Drittens zur Frage, wie es jetzt weitergeht.
Auf dieser Karte steht auch ein Bündnis für Arbeit.Wir nennen es dort eine „konzertierte Aktion“, wie wirsie aus den Zeiten von Helmut Schmidt kennen. Siekönnen es auch anders nennen. Jedenfalls ist die Grund-idee, daß wir die Kräfte in dieser Gesellschaft bündelnund sie nicht spalten wollen. Wir wollen Kooperationund nicht Konfrontation. Was wir uns darunter in allenBereichen der Gesellschaft vorstellen, mögen Sie daranersehen, daß es doch auch dank unserer Hilfe gelungenist, einen Arbeitskampf in der Metallindustrie zu verhin-dern. Ich danke für die SPD-Fraktion ausdrücklich demlangjährigen früheren Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel dafür, daß durch seine Vermittlungstätig-keit ein Arbeitskampf verhindert werden konnte.
Zu einem Bündnis für Arbeit gehört natürlich auch,daß die Regierung ihren Teil leistet. Arbeitgeber undArbeitnehmer müssen das ebenfalls; aber ich sprechejetzt über das, was unsere Aufgabe ist. Dazu gehört es,die Lohnzusatzkosten, die – wie gesagt – bei Ihnen aufüber 42 Prozent explodiert sind, abzusenken. Vor derWahl haben wir sehr deutlich gesagt: Wir brauchen eineökologische Steuerreform. Die Sozialversicherungsbei-träge sind zu hoch, Arbeit wird zu stark belastet undEnergie vergleichsweise zu gering.Ich lese Ihnen einmal ein Zitat vor:Unser Steuer- und Abgabensystem macht, wideralle ökonomische Vernunft, gerade das besondersteuer, wovon wir gegenwärtig im Überfluß haben:Arbeit. Dagegen ist das, woran wir sparen müssen,viel zu billig: Energie- und Rohstoffeinsatz. DerEinsatz des Faktors Arbeit muß durch eine Senkungder Lohnzusatzkosten relativ verbilligt werden, derEnergie- und Rohstoffverbrauch durch eineschrittweise Anpassung der Energiepreise relativverteuert werden. Beides muß zu einer aufkom-mensneutralen Lösung intelligent verbunden wer-den. So lautet die Aufgabe.Meine Damen und Herren, genau das tun wir. Nurstammt dieses Zitat nicht vom Kanzler oder vom Fi-nanzminister; dieses Zitat stammt vom Fraktionsvorsit-zenden der CDU/CSU, Herrn Wolfgang Schäuble.Wenn man in dieser Situation so gegen unsere ökologi-sche Steuerreform anrennt, ist man zutiefst unglaubwür-dig.
Wir machen mit der Steuerreform weiter. Das be-trifft nicht nur das Kindergeld, das eine steuerliche Ent-lastung der Familien mit Kindern darstellt. Über 95 Pro-zent der Familien in Deutschland werden über das Kin-dergeld entlastet und nicht über Kinderfreibeträge.Ganz nebenbei, Herr Merz, ist etwas – so habe ichdas Gefühl – ein bißchen untergegangen: Sie haben diealte Diskussion, von der ich glaubte, sie sei beendet,wieder hochgezogen. Sie haben nämlich so – freundlich –nebenbei – die meisten Leute verstehen das nicht, weilsie nicht genau wissen, was progressiv und linear ist –gesagt, das mit dem Kindergeld, durch das alle Bürge-rinnen und Bürger für ihre Kinder in gleicher Höhe ent-lastet werden, könne man gar nicht durchhalten; manmüsse wieder zu Kinderfreibeträgen zurückkehren. Diehaben aber eine ganz unangenehme Wirkung: Sie führendazu, daß die Entlastung der Eltern um so höher ist, jehöher ihr Einkommen ist.
– Da lachen Sie. Genau das haben Sie vorgetragen.Wollen Sie bestreiten, daß schon der heutige Kinderfrei-betrag dazu führt, daß Eltern mit einem Spitzensteuer-satz 305 DM Entlastung je Kind bekommen und nicht250 DM wie durch das Kindergeld? – Da nickt er! Dasist das, was Sie in Zukunft offenbar weiterhin machenwollen. Wir Sozialdemokraten wollen das nicht, meineDamen und Herren.
Wir wollen, daß dem Staat auch in Zukunft jedes Kindgleich lieb und gleich teuer ist. Dafür werden wir wei-terhin eintreten.Wir haben ferner vor – wir sind schon dabei –, dieGegenfinanzierung der Steuerreform bald zu verab-schieden, zum Beispiel um die Senkung des Eingangs-steuersatzes – Oskar Lafontaine sagte es bereits –, umdie Senkung des gewerblichen Spitzensteuersatzes von47 Prozent auf 45 Prozent – sie gilt schon seit dem1. Januar – und um unser Ziel zu finanzieren, für Be-triebe generell einen Höchststeuersatz von 35 Prozentvorzusehen.Ingrid Matthäus-Maier
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1419
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(D)
Erstens – Herr Merz, da wundere ich mich über IhreKrokodilstränen –: Die allermeisten Gegenfinanzie-rungsmaßnahmen, mit denen wir Steuerschlupflöcher,Ausnahmen, Subventionen schließen und streichen,standen bereits in Ihren Petersberger Beschlüssen.Darin – das möchten Sie gerne vergessen machen –stand sogar noch viel mehr.
Darin stand, daß Kapitallebensversicherungen besteuertwerden, und zwar im Bestand.
Das hätte dazu geführt, daß wir den Menschen, denenwir Politiker über Jahre gesagt haben: „Tut etwas für dieprivate Vorsorge“ und die dann Kapitallebensversiche-rungen abgeschlossen haben, tags darauf gesagt hätten:April, April, jetzt besteuern wir sie. – Das stand in IhrenBeschlüssen, auch wenn Sie jetzt den Kopf schütteln.Das weiß jedes Kind.
Zweitens. Darin stand der Beschluß, die Nacht- undFeiertagszuschläge zu besteuern.
Das haben wir nicht von den Petersberger Beschlüssenübernommen, weil wir dafür eintreten, daß soziale Ge-rechtigkeit wichtiger ist als Steuersystematik. Darinstand eine sehr viel höhere Besteuerung der Renten;Herr Merz, das sollte man hier einmal sagen. Das ma-chen wir nicht. Aber wir passen das Bilanzrecht im steu-erlichen Bereich an internationale Standards an.An dieser Stelle sagt der Kollege Merz von der Op-position immer, das sei schlecht für den Standort. HerrMerz, dieses Standortgejammere
erlebe ich seit vielen Jahren. Leider konnte ich im Janu-ar nicht mehr nach Ihnen reden. Aber ich habe Ihre Redenachgelesen. Da haben Sie sich bei dem gleichen Themahier im Bundestag zu der Behauptung verstiegen, dieFirmen Hoechst und Rôhne-Poulenc, die sich zusam-menschließen, wählten aus steuerlichen Gründen, weilwir so entsetzliche steuerliche Rahmenbedingungen bö-ten, den Standort Straßburg.Dies stand in der Tat in der Zeitung. Aber der Unter-schied zwischen uns beiden ist: Sie haben es im Bun-destag einfach nachgeplappert; ich habe den Chef vonHoechst angeschrieben, und wir haben lange telefoniert.Herr Dormann hat mir ausdrücklich gesagt, daß dieWahl von Straßburg als Standort der vereinigten FirmenHoechst und Rôhne-Poulenc nichts mit der Steuer zu tunhat, sondern auf der langjährigen Geschichte vonRôhne-Poulenc in Frankreich beruht; ein deutscherStandort hätte der Geschichte und der Größe von Rôhne-Poulenc in Frankreich nicht entsprochen. Man habe sichaus allgemeinpolitischen Gründen und wegen derdeutsch-französischen Freundschaft für einen Standortentschieden, der quasi in der Mitte liege. Als ich ihn ge-fragt habe, ob ich dies im Deutschen Bundestag verwen-den dürfe, hat er ja gesagt.Herr Merz, wenn Sie es nicht glauben, rufen SieHerrn Dormann an, aber lassen Sie dieses dummeStandortgerede!
Damit komme ich zu dem letzten Punkt, da Sie ihntatsächlich auch heute angesprochen haben, nämlich denAbschreibungsgesellschaften, den sogenannten Ver-lustzuweisungsgesellschaften.
Sie haben uns vorgeworfen, wir würden nicht sparen.Jetzt frage ich Sie: Wenn wir solche Steuermöglichkei-ten schließen und reduzieren, ist das etwa kein Sparen?Wir sehen in der Tat vor, daß dies zurückgefahren wird.Ich will Ihnen nicht verhehlen: Die Anzeige, die ichgestern im „Handelsblatt“ gelesen habe, finde ich abso-lut unpassend. Dort fordern die Verlustzuweisungsge-sellschaften aller Sparten, daß der Finanzausschuß diesauf keinen Fall tun könne und dürfe usw.Ich bin daraufhin einmal ins Internet gegangen. Ineiner Anzeige im „Handelsblatt“ wird beispielsweise ei-ne Firma HCI genannt; ich weiß nicht, was das heißt.Was meinen Sie, was Sie im Internet unter HCI finden?Ich habe mir einmal einen Prospekt ausdrucken lassen:„HCI – Steuerliche Grundlagen“. Über Seiten hinwegwird beschrieben, wie man Steuern spart: „Verlustver-rechnung bis zu 125 %“, „steuerliche Verluste in derInvestitionsphase“, „Sonderabschreibung“, „degressiveAbschreibung“ usw. So geht das dann noch weiter. AmSchluß ist dann auch vom § 34 EStG die Rede, den wirgerade verändern und der ja die „Mutter“ aller Ab-schreibungsmöglichkeiten ist. Der HCI-Prospekt endetdann folgendermaßen:Aufgrund der gewählten Abschreibungsmethodewerden in den ersten zwei Jahren bereits mehr als50 Prozent der abschreibungsfähigen Anschaf-fungskosten abgeschrieben und den Gesellschafternanteilig als steuerlicher Verlust zugerechnet.Jetzt kommt der Schlußsatz:Die jeweils prospektierten steuerlichen Verlustestellen also zum großen Teil keine unerwünschtenSubstanzverluste, sondern lediglich gewünschteBuchverluste dar.Das heißt auf deutsch: zum Zwecke der Steuerersparnisproduzierte Buchverluste, die mit der Substanz garnichts zu tun haben.Sie, Herr Merz, haben heute morgen gesagt, dieSozialdemokraten wollten solche Verlustzuweisungsge-sellschaften verbieten. Nein, das wollen wir nicht. WasIngrid Matthäus-Maier
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1420 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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wir aber wollen ist, daß Leute mit hohen und höchstenEinkommen ihr zu versteuerndes Einkommen mit sol-chen Verlustzuweisungsgesellschaften nicht auf Nullbringen können. Darin unterscheiden wir uns von Ihnen.
Herr Merz, Sie haben in diesem Zusammenhang tat-sächlich noch einmal das Wort „Neidkomplex“ benutzt.Was hat das mit Neid zu tun? Wir werden der Situation,daß die einen Vermögen haben und keine Steuern zah-len, während die anderen Steuern zahlen und deswegenkein Vermögen haben, ein Ende machen.
Wer das kritisiert, der muß wissen: Das haben wir vorder Wahl immer wieder versprochen. Das steht nicht aufdiesem kleinen Kärtchen; es hätte aber auch darauf ge-paßt. Es war von uns bekannt, daß wir sagen: Steuer-sätze runter, Entlastung der Familien mit Kindern, Sen-kung des Eingangssteuersatzes, Verbesserung des Grund-freibetrages und Gegenfinanzierung unter anderem durchdie Beseitigung von Ausnahmen. Es gibt welche, die sa-gen, das sei Umverteilung von oben nach unten. Dazukann ich Ihnen sagen: Nach 16 Jahren Umverteilung vonunten nach oben ist es wirklich gerechtfertigt, wenn wirdas stoppen und ein bißchen korrigieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Mat-
thäus-Maier, gestatten Sie ein Zwischenfrage der Kolle-
gin Dr. Luft?
Ja.
Frau Kollegin Matthäus-
Maier, Sie haben soeben über steuerliche Absetzungs-
möglichkeiten und auch über den Schwindel, der damit
passiert, gesprochen. Mit diesem Punkt bin ich völlig
einverstanden. Ich frage Sie: Könnten Sie sich vorstel-
len, daß die steuerliche Absetzbarkeit der Entschädi-
gungszahlungen von deutschen Konzernen an den ge-
planten und überfälligen Fonds zur Entschädigung von
NS-Zwangsarbeitern unterbunden wird, so daß man die
Entschädigungszahlungen nicht als Betriebsausgabe
oder gar als Spende absetzen kann? Ich fände es nahezu
einen Skandal, wenn für das, was damals passiert ist,
nun im nachhinein der deutsche Steuerzahler, und die
deutsche Steuerzahlerin noch einmal zu bezahlen hätten.
Frau Luft, ich bin
mit dieser Frage neu konfrontiert, das gebe ich Ihnen
gern zu. Deswegen muß ich aus meiner Kenntnis des
Steuerrechts spontan antworten – ich will es nicht end-
gültig entscheiden –: Eine Spende ist es natürlich auf
keinen Fall. Aber wenn die deutschen Firmen endlich
ihrer Verpflichtung nachkommen, Entschädigungen für
die ehemaligen NS-Zwangsarbeiter zu zahlen, sehe ich
spontan nicht, warum das nicht eine Betriebsausgabe
sein sollte; denn wenn die Betriebe im Dritten Reich
diese Menschen ordentlich bezahlt hätten, wäre ja auch
das eine Betriebsausgabe gewesen. Deswegen bitte ich,
an dieser Stelle mit dieser Antwort zufrieden zu sein.
Herr Lafontaine selber hat am Schluß gesagt: In die-
sem Haushalt konnte nicht alles getan werden, was man
vorhat. Er ist nur ein erster Schritt. Die Konsolidierung
ist noch nicht ausreichend. Wie sollte sie auch, nach vier
Monaten? Aber ich sage Ihnen: Das Umsteuern in
Richtung auf eine leistungsfähige Wirtschaft und mehr
Arbeitsplätze, in Richtung auf eine ökologische Moder-
nisierung der Industriegesellschaft und in Richtung von
mehr sozialer Gerechtigkeit – ich nenne das manchmal
den sozialdemokratischen Dreiklang – hat begonnen.
Auf diesem Weg ist der Bundeshaushalt ein erster rich-
tiger Schritt. Wir werden dem Haushalt zustimmen.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Günter Rexrodt.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Der Haushaltsentwurf 1999ist zu messen an dem, was die neue Koalition an politi-schen Zielen und Schwerpunkten, an Reformen undVeränderungen angekündigt hat.
Herr Kollege Lafontaine, Frau Matthäus-Maier, Siestellen in Ihren Beiträgen den Haushalt 1999 so dar, alsob er quasi eine neue Qualität, einen Quantensprung undeine Veränderung in eine ganz andere Richtung bedeute.Wenn man den Haushaltsentwurf an dem mißt, was Siean politischer Philosophie und an Zielen verkünden,dann kommt man zu dem simplen Ergebnis: Es hat sel-ten einen Haushaltsentwurf gegeben, der sich durch sowenig politische Gestaltungskraft und politischen Ge-staltungswillen auszeichnet wie der vorliegende.
Der Haushalt ist zunächst einmal eine Fortschreibungder alten Waigelschen Entwürfe. Ich sage nicht, daß dieWaigelschen Entwürfe schlecht waren, ganz im Gegen-teil. Aber gemessen an dem, was Sie wollten, ist dasneue Zahlenwerk, abgesehen von Ihrem steuerpoliti-schen Ausflug, auf den ich noch eingehen werde, nichtsals Kosmetik und weiße Salbe.Kommen Sie, Frau Matthäus-Maier, in diesem Zu-sammenhang nicht mit der Ausrede, sie hätten keine Zeitfür eine grundlegende Überarbeitung gehabt. Die An-sätze waren Ihnen immer in jedem Detail bekannt. IhreLeute waren im Haushaltsausschuß. Die Papiere lagenvor. Gemessen an dem, was Ihnen möglich war, ist derHaushalt 1999 ein Langweiler.Kommen Sie mir jetzt nicht damit, die mangelndeGestaltungskraft liege darin begründet, daß neue LöcherIngrid Matthäus-Maier
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1421
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aufgetaucht seien oder daß es Erblasten gebe. Um dieseAussagen, Herr Lafontaine, ist es ruhiger geworden.Wie sollten Sie sich bei einer steuerlichen Mehrein-nahme von 10 Milliarden DM 1998 und bei einer darausresultierenden Reserve bei den Privatisierungserlösenvon ebenfalls 10 Milliarden DM auch anders als ruhigverhalten?Wir wissen auch schon lange, daß der Haushalt einestrukturelle Deckungslücke von etwa 20 MilliardenDM hat. Aber wir haben auf diese strukturelle Dek-kungslücke auch eine Antwort gehabt. Sie bestand in dergroßen Steuerreform mit einer Nettoentlastung von etwa30 Milliarden DM. Sie war klar und kalkulierbar. Wirwaren überzeugt davon, daß diese Nettoentlastung zumehr wirtschaftlicher Aktivität geführt hätte und da-durch die strukturelle Deckungslücke zu schließen ge-wesen wäre. Das war eine klare und kalkulierbare Ant-wort. Das konnten wir aber auf Grund Ihrer Blockadenicht umsetzen. In Ihrem Haushalt weisen Sie außer va-gen Versprechungen nichts aus, was in diese Richtungdeutet.
Nun zu einem anderen Punkt, den Sie angesprochenhaben: Sie klagen über die zu hohe Zinslastquote. Jederweiß, daß diese zu hohe Zinslastquote ein Ergebnis derInvestitionen ist, die wir im Zusammenhang mit derWiedervereinigung unseres Landes tätigen mußten. Die-ses Argument der hohen Zinslastquote wirkt geradezuwidersprüchlich, wenn Sie ein Übermaß an Leistungenfür die neuen Länder beklagen, die in die Versiche-rungssysteme geflossen sind. Wenn man nicht auch dieVersicherungssysteme bei den Leistungen für die neuenLänder einbezogen hätte, wäre die von Ihnen beklagteZinslastquote noch höher als jetzt. Auch das ist keineBegründung für Ihre mangelnde Gestaltungskraft in die-sem Haushalt.Daß wir diese Gestaltungskraft vermissen müssen,liegt schlicht daran, daß Sie mit Ihrer Politik nicht klar-kommen. Diese Politik ist unprofessionell, unlogischund unkoordiniert.
Jeder von Ihnen setzt etwas in die Welt, bevor er nach-gedacht hat. Danach wird zurückgerudert. Der Bundes-kanzler tut so, als ob ihn das zunächst nichts anginge,und dann entpuppt er sich als Moderator, und die Mode-ratorenrolle wird immer mehr ein Akt der Hilflosigkeit.Die Menschen draußen werden das auf Dauer nicht hin-nehmen.Das schaurigste Beispiel in diesem Zusammenhangist die Steuerpolitik. Es handelt sich hier wahrlich umkein Kapitel von nebensächlicher Bedeutung, sondernum das zentrale Vorhaben dieser Legislaturperiode. Die-ses Kapitel entscheidet darüber, ob wir in DeutschlandArbeitsplätze schaffen können.Das Kindergeld wird erhöht. Frau Matthäus-Maierstellt sich mit ihrem Kärtchen hier hin, wo ein höheresKindergeld und eine Entlastung im unteren Bereich ver-sprochen werden. Es heißt, das sei im Sinne einer Wirt-schaftssteuerung, die nachfrageorientiert ist, erwünschtund im Sinne sozialer Gerechtigkeit notwendig. Ich be-zweifle im übrigen, daß das Geld aus dieser Entlastungbeim Einzelhandel ankommt. Herr Minister Lafontaine,das bißchen Erhöhung, das wir bei den Einzelhandels-umsätzen zu verzeichnen haben, hat wenig mit dieserEntlastung zu tun. Ich sage vor allem voraus: DiesesGeld kommt nicht bei denjenigen Investoren an, dieArbeitsplätze schaffen. Genau das wäre aber nötig, umunser gemeinsames politisches Hauptziel, die Beseiti-gung der Arbeitslosigkeit, zu erreichen.Nur, welcher Preis – das ist das Entscheidende – wirdfür diese Entlastung und das höhere Kindergeld gezahlt?Wie soll der Steuerausfall kompensiert werden? Wiesieht es mit der Gerechtigkeit aus, wenn man das inRechnung stellt?Als erstes stößt man den Mittelstand durch praxisfer-nes Herumlaborieren an der Teilwertabschreibung undam Verlustrücktrag vor den Kopf. Als man das merkt,als das Kind aber schon in den Brunnen gefallen ist, dasheißt die Investitionsbereitschaft drastisch sinkt, läßtman davon ab und geht gnadenlos an die Besteuerungder Kapitaleinkünfte.Zunächst geschieht das in vielen Bereichen wiedereinmal ganz unprofessionell – der Kollege Merz hat dar-auf schon mit Blick auf die Versicherungswirtschafthingewiesen. Dann geschieht das vor allem mit Blickauf die Kleinen, die man unter der Überschrift „DieNeue Mitte“ hat gewinnen wollen. Der Sparerfreibe-trag bei Zinseinkünften von 6 000 DM bei Ledigen undvon 12 000 DM bei Verheirateten, der dem Fiskus ausgutem Grund entzogen war, wird zu Beginn des näch-sten Jahres halbiert. Damit geht es denjenigen an denKragen, die einen kleinen Kapitalstock, die ein kleinesVermögen in der Größenordnung von 100 000 DM oder200 000 DM gebildet haben.Gleichzeitig sollen die Spekulationsfristen für Kurs-gewinne am Aktienmarkt von sechs Monaten auf zwölfMonate verdoppelt werden, und Veräußerungsgewinneaus Immobilien werden nicht mehr nach zwei, sondernerst nach zehn Jahren steuerlich freigestellt.
Herr Rexrodt, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-
Maier?
Bitte schön.
Herr Rexrodt, darfich Sie darauf aufmerksam machen, daß sowohl die vonIhnen genannte Halbierung des Sparerfreibetrages alsauch die Verlängerung der Spekulationsfrist ausdrück-lich zu den Vorschlägen Ihrer Koalition gehörten unddaß es eigentlich nicht ganz seriös ist, sich davon abzu-setzen?
Dr. Günter Rexrodt
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1422 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Frau Matthäus-Maier,unsere Steuerreform, die Vorschläge enthielt, um einebestimmte Gegenfinanzierung herbeizuführen – Sie ha-ben das vorhin angesprochen –, war auf eine Nettoent-lastung von 30 Milliarden DM ausgerichtet. Vor diesemHintergrund konnte man das machen.
– Netto ist netto! Wir hatten eine Bruttoentlastung von 80Milliarden DM und bestimmte Gegenfinanzierungsmaß-nahmen, zu denen auch die von Ihnen genannten Dingegehörten, vorgesehen. Unser Konzept war aber verant-wortbar, was Ihres eben nicht ist. Der Mittelstand, diekleinen und mittleren Betriebe werden in besonderer Wei-se bestraft. Das gilt auch für die Veränderung der Speku-lationsfristen, durch die der Aktienmarkt geschädigt wird.Außerdem schädigt man den normalen Kleinunternehmer,der Immobilien besitzt, in besonderer Weise.
Ich komme auf die Frage der 630-Mark-Jobs. Ichwill hier gar nicht mehr im Detail darüber sprechen, ob-wohl dieses Kapitel haushaltspolitisch äußerst sensibelist, nicht nur in bezug auf den veränderten Buchungs-vorgang vom Fiskus an die Bundesanstalt für Arbeit.Die jetzt vorgesehene Regelung wird am Ende zu nochmehr Schwarzarbeit führen,
weil die Versteuerung der Nebenjobs viele Menschennun einmal da trifft, wo sie am empfindlichsten sind.Eine Möglichkeit, um das abzuwenden, bestünde nurdarin, daß man die Unternehmen, die diese Arbeitsplätzeanbieten, zusätzlich mit 270 DM belastet. Das wäre Giftfür den Arbeitsmarkt,
unprofessionell und eine Politik, die diejenigen, die Ar-beitsplätze schaffen wollen, vor den Kopf stößt.Noch ein Wort zur Ökosteuer, die ja von Ihnen, HerrLafontaine und Frau Matthäus-Maier, groß herausgestelltworden ist: Über eine Ökosteuer, die zu einer Verände-rung des Umweltverhaltens durch eine neue Art von Be-steuerung führt, kann man reden, nicht aber über das, wasSie uns hier anbieten. Diese Ökosteuer ist keine Ökosteu-er, sondern es handelt sich um eine Mogelpackung. DieÖkosteuer, so wie Sie sie vorschlagen, wird nicht dazuführen, daß irgendein Gramm CO2 eingespart wird, weilder Fiskus die Erhöhung der Energiesteuern nur für seineÜberweisungen an die Rentenversicherung nutzt.Meine Partei, die F.D.P., hat ein Konzept vorgelegt,nach dem beispielsweise die Kfz-Steuer auf die Mine-ralölsteuer umgelegt
oder die Kilometerpauschale in eine verkehrsmittel-unabhängige Entfernungspauschale umgewandelt wer-den sollen.
Das sind Maßnahmen, bei denen ökologische Folgewir-kungen zu erwarten sind. Das trifft aber nicht auf IhreMogelpackung zu, weil Sie das Geld nur dafür verwen-den wollen, die Rentenversicherung entlasten zu kön-nen.Es sind wiederum die kleinen und mittleren Unter-nehmen, die Ihr Konzept netto belastet. Auch unter Be-rücksichtigung des geringeren Beitrags zu den Renten-versicherungen führt das, was die Mehrheit der kleinenund mittleren Betriebe zu zahlen hat, dazu, daß Arbeits-plätze vernichtet werden. Es handelt sich um eine Netto-Mehrbelastung und keine Entlastung.Meine Damen und Herren, niemand wird sich vonIhrer Ankündigung beeindrucken lassen, diese Mehr-belastungen würden für die Investoren dann aus derWelt geschafft sein, wenn es zu einem Zeitpunkt X zueiner Unternehmensteuerreform mit einem einheitlichenSteuersatz von, sagen wir einmal, 35 Prozent kommt.Wer sich mit dieser Materie und auch mit der ordnungs-politischen Komponente in bezug auf die Haftung unddas Engagement des Unternehmers im Betrieb einmalbefaßt und wer sich etwas intensiver die prinzipiellensteuerpolitischen Fußangeln anschaut, dem müssenZweifel kommen, daß es in absehbarer Zeit zu einemBefreiungsschlag bei der Besteuerung kleiner und mitt-lerer Unternehmen kommt.
Dieser Befreiungsschlag ist für den wirtschaftlichenMittelstand dringend erforderlich.
Seit einem Jahrzehnt wird von Ihnen systematisch derEindruck erweckt, als würden die Gewinne in der Wirt-schaft überborden und gleichzeitig die Realeinkommenzurückgehen oder stagnieren. Richtig ist vielmehr, daßUmsatz und Kapitalrenditen im internationalen Ver-gleich kaum irgendwo so niedrig sind wie in Deutsch-land. Es gibt zwar Unternehmen, die hohe Renditen er-zielen, aber im Durchschnitt sind die Umsatz- und Ka-pitalrenditen in unserem Land am geringsten. Die Ren-dite ist aber für die Standortwahl und damit für die Ar-beitsplätze entscheidend.Es kommt deshalb darauf an, eine Steuerreformdurchzuführen, die eine Senkung der Steuersätze überden gesamten Tarif vorsieht. Sie haben unsere Steuer-reform abgelehnt. Nichts deutet darauf hin – auch nichtIhre vage Ankündigung einer Unternehmensteuerreform –,daß an diesem für die Arbeitsplätze in unserem Landganz zentralen Punkt gearbeitet wird.Es gibt noch ein weiteres Risiko im Haushalt 1999.Sie sagen, nach einem Wachstum von 2,8 Prozent imvorigen Jahr bei der gesamtwirtschaftlichen Entwick-lung werden wir im Jahre 1999 eine Wachstumsrate von2 Prozent haben und gleichzeitig 150 000 bis 200 000zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Sie werden diesesZiel nicht erreichen; denn abgesehen von der sehr vielschwierigeren Situation im Export brechen Ihnen dieBruttoinvestitionen trotz der wieder etwas besseren Si-tuation am Bau weg. Warum brechen Ihnen die Brutto-
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investitionen weg? Dies ist das Ergebnis Ihrer dilettanti-schen und unsteten Politik.
Die Menschen werden vergrault und wissen nicht, woes langgeht. Unsicherheit verhindert Investitionen. Dassind die Fakten.Bitte erzählen Sie niemandem, es handele sich umAnfangsschwierigkeiten. Herr Gottschalk kann vielleichtvon Anfangsschwierigkeiten sprechen, denn er – wieandere auch – versteht etwas von Entertainment, abernichts von Politik. Sie widerlegen die These von denAnfangsschwierigkeiten selbst, indem Sie jeden Tagneues Chaos produzieren.Eine bürokratische und über alle Maßen komplizierteRegelung zu den Mindeststeuern haben Sie sozusagenschon in der Pipeline. Dem mit Verve vorgetragenenGrundgedanken, die Abschreibungskünstler zu treffen,kann man ja nachgehen. Das Ziel wird man aber nichterreichen, Frau Matthäus-Maier, indem man, wie vorge-schlagen, ein Verrechnungsverbot bei den Einkunftsar-ten einführt. Damit werden die Mittelständler, also jene,die Arbeitsplätze schaffen, bestraft. Sie schütten dasKind mit dem Bade aus. Das sind die Fakten.
Ich sprach schon davon, daß Sie immer neues Chaosproduzieren. Eine neue Runde dieses Chaos hat HerrRiester mit seinen Äußerungen zur Rentenformel ein-geleitet. Die Reformansätze der alten Koalition zur Sa-nierung des Systems wurden erst einmal beiseite gelegt.Nun hat man den Salat. Jetzt gibt es die Vorschläge ausder Wundertüte von Herrn Riester. Um eine Senkungdes Rentenniveaus und/oder eine Verschiebung desRenteneintrittsalters kommt in diesem Lande auf Grundder demographischen Situation niemand herum, es seidenn, die Renten steigen unterschiedlich – orientiert ander absoluten Höhe; diese von Ihnen ins Gespräch ge-brachte Vorstellung ist obskur und würde das Ende desSystems bedeuten, an dem Sie selbst mitgewirkt haben.
Man muß Herrn Riester, der jetzt nicht anwesend ist,sagen: Die Menschen wollen wissen, was Sache ist. DerArbeitsminister ist dafür verantwortlich, wenn Gerüchteüber einen Zusammenhang von Rentenanpassung undFamilienlastenausgleich ins Kraut schießen. Auch indiesem Punkt wird die Regierung an ihrer Formel „Ver-sprochen – gehalten“ gemessen werden. Die Rentnersind gespannt, und ich bin es auch.Ich möchte nun mit einigen wenigen Worten auf daseingehen, was Sie in Ihrem Haushalt als Highlight be-zeichnen. Es handelt sich im wesentlichen um die Aus-gaben für den Bereich Forschung und Bildung und umdie angeblich so stark gestiegenen Ausgaben für denAufbau Ost.In der Tat gibt es im Bildungshaushalt eine nomi-nelle Steigerung von einer Milliarde DM. Gemessen andem Waigelschen Entwurf sind es rund 500 MillionenDM. In Wirklichkeit sind es aber nur 460 MillionenDM, weil ein Teil für die BAföG-Zahlungen verwendetwird. Trotzdem muß man sagen, daß es eine erfreulicheund gute Entwicklung ist.Sie müssen sich aber vor dem Hintergrund dieser er-freulichen Entwicklung schon fragen lassen, wie Sie mitdieser relativ bescheidenen Erhöhung Ihre vollmundigeAnkündigung wahr machen wollen, daß die Investitio-nen in Forschung und Bildung innerhalb von vier Jahrenverdoppelt werden. 6 Prozent Steigerung, aber Sie wol-len in vier Jahren verdoppeln. Das können Sie nieman-dem weismachen.
– Das gehört dazu.Das Kapitel, das ganz groß ins Feld geführt wurdeund mit dem man Punkte machen will, sind die angeb-lich so gestiegenen Ausgaben für den Aufbau Ost.Wenn man da genau hinschaut, wird man feststellen,daß sich im Grunde nichts, aber auch gar nichts geänderthat. Da kann von Steigerung überhaupt keine Rede sein.Weder von einer quantitativen noch von einer qualitati-ven Veränderung der Förderung der neuen Länder ist ir-gend etwas zu entdecken. Die Reform der Ostförderunghat die alte Bundesregierung mit dem Übergang von denAbschreibungsvergünstigungen zur Investitionszulagegemacht.
– Mit Ihnen zusammen; wir haben es gemeinsam ge-macht.Was Sie heute machen, Frau Matthäus-Maier, istnichts anderes als eine, ich gebe zu: erfreuliche Erhö-hung im Bereich Forschung und Entwicklung, vor allemaber eine formalisierte Übernahme der Ausgaben für denzweiten Arbeitsmarkt in den Haushalt. Auch wir habendiese Ausgaben bezahlt. Wir haben sie zum Teil aus an-deren Titeln bezahlt. Wir hatten im Haushalt 1999 Vor-sorge getroffen, diese Programme weiterzuführen. DieseSteigerung ist auf nichts anderes zurückzuführen als aufeine formale Übernahme von Ausgaben, die ohnehinvorgesehen waren, in den Haushalt.Herr Schwanitz und Herr Kollege Lafontaine solltenganz ruhig sein, statt von einer Steigerung der Ausgabenfür den Aufbau Ost zu sprechen. Wenn man genau hin-schaut, ist dort nichts passiert. Auch das ist eine Mogel-packung.
Damit schließt sich der Kreis. Sie erreichen aufGrund der verschlechterten konjunkturellen Entwick-lung, auf Grund der Tatsache, daß Sie einen unvollstän-digen wirtschaftspolitischen Ansatz in der Nachfrage-betonung suchen, und auf Grund der Tatsache, daß Siein der Steuerpolitik die dringend notwendigen Korrektu-ren nicht herbeiführen, kein Wachstum. Sie werden,gemessen an dem, was Sie sich selbst vorgenommenDr. Günter Rexrodt
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1424 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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haben, nämlich an der Senkung der Arbeitslosenzahl, IhrWaterloo erleben. Sie werden es erleben, weil Sie einenfalschen Ansatz haben, eine falsche Denkrichtung. Wasdie Nachfragesteuerung angeht, ist das okay. Niemandwill bestreiten, daß wir einen richtigen Policy-mix zwi-schen Angebot und Nachfrage haben wollen.
Denken Sie an Ihre
Redezeit, bitte.
Sie ist nur um wenige
Sekunden überschritten; ich komme gleich zum Ende,
Frau Präsidentin.
Es ist fast eine Mi-
nute.
Aber es gibt in der eu-
ropäischen und gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Phasen, in denen der Aspekt, daß Unternehmen die
Märkte neu abstecken und wettbewerbsfähig sein müs-
sen, daß sie die Kosten senken und die Angebotsbedin-
gungen betonen müssen, ein größeres Gewicht hat als in
einer anderen Phase, in der man auch die Realeinkom-
men wieder mehr steigern kann. Wir sind in dieser Pha-
se der weltwirtschaftlichen Neuorientierung. Deshalb
war und ist es richtig, Angebotspolitik zu machen. Sie
entlastet die Unternehmen.
Sie haben einen falschen Ansatz in Ihrer Politik. Sie
zeigen uns die gröbsten und größten handwerklichen
Fehler, die man sich vorstellen kann. Auf diese Weise
werden Sie das Vertrauen der Menschen nicht erhalten
können. Es wird in der politischen Landschaft Deutsch-
lands eine Veränderung geben – schneller, als Sie es er-
wartet haben, und im übrigen schneller, als ich es er-
wartet habe.
Schönen Dank.
Das Wort hat der
Kollege Oswald Metzger, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istschon ein merkwürdiges Schauspiel, wenn zwei Vertre-ter der Opposition sich hier hinstellen und nach vierMonaten neuer Bundesregierung den Stab über be-stimmte Politikfelder brechen, in denen sie 16 JahreVerantwortung hatten:
zum einen der damalige Wirtschaftsminister – in seinerZeit sind die Abgaben entgegen der Philosophie derF.D.P. um mindestens 10 Prozent gestiegen und damitsystematisch Arbeitsplätze vernichtet worden – und zumanderen der Kollege Merz, heute im CDU/CSU-Fraktionsvorstand finanzpolitischer Sprecher, der sichallen Ernstes hier hinstellt und den Eindruck erweckt,Steuerpolitik hätte mit der alten Koalition begonnen.Richtig ist: Die alte Koalition hat ihre Regierungsar-beit 1982 aufgenommen und über 14 Jahre hinweg einefalsche Steuerstruktur hingenommen. Sie hat dann zweiJahre lang für eine Steuerreform gekämpft, die sichheute zunehmend zu einem Alibi ihrer Oppositionszeitentwickelt, indem Sie allen Ernstes den Eindruck er-wecken wollen, eine Nettoentlastung in Höhe von56 Milliarden DM wäre finanzierbar gewesen. Gleich-zeitig stellt sich der Kollege Merz hin und betont Haus-haltsrisiken bei der Gegenfinanzierung. Das paßt nichtzusammen. Mehr intellektuelle Redlichkeit, KollegeMerz, erwarten wir auch von Ihnen.
Wenn wir über Finanzpolitik, über den Haushalt 1999und über strukturelle Voraussetzungen der öffentlichenFinanzwirtschaft reden, dann sollten wir eine gründlicheAnalyse der Situation vornehmen. Es ist in der Tat so,und es ist erschreckend – das müßte von der PDS bis zurF.D.P. jedem Parlamentarier die Dramatik der Situationdeutlich machen –, daß wir in dem Haushalt, den wirheute einbringen und in der ersten Lesung diskutieren,18 Prozent aller Ausgaben für Zinsen aufwenden und 26Prozent aller Ausgaben als Zuschüsse an die Rentenver-sicherungen und für Beamtenpensionen aufbringen. Die-se Position ist allein in den letzten vier Jahren Ihrer Re-gierung um 13 Prozentpunkte explodiert, das sind über60 Milliarden DM. Das ist ein Jahreswert.
Dies ist das Ergebnis der Politik der alten Koalition.Wir müssen diese Erblast schultern, und zwar gemein-sam; denn Sie tragen in einigen Bundesländern die Re-gierungsverantwortung, und wir haben die bundespoliti-sche Verantwortung. Das gehört aber zu einer scho-nungslosen und selbstkritischen Eröffnungsbilanz. DenSchuh haben wir uns alle anzuziehen, weil über Jahr-zehnte hinweg in Gesellschaft und Politik so gehandeltwurde, als ob die öffentlichen Ressourcen beliebig zuvermehren wären.
– Ich weiche nicht aus.Meine Fraktion ist vor 20 Jahren mit einem Grundan-satz, der bis heute unsere Programmatik substantiellprägt, in die politische Arena dieser Republik getreten:Nachhaltigkeit in der Ökologie. Wir haben unsere Erdevon unseren Enkeln geborgt, haben wir im Hinblick aufden Ressourcenverbrauch und die natürlichen Lebens-grundlagen betont. Genau diesen ökologischen Grund-satz der Nachhaltigkeit haben die Fiskal-, die Steuer-und die Sozialpolitik der alten Koalition trotz allerRhetorik in keiner Weise eingelöst.Lesen Sie nach, was der Sachverständigenrat derBundesregierung im vorletzten Jahr ins StammbuchDr. Günter Rexrodt
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geschrieben hat. Er hat das strukturelle Defizit scho-nungslos aufgedeckt. Er hat Finanzminister Waigel,nicht dem Kollegen Lafontaine, vorgeworfen, Ein-malerlöse einzusetzen, um strukturelle Defizite auszu-gleichen und Tilgungsaussetzungen vorzunehmen.Heute, Kollege Merz, stellen Sie sich hin und be-haupten, wir hätten mit der Integration des Erblasten-tilgungsfonds in den Bundeshaushalt des Jahres 1999gespart. Das ist nicht der Fall. Lesen Sie nach, was dieBundesbank im Monatsbericht von Februar dazuschreibt. Theo Waigel hatte für 1999 eine Absenkungder Annuität an den Erblastentilgungsfonds um 9,5 Mil-liarden DM auf 16,8 Milliarden DM vorgesehen. DieserBetrag hätte nicht einmal ausgereicht, um die Zinsen zubedienen. Durch die Integration des Erblastentilgungs-fonds in den Bundeshaushalt trägt der Bund 1999 dieZinslasten von rund 18 Milliarden DM.Wo ist hier bitte die Einsparung? Wir können mitFalschinformationen keine Politik machen. Das ist nichtredlich.
Sie wissen nur zu gut, daß ich nicht derjenige bin, derIhnen im Zweifelsfall nicht recht gibt, wenn Sie denFinger zu Recht in die Wunde legen. Aber bei der Inte-gration der Schattenhaushalte in den Bundeshaushalthaben wir bei Gott für Haushaltswahrheit und -klarheitmehr getan als Sie in den letzten neun Jahren seit derWiedervereinigung.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb? –
Bitte sehr.
Herr Kollege
Metzger, würden Sie mir widersprechen,
daß Sie im Einzelplan 60 auf Seite 17 in Titel 254 01
Einnahmen aus Abführungen des Erblastentilgungs-
fonds, veranschlagt in Höhe von 1,717 Milliarden DM,
eingeplant haben?
Das ist in der Tat richtig. Aber die Differenz zwischenden diesbezüglichen Zinszahlungen und dem, was imalten Haushaltsentwurf stand, decken wir im Bundes-haushalt ab.
Wenn Sie eine Saldorechnung durchführen, merken Sie,daß der Haushalt 1999 nicht mit einer einzigen MillionDM entlastet wird. Wir haben im Saldo – Sie könnenselber rechnen: 16,8 bis 18,1 Milliarden DM – für dasJahr 1999 keine Entlastung.
– Frau Kollegin Matthäus-Maier, ich habe dies geradeeben zitiert. Aber Kollege Kalb will das nicht zurKenntnis nehmen; denn Leute, die ideologisch verblen-det sind, nehmen Fakten bekanntlich nie zur Kenntnis.
Unsere erste Aktion ist also eine Integration des Er-blastentilgungsfonds und damit die Verwirklichung derGrundsätze der Haushaltsklarheit und der Haushalts-wahrheit. Dies ist keine Sparbüchse für diese Koalition.Auch ist das Argument des Ausgabenwachstums, dasvon der Oppositionsseite immer vorgebracht wird, mei-nes Erachtens nicht nachvollziehbar. Wir bleiben imRahmen der Vorgaben des Finanzplanungsrats.Angesichts der Erblast, die in das strukturelle Defizitdes Bundeshaushalts mündet, müssen wir natürlich auchandere Gesichtspunkte betrachten, die der Bundes-finanzminister hier beleuchtet hat. Es ist in der Tat so,daß es in der Vergangenheit ein Nachfrageproblem gab,weil die Reallöhne in den letzten Jahren – mit einerAusnahme, nämlich 1996 – gesunken sind.Herr Finanzminister, allerdings sollten wir die Ver-antwortung richtig delegieren: Die Reallöhne sankennicht deshalb, weil die Tarifpartner keine Bruttolohn-steigerungen durchgesetzt haben, sondern vor allemdeshalb, weil die Inflationsrate plus die steigende Abga-benlast – höhere Rentenversicherungsbeiträge, höhereArbeitslosenversicherungsbeiträge und höhere Kranken-versicherungsbeiträge – unter der alten Regierung dasverfügbare Nettoeinkommen geschmälert haben. Diessollte man bei der Ursachenforschung beachten, wennwir als Regierung die Abgaben wirklich senken wollen.Wir sollten jedoch keine Wolkenkuckucksheime auf-bauen, indem wir sagen: „Das finanzieren wir aus derPortokasse.“ Wir brauchen vielmehr Einnahmen ausVerbrauchsteuern dafür, um beispielsweise eine Sen-kung der Rentenversicherungsbeiträge hinzubekommen.
Aber wir brauchen auch – das ist der entscheidendePunkt – als Bringschuld eine Rentenreform.
Ich hätte mir in den letzten Tagen durchaus gewünscht,daß mehr politisch Verantwortliche aus der Regierungs-koalition nicht sofort in Richtung Riester argumentierthätten: „Das mit der Nettolohnbezogenheit hast du wohlnicht so ernst gemeint“,
Oswald Metzger
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sondern ganz klar und deutlich formuliert hätten: Gene-rationengerechtigkeit im Rentenbereich heißt, daß derdemographische Faktor, den Sie zum 1. Juli dieses Jah-res einführen wollten und der derzeit nicht beerdigt,sondern ausgesetzt ist – wenn von seiten des Gesetzge-bers nichts passiert, gilt ab übernächstem Jahr der de-mographische Faktor wieder –, Grundpfeiler einer Ren-tenreform auch der rotgrünen Regierungskoalition seinmuß. Wenn man im Interesse der nachwachsenden Ge-neration von Generationengerechtigkeit spricht, dannfällt der Vorwurf, die Ökosteuer sei eine reine Umfinan-zierungsmaßnahme und die Ausgabendynamik in derRentenversicherung werde uneingeschränkt belassen, insich zusammen. – Da solltet ihr jetzt klatschen; das isteine Position der Grünen.
Wenn wir angesichts der Analyse einer übergroßenVerschuldung, hoher Zinsbelastungen und eines Ausga-benblocks für die Altersversorgung, der die öffentlichenHaushalte strangulieren wird, an eine konzeptionelleAntwort herangehen, dann müssen wir auch klar fest-stellen: Jede Regierung, auch Rotgrün, braucht ein ord-nungspolitisches Fundament. Wir leben in einer Gesell-schaft, die sich in bezug auf die Orientierung in derWirtschaftspolitik viele Jahrzehnte über soziale Markt-wirtschaft definiert hat.Unser neuer Wirtschaftsminister, Kollege Müller –jetzt sollte es Ihnen in den Ohren klingeln; Herr KollegeRexrodt ist nicht mehr im Raum, allerdings der Wirt-schaftsminister auch nicht –, hat in den letzten vier Mo-naten mit seinen Aussagen zum Thema Staatsquote undzu dem Thema Zusammenhang zwischen einer Rück-führung von Ansprüchen an das Gemeinwesen und derlangfristig tragfähigen Basis für die Sozialpolitik und dieFinanzpolitik dieses Staates öffentlichkeitswirksammehr Sinnvolles gesagt als der alte Wirtschaftsministerin den letzten vier Jahren, obwohl ihm die Grundsatz-abteilung inzwischen in das Finanzministerium wegge-rutscht ist.
Daran sieht man also, daß die Vernunft im Wirtschafts-ministerium nicht von Grundsatzabteilungen abhängt,sondern von einer richtigen Positionsbestimmung. Ichkann nur sagen: Ich bin froh, daß Kollege Müller Wirt-schaftsminister dieser Regierung ist.
Wenn ich von einer ordnungspolitischen Fundamen-tierung spreche, bedeutet dies, daß wir in der Steuer-, inder Fiskal-, aber auch in der Sozialpolitik Reformenbrauchen.Ich komme zunächst zu dem Bereich, der in der ta-gespolitischen Diskussion eine Riesenrolle spielt, weilwir derzeit mit dem Einkommensteuerrecht zugangesind und weil die alte Koalition als heutige Oppositionnoch immer den Eindruck erweckt, als wäre ihr Steuer-recht im Bundesrat mehrheitsfähig gewesen, selbst heu-te. Ich behaupte, daß es nie und nimmer mehrheitsfähiggewesen wäre,
weil ein Nettoentlastungsversprechen dieses Ausmaßesmit den eben von mir beklagten und auch von IhrenRednerinnen und Rednern immer wieder betontenstrukturellen Defiziten im öffentlichen Haushalt nichtkompatibel ist.
Ein kleiner Nachsatz: Der Regierungswechsel wardem Überdruß am alten Kanzler und an der sozialenKälte, die die alte Koalition ausgestrahlt hat, geschuldet,schreibt das Allensbacher Institut in der Wahlanalysevom September. Das ist ein Alarmzeichen. Die alte Koa-lition hatte den Ruf, sie kümmere sich überhaupt nichtum das, was im Volk passiert. Kleine Leute sind ihregal, ob im Steuerrecht oder sonstwo.Wenn wir im Bereich der Steuerpolitik eine anderePolitik verfolgen wollen, müssen zwei Hauptgesichts-punkte als Bewertungsmaßstab herangezogen werden.Der erste Gesichtspunkt ist die soziale Gerechtigkeit.Wenn wir also in der steuerpolitischen Debatte die Steuer-gerechtigkeitskarte ziehen, dann bedeutet das, daß wirein Steuerrecht ändern müssen, das durch Steuergestal-tungsmöglichkeiten Gutsituierten Privilegien einräumt,während daraus bei den kleinen Leuten durch denAbzug vom Lohn eine leistungsfeindliche Besteuerungresultiert, vor allem in Verbindung mit der hohen Abga-benquote. Das ist ein ganz wichtiger Grundsatz, denauch ich als Grüner betone; die Sozialdemokratie alsgroße Koalitionspartei betont diesen Aspekt zu Recht.Der zweite Gesichtspunkt, der bei den Steuerrechts-änderungen zu beachten ist, ist: Wie gestalte ich dasSteuerrecht so, daß ein ökonomischer Schub in RichtungStärkung der Investitionskräfte in unserer Volkswirt-schaft erfolgt? Angesichts der Ausgangssituation inDeutschland haben wir nicht nur ein Problem mit derSteuergerechtigkeit, sondern auch mit einem Steuer-recht, das, gemessen an der Fortentwicklung des Steuer-rechts in unseren wichtigsten Konkurrenzvolkswirt-schaften, nach wie vor hinterherhinkt, und zwar gewal-tig. Das ist für unsere Gesellschaft ein Riesenproblem;denn es führt vor allem in der Wirtschaft zu einer Zwei-teilung in der Steuerfinanzierung unseres Gemeinwe-sens: Der Mittelstand, der in Deutschland seinen Stand-ort hat, kann sich dem Zugriff des Fiskus durch Steuer-gestaltungsmöglichkeiten weniger entziehen als dieGroßbetriebe, die ihre Standorte in das Ausland verla-gern, wo die Grenzsteuersätze niedriger sind, und so ei-nen deutlich geringeren Anteil zur Finanzierung unseresGemeinwesen leisten.Der Mittelstand ist von der alten Koalition über16 Jahre hinweg zum Zahlmeister dieses Steuer- undOswald Metzger
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Abgabensystems gemacht worden. Insofern sitzen Sieim Glashaus und sollten nach vier Monaten nicht denStab über eine Regierung brechen,
die jetzt eine Reformkommission initiiert hat, überwie-gend von Vertreterinnen und Vertretern der Wirtschaftund der Wissenschaft besetzt, unter einem Vorsitzenden,den ich für außerordentlich klug halte – das ist der Steuer-experte vom Deutschen Industrie- und Handelstag, HerrKühn –, und die über einem Konzeptansatz zur Unter-nehmenssteuerreform mit einem Grenzsteuersatz von35 Prozent sitzt und dies auch sauber gegenfinanziert.Wir versprechen den Leuten nicht Wurst und Wecken.Wir sagen klar: amerikanisches Steuerbilanzrecht, dafürniedrige Tarife. Damit fällt das alte Argument, wir hät-ten ein wettbewerbswidriges Steuerrecht in Deutschland,in sich zusammen. Das ist vernünftige Steuerpolitik, unddaran werden wir arbeiten.
Wenn wir in der Steuerpolitik ordnungspolitischeGrundsätze und die internationale Wettbewerbsfähigkeiternst nehmen, dann gehört auch der Bereich der Fiskal-politik untersucht. Ich finde es gut, daß Sie, Herr Fi-nanzminister, heute deutlich gesagt haben: Dieser Haus-halt 1999 weist noch keine zureichenden Konsolidie-rungsschritte auf; es ist ein Übergangshaushalt. Ich undmeine Fraktion halten es für wichtig, das hier zu beto-nen, weil wir auf Grund der objektiven Ausgangsvor-aussetzungen dieses Bundeshaushalts eine Bringschuldin Richtung auf Konsolidierung haben. Konsolidierenheißt auf gut schwäbisch „sparen, sparen, sparen“ oderheißt: zu allen weitergehenden Forderungen an den Staatvor allem nein zu sagen. In Zeiten, in denen die öffentli-chen Gelder so knapp sind wie jetzt, gehört es, – vonden Gemeinden angefangen über die Länder bis zumBund – zur Tugend von Politikern, die das Prinzip derGenerationengerechtigkeit ernst nehmen, die nicht nur inWahlzyklen denken und ihre Verantwortung für dasvolkswirtschaftliche Gesamtwohl ernstnehmen, zu sa-gen: Weniger ist mehr. Ohne nein zu sagen, wird mannicht sparen können.
Dieser Finanzminister wird meines Erachtens zu oftgescholten,
weil er in der Sache bei seiner Positionsbestimmungzum Thema Konsolidierung und Sparen vieles sagt, wasIhnen deswegen merkwürdig aufstößt, weil es nicht indas populäre Bild paßt, wonach wir es bei ihm nur miteinem Nachfragepolitiker zu tun haben, der die Ange-botsbedingungen nicht sieht. Wiederholt hat Lafontaine,auch heute – das kann man nachlesen –, von einem „po-licy-mix“ gesprochen, davon, daß man Angebotsbedin-gungen und Nachfragebedingungen verbessern müsse;daraus wird ein Schuh. Wenn Sie das Stabilitätspro-gramm durchlesen, das er im Januar an die EU-Kommission geschickt hat, dann werden Sie feststellen,daß es ein absolut ehrgeiziges Ziel für diese Legislatur-periode enthält, nämlich die Senkung der Defizitquote inAbgrenzung zum betreffenden Maastricht-Kriterium auf1 Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Dasheißt, bei einem hochgerechneten Bruttoinlandsprodukt,das dann im Jahre 2002 bei 4,5 Billionen DM liegendürfte, hätten wir – bei 1 Prozent – 45 Milliarden DMDefizit, das nach der heutigen Verteilung zwischenBund, Ländern und Gemeinden für den Bund bei etwazwei Drittel, also bei zirka 30 Milliarden DM, liegendürfte. Eine solche Neuverschuldung für den Bund istein absolut ehrgeiziges Ziel. Aber alle wissen – dasmüssen wir auch der Öffentlichkeit sagen, weil wir einebreite öffentliche Debatte über die Begrenztheit der öf-fentlichen Ressourcen brauchen –: Wir brauchen – wennman in größeren Zeiträumen als drei oder vier Jahren,etwa in der Größenordnung eines Jahrzehnts denkt –auch in Deutschland ausgeglichene Haushalte. Das istein Gebot der Vernunft.
Wenn wir mit den öffentlichen Mitteln nicht scho-nender umgehen, werden wir dieses Gemeinwesen lang-fristig nicht finanzierbar halten können.
Ich bin niemand, der mit der Axt soziale Kahlschlägedurchführen will. Vielmehr müssen wir im Konsens mitder Bevölkerung das Wort „sparen“ positiv besetzen, in-dem wir sagen: Wenn wir heute zu Lasten der kommen-den Generation leben, sind die Gestaltungsspielräumedieser Generation so sehr eingeschränkt, daß ihr außereinem Kahlschlag gar nichts anderes mehr übrigbleibt;
wenn wir jetzt keine strukturellen Reformen machen,wird später ein Kahlschlag provoziert.
– Kollege Hoyer, ich freue mich auf eine Diskussion derEinzelpläne, die am Ziel der Konsolidierung orientiertist. Darauf können Sie sich verlassen.Übrigens haben sich die Haushälter dieser Koalitions-fraktionen angesichts der Ausgangssituation des Jahres1999 – es handelt sich um einen Übergangshaushalt –und im Bewußtsein der Tatsache, daß das Jahr 2000höllisch schwierig wird und daß wir im Sommer einemittelfristige Finanzplanung vorzulegen haben, zur Auf-gabe gemacht, in den Berichterstattergesprächen zusätz-lich ein halbes Prozent aus den Einzelplänen heraus zukürzen – und zwar bewußt im konsumtiven, nicht im in-vestiven Bereich, weil wir die Spielräume für den Haus-halt ausweiten wollen. Das ist eine Absichtserklärungder Koalitionshaushälter, die sich dem Respekt vor derTatsache verdankt, daß das Parlament der Budgetgeberist. Jetzt liegt uns ein Regierungsentwurf vor, und imOswald Metzger
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1428 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Parlament können eine weitere Reduzierung, auch eineAbsenkung der Nettoneuverschuldung durchaus durch-gesetzt werden. Dieses Konsolidierungssignal der Re-gierungsfraktionen können wir setzen, damit der Fi-nanzminister auch merkt: Ich kann mich auf meineHaushaltspolitikerinnen und -politiker verlassen; siefallen mir nicht in den Rücken, weil sie eine Lobbypoli-tik für einzelne Ressorts machen. – Wie das nämlichfunktioniert, haben wir in den vergangenen Jahren beider alten Koalition erlebt. Wir konnten erleben, wie dieHaushaltspolitiker regelmäßig zurückgepfiffen wurden,wenn sie versuchen wollten, etwas einzusparen. Wirwollen uns zumindest ernsthaft vornehmen, unser Vor-haben durchzusetzen. Von der Sache her können wir unsder Unterstützung des Finanzministers in diesem Punktsicher sein.
– Zumindest in den Einzelplänen, zu denen bereits jetztBerichterstattergespräche gelaufen sind, haben wir die-sen Konsolidierungsbeitrag erbracht. So lauten zumin-dest die Informationen von den Kollegen, mit denen ichgeredet habe.Aber um nicht die Linie zu verlieren und als Haus-hälter nicht in die Rolle eines Erbsenzählers zu kom-men: Wir haben eine Bringschuld. Ich habe mich fest-gelegt, Kollege Wagner auch. In zwei oder drei Mona-ten, bei der Abschlußberatung hier, können Sie ja Bilanzziehen und sehen, ob wir den Mund zu voll genommenhaben oder nicht. Ich glaube, wir werden es schaffen.Aber ich war beim ordnungspolitischen Fundamentder Steuerpolitik für die Fiskalpolitik – wir brauchen ei-ne Reform der sozialen Sicherungssysteme. StichwortRente: Wir werden in der Diskussion mit den Großelternderjenigen in dieser Gesellschaft, die in den Beruf ein-treten und unter der Last der Abgaben für die Rente lei-den, die netto in Relation zu ihrem Einkommen seitvielen Jahren immer weniger in der Tasche haben, deut-lich machen müssen – und das wissen eigentlich alle –:Diese Form von Rentenfinanzierung, der Nettolohnbe-zug der gesetzlichen Rente, ist langfristig nicht aufrecht-zuerhalten.
Aber in der Diskussion um die Systemumstellung gibt esunterschiedliche Ansätze. Es gibt auch in dieser Koali-tion unterschiedliche Auffassungen. Diese gab es aber inder alten Koalition auch: Zwischen den CDU-Sozialausschüssen und der F.D.P. liegen in dieser FrageWelten.Auch bei dieser Reformdebatte möchte ich ordnungs-politisch wieder das Steuerrecht bemühen. Wir erwartenfür dieses Jahr noch eine Verfassungsgerichtsentschei-dung zur Steuerfreistellung der Altersvorsorgeleistungenim Hinblick auf die Gleichbehandlung von Pensionenund Renten. Auch diese Entscheidung wird Geld kosten.Aber sie wird hoffentlich zu einer Schlußfolgerung inder Koalition führen, die da lautet: Wenn wir als Meß-latte für die Steigerungsraten bei der gesetzlichen Rentedie steigende Lebenserwartung der Bevölkerung anle-gen, dann müssen wir im Steuerrecht Anreizsystemeschaffen, damit auch der Durchschnittsverdiener nettomehr in der Tasche hat, um damit private Vorsorge fürdas Alter betreiben zu können – und zwar steuerfrei.Viele Menschen machen das heute aus versteuertemEinkommen; denn die Vorsorgepauschale im Lohn- undEinkommensteuerrecht wird durch die Sozialversiche-rungsbeiträge über die Maßen aufgefressen. Wir müssenalso eine Doppelstrategie fahren: in der Rente eine de-mographische Komponente und gleichzeitig Anreizsy-steme für private Vorsorge.Der Nebeneffekt einer solchen Konzeption im Steuer-recht wird sein, daß wir in dieser VolkswirtschaftWachstumsgewinne provozieren. Alle reden doch im-mer davon, daß in England und Amerika im Gegensatzzu Deutschland eine Aktienkultur herrscht. Die Eigen-kapitalausstattung unserer Volkswirtschaft ist ver-gleichsweise gering, weil es in diesem Land keine Akti-enkultur gibt, weil breite Kreise der Bevölkerung in denletzten Jahren die Aktie überhaupt erst entdeckt haben.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
Ich führe diesen Gedanken gerade noch zu Ende, dann
gerne.
Wenn wir diese Komplexe verzahnen, haben wir die
Angebotsbedingungen verbessert und die Altersein-
kommen einer älter werdenden Gesellschaft langfristig
gesichert. Auch wenn die Menschen älter werden, müs-
sen sie im Alter ein verkonsumierbares Einkommen ha-
ben. Wir müssen heute die Weichen stellen, damit diese
Gesellschaft, deren Alterspyramide zunehmend ungün-
stiger wird, auch in 30 und 40 Jahren ein Einkommen
hat, aus dem sich wirtschaftliche Leistung und damit
Arbeit für junge Menschen generieren läßt.
Diese Generationenverantwortung müssen wir im Inter-
esse der Nachhaltigkeit unserer Gesellschaft jetzt the-
matisieren. Alle vorschnellen tagespolitischen Entschei-
dungen, die diesen Grundzusammenhang nicht aufgrei-
fen und der Schimäre Vorschub leisten, daß das alte Sy-
stem aufrechterhalten werden kann, daß wir nur ein Ein-
nahme-, kein Ausgabeproblem haben, gehören ange-
sichts der realen Probleme in den Orkus der Geschichte.
Herr Kollege, Sie
gestatten eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte? –
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr KollegeMetzger, ich begrüße sehr, daß Sie auf die Notwendig-keit einer vernünftigen und klug angelegten Renten-reformpolitik hingewiesen und den demographischenFaktor als ein unverzichtbares Element für LösungenOswald Metzger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1429
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angesprochen haben. Wir haben eine sehr sanfte und vonIhnen auch für richtig erachtete Kurskorrektur des de-mographischen Faktors in der Rentenfinanzierung vor-genommen. Leider hat Ihre Koalition diesen Ansatz zu-rückgenommen und damit drei wichtige Jahre für densanften Umbau, den akzeptablen Umbau für unsereRentner verloren. Wie wollen Sie diese drei Jahre auf-holen? Werden Sie wieder eine demographische Formeleinführen?
Kollege Schauerte, in der Tat ist es richtig: Die neueKoalition hat etwas ausgesetzt, was die Renten ab1. Juli dieses Jahres nur um etwa 0,3 Prozent wenigerhätte steigen lassen als die Bruttolohnsteigerung desVorjahres. Sie wissen, daß wir als Regierungsfraktionden demographischen Faktor in unserem Wahlpro-gramm vorgesehen hatten; das zum Thema „versprochenund gehalten“. Die Aussetzung bietet der neuen Regie-rung und auch dem neuen Sozialminister – daß er nach-denkt, das merken Sie an seinen Äußerungen; er denktin einer Richtung nach, die ich für begrüßenswert halte –die Chance, diese Debatte im Einklang mit dem Koali-tionspartner so zu führen, daß eine Begrenzung desWachstums der Ausgaben möglich wird. Daraus macheich hier keinen Hehl: Es gibt eine Gesamtverantwortung.Fakten kann man nicht wegdiskutieren. Versicherungs-mathematik ist kein Geheimnis. Man braucht nur zweiund zwei zusammenzuzählen. Aber man muß es auchpolitisch fundieren.Die Rentenreform der alten Koalition hat nämlichgleichzeitig die Berufs- und die Erwerbsunfähigkeits-renten bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, was einesoziale Schieflage bewirkt hat und was wir daher zuRecht abgelehnt haben. Trotzdem war der demogra-phische Faktor richtig. Sie haben den übrigens auch erstnach 16 Jahren Regierung eingeführt. Blüm warschließlich der Rentenminister, der über lange Zeit hin-weg betont hat: Die Renten sind sicher. – Daß sie esnicht waren und sind, merkt die heutige Generation.
Schauen Sie sich die Absetzbewegungen der jungenMenschen von der gesetzlichen Rentenversicherungdoch an. Das ist ein Alarmzeichen.Kollege Schauerte, man sollte das Richtige tun, wennman an der Regierung ist, und zwar rechtzeitig. Wir sinderst vier Monate an der Regierung. Wenn wir die Bring-schuld in zwei Jahren noch immer nicht erfüllt haben,dann lasse ich Ihren Vorwurf uneingeschränkt gelten.
Wir haben auch in der Krankenversicherung Re-formen vorzunehmen. Zum Stichwort „Generationen-verantwortung“ berühre ich in der heutigen Debatte ganzbewußt auch solche Themen, bei denen Selbstlügen un-serer Generation über lange Zeit hinweg aufrechterhal-ten wurden. Auch in der Krankenversicherung gibt eskeine beliebige Geldvermehrung. Selbst wenn die Kran-kenkassen durch den abzuführenden Sozialversiche-rungsbeitrag bei den 630-Mark-Jobs mehr Geld bekom-men, werden sie unter dem Konsolidierungsdruck lei-den.Meine Kollegin Andrea Fischer als Gesundheitsmini-sterin arbeitet an einem Konzept – auch der KollegeDreßler und andere Gesundheitspolitiker der SPD ar-beiten daran –, das auf der Seite der Nachfrager nichtden Eindruck erweckt, man verteile nur Budgets zwi-schen Zahnärzten, Hausärzten, Krankenkassen, ambu-lanter und stationärer Versorgung. Man muß auch beiden Leistungsnachfragern, das heißt den Versicherten,ansetzen. Eigenverantwortung in einer Gesellschaft istnichts Schlechtes.
Ich habe den Eindruck, wir müssen diesen Gesichts-punkt sozialpolitisch neu diskutieren. Eine Gesellschaftkann auch Ansprüche an ihre Bürgerinnen und Bürgerstellen. Die Haltung, das sei nur eine Einbahnstraße, istnicht richtig.
– Der Zwischenruf kommt zu früh. Haben Sie gehört,was der Finanzminister heute früh zu dem Thema „An-gebot von Arbeitsplätzen im Bereich des Jugendar-beitslosigkeitsprogramms“ gesagt hat, was Herr Zwickelvon der IG Metall gesagt hat? Leute, die vermeintlich inSchützengräben sitzen, denken über den Tellerrand hin-aus oder fangen zumindest damit an. Der Finanzministerhat gesagt: Wenn der Staat Qualifizierungsmaßnahmenund/oder Arbeitsplätze anbietet, kann er dem einzelnenBetroffenen auch sagen: Falls du diese Tätigkeit nichtannimmst, wird die Leistung gekürzt. – Das ist geltendesGesetz: § 25 Bundessozialhilfegesetz.
Der Staat kann von seinen Bürgerinnen und Bürgernunter Gerechtigkeitsgesichtspunkten etwas verlangen.Sozialstaat heißt nicht, Sozialpolitik so zu betreiben, daßMitnahmeeffekte augenzwinkernd zugelassen werden.
Vielmehr muß der Staat mit seiner Sozialpolitik Anreizebieten. Zum einen dürfen Leute, die unverschuldet inNot geraten, nicht in der Gosse landen. Zum anderenmuß ein Anreiz geschaffen werden, beispielsweise durchhöhere Hinzuverdienstmöglichkeiten, die nicht sofortmit der Sozialhilfe verrechnet werden, einer Tätigkeitnachzugehen. Es muß aber auch das Mittel der sanftenPeitsche geben, nämlich mögliche Leistungskürzungen.Diese Debatte – davon bin ich überzeugt – kann mansowohl in der gesellschaftspolitischen Linken dieser Re-publik als auch im konservativen Lager führen. Die mei-sten Leute haben ein Sensorium dafür entwickelt, daß esmit einer uneingeschränkten Anspruchshaltung gegen-über dem Staat nicht weiter funktioniert. Sozialstaat derZukunft, sozialer Konsens in einer Gesellschaft, ökolo-gische Rücksichtnahme und Nachhaltigkeit verlangender Politik eine Verantwortungsethik ab, die sich nichtHartmut Schauerte
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1430 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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mit Beliebigkeitsfloskeln wie „Alles weiter wie bisher“begnügen kann.
Diese Diskussion, meine Damen und Herren, liebeKolleginnen und Kollegen, müssen wir auch in die Ge-sellschaft hineintragen. Schauen Sie sich einmal an – ichsehe bewußt auf die sozialdemokratischen Bänke –, wiein den Gewerkschaften in den letzten zehn Jahren dieDebatte zum Thema „Sozialstaat“ läuft! Ich weiß es, ichhabe einen Freund, der IG-Metall-Sekretär in Ulm ist. Inseinem Geschäftsbereich haben sich in den letzten Jah-ren 30 Prozent und mehr der Mitgliedsfirmen aus demTarifverband ausgeklinkt. Betriebsräte, die der IG Me-tall angehören, haben zum Zwecke der Arbeitsplatz-sicherung teilweise über zwei oder drei Jahre Abschlägebeim Weihnachtsgeld, beim Urlaubsgeld hingenommen,haben lange, bevor Öffnungsklauseln in den Flächen-tarifverträgen enthalten waren, Flexibilisierungen be-schlossen. Die haben eine gesellschaftliche Entwicklungantizipiert und dazu beigetragen, daß in den Gewerk-schaften insgesamt diese Debatte geführt wird. Im Ar-beitgeberlager ist es das gleiche. Sehen Sie sich docheinmal an, wie viele Arbeitgeberfunktionäre tatsächlichdas aussprechen, was ihre Mitgliedsfirmen denken! Essind extrem wenige. Wenn wir als Politiker in denSchützengräben bleiben, einander nicht zuhören, sofortmit einem pawlowschen Reflex ablehnend auf etwasreagieren, was von der falschen Seite kommt, dann wer-den wir die Probleme dieser Gesellschaft nicht lösenkönnen.
Wir werden viel Hirnschmalz und auch Überzeu-gungsarbeit darauf verwenden müssen, diese Vorsätzeumzusetzen. Aber halten Sie diese Regierung nicht fürberatungsresistent. Wenn Ihnen vor zwei Monaten je-mand gesagt hätte, daß die Mittelstandskomponenten imSteuerentlastungsgesetz in der Richtung verändert wür-den, wie es jetzt gemacht wurde, so hätte das niemandgeglaubt. Es sind bei Gott nicht nur Verschlechterungen,nach meiner Auffassung gibt es auch Verbesserungen.
Ich weiß in den Bereichen Teilwertabschreibungen undVerlustrücktrag, von was ich rede. Auch im Bereich derBetriebsübergaben hat es im Laufe des Gesetzgebungs-verfahrens eindeutig Verbesserungen gegeben.
Wenn Sie dies als Maßstab für Lernfähigkeit der Re-gierung nehmen, für Nicht-im-Glashaus-Sitzen, für Zu-hörenkönnen, für eine andere Kultur des gesellschafts-politischen Dialogs, dann ist mir nicht bange, daß dieRegierung auch Wahlen gewinnen wird und Ihre Hoff-nung – der Vorredner, Herr Rexrodt, hat es formuliert –,daß ein Regierungswechsel in diesem Land buchstäblichvor der Tür steht, nicht trägt. Fragen Sie einmal denDurchschnittsbürger! Viele sind ganz praktisch veran-lagt und sagen: Die anderen waren 16 Jahre dran. – Wirsind als Demokraten in unserer Gesellschaft so frei undflexibel, daß wir Regierungen auch abstrafen können.Das geht absolut in Ordnung.
Ich bekenne mich als Grüner ausdrücklich dazu, obwohlwir bei der Hessenwahl eine auf die Mütze bekommenhaben. Niederlage ist Niederlage, und Niederlagen mußman annehmen. Man muß daraus etwas machen, die Po-litik praktisch so justieren, daß sie vermittelbar ist. Manmuß Lösungen für die Probleme der jungen Generationanbieten, damit man weiß, für was in der politischenArena gekämpft wird. Aber die Flexibilität der Wähler-schaft geht nicht so weit, daß sie einem keine Chanceeinräumt, tatsächlich zu lernen und konzeptionell etwasanders zu machen.Ich möchte deswegen mit der Aussage, an die Oppo-sition gerichtet, schließen: Rechnen Sie mit uns, undzwar länger, als Ihnen lieb ist!Vielen Dank.
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Rössel, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorgelegte Etat-entwurf 1999 ist dem Volumen nach der größte, der jevon einer Bundesregierung vorgelegt wurde. Aber vonder Einlösung rotgrüner Wahlversprechungen oder garvon einem Politikwechsel kann nur in Ansätzen dieRede sein. Positiv wird gewertet, daß für die aktiveArbeitsmarktpolitik etwa 6 Milliarden DM mehr alsvon der abgewählten Regierung eingestellt worden sind.Das ist sicher ein wichtiger Schritt in die richtige Rich-tung. Jawohl, Herr Lafontaine, auch eine aktive Geld-politik mit weiter fallenden Zinsen wäre ein Beitrag zurNachfrageankurbelung und zu mehr Beschäftigung.Angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit sindaber neue Wege zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeiteinzuschlagen. Vorstellbar wäre beispielsweise einöffentlich gefördertes Programm für die Schaffung vonzukunftsfähigen Arbeitsplätzen gerade im sozialen undim soziokulturellen Bereich – also im Non-profit-Sektor –, wie es jetzt von der SPD/PDS-Koalitions-regierung in Mecklenburg-Vorpommern eingeleitetworden ist. Damit könnten in der Tat neue Dauerarbeits-plätze geschaffen werden. Auch für die neuen Bundes-länder sollen im Haushalt die Mittel aufgestockt werden.Es kommt jetzt aber darauf an, diese Mittel so zielge-richtet einzusetzen, daß ein selbsttragender Aufschwungin Ostdeutschland nicht länger zur bloßen Worthülseverkommt. Die Menschen zwischen Kap Arkona unddem Thüringer Wald erwarten das.Trotz mancher positiver Ansätze ist der vorgelegteBudgetentwurf in großen Teilen tatsächlich eine Fort-Oswald Metzger
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schreibung des noch von Waigel erarbeiteten Haus-haltsentwurfs. Schon jetzt zeigt sich immer deutlicher,daß eine solche Haushaltspolitik in die Sackgasse gerätund vor allem in den kommenden Jahren erheblicheRisiken birgt. Viele Einnahmen in 1999 basieren aufEinmaleffekten – Stichwort Privatisierungserlöse –,deren Wiederholung in den nächsten Jahren mehr alsfraglich ist, die einfach in das Jahr 1999 verschobenwurden und die Haushaltsbilanz des Finanzministersohne dessen eigenes Zutun aufbessern.Zudem ging die rotgrüne Bundesregierung bei derVerabschiedung des 99er Entwurfs im Januar noch voneiner sehr optimistischen Erwartung hinsichtlich desWirtschaftswachstums sowie des Steueraufkommensaus. Seither sind aber neue Unsicherheiten und Proble-me aufgetreten, die zur Kenntnis zu nehmen sind. Icherinnere nur an die Konsequenzen aus den jüngsten Ur-teilen des Bundesverfassungsgerichts zu den Kinder-betreuungskosten sowie zu der Beamtenversorgung.Alleine die Umsetzung der Urteile zur Familienbesteue-rung wird ab 2000 mit jährlich zirka 22,5 MilliardenDM die öffentlichen Haushalte – darunter den Bundes-haushalt mit 10,2 Milliarden DM – belasten.Für den Haushalt erweist sich aber auch als belastend,daß das von der Bundesregierung anvisierte Wirt-schaftswachstum von 2 Prozent aller Voraussicht nachnicht erreichbar ist. Die anhaltenden Wirtschaftsturbu-lenzen in Rußland, Brasilien und in Teilen von Südost-asien haben die Konjunkturaussichten hierzulande wei-ter eingetrübt. Auch das nach wie vor zügellose Agierenglobaler Hedge-Funds wirkt sich destabilisierend auf dieWeltwirtschaft und das Weltfinanzsystem aus. Der In-ternationale Währungsfonds hat bei der Abwehr dieserKrisen und Finanzspekulationen auf der ganzen Linieversagt. Auch das G-7-Treffen der Finanzminister undNotenbankchefs am letzten Wochenende in Bonn, andem Herr Lafontaine beteiligt war, hat keine greifbarenErgebnisse zur Eindämmung der Währungs- und Ban-kenkrisen gebracht.Das weiter eingetrübte wirtschaftliche Umfeld ver-anlaßte sogar das regierungsnahe DIW, seine Wachs-tumsprognose auf 1,5 Prozent zurückzunehmen. DasProblem ist, daß jeder halbe Prozentpunkt wenigerWachstum 8 Milliarden DM weniger Steuereinnahmen,aber zugleich deutlich höhere Ausgaben zur Finanzie-rung der Arbeitslosigkeit bedeutet. All das sind Risiken,die zu berücksichtigen sind.Im Wahlkampf war von der rotgrünen Koalitionvollmundig eine umfassende Wohngeldreform ver-sprochen worden. Tatsache ist aber, daß die im Haus-haltsentwurf veranschlagten Mittel von 4,02 MilliardenDM sogar noch um 800 Millionen DM unter demWaigelschen Ansatz liegen. Das ist wirklich ein Skan-dal.
Leidtragende sind Hunderttausende einkommens-schwache Familien sowie letztlich auch die Kommunen,die nämlich für fehlendes Wohngeld mit ihren Sozialhil-feetats bluten müssen.Die PDS verlangt daher von der Koalition, daß dieversprochene Wohngeldreform mit dem Haushalt 1999endlich auf den Weg gebracht wird.
Wir erwarten ebenfalls, daß die seit Jahren eingefro-renen Mittel für die Städtebauförderung deutlich auf-gestockt werden, und zwar gerade deshalb, weil jedeMark Städtebaugeld bis zu 7 DM an privaten Investitio-nen nach sich zieht, mit denen Arbeitsplätze geschaffenwerden können. Und das arg gebeutelte Bauwesenkönnte unterstützt werden.Enttäuschend ist im Haushaltsentwurf auch die För-derung des Schienenverkehrs sowie des öffentlichenPersonennahverkehrs. Während auf der einen Seite dieBahntarife ständig angehoben werden – in Ostdeutsch-land am 1. April um sage und schreibe 14 Prozent, wasunerhört ist – und gleichzeitig eine Kahlschlagpolitik imHinblick auf das öffentliche Verkehrsnetz betriebenwird, die bereits von der Vorgängerregierung begonnenwurde, heute aber nicht gebremst wird, schluckt auf deranderen Seite das unsägliche Prestigeobjekt TransrapidUnsummen von Geldern der Steuerzahlerinnen undSteuerzahler. Der Transrapid gehört endlich beerdigt,
ebenso der Eurofighter, der einen politischen Anachro-nismus ohnegleichen darstellt.Von Nachhaltigkeit in der Ökologie, Herr KollegeMetzger, von der Sie sprachen, kann im Haushaltsent-wurf leider nicht die Rede sein. Sie selbst haben das ge-stern im Berichterstattergespräch von mehreren Kolle-gen erfahren.Wenn über den Bundeshaushalt diskutiert wird, darfder Blick auf die Länder- und auf die Kommunalhaus-halte nicht ausbleiben. Die Verschuldung der öffentli-chen Haushalte betrug Ende September – das sind dieneuesten Zahlen – immerhin 2 218 Milliarden DM. Da-von entfallen auf den Bund einschließlich der benanntenSonder- und Nebenhaushalte 1 437 Milliarden DM –eine unvorstellbare Summe. Insgesamt beträgt die Pro-Kopf-Verschuldung der öffentlichen Hand in der Bun-desrepublik Deutschland sage und schreibe 27 215 DM;das ist eine riesige Hypothek für die Zukunft, die denFinanzminister wie auch uns alle nicht ruhig schlafenlassen kann.Die Handlungsfähigkeit der Kommunen wird durchmangelnde Finanzen immer mehr eingeschränkt. Anstattdie Rahmenbedingungen für die kommunale Selbstver-waltung so zu verbessern, wie es notwendig ist, will dieKoalition offenkundig jetzt sogar die Gewerbesteuer –eine traditionell wichtige Steuereinnahme der Städte undGemeinden – abschaffen und damit einer weiteren Aus-zehrung der Kommunalfinanzen Vorschub leisten. Daslehnen wir ab.
Die PDS fordert in Übereinstimmung mit den kom-munalen Spitzenverbänden: Hände weg von der Gewer-besteuer! Wer die Gewerbesteuer abschafft, greift nichtnur eine jahrelang erhobene Forderung der F.D.P. auf,Dr. Uwe-Jens Rössel
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die die F.D.P. nicht einmal in der Kohl-Regierungdurchsetzen konnte – das wollen wir an dieser Stellenicht verschweigen –,
sondern zerschlägt, Herr Kollege Koppelin, das Bandzwischen ortsansässiger Wirtschaft und den Kommunen.Die Kommunen brauchen zur Finanzierung ihrer Infra-struktur auch die Gelder der Unternehmen, denn diesenutzen die Infrastruktur ja auch.Die PDS verlangt daher eine Reform der Kommunal-finanzierung. Die Städte und Gemeinden brauchen sta-bile eigene Steuereinnahmen. Eine kommunale Investi-tionspauschale des Bundes könnte in Ostdeutschland,aber auch in westdeutschen Regionen, die struktur-schwach sind, viel zur Verbesserung der Infrastrukturbeitragen.Ferner muß mit der Praxis Schluß gemacht werden,wonach sich zuerst der Bund bzw. die Europäische Uni-on und dann die Länder aus den öffentlichen Geldernbedienen und nur das wenige, das dann noch übrigbleibt,in die kommunalen Kassen fließt. Umgekehrt muß einSchuh daraus werden.
All das zeigt, daß diese und weitere Haushaltspro-bleme mittel- und langfristig weder durch Kürzungen imsozialen und ökologischen Bereich noch durch umfas-sende Privatisierungen gelöst werden können. Notwen-dig ist die Mobilisierung neuer, stabiler Einnahmequel-len gerade durch Verwirklichung des Grundsatzes derUmverteilung von oben nach unten. Die Wiedereinfüh-rung der Vermögensteuer gehört ebenso dazu wie diekonsequente Besteuerung der auswuchernden interna-tionalen Finanztransaktionen.Ich bedanke mich.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans Georg Wagner, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorhin hatder Kollege Merz gesprochen – er ist schon seit längererZeit nicht mehr im Saal.
– Ach, aber jetzt sind Sie wieder da. Herzlich willkom-men!
– Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht gesehen.
– Sie sind von der Figur her nicht zu übersehen, HerrKollege Fuchtel. Bei Herrn Merz ist das aber etwas an-ders.Herr Merz, ich war über Ihre furchtbare Arroganz undIhre Häme erschrocken, mit der Sie zu Beginn über denBundesfinanzminister hergezogen sind, was das G-7-Treffen angeht. So sollte man nicht miteinander umge-hen. Das ist kein guter Umgangston, vor allen Dingenfür einen Politiker, der eigentlich die Auffassung „Liebedeinen Nächsten wie dich selbst“ vertreten müßte, an-statt mit Häme über die anderen herzuziehen.
Ich sage Ihnen, Herr Bundesfinanzminister: Wir dan-ken Ihnen ausdrücklich, daß Sie Denkanstöße geben,wie die internationalen Finanzmärkte endlich geord-net werden müssen. Man sollte nicht mit Häme darüberherziehen, sondern einverstanden sein, daß der Bundes-finanzminister den Versuch unternimmt, einmal Ord-nung in die Finanzmärkte zu bringen. Das gilt sowohlfür die europäische Ebene als auch weltweit.
Das ist gut so. Und wenn die anderen nicht in Jubel aus-brechen, kann ich dazu nur sagen: Wer gibt schon gernetwas ab? Das sehen Sie ja bei unserer Haushaltsdebatte.Man muß also immer wieder bohren, bis eben derDurchbruch erreicht ist.Wie haben Sie geschrien, als Herr Lafontaine sagte,es ist notwendig, eine Zinssenkung vorzunehmen, umden Arbeitsmarkt anzukurbeln! Die Verantwortlichenbei den Banken, auch Herr Tietmeyer und die Verant-wortlichen auf der europäischen Ebene, haben gesagt:Das geht nicht! – Drei Tage später haben sie die Zinsengesenkt. Das, was Herr Lafontaine damals gesagt hat,war also richtig.
– Machen Sie als Unternehmer doch etwas, Herr Kolle-ge. Schaffen Sie Arbeitsplätze! Dann hat sich auf demArbeitsmarkt schnell etwas getan.Herr Kollege Merz, ich will Ihnen eine Empfehlunggeben. Sie haben hier in zwei Fällen falsche Zahlen vor-getragen. Zum einen ist bei dem, was die Versiche-rungswirtschaft Ihnen aufgeschrieben hat, schon längstdie Luft raus; der entsprechende Betrag ist auf ein Drit-tel reduziert worden. Das hätten Sie aber wissen können.Zum anderen sprachen Sie von Steuermehreinnahmenin Höhe von 10 Milliarden DM, die Herr Lafontaine er-zielt habe. Es sind aber keine 10 Milliarden DM, son-dern nur etwas mehr als 7 Milliarden DM. Diese kom-men dadurch zustande, daß Sie zum 1. April die Mehr-wertsteuer zugunsten der Sozialversicherung erhöht ha-ben. Das haben wir mitgemacht; das will ich auch garnicht bestreiten. Nur sollten Sie, Herr Kollege, dannauch richtig rechnen: Es sind 7 Milliarden DM. WennSie genau hinschauen, sehen Sie, daß für den Bund 1,8Milliarden DM an Steuermehreinnahmen durch die Er-höhung der Mehrwertsteuer entstanden sind. Sie solltenDr. Uwe-Jens Rössel
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hier also nicht den Eindruck erwecken, als seien plötz-lich 10 Milliarden DM mehr hereingeflossen. Es sindtatsächlich nur 1,8 Milliarden DM. Und was die 3 Milli-arden DM angeht, die den Unterschied zwischen den 7Milliarden und 10 Milliarden DM ausmachen: Die sindganz weggegangen; die kann man nicht als Steuermehr-einnahmen rechnen.Der nächste Punkt ist: Sie haben kritisiert, wir solltennicht ständig über die Mehrwertsteuererhöhung reden,Herr Kollege Merz. Wer hat denn damit angefangen?Die Frau Kollegin Nolte hat doch damit angefangen undals erste gesagt: Wir werden die Mehrwertsteuer erhö-hen. Da haben Sie gebrüllt und geschrien, und sie ist zu-rückgepfiffen worden. Sie waren aber auf dem Trip, dieMehrwertsteuer zu erhöhen.Der Finanzminister hat heute morgen hier erklärt, essei konjunkturpolitisch idiotisch, jetzt die Mehrwert-steuer zu erhöhen, weil das genau das konterkarierenwürde, was wir am 1. Januar gemacht haben: Wir habennämlich versucht, über die Erhöhung des Kindergeldesdie Kaufkraft der großen Masse der Bevölkerung anzu-regen, damit der Binnenmarkt in Gang kommt.
Dann haben Sie, Herr Merz, das Saarland und Bre-men angesprochen und die Arbeit des Bundesfinanzmi-nisters in diesem Zusammenhang gewürdigt. Dafür binich Ihnen sehr dankbar. Jetzt hat auch der letzte Saarlän-der und der letzte Bremer begriffen: Diese Bundesregie-rung hilft den Bundesländern, hilft auch dem Saarlandund Bremen, wie das auch das Gerichtsurteil vorsah.
Herr Kollege Rexrodt ist jetzt leider nicht mehr da.
– Du bist ein netter Kerl. Sage ihm doch, er solle dieGesetzentwürfe seiner eigenen Bundesregierung zurSteuerreform ganz ruhig und gelassen durchlesen unddann mit den Steuerentlastungsgesetzen der jetzigenBundesregierung vergleichen. Dann wird er feststellen,daß sehr viel von dem, was er heute kritisiert, schon imGesetzentwurf der damaligen Regierung stand. Wenndas alles schon in der alten Legislaturperiode so gesagtworden ist, braucht er das hier nicht mehr vorzutragen.Der Herr Minister hat es heute morgen zu Recht ge-sagt: Die Finanzierung des Staates ist eine Hauptlast fürdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für diemittelständische gewerbliche Wirtschaft. Das muß auf-hören. Das muß über Steuerentlastungsgesetze und an-dere steuerliche Maßnahmen verändert werden. EinKollege hat gesagt, wir würden eine Umverteilung vonoben nach unten betreiben. In der Tat machen wir das.Nach 16 Jahren Umverteilung von unten nach oben wirdjetzt von oben nach unten verteilt, damit die große Mas-se der Bevölkerung und der Steuerzahler endlich etwasdavon haben.
Welche Möglichkeiten in Betracht gezogen werden,konnte man neulich in der Zeitung lesen: Vier Vor-standsmitglieder von Daimler-Benz haben darübernachgedacht, die Steuer auf ihre Millionengehälter inAmerika zu entrichten, weil der dortige Höchststeuer-satz bei 43 Prozent und bei uns bei 53 Prozent liegt. Diesoziale Verpflichtung leuchtet ihnen dabei aus den Au-gen. Auf der einen Seite fordern diese Leute Lohnzu-rückhaltung und sagen: Wir können uns keine höherenLöhne leisten! Auf der anderen Seite wollen dieselbenLeute mit ihren hohen Gehältern, von denen sie nichtsabgezogen haben möchten, nach Amerika gehen, nurweil sie dort günstiger besteuert werden.Ich sage dazu: Auch das ist ein Skandal ersten Ran-ges. Da können wir reden, wie wir wollen. Das mußdeutlich ausgesprochen werden.
Wir kämpfen für Millionen und Sie für Millionäre. Dasunterscheidet uns ganz erheblich.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Natürlich, immer.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Kollege Wagner, wäre es
für die Personen, von denen Sie eben gesprochen haben
und die wohl angedeutet haben – ich habe es leider nicht
gelesen –, zukünftig in Amerika ihre Steuern zu zahlen,
nicht viel einfacher, wenn sie in sozialdemokratisch re-
gierte Länder in Europa gingen? Sie würden dort auch
weniger Steuern zahlen.
Zum Teil sind dieseLeute schon an der Cote d‘Azur, Herr Kollege. Mir istbekannt, daß sie auch dort ihre Villen haben. Dasstimmt. Sie haben Ihren Ratschlag schon befolgt.Die wichtigste Aufgabe ist der Abbau des struktu-rellen Defizits von 30 Milliarden DM im Bundeshaus-halt. Das wird ein schwieriges Unterfangen bei derHaushaltsberatung 2000. Aber schon jetzt wird versucht,den Abbau voranzubringen. Der Regierungsentwurf gehtgenau in diese Richtung, die die Koalition angekündigthat. Wenn wir es schaffen, die Neuverschuldung auf56,2 Milliarden zu halten, wäre das schon gut. Aber dieKoalition möchte von dieser Quote herunter. Wir wer-den versuchen, das durchzusetzen. Sie, meine Damenund Herren von der Opposition, sind eingeladen, dabeimitzumachen.Nun, Herr Kollege Merz, noch eine Anmerkung zuIhnen: Sie haben die 3 Milliarden DM an Entlastungenfür das Saarland und Bremen sowie die Steinkohlenhilfein Höhe von 700 Millionen DM angesprochen. Diesewaren im Haushaltsentwurf von Herrn Waigel nicht be-Hans Georg Wagner
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1434 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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rücksichtigt. Wissen Sie, warum diese Ausgaben – jetztsind sie ja berücksichtigt – in diesem Entwurf nicht ent-halten waren? – Sie waren deshalb nicht im Haushaltvon Herrn Waigel berücksichtigt, weil damit die Ein-nahmen aus Krediten die veranschlagten Ausgaben fürInvestitionen überschritten hätten und gegen Art. 115des Grundgesetzes verstoßen worden wäre. Der Haus-halt von Herrn Waigel wäre damit verfassungwidriggewesen.Der Ehrgeiz der SPD-Bundestagsfraktion bestehtdarin, zusammen mit Bündnis 90/Die Grünen noch mehreinzusparen, ohne die Investitionen zu verringern. IhreRegierung hat im Bereich der Investitionen auch etwasgemacht. Sie wissen ja, daß man, als die Privatisierungder Eisenbahnerwohnungen nicht so gelaufen ist, wieHerr Wissmann das wollte, 1 Milliarde DM aus dem ge-planten Investitionsvolumen für die Schienenwege her-ausgenommen hat. Man hat im Jahre 1998 hier 1 Milli-arde DM weniger investiert. Man hat also das gemacht,was wir alle nicht wollen, nämlich eine Kürzung der In-vestitionen. Sie haben das gemacht, weil die Verhand-lungen nicht erfolgreich gewesen sind. Wenn Sie darandenken, dürfen Sie heute hier nicht herumtoben undschreien.Der effektive Anstieg der Ausgaben soll noch stärkerbegrenzt werden.Jetzt komme ich noch auf die familienpolitischenBeschlüsse zu sprechen, zu denen die Kollegin Wegnermehr sagen wird. Das vernichtende Urteil des Bundes-verfassungsgerichts über Ihre Familienpolitik innerhalbvon 16 Jahren muß man sich erst einmal in Ruhe an-schauen. Sie haben eine Erblast von über 20 MilliardenDM hinterlassen. Wenn ich mir die Maßnahmen be-trachte, die Sie sonst noch geplant hatten – zum Beispielwollten Sie die Zahnspangen für Kleinkinder nicht mehrbezahlen; das war doch Ihr Vorschlag –, dann kann ichnur dazu sagen: eine schöne Familienpolitik, die Sie be-trieben haben! Deshalb ist es gut, daß die Koalition hiereine Änderung herbeiführt und durch gesetzliche Maß-nahmen dafür sorgt, daß alles wieder ins Lot kommt.
Herr Kollege Koppelin, man muß sich nur anschauen,was Sie alles noch im Dezember des letzten Jahres ab-gelehnt haben. Ich will der Kollegin Wegner nicht vor-greifen, deshalb sage ich nur als Stichwort: Sie habeneine Erhöhung des Kindergeldes abgelehnt. Wenn Siedas vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfas-sungsgerichts bewerten, müßten Sie sich eigentlich fürIhre Haltung vom Dezember vergangenen Jahres schä-men.
Die Koalition wird eine solide Beratung durchführen.Sie lädt Sie von der Opposition ein, dabei mitzumachen.Wir müssen uns bei allem überlegen, wie es finanziertwerden soll. Ich habe darum gebeten, daß man einmalalle freiwilligen Leistungen des Bundes zusammenstellt,Leistungen, die also nicht auf gesetzlicher Grundlageberuhen, um zu erkennen, ob dieses System so aufrecht-erhalten werden kann.Wenn wir uns die Wohnungslandschaft ansehen,dann kommen wir zu dem Ergebnis, daß darüber nach-gedacht werden muß, im Bereich des Wohnungsbauseine andere Finanzierungsmöglichkeit zu finden. Dasgilt auch für mehr Zielgenauigkeit beim Wohngeld undfür andere Gebiete. Es handelt sich um Dinge, die wirim Laufe des nächsten halben Jahres konkret angehenmüssen, um zu einer Neustrukturierung des Bundes-haushaltes zu kommen.Dabei darf man nicht vergessen, daß der sozialeWohnungsbau Sache der Länder ist. So steht es im Ge-setz. Einige Länder, die herumposaunen, sie seien be-sonders reich, nehmen ebenfalls die Förderung durchden Bund in Anspruch. Auch sie könnten einmal Ver-zicht leisten; das wäre eine gute Idee.
– Das wollen sie aber nicht.Stichwort Kulturförderung: Herr Minister, es hatmich gefreut – im Dezember haben Sie dieselbe Formu-lierung gebraucht –, daß Sie der Auffassung sind, dieje-nigen Bundesländer, die besonders gut betucht sind,sollten in die kulturelle Förderung stärker einsteigen.Als Sie das damals sagten, gab es den Zwischenruf desKollegen Bartholomäus Kalb aus Bayern: „Recht hater.“ Herr Minister, Sie sehen, hier kommt eine ganz gro-ße Koalition zustande. Das möchte ich öffentlich klar-stellen.Bartholomäus Kalb, ich danke dir besonders herzlich.Du kannst im Moment nicht reden, weil du ein Bonbonim Mund hast.
Herr Kollege, wol-
len Sie mit vollem Mund eine Zwischenfrage stellen? –
Nein.
Es ist bemerkenswert,daß für Berlin und die neuen Länder die Kulturförde-rung auf 180 Millionen DM erhöht worden ist. Aberauch die alten Bundesländer werden nicht vernachläs-sigt. Ich denke, daß man beispielsweise durchaus eineBundesförderung der Objekte des Weltkulturerbes inDeutschland ins Auge fassen kann, weil es sich hier umeine Aufgabe handelt, die nicht nur auf ein einzigesBundesland bezogen ist. Wir werden bei der Haushalts-beratung vorschlagen, daß der Bund nur dort einsteigensollte, wo es sich wirklich lohnt.Dies ist ein Haushalt für mehr Beschäftigung undWachstum, nach dem Motto „Versprochen und gehal-ten“. Ich will nicht die ganze Liste dessen herunterbeten,was herunterzubeten wäre. Das würde Sie langweilen;denn Sie wollen es gar nicht hören. Sie haben schonheute morgen versucht, die Debatte hierzu mit einerDiskussion zu etwas anderem zu überlagern. So groß istHans Georg Wagner
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Ihr Interesse am Haushalt gewesen. Wir werden dastrotzdem nicht durchgehen lassen.Wichtig ist die Schließung der Gerechtigkeitslücke inunserer Gesellschaft. Dieser Haushalt ist ein ersterSchritt in diese Richtung. Ich halte eine Veröffentli-chung der letzten Tage für einen Skandal, daß der Anteilder Arbeiterkinder an der Gesamtzahl der an Hoch-schulen Studierenden bei etwas mehr als 8 Prozentliegt. Zu Zeiten der sozialliberalen Koalition lag er bei24 Prozent. Sie haben diesen Anteil in 16 Jahren auf einDrittel reduziert. Wir werden den Zustand beenden, daßautomatisch Professorenkinder Professoren und Arbei-terkinder Arbeiter werden. Mit unserer Regierung wirddas aufhören!
Es muß zur Kenntnis genommen werden: Die Steige-rung im Forschungshaushalt ist eine ganz wichtige Sa-che. Der Minister hat heute morgen angekündigt,200 Millionen DM in die Hochschulbauförderung zu in-vestieren. Das ist ein erster Schritt, um das von Ihnenhinterlassene Defizit zu beseitigen. Die Länder, auch dasarme Saarland, haben den Hochschulbau vorfinanziert,weil Sie in der Finanzierung nicht nachgekommen sind.Diese Erblast wird jetzt langsam, aber sicher abgetragen.Es kann nicht wahr sein, daß wir nur die Zucht vonEliten als vordringliche Aufgabe ansehen. Vielmehrsollten alle innovationsfähigen Menschen dazu gebrachtwerden zu studieren. Es darf nicht mehr der Geldbeuteldarüber entscheiden, wer studiert. Auch das wird durchdie Erhöhung des BAföG um 6 Prozent konterkariert.Jemand hat den Abbau von Subventionen gefordert.An erster Stelle wird natürlich immer der Steinkohlen-bergbau genannt, obwohl dies der einzige Bereich ist,bei dem das Subventionsende – im Jahre 2005 – geregeltist. Sie haben vergessen, 700 Millionen DM einzustel-len. Das ist jetzt wieder passiert.Ich habe erfreulicherweise eine Stimme aus IhrenReihen vernommen, mit der die Position der Bundesre-gierung eindeutig unterstützt wird:Die deutsche Steinkohle muß auch nach 2005 ihrenPlatz in der Energieversorgung haben. LangfristigePrognosen über die Zukunft des deutschen Berg-baus seien zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nichtmöglich ... Es müßten jedoch alle Optionen offen-gehalten werden. Es wäre unmoralisch, aus einemEnergieträger auszusteigen.So zitiert die „Recklinghäuser Zeitung“ den neuge-wählten Landesvorsitzenden der CDU in Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, nach einem Besuch desBergwerks Auguste Victoria in Haltern-Lippramsdorf.Ich unterstütze Jürgen Rüttgers ausdrücklich unddanke dafür, daß der Vorsitzende des größten Landes-verbandes der CDU endlich auf eine Energielinie einge-schwenkt ist, die wir alle mittragen können.
Es gab ja immer die Diskussionen um den Steinkoh-lenbergbau. Bei dem Kompromiß im März 1997 hat mangesagt, es sei eigentlich eine regionale Aufgabe und Sa-che der Länder Saarland und Nordrhein-Westfalen, dieBergbausubventionen zu regeln. Wenn wir jetzt im Zugeder Diskussion über die Agenda 2000 zwangsläufigüber Veränderungen im Bereich der Landwirtschaftnachdenken müssen, dann müssen wir diese Forderungwieder aufleben lassen und sagen, daß die Länder dafürzuständig sind, die über sehr viel Landwirtschaft verfü-gen. Ich darf daran erinnern, daß von den Agrarhilfen,die nach Deutschland fließen, 46 Prozent nach Bayerngehen. Somit wären die Bayerische Staatsregierung undihr geifernder Harlekin dazu aufgefordert, einen kon-struktiven Beitrag zur Finanzierung der Landwirtschaftzu leisten.
Ich sage deshalb „geifernder Harlekin“, weil ich, als ichseine Aschermittwochsrede gehört habe, in der er gesagthat, aus Bonn müsse alles weg, gedacht habe, der Ruf,daß er nach Bonn kommen solle, wird nicht erschallen.Er ist in der einen Woche, die seitdem vergangen ist,auch nicht erschallt.Im übrigen ist es immer unser Ziel gewesen, die klei-nen bäuerlichen Familienbetriebe in der Landwirtschaftzu erhalten. Wir müssen darauf achten, daß in den neuenLändern, wo große Strukturen entstanden sind, nichtswegbricht, was nicht wegbrechen darf. Wir werden des-halb ganz genau hinsehen, was die Agenda 2000 für denAgrarbereich bringt, wenn sie hier diskutiert wird.Ein anderes Stichwort sind die Zahlungen an dieEuropäische Union. Bei diesem Punkt sagen HerrSchäuble und Herr Stoiber, Herr Schröder müsse14 Milliarden DM zurückbringen. Herr Rühe mildert dasdann ab und sagt, es sei unrealistisch, von 14 MilliardenDM zu reden; wenn es hoch komme, seien es 7 Milliar-den DM. – Ich wäre schon froh, wenn es 1 MilliardeDM wäre.
Unter der Regelung, die uns dieses eingebrockt hat, stehtdie Unterschrift von Theo Waigel. Ich halte es für fatal,daß gerade aus Ihren Reihen in dieser Frage Kritik ander jetzigen Bundesregierung geübt wird, da Sie uns die-se Erblast doch eingebrockt haben und wir sie nur vonIhnen übernommen haben. Hätten Sie und Herr Stoiber1994 so aufgeschrien, wie dies jetzt geschieht, wäre eswahrscheinlich nicht so weit gekommen.
Wir sind dem Minister sehr dankbar dafür, daß dieHilfen für die neuen Länder aufrechterhalten bleibenbzw. noch gesteigert werden. So besteht Sicherheit, wasdie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen angeht. Die vor derWahl bestehende Unsicherheit, ob danach die Qualkommt, ist damit beseitigt. Wir haben vor der Wahl ge-sagt, wir werden dieses ändern, und die Bundesregie-rung hat es in ihrem Entwurf auch entsprechend geän-dert. Wir werden auch über vielfältige Finanzierungs-maßnahmen im Zusammenhang mit den neuen Ländernnachdenken müssen. Im Einvernehmen müssen wirHans Georg Wagner
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1436 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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zueinanderfinden und darüber sprechen, wie die jetzt be-stehende Solidarität zu einer Solidarität etwa der Ostlän-der mit den Westländern führen kann. Darüber wird mannachdenken müssen. Ich halte es für eine ganz wichtigeund vernünftige Sache, daß wir auch in diesem Punktzusammenwachsen.Wir bieten der Opposition an, alle freiwilligen Lei-stungen, alle Einzelpläne und alle Positionen des Bun-deshaushaltes punktgenau zu beraten. Wir sind für alleVorschläge der Opposition offen. Sie werden nicht erle-ben, wie es uns immer passiert ist, daß gute Vorschlägeabgelehnt wurden, sondern gute Vorschläge von Ihnenwurden auch angenommen.
– Herr Hammerstein, das ist leicht übertrieben. Ich kannmich entsinnen, mit welch großem Eifer wir ans Werkgegangen sind und Anträge gestellt haben, die alle gut,vernünftig und positiv waren, aber immer wieder abge-lehnt wurden.
– Natürlich, alle.Ich habe vorhin gesagt, das strukturelle Defizit liegtbei 30 Milliarden DM. Ich hatte ursprünglich immer von20 Milliarden DM geredet, aber mittlerweile habe ichmich belehren lassen, daß es noch höher liegt, nämlichbei 30 Milliarden DM. Das erfordert natürlich ganz er-hebliche Einschnitte. Außerdem haben wir noch vieleAufgaben vor uns: Ich nenne nur den Umweltschutz, dieWeiterentwicklung der mittelständischen Wirtschaft unddas 100 000-Dächer-Programm, das mit 1,1 MilliardenDM im Haushalt steht. Für den Ausbau der öffentli-chen Infrastruktur sind 25,7 Milliarden DM vorgese-hen, also eine ganze Menge Geld und 1,5 MilliardenDM mehr, als Sie in Ihrem Haushaltsentwurf vorgese-hen hatten. Damit werden Arbeitsplätze geschaffen; ichfinde das hervorragend.Für etwas anderes, was Sie uns jahrzehntelang ver-weigert haben – der Minister hat es heute morgen ange-sprochen –, nämlich aktiven Lärmschutz an den be-stehenden Schienenwegen, ist eine erste Rate vorgese-hen. Noch voriges Jahr haben Sie, Herr Kollege Kalbund Herr Kollege Koppelin, gesagt, das brauchen wirnicht, das ist nicht nötig. Jetzt sind die entsprechendenAusgaben im Haushalt enthalten, worüber sich die be-troffenen Menschen freuen können.
– Wenn gefragt wird, woher wir das Geld genommenhaben, dann muß ich antworten: Das Geld wird natürlichaus dem Bundeshaushalt genommen, der über Steuer-einnahmen finanziert wird. Der Rest wird über Kreditefinanziert. Auch Ihre Abgeordnetendiät beruht auf einemKredit. Sie dürfen bei Ihrer Argumentation nicht verges-sen, daß auch Sie sozusagen auf Pump bezahlt werden.
– Das bestreite ich nicht.Stadtteile mit einem besonderen Entwicklungsbedarfsollen beim Einstieg in eine neue Form der Städte-bauförderung bedacht werden. Ich finde diese Regelungsehr vernünftig und richtig. Daher bedanke ich mich,daß unser altes Anliegen in dem Haushaltsplanentwurfaufgenommen worden ist.
– Die Finanzierung ist sichergestellt. Beruhigen Siesich!Ein wichtiger Punkt ist die Haushaltswahrheit und-klarheit. Es ist richtig, daß 390 Milliarden DM in dieBundesschulden aufgenommen wurden. Diesen Betraghatten Sie immer schamhaft außerhalb der Bundesschul-den geführt, um sagen zu können, daß der Schulden-stand des Bundes gar nicht so hoch ist, wie die Opposi-tion immer behauptet. Jetzt bestehen für den HaushaltWahrheit und Klarheit. Jeder kann sehen, wie hoch dietatsächliche Verschuldung ist.Außerdem werden die Schulden schneller getilgt, alsdies bei Ihnen der Fall war, weil jetzt eine allgemeineAussetzung der Tilgung nicht mehr stattfindet. Ich nen-ne in diesem Zusammenhang den Verstromungsfonds,das Bundeseisenbahnvermögen und den Erblastentil-gungsfonds.Ich bin sicher, daß die Bundesregierung beim Ver-kauf der Eisenbahnerwohnungen den Erlös erzielenwird, der Ihrem Bundeshaushalt zugrunde gelegen hatund der auch unserem Bundeshaushalt zugrunde liegt, sodaß die Finanzierung nicht mehr über Einsparungen beiden Schienenwegen sichergestellt werden muß.Ich bin froh darüber – dieser Punkt ist schon erwähntworden –, daß die Bundeswehr so ausgestattet wird,daß sie die wichtigen und schwierigen Aufgaben nachdem Willen des Hauses erfüllen kann. Herr Scharpingleistet mit Einsparungen von 235 Millionen DM einenBeitrag zur Entlastung des Bundeshaushaltes. Aber diewichtigen Posten sind unverändert im Haushalt enthal-ten. Wir werden über diesen Bereich des Haushalts mitSachverständigen wie Herrn Austermann diskutierenund darüber nachdenken, wie der eine oder andere Punktgeregelt werden kann. Ich bin sicher, daß wir uns eini-gen werden. Ich bin froh darüber, daß die Finanzierunginsgesamt sichergestellt ist.Der Bundeshaushalt 1999 – er hat zwar den Charaktereines Übergangshaushaltes, ist aber ein ganz normalerHaushalt – ist solide finanziert und wird eine guteGrundlage für die Arbeit im Jahr 1999 darstellen. Wirsind froh, daß wir jetzt in die Beratungen eintreten kön-nen, damit der Haushalt 1999 in Kraft treten kann. Dannwird die Öffentlichkeit erkennen, welche Politik mitdem Haushalt im Interesse der Mehrheit der Bevölke-rung gemacht werden kann.Schönen Dank.
Hans Georg Wagner
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1437
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Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Kalb. Bitte sehr.
Frau Präsidentin,
ich bitte zunächst um Entschuldigung, daß ich vorhin
etwas indisponiert war.
Ich hätte nicht inter-
venieren sollen, aber es paßte so gut.
Ich möchte den
Kollegen Wagner bitten, nicht mehr zu behaupten, ich
hätte den von ihm zitierten Zwischenruf gemacht. Es
muß sich wohl um einen Hörfehler handeln, denn dem
Herrn Minister wird eher meine gegenteilige Auffassung
bekannt sein.
Wir haben uns vor dem Sitzungssaal des Haushalts-
ausschusses kurz unterhalten; Sie hatten im Ausschuß
vorher die Leistungen im Autobahnbereich für Bayern
und Baden-Württemberg angesprochen. Vielleicht kön-
nen Sie sich daran erinnern, Herr Minister, daß ich ge-
sagt habe, daß wir in Bayern künftig mehr Autobahnen
als im Saarland bauen müssen, weil Bayern etwas größer
ist.
Darauf haben Sie mit einem Hinweis auf die Kulturför-
derung geantwortet.
Diesen Punkt wollte ich klarstellen.
Danke schön.
Herr Kollege Wag-
ner, wollen Sie antworten?
Frau Präsidentin, ich
will nur darauf hinweisen, daß der Zwischenruf im Pro-
tokoll des Deutschen Bundestages steht. Deshalb gehe
ich davon aus, daß er so gefallen ist.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Dietrich Austermann, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsiden-
tin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, nach der De-
batte, wie sie bisher gelaufen ist, müssen ein paar Dinge
– auch von dem, was die Kollegin Matthäus-Maier ge-
sagt hat – geradegerückt werden, was die soziale Situa-
tion in den letzten Jahren betrifft. Ich komme gleich zum
Haushalt. Aber man muß auch einmal die Fakten beim
Namen nennen, wenn man sich ein Urteil über die Sozi-
alpolitik der letzten 16 Jahre anmaßt.
Wir haben 1982 mit einem Kindergeld von 50 DM
angefangen. Kinderfreibeträge gab es praktisch nicht
mehr. Wir haben die Familienleistungen von 25 Milliar-
den DM in ihrem Volumen 1982 auf 75 Milliarden DM
erhöht, das heißt um etwa 50 Milliarden DM. Was Sie
hier mit dem Kindergeld machen, bedeutet eine Erhö-
hung im Familienleistungsbereich um 5,7 Milliarden
DM – bloß, um die Größenordnungen einmal zu nennen.
Jetzt den Eindruck zu erwecken, die Beschlüsse des
Bundesverfassungsgerichts würden uns eine falsche
Politik bescheinigen, ist eindeutig falsch,
weil gerade Ihre Philosophie, Frau Matthäus-Maier,
immer war: Weg von den Freibeträgen. Diese Philoso-
phie hat durch die Beschlüsse, die getroffen worden
sind, eine Ohrfeige bekommen.
– Aber selbstverständlich! Kinderfreibeträge gab es
doch gar nicht mehr. Sie haben das Kindergeld für ar-
beitslose Heranwachsende abgeschafft, es gab keine
Betreuungsbeträge usw. Daß Sie bei dieser Thematik
glauben, anderen Leuten Vorwürfe machen zu müssen,
ist doch voll daneben.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-
Maier? – Bitte sehr, Frau Kollegin.
Herr Kollege Auster-
mann, wollen Sie mir bitte zustimmen, daß erstens Karls-
ruhe nicht das Kindergeld, sondern die Höhe des Kinder-
freibetrages für verfassungswidrig erklärt hat, –
Das habe ich
doch gesagt!
– und zwar des Kin-derfreibetrages zu Ihren Zeiten, und daß zweitens dieFrage Kindergeld oder Kinderfreibetrag eine Entschei-dung ist, über die man immer gestritten hat? Kinderfrei-betrag führt dazu, daß die Eltern mit hohen und höchstenEinkommen viel mehr Geld bekommen als die kleinenLeute.
– Herr Merz, sie bekommen eine steuerliche Entlastung.
Das ist der Unterschied. Wir sagen, daß jedes Kind demStaat gleich wert und gleich lieb sein muß. Sind Sienicht bereit, zu sagen: Wir setzen uns zusammen undschauen, wie wir aus der verfassungswidrigen Situationunserer Gesetze herauskommen? Denn das ist das, wasim nächsten Jahr im Gesetzblatt stehen muß.
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1438 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Ich bin sehr
damit einverstanden, daß wir uns zusammensetzen, um
die Probleme zu lösen. Es ist wohltuend, daß die Arro-
ganz von Rotgrün, alles alleine machen zu können, nach
der Wahl in Hessen abgenommen hat
und daß man jetzt verschiedene Angebote hört, daß man
das gemeinsam machen könne. Aber Sie können darüber
nicht vernebeln, daß Sie immer diejenige gewesen sind,
die gesagt hat: Kindergeld ja, Freibetrag nein. In den
Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts kommt das
Wort Kindergeld überhaupt nicht vor, sondern es geht
einzig und allein um die steuerliche Bedeutung des Exi-
stenzminimums. Deswegen liegen Sie voll daneben. Wir
haben die Freibeträge in unserer Regierungszeit von
Null auf kräftig aufgebaut. Das jetzt nachträglich zu kri-
tisieren ist falsch.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Spiller?
Nein, ichmöchte zum Haushalt reden. Ich wollte bloß erst einpaar besonders dicke Bolzen aus der bisherigen Debatteausräumen.Wir haben, wie gesagt, mit 50 DM Kindergeld ange-fangen und sind bei 220 DM für das erste Kind gelandet,beim dritten Kind bei 350 DM. Da haben Sie noch von250 DM für alle gesprochen. Lassen Sie das doch bitte.
– Ich glaube, daß die Entscheidungen, die in den letzten16 Jahren getroffen worden sind, doch von der Mehrheitder Fraktionen getroffen worden sind. Es war die christ-lich-liberale Koalition, die diese Entscheidung getroffenhat.Die Haushaltsdebatte entscheidet über Soll und Ha-ben der deutschen Politik. Über 100 Tage nach dem Re-gierungswechsel ist nach dem vorgelegten Haus-haltsentwurf klar: Das Soll überschreitet das Haben beiweitem. Wären alle Daten, die wir jetzt kennen, am7. Februar bekannt gewesen, hätte die CDU in Hessennoch deutlicher gewonnen.Interessant ist, wenn man sich hier anhören muß, wiedie Haushaltsstruktur tatsächlich beschaffen ist. Von be-stimmten Kollegen kommen in regelmäßigen Aufsätzenim Wirtschaftsteil der Zeitungen ganz konkrete Vor-schläge. Die Grünen verbreiten sich darüber, wie nach-haltige Finanzpolitik eigentlich gemacht werden müßte,wie die Situation sein sollte, wie man mit den Ausgabenumgehen sollte und wie man bei dem, was man imHaushalt macht, an die künftige Generation denkensollte. Nun stellen wir aber fest, daß, wenn er ans Red-nerpult kommt, nur noch die Hälfte davon wahr ist. Dasist noch nicht so schlimm. Aber wenn er in den Haus-haltsausschuß kommt, dann bleibt davon nichts mehrübrig. Alles, was an möglicherweise richtiger Philoso-phie vertreten wird, wird dann einfach vergessen.Sie haben vor der Wahl versprochen, Sie wolltennicht alles anders machen, aber manches besser. Jetzt istklar: Was anders ist, ist schlechter. In den Bereichen, indenen Sie sich nicht an die Koalitionsvereinbarung, dieauch der Kanzler unterschrieben hat – er versucht jetztein wenig, den Eindruck zu erwecken, er hätte mit alldem, mit dem Atomausstieg und der Wiederaufbereitungetwa nichts zu tun, das hätten irgendwelche anderenLeute unterschrieben und beschlossen –, halten, ist esmeist in Ordnung, wenn Sie sich an der Koalitionsver-einbarung orientieren, geht es meistens schief.Ich komme jetzt auf den Haushalt zu sprechen. DieSteuereinnahmen explodieren. Es wird immer vonstrukturellen Defiziten, Löchern usw. gesprochen. Manmuß den Bürgern doch einmal sagen: Der Finanzmi-nister nimmt in diesem Jahr 31 Milliarden DM mehr anSteuern ein als sein Vorgänger im letzten Jahr.
Das heißt, die Steuereinnahmen explodieren, aus wel-chen Gründen auch immer. Das kann doch jeder nachle-sen.Die Steuereinnahmen explodieren, und die Ausgabensteigen um fast 7 Prozent. Da macht man einen Stabili-tätspakt. Sie, Herr Lafontaine, melden bei der EU fürden Stabilitätspakt eine Ausgabengrenze in Höhe von2 Prozent an. Sie selber schlagen Mehrausgaben in Höhevon fast 7 Prozent für das Jahr 1999 vor.
– Wenn man bestimmte Dinge nicht mitrechnet und siestatt dessen ausklammert, macht man Schattenhaushalteund sagt, die Rentenfinanzierung gehört da nicht hinein.Nein, alles muß hinein. Dann stellt man fest, wir habenein Ausgabenwachstum in Höhe von 7 Prozent.Die Kritik am Haushalt müßte eigentlich beim Ver-fahren beginnen. Der Kollege Merz hat vom Anzeigen-gebaren und davon gesprochen, wie Sie mit der Verfas-sung umgehen. Ich möchte nur die Frage aufnehmen:Wie halten Sie es mit der Wahrheit?In offiziellen Broschüren – heute noch frisch auf denTisch gekommen –, in der Anzeige zum Jahreswechselsteht: Wir halten Wort. Daran schließt sich erstens,zweitens, drittens an. Drittens lautet: Wir haben denGrundfreibetrag erhöht. Das ist gelogen. Das habenSie nicht gemacht. Sie haben den Grundfreibetrag nichterhöht.
Ich sage jedesmal, wenn der Bundeskanzler behaup-tet, seine Koalition habe den Grundfreibetrag erhöht, ister ein Schwindler. Der Grundfreibetrag ist durch eineEntscheidung aus dem Jahre 1996,
die wir gemeinsam getroffen haben, beschlossen worden
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und dann am 1. Januar in Kraft getreten. So ist es gewe-sen.
Jetzt den Eindruck zu vermitteln, man habe bestimmtesoziale Leistungen erbracht, ist einfach falsch.
Ich finde schon, daß eine Behörde wie das Bun-despresseamt mit der Wahrheit sorgfältig umgehen muß;denn sonst muß man sagen, daß es eine Propagandaein-richtung und keine ordentlich funktionierende Verwal-tung ist.
Sie verbreitet wahrheitswidrig falsche Behauptungen.
Lassen Sie mich zum Thema Sozial- und Rentenpoli-tik kommen. Es ist darauf hingewiesen worden, daß beider Rente nun endlich der richtige Weg beschrittenwird. Den demographischen Faktor haben Sie jetzt ersteinmal ausgeklammert. Worin besteht jetzt, nachdemSie die Rentenreform außer Kraft gesetzt haben, die Al-ternative für die Rentner? Es heißt doch unter demStrich: Die Rentner zahlen über die sogenannte Öko-steuer mehr Steuern. Das macht eine ganze Menge Geldaus, wenn man sich einen normalen Haushalt, der Strom,Benzin, Gas usw. verbraucht, ansieht.
– Bei Bus und Bahn zahlen sie selbstverständlich auchmehr. Das ist doch besonders aberwitzig: Wer öffentli-che Personennahverkehrsmittel benutzt, wird durch dieÖkosteuer besonders bestraft.
Das ist aber nur der eine Teil – die Rentner zahlenzusätzliche Steuern –, und der zweite Teil kommt noch.Wie sieht denn der demographische Faktor aus? HerrRiester erzählt etwas vom Abkoppeln von den Netto-lohnbeträgen. Später wollte er es so nicht gesagt haben.Auf jeden Fall kommt irgend etwas. Das heißt, dieRentner werden dafür, daß Sie den demographischenFaktor ausgeklammert haben, zweimal bestraft, zweimalgebeutelt.Sie, Herr Finanzminister, haben gesagt, Ihr Ziel seies, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Ich würde sagen,Sie haben das Ziel aus den Augen verloren. Sie wollensich am Kampf gegen die Arbeitslosigkeit messen las-sen. Früher hieß es, jeder Arbeitslose ist einer zuviel. Ichkönnte jetzt die schöne Schröder-Uhr erwähnen. Seitdem 27. September 1998 sind über 500 000 Arbeitslosedazugekommen. Natürlich ist das auch saisonbedingt.Aber jetzt hört man: Die Regierung kann ja nichts dafür,das müssen die Tarifpartner machen. Gleichzeitig wirdgesagt: Tarifabschlüsse gehören natürlich nicht in dasGespräch über das Bündnis für Arbeit hinein.
– Die Frage ist, wenn sie „natürlich nicht“ hineingehö-ren: Wer trägt dann die Verantwortung für die entspre-chenden Entscheidungen?Jetzt wollen Sie das Problem lösen, indem Sie Mil-liarden für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Ver-fügung stellen. Ich rechne das jetzt einmal aus: Die5 Milliarden DM, die Sie zur Verfügung stellen, reichenaus, um 150 000 Arbeitslose in Arbeit, vor allen Dingenauf dem zweiten Arbeitsmarkt, zu bringen. Das ist exaktdie Zahl, um die die Arbeitslosigkeit im nächsten Jahrzurückgehen soll: 150 000.Das heißt, Sie selbst, Herr Finanzminister, erwarten,daß in diesem Jahr ein Abbau der Arbeitslosigkeit um150 000 ausschließlich mit zusätzlichen Mitteln für denzweiten Arbeitsmarkt erkauft wird.
Wenn man das weiß, dann ist es doch logischer, zu sa-gen: Wir senken den Beitrag zur Arbeitslosenversiche-rung ab, entlasten Arbeitnehmer und Betriebe und stär-ken den ersten Arbeitsmarkt. Auch das schafft übrigenseine Erhöhung der Binnennachfrage, wenn es denn un-bedingt sein soll. Sie beschreiten hier einen völlig fal-schen Weg.Lassen Sie mich kurz ein paar andere Punkte anspre-chen. Der Bundeskanzler hat in Vilshofen – offensicht-lich nach der dritten Maß Bier –
davon gesprochen, wir hätten das Land versaubeutelt.
– Als ich sein Gesicht gesehen habe, habe ich mir ge-dacht: So ganz nüchtern kann er nicht mehr gewesensein. Als ich die Zahlen gehört habe, habe ich mir ge-sagt: Das war völlig falsch.Wir hatten als Ausgangssituation ein kräftiges Wirt-schaftswachstum im letzten Jahr – das höchste seit derWiedervereinigung –, eine deutlich sinkende Arbeitslo-sigkeit im Vorjahresvergleich um netto 400 000 sowiestabile Bundesfinanzen, und zwar Ausgaben unter demNiveau des Jahres 1993. Wir hatten eine sinkendeStaatsquote und ein sinkendes Bundesdefizit. Das wardie Ausgangssituation des Haushaltes 1998.Die Bürger erwarten Sparsamkeit, Steuersenkungen,mehr Investitionen, eine Fortführung des Abbaus derArbeitslosigkeit, schnelles Regierungshandeln und we-niger Bürokratie.Jetzt schaue ich mir an, wie die Situation zur Zeit ist:Das Wachstum schrumpft. Daran sind natürlich die an-deren schuld. Bei uns hätte dieses Argument nie gegol-ten, weil es als „hausgemacht“ deklariert worden wäre.Die Staatsquote klettert wieder nach oben. Die Investiti-onsquote sinkt. Die Arbeitslosigkeit wird stagnieren, dieBeschäftigung wird sinken. Die Steuerquote steigt.Das Interessante ist: Es gab noch vor ein paar Tageneine Broschüre des Finanzministeriums, in der dieDietrich Austermann
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1440 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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steuerliche Belastung in Deutschland im Vergleich zuanderen Ländern in Europa dargestellt worden ist.Staatssekretär Noé hat entschieden, daß die Broschüreeingestampft wird, weil aus ihr hervorgegangen ist – undzwar etwas anderes als das, was Sie, Herr Finanzmi-nister, immer sagen –, daß in Deutschland tatsächlicheine exorbitant hohe Steuer- und Abgabenbelastung be-steht. Die Wahrheit wird also verschleiert. Die Wahrheitist nicht zumutbar. Ich muß zugeben: Die KolleginHendricks soll interveniert und gesagt haben: Laßt dochruhig die Wahrheit stehen. Aber der hauptamtlicheStaatssekretär hat gesagt: Das muß nicht sein; die Bür-ger brauchen nicht zu wissen, daß die Steuerbelastung inDeutschland zu hoch ist.Ich bin der Meinung: Sie sollten den Bürgern auchhier die ganze Wahrheit sagen. Die Steuerbelastung istzu hoch. Sie muß revidiert werden. Sie sollten die Ent-scheidungen dann treffen, wenn sie getroffen werdenmüssen. Es gibt in Deutschland viele Probleme, weil esam Vollzug fehlt, Investitionen nicht getätigt werdenund das Geld für den Konsum verplempert wird.Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Die Leistungenfür die Rentenversicherung steigen in diesem Jahr auf25 Prozent aller Bundesausgaben. Oswald Metzger, dasist die Konsequenz eurer falschen Rentenpolitik von denGrünen. Nachhaltigkeit beim Haushaltswirtschaften seinötig. Inzwischen werden 25 Prozent der Bundesausga-ben für die Rentenversicherung verwendet.
Im letzten Jahr waren es 3 Prozent weniger.Die höheren Rentenzuschüsse kann man doch nichtals durchlaufende Ausgaben bezeichnen, wie ihr dasversucht. Es geht hier vielmehr ganz klar darum, daßsich diese Summe im nächsten Jahr noch erhöhen wird.Denn jetzt beziehen sich diese Ausgaben nur auf einDreivierteljahr. Im nächsten Jahr müssen Ausgaben fürdas ganze Jahr erfolgen. Das heißt, der Bund muß proJahr Zuschüsse an die Rentenversicherung in Höhe vonüber 120 Milliarden DM zahlen, weil ihr euch darumgedrückt habt, die richtigen Entscheidungen, die wir ge-troffen haben, aufrechtzuerhalten. Das Geld fehlt natür-lich bei den Investitionen.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Metzger?
Ja, gerne.
Bitte sehr, Herr
Kollege Metzger.
Lieber Dietrich Austermann, könntest du bitte zur
Kenntnis nehmen, daß eine Steigerung der Ausgaben für
die Zuschüsse an die Rentenversicherung im Bundes-
haushalt nach derzeitigem Rechtsstand ausschließlich
auf der Tatsache basiert, daß von der alten Koalition die
Mehrwertsteuer erhöht wurde und daß auch ihr eine
Form der Umfinanzierung gewählt habt, um den Bei-
tragsanstieg von 20,3 auf 21 Prozent zu verhindern? Wä-
rest du dann, intellektuell redlich, in der Lage, nicht Äp-
fel mit Birnen zu vergleichen, sondern Gleiches mit
Gleichem? Die Ökosteuer hat im Rahmen der Zuführung
von Zuschüssen an die Rentenversicherung die gleiche
systematische Wirkung wie die Mehrwertsteuer. Zumin-
dest das muß hier der Redlichkeit halber gesagt werden.
Das hat zwar
mit dem Thema, so wie ich es gemeint habe, nichts zu
tun, ist auch nicht ganz falsch. Es ging ja um folgendes:
Wir hatten vor der letzten Wahl Maßnahmen getroffen,
die für manch einen Rentner zugegebenermaßen eine
Zumutung hätten bedeuten können. Das waren relativ
bescheidene Maßnahmen, gültig für eine lange Zeit.
Niemand hätte weniger gehabt, aber der Anstieg wäre
geringer gewesen. Diese Maßnahme habt ihr ausgesetzt.
Das kostet jetzt das Geld, das ihr bei anderer Gelegen-
heit hereinholen müßt. Dazu kommt der falsche Weg,
eine Beitragsabsenkung über die Ökosteuer zu finanzie-
ren, die den Menschen hinterher das Geld wieder aus
den Taschen nimmt. Das ist doch hinten und vorne nicht
schlüssig.
Du redest dauernd von einer veränderten Struktur,
davon, daß man endlich ein Konzept in die Finanzpolitik
bringen muß, und dann kommen solche unsinnigen Vor-
stellungen. Vernünftige Maßnahmen zur Beeinflussung
des demographischen Faktors werden für zwei Jahre
ausgesetzt; also passiert drei Jahre nichts. Die Umfinan-
zierung erfolgt durch eine neue Steuerbelastung. Das
heißt: Auch die Steuerquote geht in die Höhe. Das kann
doch niemand für richtig halten.
Wollen Sie noch ei-
ne Zwischenfrage zulassen? – Bitte sehr, Herr Kollege
Metzger.
Noch einmal ein Appell an die Redlichkeit: Der demo-
graphische Faktor der alten Koalition hätte in diesem
Haushaltsjahr 900 Millionen DM an Entlastung ge-
bracht. Es kann doch also nicht allen Ernstes von Ihnen
– jetzt bin ich formell – das Argument angeführt wer-
den, die Zuschüsse an die Rentenversicherung seien da-
durch exorbitant hoch und belasteten den Haushalt, weil
der demographische Faktor in diesem Jahr nicht in Kraft
getreten sei. Diese 900 Millionen DM in Relation ge-
stellt zu den 8,5 Milliarden DM an Ökosteueraufkom-
men entspricht in etwa dem Verhältnis von 1 : 10.
Ich habe gesagt:der demographische Faktor und weitere Entscheidungen,die diese Regierung getroffen hat. Dazu gehört bei-spielsweise die Finanzierung der Absenkung des Ren-tenversicherungsbeitragssatzes über die sogenannteDietrich Austermann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1441
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Ökosteuer. Das halten wir für eine falsche Entscheidung.Das heißt, daß hier eine falsche Rentenpolitik gemachtwird. Wenn wir uns in der Summe einig sind – okay.Ich möchte etwas dazu sagen, welche Wirkung dieserBundeshaushalt für den Arbeitsmarkt hat. Das sollteschließlich die Meßlatte sein. Der Bundesfinanzministerhat gesagt, Ziel sei, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Sehen wir uns das Ganze einmal an! Schröders Kar-neval geht trotz der Fastenzeit weiter. Bei der Steuerre-form beträgt das Ausgabevolumen 10 Milliarden DMund das Einnahmevolumen 10 Milliarden DM. Nettobleiben etwa 131 Millionen DM in den Taschen derBürger. Das kann man in Prozenten, bezogen auf denBundeshaushalt, gar nicht ausrechnen.Nehmen wir nur einmal das Jahr 1999. Die Wirt-schaft braucht Impulse. Wenn sich die Mehreinnahmenund die Mehrausgaben in Höhe von 10 Milliarden DMnahezu ausgleichen und den Leuten etwas in die Taschegegeben wird, heißt das, daß in diesem Jahr für diese„Steuerreform“ die Betriebe und Bürger gewaltig bela-stet werden müssen, um die zwei Geschenke zu finan-zieren, die Sie versprochen haben: die Erhöhung desKindergeldes und die Senkung des Eingangssteuersatzesum mickrige 2 Prozentpunkte. Im übrigen bringt dieseSenkung des Eingangssteuersatzes für Verheiratete nur7 DM pro Monat,
für Ledige 3,50 DM. Das sollten Sie sich überlegen, be-vor Sie damit auf die Straßen und, wie es früher hieß,Plätze gehen.Unterm Strich belasten Sie mit dem, was Sie an Ge-schenken austeilen, Wirtschaft und Betriebe. Da Sie ei-nen bestimmten Betrag aufbringen müssen, heißt das,daß es in diesem Jahr zu einer gewaltigen Belastung desMittelstandes kommt.Herr Finanzminister, Sie haben vorhin gesagt, dasIfo-Institut habe Ihnen – ich nehme an, für das Jahr 2002oder 2003 – eine Entlastung des Mittelstandes um3,5 Milliarden DM bescheinigt. Im Jahr 1999 wird derMittelstand nicht um einen Pfennig entlastet, sondernbelastet. Sie können dies ganz leicht nachrechnen; Siebrauchen sich nur die Schlußbilanz der Steuerreform an-zugucken. Sie treten mit Ihrer Steuerreform den Mittel-stand in den Hintern und erwarten Dankbarkeit, wennder Schmerz nachläßt.
Und die Dankbarkeit soll darin bestehen, daß man mehrinvestiert, obwohl man durch Steuern und Abgaben hö-her belastet wird.Jetzt komme ich zu einem besonderen Aspekt desSteuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002. § 2b sollneu in das Einkommensteuergesetz eingefügt werden;der Kollege Merz hat vorhin darauf Bezug genommen.§ 2b soll die Verlustzuweisungen begrenzen. Das be-deutet – wie die Küstenminister, zumeist Sozialdemo-kraten, Ihnen heute ins Stammbuch geschrieben haben –,daß in absehbarer Zeit, in den nächsten 6 Monaten, aufden Werften 6 000 Menschen mehr keine Arbeit haben.Sie haben vorhin die Diskussion um steuerliche Ab-schreibungsmöglichkeiten und Verlustzuweisungen un-ter dem Stichwort Neid geführt. Das alles ist ja etwasBöses. Der Gesetzgeber – da waren Sie ja meistens da-bei – hat ja nicht gesagt: Ich mache jetzt einmal eineSteueränderung, indem ich die Abschreibung zulasse,damit sich einige das Geld voll in ihre Taschen steckenkönnen. Vielmehr hat der Gesetzgeber gesagt: Ich mußden Investitionsfähigen die Möglichkeit geben, Investi-tionen auch zu leisten; ich muß Investitionen anreizen,beispielsweise den Bau von Schiffen.Wenn Sie sich die Situation jetzt anschauen, dannwerden Sie folgendes finden: Ein Auftragsvolumen von2 Milliarden DM – das sind 6 000 Arbeitsplätze –,schätzt der Verband Schiffbau und Meerestechnik, wirdim nächsten halben Jahr durch die falschen Entschei-dungen in Mitleidenschaft gezogen. Oder lassen Sie esuns konkret sagen: Der Kanzler aus Norddeutschlandbricht den Werften das Genick. Nichts anderes bedeutetes, wenn dieser § 2b so verabschiedet wird. Das gleichegilt für den Wohnungsbau in den neuen Bundesländern;das gleiche gilt für Sanierungsmaßnahmen. Das istWerftenfinanzierung in Deutschland.Daß Sie vom Export nichts halten, ist, glaube ich,klar. Sie haben das ja schon öfter verbreitet. In bezugauf die asiatischen Krisenländer haben Sie gesagt, wirmüßten ihnen durch stärkere Importe zur Seite stehen.Der Staatssekretär Flassbeck lehnt einen Wettbewerbzwischen den Staaten ab. Sie haben vor kurzem gesagt,die alte Regierung habe krampfhaft versucht, über denExport zu Lasten anderer Länder mehr Wachstum zuschaffen. Ich glaube, der Bundestag ist gefordert. Es istein gutes Zeichen, daß die Kollegen vorhin gesagt ha-ben: Wir werden morgen im Haushaltsausschuß nichtüber die Steuerreform beraten. Ich hoffe, daß die Ein-sicht siegt und daß die Fehler, die Sie dort gemacht ha-ben, wieder revidiert werden, bevor wir uns endgültigim Bundestag darüber unterhalten.Zur Ökosteuer. Jeder, der sich in den Betrieben sei-nes Wahlkreises umhört, wird wissen: Es gibt viele Be-triebe, die sagen: Netto bedeutet das, was ihr hier vor-habt, eine Mehrbelastung. Die Ökosteuer belastet zumBeispiel die Hamburger Betriebe mit 200 Millionen DMnur beim Strom und die Betriebe in Schleswig-Holsteinmit 100 Millionen DM. Das heißt doch wohl nichts an-deres, als daß die Leute weniger Geld zum Investieren inder Hand haben.Jetzt komme ich zum Thema Deregulierung, wie essich aus den vorgelegten Beschlüssen, auch zur Öko-steuer, ergibt. Es gibt ein offizielles Papier des Finanz-ministeriums aus diesen Tagen, das den zusätzlichenPersonalbedarf auf Grund der Ökosteuer begründet. Daheißt es: Die Durchführung des Gesetzes zum Einstiegin die ökologische Steuerreform beinhaltet im wesentli-chen neue Aufgaben für die Zollverwaltung.
Dietrich Austermann
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1442 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Es ist also eine Arbeitsbeschaffung für die Zollverwal-tung; das ist ein ganz neuer Gedanke. Ich dachte immer,es geht darum, die Umwelt zu retten. Nein, es geht umneue Aufgaben für die Zollverwaltung.Es ist da von 530 Arbeitskräften im gehobenen undmittleren Dienst und von weiteren 250 Sachbearbeiterndie Rede. Was haben die zu tun? Sie erheben die Strom-steuer und prüfen die Steueranmeldungen. Aha, manmuß also künftig anmelden, wenn man Strom ver-braucht. Weiter heißt es: Erteilung von rund 200 000Erlaubnissen für das produzierende Gewerbe zum steu-erbegünstigten Bezug von Strom. 200 000 Betriebemüssen jetzt also Anträge des Inhalts stellen, daß sieproduzieren wollen und daß sie Strom verbrauchen. Dasteht: Vergütung der Mineralölsteuer auf Heizöl undErdgas für 130 000 Unternehmen des produzierendenGewerbes. Es heißt da, daß die Kraft-Wärme-Kopplungüberprüft werden muß. Weiter ist von der Vergütung derÖkosteuer nach einem Verrechnungsmodell für 30 000nettobelastete Unternehmen die Rede. So haben wir unsschon immer eine Steuerreform vorgestellt. Es ist einArbeitsbeschaffungsprogramm für 780 Zöllner.
– Ja.Wenn Sie sich das Ganze weiter anschauen, dannstellen Sie fest: Die Regierung kürzt die Investitionen;sie macht eine konsumlastige Steuer- und Abgabenpoli-tik; 1 000 Arbeitsplätze in der Energiewirtschaft werdenin Frage gestellt. Sie machen eine Politik, die sich imGrunde genommen gegen alles das richtet, was dieMehrheit der Ökonomen in Deutschland sagt. Oskar ge-gen den Rest der Welt. Wie der „Spiegel“ gestern richtiggeschrieben hat: Es gibt keine wichtige Sachposition,bei der Sie auf seiten der Mehrheitsmeinung sind. Sievertreten immer eine Position, die eine Minderheit, derWirtschaftswissenschaftler und anderer vertritt.
– Mag schon sein.
Gestatten Sie noch
eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Kollegen
Tauss?
Ja, bitte.
Kollege Tauss, bitte.
Nachdem Sie sich gerade so ve-
hement über die Zunahme der Stellen beim Zoll beklagt
haben, will ich Sie doch fragen, weshalb die alte Bun-
desregierung wegen des hohen zusätzlichen Personalbe-
darfs beim Zoll für 25 Millionen DM eine neue Bundes-
zollschule errichten wollte. Die alte Regierung hat aus-
geführt, daß die Kapazitäten angesichts des Personalzu-
wachses, den sie geplant hat, nicht ausreichen.
Haben Sie nicht auch den Eindruck, daß das, was Sie
jetzt vortragen, vielleicht doch sehr konstruiert ist und
daß wir es hier mit Dingen zu tun haben, die die alte
Bundesregierung viel mehr zu vertreten hat?
Herr Kollege
Tauss, das, was die bisherige Bundesregierung im Per-
sonalbereich will, ergab sich aus dem Haushalt von
Bundesfinanzminister Waigel für 1999. Da waren diese
780 zusätzlichen Stellen nicht drin.
Das, was ich hier vorgetragen habe, ist nicht etwa
eine Kabarettvorlage für die Rede des Bundeskanzlers in
Vilshofen, sondern entstammt einem offiziellen Papier
aus dem BMF, das überschrieben ist mit: BMF III A 1,
12. Februar 1999, Personalbedarf für die Erhebung der
Ökosteuer. – Ich finde es gut, den Menschen einmal zu
sagen, was Sie unter Deregulierung verstehen und was
Sie im Zuge der Steuerreform anrichten: ein Beschäfti-
gungsprogramm für eine Fülle von Beamten.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen.
– Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen das nicht gefällt.
Der Kollege Merz hat ja schon gesagt: Wir haben die
betretenen Gesichter Ihrer Kabinettskollegen und der
Kollegen auf der linken Seite des Hauses gesehen, als
Sie heute morgen vorgetragen haben.
Angesichts des Haushalts und dessen, was jetzt vor-
gelegt ist, wird es schwerfallen, tatsächlich Verbesse-
rungen vorzunehmen.
Manch einer fragt ja: Wo ist denn die Alternative der
Opposition? Darauf frage ich immer zurück: Welche
Alternative gibt es zum Chaos? Schauen Sie sich den
Haushalt an – ich habe ein paar Grunddaten genannt –:
Dazu eine Alternative aufzustellen ist doch schon fast
eine Beleidigung für den, dem man das zumutet.
Herr Kollege,
denken Sie an die Redezeit!
Wir werdenkonkrete Anträge stellen, um die Neuverschuldung zusenken, die Sozialausgaben zu bremsen, die Investitio-nen zu steigern. Die Arbeitsplätze in Deutschland müs-sen mehr werden. Das erreicht man nicht mit dieserHaushaltspolitik.
Dietrich Austermann
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Dazu muß man eine andere machen. Zu all dem, wasdazu erforderlich ist, tragen wir unseren Teil bei.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Konstanze Wegner.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem Regierungswechsel hat sich die neue Regierungzwei wesentliche Aufgaben gesetzt. Das eine ist die Be-kämpfung der Arbeitslosigkeit, das andere die Wieder-herstellung der sozialen Gerechtigkeit, die unter deralten Regierung in vielfacher Hinsicht auf das gröb-lichste verletzt worden war.
Es ist vorhin schon angeklungen: Die Menschen ha-ben ein kurzes Gedächtnis. Deshalb möchte ich dochnoch einmal sagen, was Rotgrün in den ersten hundertTagen auf diesem Feld geleistet hat, auch wenn das IhrerSeite vielleicht nicht angenehm ist.Zunächst zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit:Wir haben ein Programm gegen die Jugendarbeitslosig-keit auf den Weg gebracht, das 100 000 Jugendlicheneine Lehrstelle bzw. einen Arbeitsplatz bringen soll. Esist mit einem Volumen von 2 Milliarden DM ausge-stattet, angesiedelt im Haushalt der Bundesanstalt fürArbeit. Immerhin wurden – das ist ja auch viel Arbeit;das kann man ruhig einmal anerkennen – im erstenMonat bereits mehr als 500 000 Jugendliche angeschrie-ben, 63 900 wurden konkrete Angebote gemacht, und5 800 haben bereits eine solche Lehrstelle bekommen.
Der Bundesanstalt für Arbeit haben wir durch einenhohen Bundeszuschuß in Höhe von 11 Milliarden DMendlich den nötigen Spielraum gegeben, die aktive Ar-beitsmarktpolitik des Staates auf hohem Niveau zuverstetigen.
Herr Austermann, ich weiß, daß Sie etwas gegen dieseForm von Arbeitsförderung haben. Natürlich sind Ar-beitsplätze im ersten Arbeitsmarkt immer vorzuziehen.Aber in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit kann man aufLohnkostenzuschüsse, auf Arbeitsbeschaffungsmaß-nahmen, auf Fortbildung und Weiterbildung nun einmalnicht verzichten. Sie bleiben unverzichtbare arbeits-marktpolitische Instrumente in einer solchen Krisen-situation.
Wir haben damit die unsinnige Stop-and-go-Politik,die Ihre Regierung in diesem Bereich betrieben hat, be-endet. Die Arbeitsmarktpolitik wird verstetigt, und Trä-ger und Beschäftigte haben wieder, was vorher nicht derFall war, Planungssicherheit.
Wir haben das Kindergeld für das erste und zweiteKind erhöht, und wir haben die erste Stufe der Steuer-reform auf den Weg gebracht, die den Grundfreibetragerhöht und den Eingangssteuersatz senkt. Das bringtnicht nur mehr soziale Gerechtigkeit für Familien, son-dern wird auch die Nachfrage erhöhen und damit einenImpuls zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ge-ben.Gewiß hätten wir alle im Hinblick auf die Steuerent-lastung gerne sofort größere Schritte getan. Aber ange-sichts der Tatsache, daß unter der alten Regierung Kohldie Bundesschuld auf Dauer zum zweitgrößten Haus-haltsposten geworden ist, und angesichts der Tatsache,daß wir heute eine Zins-Steuer-Quote von 23,5 Prozenthaben, sind auf diesem Feld nur kleine Schritte möglich,die zudem ganz säuberlich gegenfinanziert werden müs-sen.
Aber es kommt darauf an, daß die Richtung dieserSchritte stimmt.
Wir haben das „Bündnis für Arbeit“ wiederbelebt,das die alte Regierung hatte verkommen lassen. Wirhaben das Entsendegesetz entfristet. Wir werden durcheinen Einstieg in die ökologische Steuerreform denRentenbeitrag absenken, um die Kosten der Arbeit zusenken und so einen weiteren Impuls zur Bekämpfungder Massenarbeitslosigkeit zu geben.Ich mache gar keinen Hehl daraus, daß ich mir beidem Einstieg in die ökologische Steuerreform etwasmehr Mut bei meiner eigenen Regierung gewünschthätte,
konkret: eine deutlichere Erhöhung der Mineralölsteuerals die vorgesehenen 6 Pfennige. – Sie von der Opposi-tion dürften doch einmal klatschen, wenn ich meineeigene Regierung kritisiere.
Zur Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeithaben wir die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfallwiedereingeführt. Dies ist ein Akt der Gerechtigkeit vorallem gegenüber den weit über 6 Millionen Beschäftig-ten, die keinen tariflichen Anspruch auf die volle Lohn-fortzahlung hatten. Wir haben die Aufweichung desKündigungsschutzes rückgängig gemacht. Wir habendie geplante Absenkung des Rentenniveaus ausgesetzt,weil, Herr Austermann, diese sogenannte Reform derRegierung Kohl vor allem zu Lasten von Frauen mitniedrigen Renten gegangen wäre. Das war nicht zu ver-antworten. Eine echte Rentenreform, welche die Rentendauerhaft sichert und die Beiträge stabilisiert, steht aufder Tagesordnung dieser Regierung. Ich bin ganz sicher:Dietrich Austermann
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Da wird alles auf den Tisch kommen; da wird auch überneue Möglichkeiten nachgedacht werden müssen.Wir haben schließlich – auch dies gehört in den Be-reich Wiederherstellung sozialer Gerechtigkeit – dieüberhöhten Zuzahlungen im Gesundheitswesen gesenkt.Wir haben das in dieser Form unsinnige Krankenhaus-notopfer abgeschafft. Wir haben dafür gesorgt, daß auchden nach 1978 Geborenen wieder Zahnersatz bezahltwird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist nur eineAuswahl dessen, was die Regierung im ersten Viertel-jahr ihrer Tätigkeit zur Wiederherstellung der sozialenGerechtigkeit auf den Weg gebracht hat.
Ich denke, trotz mancher handwerklicher Fehler, trotzzugegebenermaßen großer Schwierigkeiten bei der sau-beren Gegenfinanzierung ist dies eine Bilanz, die sichdurchaus sehen lassen kann.Der Haushaltsentwurf 1999 der Bundesregierung imBereich Arbeit und Soziales – er umfaßt zumindest einDrittel des Haushalts; lassen Sie mich deshalb einigeWorte dazu sagen – setzt inhaltliche Akzente im Sinnder Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Wieder-herstellung sozialer Gerechtigkeit.Ich habe den hohen Bundeszuschuß von 11 Milliar-den DM an die Bundesanstalt für Arbeit schon ange-sprochen, der jene Verstetigung der aktiven Arbeits-marktpolitik des Staates ermöglicht, die wir in derOpposition jahrelang vergeblich gefordert haben.
Das Langzeitarbeitslosenprogramm, das sich sehrbewährt hat und in diesem Jahr auslaufen sollte, wirdauf hohem Niveau mit einem Volumen von 750 Millio-nen DM pro Jahr bis 2002 weitergeführt. Das bedeutet,daß in diesem Zeitraum voraussichtlich 140 000 Lang-zeitarbeitslose wieder integriert werden können.Für die sogenannten Strukturanpassungsmaßnah-men – konkret sind das Lohnkostenzuschüsse für Ar-beitsverhältnisse in den Bereichen Umwelt, sozialeDienste, Jugendhilfe, aber auch bei Wirtschaftsunter-nehmen – stehen im Bundeshaushalt 2 Milliarden DMzur Verfügung. Dazu kommen noch einmal 3,5 Milliar-den DM im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit. Mitden Mitteln dieses Programms können im Jahresdurch-schnitt etwa 200 000 Menschen beschäftigt werden, da-von allein 180 000 in den neuen Ländern; da liegt derSchwerpunkt dieses Programms.
Der größte Brocken im Haushalt – das ist schon an-gesprochen und von Ihrer Seite beklagt worden – ist derZuschuß des Bundes zur Rentenversicherung. Ichdenke, im Sinne der Haushaltsklarheit und -wahrheit, diein diesem Hause immer eingefordert werden, ist es gut,daß zum erstenmal klar ausgegliedert und ausgewiesenwird, was dort alles zusammenkommt.Der Kollege Metzger hat schon bei der Höhe, dieimmer beklagt wird, eine Sache richtiggestellt. Er hatgesagt: Jetzt schlägt die Tatsache voll zu Buche, daß wirden Beitrag durch einen Punkt Mehrwertsteuererhöhungheruntersubventioniert haben. Das macht etwa 15 Milli-arden DM. Das haben wir gemeinschaftlich beschlossen,weil sonst der Rentenbeitrag auf über 21 Prozent ge-klettert wäre.
Aber ein weiterer Punkt ist gar nicht angesprochen:Der Bund zahlt jetzt echte Beiträge zur Kindererzie-hungszeit. Das sind allein 13,6 Milliarden DM. Sie sindhier veranschlagt. Diese Summe ist wesentlich höher alsdie vorherigen Pauschbeträge, die der Bund gezahlt hat.Das waren nämlich nur 4 Milliarden DM.
Natürlich wird auch der Haushaltsentwurf im BereichArbeit und Soziales im Rahmen der Haushaltsberatun-gen noch verändert werden: sowohl im Sinne einer wei-teren Konsolidierung als auch in dem Sinne, daß nochandere Akzente gesetzt werden.Ich weiß, es gibt hier auch Wünsche. Handlungsbe-darf sehe ich zum Beispiel im Bereich der Ausländerbe-auftragten und beim Behindertenbeauftragten. Beide sa-gen mit einem gewissen Recht, angesichts der Bedeu-tung, die der von ihnen betreute Personenkreis hat, brau-chen sie mehr Geld. Wir werden darüber reden. Wirwerden versuchen, dem zu entsprechen. Allerdings giltauch hier ganz klar, was von unserer Seite gesagt wird:Alle inhaltlichen Akzentverschiebungen in den Einzel-plänen müssen aus dem jeweiligen Einzelplan selbst ge-genfinanziert werden.Ein Haushaltsrisiko – auch das will ich ansprechen –sehe ich im Bereich der Arbeitslosenhilfe. Sie ist mit 28Milliarden DM veranschlagt. Ich fürchte, daß das mögli-cherweise nicht reichen wird.Der Haushaltsentwurf 1999 insgesamt ist ein sehrvernünftiger Entwurf, weil er neue inhaltliche Schwer-punkte mit den – zugegebenermaßen schüchternen – An-fängen einer Konsolidierung verbindet.
Der Haushalt 2000 wird uns vor ungleich größereSchwierigkeiten stellen, weil dann neben dem struk-turellen Defizit, das uns die alte Regierung hinterlassenhat, eben auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtsberücksichtigt werden muß. Dazu kommen Unwägbar-keiten im Zusammenhang mit den Auswirkungen inter-nationaler Finanzkrisen auf die Gewährleistungen desBundes und natürlich Unsicherheiten über die Entwick-lung der Konjunktur im allgemeinen.Es bleibt das Ziel dieser Regierung, die Massenar-beitslosigkeit zurückzuführen, die Staatsfinanzen zukonsolidieren und darüber hinaus neue inhaltliche Ak-zente im Sinne der Koalitionsvereinbarung zu setzen.Das sind zugegebenermaßen ehrgeizige Ziele, die sichDr. Konstanze Wegner
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sicher nicht kurzfristig erreichen lassen. Der Haus-haltsentwurf 1999 ist ein erster Schritt auf diesem Wege.Eines sollte allen klar sein: Es ist nicht möglich, in-nerhalb von vier Monaten, in einem Jahr oder auch inzwei Jahren all das zu korrigieren und zu verbessern,was innerhalb von 16 Jahren versäumt und versiebtworden ist.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Gerda Hasselfeldt.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Haus-halt 1999 ist vom Abkassieren und vom Umschichtengeprägt.
Er ist nicht davon geprägt, die notwendigen Prioritätenfür Wachstum und Beschäftigung zu setzen, er ist nichtvon Konsolidieren und Sparen geprägt, und er ist nichtdavon geprägt, die Staatsausgaben und die Staatsquotezu senken. Gerade dies wäre aber notwendig.
Dabei hatten Sie eine hervorragende Ausgangspositi-on, als Sie die Regierung übernahmen.
Als Sie die Regierung übernahmen, hatten wir einenRückgang der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Als Sieam Ende des vergangenen Jahres die Regierung über-nahmen, hatten wir Privatisierungserlöse in Höhe von 10Milliarden DM, und die Vorausschätzungen für Steuer-einnahmen im Jahr 1999 waren um 30 Milliarden DMhöher als vorgesehen. Meine Damen und Herren, wenndas keine gute Ausgangsposition ist, dann weiß ichnicht, was noch positiv ist. Diese gute Ausgangspositionhaben Sie in wenigen Wochen und Monaten leichtfertigverspielt.
Die Wachstumsprognosen sind immer schlechter ge-worden, der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist gestoppt,und – was am schlimmsten ist – die Verunsicherung beider Wirtschaft – in den Betrieben, im Handel, im Hand-werk, im industriellen Bereich und im Dienstleistungs-bereich – ist so groß, daß Investitionen und die Schaf-fung zusätzlicher Arbeitsplätze derzeit ausbleiben.
Das ist auch kein Wunder bei der Konzeptionslosig-keit und bei der Politik – insbesondere im steuerpoliti-schen Bereich –, die ohne jeden Rat von Sachverständi-gen und ohne jeden Sachverstand gemacht wurde. Ichwill das mit einigen Beispielen begründen.Vorhin wurde es schon angesprochen: Die von unsvorgenommene Strukturreform in der Rentenversi-cherung haben Sie zurückgenommen – ohne zu sagen,wie die demographischen Probleme gelöst werden sol-len. Es wäre das mindeste gewesen, zu sagen, wie dievorhandenen Probleme, die niemand leugnet, angepacktwerden sollen. Sie selbst haben in der Rentenversiche-rung Löcher geschaffen, und jetzt wollen Sie sie durcheine zusätzliche Steuererhöhung stopfen. Das Loch, dasSie geschaffen haben, meine Damen und Herren, istselbstverschuldet!
Es wird davon gesprochen, mit der Ökosteuer macheman etwas ganz Soziales. Mittlerweile reden die Kolle-ginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen beidiesem Vorhaben von der „ökologisch-sozialen Re-form“. Ich frage Sie, was an dem Ganzen „ökologisch“ist. Was hat das mit Umwelt zu tun?
Der Finanzminister hat heute vormittag in diesem Zu-sammenhang das Beispiel der Einführung des Kataly-sators gebracht. Ja, Herr Lafontaine, damals haben wirechte Umweltpolitik gemacht. Damals haben wir mit derEinführung und Förderung des Katalysators tatsächlichzu einer Verbesserung der Umweltsituation beigetragen.Was Sie aber „Umwelt“ und „Öko“ nennen, ist nichtsanderes als eine Erhöhung der Mineralölsteuer, eine Er-höhung der Heizölsteuer, eine Erhöhung der Erdgassteu-er und die Neueinführung einer Stromsteuer. Das istnichts anderes als ein Abkassieren; das hat nichts miteiner ökologischen Lenkungswirkung zu tun!
Mit „sozial“ hat das Ganze auch nichts zu tun. Wassagen Sie denn den Rentnern? Was sagen Sie denn denArbeitslosen? Was sagen Sie denn den Studenten? Wassagen Sie denn den Leuten, die wenig verdienen unddeshalb auch wenig Beiträge in die Sozialversicherungzahlen? Die haben von der Senkung der Rentenversiche-rungsbeiträge keinen Vorteil. Sie haben nur Nachteile,und zwar bei all dem, bei dem sie sich nicht wehrenkönnen, weil auch sie warme Wohnungen brauchen,weil auch sie Strom brauchen und weil auch sie in derRegel aufs Auto angewiesen sind. Es liegt auf der Hand,daß das nichts mit „sozial“ und nichts mit „ökologisch“zu tun hat.
Bei dieser Gelegenheit noch eines: Der Sachverstän-digenrat hat bei diesem Gesetz, wie im übrigen auch beidem anderen Steuergesetz, überhaupt keine Rolle ge-spielt. Wir hatten am vergangenen Donnerstag eine An-hörung im Finanzausschuß dazu. Sie haben nichts, aberauch gar nichts von der Kritik, die dort rundum geäußertDr. Konstanze Wegner
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1446 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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wurde, in Ihrem Gesetzentwurf berücksichtigt, sondernden Entwurf am gleichen Tag – ohne die entsprechendenVoten der mitberatenden Ausschüsse abzuwarten – be-schlossen. Das ist ein Umgang mit dem Parlament undmit den Sachverständigen, wie er schlimmer nicht seinkönnte, der sogar von den Sachverständigen selbst in derAnhörung kritisiert wurde.
Es ist ja nicht nur der Umgang mit der Opposition, son-dern der Umgang mit dem Parlament insgesamt und mitden Sachverständigen.
Ich hoffe, daß Sie das künftig anders machen; denn dies,meine Damen und Herren, ist alles andere als eine gere-gelte und seriöse Gesetzgebungsarbeit.
Von Ihnen ist immer wieder angesprochen worden,Ihre Steuerpolitik stehe im Zusammenhang mit Investi-tionen und Arbeitsplätzen. Es ist wirklich der Gipfel derUnverfrorenheit, wenn Sie im Zusammenhang mit dem,was Sie im Steuerbereich vorhaben und gemacht haben,Investitionen, Beschäftigung und Arbeitsplätze nennen.Sie fördern damit nämlich nicht Wachstum und Be-schäftigung, im Gegenteil, Sie verhindern damit zusätz-liche Arbeitsplätze und zusätzliches Wachstum. Ich gebeIhnen auch dafür eine Begründung.Sie haben zum 1. Januar 1999 das Kindergeld er-höht. Das ist eine für die Betroffenen sicherlich schöneAngelegenheit. Aber über die Finanzierung der hierfürerforderlichen 6 Milliarden DM ist immer noch nichtentschieden. Wenn sie jedoch entschieden wird, dann so,daß die Finanzierung auf dem Rücken derer erfolgenwird, die für zusätzliche Arbeitsplätze in diesem Landesorgen sollen, nämlich auf dem Rücken des Mittelstan-des und der Wirtschaft.
Eine halbherzige, über den ganzen Bereich wirklichminimale Steuersatzsenkung ist mit Ihrer Steuerreformverbunden. Im Vordergrund steht aber die Verbreite-rung der Bemessungsgrundlage, also das, was Sieimmer unter Neidgesichtspunkten in den Raum stellen.Diese Verbreiterung der Bemessungsgrundlage wollenSie auf den 1. Januar 1999 vorziehen, während Sie dieUnternehmensteuerreform mit der Senkung der Steuer-sätze für einen unbestimmten Zeitpunkt in Aussichtstellen. Das hat mit Investitionsanreizen und der Schaf-fung von Arbeitsplätzen überhaupt nichts zu tun; das istkontraproduktiv, meine Damen und Herren.
Nun sagen Sie, Sie hätten nach dieser ominösenKlausurtagung des Kabinetts eine Reihe von Korrektu-ren vorgenommen, jetzt sei in der Steuerreform eineMenge von dem enthalten, was wir auch gemacht hätten.Allerdings gibt es dabei einen ganz wesentlichen Unter-schied: Bei den Petersberger Beschlüssen und bei dem,was wir verabschiedet haben, war eine deutliche Sen-kung aller Steuersätze – vom Eingangssteuersatz biszum Spitzensteuersatz, bei der Einkommensteuer undbei der Körperschaftsteuer – vorgesehen. Das war dasKernstück unserer Reform, und das wäre auch heutedringend notwendig. Das jedoch fehlt bei Ihnen.
Dann sagen Sie, Sie hätten von dem Schlimmeren –beispielsweise Teilwertabschreibung, Mindestbesteue-rung, Verlustverrechnung – vieles korrigiert. Was habenSie denn korrigiert? Sie haben nur Marginales korrigiert.Sie gehen von dem Vorhaben der Abschaffung derTeilwertabschreibung nicht ganz weg, sondern führenden ominösen Begriff „dauerhafte Wertminderung“ ein,ohne ihn konkret zu definieren.
Die Beweislast wird bei den Steuerpflichtigen liegen.
Die Streitigkeiten zwischen den Betriebsprüfern und denSteuerpflichtigen werden zunehmen. Sie werden sehen,daß dies alles andere als praktikabel sein wird und zuzusätzlichen Verunsicherungen und zu ganz großenSchwierigkeiten insbesondere bei mittelständischen Be-trieben führen wird.
Frau Kolle-
gin – –
Die Zuschriften,
meine Damen und Herren, die uns in den letzten Tagen
zu all den Problemen, die Sie uns auf den Tisch gelegt
haben, und zu Ihren Vorschlägen von seiten der Indu-
strie und des Dienstleistungssektors erreicht haben, ma-
chen deutlich, daß vor Ihren Lösungsansätzen bei der
Steuerreform gewarnt wird. Es wird davor gewarnt, daß
Verlagerungen ins Ausland vorgenommen werden. Sie
haben jetzt noch die Chance, von diesen Vorschlägen
Abstand zu nehmen, Ihren Gesetzentwurf zurückzuneh-
men und etwas Sinnvolles vorzulegen, nämlich eine
deutliche Senkung der Steuersätze und eine zeitgleiche
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage.
Ich wollte Sieeben nicht an das Ende Ihrer Redezeit erinnern, sondernSie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen.Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.Gerda Hasselfeldt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1447
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Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Herr Lafontaine, Sie haben wahr-lich kein leichtes Erbe übernommen. Aber Sie wollten jaden Regierungswechsel, und Sie wollten auch diesesAmt. Die Partei der Demokratischen Sozialisten und So-zialistinnen befürwortete und unterstützte diesen Regie-rungswechsel. Aber, meine Damen und Herren von derRegierungskoalition, wir wollen natürlich mehr: Wirwollen, daß Sie den Einstieg in einen tatsächlichen Poli-tikwechsel praktizieren.
Das ist auch das Bewertungsmerkmal für den ersten vonRotgrün vorgelegten Haushalt. Sie werden sich daranmessen lassen müssen, ob Sie den Einstieg in einen Po-litikwechsel tatsächlich wagen.Dazu muß ich folgendes sagen, Frau KonstanzeWegner: Die von Ihnen genannten Zahlen der Arbeits-marktpolitik sind sicherlich richtig. Aber sie sagen nochnicht alles aus. Es geht um einen Wechsel, um hier auchtatsächlich etwas zu erreichen. Sie müssen anfangen,zum Beispiel das Rotationsprinzip endlich aufzuheben,die Zugangsbedingungen zu verändern und den zweitenArbeitsmarkt zu einem wirklichen öffentlich gefördertenBeschäftigungssektor auszugestalten, so daß langfristigeEffekte erzielt werden können, nicht nur eine Fortfüh-rung der alten Politik mit mehr Geld.
Die Steuer- und Finanzpolitik bildet in der bisherigenDebatte natürlich den Schwerpunkt. Vorwürfe, Schuld-zuweisungen, Wahrheiten, Halbwahrheiten – allesmischte sich bunt durcheinander. Aber ich muß sagen,Herr Merz: Im Gegensatz zu vielen Vertretern vor allemder CDU, die noch heute am liebsten den Demokrati-schen Sozialisten und Sozialistinnen die Teilnahme amdemokratischen Prozeß auch hier im Haus verbietenwürden, haben Sie natürlich in der Opposition das Rechtzur Kritik, genau wie ich auf der anderen Seite der Op-position. Inhaltlich teile ich Ihre Kritik in vielen Punktenhinsichtlich der Art und Weise der bisherigen Steuerge-setzgebung. Aber wenn Sie die Kritik hier bringen: Bittenicht so dick auftragen! Nicht von Ihnen! Denn das grenztan Heuchelei. Das muß man hier wirklich so sagen.
Bei der von Ihnen kritisierten Art und Weise handeltes sich im Kern nur um eine schlechte Kontinuität, eineFortsetzung der Arbeit der alten Regierung. Das kanntenSie vielleicht nicht vorher. Wir sollten aber gemeinsamwirken, um den Rechten und den Mitwirkungsmöglich-keiten des Parlamentes und auch des externen Sachver-standes wieder den Stellenwert einzuräumen, den siehaben müssen.Beim Amtsantritt erklärte diese Regierungskoalition,daß sie in der Steuer- und Finanzpolitik die Ziele hat:wieder gerechte Lastenverteilung für alle Steuerpflichti-gen und Beseitigung der Finanzkrise der öffentlichenHaushalte. In der Zielsetzung sind wir d'accord. Das istüberhaupt keine Frage. Aber: Wo ist denn tatsächlich Ihrgroßer Sprung? Wo haben Sie das Chaos beendet, dasuns die alte Regierung hinterlassen hat?Dazu noch einmal zwei, drei Zahlen. Im Ergebnis der16jährigen CDU/CSU-F.D.P.-Machtausübung haben wireine totale Verschiebung: eine Aushebelung der Grund-sätze der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Lei-stungsfähigkeit, einer Besteuerung, so wie sie entspre-chend dem Grundgesetz sein müßte, daß Eigentum auchzur sozialen Teilhabe verpflichtet. Der Anteil der Ge-winnsteuern am Bruttoinlandsprodukt ist seit 1990 von6 auf 4 Prozent gefallen. Die Gewinnsteuern – veran-lagte Einkommensteuer, Soli-Zuschlag, nicht veranlagteSteuern vom Ertrag, Zinsabschlag usw. – sanken imVerhältnis zum Bruttoeinkommen aus Unternehmertätig-keit und Vermögen von 38 Prozent Anfang der 80er Jah-re auf 22 Prozent 1996.Die Unternehmensteuern tragen nur noch zu 7 Pro-zent zum Gesamtsteueraufkommen bei. Ja, aber wasmachen Sie? Ich habe heute nur Worte gehört, daß Sietatsächlich von oben nach unten umverteilen wollen.Das, was wir bisher haben, sind wirklich nur kleineSchrittchen und Mogelei. Das ist kein großer Sprung.Nehmen wir das von Ihnen heute vielfach angespro-chene steuerfreie Existenzminimum. Bereits 1997 ha-ben Sie von der SPD 14 000 DM und die Grünen 15 000DM gefordert. Jetzt visieren Sie das für das Jahr 2002an. Den Zustand, den Sie bereits vor zwei Jahren kriti-sierten, wollen Sie die nächsten drei Jahre noch beibe-halten? Das kann doch nicht sein.
Sie halten dem entgegen: Wo soll das Geld denn her-kommen, wer soll es denn bezahlen? Natürlich kann esbezahlt werden! Wo ist die Vermögensteuer? Warumwird sie nicht wieder eingeführt? Wo ist der große Griffbezüglich der Frage der sozialen Existenzsicherung vonKindern? Ich hoffe, wir diskutieren das in diesem Jahr.Gehen wir über zur Individualbesteuerung! Hören wirendlich mit dem Zustand des Ehegattensplittings auf!Machen wir einen sozialen Ausgleich! Nehmen wir dasGeld, das man tatsächlich einsparen kann, und geben esden Familien mit Kindern!Vorhin wurden die Höhe des Kindergeldes und derFreibetrag kritisiert. Das ist richtig, meine Damen undHerren von der Regierungskoalition. Aber auch vonIhnen vermisse ich bisher den Vorschlag, beim Kinder-geld sofort auf mindestens 300 DM hochzugehen, umverfassungsrechtlich die Möglichkeit zu haben, denKinderfreibetrag aufzuheben.Das sind Kritikpunkte, die man tatsächlich anbringenmuß. Eines möchte ich auf alle Fälle noch sagen – es tuteigentlich schon fast weh –: Es ist bedauerlich, daß Siedie Gesetzesvorhaben, die Sie einbringen, in einer sol-chen liederlichen Art und Weise vorbringen. Was manda auch leider in der Presse an Kritikpunkten lesen muß,ist schon peinlich. Ich dachte eigentlich, daß Sie dies sonicht praktizieren werden.Daß wir bei dieser Steuergesetzgebung, wenn sienicht ordentlich gemacht wird, natürlich auch Haushalts-risiken provozieren, ist klar. Es ist schon verwunderlich,daß Sie in der bisherigen Diskussion zum Steuerentla-stungsgesetz 1999/2000/2002, obwohl Maßnahmen inder Größenordnung von 6,5 Milliarden DM herausge-
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nommen wurden, trotz alledem eine Nettoentlastung inHöhe von 15 Milliarden DM ankündigen, nachdem mannur noch einmal nachgerechnet hat. Das läßt Zweifel ander Ernsthaftigkeit der bisher geleisteten Arbeit zu.
Frau Kollegin,
denken Sie an die Zeit!
Ich schließe damit ab.
Ich denke, hierauf werden wir als Opposition, als de-
mokratische Sozialistinnen und Sozialisten in den näch-
sten Wochen und in der zweiten und dritten Lesung
ebenfalls ein waches Auge haben.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Fritz Schösser.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Zwei Dinge habe ich inder heutigen Debatte gelernt: Einmal ist es gut, die Op-position in den eigenen Reihen zu wissen, dann kannman sich den Rest sparen, Herr Metzger. Ich würde ger-ne mit Ihnen über die Rentenversicherung diskutieren,aber nicht heute. Wir sollten das vielleicht einmal inner-halb der Koalition tun. Dort wäre es besser angebrachtals hier, zumindest solange man kein Konzept hat.
Zum anderen, Herr Austermann, ist es schon überra-schend, wie man – ohne Luft zu holen – die Mitnah-meeffekte bei Arbeitnehmern – wenn es sie wirklich ge-ben sollte – in der Sozialversicherung beklagt und davonredet, daß es neue Zumutbarkeitsregelungen geben solle,und im gleichen Atemzug davon spricht, daß man Inve-storen, die Geld haben, doch endlich Zucker in denHintern blasen solle, damit sie sich bequemen, ihr Geldzu investieren. Das ist wirklich hervorragend.
Frau Hasselfeldt, jeder klittert die Statistik auf seineArt und Weise. Das ist klar. Aber wer vor dem Hinter-grund des höchsten Standes der Arbeitslosigkeit in derNachkriegszeit die erste leichte Verbesserung der Ar-beitslosenstatistik schon zum Anlaß nimmt, davon zusprechen, daß die neue Regierung hervorragende Datenvorgefunden habe, bei dem scheint es mit der Wahr-nehmung der Realität auch nicht weit her zu sein.
Die Stabilität einer Wirtschafts- und Gesellschafts-ordnung steht auch immer im Zusammenhang mit einemMindestmaß an sozialer Gerechtigkeit und individuellerEntwicklungsfähigkeit und setzt voraus, daß die Steuer-und Abgabenpolitik gerecht gestaltet wird.
– Herr Hinsken, meine Zeit ist knapp bemessen. Zudemstehe ich zum ersten Mal hier und möchte meine Redeerst beenden. Aber Sie können meine Redezeit am Endedurch eine Zwischenfrage verlängern.Nun ist es an der Zeit, wieder für mehr Steuerge-rechtigkeit zu sorgen; denn der vollständige Verzichtauf Steuern aus Vermögen sowie sinkende Einnahmenaus Unternehmen- und Kapitalsteuern auf der einenSeite und Mehrausgaben durch steigende Arbeitslosig-keit und Armut auf der anderen Seite haben zu einemdramatischen Anstieg der Staatsverschuldung geführt.
Es ist zweifellos Ihr Verdienst, meine Damen und Her-ren von der Opposition zu meiner Rechten, daß die pro-gressive Einkommensteuer für kundige Steuerbürger,die Geld anlegen wollen, eigentlich nur noch auf demPapier steht. Nicht zuletzt um die Konvergenzkriterienzur Einführung des Euro zu erfüllen, haben Sie sich inden letzten Jahren lieber an Sozialhilfeempfängern ver-griffen und schadlos gehalten, als die luxuriösen Ab-schreibungsmodelle für Gutverdienende einzugrenzen.
Herr Merz, weder die Wirtschaftsunternehmen nochweite Teile der Selbständigen können im Ernst für sichreklamieren, daß die Angebotsbedingungen für Inve-stitionen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze nichtstimmen würden. Aber sie haben trotz der idealen Be-dingungen, die Sie für sie bereitet haben, keine Arbeits-plätze geschaffen. Wenn man es genau betrachtet, dannstellt man fest, daß das Arbeitsstundenvolumen in denletzten Jahren nicht gestiegen, sondern gesunken ist.Man sollte auch niemandem vorgaukeln, Kapitalerträgewürden bei uns überproportional besteuert. Ihre kapital-freundliche Angebotspolitik ist – das hat der Wahltagbestätigt – völlig gescheitert.Ich frage: Was haben die Arbeitnehmer von ihremjahrelangen Lohnverzicht? – Ein angemessener Lebens-standard ist für viele mittlerweile nicht mehr zu errei-chen. Jetzt brauchen wir endlich ein konsensorientiertesPolitikmodell; denn Ihre Politik kam einem Bündnis fürKapital gleich. Wir setzen dagegen auf ein Bündnis fürArbeit und Wettbewerbsfähigkeit, das der Kanzlera. D. leider leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte.
Das heißt, wir werden im Bündnis für Arbeit Kosten-und Produktivitätsreserven gemeinsam nutzen, um Ar-beit gerechter zu verteilen und die ungeheuren Vermö-genswerte wertschöpfend einzusetzen. Wir müssen ge-meinsam dafür sorgen, daß die stillen Reserven, die inden letzten Jahren am Finanzamt vorbei gebildet wur-den, für eine erstklassige Versorgung mit Infrastrukturund Dienstleistungen genutzt werden. Herr Merz, war-um soll zum Beispiel die Abzinsung auf Rücklagennicht legitim sein? Auch das Sparkonto besteuern wiroberhalb der Freigrenze.Damit wir uns richtig verstehen: Gewinne müssensein, um die Finanzierung von Arbeitsplätzen voran-Dr. Barbara Höll
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zutreiben. Wenn Gewinne aber nicht mehr reinvestiertwerden, weil mit Abschreibungsmodellen nahezu risiko-frei die schnelle Mark gemacht werden kann, dann istdieses System marode.
Mit Geld ist es so wie mit dem Mist: Wenn zuviel aufeinem Haufen liegt, dann fängt er an zu stinken; wennman den Mist schön über das Land verteilt, dann kann ersogar ausgesprochen fruchtbar sein.
Sie haben 16 Jahre lang die Arbeitskosten einseitigmit höheren Abgaben und Steuern belastet; wir erwei-tern die Bemessungsgrundlage für die Besteuerung, da-mit wir die Steuersätze für Arbeitnehmer und mittel-ständische Unternehmer senken können, damit sich nichtwenige mit viel Geld vor der Steuer drücken können undviele mit wenig Geld dafür bezahlen müssen.Wie immer man zu Rechenbeispielen steht: Es ist so,daß ab dem 1. Januar 1999 eine Familie mit zwei Kin-dern und einem Einkommen von 3 200 DM im Jahr tat-sächlich 1 270 DM mehr an Einkommen hat, wenn mandie Steuerabsenkung und das Kindergeld zusammen-rechnet.
– Jeder hat es gemerkt. Ich habe eine ganze Reihe vonAnrufen erhalten, in denen Arbeitnehmer mir mitgeteilthaben: Endlich gibt es diese Trendwende. Das ist das er-ste Anzeichen.
Sie müssen heute in einer Form, die mehr als be-denklich ist, agieren, um politische Mehrheiten in die-sem Land zurückzugewinnen. Sie betreiben auf demRücken der Schwächsten, der Menschen, die aus demAusland gekommen sind und lange bei uns arbeiten, dasGeschäft mit der politischen Macht.
Sie haben für Verlust- und Abschreibungsgesell-schaften eine Autobahn gebaut; wir schaffen wiederSteuergerechtigkeit. Herr Merz, was sind das eigentlichfür Geschäfte, bei denen man als Anleger nach der Steu-er höhere Renditen als vor der Steuer hat? Die Geschäftevon Abschreibungs- und Verlustgesellschaften sind Ge-schäfte zu Lasten der Steuerzahlergemeinschaft. MeinesErachtens darf es solche Subventionen nicht länger ge-ben, oder sie müssen wenigstens begrenzt werden.
Gestern wurden unter dem Motto „Wird heute dieArbeitsplatzlüge geboren?“ Großanzeigen geschaltet.Die Lüge stand direkt in der Anzeige. Unbestritten sindim Wohnungsbau, in der Werftenindustrie, in der Film-industrie und in anderen Bereichen mit Abschreibungs-modellen Arbeitsplätze entstanden. Aber ich frage: Washaben diese Arbeitsplätze den Staat eigentlich gekostet?Es bleibt dabei, daß dadurch Steuerbefreiungen erreichtwurden und aus den Gewinnen, die normalerweise er-zielt worden wären, keine Steuern eingenommen wur-den. Gerade auf dem Gebiet des Wohnungsbaus stelltsich doch die Frage, ob man das Geld nicht besser dort-hin gibt, wo wirklich Bedarf ist. Warum läßt man zu,daß mit solchen Steuersparmodellen zum Teil Projekteverwirklicht werden, für die es keine Bedürfnisse gibt?Wo bleibt das Prinzip der Besteuerung nach der Lei-stungsfähigkeit? Es ist ein Paradox, daß nicht zuletztdiejenigen, die am stärksten gegen die Staatsverschul-dung polemisieren, am meisten von ihr profitieren.Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,haben während Ihrer Regierungszeit die Leistungen derSozialversicherung gekürzt, die Beiträge erhöht und dieZuzahlungen eingeführt; Sie haben es zugelassen, daßdas Vertrauen in die Sozialversicherungssysteme täglichaufs neue erschüttert wurde.
Wir dagegen senken die Rentenversicherungsbeiträgedurch den Einstieg in die Ökosteuer und sorgen damitdafür, daß die Sozialversicherungssysteme stabil blei-ben.
Sie haben den Familien die Freibeträge für die Kinder-betreuung vorenthalten; wir halten den Kopf für IhreVerfehlungen hin.
Wir haben das Kindergeld erhöht und dafür gesorgt, daßdas Urteil der Karlsruher Richter jetzt sozial gerechtumgesetzt wird.Sie haben es versäumt, alles in Ihrer Macht Stehendezu tun, damit in allen Landesteilen junge Menscheneinen Ausbildungsplatz erhalten.Wir sorgen mit einem Sofortprogramm zum Abbauder Jugendarbeitslosigkeit dafür, daß 100 000 Jugendli-che Ausbildung und Arbeit erhalten.
Sie haben es zu verantworten, daß im Hinblick aufdie geringfügige Beschäftigung aus einer Sonderrege-lung, die ursprünglich für Studenten und Rentner ge-dacht war, in verschiedenen Branchen ein Regelfall mitLohndumping und Aufhebung des sozialen Schutzesgeworden ist. Ihr Nichtstun hat dazu geführt, daß dasnormale Arbeitsverhältnis schändlich unterlaufen wurde.Wir handeln und haben ein Gesetz zur Neuregelung dergeringfügigen Beschäftigungsverhältnisse auf den Weggebracht.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Auster-
mann?
Nein, aber er kann meineRedezeit am Ende verlängern.Fritz Schösser
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Wäre das Gesetz durch Sie rechtzeitig auf den Weggebracht worden, wäre es einfacher gewesen, mit ord-nungspolitischen Maßnahmen dafür zu sorgen, die wett-bewerbsverzerrende Konkurrenz zwischen dem norma-len Arbeitsverhältnis und dem geringfügigen Beschäfti-gungsverhältnis zu beseitigen. Sie haben im übrigen dasRecht verwirkt, über einen Gesetzesentwurf zu beck-messern, mit dem wir nun versuchen, die längst überfäl-lige Umkehr einzuleiten.
16 Jahre angebotsorientierte Steuer- und Wirt-schaftspolitik haben Sand in das bundesdeutsche Ge-triebe gebracht.
Ich sage an der Stelle ganz klar: Natürlich werden sichangebotsorientierte und nachfrageorientierte Teile in ei-ner staatlichen Wirtschafts- und Steuerpolitik wiederfin-den müssen. Anders ist es nicht denkbar und machbar.Nur müssen wir uns schnell darauf besinnen, ein Steuer-und Abgabensystem zu schaffen, welches das Funktio-nieren marktwirtschaftlicher Prozesse nicht beeinträch-tigt, aber dennoch soziale Standards möglich macht. DerAnfang ist in den ersten vier Monaten gemacht. Aber alldas, was in 16 Jahren – das wurde schon einmal kurzerwähnt – liegengeblieben ist und an Fehlentwicklungeneingeleitet wurde, läßt sich in vier Monaten leider nichtkomplett korrigieren.
Sie waren zu lange auf dem Holzweg, Herr Möllemann.Ich lade Sie aber gerne ein, mit uns eine Umkehr einzu-leiten und einen anderen steuerpolitischen Weg zu ge-hen, der niemanden überfordert, aber Gerechtigkeit ein-fordert.Im übrigen: Der Landesgruppenchef der CSU-Gruppekommt ja aus Schweinfurt. Ich kann Sie, Herr Mölle-mann, nur auf einen ganz spannenden Literaten – Fried-rich Rückert heißt er – verweisen; der hat einmal gesagt:„Die im Irrtum zur Wahrheit reisen, das sind die Wei-sen; die im Irrtum verharren, das sind die Narren.“ Inso-fern wäre es gut, wenn Sie mit uns gemeinsam eineSteuer- und Haushaltspolitik betreiben würden, die dafürsorgt, daß es in diesem Lande wieder gerechter zugeht.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich habe ge-
hört, Herr Kollege Schösser, daß das Ihre erste Rede im
Parlament war. Deswegen möchte ich Ihnen dazu im
Namen des ganzen Hauses gratulieren.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Susanne Jaffke.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Haushaltsplan hatuns nun nach einem unnötigen Hin und Her endlich er-reicht. Er will dem Anspruch gerecht werden, nicht allesanders, aber vieles besser zu machen. Dagegen kannman ja prinzipiell nichts haben. In allen Vorlagen aber,die mich als Berichterstatterin zum Einzelplan 08 bishererreicht haben, suche ich vergeblich Stellen, die belegen,daß dieser Anspruch Realität geworden ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, im BMF scheintsich noch nicht ganz herumgesprochen zu haben, daß die„neuen Dienstherren“ vielleicht eine neue Richtlinieausgegeben haben. Nachdem mir meine Berichterstat-termappe am letzten Donnerstag zur Verfügung gestelltworden war, konnte ich feststellen, daß sie in vielenEinzelheiten eine vom vorgelegten Haushaltsgesetz ab-weichende Finanzplanung ausweist.Am Beispiel der Bundesmonopolverwaltung fürBranntwein läßt sich das deutlich machen: Während imHaushaltsentwurf 285 Millionen DM als Zuschuß aus-gewiesen werden, weist die mittelfristige Finanzplanungnoch 290 Millionen DM für die Jahre 1999 und 2000aus. Da muß ich mich schon fragen: Was ist eigentlichmit den Computern los? Konnten die Probleme inner-halb eines Vierteljahres nicht gelöst werden?Der Kollege Metzger, der in der Öffentlichkeit diereine Lehre vertritt und der das Monopolgesetz in dieserLegislaturperiode kippen will, hat hoffentlich noch einHerz für Landwirte. Unsere Landwirte, die nicht nurdurch die Agenda 2000 ohne Gnade gerupft, sondernauch noch durch die Ökosteuer unnötigerweise belastetwerden, sollen nämlich in einigen Regionen Deutsch-lands die Brennerei als Nebenerwerbszweig verlieren.Herr Kollege Schösser, Sie haben eine nette Bemer-kung über die Sinnhaftigkeit des Mistes bezüglich derdeutschen Landwirtschaft gemacht. Ich kann Ihnen indiesem Zusammenhang versichern: Auf Grund desHaushaltsansatzes für den Einzelplan 08 hinsichtlich derBundesmonopolverwaltung und für den Einzelplan 10,in dem die Ausgaben für die Landwirtschaft überdimen-sioniert gekürzt werden, brauchen wir uns über Mist inZukunft keinen Kopf zu machen. Der Mist würde dannnämlich irgendwo auf Halde liegen, weil es keine deut-schen Landwirte mehr geben würde, die ihn auf den Äk-kern unterbringen könnten.
– Herr Kollege, Sie müßten einmal mit den Leuten vomFach reden.
– Stellen Sie sich einmal vor, hier steht einer vor Ihnen.Wir können uns ja nachher austauschen.Gestatten Sie mir noch ein Wort zu den Zöllnern. Indem Einzelplan 08 ist der Posten für die Zollverwal-tung ziemlich groß. Mein Kollege Dietrich Austermannhat schon darauf hingewiesen, daß wegen der neuenFritz Schösser
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Energiebesteuerung 520 Zöllner neu eingestellt werdensollen. Eine entsprechende Etatisierung habe ich imHaushaltsentwurf aber leider nicht finden können. Viel-leicht gibt es aber eine sogenannte Nachschiebeliste. InAnlehnung an die peppigen Formulierungen des Kolle-gen Diller wird sie dann höchstwahrscheinlich den Na-men „Lafontaine-Wisch“ tragen.Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch ei-ne Bemerkung: Die Mitarbeit der Opposition wird Ihnendann gewiß sein, wenn es darum geht, für die Zöllnervon Ahlbeck bis nach Passau die Lebens- und Arbeits-bedingungen weiter zu verbessern. Dies sage ich nichtzuletzt vor dem Hintergrund, daß im vergangenen Jahrviele bedauerliche Unfälle in diesem Bereich passiertsind.Herr Tauss, in diesem Zusammenhang muß ich sa-gen, daß die Zollschule errichtet werden mußte. DieFreigabe der vor der deutschen Einigung kw-gestelltenStellen ist wegen der Bedingungen an der neuen EU-Außengrenze, entlang der Grenze der neuen Bundeslän-der aufgeschoben worden. Aber man wird nicht umhin-kommen, über 700 neue Stellen zu schaffen, wenn dasÖkosteuergesetz, das Energiesteuergesetz in Kraft tritt.Eine entsprechende Vorsorge vermisse ich in diesemHaushalt.Ich will noch ein Anliegen erwähnen – eine entspre-chende Äußerung habe ich auf dem Kongreß der Zoll-gewerkschaft gemacht –: ich halte es für nicht mehr hin-nehmbar, daß in der heutigen Zeit unsere Zöllner beigleicher Arbeit an der deutschen Grenze mit Löhnennach Hause gehen, die – je nachdem, wo sie ihrenHauptwohnsitz haben – zwischen 80 und 100 Prozentdifferieren. Leider kann ich im Einzelplan 60 nur 750Millionen DM Personalverstärkungsmittel für alle Etatsin diesem Haushaltsentwurf erkennen, so daß mit Si-cherheit die vollmundigen Versprechungen, für Gerech-tigkeit in den Einkommen zu sorgen, nicht eingelöstwerden können. Sollten wir uns darauf noch verständi-gen, würde ich mich freuen.
Danke schön.– Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereichliegen nicht vor.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Bildung und Forschung und da-mit zum Einzelplan 30.Ich eröffne die Debatte. Das Wort hat zunächst dieFrau Bundesministerin Edelgard Bulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Der Haushalt desBundesministeriums für Bildung und Forschung wird1999 insgesamt 15,001 Milliarden DM betragen.
– Ich finde auch, daß man da klatschen kann. Das ist ge-nau richtig.Damit stehen 1999 für Bildung und Forschung rund1 Milliarde DM mehr zur Verfügung als noch 1998,
davon rund 900 Millionen DM für den Einzelplan 30.Das entspricht einem Zuwachs von 6,4 Prozent.Diese Milliarde, die wir in diesem Jahr für Bildungund Forschung mehr haben, stellt in zweifacher Hinsichtein positives Signal dar: Erstens. Bildung und Forschunghaben in Deutschland endlich wieder Priorität.
Zweitens. Die neue Bundesregierung läßt – im Gegen-satz zur alten – ihren Worten auch Taten folgen.
Dies ist der erste Schritt zu einer längst fälligenKurskorrektur. Die Bundesregierung ist entschlossen,die Zukunftsinvestitionen für Bildung und Forschungauch künftig deutlich zu erhöhen.Meine Herren und Damen von der Oppositionsbank,lassen Sie mich eines deutlich sagen: Ihre krampfhaftenVersuche, diesen Erfolg kleinzureden, ändern nichts andieser Tatsache, auch nicht Ihre Vergleiche mit Wahl-kampfetats. Sollansätze müssen mit Sollansätzen vergli-chen werden.
Wenn man Sollansatz mit Sollansatz vergleicht, stellt manfest, daß in diesem Jahr eine Milliarde DM mehr zur Ver-fügung steht. Ich bin ganz sicher – dafür kenne ich Siedurch die jahrelange Zusammenarbeit gut genug –: WennIhnen in Ihrer Regierungszeit ein einziges Mal ein der-artiger Erfolg gelungen wäre
– ich nehme den gesamten Bereich Bildung und For-schung –, dann wären Sie vor Freude an die Decke ge-sprungen. Sie wissen, Herr Möllemann: Nach Ihnen kamnichts mehr.
Dagegen können Sie nun schlecht etwas sagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnern wir unsdoch einmal: Die alte Regierung hat den Haushalt dessogenannten Zukunftsministeriums jahrelang sträflichvernachlässigt. Der Anteil des Einzelplans 30 – Bildung,Wissenschaft, Forschung und Technologie – am Bun-deshaushalt war von 4,7 Prozent zu Beginn der 80er Jah-re auf 3,2 Prozent im Jahre 1998 zurückgegangen. Dieswar eine falsche Politik, die jetzt korrigiert wird. Und esSusanne Jaffke
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war ein falsches Signal zu einer Zeit, in der die nationa-len und internationalen Herausforderungen dramatischzugenommen haben, in der Strukturwandel und techno-logischer Wettbewerb im Vordergrund standen. Im in-ternationalen Wettbewerb hat Deutschland in den letztenJahren seine Spitzenstellung beim Anteil der FuE-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt eingebüßt. Anfangder 80er Jahre waren wir innerhalb der OECD-Staatenbei diesem Indikator Spitzenreiter, mittlerweile sind wirauf den siebten Platz zurückgefallen. Gerade deshalb istdiese Erhöhung die richtige und notwendige Weichen-stellung.Ich habe kürzlich die aktuelle Studie „Zur Techno-logischen Leistungsfähigkeit Deutschlands“ vorge-stellt. Darin wird Deutschland zwar eine hohe Effizienzdes Innovationssystems bescheinigt. Es wird jedochgleichzeitig gesagt, daß es mittelfristig sehr schwierigsein wird, den in den 90er Jahren verlorenen Boden zu-rückzugewinnen. Die Zukunftsinvestitionen müssennach dieser Studie deutlich erhöht werden, um denstrukturellen Wandel erfolgreich zu gestalten. DieseBundesregierung wird die damit verbundenen Heraus-forderungen aktiv annehmen. Wir haben den Ausbau derLeistungsfähigkeit in Bildung und Forschung zu einemzentralen Handlungsfeld unserer Politik für nachhaltigesWachstum und Beschäftigung gemacht.
Aber ich sage gleichzeitig: Geld ist nicht alles. Wirbrauchen auch strukturelle Reformen und einen effizi-enteren Mitteleinsatz.
Unser größtes Potential liegt in der Aus- und Weiterbil-dung der Menschen und in der Qualitätssteigerung vonWissenschaft und Forschung.
Geld ist nicht alles, aber ohne zusätzliche Mittel wird esnicht gelingen, die notwendigen Weichenstellungen vor-zunehmen. Der Haushalt meines Ministeriums für dasJahr 1999 bietet hierfür eine gute Ausgangsbasis. Ermacht Ziele und Prioritäten deutlich.Wir werden die strukturelle Schieflage des Vorjah-reshaushalts korrigieren. Der Anteil der Projektförde-rung wird gesteigert, der Anteil der institutionellen För-derung zurückgeführt. Die Projektförderung nimmt dieerste Stelle unter meinen Prioritäten ein. Das wird Sienicht überraschen; denn ich habe in der Vergangenheitstets auf die volkswirtschaftliche Bedeutung gerade die-ses Bereiches hingewiesen. Eine Stärkung der Projekt-förderung gegenüber der institutionellen Förderung bie-tet mehr Flexibilität, mehr Wettbewerb, eine größereUmsetzungschance und damit auch mehr Qualität. Das,meine Herren und Damen, ist mir wichtig.
Der Rückgang der Projektförderung im Haushalt desBMBF der letzten Jahre kennzeichnete den immer klei-ner werdenden Handlungsspielraum der alten Bundesre-gierung in der Forschungspolitik. Wir dagegen verstär-ken die Projektförderung um zusätzliche 463 MillionenDM auf insgesamt 3,85 Milliarden DM. Das ist einMittelaufwuchs von immerhin 13,7 Prozent. Damit er-reichen wir strukturelle Verbesserungen und haben end-lich auch den notwendigen Handlungsspielraum für Zu-kunftsinvestitionen.Schwerpunkte der Projektförderung werden sein: In-vestitionen in die Weiterentwicklung des Bildungswe-sens, in die Verbesserung der Chancengleichheit vonMännern und Frauen, in eine stärkere internationaleAusrichtung von Bildung und Forschung; Investitionen,mit denen wir die berufliche Bildung modernisieren, denEinsatz von neuen Medien bei Ausbildung und Qualifi-zierung unterstützen und lebenslanges Lernen fördern;Investitionen zur Weiterentwicklung des Hochschulwe-sens und zur Förderung des wissenschaftlichen Nach-wuchses; Investitionen in zukunftsorientierte Schlüssel-technologien und in die Vorsorgeforschung.Wir werden die Attraktivität des deutschen For-schungs- und Bildungssystems stärken, das Systemdurchlässiger und flexibler machen und durch mehrEigenverantwortung Potentiale freisetzen. Wir wollenBarrieren zwischen öffentlicher Forschung und Unter-nehmen abbauen.Meine Damen und Herren, die Studie „Zur Technolo-gischen Leistungsfähigkeit Deutschlands“ mahnt an, dieSpitzenstellung Deutschlands bei etablierten Spitzen-technologien und höherwertigen Technologien zu er-halten. Vor allem wird die Bedeutung des Aufbaus neuerKompetenzen auf neuen Technologiefeldern unterstri-chen und gleichzeitig die Notwendigkeit zusätzlicherQualifizierungsanstrengungen betont.Den damit verbundenen Anforderungen an die Bil-dungs- und Forschungspolitik trägt inbesondere dieTechnologieförderung des BMBF Rechnung. Wir ver-knüpfen dabei das technologische Ziel mit dem Leitzielder Nachhaltigkeit; denn Problemlösungen von heutedürfen nicht die Altlasten von morgen sein.
Die Verkehrssituation in den Ballungsräumen führtuns schon heute die Grenzen der Mobilität täglich vorAugen. Wir werden dieses Problem nur lösen, wenn wirinnovative Technologien zu einer effektiveren Nutzungder Verkehrswege entwickeln. Deshalb stellen wir dafürmehr Mittel bereit.Unsere Kommunikationsinfrastruktur ist einem ra-santen Wandel unterworfen. Sie muß im internationalenWettbewerb mithalten und innovative Dienstleistungenermöglichen, mit denen wir weltweit an der Spitze lie-gen. Es gibt überhaupt keinen Zweifel: Deutschlandmuß den Weg in die Informationsgesellschaft schaffen.Deshalb steigern wir die Förderung von Projekten derInformationstechnik.Die Biotechnologie hat, wie die physikalischen undchemischen Technologien, eine Schlüsselfunktion fürBundesministerin Edelgard Bulmahn
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den Erhalt unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit,und zwar weit über den unmittelbaren Branchenbereichhinaus. Auch hier werden wir den Mittelaufwuchs deut-lich überproportional steigern.Um diese Ziele effektiv umzusetzen, nutzen wir meh-rere Instrumente: In Leitprojekten, bei denen die Pro-jektpartner branchen- und disziplinübergreifend zusam-menarbeiten, soll neues Wissen mit der Nachfrage nachinnovativen Lösungen aus der Wirtschaft verknüpftwerden. Mit Hilfe des neuen „Strategiefonds“ sollenstrategisch wichtige Vorhaben in Helmholtz-Zentrenund anderen Forschungseinrichtungen, und zwar inwettbewerblichen Verfahren, finanziert werden. Damitsollen zum einen der Beitrag zur wirtschaftlichen Inno-vation gesteigert und zukunftsorientierte Programmemiteinander vernetzt werden. Zum anderen soll eineLücke geschlossen werden, die unser Forschungssystembeinhaltet, nämlich die unzureichende Zusammenarbeitzwischen den verschiedenen Forschungssäulen.Die Initiative „Exist“ fördert regionale Netzwerke fürzukunftsorientierte Unternehmungsgründungen unddient dem Technologie- und Know-how-Transfer zwi-schen Hochschule und Wirtschaft.Die Initiative „Innoregio“ fördert in den neuen Bun-desländern innovative Entwicklungen in regionalenNetzwerken. Mit dieser und weiteren Maßnahmen unter-streicht die Bundesregierung die Priorität für dieneuen Länder. Im Haushalt des BMBF werden 1999mehr als 3 Milliarden DM für sie bereitgestellt.
Forschung ist kein Selbstzweck. Forschung muß denMenschen dienen. Sie muß vermittelbar sein; sie mußgreifbar sein. Nur so findet sie Akzeptanz. Es muß un-mittelbar erfahrbar sein, daß Forschung die Lebensqua-lität der Menschen verbessert. In solchen Bereichenwollen wir stärkere Prioritäten setzen: Wir erhöhen dieAusgaben zur Förderung von Projekten der Gesund-heitsforschung, medizinischen Forschung und molekula-ren Medizin. Wir schaffen ein neues Forschungspro-gramm zur Beschäftigung und innovativen Arbeitsge-staltung. Daß dies notwendig ist, darüber gibt es, denkeich, keinen Streit. Die Umwelt- und die Klimaforschungerhalten ebenfalls einen deutlichen Zuwachs bei derProjektförderung.
Aber auch die institutionelle Förderung werden wirdurch strukturelle Reformen und prioritätenorientierteSchwerpunktsetzung stärken.
Zu den Eckpfeilern unseres Forschungssystems gehörendie Max-Planck-Gesellschaft, die Deutsche Forschungs-gemeinschaft und die Fraunhofer-Gesellschaft; da wer-den Sie mir, Herr Möllemann, doch sicherlich zustim-men.
Für diese Einrichtungen haben wir deshalb einen Mittel-zuwachs von jeweils 5 Prozent vorgesehen.
Damit erreichen wir eine stärkere Vernetzung vonGrundlagenforschung und Anwendung – Sie von deralten Regierung haben das im übrigen in dieser Form niehinbekommen –, mehr Interdisziplinarität und eine stär-kere internationale Ausrichtung.
– Richtig, weil die FhG immer weniger bekommen hat,Herr Möllemann.
Wir müssen aber auch die Potentiale unserer For-schungseinrichtungen besser nutzen. Deshalb werdenwir endlich anstatt starrer Stellenpläne eine stärkereSteuerung über Programme und Budgetierung an-streben. Bei der MPG ist dies im übrigen seit Beginndieses Jahres Realität.Von unseren Hochschulen werden Spitzenleistungenin Lehre und Forschung erwartet. Dafür müssen sie ge-rüstet sein. Wir haben deshalb in einem ersten Schrittdie Ausgaben für den jahrelang sträflich unterfinanzier-ten Hochschulbau um 200 Millionen auf 2 MilliardenDM aufgestockt. Damit werden dringend erforderlicheBau- und Sanierungsarbeiten ermöglicht und die Hoch-schuleinrichtungen mit wissenschaftlichen Großgerätenund moderner Rechentechnik ausgestattet.Chancen und Perspektiven – darin waren wir uns indiesem Hause eigentlich immer einig – dürfen nicht vomPortemonnaie der Eltern abhängig sein.
Einig sein allein reicht allerdings nicht. Man muß auchhandeln. Deshalb hat diese Bundesregierung das20. BAföG-Änderungsgesetz beschlossen, mit dem dieBedarfssätze um 2 Prozent und die Elternfreibeträge um6 Prozent angehoben sowie einige schwerwiegendeFehler der letzten Bundesregierung, zum Beispiel imBereich des Auslandsstudiums, korrigiert werden.
Wir werden bis Ende 1999 eine grundlegende Reformder Ausbildungsförderung vorlegen.
Das größte Kapital zur Lösung der drängenden Pro-bleme unserer Zeit ist der wissenschaftliche Nach-wuchs. Ihn wollen wir besonders fördern. Bei dem neuanlaufenden Emmy-Noether-Programm stehen die Selb-ständigkeit und die Verantwortung junger Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler insbesondere bei derLeitung von Forschergruppen im Mittelpunkt. – EmmyBundesministerin Edelgard Bulmahn
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1454 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Noether ist übrigens eine der bekanntesten Mathemati-kerinnen dieses Jahrhunderts, falls Sie es nicht wissensollten.
Wir brauchen aber auch eine grundlegende Struk-turreform an unseren Hochschulen. Unser Ziel ist es,durch die Einführung einer stärker an Leistungskrite-rien orientierten öffentlichen Hochschulfinanzierungdas Studium so zu strukturieren, daß die Regelstudien-zeit von den Studierenden auch eingehalten werdenkann.Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt meiner Arbeitwird die Modernisierung des Dienstrechtes und derPersonalstruktur der Hochschulen sein.
Hierdurch wollen wir neue Entwicklungspotentiale er-öffnen, Eigenverantwortung und Kreativität stärken so-wie die Mobilität zwischen Hochschulen und der Wirt-schaft verbessern.Die vierte Strukturkomponente meines Haushaltsstellen die internationalen Beiträge mit 1,4 MilliardenDM dar. Zwei Drittel davon entfallen auf den deutschenBeitrag an die ESA. Wie Sie wissen, halte ich den An-teil, der innerhalb des deutschen ESA-Beitrages für be-mannte Raumfahrt ausgegeben wird, von der Sacheher für zu hoch. Ich sage allerdings klipp und klar, daßwir unsere vertraglichen Verpflichtungen zum Bau undBetrieb der internationalen Raumstation erfüllen wer-den. Wir werden jedoch – das sage ich genauso klippund klar – unsere Gestaltungsmöglichkeiten mit Blickauf die bevorstehende ESA-Ministerkonferenz prüfen,weil wir die Raumstation für die Lösung irdischer Pro-bleme einsetzen wollen.Wir wollen die Zusammenarbeit in Europa undder Welt auch künftig weiter ausbauen. Unsere An-strengungen für eine stärkere Internationalisierungdurchziehen deshalb den Haushalt wie ein roter Faden.Ich möchte beispielsweise die Mittel für die Entwick-lung internationaler Studiengänge nennen. Sie sind einwichtiger Beitrag zur Steigerung der Attraktivität desStudienstandortes Deutschland. Wir wollen in Europaund der Welt wieder eine Spitzenstellung einnehmen,mit starken Partnern kooperieren können und selber einstarker Partner sein. Unsere nationalen Anstrengungenim Bereich Bildung und Forschung zeigen, daß es unsdamit Ernst ist.Der Haushalt 1999 ist eine solide Ausgangsbasis fürdie vor uns liegenden nationalen und internationalenAufgaben. Er macht unsere Ziele und Prioritäten deut-lich und leistet einen wichtigen Beitrag für eine zu-kunftsorientierte Bildungs- und Forschungspolitik.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Steffen Kampeter.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen!Die politische Bewertung des Etats, den wir heute in er-ster Lesung diskutieren, muß sich zum einen an demorientieren, was die erfolgreiche Regierung Kohl bereitsim Juli 1998 als Etatentwurf vorgelegt hat. Zum anderenmuß sich der Etat an den Ankündigungen im Wahl-kampf und auch in den vergangenen Monaten unter die-ser Bundesregierung messen lassen. Das wird unsereMeßlatte für die Beratung des Etats 1999 sein.
Der Rüttgers-Etatentwurf sah für 1999 einen Zu-wachs in einer Größenordnung von 500 Millionen DMfür Bildung, Forschung und Innovation vor. Der Ge-samtplafond betrug 14,428 Milliarden DM. Die zusätz-lichen Mittel dieses Etatentwurfes sollten in einer Grö-ßenordnung von 250 Millionen DM für Hochschul- undStudienbelange, in einer Größenordnung von 175 Mil-lionen DM für High-Tech und Innovation und in einerGrößenordnung von 75 Millionen DM für beruflicheBildung und Mittelstand verwendet werden.Der heute vorgelegte Plafondentwurf von Frau Bul-mahn hat lediglich eine Größenordnung von 15 Milliar-den DM. Wenn man gerechterweise allerdings die Mittelabzieht, die Sie ans Wirtschaftsministerium abgegebenhaben – es ist im übrigen kein Ausweis politischer Stär-ke Ihres Hauses, wenn Ihnen Kompetenzen im Bereichder Luftfahrtforschung weggenommen werden –,
beträgt der Zuwachs gegenüber dem ursprünglichen Re-gierungsentwurf nur noch 400 Millionen DM. Dies an-erkenne ich, es ist ein respektabler Zuwachs. MinisterRüttgers hätte ihn anständig verkauft. Aber in bezug aufIhre Ankündigung einer zusätzlichen Milliarde für Bil-dung und Forschung ist dies eine glatte Zielverfehlung.Das ist der erste Minuspunkt für den Etat, den Sie heutevorgelegt haben.
Es ist weiter politisch wichtig, wie der Bundes-finanzminister mit Ihrer Ankündigung umgeht und IhrenEtat in der mittelfristigen Finanzplanung ausstattet. Da-zu haben Sie heute relativ wenig gesagt. Werden diefinanziellen Versprechungen der Regierung auch in denkommenden Etats eingehalten? Alles, was Sie bisher da-zu gesagt haben, Frau Bulmahn, war der Verweis aufden Beschluß für den Etat 2000 und die mittelfristigeFinanzplanung im Juli, wenn weitere Wahlen wie zumBeispiel in Bremen und die Europawahl abgeschlossensind. Wird es dann die nach Ihrer eigenen Berechnungzusätzlich notwendigen rund 1,5 Milliarden DM für Siegeben? Wie werden Sie nach dem Familienurteil desBundesministerin Edelgard Bulmahn
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Bundesverfassungsgerichtes die Etatenge, die auch HerrLafontaine heute nicht hat ausräumen können, für Bil-dung und Forschung verkraften? Wie wird der Konfliktzwischen zusätzlichem Kindergeld und Zukunftsinvesti-tionen ausgehen? Das ist die Meßlatte, an Hand dererwir Sie in den nächsten Monaten bewerten werden.
Es ist auch eine politisch interessante Frage, die hierim Hause erörtert werden muß, was nämlich nach IhrerAnkündigung der Verdoppelung der Ausgaben fürBildung und Forschung denn tatsächlich verdoppeltworden ist. Vorhin saß noch Karl Diller auf der Regie-rungsbank, der in seiner Funktion als haushaltspoliti-scher Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion diesesWahlversprechen der SPD wohl ehrlicherweise relati-viert hat und als nicht finanzierbar dargestellt hat. Siesprechen auch heute nicht von einer Verdoppelung derAusgaben für Bildung und Forschung, sondern relativie-ren das insoweit, als Sie den Investitionsbegriff verwen-den: Investitionen in Bildung und Forschung sollen inden nächsten Jahren verdoppelt werden. Ich habe IhrenStaatssekretär Catenhusen und Ihr Haushaltsreferatmehrfach gebeten, mir einmal aufzuschreiben, welchenInvestitionsbegriff man bei Ihnen hat, damit wir daseinmal überprüfen können. Weder Herr Catenhusennoch Ihr Haus haben diese Frage bis heute beantwortet.Da mag der eine oder andere einmal krank gewesensein. Aber die Opposition sollte man auch nicht künst-lich dumm halten.
Wir werden prüfen, ob Sie denn tatsächlich Verdoppe-lungsabsichten haben.In aktuellen Presseveröffentlichungen sprechen Sieneuerdings nicht mehr von Verdoppelung, sondern von5 Milliarden DM zusätzlich. Das ist zwar keine Verdop-pelung, aber immerhin ein Aufwuchs um ein Drittel, derrespektabel ist. Ich glaube allerdings nicht, daß Sie ihnerreichen werden. Das wäre dann eine Lüge über dieSteigerung von Bildungs- und Forschungsausgaben; siewerden wir in diesem Haus geißeln.
Ich will auch an dieser Stelle gerade in bezug auf dievon Ihnen dargelegten neuen Programmansätze kritisie-ren, daß die unverantwortlich späte Vorlage diesesHaushaltes gerade im Einzelplan 30 wahrscheinlich zuerheblichen Verwerfungen führen wird. Während derRüttgers-Etat Anfang 1999 in Kraft getreten wäre, wirddieser Etat nach den bisherigen Planungen erst Mitte desJahres in Kraft treten. Das hat natürlich für neue Pro-jekte und Programme, die Sie übernommen und derenZahl Sie teilweise noch gesteigert haben, die Auswir-kung, daß die Mittel nicht mehr abfließen werden. WennSie heute ankündigen, man müsse Soll mit Soll verglei-chen, dann erwidere ich: Das Ausgabensoll in IhremHaushalt ist nur ein Potemkinsches Dorf, weil Sie nurein halbes Jahr Zeit haben, um die eigentlich für zwölfMonate vorgesehenen Ausgaben abfließen zu lassen. Ichstelle die Behauptung auf, daß vieles von dem, was Sie,Frau Bulmahn, großzügig in Ihrer Rechnung als Zu-wachs für Bildung und Forschung ausweisen, nichts an-deres als Spielmaterial für die Deckung der Haushalts-lücken von Herrn Lafontaine am Ende dieses Jahres ist.Darauf werden wir Sie sehr konkret hinweisen. DieMittel können gar nicht innerhalb von sechs Monatensinnvoll und ordnungsgemäß abfließen, wie Sie dasheute vorgetragen haben.
Ich will aber auch nicht verschweigen, daß bei ge-nauer Durchsicht dieses Haushaltes offensichtlich wird,daß viele Teile in ihrer Akzentsetzung dem entsprechen,was die Bundesregierung Kohl dem Parlament vorgelegthat. Daraus ziehe ich drei Schlußfolgerungen.Erstens. So falsch kann unsere Politik entgegen Ihrenkritischen Haushaltsreden gar nicht gewesen sein, wennSie große Teile unseres Etatentwurfes übernehmen.Zweitens. Dann kann auch Ihre Ankündigung, FrauMinister, nicht stimmen, wonach es mit der Bildungs-und Forschungspolitik erst jetzt richtig losgeht, wennSie gedanklich und finanziell Anleihen bei Jürgen Rütt-gers machen.Drittens – auch das muß klar sein –: Wir können auchnicht alles von dem ablehnen, was Sie heute vorschla-gen, weil vieles mit dem übereinstimmt, was wir bereitsin den vergangenen Jahren eingeleitet haben.Deswegen begrüße ich es ausdrücklich – es entsprichtauch meinem Engagement als Haushaltsberichterstatter –,daß Sie DFG, MPG und FhG erstmals in einem Regie-rungsentwurf gleich behandeln. Ich begrüße weiterhin,daß Sie die Idee der Leitprojekte, die von Jürgen Rütt-gers eingeführt worden ist, fortentwickeln, daß Sie dieStrategie- und damit auch die Wettbewerbsüberlegungenin bezug auf die deutsche Forschungslandschaft, dienicht ganz ohne Kritik auch bei den Betroffenen geblie-ben sind, weiter unterstützen, daß Sie einen Akzent beiden überbetrieblichen Ausbildungsstätten des Hand-werks setzen, daß Sie eine überproportionale Steigerungder Projektförderung, die auch im Rüttgers-Entwurfdreimal so stark zugenommen hat wie die institutionelleFörderung, vornehmen.
Auch daß Sie in gleicher Größenordnung wie im Rütt-gers-Entwurf Mittel für die neuen Länder ausgeben,kann von uns eigentlich nur begrüßt werden. Wir sagenIhnen, Frau Minister: Sie haben recht, wenn Sie unszitieren und wenn Sie unsere Politik fortsetzen.
Trotzdem will ich zwei Bereiche nennen, bei denenich glaube, daß dieser Etat auf einige politische Schwie-rigkeiten treffen wird. Das ist zum einen der Hoch-Steffen Kampeter
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1456 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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schulbereich, und das ist zum anderen die Weltraum-forschung. Sie scheinen sich als finanzielle Ankündi-gungsministerin zu verstehen; Sie haben auch eine großeBAföG-Novelle angekündigt. Wenn wir sie verabschie-det hätten, wäre es für Sie dann eine unzureichende Mi-ni-Novelle des BAföG gewesen. Der von Ihnen verspro-chene und von den Studenten erwartete große Wurf istdas nicht. Ihre etwas vagen Äußerungen über die „großeStrukturreform“ zum Ende des Jahres 1999 lassen michbefürchten, daß innerhalb der Bundesregierung nochnicht klar ist, wer diese BAföG-Novelle schreibt – Sieoder der Bundesfinanzminister. Denn auch in den Län-dern ist die Frage völlig umstritten, ob die von Ihnen an-gekündigte BAföG-Novelle kostenneutral oder mit zu-sätzlichen Ausgaben für die Bundesländer und für denBund zu erfolgen hat. Die Anwort auf diese Frage sindSie, Frau Ministerin, heute schuldig geblieben. In bezugauf das BAföG sind Sie das, was Sie Ihrem Vorgängergerne vorgeworfen haben: eine reine Ankündigungsmi-nisterin.Ich will an dieser Stelle auch darauf hinweisen, daßIhre BAföG-Pläne auch in der eigenen Partei nicht ganzunumstritten sind. So haben der Ihnen nicht ganz unbe-kannte niedersächsische SPD-Fraktionsvorsitzende, Ga-briel, und der niedersächsische Wissenschaftsminister –Sie sollten die beiden deswegen gut kennen, weil SieVorsitzende der niedersächsischen SPD sind und dieLandesregierung in Niedersachsen von Ihrer Partei ge-tragen wird – vor kurzem festgestellt, daß es im Hin-blick auf die Studienfinanzierung eine Illusion sei, aufsprudelnde Steuerquellen zu spekulieren, und daraufhingewiesen, daß die meisten Studenten sowieso ausFamilien der oberen Mittelschicht kämen, denen Stu-diengebühren zuzumuten seien. Assistiert werden sievon der Hans-Böckler-Stiftung, die Studiengebühren fürrichtig und notwendig hält.Ich kann Ihre Ablehnung von Studiengebühren, dieSie gebetsmühlenartig wiederholen, deswegen nichtmehr ganz nachvollziehen. Ihr erster Rückzug ist aber,so glaube ich, erfolgt, indem Sie gesagt haben, daß Siesich für ein Zweitstudium durchaus Studiengebührenvorstellen könnten. Das läßt uns für die weiteren Dis-kussionen noch einiges vermuten.Ich bin auch etwas in Zweifel, ob die KategorisierungIhrer Politik als eine „linke SPD-Politik“ ganz zutref-fend ist. Zumindest in Zweifel ist auch die „Tageszei-tung“, die vor einigen Wochen in Kommentierung Ihrerersten Amtsinhalte zum Thema BAföG geschrieben hat:Im nächsten Jahr will sie als ersten Schritt der No-velle die Elternfreibeträge anheben. Nicht eben ra-dikal, die Idee. Radikalen Vorschlägen, etwa dereiner komplett elternunabhängigen Förderung füralle Studierenden, wird sie dabei ohnehin nicht fol-gen. „Ich bin nicht der Meinung, daß man allen Ju-gendlichen eine existenzsichernde Förderung durchden Staat anbieten kann“, bemerkt Bulmahn. Ihrenlinken studentischen Bündnispartnern aus der Op-positionszeit wird das Lachen vergehen.Die „Zeit“ kommentiert „Wechsel ohne Verände-rung“ und wirft Ihnen vor, daß Sie vor den notwendigenReformen zurückschrecken. Also: Wir werden uns auchbeim BAföG bei Ihnen noch auf einiges einstellen müs-sen. Solide ist das, was Sie hier vorgetragen haben, kei-nesfalls.
In großer Sorge bin ich bezüglich dessen, was Siezum Bereich Weltraumforschung vorgetragen haben.Im Haushaltsausschuß bestand in den vergangenen Jah-ren zwischen den beiden großen Volksparteien – zumin-dest zwischen dem Kollegen Schanz und mir – großeÜbereinstimmung, daß die bemannte und unbemannteWeltraumforschung ein Schwerpunkt auch unserer Poli-tik sein sollte. Sie werden in den nächsten Wochen, inVorbereitung der ESA-Ministerratskonferenz, als Rats-präsidentin nicht ganz ohne Verantwortung sein, was diezukünftigen Entscheidungen über die bemannte Raum-fahrt, aber auch über die Erweiterung des Ariane-5-Projektes angeht. Sie stehen da nicht nur in einer ideolo-gischen Verantwortung, sondern in einer gesamteuropäi-schen Verantwortung. Denn beispielsweise das Projektder europäischen Raumstation hat nicht nur einen reinforschungspolitischen Aspekt, sondern ist darüber hin-aus ganz, ganz wichtig für die Einbindung von Russenund Amerikanern und somit ein Projekt politischer Ko-operation. Wir werden Sie daran erinnern, daß Sie hiereine besondere Verantwortung haben.Abschließend will ich aus der „Woche“ zitieren. Ei-ner Ihrer innerparteilichen Gegner wird dort mit folgen-den Einschätzungen zitiert:Mit ihrem Hang, neue Institutionen wie eine Bun-desethikkommission und „ständig neue Räte“ zufordern, etwa einen Bundesbildungsrat, verschanzesich Edelgard Bulmahn „hinter zusätzlichen Auto-ritäten“, kritisiert ein SPD-Abgeordneter. Ihr Ar-beitsstil zeige „wenig Souveränität im Diskurs“, siemonopolisiere Wissen und Macht, ziehe „alles insich hinein“ und habe mit diesem Führungsstil inder Arbeitsgruppe der Fraktion einst „großes Mur-ren“ hervorgerufen. Hinzu kommen die Marotteneiner Oberlehrerin: Sie mag den Besucher, der sei-nen Fragenkatalog in der eingeräumten Zeit abge-arbeitet hat, nicht entlassen, bevor sie ihm nicht inden Block diktiert hat, was ihr sonst noch wichtigist – und wonach nicht gefragt wurde ...
Frau Ministerin, das ist ein mieser innerparteilicher Um-gangsstil. Den werden Sie von uns nicht erwarten.
Wir werden Ihren Etat nach sachlichen, anständigenKriterien prüfen, Sie da kritisieren, wo es notwendig ist,Verbesserungsvorschläge machen, wo es notwendig ist,und Sie da unterstützen, wo Sie eine richtige Politik ma-chen. In diesem Sinne werden wir den Etat 1999 IhresHauses beraten.Danke schön.
Steffen Kampeter
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Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Peter Eckardt.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mit SteffenKampeter schon seit sieben oder acht Jahren Erfahrung.Ich finde es nicht in Ordnung, daß man in einer Bil-dungsdebatte eine Ministerin persönlich so angreift.
Wir bemühen uns alle um Bildung und haben alle guteMotive. Ich denke, es geht um Argumente und nichtdarum, jemanden persönlich so zu attackieren. Ich glau-be, Herr Kampeter, Sie können ganz sicher sein: DieFraktion der Sozialdemokraten wird sich dafür einsetzenund auch durchsetzen, daß es neben der Vorschaltrege-lung für das BAföG eine umfassende BAföG-Regelunggibt.
Die Fraktion der Sozialdemokraten wird auch dafür ga-rantieren, daß es auf Bundesebene und da, wo der Bundes beeinflussen kann, keine Studiengebühren oder irgendetwas ähnliches gibt. Ich denke, die Frau Ministerinkann sich auf diese Position verlassen.
Wir sind in diesem Hause sicher einig, daß Wissen-schaft und Forschung, Universitäten und Hochschuleneinen wichtigen, unverzichtbaren Beitrag für Kultur,Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung unseresLandes leisten. Wir sind uns aber, glaube ich, aucheinig, daß der Beitrag der deutschen Hochschulen imWettbewerb mit anderen Gesellschaften und Kulturen,in der Konkurrenz der Technologien und auch in derKonkurrenz der Märkte noch steigen wird. Wir sind unsaber vermutlich – Herr Kampeter, ich bin schon fastganz sicher – nicht einig, wenn ich feststelle, daß dieHochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutsch-land in den letzten Jahrzehnten hoffnungslos unterfinan-ziert waren und daß der drohende Verlust internationalerReputation zum Teil auf diese Unterfinanzierung zu-rückzuführen ist.
Ich kann zu diesem Thema aus Erfahrung sprechen.Ich habe in den letzten Jahren an einer deutschen Uni-versität gelehrt und geforscht. Es ist keine Übertreibung,wenn ich feststelle: Die deutschen Hochschulen sind seitden 70er Jahren in einem Zerfallsprozeß. Ich will dasLob an Herrn Möllemann ruhig weitergeben: Nach Ih-nen war nicht mehr viel. Meine Tochter hätte nie inAmerika studieren können, wenn es nicht Ihr Hoch-schulsonderprogramm gegeben hätte. Das muß ich per-sönlich festhalten. Aber dabei bleibt es dann auch.
– Es gibt manche persönliche Beziehung. Man muß an-dere auch loben. Das ist in Ordnung.Die Ansprüche von Gesellschaft und Politik an dieHochschulen, seit 20 Jahren die studentische Überlast zubewältigen, haben nicht nachgelassen. Vielmehr habensich die wirtschaftlichen und sozialen Ansprüche an dieUniversitäten und Fachhochschulen erhöht. Die Globali-sierung der Märkte und Kulturen, die ökonomischen undtechnologischen Herausforderungen stellen die Hoch-schulen vor neue Aufgaben.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion unter-stützt die neue Bildungspolitik der Regierung, jetzt end-lich und hoffentlich nicht zu spät mit dieser Unterfinan-zierung Schluß zu machen und den Hochschulen und ih-ren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wieder Mut zumachen, auch finanziellen Mut: Über 6 Prozent Steige-rung des Bundeshaushalts 1999, eine erhebliche Mittel-verbesserung im Hochschulbau, in der wissenschaftli-chen Nachwuchsförderung, im Bereich BAföG, für deninternationalen Austausch von Studierenden und Hoch-schullehrern, die Frauenförderung und der hochschul-politische Beginn neuer Initiativen und Programme, be-sonders auch in den neuen Ländern im Bereich der In-novationen. Die Fraktion der Sozialdemokraten unter-stützt die Regierung in diesen Aktivitäten. Ich denke,wir geben den Hochschulen damit wieder eine Perspek-tive, sich mit neuer Motivation und innovativen An-strengungen den neuen hochschulpolitischen Aufgabenzu stellen.Natürlich kann von heute auf morgen nicht allesfinanziert werden, was in den letzten Jahren vernachläs-sigt wurde. Wenn Sie die Hochschulbaufinanzierung desletzten Jahrzehnts betrachten, wenn Sie an das zum Teilmarode Mobiliar in den Universitäten, die abgeschriebe-nen Gebäude, die altertümliche Technik denken, mit dermoderne Lehre angeblich eingefordert wird, können Sieverstehen, warum viele Kolleginnen und Kollegen anden Hochschulen auf die Politik der neuen Regierungsetzen.Keine Mißverständnisse, bitte! Nicht nur mein armesBundesland im Norden der Republik ist von der jahre-langen Unterfinanzierung betroffen.
– Ich weiß, ich weiß. Die sind manchmal auch nicht bes-ser.
Schauen Sie sich die Internetseiten der Universität Tü-bingen an, auf der die Hochschulleitung gerade in diesenTagen öffentlich und unverfroren klagt, mit welchenKürzungen seitens der Stuttgarter Landesregierung –Baden-Württemberg ist nachgewiesenermaßen kein ar-mes Land – sie sich herumschlagen muß. Lesen Sienach, welche Folgen die Kolleginnen und Kollegen fürdie Wissenschaft in Deutschland sehen, wenn sich dieKürzungen seitens des Landes so weiterentwickeln!Nun sind Finanzen in der Wissenschaft nicht alles.Ich weiß das. Die notwendigen Reformen der Univer-sitäten müssen aus den Universitäten selbst kommen.Sie können weder mit der Drohung, den Geldhahn zuzu-
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drehen, erzwungen werden, noch hilft ein üppiger Geld-segen.Wenn aber die im Interesse der Beschäftigten not-wendigen Reformen unserer Hochschulen im Manage-mentwettbewerb qualitativ hochwertiger Lehrer und in-ternational anerkannter Forscher nicht bald verwirklichtwerden, wird auch eine Debatte über die Finanzierungder Hochschulen insgesamt beginnen. Wir werden denWeg der weiteren Privatisierung der akademischen Aus-bildung für ausgewählte Kinder ausgewählter Elternnicht mehr sperren können.Der Bundeshaushalt 1999 ist nach Meinung meinerFraktion der Beginn der Stabilisierung der öffentlichenVerantwortung für Wissenschaft und Forschung und dieUmkehr von dem bisher eingeschlagenen Weg. Über1 Milliarde DM an Steigerung im Bildungshaushalt sindschon viel Geld für die Zukunftsinvestitionen Bildungund Wissenschaft in diesem Land.Ich habe heute morgen gehört, daß Herr Rexrodt die-se Zahl heruntergerechnet hat, sie aber immer noch fürrespektabel hält, um dann zu sagen, daß die Ankündi-gung, die Bildungsinvestitionen in vier Jahren zu ver-doppeln, eine Mogelpackung sei. Fünf Monate sind ver-gangen. Auch Herr Kampeter hat für die Oppositionwiederholt, daß im Jahre 2002 ein politisches Ziel nichterreicht werden kann. Er weiß es offensichtlich schonheute.
– Ja, ich weiß. – Die Sozialdemokraten werden qualita-tiv alles versuchen, Bildung und Wissenschaft weiterverstärkt zu fördern und wissenschaftliche Prioritäten zusetzen.Wenn man selbst studiert und einen gehobenen Platzin der Gesellschaft erreicht hat – gestatten Sie mir diesals letzten Satz –, die nachfolgende Generation mit Stu-diengebühren zu belegen, halte ich im übrigen nicht nursozialpolitisch, sondern auch moralisch für verfehlt.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen W. Möllemann.
Liebe Kolleginnenund Kollegen! Als ich heute morgen den Bundesfinanz-minister hier stehen sah und reden hörte,
da merkte man ihm so richtiggehend an, wie er ein paarMonate zurückblendete und sich noch als Parteivorsit-zender auf Wahlkundgebungen sprechen sah. Er standhier und bat geradezu flehentlich um Verständnis dafür,daß man nicht alles, was man vor Wahlen verspreche,denn auch nach den Wahlen halten könne, das sei dochalles so schwer.Meine Damen und Herren von der SPD, Sie wissendoch: Sie haben mit einem Wahlversprechen die Wahlgewonnen und dieses Versprechen gebrochen. Sie habenden Wählerinnen und Wählern, den Jungwählerinnenund Jungwählern an den Hochschulen, den Hochschul-lehrern versprochen, zunächst, wie Sie gesagt haben, dieAusgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung inder kommenden Legislaturperiode, wenn sie denn dieWahl gewönnen, zu verdoppeln. Mit immer größeremHerannahen des Wahltermins haben Sie dann gesagt:Die Zukunftsinvestitionen im Bildungsbereich werden inden vier Jahren verdoppelt.
Einmal abgesehen davon, daß es wirklich schwierigist, zwischen auf die Zukunft gerichteten Investitionenim Bildungsbereich und solchen, die auf die Vergangen-heit, die Jetztzeit oder was auch immer gerichtet sind, zuunterscheiden, ist es doch ein interessanter Sachverhalt:Sie selber stellen hier dar, sie steigern den Haushalt undauch die von Ihnen selbst auf den Zukunftsbereich be-zogenen Aufwendungen um 6,4 Prozent.Sie dürfen sich nicht wundern – und Sie würden esdoch andersherum genauso machen –, daß wir nach-rechnen und Sie fragen: Wie ist das, wenn man vor denWahlen von 100 Prozent in vier Jahren, 25 Prozent proJahr spricht, und dann kommen Sie mit 6 Prozent daher?Das ist der Bruch eines Versprechens. Sie haben dieWähler getäuscht und damit Stimmen ermogelt. Deswe-gen will heute keiner mehr zugeben, daß er Sie gewählthat. Das ist doch der Punkt. Die Leute merken es. Sietreffen doch auf der Straße keinen mehr, der sagt: Ichhabe diese Regierung gewählt. Das ist der Hintergrund.
– Nein, das hat mit Karnevalsveranstaltungen nichts zutun. Sie müssen sich daran messen lassen, was Sie vorder Wahl gesagt haben. Die jungen Leute in den Hoch-schulen haben doch offenkundig geglaubt, daß Sie es someinen würden. Daß es schwer ist, die Aufwendungenfür Bildung und Wissenschaft zu Lasten anderer so zusteigern, daß sie verdoppelt werden, das mußten Sievorher wissen. Niemand von Ihnen, weder Ihr Kanzler-kandidat noch Ihr Parteivorsitzender und heutigerFinanzminister, war ohne Regierungserfahrung. Siewußten doch, daß man Aufwendungen, die man zusätz-lich in die Bildung stecken will, woanders wegnehmenbzw. über höhere Steuern oder über höhere Verschul-dung generieren muß. Kommen Sie deswegen nicht mitder Ausrede, Sie hätten nicht gewußt, wie schwer dassei! Es ist festzuhalten: Sie haben die Leute belogen.
– Nein, es ist so. Sie haben mit dieser UnredlichkeitStimmen gewonnen und lassen sich das jetzt ungernvorhalten. Es muß Ihnen aber vorgehalten werden.
Dr. Peter Eckardt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1459
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Das ist für sich genommen schon schlimm genug.Schauen wir uns aber einmal die einzelnen Bereiche an.
– Lieber Herr Penner, Sie haben den Nachteil, etwas zuspät gekommen zu sein; denn Sie haben es verpaßt, daßIhre derzeit amtierende Ministerin so liebenswürdig war,zu sagen, nach dem Bildungsminister Möllemann seinichts mehr gekommen. Ich fand die Selbstbezichtigung,die sie vorgenommen hat, übertrieben.
Jedenfalls glaube ich – deswegen ist der Hinweis auchnach der weiteren Einlassung ihres nachfolgenden Kol-legen überflüssig – bewiesen zu haben, daß man dieSteigerung erreichen kann. Sie müssen sich an IhrenVersprechungen messen lassen. Gehen wir die einzelnenBereiche an!BAföG. Sie haben vor den Wahlen erklärt, Sie wür-den – würden Sie denn gewählt – eine grundlegende Re-form der Ausbildungsförderung einbringen; die sei fer-tig. Sie haben ein entsprechendes Gesetz vor der Wahlsogar vorgelegt: das Drei-Körbe-Modell. Was in dreiTeufels Namen hindert Sie eigentlich, jetzt, da Sie dieMehrheit haben, dieses vor der Wahl vorgestellteModell erneut einzubringen? Warum tun Sie das denneigentlich nicht?
Haben Sie es vor der Wahl etwa nach dem Motto einge-bracht, der Wähler möge Ihnen doch das Schicksal er-sparen, es hinterher mit der Mehrheit erneut tun zu müs-sen? Jetzt haben Sie die Mehrheit, und jetzt machen Siees nicht. Sie kommen mit einer „Pipifaxreform“ von 2Prozent Steigerung bzw. 6 Prozent Steigerung beiHöchstförder- und Bedarfssätzen. Meine Damen undHerren, es geht nicht, den jungen Leuten vor der Wahldas Drei-Körbe-Modell zu versprechen, weil zu wenigegefördert würden, und jetzt, da wir als F.D.P. diesenAntrag einbringen, zu sagen, Sie müßten noch lange undgründlich nachdenken. Worüber müssen Sie denn nach-denken? War Ihr Gesetzentwurf vor der Wahl nichtdurchdacht? Das ist nicht in Ordnung.
Hochschulbau. Mit dem Thema habe ich, liebe FrauBulmahn, auch zu tun gehabt. Ich hatte das gleiche Pro-blem, das Sie jetzt haben werden. Da Sie davon wußten,bin ich von dieser Steigerungsrate nicht so sehr beein-druckt. Nach der gesetzlichen Regelung handelt es sichdabei um eine Gemeinschaftsaufgabe: Es fließt nur dieMark an Bundesmitteln ab, die von der ergänzendenMark an Landesmitteln begleitet wird.
Nun habe ich mir gedacht, ich schaue doch einmal beiden Ländern nach, in denen Ihre Partei regiert, und ichsehe – Donnerwetter –, daß bei der SPD die Koordinie-rung nicht funktioniert: Während Sie „Rauf mit denHochschulbaumitteln!“ sagen, gehen die Länder runter.Was ist das denn für eine Vorgehensweise? Das istschon wieder eine Mogelpackung.
Übrigens, Herr Berninger, fangen Sie nicht an zu lä-cheln! Sie sitzen zum Beispiel in Nordrhein-Westfalenmit im Boot.
Kommen wir zum dritten Bereich. Sie sagen, dieAusbildung an den Hochschulen laufe auch deswegennicht gut, weil der wissenschaftliche Nachwuchs nichthinreichend gefördert werde. Der wird aber doch da-durch gefördert, daß man ihm Stellen bietet, um beruf-lich tätig sein zu können. Da schaue ich mir, denke ich,doch einmal die Länder an, in denen die SPD regiert. Ichblicke auf Nordrhein-Westfalen und Gabriele Behler.Selbige Gabriele Behler schlägt dem Parlament vor,2 000 Stellen im Hochschul- und Lehrerbereich zu strei-chen.
Herr Schrader schreibt in der „Westfälischen Rund-schau“ – eine Zeitung, die nicht direkt den Ruf hat, derF.D.P. oder der Union nahezustehen –, nach einer Studieder KMK stehe das rotgrüne Nordrhein-Westfalen beider Hochschullehrer-Studenten-Relation und bei derLehrer-Schüler-Relation an 16. Stelle. In diesem Landstreicht die Ministerin noch einmal 2 000 Stellen.Angesichts dessen kommen Sie uns doch nicht mitsolchen famosen Zahlen! Sie wissen doch ganz genau,daß es nicht nur vom Ablauf – darauf hat der Kollegeschon hingewiesen –, sondern auch von den erforderli-chen kompensatorischen Mitteln her nicht klappen wird.Heute morgen hat Oskar Lafontaine – an einer be-stimmten Stelle hatte ich dafür Verständnis – hier ge-sagt, wir sollten die Debatte redlich führen und die Ar-gumente nicht nach dem Motto austauschen, wer in derOpposition sei, attackiere, und wer an der Regierung sei,entschuldige sich dafür, daß nicht alles so klappt. Da hater nicht so ganz unrecht.
– Nein, ich habe die hier von Ihnen vorgelegten Zahlenan Ihren Ankündigungen gemessen.Im inhaltlichen Bereich sollten uns zwei Themen be-sonders beschäftigen. Es gibt in Deutschland viele In-itiativen zur Förderung von Lernbehinderten. Das istauch gut so. Aber wir haben bei uns – das ist ein wirkli-cher struktureller Mangel – keine Forschungseinrichtun-gen und Verfahren zur Identifizierung und Förderungvon Hochbegabten. Das ist ein großes Problem.
Auf vielen Veranstaltungen, an denen ich wie übri-gens auch Kolleginnen und Kollegen der anderen Par-teien mitwirken konnten, haben wir junge MenschenJürgen W. Möllemann
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getroffen, die manchmal sogar sagten, daß sie darunterlitten, hochbegabt zu sein, und die keinerlei adäquateFörderung erfuhren. Das ist eine Verplemperung vonPotentialen und ein sorgloser Umgang mit Menschen,die wir in besonderer Weise brauchen. Ich rege an, daßwir neben manchem, Frau Bulmahn, was Sie an neuenForschungsschwerpunkten setzen – sie begrüße ich aus-drücklich –, hier gemeinsam einen zusätzlichen Schwer-punkt entwickeln. Da ist nicht genug vorhanden.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifftdie Dienstrechtsregelungen. Es ist so, wie Sie sagen,Frau Bulmahn: Geld ist nicht alles, aber ohne mehr Geldbekommen wir die meisten Probleme nicht geregelt. Mirscheint aber, daß wir sowohl in Schulen als auch inHochschulen, für die wir mehr tun müssen – die Aufga-be der Lehrer und der Hochschullehrer ist immer kom-plizierter geworden, die Anforderungen sind immer grö-ßer geworden –, auf das Phänomen stoßen, daß es einegroße Zahl von Lehrkräften gibt, die mit größtem Enga-gement arbeiten, aber es gibt auch das genaue Gegenteil.Dem werden wir mit dem vorhandenen Beamtenrechtnicht beikommen. Deswegen müssen wir – ich weiß,wie sensibel das Thema in allen Parteien diskutiert wird– den Status der Hochschullehrer und der Lehrer ändern.Es hilft nichts: Wenn wir es beim Beamtenrecht lassen,werden wir eine Leistungsorientierung nicht zustandebringen.
Ich weiß, es gibt bei Ihnen wie auch bei uns skeptischeStimmen. Aber die Erfahrungen lehren uns, daß dieVorzüge einer solchen Reform größer als die mit ihrverbundenen Nachteile sein könnten.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Matthias Berninger.
war ja abzusehen, wie die Debatte heute verläuft. Zumerstenmal nach 16 Jahren Helmut Kohl, auch zum er-stenmal in der Zeitrechnung nach Möllemann
wird in den Bildungsbereich wieder investiert, wirdwieder mehr Geld für einen sehr wichtigen Bereich zurVerfügung gestellt. Was liefert uns die Opposition? Einekleinliche Debatte darüber, was Verdoppelung heißt undwie es mit den Wahlversprechen aussieht.
– Steffen Kampeter, zum Thema Wählertäuschungmöchte ich auf folgendes hinweisen: Ich lasse mir rela-tiv viel vorwerfen, nicht aber das Wahlprogramm derSPD. Das ist nicht meine Baustelle.Aber ich möchte über ein anderes Wahlprogrammreden, nämlich das der F.D.P. Die F.D.P. hat noch mehrversprochen als die Sozialdemokraten und die Grünen,wahrscheinlich soviel, wie wir zusammen versprochenhaben. Nach der Logik Möllemanns hätte die F.D.P. dieJugendpartei schlechthin sein müssen, denn sie hat unterdem Label „Mehr Kohle für Bildung“ 10 Milliarden DMfür diesen Bereich angekündigt. Aber die Wählerinnenund Wähler wußten, daß die F.D.P. die letzte Partei ist,die Wahlversprechen hält.
Die Erfahrung mit den Kürzungen in der Bildungspolitikder letzten Jahre ist gerade den jungen Leuten ziemlichgegenwärtig gewesen.
Wir haben im Bildungsbereich in zwei Punkten zu-gelegt. Ein Bereich ist hier noch nicht so gewürdigtworden, wie es aus meiner Sicht nötig ist. Das Pro-gramm mit 2 Milliarden DM, die wir einer Gruppe vonjungen Leuten zur Verfügung gestellt haben, die amunteren Ende standen, die die eigentlichen Verlierer derÄra Kohl waren, ist, glaube ich, noch einmal eine Er-wähnung wert.Ich will es Ihnen am Beispiel der Stadt Kassel deut-lich machen. Ohne die Wahl im letzten Herbst hätten inKassel 1 400 junge Menschen weniger einen Job. Daswären weitere 1 400 junge Menschen, die ohne eine Per-spektive dastünden; denn nur durch dieses 100 000-Stellen-Programm für junge Menschen, wodurch wirdiese Menschen in Ausbildung und Beschäftigung ge-bracht haben, haben sie überhaupt wieder so etwas wieeine Perspektive.Wenn Sie sich die Leute, die von diesem Programmprofitieren, anschauen, dann merken Sie, daß das nichteine abstrakte Investition in Höhe von 2 Milliarden DMist. Vielmehr ist es sehr gut angelegtes Geld, investiertin die Köpfe von jungen Menschen. Deswegen ist diesesProgramm ein sehr großer Erfolg dieser Regierung undwird ein Auftakt dafür sein, das große Dilemma, das wiram Ausbildungsmarkt haben und das uns die letzteRegierung hinterlassen hat, tatsächlich in den Griff zubekommen.
Nun zu dem Etat von Frau Bulmahn. Wir alle wün-schen uns mehr Investitionen in Bildung und Forschung.Nur, eines gebe ich hier einmal zur Kenntnis: Diese Re-gierung will den Haushalt insgesamt konsolidieren. Siewill auch für junge Generationen sparen und ihnenSpielräume eröffnen. Sie wird aber nicht den Fehler derJürgen W. Möllemann
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alten Regierung wiederholen, die nämlich statt für jungeGenerationen bei denen gespart hat. Deswegen habenwir gesagt: Wir wollen Konsolidierung und trotzdem dieZukunftsausgaben erhöhen.Die Aufgabe dieser Regierung wird es sein, diesenKurs tatsächlich durchzuhalten. Dafür brauchen die Bil-dungspolitiker die Solidarität all derer, die erheblicheKonsolidierungsleistungen erbringen werden. Ich glaubeauch, daß wir diese Solidarität in den Regierungsfrak-tionen haben werden. Das ist ein Unterschied zur altenBundesregierung, der mir sehr wichtig ist.Wir haben eine Menge großer Reformen vor uns. Dasist überhaupt keine Frage. Einige haben direkt mit Bun-desmitteln zu tun, etwa die BAföG-Reform. Es gehörtzur Redlichkeit, hier zu sagen, daß die BAföG-Strukturreform, die wir vorhaben, keineswegs durchdie zusätzlichen Mittel im Bildungsbereich finanziertwerden kann. Das unterscheidet zum Beispiel das The-ma BAföG vom Thema Hochschulbau. Das heißt, fürdie Strukturreform des BAföGs werden wir zusätzlicheRessourcen mobilisieren müssen.Vor diesem Hintergrund ist es nötig, daß sich dieseRegierung bei dieser Frage Zeit läßt. Sie von der Oppo-sition müssen sich entscheiden, was Sie wollen.
Wollen Sie nun die soliden Gesetzentwürfe, die erar-beitet werden, oder wollen Sie, daß wir alles husch,husch machen? Ich finde es richtig, daß die Ministerinsagt: Wir legen Ende 1999 etwas vor. Der Zeitraum istwesentlich kürzer als die 16 Jahre, in denen Sie dasBAföG kaputtgespart haben.
Es wird aber am Ende ein solider Entwurf sein.
Bei diesem Entwurf wird eine Frage von großer Be-deutung sein: Macht man eine BAföG-Strukturreformmit der Gießkanne, Herr Möllemann, oder macht maneine BAföG-Strukturreform, die die finanziellen Rah-menbedingungen in diesem Bundeshaushalt und auch inden Haushalten der Länder ernst nimmt?Ich sage Ihnen das deshalb, weil mir das Thema soam Herzen liegt. Wenn wir mit der Reform scheitern,dann bleibt für eine Menge junger Menschen der Weg indie Hochschule weiterhin verbaut. Dann kann der Bunddas den Ländern vorwerfen oder umgekehrt; aber dashilft den jungen Menschen nicht. Ich sage Ihnen: Wirwerden diese Reform nur dann machen, wenn geradediejenigen, die vom Staat eine Chance bekommen ha-ben, an dieser Reform finanziell beteiligt werden. Dasist im übrigen meine persönliche Kritik und auch dieKritik meiner Partei an dem Drei-Körbe-Modell.Gründe dafür, warum ein Gesetzentwurf nicht einfacheingebracht wird, sind die sachlichen Probleme etwa imFinanzbereich, die rechtlichen Probleme im Bereich desUnterhaltsrechts
und unsere Bedenken, was die Verteilungsgerechtigkeitangeht. Ich will nicht, daß wir staatliche Ressourcen denKindern aus wohlhabenden Familien zur Verfügungstellen und denen aus weniger wohlhabenden Familiendann sagen: Wir haben nichts mehr für euch. Das halteich nicht für sozial gerecht. Deswegen werden wir einegrundsätzlich andere Strukturreform machen als das,was bisher diskutiert wurde.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Möllemann?
Vielen Dank, Herr
Kollege. – Ich habe die Frage: Weshalb sagen Sie, Sie
wollten diesen Gesetzentwurf erst Ende 1999 einbrin-
gen, erst dann sei er gründlich bedacht, sorgfältig be-
rechnet usw., wo doch die SPD präzise das Drei-Körbe-
Modell noch vor der letzten Wahl eingebracht hatte?
War dieses Modell nicht seriös berechnet? Zumindest
die jetzige Ministerin Frau Bulmahn konnte doch ihren
eigenen Gesetzentwurf, den sie uns vor der letzten Wahl
vorgehalten hatte, sofort wieder einbringen. Er wird
doch seriös berechnet gewesen sein.
gen, wie Politik nicht ablaufen kann. Wir haben in der
letzten Legislaturperiode als Opposition dieses Thema
sehr ernsthaft behandelt.
– Auch der Kollege Westerwelle kann dabei ruhig laut
„oh“ rufen. – Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt,
in dem deutlich wurde, wie wir Grüne uns eine BAföG-
Reform vorstellen, und zwar eine, die auch für eine sehr
gerechte Verteilung sorgt. Sie dagegen schaffen es nur,
zwei Seiten zusammenzubringen, die die großangekün-
digte Initiative der F.D.P. sein sollen und auf denen Sie
von der Regierung fordern, tätig zu werden.
Herr KollegeMöllemann, Sie müssen stehen bleiben.
Matthias Berninger
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stellen die Frage, und ich beantworte sie Ihnen.Vor diesem Hintergrund, Herr Kollege Möllemann,habe ich ein Problem mit dem vorliegenden Entwurf,weil in ihm die gesamten rechtlichen Bedenken, dieauch bei den Ländern existieren, noch nicht so, wie ichmir eine seriöse Regierungspolitik vorstelle, behandeltwerden. Vor diesem Hintergrund werden wir uns mitden Sozialdemokraten einigen und eine vernünftige Re-form machen, weil uns dieses Thema am Herzen liegt.Sie können Schaufensteranträge noch und nöcher stel-len: Wir werden diese Reform gründlich machen. Wirwerden uns dabei von Ihnen nicht die Butter vom Brotnehmen lassen.
Das werden Sie mit einem zweiseitigen Entwurf schongar nicht schaffen. – Ich fahre jetzt mit meiner Redefort; deshalb dürfen Sie, Herr Möllemann, sich jetztwieder setzen.Beim Hochschulbau ist in der letzten Legislaturpe-riode etwas gemacht worden, was ich, gelinde gesagt,für skandalös halte. Die einen oder anderen Berechnun-gen treten im Falle eines Regierungswechsels dann dochzutage. Plötzlich sieht man, wie es dem großen LandBayern ergangen ist. Das Land Bayern hat im Hoch-schulbau fast 1,8 Milliarden DM vorfinanziert. Jetzt er-warten Sie, daß unsere Regierung die Mittel, die dasLand vorfinanziert hat, Bayern zurückbezahlt. Dazusage ich Ihnen: Das war eine sehr unseriöse Art undWeise, wie Herr Rüttgers mit den Ressourcen von mor-gen umgegangen ist.
Wir werden die Mittel nicht für bayerische Steinzeit-projekte ausgeben; vielmehr werden wir die Mittel fürden Hochschulbau erhöhen und gerecht verteilen. Wirwerden diese Mittel in die neuen Länder und vor allemin die Modernisierung der Hochschulen stecken undnicht in unsinnige Großtechnologieprojekte. Auch daswird ein Thema in den nächsten Jahren sein. Hier sindwir voll auf der Seite des Bundesrechnungshofes. HerrStoiber muß dann eben selber sehen, wie er das, was ermit dem ehemaligen Bundesminister Rüttgers unlautervereinbart hat, finanziert bekommt.Herr Möllemann, machen Sie sich keine Sorgen. Jahrfür Jahr stand den Ländern mehr Geld für den Hoch-schulbau zur Verfügung, als der Bund gegenfinanzierthat. Insofern werden die Länder auch jetzt mehr Geld indie Hochschulen investieren können. Der Bremser saßimmer in Bonn. Jetzt wird in Bonn von der Ministerindie Bremse gelöst, und wir werden in den nächsten Jah-ren sehr viel Geld in die Modernisierung der Hochschu-len stecken. Ich finde es ein sehr gutes Ergebnis, daßhierfür 2 Milliarden DM vorgesehen sind. Ich glaube,daß das noch nicht das Ende der Fahnenstange für Bun-desinvestitionen in moderne Hochschulen sein wird. Ichwünsche mir jedenfalls noch mehr.Wir haben an dieser Stelle auch über Themen zu re-den, bei denen nicht direkt und in dem Maße Bundes-mittel beansprucht werden können, wie es im Haushaltausweisbar ist. Die Reform der Personalstruktur wirdein wichtiger Punkt sein. Herr Möllemann, ich gebeIhnen recht. Ich glaube auch, daß Länder wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Niedersachsen oderHessen – hier können Sie es jetzt besser machen – aufdem Holzweg sind. Ich gebe Ihnen recht, daß der Wegfalsch ist, wenn die Länder den Personal- und Genera-tionenwechsel verhindern, weil sie die Hochschulen alsSpardose sehen, statt jungen Menschen eine Chance zugeben, insbesondere auch jungen Frauen, um wissen-schaftliche Karrieren zu machen. Wir müssen auch aufder Bundesebene geschlossen darauf hinweisen. Aber andiesen Mißständen können Sie nicht der Regierung dieSchuld geben, weil alle Länder diesen Weg gehen. Wirkönnen das nur gemeinsam beenden.Deshalb wird die Reform der Personalstruktur, dieFrage, wie man modernes Dienstrecht für die Hoch-schulen schaffen kann, wie auch wir in Bonn Rahmen-bedingungen für einen vernünftigen Generationenwech-sel schaffen können, ebenso wichtig wie die Frage derFrauenförderung sein, die bei uns einen ausdrücklichenSchwerpunkt bildet. Es ist gesagt worden, daß unserePolitik eine große Kontinuität zu der von Rüttgers auf-weist. In manchen Bereichen stimmt das, weil es ver-nünftige Programme gab, die aber nichts mit der Persondes Ministers zu tun hatten; denn sie gibt es zum Teilschon viel länger als die ständig wechselnden Ministerin diesem Hause.Es gibt einen Punkt, bei dem wir einen neuen Akzentsetzen wollen und der mir sehr wichtig ist. Wir werdendie Frauenförderung zu einem Schwerpunkt machen.Wir werden Investitionen dafür bereitstellen, damitFrauen die gleichen Chancen an den Hochschulen wieMänner bekommen. Sie haben das bis heute nicht, ob-wohl über die Hälfte der Studienanfänger Frauen sind.An dieser Stelle hätte ich mir zumindest ein lobendesWort von dem Kollegen Kampeter gewünscht, der fürein Lob für Herrn Rüttgers immer offen war. Frauenför-derung ist nicht nur ein rotgrünes Thema, sondern gehtalle in diesem Hause an – Strich drunter.Frau Ministerin, ich gratuliere Ihnen zu diesem Ent-wurf. Wir von seiten der Fraktion der Grünen werdenhinter einer Politik stehen, die in den nächsten Jahrenmehr Geld für Bildung frei macht und mit dem Sparenbei der Bildung und damit bei der Zukunft Schlußmacht.Vielen Dank.
Liebe Kolle-ginnen und Kollegen, aus gegebenem Anlaß möchte ichdarauf hinweisen, daß in diesem Hause die Benutzungvon Handys verboten ist. Das hier ist ein Parlament, undder einzige erlaubte Draht ist derjenige live zum Red-nerpult.Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maritta Böttcher.
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Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Das Versprechen, den Bildungs-und Forschungsetat deutlich zu erhöhen, scheinen Sieeingehalten zu haben. Ich sage „scheinen“, denn – dasmöchte ich wiederholen – zur Haushaltswahrheit gehörtin erster Linie auch Haushaltsklarheit, und die ist in die-sem Haushaltsentwurf nicht durchgängig auszumachen.Meine Aufgabe ist es nicht, hier Würdigungen und Lobezu verteilen. Ich will in aller Kürze einige wenigeSchwerpunkte ansprechen.Mit den neuen Titeln für Friedens- und Konfliktfor-schung, Frauenförderung und Entwicklungskonzepte Ostschaffen Sie im Haushalt zumindest neue Töpfe. Es wirdsich zeigen, ob es Ihnen gelingt, damit auch neue inhalt-liche Akzente zu setzen.Im Rahmen der Frauenförderung sind auch Mittel fürdie Frauenuniversität im Rahmen der Expo 2000 ein-gestellt. Sosehr ich eine Frauenuniversität begrüße, so istdoch Kritik am vorliegenden Konzept angebracht. DieStruktur der Frauenuni entspricht den hierarchischenVorstellungen der Hochschuldebatten der letzten Jahre:Eine starke Hochschulleitung bestimmt; die gruppenge-steuerten Gremien haben, sofern sie überhaupt nochvorhanden sind, wenig zu sagen.Natürlich begrüßen wir die Erhöhung der Mittel fürden Hochschulbau. Es wurde schon deutlich: Trotz derErhöhung reichen die Mittel noch nicht an diejenigenSummen heran, die der Wissenschaftsrat als notwendigbezeichnet hat.Wenn Sie den Hochschulstandort Deutschland wirk-lich verbessern wollen, dann sollten Sie Prioritätensetzen, und zwar an denjenigen Stellen, an denen dieneoliberale Politik am meisten gespart hat. Die Hoch-schulen sind seit vielen Jahren unterfinanziert; nur sokonnte die Debatte um die private Beteiligung an derBildungsfinanzierung Boden gewinnen. Um diesenTrend der Privatisierung von Risiken und Kosten zustoppen, braucht man mehr als kleine Korrekturen. Dasgilt auch für die hier schon angesprochene BAföG-Novelle. Sosehr jede kleine Verbesserung zu begrüßenist, die Erhöhung, die Sie jetzt vornehmen, reicht nichtaus, um den Abbau rückgängig zu machen; sie reichthöchstens aus, um ihn nicht weiter fortzusetzen.Gegenüber den vorläufigen realen Ausgaben 1998steigt der Ansatz für BAföG nur um 101 Millionen DM– nicht, wie es auf den ersten Blick erscheint, um142 Millionen DM. Damit wird die Situation der Studie-renden nur halbherzig verbessert. Von Chancengleich-heit kann mit dieser Steigerung noch keine Rede sein.Die 20. BAföG-Novelle wird in Kürze hier beraten.Ihnen stehen also noch Möglichkeiten offen, wirklicheZeichen für mehr Bildungsbeteiligung und vor allem fürChancengleichheit zu setzen. Ein wichtiges Zeichenwäre die Rücknahme der Verzinsung, die für potentielleStudienanfängerinnen und Studienanfänger eine un-schätzbare Größe ist und vor allem eine abschreckendeWirkung hat.Auch die gesteigerte Förderung von Ausbildungsplät-zen muß man begrüßen. Aber sorgen Sie nicht dafür,daß eine eigentlich unhaltbare Situation, nämlich die,daß sich die Betriebe immer weiter aus der Finanzierungder Ausbildung zurückziehen, fortgesetzt werden kann?Sie könnten die Absicht, eine Umlagefinanzierungnoch in diesem Jahr umzusetzen, wenigstens mit einerErläuterung bekunden. Aber auch an diesem Punkt sindSie nicht zu durchgreifenden Änderungen bereit. EinPolitikwechsel – das habe ich hier schon mehrmals be-tont – ist nur mit einer Umlagefinanzierung zu erreichenund nicht mit Reparaturen in einem unzulänglichen Sy-stem.Vor allem Großbetriebe verabschieden sich immerweiter aus ihrer Pflicht, Ausbildungsplätze zur Verfü-gung zu stellen. Daran ändert auch das 100 000-Stellen-Programm nichts, aber das hilft Gott sei Dank den jun-gen Menschen. Die großen Betriebe nutzen statt dessendie ausgebildeten jungen Menschen aus kleinen undmittleren Unternehmen, die ihrer Ausbildungspflichtnoch nachkommen. Die Umlagefinanzierung ist nichtnur eine Förderung der jungen Generation, sondern vorallem auch der kleinen und mittleren Unternehmen.Ein Zeichen für die Veränderung der Ausbildungwären auch deutliche Erhöhungen im Rahmen der För-dermaßnahmen der allgemeinen und der beruflichenWeiterbildung. Das Sonderprogramm Lehrstellenent-wickler, Qualifizierung von Personal in der beruflichenBildung sowie Regionalverbünde in der Berufsbildungbleibt im Ansatz gleich. Dabei könnten Lehrstellenent-wickler einen sinnvollen Beitrag zur Steigerung der Zahlder beruflichen Ausbildungsplätze leisten. Das Personalin der beruflichen Bildung muß angesichts der ständigwachsenden Anforderungen mit diesen Schritt haltenkönnen und entsprechend qualifiziert werden.Es wurden in diesem Haushalt diverse Titel zwischenden Ressorts umgeschichtet – das ist heute schon gesagtworden. Bei der Bündelung der Titel 30 und 09 bezüg-lich des Ausbildungsprogramms Neue Länder sind 12,4Millionen DM verschwunden. Hier fehlt zum Beispieldie Klarheit, ob diese Summe möglicherweise durch das100 000-Stellen-Programm oder durch andere Mittel, dieirgendwo versteckt sind, ausgeglichen wird. Warum füh-ren Sie eigentlich nicht die gesamte Ausbildungsförde-rung in einem Ressort zusammen? Das würde nicht nurzur besseren Klarheit beitragen, sondern könnte wirklicheinen effektiven Mitteleinsatz zugunsten einer besseren,vor allem inhaltlichen Bildung und eines lebenslangenLernens gewährleisten. Hier könnten Sie ein Signal fürdieses von Ihnen, Frau Bulmahn, auch in Ihrer Antritts-rede angesprochene lebenslange Lernen setzen.Ausbildung – auch im dualen System – ist Teil desLernprozesses und muß auch auf Weiterbildung vorbe-reiten. Mit der halbherzigen Verlagerung der Technolo-giepolitik schaffen Sie nur neue Unübersichtlichkeit,aber noch keine klare Zuordnung. Frau Bulmahn, Siehaben in Ihrer Antrittsrede angekündigt, daß Sie dieGemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern refor-mieren wollen. Ich hoffe, Sie tun das bald, damit hieretwas passiert.Die Misere der Hochschulen hängt nicht allein damitzusammen, daß der Bund die Mittel seit den 80er Jahren
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nicht angemessen steigert. Sie hat auch mit der insge-samt schlechten finanziellen Lage der Länder zu tun.Die Mittel für den Hochschulbau werden den Universi-täten und Fachhochschulen zweifellos helfen. Aber esfehlt auch an Personal und an Gestaltungsmöglichkeiten,weil die Länderhaushalte immer dürftiger werden, auchwegen des bundespolitischen Trends, Gutverdienendenimmer weniger Steuern abzunehmen und die Last denNormalverdienenden und den Schwächsten dieser Ge-sellschaft aufzuhalsen.In der Forschungslandschaft wird durch die im Haus-halt vorgeschlagenen Mittel eigentlich die bisherigePolitiklinie festgeschrieben. Das FuE-Sonderpro-gramm Ost wird trotz des beträchtlichen Mittelumfangsvon 270 Millionen DM mit 10 Millionen DM wenigergefördert als beim Waigelschen Ansatz.Wir erwarten von der Bundesregierung vor allemNachhaltigkeit in der Wissenschafts- und Forschungs-strategie und beim ökologischen Umbau der Gesell-schaft. Wir erwarten aber auch und vor allem – Sie ha-ben das heute wieder angekündigt, Frau Bulmahn – eineVerstärkung der Vorsorgeforschung. Wir erwarten dieWiedergewinnung oder auch Verteidigung der Chancen-gleichheit als wichtigste Voraussetzung für eine zu-kunftsfähige Bildungs- und Wissenschaftsentwicklungin diesem Land.Lassen Sie uns in der zweiten und dritten Lesung alldie kritischen Punkte, die hier heute angesprochen wur-den, entsprechend verbessern und so zu einem Haushaltkommen, der neben der Haushaltsklarheit auch Haus-haltswahrheit darstellt. Dann müssen Sie sich auch nichtvon allen möglichen Menschen vorwerfen lassen, Wahl-betrug begangen zu haben.Danke.
Ich erteile jetzt
das Wort dem Abgeordneten Jörg Tauss.
Auch dieses bleibt Ihnen nichterspart, das ist wahr. – Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! FrauPräsidentin! Wenn ich ein wenig Revue passieren lasse,was aus den Reihen der Opposition im Zusammenhangmit dem Bundeshaushalt 1999 vorgetragen worden ist,dann komme ich zu der Feststellung, daß doch offen-sichtlich große Zufriedenheit herrschen muß. Ihre Kritikhaben Sie im wesentlichen, wenn man von etwas Gemä-kel an dem einen oder anderen Punkt absieht, auf Vor-gänge in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen redu-ziert. Sie sind auf die Länder ausgewichen und auf vieleandere Dinge; über den Bundeshaushalt haben wir rela-tiv wenig gehört. Das können wir zumindest als Zufrie-denheit deuten, wenngleich auch ich Ihnen zugebe, daßin Baden-Württemberg, woher ich komme, an der Hoch-schule Karlsruhe im Bereich der Informatik ein Drittelder wissenschaftlichen Stellen weggenommen wordenist. Wir alle wissen, daß 100 000 Jobs im Bereich der In-formatik nicht besetzt sind. Da, wo die Zukunft liegt,wird gekürzt. Wir sollten uns also hier nicht die Ländervorhalten.Wenn wir in Zukunft wieder einen soliden Bundes-haushalt und entsprechende Einnahmen haben werden –für diese Entwicklung stellt diese Bundesregierung imMoment die Weichen –, dann werden auch die Länderwieder in der Lage sein, ihre Ausgaben vernünftig zuplanen. Diesbezüglich sind wir ebenfalls auf einem gu-ten Wege.
Ich will im übrigen noch einmal daran erinnern, daßdie alte Bundesregierung allein im Bereich des Hoch-schulbaus bei den Ländern mit rund 1 Milliarde DM inder Kreide stand. Ich erwähne diese Tatsache, da Sieüber die Situation der Länder Krokodilstränen vergossenhaben.
Es wurde das Thema BAföG angesprochen. HerrMöllemann droht mit einem Antrag zu diesem Thema.Das ist prima. Ich frage nur an dieser Stelle: Wo wareneigentlich in der letzten Legislaturperiode die Anträgezum BAföG? Lieber Kollege Guttmacher, wir haben Sieoft dazu aufgefordert, und Sie haben – wie jetzt auch –immer nett gelächelt. Wie der Kollege Laermann habenSie immer wieder gesagt: Wir wollen gerne. – Vor derTür haben Sie aber zugegeben: Mit dieser Koalition isteine Reform nicht möglich. – Jetzt sind Sie vom Koali-tionszwang befreit; jetzt stellen Sie Ihre Anträge. Dasfinde ich prima. Vielleicht können wir in einigen Berei-chen zusammen etwas erreichen.Die Frau Präsidentin Vollmer hat sehr viel Energie indas neue Stiftungsrecht gesteckt. Entsprechende Rege-lungen waren mit der alten Koalition nicht möglich.Jetzt höre ich mit Freude, daß die F.D.P. und auch dieCDU/CSU Anträge dazu einbringen wollen. Offensicht-lich hat dieser Regierungswechsel auch auf Sie innova-tiv und befruchtend gewirkt. Machen Sie weiter so, undlegen Sie vernünftige Anträge auf den Tisch! Wir wer-den dann mit Ihnen darüber reden. Das ist der Unter-schied zur alten Regierung.Frau Kollegin Pieper, Seriosität sollten Ihre Vor-schläge schon aufweisen. Die F.D.P. hat ja die Bil-dungspolitik neu entdeckt. Das sage ich, obwohl imMoment nicht viele von Ihnen anwesend sind. Wo istdenn Herr Mittelwelle? Etwas mehr Engagement wür-den wir an dieser Stelle ganz gerne sehen.Die von Ihnen angesprochene Kritik an der Vorge-hensweise zum Drei-Körbe-Modell ist unseriös. Sie wis-sen doch ganz genau, daß wir auf Grund des Urteils desBundesverfassungsgerichts im Bereich des Kindergeldesund der Elternfreibeträge zu Reformen kommen müssen.Weil die sich ergebenden Auswirkungen noch nicht ab-schließend geprüft sind, wäre es aber nach 100 Tagenwirklich nicht zu verantworten – Sie würden das zuMaritta Böttcher
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Recht kritisieren –, wenn wir sagen würden: Wir neh-men das alte Drei-Körbe-Modell und bringen es ohneDiskussion mit den Ländern einfach ein. Meine herzli-che Bitte ist, daß die Opposition diese Forderung nichterhebt, weil Sie genau wissen, daß man beim bestenWillen so nicht vorgehen kann. Wir werden aber in die-sem Bereich Korrekturen vornehmen, die schon längstüberfällig sind. Am Freitag werden wir darüber diskutie-ren können.Zur Dienstrechtsreform. Auch in diesem Zusam-menhang habe ich die herzliche Bitte, die Kirche imDorf zu lassen. Wo gibt es denn in diesem Bereich ent-sprechende Vorlagen von CDU/CSU und F.D.P.? HerrKanther hätte euch in der letzten Legislaturperiode dochetwas gepfiffen, wenn ihr im Innenministerium aufge-taucht wäret und gesagt hättet: Wir machen eine Dienst-rechtsreform. – Sie haben in dieser Frage gekniffen. Wirnehmen uns dieser Aufgabe ruhig und seriös an. Siekönnen sich daran beteiligen. Wir wären sehr froh, wennwir auch aus den Bundesländern von Ihnen den entspre-chenden Rückhalt bekommen würden.Ich will Herrn Möllemann – er hat sich für seine Ab-wesenheit entschuldigt, weil er eine Rede halten muß –einen Tip mit auf den Weg geben. Ich empfehle ihm alsFallschirmspringer: Wenn man keine Luft unter demFallschirm hat, dann sollte man sich zurückhalten, weilman ansonsten hart aufprallt.Wir waren das einzige Industrieland in der Welt – dasmuß man sich einmal vorstellen –, in dem die Ausgabenfür Forschung und Wissenschaft zurückgefahren wur-den, während alle anderen Länder – da brauchen Sienicht den Kopf zu schütteln, Herr Kollege Friedrich –die Ausgaben erhöht haben. Im Juli des letzten Jahreshat uns die amerikanische Regierung mitgeteilt – auchHerr Gingrich, der in der amerikanischen Politik erfreu-licherweise keine Rolle mehr spielt und der jede staatli-che Ausgabe als Übel ansieht, hat sich so geäußert –,daß die Investitionen in Forschung und Bildung inden nächsten acht Jahren verdoppelt werden sollen, unddies angesichts der Tatsache, daß die Ausgaben in denUSA ständig gestiegen sind, während sie bei uns gesenktwurden.Aus diesem Grunde: Wer diesen Bereich zum Stein-bruch gemacht hat, wie Sie es getan haben, wer in die-sem Bereich Zukunftschancen verspielt hat, sollte sichheute etwas mehr zurückhalten. Es war schon aus diesenGründen gut, daß Sie die Wahl verloren haben.
Dieser Skandal alleine wäre ein hinreichender Grund fürIhren Abgang gewesen.
– Ich stelle hier nur Realitäten dar.Jetzt kommen Sie mit dem alten Rüttgers-Etat.
– Ja, der war gut. Wie Herr Rüttgers beim Herrn Waigelimmer rausgekommen ist, Herr Kampeter: einen halbenMeter kürzer, als er ohnehin ist. Selbst die schwärzestenBeamten im Bundesministerium für Bildung und For-schung zünden jeden Morgen eine Kerze an, weil siefroh sind, daß sie den los sind; das will ich Ihnen sagen.
Kein einziger Bildungsminister vor ihm hat sich so we-nig für sein Haus interessiert wie er. Da fragen Sie ein-mal parteiübergreifend nach. Im Grunde sind wir allemiteinander froh. Auch heute ist er nicht da. Ich habegehört, sie wollen Nordrhein-Westfalen mit ihm als neu-em Hoffnungsträger beglücken. Ich wünsche viel Ver-gnügen. Ich hoffe nicht, daß sich Herr Rüttgers mitNordrhein-Westfalen so intensiv auseinandersetzt wiemit Bildung und Forschung. Das hätte dieses Bundes-land nämlich nicht verdient – auch wenn ich mich ausparteipolitischen Gründen darüber freuen könnte, daßSie diese Entscheidung getroffen haben.Jetzt kommen wir zu Herrn Kampeter. Herr Kampe-ter, ihr müßt euch einmal darüber unterhalten, was ihreigentlich wollt. Auf der einen Seite ist hier ein Riesen-gejammer nach dem Motto: Die Investitionen – das ha-ben wir jetzt klargestellt – für Bildung und Forschungsind noch nicht verdoppelt. Jetzt wissen Sie noch nicht,was das Wort „Investitionen“ bedeutet. Ich bitte das Mi-nisterium für Bildung und Forschung, Herrn Kampeterentsprechende Literatur zur Verfügung zu stellen.
Das ist kein Problem. Wir sagen Ihnen selbstverständ-lich, was das Wort „Investitionen“ bedeutet; das istüberhaupt keine Frage. Ich bitte die Ministerin persön-lich darum, dafür zu sorgen.
Es geht nicht, daß Sie hier sagen: Bei einigen Auf-wüchsen könnt ihr die Mittel nicht abfließen lassen, weiles an Projekten fehlt, und parallel dazu beklagen, daßzuwenig Geld in Projekte fließen würde. Jetzt müßt ihreuch darüber unterhalten, was ihr eigentlich wollt.
– Ich weiß gar nicht, warum Sie so aufgeregt sind. War-um sind Sie denn so aufgeregt?Was wir gemacht haben, ist eine Steigerung der Aus-gaben für die Projektförderung – die Ministerin hat dasdargestellt –, die Chancen bietet für neue, innovativeBereiche und übrigens auch für neuen Wettbewerb. DieZahl 13 Prozent ist hier genannt worden. Überall habenwir hier etwas getan. Mein Kollege Eckardt hat dieHochschulen angesprochen. Wir reden nicht über Bil-dung und Forschung, wir halten keine Sonntagsreden,sondern wir handeln.Ein wichtiger Punkt an dieser Stelle sind die neuenBundesländer. Merkwürdigerweise ist von Ihnen daüberhaupt nichts gekommen; die neuen Bundesländerscheinen nicht mehr vorhanden zu sein. Denken wireinmal allein an die Förderung Ost. Daß Sie beide,Jörg Tauss
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1466 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Herr Kollege Guttmacher und Frau Kollegin Pieper –ich meine nicht von der Anwesenheit her, sondern vondem, was heute an diesem Rednerpult vorgetragen wor-den ist –, hier die Fahne hochhalten, will ich Ihnen an-rechnen. Aber die Fahne hochhalten allein genügt nicht.Da muß irgend etwas kommen. Wir halten die Fahnehoch und haben noch einen Geldbeutel dabei. 325 Mil-lionen DM allein im Bereich der neuen Bundesländerhaben wir auf den Weg gebracht. Das ist eine hervorra-gende Geschichte. Alle loben uns dafür; nun lobt unsdoch auch einmal an dieser Stelle!
– Innoregio, Herr Kollege. Ich freue mich, daß er auf-wacht. Im Bereich Innoregio haben wir eine intelligenteVernetzung von Forschungseinrichtungen, von Akteu-ren, von kleinen und mittleren Unternehmen in den neu-en Bundesländern auf den Weg gebracht.
Alle sagen uns dort: Das ist das, worauf wir gewartethaben – warum nicht schon früher? Da kann ich nur sa-gen: Erst jetzt, weil wir jetzt erst an die Regierung ge-kommen sind.
Das ist ein innovativer Ansatz an Stelle klassischerFörderung. Auch das muß an dieser Stelle einmal gesagtwerden.Jetzt zur Raumfahrt, meinem Hobby. Hier sitzen einpaar Kollegen, die sich sehr darum gekümmert haben:Kollege Fischer, Kollege Seidenthal. Gutes Stichwort,Herr Kampeter. Schade, daß Sie nicht länger dabei ge-blieben sind.
Sie wollen uns an unsere Verantwortung erinnern?Das war ein starker Satz. An dieser Stelle, würde ich sa-gen, schweigen Sie besser. Sonst diskutieren wir tat-sächlich einmal ernsthaft über Ihre Verantwortung fürden Haushalt Raumfahrt. Das ist ein Musterbeispiel fürdie Unsolidität, die uns die alte Bundesregierung hin-terlassen hat. Sie haben hier in historischen Stunden ir-gendwelche Verträge unterschrieben. Auch der ehemali-ge Kanzler war kurz da. Da wurde unter dem Blitzlicht-gewitter der Fotografen über Raumstation usw. gespro-chen.
Das sind alles Dinge, über die man diskutieren kann.Nur in der mittelfristigen Finanzplanung, Herr Kolle-ge Kampeter, finden wir zu dem, was Sie unterschriebenhaben, nichts. Das ist die Erbschaft, die Sie uns hinter-lassen haben.
– Stellen Sie doch eine Frage, wenn Sie etwas interes-siert. Ich kann nur noch einmal sagen: Das war unseriös.Herr Kampeter, wo waren Sie, als es darum gegangenist, die Mittel für die Raumfahrt in die mittelfristige Fi-nanzplanung dieses Ministeriums aufzunehmen? Wowaren Sie? Nun mosern Sie rum.Es war nicht sehr fair, Herr Kollege Kampeter, daßSie – ich setze mich mit Ihnen ernsthaft auseinander, esgibt nicht viele bei Ihnen, mit denen man das tun kann;nehmen Sie das positiv auf – die Mittel herausgerechnethaben, die ins Bundesministerium für Wirtschaft flos-sen. Nun kann man das tun, aber es ist nicht seriös; dennauch dort sind die Bereiche, die die anwendungsorien-tierte Forschung betrafen, ebenfalls mit einem Aufwuchsversehen worden.
Schade, daß niemand von Ihnen kürzlich bei der Gue-ricke-Vereinigung war. Die Leute dort haben gejubelt,als Staatssekretär Mosdorf seinen Vortrag gehalten hat.Auch dort gab es Aufwuchs.Es geht aber nicht nur ums Geld. Die alte Bundesre-gierung war von schönen Erklärungen und wenigen Ta-ten geprägt. Wir machen es andersherum. Ein kleinesBeispiel: Herr Rüttgers hat gelegentlich tolle Reden ge-halten. Er sprach von der Verfügbarkeit von aktuellenwissenschaftlichen und technischen Grundinformationenin einer entstehenden Informationsgesellschaft. TolleReden, aber was haben wir vorgefunden? Wo sind bei-spielsweise die Konzepte, die wir in der entstehendenInformationsgesellschaft, in der Wissen zu einem Pro-duktionsfaktor wird, tatsächlich umsetzen können? Es istein stupides Privatisierungsprogramm beispielsweise imBereich der Fachinformationszentren und der wissen-schaftlichen Datenbanken übriggeblieben.Sie haben die Hochschulen noch nicht einmal in dieDiskussion einbezogen und nachgefragt, welche Infor-mationen sie künftig brauchen und welche nicht. Auchhier gab es keine Konzepte. Hier geht es nicht um mehrGeld, hier geht es darum, neue Wege zu beschreiten.Genauso werden neue Wege in einer neuen Kulturder Zusammenarbeit zwischen Forschungspolitik undanderen Ressorts beschritten. Dazu hat die Ministerinauch heute wichtige Signale ausgesandt. Ich denke anden Bereich der Gesundheit. Wer jemals – ich meine eswirklich ernst – an einer Schmerzkonferenz – ich meinekeine Schmerzkonferenz hier im Saal, bei der ich mirgelegentlich Ihre Reden anhören mußte – teilgenommenhat, auf der Ärzte, Mediziner und betroffene Patientin-nen und Patienten anwesend waren, weiß, auf was ichhinauswill.
– Nein, meine Rede verursacht keine Schmerzen, son-dern Freude auf Ihrer Seite.In diesem Bereich der Schmerzforschung wartenMenschen darauf, daß sich etwas tut. Hier wird die neueBundesregierung einen ihrer Schwerpunkte setzen. Dar-über freuen sich die Menschen. Freuen Sie sich mit uns!Jörg Tauss
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Das gilt auch für andere Bereiche, beispielsweise denVerkehr, die Umwelt und die Nachhaltigkeit. Ich sehemeine Kollegin Ulrike Burchardt, die dieses zentraleThema über Jahre hinweg bearbeitet hat und von IhrerSeite nicht gehört worden ist. Die Kollegin Burchardtweiß mit allen anderen: Die Nachhaltigkeit bedarf weite-rer Untermauerung. Das werden wir tun.
Ich habe noch eine Minute Redezeit und will zusam-menfassen.
Alle freuen sich, der Kanzler freut sich, die Ministerinfreut sich, und der Finanzminister freut sich. Beide ha-ben sich geeinigt. Sie haben es nie geschafft, daß sichdie Finanzminister mit den Bildungsministern geeinigthaben. Alle Forschungseinrichtungen freuen sich. DasMax-Planck-Institut und das Fraunhofer-Institut freuensich ebenso wie die Hochschulen. Verflixt noch mal,liebe Opposition: Freuen Sie sich doch auch einmal mituns! Machen Sie konstruktiv mit! Bildung und For-schung haben in diesem Land wieder einen Stellenwert.Das ist das Signal, das vom Haushalt 1999 ausgeht.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Gerhard Friedrich,
CDU/CSU, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beider Rede des Kollegen Tauss, vor allem bei derenSchluß, hatte ich den Eindruck, daß in Baden-Württemberg der Fasching verlängert wurde.
Sie tragen viel zu unserer Unterhaltung bei. Insofern lie-ben wir Sie, aber nur Sie persönlich, nicht das, was Siesagen. Wir schätzen Sie nur als Person.Meine Damen und Herren, obwohl es manchmal indiesem Bundestag üblich ist, bin ich nicht bereit, künst-lich Gegensätze herbeizureden.
Wenn ich mich recht erinnere, habe ich schon in der De-batte über die Regierungserklärung gesagt, daß sichnach dem damals Bekannten in der Forschungspolitik,weniger in der Bildungspolitik, viele Gemeinsamkeitenabzeichnen. Ich bin auch nicht bereit, das heute mit Ge-walt zurückzunehmen. Was so ist, ist so. Wir habendoch gemeinsame Überzeugungen. Wir wissen: Wennwir uns auf dem Weltmarkt behaupten wollen, dann istInnovation durch Forschung und Entwicklung aufjeden Fall genauso wichtig wie eine Kostensenkung.Sie sollten allerdings nicht den Eindruck erwecken,als ob Sie nach der Vereidigung des neuen Bundeskabi-netts eine Forschungslandschaft hinterlassen bekamen,die in tiefes Elend versunken war. Die Bildungs- undForschungsministerin Bulmahn hat ja den neuesten Be-richt zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutsch-lands erwähnt. Wir haben in der Presse von Untersu-chungen des Stifterverbandes für die Deutsche Wissen-schaft gelesen. Es ist doch wirklich erfreulich, zu sehen,welche Zahlen da für 1997 und 1998 bekanntgegebenwurden. Das sollten auch Sie anerkennen. Die Ausgabender Unternehmen für Forschung und Entwicklung sindin diesen beiden Jahren erstmals wieder kräftig gestie-gen. Frau Ministerin Bulmahn hat angesprochen, daß derAnteil der FuE-Ausgaben am Bruttosozialprodukt jah-relang abgesunken ist. Wir liegen jetzt wieder bei 2,4Prozent, haben also eine Trendwende erreicht.Wir behaupten bei den höherwertigen TechnologienWeltmarktanteile von 18 Prozent. Die Sachverständigenbestätigen uns, daß wir bei den Spitzentechnologienaufholen und dort inzwischen Welthandelsanteile von11,5 Prozent haben. Die Sachverständigen sind sich ins-besondere einig, daß wir im Bereich der Biotechnologienachgewiesen haben, daß wir mit nicht viel Geld, abermit einem konzentrierten Einsatz von Geld, verbundenmit Deregulierung, in der Lage sind, ganz gewaltig auf-zuholen.
Freuen Sie sich als neue Regierung doch, daß Sie undauch die Ministerin in ihren Presseerklärungen Zahlenverkünden können, die nicht nur erfreulich sind, sonderneigentlich in die Schlußbilanz des früheren Bundesfor-schungsministers Rüttgers gehören.Zu diesen erfreulichen Zahlen gehört übrigens auch,daß zum Stichtag 30. September letzten Jahres 4,4 Pro-zent mehr Ausbildungsverträge abgeschlossen wurden.Ich freue mich, daß die Rufe von Frau Ministerin Bul-mahn nach einer Umlagefinanzierung in der betriebli-chen Ausbildung immer leiser geworden sind. Inzwi-schen hört man sie überhaupt nicht mehr. Das ist etwasPositives. Wir haben uns von dieser Bürokratie nie et-was versprochen.
Ich würde mich freuen – das wurde von einem Kolle-gen schon angesprochen –, wenn das 100 000-Plätze-Programm für Jugendliche ein Erfolg wäre. Ich habeda noch Zweifel. Ich habe in der letzten Woche anläß-lich einer Veranstaltung bei mir im Wahlkreis mit demLeiter des Arbeitsamtes von Nürnberg gesprochen. Erhat gesagt, sie hätten über 4 000 arbeitslose Jugendlicheunter 25 Jahren angesprochen und nicht einmal 400 sei-en bereit gewesen, sich in solche Maßnahmen hineinzu-begeben.
– Das will ich Ihnen nicht vorwerfen. Aber das müssenwir beobachten und analysieren.Wir müssen ganz nüchtern feststellen: Nicht jeder istausbildungsfähig, und nicht jeder ist ausbildungsbereit.Aber die Probleme, die früher bestanden, haben Sie im-mer uns angelastet. Wir haben also durchaus ein positi-Jörg Tauss
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1468 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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ves Interesse an Ihrer neuen Maßnahme und loben diesegrundsätzlich. Aber wir warten ab, was wirklich dabeiherauskommt.Nach dem bisher Gesagten ist es natürlich ein richti-ges Signal, wenn die Bundesregierung im Einzelplan 30die Ausgaben für Bildung und Forschung um etwa900 Millionen DM erhöht. Das ist erfreulich. Ich mußwiederholen – dafür gibt es einen Grund –, daß dies ge-genüber dem Waigel-Rüttgers-Entwurf für das Jahr1999 nur ein Plus von 400 Millionen DM ist.Ich stelle, wenn ich mir die Haushaltsabschlußzahlendes letzten Jahres ansehe, fest, daß sich die Ausgabenund die Einnahmen des Bundes positiv entwickelt ha-ben. Es wird weniger Geld für die Bundesanstalt für Ar-beit ausgegeben, und es sind höhere Steuereinnahmen zuerwarten. Deshalb hatte schon Herr Waigel die Mög-lichkeit gesehen, eine Priorität, die wir lange Zeit leidernur ankündigen konnten, jetzt in die Praxis umzusetzen.Der neue Bundesfinanzminister – so sagen mir dieHaushälter – hat jetzt sogar die Möglichkeit, Privatisie-rungserlöse in der Größenordnung von, so glaube ich,10 Milliarden DM vom letzten Jahr in das Haushaltsjahr1999 zu übertragen.Wir freuen uns, daß Sie die Mittel erhöhen, aber allzuschwer war das in diesem Jahr offensichtlich nicht. –Wir warten auch auf den Finanzplan. Wir wollen sehen,ob es Ihnen gelingt – es ist überall zurückgeschraubtworden; darüber will ich jetzt nicht reden –, in den näch-sten vier Jahren je 1 Milliarde DM zusätzlich in denHaushalt einzubringen.Ich verstehe ja, daß Sie gern möchten, daß Soll mitSoll verglichen wird. Wenn man aber bei den Ankündi-gungen den Mund zu voll nimmt, dann darf man sicheben nicht wundern, wenn man dem Vorwurf ausgesetztist, daß relativ kleine Brötchen übriggeblieben sind.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, wir wissen, daß der Haushalt nominal nur um72 Millionen DM steigt, weil Kompetenzen an das Bun-deswirtschaftsministerium abgegeben werden mußten.Wir hätten allerdings erwartet, daß bei verringertenKompetenzen auch die Verwaltung etwas verschlanktwürde. Es hat mich beim Durchzählen der Unterabtei-lungen etwas überrascht, daß weniger Kompetenzen in-zwischen durch zusätzliche Unterabteilungen verwaltetwerden müssen.Im Hochschulbereich – das ist schon von meinemKollegen Kampeter angesprochen worden – wollten wirzusätzlich 200 Millionen DM für die Erprobung undEntwicklung innovativer Hochschulstrukturen bereit-stellen. Angesichts des großen Nachholbedarfs imHochschulbau kann man die andere Auffassung vertre-ten und sagen: Da stocken wir kräftig auf.Es ist schon gesagt worden: In Bayern finanzieren wirin großem Stil vor. Wir erwarten allerdings, daß wireines Tages wie die anderen Bundesländer anteilig unse-re Finanzierungsbeiträge erhalten werden.
Wenn ein Kollege aus dem Norden über den schreck-lichen baulichen Zustand in seinem Land klagt, dannliegt dies überwiegend an seiner Landesregierung. Ichbin gern bereit, mit Ihnen und, wenn Sie wollen, auchmit dem gesamten Ausschuß die Neubaustellen inBayern zu besichtigen, egal ob in München oder bei mirin Erlangen. Da würden Sie sich wundern. Lassen wiralso die Verantwortung bei den Ländern!Zum BAföG möchte ich kurz anmerken, daß diePresseerklärung des Ministeriums, daß die Mittel um142 Millionen DM erhöht werden, nicht ganz richtig ist;denn verglichen mit dem Waigel-Entwurf für dieBAföG-Novelle sind es nur 50 Millionen DM mehr.Auch Sie lassen sich also Zeit, den zugegebenermaßenbestehenden großen Nachholbedarf – dazu bekenne ichmich – zu befriedigen.Ich persönlich werfe Ihnen nicht vor, daß Sie die gro-ße BAföG-Novelle nicht kurzfristig vorlegen. Wir wis-sen, daß die Finanzminister, unabhängig vom Partei-buch, alle Vorschläge schlicht abgelehnt haben, gesagthaben, es müsse alles kostenneutral sein. Wir wissen,daß es im Bereich des Steuerrechts und im Bereich desUnterhaltsrechts, in dem Streichungen bei Unterhaltsan-sprüchen vorgenommen werden mußten, große Proble-me gibt. Sie sollten also ruhig solide arbeiten.Ich möchte abschließend noch einen Satz der Mi-nisterin aufgreifen, nämlich daß es bei der Forschungs-förderung und bei der Förderung von Innovationen nichtnur um das Verteilen von Geld geht, sondern daß dieRahmenbedingungen insgesamt stimmen müssen. Weilmeine Redezeit praktisch abgelaufen ist, nenne ich nurStichworte.Erstens. Die Wirtschaft hat mehrfach deutlich ge-macht, daß sie wenig von zusätzlichen und höheren Zu-schüssen hat, wenn sie nicht insgesamt im Bereich Steu-ern und Abgaben entlastet wird. Es ist kein Zufall, daßdie Wirtschaft gerade in den letzten beiden Jahren ihrEngagement in Sachen Forschung und Entwicklungdeutlich erhöht hat, nachdem sich die Ertragslage klarverbessert hatte.Zweitens. Unsere Forschungseinrichtungen klagennoch immer über zu lange Genehmigungsverfahren undnicht vorhersehbare Auflagen. Deshalb bitten wir dieneue Bundesregierung, daß das, was wir an Deregulie-rung, an Beschleunigungen von Genehmigungsverfahrenin den letzten acht Jahren begonnen haben, fortgesetztwird.Ich sage Ihnen: Bei mir im Büro stapeln sich inzwi-schen die Briefe im Hinblick auf das Staatsziel Tier-schutz, das Sie durchbringen wollen. Hier gibt es ganzbeträchtliche Auffassungsunterschiede, Herr Staatsse-kretär. Es gibt eine ganz große Verunsicherung in gro-ßen Teilen der Wissenschaft. Hier müssen wir ansetzen,damit nicht erneut Wissenschaftler ins Ausland vertrie-ben werden.
Schließlich gibt es nach wie vor Probleme mit derAkzeptanz. Die Kolleginnen und Kollegen der SPD undDr. Gerhard Friedrich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1469
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vor allem der Grünen sind daran mitschuldig. Sie habenja nicht nur gegen die Kernenergie Kampagnen losge-treten, –
Herr
Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
– sondern waren ja auch einmal der Meinung, daß eine
Müllverbrennungsanlage etwas ganz Gefährliches ist.
Ich hoffe, daß die Bundesregierung diejenigen Kollegin-
nen und Kollegen in den Regierungsfraktionen an die
Leine nimmt, die glauben, daß wir mit einem Nullrisiko
leben können.
Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans-Josef Fell von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Forschungs-politik ist Zukunftspolitik. Hier werden die Weichen ge-stellt; hier wird entschieden, wohin die Reise geht. Diealte Regierung hat die Weichen falsch gestellt.
Sie hat eine Forschungspolitik betrieben, die ins Abseitsführt. Sie hat Forschungsmittel in prestigeträchtige Di-nosaurier-Projekte gesteckt, die nicht zukunftsfähig sind.Der Forschungsreaktor in Garching, die Kernfusion, diebemannte Raumfahrt, die Müllverbrennung – HerrFriedrich, Sie haben selbst in Ihrem Nachbarort Fürthgesehen, wohin das führt –, der Transrapid – alle dieseTechniken lösen keine Probleme; sie schaffen neue Pro-bleme.
Die rotgrüne Bundesregierung muß heute mit diesenAltlasten fertig werden. Sie binden einen großen Teil dervorhandenen Mittel, Mittel, die dringend für wirklichwichtige Vorhaben benötigt werden. Union und F.D.P.haben nicht nur die Weichen falsch gestellt; sie habensich ebenso als Bremser hervorgetan.Meine Damen und Herren von der Union und von derF.D.P., in den letzten zehn Jahren Ihrer Regierungszeithaben Sie die Forschungsausgaben kontinuierlich zu-rückgefahren. Das gilt sowohl im Verhältnis zum Brut-tosozialprodukt als auch in absoluten Zahlen. Sie habenein zentrales Element verantwortungsvoller Politik ver-nachlässigt.
Die neue rotgrüne Bundesregierung setzt den For-schungszug jetzt auf das richtige Gleis, auf das Gleis,das in eine nachhaltige und eine zukunftsfähige Gesell-schaft führt. Wir machen Nachhaltigkeit zum Schwer-punktthema der Forschungspolitik. Die nachhaltigeUmweltforschung erhält unter Rotgrün einen viel höhe-ren Stellenwert. Das gilt zum einen für die technischeForschung; das gilt zum anderen für die Umweltfor-schung, die das Verhältnis der Menschen zu ihrer Um-welt zum Gegenstand hat. In der Raumfahrtforschungwerden wir der Nachhaltigkeit zur Geltung verhelfen;
die Mittel werden verstärkt in die unbemannte Erder-kundung fließen.Die Nachhaltigkeit ist auch für die rotgrüne Außen-politik prägend. Die Förderung der Friedens- und Kon-fliktforschung ist deshalb ein zentrales Element unsererForschungspolitik. Die Regierung Kohl hat stärker aufmilitärische Lösungen gesetzt und den Anteil der Wehr-forschung an den Forschungs- und Entwicklungsausga-ben zuletzt auf über 17 Prozent erhöht. Gerade der Ko-sovo-Konflikt zeigt uns aber heute, wie wichtig es ist,im Vorfeld präventiv tätig zu werden. Hier werden wirin Zukunft stärkere Akzente setzen. Wir werden in dennächsten Jahren ein eigenes Institut aufbauen, das sichspeziell der präventiven Konfliktforschung widmet.
Der rotgrüne Forschungszug fährt nicht nur auf demrichtigen Gleis; wir erhöhen auch das Tempo. Die For-schungspolitik erhält endlich den Stellenwert, den sieauch tatsächlich verdient.
Die Zukunftsinvestitionen im Forschungsetat steigenum 1 Milliarde DM. Damit schaffen wir die Vorausset-zungen dafür, technische Innovationen für eine lebens-werte Zukunft zu entwickeln. Wir schaffen aber nichtnur die Voraussetzungen; wir sorgen auch für denTransfer von der Forschung zur wirtschaftlichen An-wendung. Das haben wir mit dem 100 000-Dächer-Programm für Photovoltaik vorgemacht, und das wer-den wir weiter tun.
– Diese Summe steht in diesem Haushalt nur deswegenso drin, weil erst im nächsten Haushalt die Kosten an-fallen.
Die Verpflichtungsermächtigung für den kommendenHaushalt ist groß genug, um diesem Programm zu genü-gen. 180 Millionen DM sind dafür veranschlagt.
Dr. Gerhard Friedrich
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1470 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Das 100 000-Dächer-Programm ist also vollständig ge-sichert.Wir schaffen in der Forschungsförderung eine Kon-zentration auf vor allem kleine und mittlere Unterneh-men. Ich möchte zum Abschluß aber aus grüner Sichtzugestehen, daß das Gleisbett noch nicht vollständigstabil ist und wir in zwei Bereichen einige andere Ak-zente setzen wollen.
Aus Zeitgründen will ich mich auf einen Aspekt kon-zentrieren: Auf dem Gebiet der Energieforschung wün-schen wir uns eine verstärkte Forschungstätigkeit, vorallem bei der Einspartechnologie und den erneuerbarenEnergien, bei der Photovoltaik, der Geothermie, dersolarthermischen Stromerzeugung, bei Biomasse undWindkraft. Sie müssen verstärkt werden zu Lasten we-nig zukunftsträchtiger Technologien wie der Kernfusion.Das ist eine Voraussetzung für eine nachhaltigeEnergiewende, die wir mit unseren beiden Zielen errei-chen wollen, nämlich dem Ausstieg aus der Atomener-gie und der Verminderung des Kohlendioxidausstoßes.Dazu bedarf es ressortübergreifender Aktivitäten, diewir, so denke ich, auch mit dem Wirtschaftsministeriumgut voranbringen können.Ich danke für das Zuhören.
Als
letzter Redner zu diesem Einzelplan hat der Kollege
Thomas Rachel von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehrgeehrte Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Ministe-rin, zu gerne hätte ich Ihnen heute zur Erhöhung desVolumens des Bildungs- und Forschungshaushaltesgratuliert. Aber leider haben Sie sich um Ihren eigenenErfolg gebracht. Denn das, was die Bundesregierungjetzt vorgelegt hat, ist und bleibt eine Mogelpackung.Sie haben im Wahlkampf die Verdoppelung der Bil-dungs- und Forschungsausgaben in fünf Jahren verspro-chen; das hieße, mindestens 3 Milliarden DM pro Jahr.Tatsächlich sind es in diesem Jahr gerade einmal 900Millionen DM. Damit erfüllt die Regierung weder ihreigenes Versprechen noch die Erwartungen, die sieselbst geschürt hat. Sie haben die Wählerinnen undWähler getäuscht.
Natürlich begrüßen wir, daß es mehr Gelder gibt.Aber wenn Herr Hilsberg in einer Pressemitteilung voneiner „furiosen Steigerung der Investitionen“ spricht, soist das ein billiger Versuch, vom Bruch Ihres eigenenWahlversprechens abzulenken. Faktum ist: Die neuenHaushaltsmittel stehen im krassen Widerspruch zu Ihreneigenen Ankündigungen. An diesen Ankündigungenwerden wir Sie auch in Zukunft messen.
Wer den vorliegenden Haushalt betrachtet, wird fest-stellen, daß das ehemalige Zukunftsministerium unterrotgrüner Führung wesentliche Säulen der Forschungs-politik verloren hat. Im Wirtschaftsministerium findenwir jetzt: die Sicherheitsforschung für kerntechnischeAnlagen, die Energieforschung, die Forschung hinsicht-lich erneuerbarer Energien, die Informationstechnologi-en, die Luftfahrtforschung, die Forschung in wichtigenBereichen in den neuen Bundesländern und schließlichdie Förderung der Forschungszusammenarbeit und vonUnternehmensgründungen. Diese originären For-schungsfelder sind ohne Not dem Bundesministeriumfür Bildung und Forschung entrissen worden. Ist danicht ein Forschungsministerium überhaupt überflüssig?Was bleibt denn für das Forschungsministerium?
Die großen Forschungseinrichtungen wie Max-Planck-Gesellschaft, DFG und FhG arbeiten mit pau-schaler Finanzzuweisung und definieren ihre For-schungsschwerpunkte selbstverantwortlich. Eine Haupt-aufgabe des Forschungsministeriums war bisher, denProzeß der Umsetzung von der Grundlagenforschunghin zu Innovationen und Produkten zu fördern. Aber ge-rade hier haben Sie das Forschungsministerium ampu-tiert. Denn mit der Übertragung der Förderung tech-nologieorientierter Unternehmensgründungen in dasWirtschaftsministerium ist die Kette zwischen Grundla-genforschung und angewandter Forschung zerrissenworden. Das schadet der Forschungslandschaft, und daskritisieren wir.
Sie hätten doch jetzt eigentlich die Möglichkeit, daswahrzumachen, was Sie immer gefordert haben – zumBeispiel beim BAföG. Sie sind angetreten mit einerFundamentalkritik am geltenden BAföG und der An-kündigung, eine umfassende BAföG-Reform vorzuneh-men. Noch 1998 haben Sie Herrn Rüttgers dafür kriti-siert, daß er das BAföG in der Art und Weise erhöht hat,wie Sie es jetzt tun wollen. Faktum ist: Ihr BAföG-Vorschlag führt nicht dazu, daß sich die Quote der ge-förderten Studenten wesentlich erhöht. Das kritisiertauch das Studentenwerk. Das muß aber Hauptziel derBAföG-Reform sein. Ihre Anhebung um 2 Prozentmacht maximal 15 DM pro Monat und Student aus.Meine Damen und Herren, das ist eine Pizza mehr imMonat für jeden BAföG-Studenten.
Das ist das Ergebnis Ihrer „großen“ BAföG-Reform.Wir lassen uns von Ihrer neuen BAföG-Reform nicht insneue Jahrtausend vertrösten. Anspruch und Wirklichkeitliegen bei Ihnen weit auseinander.
Vollmundig hat die SPD im Wahlkampf das klareVersprechen abgegeben, Studiengebühren mit einemHans-Josef Fell
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1471
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Bundesgesetz auf Dauer zu verbieten. Was ist aus demVersprechen geworden?
Frau Bulmahn macht in Bonn verbal mobil gegen Studi-engebühren. Realität ist aber, daß dort, wo sie als SPD-Landesvorsitzende in Niedersachsen politisch Verant-wortung trägt, nämlich in Niedersachsen, eine Studien-gebühr von 200 DM pro Student und Jahr eingeführtwird.
Die SPD ist in der Frage der Studiengebühren – wirsehen es an Ihren Gesichtern – heillos zerstritten. Wis-senschaftsminister Oppermann aus Niedersachsen kün-digt nicht nur an, daß er ein Studiengebührenverbot ver-hindern will; er könnte sich sogar Studiengebühren inder Größenordnung von 1 000 DM bis 3 000 DM vor-stellen.
Wem die Durchsetzungskraft schon in der eigenen nie-dersächsischen Landespartei fehlt, wird die Glaubwür-digkeit in Bonn nie gewinnen. Anspruch und Wirklich-keit klaffen auch hier weit auseinander.Frau Ministerin Bulmahn, bezeichnenderweisekommt in Ihrer Pressemitteilung zum Bundeshaushalt1999 das Wort „Raumfahrt“ überhaupt nicht vor.
Ist das Zufall? – Nein. Damit soll kaschiert werden, daßdie Bundesregierung durch wiederholtes Kürzen dasAustrocknen der Raumfahrt betreibt. Ihre Kampfansageim Bildungs- und Forschungsausschuß an die bemannteRaumfahrt, Frau Ministerin Bulmahn, ist das falschepolitische Signal – auch gegenüber unseren internatio-nalen Partnern.
Die Kürzungen des Raumfahrthaushaltes bedeuten, daßDeutschlands internationale Stellung in der Raumfahrtgefährdet wird. Wissenschaft und Raumfahrtindustriesprechen von gravierenden wissenschaftlich-technischenund industriellen Einbrüchen. Nachdem Sie uns schon inder Energiepolitik international um jedes Ansehen ge-bracht haben, ist Rotgrün dabei, das gleiche auch in derRaumfahrtpolitik zu tun.
Mit dem weiteren Austrocknen der Raumfahrt ge-fährden Sie die Erfolgsgeschichte der europäischen Trä-gerrakete Ariane und die deutsche Spitzenposition in derwissenschaftlichen Erd- und Umweltbeobachtung. Eswürde faktisch zu einem Fadenriß kommen.Meine Damen und Herren, ich empfinde es schon alseine ziemlich üble Heuchelei, daß sich BundeskanzlerGerhard Schröder noch vor zehn Tagen mit dem US-Astronauten John Glenn Arm in Arm von den Medienablichten ließ, Sie mit Ihrer Mehrheit im Parlament abergleichzeitig den Geldhahn für die Weltraumforschungzudrehen. Auch hier klaffen Anspruch und Wirklichkeitweit auseinander.
Sehr geehrte Damen und Herren, es gibt noch einenanderen Aspekt, der vielleicht viel schwerwiegender istals manche anderen Fehler, die Sie machen.
Die von der Bundesregierung gesetzten Rahmenbedin-gungen, Herr Tauss, stimmen nicht. Die rotgrüne Steu-erreform und die Ökosteuer führen dazu, daß den klei-nen und den größeren Unternehmen die eigenen Investi-tionsmittel für Forschung und Entwicklung genommenwerden. Der Bundesverband der Deutschen Industrie hatberechnet,
daß die deutsche Wirtschaft durch die von Ihnen zu ver-antwortenden Steuer- und Ökosteuergesetze in denkommenden Jahren mit insgesamt 35 Milliarden DM zu-sätzlich belastet wird.
Das ist der Grundfehler Ihrer politischen Konzeption.Daran ändern auch erhöhte Fördermittel in wenigen Be-reichen nichts. Es wäre besser, den Unternehmen Spiel-räume für eigene Forschung und Entwicklung zu lassen,als ihnen zuerst das Geld wegzunehmen und es nachherstückchenweise gezielt einzelnen Unternehmen zuzu-schaufeln.
Mittelstand und Wirtschaft brauchen die Schaffunggünstiger Rahmenbedingungen und eines innovations-freundlichen Klimas. Das ist weitaus wichtiger als ein-zelne Fördermaßnahmen im Forschungsbereich. Abergenau hier versagen Sie.Deswegen kann ich zusammenfassen: Ihre ersten 100Tage, dieser Bundeshaushalt und Ihre Steuergesetzge-bung sind ein Schritt gegen das wirtschaftliche Wachs-tum und gegen die forschenden Betriebe in Deutschland.Deshalb werden wir den Haushalt auch ablehnen.Herzlichen Dank.
WeitereWortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-nisters für Bildung und Forschung liegen nicht vor.Interfraktionell ist vereinbart worden, die Plenarsit-zung für etwa zwei Stunden zu unterbrechen. Der Wie-derbeginn der Sitzung wird durch Klingelzeichen recht-zeitig bekanntgegeben.Ich unterbreche die Sitzung.
Thomas Rachel
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1472 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnenund Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder er-öffnet.Wir setzen die Haushaltsberatungen fort und kommenzum Geschäftsbereich des Bundesministeriums fürUmwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Einzel-plan 16.Ich erteile zunächst dem Bundesminister für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin, dasWort.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ich möchte vorweg eine Bemerkungzum Haushaltsvolumen machen. Sie wissen, der Haus-halt des Umweltministeriums ist ein kleiner Haushalt.Wir haben es aber in Zeiten knapper Kassen geschafft,diesen kleinen Haushalt noch um 6,7 Prozent auf 1,131Milliarden DM zu senken.Das hat gute Gründe. Der Atomausstieg spart unsGeld.
Im Hinblick auf die Endlagerung nehmen wir Kürzun-gen in Höhe von 34,9 Prozent vor; denn auf Grund derEntwicklung der Volumina gibt es heute nicht mehr denBedarf für zwei verschiedene Endlagerstandorte. Des-wegen wollen wir die Erkundung am Standort Gorlebenunterbrechen. Weitere Standorte sollen an Hand neu zuentwickelnder Kriterien untersucht werden. Das Plan-feststellungsverfahren für Schacht Konrad werden wir inÜbereinstimmung mit der niedersächsischen Landes-regierung zu einer Entscheidung führen, die nur dennotwendigen Umfang umfaßt. Ich sage ausdrücklich: Indie Konzeption für diese Unterbrechungsarbeiten – dageht es beispielsweise um die Frage, was mit dem End-lager in Morsleben wird – werden wir nachdrücklich dieVertretung der dort beschäftigten Kolleginnen und Kol-legen der DBE, die Betriebsräte einbeziehen, weil wirvermeiden möchten, daß auf diese Art und Weise unnö-tig Arbeitsplätze verloren gehen. Man muß sich dannauch über Alternativen unterhalten und etwa Menschen,die heute in Gorleben tätig sind, in Morsleben tätig wer-den lassen.Die Energiewende, die die Bundesregierung an-strebt, bildet den Schlüssel zu einer modernen Produk-tions- und Konsumtionsweise. Wir wollen einen neuenEnergiemix ohne Atomkraft erreichen. Mit dem Aus-stieg aus der Atomkraft verknüpfen wir den Einstieg ineine andere, in eine dezentrale Energieversorgung, dievon einer höheren Effizienz in Verbrauch und Produk-tion und von einem erheblich größeren Anteil an erneu-erbaren Energien wie Wind, Sonne, Biomasse undGeothermie geprägt ist. Gerade weil wir es besondersernst nehmen, das Klimareduktionsziel bis zum Jahre2005 zu erreichen, ist es unser Ziel, den Anteil an erneu-erbaren Energien zu verdoppeln.Die notwendigen Anreize zur sparsamen und effizi-enten Energienutzung geben wir mit der ökologischenSteuer- und Abgabenreform. Die stufenweise Anhe-bung der Belastung des Energieverbrauchs verknüpfenwir mit einer Senkung der Sozialversicherungsbeiträge.Dies erleichtert mehr Beschäftigung und belohnt um-weltfreundliches Handeln.Sie finden gerade in diesem Zusammenhang eineReihe von Maßnahmen auch in anderen Bereichen desHaushalts. Wir stellen allein für 1999 210 Millionen DMzur Förderung erneuerbarer Energien zur Verfügung,werden also in neun Monaten exakt das Zehnfache des-sen ausgeben, was Ihre Regierung in einem ganzen Jahrzur Förderung erneuerbarer Energien ausgegeben hat.
Wir wollen darüber hinaus über Darlehen für die In-stallation von rund 100 000 Photovoltaikanlagen dieSonnenenergie in diesem Lande fördern. Das Investi-tionsvolumen für dieses 100 000-Dächer-Programmliegt bei 2,5 Milliarden DM; der Förderanteil, der hiereinfließt, beträgt rund 40 Prozent.Schließlich wollen wir die Darlehensprogramme fürAltbausanierung auf hohem Niveau fortführen. Die an-deren Programme kann man auch quantifizieren. Insge-samt werden durch den Bundeshaushalt Umweltschutz-kredite in Höhe von 11,6 Milliarden DM zur Verfügunggestellt.Jedes dieser Förderprogramme wird mit erheblichenArbeitsplatzeffekten einhergehen: im Bauhandwerk,bei den Anlagenbauern, in Ingenieurbüros und in derEnergiewirtschaft. Allein mit der Nutzung der Wind-energie, wo wir inzwischen weltweit spitze sind, was dieinstallierte Leistung angeht, bestreitet Deutschland be-reits 1 Prozent, Schleswig-Holstein gar 14 Prozent derStromversorgung.Ich möchte auf einen weiteren Aspekt hinweisen:Trotz der schwierigen finanziellen Rahmenbedingungenist es möglich geworden, auch neue Prioritäten zu set-zen. Hervorheben möchte ich hier insbesondere die Er-höhung von Fördermitteln für den Naturschutz; siesteigen um 5,9 Millionen DM auf 77,3 Millionen DM.Das ist eine Erhöhung um 8,2 Prozent. Eine deutlicheSteigerung gibt es auch bei den Projektfördermitteln fürdie Umwelt- und Naturschutzverbände, die zur ökologi-schen Modernisierung in vielen Lebensbereichen einenwichtigen Beitrag leisten. Der Ansatz für die Umwelt-und Naturschutzverbände steigt um 23 Prozent.Beide Beispiele zeigen unsere Priorität für den Natur-schutz. Der Naturschutz ist in diesem Lande vielenAnfeindungen ausgesetzt. Er hat keine wirtschaftlicheLobby. Aber Naturschutz darf sich nicht reduzieren las-sen, und Naturschutzverbände sollten nicht dargestelltwerden – wie ich es neulich in der Zeitung gelesen habe– als eine Ansammlung von „grünen Froschzählern“.
Ein moderner Naturschutz muß sicherstellen, daßFlächennutzung insgesamt natur-, umwelt- und land-schaftsverträglich erfolgt. Deshalb streben wir ein groß-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1473
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flächiges Biotopverbundsystem an, das etwa 10 Pro-zent der Landesfläche umfaßt. Es gibt in der Bundes-republik das Vorurteil, hier sei durch Unterschutzstel-lung faktisch gar nichts mehr möglich. Ich will Sie andieser Stelle darauf verweisen: Im europäischen Ver-gleich, was die ausgewiesene Fläche nach der FFH-Richtlinie und der Vogelschutzrichtlinie angeht, liegt dieBundesrepublik Deutschland nach 16 Jahren konserva-tiv-liberaler Regierung auf einem beschämenden vor-letzten Platz. Mehrere Länder, zum Beispiel Spanienund Italien, weisen fast 15 Prozent aus. Das leichtwie-gende Argument, die hätten in diesem Bereich nichts zutun, weil dünn besiedelt, widerlegen die dichtbesiedeltenNiederlande. Sie haben mittlerweile 20 Prozent ihrerFläche ausgewiesen.Meine Damen und Herren, hier Neues zu leisten isteine unserer Zielsetzungen. Das ist übrigens auch einerder Gründe, warum wir die Privatisierung von Natur-schutzflächen bereits im Dezember durch Erlaß desBundesfinanzministers gestoppt haben.
Diese Flächen werden als Bestandteile des geplantenBiotopsystems benötigt. Wir wollen sie nicht privatenInvestoren und ihren besonderen Vorlieben ausliefern.Ich habe in dieser kurzen Einbringungsrede nur eini-ge Beispiele genannt, deren Verwirklichung vor unsliegt. Ich denke, sie machen deutlich, daß eine ökologi-sche Modernisierung für diese Regierung nicht bloßeRhetorik bleibt. Mit allem Nachdruck: Zu einer nach-haltigen, zukunftsfähigen Entwicklung gibt es keine Al-ternative!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt unser Kollege Jochen Borchert.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die erste Haushaltsdebatte am Beginn einer Legislatur-periode bietet Gelegenheit, Bilanz zu ziehen und gleich-zeitig die Vorhaben der jetzigen Regierung zu bewerten.Der Umweltschutz ist in den vergangenen Jahren inDeutschland konsequent weiterentwickelt worden. Wirhaben in vielen Bereichen einen international anerkann-ten hohen Standard erreicht. Wichtige Umweltschutzge-setze konnten gegen den Widerstand der damaligen Op-position verabschiedet werden. An diesen Erfolgen derUmweltpolitik der CDU/CSU, an den Erfolgen von An-gela Merkel werden wir auch die Umweltpolitik der rot-grünen Bundesregierung messen.Eine erste Meßlatte für die lautstarken Forderungendes jetzigen Bundesministers im Wahlkampf, aber auchfür die Umsetzung der Koalitionsvereinbarung ist derHaushalt. Herr Minister Trittin hat darauf hingewiesen,daß der Etat des Einzelplans 16 um 6,7 Prozent sinkt.Der Rückgang ist auf Veränderungen in der Energie-politik zurückzuführen. Ich will diesen Bereich jetztausklammern. Ich komme noch auf ihn zurück. Ich willzunächst die Ausgabenentwicklung im Stammhaushalt– das ist der Verwaltungs- und Programmhaushalt – ge-nauer beleuchten.Im Stammhaushalt steigen die Ausgaben im Ver-gleich zu 1998 um rund 90 Millionen DM. Das klingtgut, ist aber nur auf den ersten Blick erfreulich; dennvon den Mehrausgaben entfallen 88,7 Millionen auf denVerwaltungshaushalt für Baumaßnahmen. Für den Pro-grammhaushalt, also für die inhaltliche Arbeit, für Um-welt- und Naturschutz sowie für Reaktorsicherheit undStrahlenschutz, bleiben kümmerliche 1,3 Millionen DMübrig. Das ist eine Steigerung um ganze 0,3 Prozent.Hier hilft auch der Hinweis auf einzelne Titel nichts.Natürlich kann man einzelne Titel überproportional an-heben, indem man bei anderen Titeln kürzt. Bei den Be-ratungen zum Haushalt 1998 haben die Kollegen vomBündnis 90/Die Grünen noch massive Anhebungsanträ-ge gestellt. Bisher ist davon in diesen Beratungen nichtsübriggeblieben. Das zeigt: Kaum in der Regierungsver-antwortung, bleibt von früheren lautstarken Forderungennicht einmal ein grünes Feigenblatt übrig.Wenn ich den Programmhaushalt als Meßlatte für dieumweltpolitischen Ankündigungen der rotgrünen Koali-tion und des Bundesumweltministers nehme, dann mußman feststellen, daß der Titel „Ankündigungsminister“,den eine Zeitung verwendet hat, für Herrn Trittin nochein Ehrentitel ist.Was macht der Bundesminister mit dem stark ge-wachsenen Verwaltungshaushalt? In welche Baumaß-nahmen will er investieren? – Er erfüllt sich einenWunsch, nämlich den Wunsch, möglichst schnell mitmöglichst vielen – am Ende wahrscheinlich mit allen –Mitarbeitern nach Berlin zu ziehen. Das Bundesum-weltministerium gehört zu jenen Bonn-Berlin-Ressorts,für die festgelegt worden war, daß 10 Prozent der Mitar-beiter ihren ständigen Dienstsitz in Berlin haben. DasBundeskabinett hat beschlossen, diesen Anteil auf25 Prozent zu erhöhen. Von dieser Möglichkeit machtnur das Bundesumweltministerium Gebrauch.
Mit seinem Haushalt verstößt der Bundesminister gleichzweimal gegen Geist und Inhalt des Berlin/Bonn-Gesetzes: Zum einen verstößt er dagegen, indem er dieAnzahl der Mitarbeiter am zweiten Dienstsitz von 10 auf25 Prozent aufstockt, also um mehr als das Doppelte.Zum anderen verstößt er dagegen, indem er ausgerech-net die Abteilung „Internationale Zusammenarbeit“komplett nach Berlin verlegt. Wie soll Bonn da zueinem internationalen Zentrum ausgebaut werden? Esdroht damit die Gefahr, daß ein „Rutschbahneffekt“eintritt, durch den die für Bonn gefundene Lösung völligaufgehoben wird.Der geplante Ausstieg aus der Kernenergie, dasvorgesehene Ende der Wiederaufarbeitung und das fak-tische Verbot der Endlagerung sind aus unserer Sichtentscheidende Fehlschritte der rotgrünen Umweltpolitik.Grundlage dieser tiefgreifenden Veränderung der Ener-gieversorgung ist sicherlich der langgehegte Wunsch,Bundesminister Jürgen Trittin
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nun endlich im Interesse des grünen Selbstverständnis-ses die Energiepolitik umzugestalten. Diese Verände-rungen werden vorgenommen, ohne daß alternativeKonzepte vorliegen. Vorgesehene Schritte werden stän-dig verändert. Ich will daran erinnern, daß Grundlagedes bisherigen Entsorgungskonzepts Beschlüsse derBundesregierung und der Ministerpräsidenten aus demJahre 1979 waren. Es waren überwiegend sozialdemo-kratische Regierungen, die damals diese Entscheidunggetroffen haben. Als Grundlage für die Veränderungdieser Konzeption gibt es bisher nur die Koalitionsver-einbarung, aber keinen Beschluß und keine Abstimmungzwischen Bund und Ländern. Die damit verbundenenRisiken werden nicht diskutiert, etwa die Regreßansprü-che der bisherigen Standortbetreiber. Zusammen mit denmöglichen Schadenersatzansprüchen aus den Verände-rungen in der Energiepolitik drohen in diesem Bereicherhebliche Risiken.Bis heute ist nicht klar, wie die weiteren Schritte derKoalition aussehen. Sie, Herr Bundesminister – da binich sicher –, werden weiter unverdrossen Beschlüsse,Gesetzesvorlagen vorbereiten, Maßnahmen verkünden –und der Bundeskanzler wird dies alles dann immer wie-der in den Papierkorb werfen. Er hat doch in Vilshofendeutlich erklärt: „Die Richtlinien der Energiepolitik be-stimmt Gerhard Schröder und nicht Jürgen Trittin. Undwer‘s nicht glauben will, muß fühlen.“Herr Minister, ich habe den Eindruck, langsam fühlenSie es: In dem neuesten Entwurf zur Änderung desAtomgesetzes verzichten Sie von selbst auf ein aus-drückliches Verbot der Wiederaufarbeitung. Hatten Sievorher immer verkündet, daß ein sofortiger gesetzlicherStopp der Wiederaufarbeitung notwendig sei, haben Siebis vor wenigen Tagen betont, daß der Stopp ab demJahr 2000 schon ein Kompromiß sei, so nennen Sie jetztnicht einmal mehr einen Stichtag.Die Medien können nun nicht mehr melden: Schrödernimmt Trittin Atompolitik aus der Hand. Vielmehr giltnun: Trittin überläßt Schröder Atompolitik. – Es wärenur konsequent, die entsprechenden Kapitel aus demEinzelplan 16 dann in den Einzelplan 04, Bundeskanzlerund Bundeskanzleramt, zu verlagern, wenn dort die Ent-scheidungen getroffen werden. Ich hoffe, daß bis zurzweiten und dritten Lesung aus haushaltspolitischerSicht eine Grundlage für die Veränderung in Kapitel16 06 besteht.Bei den politischen Festlegungen der rotgrünenKoalition gibt es keine neuen Tatbestände, weder zurNutzung der Kernenergie noch zur Sicherheit der Kern-kraftwerke. Die von Anfang an hohen Sicherheitsanfor-derungen in Deutschland haben dazu geführt, daß diedeutsche Industrie die wohl besten und sicherstenKraftwerke hat. Heute wird in Deutschland ein Dritteldes Stroms in Kernkraftwerken erzeugt. Wer aus derKernenergie aussteigen will, der muß die Frage beant-worten, wie er die Kernenergie ersetzen will und welcheökologischen Konsequenzen damit verbunden sind.Herr Bundesminister, ich glaube nicht, daß man, wieSie es formuliert haben, die 19 Kernkraftwerke „vonheute auf morgen abschalten könnte, ohne einen Versor-gungseinbruch zu erreichen“. In anderen Fällen, für je-den noch so kleinen Eingriff in den Naturhaushalt, wirdzu Recht eine Umweltverträglichkeitsprüfung gefordert.Aber beim Ausstieg aus der Kernenergie wird so getan,als sei dies alles zum Nulltarif, ohne ökologische Aus-wirkungen zu haben.
– Ich weiß, daß Sie das nicht gern hören. – Sie werdendie Kernkraftwerke nicht durch Windräder und Sonnen-kollektoren und auch nicht durch die allergrößten Spar-anstrengungen ersetzen können.
Sie können sie nur durch den Import von Strom ausKernkraftwerken in den Nachbarländern oder durchKraftwerke auf der Basis von Kohle oder Gas ersetzen.In diesem Bereich führt die Steuerreform, durchEingriffe bei den Rückstellungen der Energieversor-gungsunternehmen, zum Beispiel bei der Steinkohlebei Rückstellungen für Bergschäden und Rekultivie-rungsmaßnahmen, bei der Braunkohle bei Rückstellun-gen für Rekultivierungsmaßnahmen, zu einer massivenVerteuerung der Produktion, die das Erschließen neuerKohlefelder zu einem finanziellen Abenteuer werdenläßt.
– Wenn Sie zugehört hätten, hätten Sie mitbekommen,daß ich gesagt habe: durch die Steuerreform. Ich weiß,daß Ihnen der Zusammenhang nicht paßt. – Ganz ne-benbei werden möglicherweise auch noch die Pläne fürGarzweiler II über die Steuerreform platt gemacht.
Deswegen muß deutlich ausgesprochen werden, wasIhre Zielsetzung dabei ist.Wenn die Kernkraftwerke in Deutschland durchKohle- oder Gaskraftwerke ersetzt werden, dann steigendie CO2-Emissionen um über 100 Millionen Tonnenpro Jahr. Unter ökologischen Kosten-Nutzen-Abwägun-gen ist dies ein Rückfall in die umweltpolitische Stein-zeit.
Damit werden die Erfolge der Klimaschutzpolitik inDeutschland zunichte gemacht, und es werden alle in-ternationalen Absprachen zur Reduzierung der CO2-Emissionen hinfällig.Meine Damen und Herren, dies betrifft nicht nurDeutschland, sondern ganz Europa. Auch die von derEuropäischen Union bei den Klimaschutzkonferenzenzugesagten Verminderungen müssen schwerpunktmäßigvon Deutschland eingehalten werden. Deswegen müssenwir uns hier international abstimmen. Nach dem Aus-stieg aus der Kernenergie wäre die vereinbarte Vermin-derung der CO2-Emissionen nicht nur, wie Sie, HerrMinister, gesagt haben, eine Herkules-Aufgabe, sondernJochen Borchert
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unmöglich – zumal Sie, Herr Minister, mit Verlaub ge-sagt, alles andere als ein Herkules sind.
Da paßt schon eher, wie es heute die „Hessi-sche/Niedersächsische Allgemeine“ geschrieben hat, dasBild vom „Ritter von der traurigen Gestalt“.
Es bleibt dabei: Rotgrüne Politik führt zu einem ver-stärkten Verbrauch begrenzter fossiler Rohstoffe unddamit zu einer weiteren Gefährdung des Klimas. Das istweder umweltverträglich noch generationenverträglich.Dies ist unverantwortlich. Für den Haushalt des Bun-desumweltministers heißt das: Der Ausstieg aus derKernenergie wird verschoben, aber Umweltpolitik findetmit diesem Haushalt nicht statt.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt unsere Kollegin Ulrike Mehl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Borchert, Sie sind ja in einerneuen Situation. Es sind erst wenige Monate ins Landgegangen, seitdem wir die neue Regierung haben.
Auch Sie müssen sich mit neuen Themen befassen. Ichgestehe Ihnen gerne zu, daß wir im Laufe der nächstenJahre noch intensiver darüber diskutieren müssen. Dannist vielleicht auch klarer nachvollziehbar, was wir tat-sächlich wollen und warum unsere Politik besser seinwird als die der alten Regierung.
Die Mehrheit von SPD und Bündnisgrünen im Deut-schen Bundestag hat mit diesem Haushalt das erste MalGelegenheit, eine neue, ökologisch-soziale Politik in ei-nem Haushaltsplan zu verwirklichen. Dabei müssen wirnatürlich – leider – kleinere Brötchen backen, als es unsrecht sein kann. Das ist aber nicht verwunderlich, weilman nach 16 Jahren konservativer Politik eine neuePolitik nicht von heute auf morgen und schon gar nichtdurch einen Haushaltsplan einleiten kann. Die konser-vativ-gelbe Koalition hat uns eine katastrophale Haus-haltslage hinterlassen,
die wir jetzt leider berücksichtigen müssen. Auch wirkönnen das Geld nicht einfach drucken. Je flacher dasfinanzpolitische Fahrwasser ist, desto vorsichtiger müs-sen wir zunächst einmal mit den Spielräumen für Ver-änderungen umgehen und selbige ausloten, damit wirnicht so wie Sie Schiffbruch erleiden.Wir haben uns vorgenommen, endlich eine Nachhal-tigkeitsstrategie für Deutschland zu entwickeln und um-zusetzen, um den Verpflichtungen der Agenda 21 nach-zukommen. Dies ist um so wichtiger, wenn man sich an-schaut, was sich – Gott sei Dank nicht jedes Jahr – ereig-net: Das drohende Hochwasser ist noch lange nicht ab-gewendet, und auf Umwelteingriffe zurückzuführendeEreignisse in den Gebirgen, die Menschen treffen, müs-sen wir auf der Grundlage von Überlegungen zur Nach-haltigkeitsstrategie behandeln.Wir werden bei dem Thema ein ganz besonderesAugenmerk auf die Umweltbildung richten, damit dieUmsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie sich nicht nur inInsider-Kreisen abspielt, sondern von der Gesellschaftinsgesamt getragen wird. Die Umweltpolitik der altenBundesregierung hat dagegen – das ist eben auch schoneinmal sehr richtig von Herrn Minister Trittin dargelegtworden – zu einer Stimmung im Land geführt, die um-weltpolitische Arbeit insgesamt, um es vorsichtig auszu-drücken, äußerst schwierig macht. Unter Ihrer Führungist die Umwelt- und Naturschutzpolitik zu einer schein-baren Verhinderungspolitik verkommen. Wir werdenhart daran arbeiten müssen, deutlich zu machen, daß dieVerknüpfung von Ökologie und Ökonomie im Gegenteileine ganz große Zukunftschance für unser Land ist, diewir nutzen müssen.
Dazu gehört auch der Einstieg in die ökologischeSteuerreform, mit der Umweltbelastung und Ressour-cenverbrauch teurer und Arbeit durch Senkung derLohnnebenkosten billiger wird. Auch wenn zugegebe-nermaßen bei diesem ersten Schritt noch viele Wünscheoffenbleiben – das geht uns auch so –, so ist es trotzdemein absolut richtiger und wesentlicher Schritt in dierichtige Richtung.Wir steigen, wie wir eben schon gehört haben, ausder Risikotechnologie Kernenergie aus.
Das ist aber nicht alles. Wir fördern den Einstieg ineine neue, langfristig umweltverträgliche Energie, wiezum Beispiel die Solarenergie, und wir fördern konse-quent die Energieeinsparung. Wenn wir in den Jahrenvon 1974 bis 1998 21 Milliarden DM nicht in die Kern-energie, sondern konsequent in regenerative Energienund in Energieeinsparung gesteckt hätten – dafür sindim gleichen Zeitraum nur 5 Milliarden DM ausgegebenworden –,
dann wären wir heute schon ein ganzes Stück weiter.
Immerhin haben wir eine Kurskorrektur eingeleitet.Jochen Borchert
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Es kommt jetzt nicht nur auf die Einsparung imKernenergiebereich oder auf die Tatsache an, daß derStammhaushalt des BMU um 1,1 Prozent auf 730 Mil-lionen DM steigen wird, sondern es kommt wesentlichdarauf an, für welche Zwecke die Mittel eingestellt wer-den. Ich halte es für eine sehr gute Investition, wennzum Beispiel die Fördermittel für den Naturschutz über-proportional um 5,9 Millionen DM erhöht werden oderwenn die erhöhte Mittelbereitstellung für Naturschutz-verbände festgeschrieben wird; denn was die Verbändean guter, praktischer Arbeit im Bereich des Naturschut-zes leisten, ist ohnehin kaum zu bezahlen.
Es ist gut, daß im Bundeshaushalt 1999 insgesamtrund 8,7 Milliarden DM als Umweltausgaben veran-schlagt werden. Umweltschutz ist bekanntermaßen einQuerschnittsgebiet und muß sich deshalb in allen Res-sorts niederschlagen. Gerade deshalb ist es wichtig, daßwir klare Kriterien für diese Zuordnung entwickeln. Wirwollen nämlich nicht wie die alte Bundesregierunglediglich Zahlen aneinanderreihen, sondern wir wollenmittelfristig den Haushalt als Ganzes unter ökologisch-sozialen Gesichtspunkten anlegen.
Deshalb werden wir unter anderem das Umweltrechtin einem zusammenhängenden Umweltgesetzbuch zu-sammenführen – dieser Prozeß ist bereits eingeleitet –,aber ohne substantielle Verluste und mit verbessertenBürgerbeteiligungsrechten. Darin liegt der qualitativeUnterschied.
Wir werden ein Marktanreizprogramm zur Förderungerneuerbarer Energien, das aus der Ökosteuer gegen-finanziert wird, im Haushalt des Bundesministeriums fürWirtschaft und Technologie einrichten, um den regene-rativen Energien endlich den Vorsprung zu verschaffen,den sie brauchen. Wir werden verstärkt Mittel für Pro-gramme im Rahmen der Umweltforschung einsetzen,die beim Bundesministerium für Bildung und Forschungangesiedelt sind. In Zahlen ausgedrückt handelt es sichum ein Plus von 5,5 Prozent, also von 340 MillionenDM. Wir werden den Bundesverkehrswegeplan über-arbeiten und ökologisch fragwürdige Projekte streichen.
Wir werden auch auf eine ökologisch verträglicheLandwirtschaft hinarbeiten und das Bundesnatur-schutzgesetz so weiterentwickeln, wie wir uns das vor-genommen haben.
– Dabei können Sie konstruktiv mitarbeiten. Darauffreue ich mich schon. – Wir haben deshalb den Ausver-kauf von Schutzgebieten in den großen Biosphären-reservaten und Nationalparks im Osten Deutschlandsbereits gestoppt. Gab es vorher nur Ankündigungen, soerfolgt jetzt durch uns die Umsetzung.
Diese Auflistung ist natürlich nur ein kleiner Quer-schnitt der Aufgaben, die vor uns liegen. Ich habe ver-sucht, deutlich zu machen, daß die Aufgabe der Um-weltpolitik nicht darin besteht, Fehlerkorrekturen oderSchadensbegrenzung zu betreiben. Umweltpolitik mußin Zukunft in Deutschland, in Europa und auch auf in-ternationaler Ebene selbstverständlich in alle Politikbe-reiche integriert werden, und das nicht nur auf dem Pa-pier, wie es bisher der Fall war. Sie muß selbstbewußteinen Zielführungsanspruch erheben, denn ohne einenlängerfristigen Wertewandel in unserer Gesellschaftwerden wir das Ziel einer umweltverträglichen nachhal-tigen Entwicklung nicht erreichen.
In diesem Bereich wird dem Prozeß der Nachhaltig-keitsstrategie und der Umsetzung der Agenda 21 einezentrale und wesentliche Aufgabe zukommen.Deshalb gilt – auch in dieser Haushaltsdebatte –:mehr Qualität statt Quantität.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion hat jetzt unser Kollege Jürgen Koppelin das
Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Auf den Haushalt des Bun-desumweltministers konnte man wirklich gespannt sein,denn gerade Bündnis 90/Die Grünen haben als Opposi-tionspartei zum Haushalt des Umweltministeriums im-mer wieder viele Anträge gestellt. Da wurden zum Bei-spiel Millionenbeträge für die Klimaforschung gefor-dert, Investitionen zur Verminderung der Umweltbela-stung, die Finanzierung von Maßnahmen zur Luftrein-haltung und zum Gewässerschutz, 20 Millionen DM fürZuweisungen zur Sicherung schutzwürdiger Teile vonNatur und Landschaft, aber auch Mittel für einen Si-cherheitsfonds für die Verbesserung der Sicherheit vonKernkraftwerken sowjetischer Bauart. Ich finde, es warvieles dabei, über das man ganz sachlich und vernünftigdiskutieren kann.
Nur, ein Blick in den Haushalt des Umweltministers,den nun Bündnis 90/Die Grünen stellen, zeigt: Nichts,aber auch gar nichts von diesen Anträgen findet sichdort wieder.
Dabei hätten wir doch eigentlich erwarten können, daßwir Ihre Anträge – ich will nicht sagen, in dieser Millio-Ulrike Mehl
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nenhöhe, aber doch wenigstens in Ansätzen – dort wie-derfinden. Aber nichts davon, keine neuen Punkte. Die-ser Haushalt zeichnet sich nicht durch neue Aspekte imUmweltbereich aus.Ich meine – das hat auch die Rede der KolleginUlrike Mehl, die ich sehr schätze, gezeigt –, selbst dierotgrüne Koalition kann mit diesem Haushalt nicht zu-frieden sein. Denn dieser Haushalt zeichnet sich durcheines aus, liebe Kollegin Ulrike Mehl: Er zeichnet sichdurch Mittelmäßigkeit aus; keine Spur von neuen um-weltpolitischen Initiativen.
Wo bleiben neue Aspekte, zum Beispiel hinsichtlichder Belange des Umweltschutzes, beim Naturschutz undbei allgemeinen Umweltangelegenheiten? Im Bereichder kerntechnischen Einrichtungen und des Strahlen-schutzes versuchen Sie allerdings mit dem Holzhammer,Ihre Ideologie in diesem Haushalt durchzusetzen. Mangewinnt den Eindruck, es gibt für den Bundesumwelt-minister nur ein Thema, und das ist der Ausstieg aus derAtomenergie.
Doch gerade beim geplanten Ausstieg aus derAtomenergie hat sich gezeigt, daß der grüne Umwelt-minister Trittin nicht mehr Herr des Verfahrens ist. Des-halb sind die Hauptbeschäftigung unseres neuen Um-weltministers nicht mehr die Belange der Umwelt, son-dern der öffentliche Disput mit dem Bundeskanzler undTeilen der Sozialdemokraten.Ohne Frage, der Bundeskanzler hat recht mit seinerKritik an Umweltminister Trittin: Politische Inhaltemüssen auch in der Form stimmen und dürfen nicht nurkleine Minderheiten überzeugen. So BundeskanzlerSchröder. Der Bundeskanzler weiter: Er hoffe, daß Um-weltminister Trittin einmal über manche Kritik nach-denke. Diesen Aussagen des Bundeskanzlers können wiruns voll anschließen. Es wäre interessant, zu erfahren,ob der Umweltminister auch über die Kritik von Bun-deskanzler Schröder nachgedacht hat, der in RichtungTrittin erklärt, man dürfe nicht den Eindruck erwecken,als wolle man nur die eigene Position durchsetzen undals schere man sich nicht um das, was in der Gesell-schaft gedacht werde.In der Öffentlichkeit hat Bundesumweltminister Trit-tin auf diese Kritik bereits reagiert. Der Minister sagte,die SPD habe sich unter Druck einiger Energiekonzernenicht zur Umsetzung der Absprachen in der Lage gese-hen. Kollegin Mehl, ich frage einmal: Stimmt denn dieseKritik des Umweltministers? Und ich frage weiter:Bleibt der Umweltminister bei seiner Aussage? Es wäresehr interessant, das zu erfahren.
Doch irgendwie muß die Kritik des Bundeskanzlersbeim Umweltminister gesessen haben. Denn heute leseich in der „TAZ“, einer Zeitung, die ja den Grünen nichtso fern steht, die Überschrift: „Umweltminister Trittinkommt den Atomkonzernen entgegen“. Ich lese die„TAZ“ seit einiger Zeit gern.
Als Meldung heißt es dann:Bundesumweltminister Jürgen Trittin hat einem ge-setzlichen Verbot der Wiederaufbereitung Ade ge-sagt. Die neueste Fassung des seit Monaten stritti-gen Entwurfs zur Änderung des Atomgesetzes ent-hält das von den AKW-Betreibern heftig bekämpfteWiederaufbereitungsverbot nicht mehr.Da wird sich der große Koalitionspartner SPD aberfreuen, daß Umweltminister Trittin nun auf Linie ge-bracht worden ist. Die Frage ist nur, wie lange sie ihnauf Linie hält, denn das größte Problem in seinem Hausesind mangelnde Abstimmung und ständige Kurskorrek-turen. Meine Kollegin Birgit Homburger hat recht: Trit-tins Politik ist heute hü und morgen hott.Nun können wir gespannt sein, was mit dem neuestenEntwurf der Atomgesetznovelle geschieht. Den erstenEntwurf kippte der Bundeskanzler nach Aussage desRegierungssprechers in wenigen Minuten. Wie das ge-schah, hat der Regierungssprecher der staunenden Öf-fentlichkeit berichtet: Schröder sei der Entwurf derAtomgesetznovelle am Sonntag im Wortlaut vorgelegtworden. Der Kanzler habe einen Blick darauf geworfenund Nuancen entdeckt, die substantielle Folgen habenkönnten. Ich meine: Solide Politik aus dem Hause Trittinist es jedenfalls nicht, wenn der Kanzler nur einen Blickdarauf werfen muß und das Ding in den Mülleimerwirft. Dazu habe ich von der Kollegin Ulrike Mehl lei-der nichts gehört.Der Haushalt des Bundesumweltministers setzt alleinim Bereich der Kernenergie neue Akzente. Es sind aberideologische Akzente, die mit ungeahnten Folgekostenverbunden sind. Wenn Sie nicht die Kritik der Opposi-tion annehmen wollen – das merke ich –, dann solltenSie vielleicht die Kritik des niedersächsischen Minister-präsidenten Glogowski zur Kenntnis nehmen. Die Be-deutung internationaler Verträge sei von vornhereinfalsch beurteilt worden, sagt Glogowski. Auch sei esillusorisch gewesen, zu glauben, in Frankreich undEngland würde man etwaige Milliardenverluste einfachso wegstecken. Mit Blick auf den Widerspruch derKernkraftwerksbetreiber gegen ein Ende der Wiederauf-bereitung von Atommüll sagte Glogowski, für ihn seiimmer klargewesen, daß man nicht sagen kann, wir ma-chen das noch ein Jahr, und die Folgen lassen wir malauf uns zukommen. Das habe nicht funktionieren kön-nen. Diese Geschichten hätte sich der Bundesumweltmi-nister sparen können, so der niedersächsische Minister-präsident. Wo er recht hat, hat er recht. Zur Frage derRestlaufzeiten von Atomkraftwerken sagte Glogowski,diese müßten von Regierung und Betreibern im Einver-nehmen festgelegt werden und wirtschaftlich vertretbarsein. Vorzeitige Schließungen lehne er ab. „Wir sindderzeit nicht in der Lage“, so der niedersächsische Mi-nisterpräsident, „unser Geld für Ideologien rauszu-schmeißen.“ Das sind doch gute Worte, denen wir unsJürgen Koppelin
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nur anschließen können. Da Sie unsere Kritik nicht an-nehmen, ist es gut, daß Sie einmal Ihre eigenen Leutehören.
Die Strategie des Umweltministers ist, die Entsor-gungsmöglichkeiten für stark oder schwach radioaktiveAbfälle so zu verstopfen, daß man glaubt, den Ausstiegaus der Atomenergie auf diese Weise beschleunigen zukönnen. Das wird uns aber alle teuer zu stehen kom-men.Im Vorwort des Haushaltsentwurfs des Bundesmi-nisteriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit heißt es, für Umweltangelegenheiten sei die-ses Haus ebenfalls zuständig. Das hat mich ein wenigüberrascht, Herr Bundesminister; denn dann muß ichSie fragen: Was hat Ihr Haus unternommen, um zumBeispiel im Fall des Havaristen „Pallas“ tätig zu wer-den?
Alles deutet darauf hin, daß Ihr Haus, das für den Um-weltschutz zuständig ist, im Fall „Pallas“ nichts für denSchutz von Menschen, Tieren und Landschaft im Natur-park Wattenmeer getan hat. Ölpest an der Nordseeküste,Tausende von Tieren sind umgekommen, und Ihr Hauszeichnet sich durch Untätigkeit aus.
Sie waren anscheinend so sehr mit der Ökosteuer be-schäftigt, daß Sie die Ökologie an der Nordseeküsteüberhaupt nicht interessiert hat. Es war doch sehr schnellzu erkennen, daß Ihr Parteifreund, der grüne Lan-desumweltminister in Schleswig-Holstein, völlig ver-sagte.Diese Kritik wird inzwischen nicht nur von den Um-weltverbänden, der F.D.P. und der CDU/CSU geteilt,nein, inzwischen kommen sogar aus der grünen Land-tagsfraktion Stimmen der Kritik am grünen Umweltmi-nister. Sie, Herr Bundesumweltminister, haben sich dafein herausgehalten. Die Natur, die Ökologie an derNordseeküste blieb dabei auf der Strecke. Sie haben sichnicht um sie gekümmert.Ich will noch einen Punkt ansprechen, auf den meineKollegin Ulrike Flach aufmerksam gemacht hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, selbstverständlich.
Herr Koppelin, bei Ihrem
großen Herz für die Umwelt, das Sie uns ausschütten,
möchte ich Sie fragen, warum Sie in der Zeit, als Sie
hier verantwortlich gestalten konnten, so konsequent
darauf verzichtet haben?
Nein, das haben wir
nicht, Frau Kollegin. Das ist bereits vom Kollegen Bor-
chert dargelegt worden.
– Ich bin ja noch nicht fertig.
Sie haben sich geweigert, den Bundeshaushalt zu dis-
kutieren, so daß wir die erste Lesung erst in dieser Wo-
che durchführen. Aber die Berichterstattergespräche der
Haushälter haben wir schon hinter uns gebracht. Andere,
die dabeigewesen sind, werden bestätigen können, daß
ich gesagt habe: Das sind die Anträge von Bündnis 90/
Die Grünen, vergleiche ich sie doch einmal mit dem
Haushalt. Ich stelle fest, darin findet sich nichts wieder.
Ich habe auch die Anträge von den Sozialdemokraten
nicht wiedergefunden. Sie werden doch verstehen, daß
ich Sie an dem messe, was Sie vor den Wahlen verspro-
chen und mit Ihren Anträgen im Plenum dokumentiert
haben. Im Haushalt des Bundesumweltministers ist von
diesen Änderungswünschen nichts zu finden. Die Erklä-
rung, warum Sie all das, was Sie früher gefordert haben,
nicht einbringen, sind Sie uns schuldig geblieben.
Ich sage Ihnen folgendes – das wird noch ein Spaß
werden, Sie werden das erleben –: Ich werde Teile Ihrer
Anträge aufnehmen. Ich habe das bereits bei den Be-
richterstattergesprächen angekündigt. Die F.D.P. wird
sie aufnehmen, und dann wollen wir sehen, wie Sie sich
verhalten werden. Sie werden den Kopf ducken, wie Sie
das auch sonst bei Herrn Schröder und anderen getan
haben. Das werden wir erleben. Inzwischen tauchen Sie
ja völlig unter.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, kom-
men Sie dann bitte zum Schluß. Ihre Redezeit ist näm-
lich zu Ende.
Frau Präsidentin, ichmöchte ganz zum Schluß auf eine Auswirkung der Öko-steuer aufmerksam machen, auf die schon meine Kolle-gin Flach hingewiesen hat: Zukünftig werden Sie Bahnund Bus mit 500 Millionen DM belasten. Das ist dochnicht die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs.
Ich habe vom Umweltminister dazu überhaupt nichtsgehört.Zum Schluß noch folgendes: Erst kürzlich hat derSPD-Fraktionsvorsitzende Struck Sie, Herr Bundesum-weltminister Trittin, der überzogenen Selbstdarstellungbezichtigt. Wir brauchen aber keinen Bundesumweltmi-nister mit überzogener Selbstdarstellung; wir braucheneinen Bundesumweltminister, der sich für die Umwelt-belange wirklich interessiert und nicht ideologischenKonzepten von Minderheiten nachläuft.Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.
Jürgen Koppelin
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht jetzt unser Kollege Dr.Reinhard Loske.
gen! Mit dem, was Herr Borchert und Herr Koppelinhier an Heißluft geliefert haben, könnte man problemlosein Dampfkraftwerk antreiben. Das muß man wirklicheinmal sagen. Das wäre der beste Beitrag, den Sie zumKlimaschutz liefern könnten.
Herr Borchert, auf der einen Seite beklagen Sie, daßjetzt durch die ökologische Steuerreform nicht genügendneue Kohlefelder erschlossen werden können, und aufder anderen Seite geißeln Sie die Kohle als KlimakillerNummer eins. Sie müssen sich für eines entscheiden:Entweder oder; beides geht nicht.
Herr Koppelin, auf der einen Seite attestieren Sie demBundesumweltminister ausdrücklich, daß man im Haus-halt seine Handschrift in Sachen Kernenergiepolitiknachlesen kann. Auf der anderen Seite sagen Sie, dieEnergiepolitik sei ihm aus der Hand geschlagen worden.Auch hier würde ich Ihnen empfehlen: Entscheiden Siesich für das eine oder für das andere. Entweder mankann es erkennen, oder man kann es nicht erkennen.
Jetzt zu meiner eigentlichen Rede. Erster Punkt. Es istso, daß diese Regierung die Umweltpolitik zu einem ih-rer zentralen Anliegen gemacht hat. Das ist gut so. Dasunterscheidet sie von ihrer Vorgängerin.
Für uns Grüne ist es immer ganz wichtig, zu sagen: DieUmweltpolitik ist aus mehreren Gründen erforderlich.Zunächst einmal ist sie ein wichtiger Beitrag zur Ver-besserung der Lebensqualität. Das ist keine Politik,die nur für künftige Generationen gemacht wird, son-dern auch für die Menschen, die hier und heute leben.Denn da, wo das Wasser und die Luft gut sind, da läßt essich gut leben. Da, wo die Landschaft vielfältig ist, füh-len sich die Menschen zu Hause. Das ist ganz wichtig.Umweltpolitik ist also keine Sache, die man sich nur inSchönwetterzeiten leisten kann, sondern eine ganzwichtige und dringende Aufgabe der Daseinsvorsorge.Zweiter Punkt. Umweltpolitik ist auch Zukunftsver-antwortung. Wir alle wissen doch, daß wir weit überunsere Verhältnisse leben, ob beim Flächenverbrauch,beim Energieverbrauch oder beim Ressourcenverbrauch.Eine Politik der Nachhaltigkeit, die darauf setzt, daß wirdiese Überausbeutung beenden, ist angemessen und ziel-führend. Dies ist insofern eine große Verantwortung, diewir gegenüber zukünftigen Generationen wahrnehmen.
Dritter und letzter Punkt. Auch dieser Punkt scheintmir sehr wichtig zu sein. Ihn erkennt die Oppositionebenfalls nicht. Die Umweltpolitik ist ein wichtigesModernisierungsinstrument, und zwar in einem um-fassenden Sinne: Wir können moderne Umweltpolitikmit verschiedenen anderen politischen Zielen verknüp-fen. Ich nenne zum Beispiel technologiepolitische Ziele.Stichworte sind hier Effizienz, Solartechnik, Kreislauf-wirtschaft oder neue Werkstoffe. Diese Schlagwortemögen genügen.Wir können Umweltpolitik mit beschäftigungspoliti-schen Zielen verknüpfen. Wir haben in Deutschland be-reits eine Million Menschen, die im Bereich Umwelt-schutz tätig sind. Das läßt sich wunderbar mit demThema Verwaltungsvereinfachung verbinden. Wir gehengerade den Weg beispielsweise der ökologischen Steuer-reform oder einer Nachhaltigkeitsstrategie, damit wirkeine übertriebenen Detailregelungen im Ordnungsrechtbrauchen und damit wir Steuerungsinstrumente haben,die sozusagen als Breitbandinstrumente wirken. Das istgenau der richtige Ansatz in bezug auf die Verwaltungs-vereinfachung.Nicht zuletzt glaube ich, daß sich Umweltpolitik auchvorzüglich mit außenpolitischen Zielstellungen ver-knüpfen läßt. Klimapolitik, Schutz der biologischenVielfalt, Schutz der Wälder, Schutz der Ozonschicht undandere Themen – das sind die Dinge, die die internatio-nale Agenda der Zukunft bestimmen werden. Ein eini-gen von Ihnen jedenfalls früher nahestehender Politiker,Klaus Töpfer, hat einmal gesagt: Umweltschutz undRessourcenschonung sind der wichtigste Beitrag zurFriedenssicherung im 21. Jahrhundert. Ich glaube, dasist genau der richtige Ansatz.
Ich will zum Schluß kommen.
– Sie wissen, daß man die Haushaltsdebatte auch nutzenkann, um einmal einige allgemeine Gedanken zu äußern.Ich weiß nicht, wie Sie das machen. Sie können natür-lich auch die jeweiligen Zahlen rauf- und runterlesen.Aber die Haushaltsdebatte hat die gute Tradition, daßman den Blick auch einmal etwas über den Tag hinausrichten kann, Herr Kollege.Abschließend möchte ich noch einmal auf folgendeshinweisen: Umweltpolitik muß ressortübergreifend sein.Umweltpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Umweltpo-litik als rein sektorales Politikfeld hat es sehr schwer.Nur wenn Energiepolitik, Verkehrspolitik und Agrar-politik auch in Richtung Nachhaltigkeit marschieren,können wir es überhaupt schaffen, die ökologischenZiele, die wir uns gesetzt haben, zu erreichen.
Ich will ausdrücklich würdigen, daß diese Regierungeinige Schritte in die richtige Richtung getan hat. Dazugehört erstens die ökologische Steuerreform. Dieses
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1480 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999
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Projekt will ich jetzt nicht im Detail beschreiben; dazuhaben wir am Freitag Gelegenheit. Die Förderprogram-me für erneuerbare Energien, auch das 100 000-Dächer-Programm, sind ein zweiter wichtiger Baustein desKonzepts Klimaschutz/Energiewende. Ich will abernicht verhehlen, daß meine Fraktion durchaus nochweitergehende Schritte in der Umweltpolitik erwartet,wenn wir das Klimaschutzziel erreichen wollen. Wirwissen, daß das Ziel „Reduktion der CO2-Emissionenum 25 Prozent bis zum Jahr 2005“ sehr anspruchsvollist. Die Hälfte haben wir erreicht, es ist also noch eineStrecke des Weges zu gehen.
– Ihnen ist das durch den Zusammenbruch der Indu-strien in den neuen Bundesländern im wesentlichen inden Schoß gefallen. Klimapolitisch haben Sie nichtsgetan.
– „Wir“ als Land; vielleicht können wir uns darauf eini-gen.Ich glaube, daß drei Dinge in Zukunft besonderswichtig sind, gerade wenn man den Integrationsgedan-ken ernst nimmt. Erstens. Auch der Verkehrssektor mußseinen Beitrag zum Klimaschutz leisten.
Bei der Neuformulierung des Bundesverkehrswegeplansund seiner Umgestaltung zu einem integrierten Mobili-tätsplan müssen wir reichlich darauf achten, daß ökolo-gische Zielsetzungen greifen. Das ist für uns ganz wich-tig.Zweitens. Ich glaube, daß es gelingen muß, im Alt-baubestand Energiesparinvestitionen auszulösen. Dieökologische Steuerreform kann da einen ersten wichti-gen Beitrag leisten. Vielleicht aber wird es nötig sein,auch darüber hinausgehende Anreize zur gezielten Sti-mulierung von Investitionstätigkeiten im Bereich Wär-medämmung im Gebäudesektor zu erreichen.Der dritte und letzte Punkt – damit komme ich zumEnde – ist der Abbau ökologisch kontraproduktiverSubventionen. Auch das ist für unsere Fraktion ein sehrwichtiges Thema; denn das wäre nicht nur gut für denStaatshaushalt, sondern auch für die Umwelt. Ich kannfür meine Fraktion ankündigen, daß wir uns diesesThema in den nächsten Monaten vornehmen werden.Ich glaube, Umweltpolitik wird in Zukunft noch stär-ker eine Integrationsaufgabe, eine Querschnittsaufgabesein müssen. Sie wird sich deshalb in andere Sektorpoli-tiken einmischen und mit ihnen auch anlegen müssen.Das ist vielleicht ein unbequemer Weg, aber zu ihm gibtes keine Alternative.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt unsere Kollegin Eva Bulling-
Schröter.
Frau Präsidentin! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Einzel-plan 16 ist in keinster Weise der große Wurf hinsichtlicheiner Aufwertung der Umweltpolitik oder gar ein Schrittin Richtung ökologischer Modernisierung. Er rangiertmit seinem Volumen bei den Fachministerien an vor-letzter Stelle, nur noch gefolgt vom Einzelplan 07 desMinisteriums für Justiz. Er ist absolut und in seinemAnteil am Gesamthaushalt noch niedriger als der Ansatzfür 1998 mit 1,22 Milliarden DM und beträgt geradenoch 0,23 Prozent des Gesamtetats. Wenn Minister Trit-tin auf das Sparen hinweist und dies auch noch lobt,dann, so meine ich, könnte man in anderen Haushaltenwesentlich besser sparen, aber nicht bei der Umwelt-politik. Wie wäre es denn mit der Rüstungspolitik? Frü-her haben auch Sie dies gefordert.Inhaltlich ist dieser Haushalt im wesentlichen eineFortschreibung des Haushalts der Vorgängerregierung.Nicht einmal die in den Koalitionsvereinbarungen fest-geschriebenen Vorhaben sind in diesem Entwurf er-sichtlich. Nun ist der Einzelplan 16 natürlich kein Um-weltinvestitionsplan. Aber was hier vorgelegt wird, istgerade für die Grünen ein Armutszeugnis. Ich vermaghier keine Akzentsetzungen hin zu einer Ökologisierung,die Sie ständig im Mund führen, zu erkennen. Wie beider Ökosteuer ist Ökologie zu einer reinen Worthülseverkommen. Nun werden Sie argumentieren, daß sichnicht alle umweltrelevanten Ausgaben des Bundes imEinzelplan 16 befinden. Das ist richtig. Wir werden ge-nau prüfen, inwieweit sich bestimmte Projekte in ande-ren Haushaltsplänen wiederfinden.Aber auch im Programmhaushalt des Einzelplans 16hätten sich Akzente setzen lassen, wenn man nur gewollthätte, zum Beispiel bei der Ausweisung von Natur-schutzgebieten mit gesamtstaatlich repräsentativerBedeutung. Wie wollen Sie eigentlich den im Koaliti-onsvertrag vereinbarten Biotopverbund mit zusammen-hängend 10 Prozent der Gesamtfläche realisieren? Wei-tere Beispiele für Akzentsetzungen: Sie hätten mehrMittel für internationale Zusammenarbeit einstellenkönnen, die Investitionen zur Verminderung grenzüber-schreitender Umweltbelastungen entscheidend erhöhenkönnen, die Arbeit der Verbände im Bereich des Um-welt- und Naturschutzes stärker institutionell und pro-jektbezogen fördern können. Diese Liste ist beliebigverlängerbar. Es ist geradezu peinlich, wenn Erhöhun-gen im Programmhaushalt vorgenommen werden, wieetwa die Erhöhung des Ansatzes für die Projektförde-rung an die Naturschutzverbände um 34,8 Prozent. Dassind dann sage und schreibe 258 000 DM. Ich meine,das sind Peanuts.
Oder: Sie erhöhen den Ansatz für das Umweltprogrammder Vereinten Nationen um 1 Million DM, jedoch unterder Bedingung, daß andere Staaten ihre Mittel ebenfallserhöhen. Das grenzt an Irreführung. In allem ist das, wasSie hier vorlegen, genau wie die Haushalte der Vorgän-Dr. Reinhard Loske
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gerregierung keine adäquate Antwort auf die gravieren-den und sich weiter verschärfenden Umweltprobleme.Wir werden hier mit Änderungsanträgen versuchen, dienotwendigen Korrekturen anzubringen. Aber den Vor-wurf der Halbherzigkeit und des fehlenden Mutes beider Gestaltung von Umweltpolitik kann ich Ihnen leidernicht ersparen.
Doch kommen wir nun zum derzeit aktuellsten The-ma, dem Atomausstieg. Ich will gar nicht auf das Trau-erspiel, das das Haus Trittin in diesem Zusammenhangseit 100 Tagen abgeliefert hat, eingehen.
– Wir sind für den sofortigen Ausstieg, während dieF.D.P. immer dagegen war.Die PDS hat die notwendigen Konsequenzen gezogen.Die PDS wird nach einer Expertenanhörung unter Einbe-ziehung der Anti-AKW-Bewegung und der Bürgerinitia-tiven nächste Woche einen geeigneten Gesetzentwurfzum Verbot der Wiederaufbereitung als Einstieg in denAusstieg und in der Folge weitere Gesetzesvorhaben füreine schnellstmögliche Beendigung der Nutzung derAtomkraft einbringen. Dann können die Kolleginnen undKollegen von SPD und Grünen Farbe bekennen und zei-gen, ob es ihnen mit dem Atomausstieg ernst ist.Im Rahmen dieser Haushaltsberatungen nur soviel:Wir brauchen vorrangig ein Konzept zur Entsorgungvon Atommüll, das heißt zur Endlagerung. Alle Mittelim Kapitel 1604 – außer denen für die internationale Zu-sammenarbeit – sollten darauf konzentriert werden. Esmuß Schluß sein mit den Lebenslügen – sei es, die Wie-deraufbereitung als Entsorgungsnachweis stillschwei-gend zu akzeptieren; sei es, über die Verfüllung oderden Neubau von Zwischenlagern die Lösung der Endla-gerfrage auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschie-ben. Hier kann die neue Bundesregierung Glaubwürdig-keit beweisen. Entsprechend muß auch die Atomfor-schung auf den Ausstieg konzentriert werden. Wir wol-len den sofortigen Ausstieg, und wir wollen ihn unum-kehrbar. Wir sind, so scheint es, inzwischen die einzigePartei, die das ernsthaft verfolgt.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
jetzt unser Kollege Christoph Matschie.
Frau Präsidentin! Ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zu Ihnen,
Herr Kollege Borchert: Sie müssen da irgend etwas
nicht richtig verstanden haben. Der Ritter von der trauri-
gen Gestalt hat gegen Windmühlenflügel gekämpft.
Der Bundesminister für Umwelt hat in seiner Rede ge-
rade deutlich gemacht, daß er für Windmühlenflügel ist.
Herr Borchert, Sie sollten die Geschichte noch einmal
nachlesen; sonst fällt das Bild möglicherweise auf Sie
zurück.
Herr Borchert, Sie haben gesagt, die Bilanz dieser
Regierung muß sich an der Bilanz der alten Regierung
messen lassen. Das können wir an den Haushaltszahlen
vielleicht ganz gut exerzieren. Ich habe mir einmal die
Haushaltszahlen des Stammhaushalts aus den letzten
Jahren herausgesucht. 1996: minus 7,9 Prozent; 1997:
minus 4,6 Prozent; 1998: minus 1,4 Prozent. Ich erinne-
re mich noch gut daran, daß Sie, meine lieben Kollegen
von der Union, uns bei der letzten Haushaltsdebatte als
Erfolg verkauft haben, daß der Umwelthaushalt nur um
1,2 Prozent abgesenkt worden ist.
Wir können Ihnen heute sagen: Der Stammhaushalt
des Umweltministeriums steigt um 1,1 Prozent. Das ist
eine Trendwende, die Sie in all den Jahren nicht ge-
schafft haben. Das sollten Sie akzeptieren.
Ich wollte eigentlich auch etwas zum Kollegen Kop-
pelin sagen. Aber er ist schon weg. So ist das eben bei
der F.D.P.: Sie neigt zum Verschwinden. Also werde ich
mich damit nicht weiter auseinandersetzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Matschie, ich möchte die Gelegenheit nutzen, um darauf
hinzuweisen, daß sich der Kollege Koppelin ordnungs-
gemäß abgemeldet hat. Er hat als Haushaltspolitiker ei-
nen wichtigen Termin auf der Hardthöhe.
Ich nehme das zurKenntnis und entschuldige mich für meine Bemerkung.Ich wußte das nicht.Zur Schwerpunktsetzung im Umwelthaushalt. DerEtat liegt durchaus auf der Linie dessen, was wir in denletzten Jahren immer diskutiert haben – der KollegeKoppelin hat da nicht recht –: Wir haben die Mittel fürdie Förderung des Naturschutzes um 8,2 Prozent aufge-stockt; wir haben die Umweltforschungsmittel um3 Prozent aufgestockt und dabei insbesondere bei derNaturschutzforschung mit einer Aufstockung um20 Prozent einen Schwerpunkt gesetzt. Bei diesen Titeln– so haben wir im Umweltausschuß in den vergangenenJahren immer wieder gesagt – müssen deutlichereAkzente gesetzt werden.Ähnlich sieht das bei den Erprobungs- und Entwick-lungsvorhaben auf dem Gebiet des Naturschutzes aus:plus 15 Prozent. Und weil wir bei den Forschungsmit-teln sind – es geht ja bei Umweltpolitik nicht nur um denUmwelthaushalt, sondern auch um andere Haushalte –:Auch im Haushalt des Bundesministeriums für BildungEva Bulling-Schröter
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und Forschung ist der Titel für Umweltforschung um5,5 Prozent aufgestockt worden.Sie sehen: Hier sind deutliche Akzente gesetzt wor-den, in Bereichen, über die wir in den letzten Jahrenimmer nur diskutiert haben und wo wir wenige Erfolgehatten.Was mir noch am Herzen liegt – dies steht noch nichtim Entwurf –: Wir wollen auch ein Programm zur För-derung erneuerbarer Energien in den Haushalt ein-stellen, und zwar im Umfang der Einnahmen, die aus derBesteuerung dieser alternativen Energien hereinkom-men. Wir können diese nicht von der Ökosteuer aus-nehmen, aus Gründen, die bekannt sind und hier nichtdiskutiert werden müssen.Damit bin ich bei einem der wichtigsten Reform-anliegen der Umweltpolitik seit vielen Jahren: Die Prei-se müssen die ökologische Wahrheit sagen. Wir begin-nen damit; wir machen den ersten Schritt einer ökologi-schen Steuerreform. Die alte Regierung hat manchmaldarüber geredet, manchmal es verschwiegen, aber letzt-endlich national und in der EU eine ökologische Steuer-reform blockiert. Die Europäische Kommission hat 1991das erste Mal einen Vorschlag zu einer europaweiteneinheitlichen ökologischen Steuerreform vorgelegt. Die-se ist 1992 von dem damaligen Vize-Kommissions-präsidenten Bangemann gemeinsam mit der verantwort-lichen Finanzkommissarin mit dem Hinweis gestopptworden, man könne das nur durchsetzen, wenn auch dieJapaner und die Amerikaner mitmachten – ein Tot-schlagargument: auf die lange Bank schieben, weg da-mit!Die damaligen Regierungsparteien, Union undF.D.P., haben auch im Vorfeld des Klimagipfels in Ber-lin über die ökologische Steuerreform diskutiert. Ich er-innere mich, sogar der Wirtschaftsminister Rexrodt hatdamals gesagt: Wenn das nicht zusammen geht, dannmüssen wir es notfalls auch im nationalen Alleingangdurchsetzen. – Die Klimakonferenz war vorbei, derBundeskanzler hat die Debatte beendet – und damit warsie für die nächsten Jahre beendet.Wir fangen damit an. Wir machen den ersten Schrittin der ökologischen Steuerreform. Und wir gehen weite-re Schritte an: Wir werden über eine europäische Har-monisierung der Energiebesteuerung diskutieren und sieweiterbringen. Dazu gehört auch – dazu ist schon eini-ges gesagt worden – eine Neuorientierung der Energie-wirtschaft.Da Sie hier etwas zur Richtlinienkompetenz in derBundespolitik gesagt haben, speziell in der Energiewirt-schaft, möchte ich Sie nur daran erinnern, daß Sie es zuder Zeit, als Sie noch unter der Knute des jetzt abge-wählten Bundeskanzlers Kohl standen, nicht gewagt ha-ben, über die Richtlinienkompetenz des Kanzlers zuwitzeln. Sie sollten sich deshalb in dieser Frage viel-leicht ein bißchen zurückhalten.
Zu der Neuorientierung in der Energiewirtschaft ge-hört ein breites Maßnahmepaket von Einsparungen,unter anderem Maßnahmen zur effizienten Energieer-zeugung. Wir wollen besonders Kraft-Wärme-Kopplungund Blockheizkraftwerke fördern, und wir werden dieregenerativen Energien verstärkt fördern. Auch dazusind – ich habe dazu schon etwas gesagt – zwei Pro-gramme aufgelegt.Wir brauchen, weil die Umweltpolitik ein langfristi-ges Anliegen ist, den Einsatz vieler gesellschaftlicherKräfte, ein möglichst breites Bündnis; denn Umwelt-politik kann nur funktionieren, wenn sie langfristig be-rechenbar ist und über viele Jahre durchgehalten werdenkann. Zum einen muß es für die Produzenten und die In-dustrie langfristige Vorgaben geben, zum anderen aberauch für die Bürger; denn auch die müssen sich daraufeinstellen können.Zur Situation der Bürger im Bereich der Umweltpoli-tik möchte ich noch anmerken, daß es erst diese Regie-rung gewesen ist, die noch im allerletzten Moment undals letztes Land in der EU die Aarhus-Konvention ge-zeichnet hat, die den Zugang zu Umweltinformationenfür Bürgerinnen und Bürger verbessert. Auch das habenSie in Ihrer Regierungszeit nicht geschafft.Zum Schluß lassen Sie mich noch sagen – es ist mirein wichtiges Anliegen –: Diese Bundesregierung hatsich vorgenommen, mehr zur Sicherung des Naturerbesvor allem in Ostdeutschland zu tun. Wir wissen heute,daß zwei Drittel aller in Deutschland vorkommendenBiotoptypen als gefährdet gelten und 15 Prozent von dervölligen Vernichtung bedroht sind. Wir brauchen des-halb deutlichere Schritte gerade im Bereich des Natur-schutzes. Die Sicherung des noch vorhandenen Naturer-bes in Ostdeutschland ist ein wichtiger Beitrag dazu.Trotz mancher Fortschritte in der Umweltpolitik –auch in den letzten Jahren; das will niemand bestrei-ten – ist sie nicht einfacher, sondern schwieriger gewor-den, weil die Probleme komplexer geworden sind. Des-halb braucht es einen breiten gesellschaftlichen Ansatz,eine gemeinsame Anstrengung, um langfristige Lösun-gen zu finden. Ich kann Sie nur auffordern, werte Kolle-ginnen und Kollegen von der Union und von der F.D.P.:Wirken Sie konstruktiv daran mit, und ziehen Sie sichnicht in die Schmollecke zurück, weil Sie in diesemHaus die Mehrheit verloren haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt für
die CDU/CSU-Fraktion unser Kollege Dr. Klaus Lip-
pold.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Herr Matschie, ich könnte es mir als Hesse leicht-machen und sagen: Ich muß nicht auf den 27. September1998 sehen; ich schaue mir jetzt den 7. Februar 1999 an.Dann warten wir ab, wie die Dinge weitergehen. Siesind schon viel kleinlauter geworden, seitdem Sie dieSchlappe in Hessen haben einstecken müssen: wegenChristoph Matschie
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der Unfähigkeit der Bundespolitik – doch nicht wegender hessischen Zustände –, wegen des Chaos, das Sie inder Umweltpolitik angerichtet haben, wegen des Hü undHott, das ansteht.
Dabei wollen wir es belassen, Herr Matschie.Aber lassen wir das; das ist nicht der Kernpunkt. Eswar ein Fehler von Ihnen, die berechtigte Kritik derKollegen Borchert und Koppelin zurückzuweisen. Indiesem Fall muß man auch die PDS einschließen. Icherinnere an das, was Sie früher in Sachen Naturschutz,Umweltschutz versprochen und für den Haushalt ver-langt haben. Wenn ich sehe, daß Sie 88,7 Millionen DMfür Beton und 1,3 Millionen DM für Naturschutz anset-zen, dann muß ich sagen: Das ist eine Relation, die Sieuns früher um die Ohren gehauen hätten. Das machenwir jetzt mit Ihnen, weil das berechtigt ist. Naturschutzist das nicht unbedingt. Mit nachhaltiger Entwicklunghat der Beton, der da verbaut wird, nichts zu tun. Dasmuß man sehen.
Was die Zielstrebigkeit Ihrer Politik angeht: Sie ha-ben heute mehrfach die Ökosteuergesetzgebung ange-mahnt. Welche Ökosteuergesetzgebung meinen Sie?Die, die Sie wieder aufgemacht haben, nachdem wir imUmweltausschuß und im Finanzausschuß abschließendberaten haben? Kommen Sie morgen früh und wollendie Beratungen wieder aufnehmen, weil Ihnen aufge-gangen ist, daß das, was Sie uns in den Ausschüssen alsfalsch um die Ohren gehauen haben, auf einmal doch Ih-re Politik ist? Schämen Sie sich doch für einen solchenAnsatz!Wir haben gesagt: Die Landwirtschaft gehört da hin-ein, der öffentliche Verkehr gehört da hinein. Sie habendas abgelehnt. Morgen müssen wir Ihretwegen geson-dert zusammenkommen, damit wir all das neu beschlie-ßen, was wir angesprochen, was wir gefordert und wasSie abgelehnt haben, und zwar nur, weil er unfähig ist,das durchzusetzen. – Das geht an den Bundesumweltmi-nister. Drei Zurufe von draußen, eine vernünftige Lob-by, und der Umweltminister liegt flach.
Sie haben das früher mit beschlossen, ohne zu wissen,was ist. Sie haben gesagt: Das brauchen wir nicht zuwissen; das haben wir alles schon festgelegt. – Jetzt er-fahren Sie, was Sie alles nicht festgelegt haben.
Diese chaotische Politik muß man sich einmal vor Au-gen führen. Sie müssen den Kollegen erst einmal sagen,daß morgen eine weitere Sitzung ist, weil die das nochgar nicht wissen.
Jetzt wollte ich Sie unter anderem wegen der Ansätzein der Landwirtschaft kritisieren. Ich kann Sie heute abernicht kritisieren; denn Sie haben uns die Anträge nochnicht einmal zugeschickt. Auf die warten wir noch. DieFormulierungen kennen wir noch nicht.
Sie sagen nur: Vermutlich wird es um diese Position ge-hen. – Was ist das für ein Chaos in diesem Haus? DerJunge bringt doch absolut nichts auf die Beine. Sie vonder SPD freuen sich darüber; ich weiß. Auch bei denGrünen freuen sich einige darüber.
Das ist so. Es ist nicht nur der Ritter von der traurigenGestalt. Wenn wir zur Kernenergie kommen: Ausstiegrein, Ausstieg raus, Gesetz hin, Gesetz zurück. Da in-szeniert Bodo Hombach doch das neue Bonner Musical„Der Schöne und das Biest“.
So ist das doch!
Schauen Sie sich doch die Karikaturen an.Schauen Sie einmal, wie unheimlich leise Ihr Fraktions-vorsitzender Fischer dazu grollt.
Das hört man überhaupt nicht. Wie nimmt er denn denUmweltminister Trittin in Schutz? Gewaltig! Die ge-samte rhetorische Kraft von Fischer vereint sich in die-sem Punkt. Nichts sagt er zu ihm. Man kann auch nichtviel zu ihm sagen. Das ist richtig. Ich hätte doch wenig-stens erwartet, daß er sich in der Auseinandersetzungvor seinen Fraktionskollegen stellt. Aber da ist garnichts. Es bleibt bei der Inszenierung „Der Schöne unddas Biest“.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Lip-
pold, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, wir machen jetzt erst weiter. Das muß im Zusam-menhang gesagt werden. Daß ich keine Angst vor Zwi-schenfragen habe, wissen hier alle Beteiligten im Hause.
Jetzt kommen wir zur Kernenergiepolitik: Ausstieghin, Ausstieg her. Was ist denn nun? Dauert der soforti-ge Ausstieg 25, 30 oder 35 Jahre? Wenn das unsicherDr. Klaus W. Lippold
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ist, muß man herausgehen. Aber Herr Trittin will her-ausgehen, um dann still wieder hereinzugehen. Jetztwird das von den Grünen verteidigt. Man könnte sichüber Denkansätze irgendwo freuen, wenn sie wenigstensvon inhaltlicher Überzeugung geprägt wären.Kollege Loske, der die Zusammenhänge in der Um-weltpolitik etwas besser als viele andere begreift, stelltdann ganz vernünftig klar, daß diese Kernenergiepolitiknatürlich eine klimaschädliche Politik ist. Recht hat er.Er hat es gerade in einer ungeheuer höflichen und char-manten Art formuliert. Ich sage in meiner direkten Artdas, was Herr Loske gesagt hat: Dieser Umweltministerist nicht fähig, zu begreifen, daß seine Kernenergiepoli-tik international einen klimaschädlichen Effekt hat undnational das Klimaschutzziel zu verfehlen anstrebt, daswir so nicht erreichen können.
Herr Loske sagt es ihm vermutlich intern deutlicher,als er es hier zum Ausdruck bringt. Die Formulierunggerade, Kollege Loske, war elegant. Ich gratuliere Ihnendazu. Das alles trägt mit dazu bei, das Bild dieses Mi-nisters zu ergänzen.Ich würde übrigens an Stelle der Sozialdemokratenetwas zurückhaltend sein. Ich habe die Unterbrechungvorhin genutzt, mir einmal anzuhören, was der KollegeVahrenholt zur Kernenergie, zum Ausstieg und zumKlimaschutz ungefähr 250 Meter weiter bei einer Veran-staltung der EU-Kommission erklärt hat. Er hat gesagt:Alle anderen bleiben bei der Kernenergie oder steigenein, nur die Deutschen steigen aus; das ist keine klima-freundliche Politik. – Der Name Vahrenholt sagt Ihnendoch noch etwas, wenigstens einigen Eingeweihten un-ter Ihnen. Er soll einmal Umweltsenator für die Sozial-demokraten in Hamburg gewesen sein. Wo der Mannrecht hat, hat er recht. Das ist nun einmal so.Es gibt noch einige andere Punkte, die wir hier auf-greifen müssen. Ich habe hier immer wieder gehört– Frau Kollegin Mehl hat es angesprochen –, daß nebender verfehlten Öko-Steuerpolitik und der verfehltenKernenergiepolitik im Umweltschutz de facto nichtspassiert. Haben Sie heute gehört, daß dieser Umweltmi-nister etwas zum Schwerpunkt gesagt hätte, den er aufdem nächsten EU-Gipfel verkünden will, etwa zur inte-grierten Produktpolitik? Das will er auf dem nächstenGipfel verkünden. Das Konzept sehe ich noch nicht.Übrigens sehe ich auch nicht, was viele verlangen,auch einige Grüne, daß man den Kernenergieausstieg,wenn man ihn denn schon anstrebt, mit einem energiepo-litischen Konzept verknüpfen müßte. Das fehlt beiIhnen. Das ist aber ein ganz wesentlicher Punkt. ZumNaturschutz ist die Kritik gerade schon geäußert worden.Wir können auch über das Öko-Audit sprechen. Dasist ein ganz wesentliches Element, das Sie anstreben. ImAusschuß haben Sie einen Antrag eingebracht – dieKoalitionsfraktionen haben sich auf das Ministerium ge-stützt –, mit dem Sie die Hürden für das Öko-Audit inDeutschland so hoch hängen, daß kein Unternehmen– das kann man jetzt schon prophezeien – die Öko-Audit-Zertifizierung beantragen wird. Sie werden alle indas internationale ISO-14001-System wechseln. AberSie sind nicht belehrbar. Sie hocken in Ihren eigenenWänden, sprechen nicht mehr mit der Außenwelt undhören noch nicht einmal auf die Naturschutzverbände,die Ihnen sagen, daß Versprechen allein nichts nützen.Sie müssen Ihre Versprechen wenigstens einmal mitZeithorizonten versehen. Lesen Sie sich einmal die Kri-tik vom BUND durch. Das steht dort, wo die kleinenMännchen immer die langen, traurigen Gesichter ma-chen. Das ist Kritik an Ihrer Regierung, und zwar des-halb, weil Sie zwar das eine oder andere in den Mundgenommen, aber noch nicht einmal mit einem zeitlichenRahmen versehen haben. Haben Sie etwa diesen Mi-nister gerade etwas zur nachhaltigen Politik sagen hö-ren?Früher, verehrte Freunde von der Sozialdemokratieund von den Grünen, haben wir den Jahreswirtschaftsbe-richt diskutiert. Dabei haben Sie uns vorgeworfen, daßim Jahreswirtschaftsbericht nicht auf mindestens 50Seiten der Umweltschutz behandelt wird –, wir würdenUmweltpolitik vernachlässigen.Jetzt schaue ich einmal, wie das bei Ihnen aussieht.Sie kennen alle diese hübsche kleine Broschüre desBundespresseamtes, des Presse- und Informationsdien-stes der Bundesregierung. Das sind jetzt Sie – nicht daßsich einige bei Ihnen vertun. Es geht um das Arbeitspro-gramm 1999 der Bundesregierung. Jetzt schauen Siedoch einmal im Inhaltsverzeichnis, wo der SchwerpunktUmweltpolitik ist.Es gibt keinen Schwerpunkt Umweltpolitik. Da stehtnichts zu Naturschutz; da steht nichts zum Öko-Audit;da steht nichts zu Selbstverpflichtungselementen. Siehaben im Zusammenhang mit zwei anderen Gesetzen ir-gendwo einmal gesagt, daß die Umweltverträglichkeitgeprüft werden soll. Man sollte Ihnen das um die Ohrenhauen! Im Jahreswirtschaftsbericht wollen Sie 50 Seitenüber Umweltschutz haben, und im Schwerpunktpro-gramm der Bundesregierung findet sich die Umwelt-politik überhaupt nicht wieder.Was für einen Einfluß hat der Mann, der dort sitzt,eigentlich? Jetzt tanzt ihm auch schon das Presse- undInformationsamt auf der Nase herum. Beim Schwerge-wicht Hombach habe ich das noch einigermaßen verste-hen können, aber daß jetzt schon die nachgeordnetenBehörden dem Umweltminister so mitspielen können,macht mich nachdenklich, Freunde. Das ist doch nichtgut.Herr Trittin, ich habe Ihnen damals gesagt, daß wirSie in den ersten 100 Tagen schonend behandeln wer-den. Hinsichtlich einiger Grundüberzeugungen – es gibteinige Positionen, die ich jetzt nicht benennen werde –sind wir durchaus daran interessiert, mit Ihnen den Um-weltschutz weiterzutreiben. Deswegen kann ich in die-sem Amt keinen schwächlichen Kameraden gebrauchen.
Aber allein wenn ich mir diese Broschüre ansehe,dann muß ich sagen, Sie sitzen auf dem falschen Stuhl.Dr. Klaus W. Lippold
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 20. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 23. Februar 1999 1485
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Darüber sollte Ihre Partei einmal nachdenken. DerKanzler denkt schon darüber nach; wie Fischer daskommentiert, weiß ich noch nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist unser Kollege Michael Müller.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Wenn man den KollegenLippold hört, dann fällt einem vor allem eins ein, daswir vergessen haben, nämlich die Novellierung der TALärm; die ist dringend erforderlich.
Ich möchte Ihre Punkte gerne ernst nehmen, mußIhnen aber auch ganz deutlich sagen: Mit Sonthofen istbei Ihnen schon einmal ein Kandidat gescheitert. Den-ken Sie einmal daran. Das ist keine Strategie, die unshilft. Sie sind doch im Grunde genommen nur neidisch,daß jetzt wenigstens ein paar Schritte in die richtigeRichtung gemacht werden.
Wir würden gerne mehr machen, ganz klar. Aber Siehaben doch noch nicht einmal die Kraft gehabt, dieMehrheiten, die Sie in Ihrer Fraktion für die ökologischeSteuerreform hatten, umzusetzen. Blasen Sie sich dochnicht so auf! Sie wissen ganz genau, daß Sie seit etwavier bis fünf Jahren überhaupt nichts mehr zu sagen ge-habt haben. Das ist doch die Realität.
Lassen Sie mich zwei Punkte ansprechen, die mirsehr große Sorge machen und die auch in diese Debattegehören. Das ist zum einen die Sorge der Menschen umdas immer häufigere Hochwasser, und das ist zum ande-ren die Sorge über die extremen Vorfälle in den Gebir-gen, zum Beispiel in den Alpen. Es ist sicher richtig, daßdiese Vorfälle etwas mit Zyklen des Wettergeschehensund auch etwas mit menschlichen Fehlern wie bei-spielsweise Begradigungen, Versiegelungen und ähnli-chem zu tun haben. Wenn man sich die langfristigeWetterstatistik anschaut, so macht es uns Sorge, daß dieExtreme dramatisch zunehmen.
– Ja, genau. Ich komme jetzt zum Punkt Klimaschutz.Wir haben dort international Verpflichtungen über-nommen, weshalb wir in diesem Punkt, unbeschadet al-ler Kontroversen, zumindest versuchen sollten, kon-struktiv miteinander umzugehen. Wir stellen fest – dieseFakten muß man einmal nennen –: Seit 20 bis 30 Jahrengibt es eine deutliche Zunahme von Wetterextremen,insbesondere im Winterhalbjahr. Es gibt extreme Tem-peraturschwankungen, die alarmieren – das sind keineKleinigkeiten. Wir haben im Vergleich zu vor 100 Jah-ren etwa 5 Prozent mehr Wasserdampf in der Atmosphä-re. Wir verzeichnen eine deutliche Abschmelzung, jaeine Halbierung der Gebirgsgletscher in den Alpen. Dasalles führt dazu, daß solche Wetterextreme häufigerwerden und eine größere Dimension annehmen. Ichdenke an Hochwasser, an Lawinen und allgemein an dieZunahme von Abschmelzungsprozessen.Der Klimaschutz wird deswegen für diese Bundesre-gierung nach wie vor einen hohen Stellenwert haben. Indieser Frage werden wir nicht wackeln. Im Gegenteil:Klimaschutz sehen wir sogar als eine Chance für ökolo-gische Modernisierung an, national und international.Das muß so bleiben.
Wir wissen allerdings auch, daß Klimaschutz jetztsehr viel schwieriger wird. Die Zahlen sind eindeutig:Wir haben Ende 1997 eine Reduktion von 43,6 Prozentgegenüber 1990 in den neuen Bundesländern, aber einPlus von 1,9 Prozent in den alten Bundesländern. Natür-lich hat es Bevölkerungsbewegungen gegeben; dasstreite ich gar nicht ab. Aber ich muß daran erinnern –das wissen Sie vielleicht auch noch, Kollege Lippold –,daß wir in unseren Berechnungen eine gewisse Bevölke-rungsbewegung von Ost nach West berücksichtigt hat-ten. Das ist also nicht völlig überraschend, es ist nur inder Größenordnung mehr, als wir vorhergesagt haben.Tatbestand ist aber, daß wir jetzt unter den Bedin-gungen liberalisierter Energiemärkte und vor allem ten-denziell fallender Energiepreise etwas durchsetzen müs-sen, was wegen dieser Bedingungen noch sehr vielschwieriger geworden ist: Energie einsparen, die Brückeins Solarzeitalter schlagen, die Effizienz erhöhen etc.Das bedeutet eine unglaubliche Kraftanstrengung; dar-über muß man sich im klaren sein. Ich halte diese Her-ausforderung für eine der zentralen Fragen für dieGlaubwürdigkeit Europas und für die Rolle, die wir zu-künftig unter dem Anspruch sozialökologischer Moder-nisierung in der Welt spielen. Deshalb werden wir indieser Frage auch keine Späßchen machen.Sie können jetzt fragen, wieso wir aus der Atomener-gie aussteigen. Zunächst einmal ist die Reduktion derCO2-Emissionen auch mit Atomenergie nicht zu errei-chen. Sie wissen selbst, daß in den Gutachten für dieEnquetekommission niemand einem expansiven Ausbauder Atomenergie das Wort geredet hat.
– Kollege Laufs winkt ab; aber er war ja auch nicht da-bei.
– Sie waren nicht in der Kommission. – Niemand in derKommission ist für den Ausbau der Atomkraft einge-treten, weil jeder weiß, daß das Entscheidende Einspa-Dr. Klaus W. Lippold
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ren, Einsparen, Einsparen sowie der Ausbau von erneu-erbaren Energien ist. Das ist die eigentlich richtige Ant-wort auf die Klimaveränderungen.
Der Ausstieg aus der Atomkraft, ganz egal, wie Sieihn werten, bedeutet zumindest eines: Wir beenden denStillstand und die Stagnation, die in der Energiepolitikseit Jahren herrschen. Der Ausstieg aus der Atomkraftist also ein ganz wichtiger Punkt, für den viele Gründesprechen, übrigens auch Klimaschutzgründe. SchauenSie sich einmal die Weltszenarien an. Nicht ein einzigesWeltszenario, das auf den Ausbau der Atomkraft setzt,löst das CO2-Problem, weil die Logik eines Energie-systems, das auf Expansion und hohen Verbrauch setzt,bestehenbleibt.
– Gut, bei Ihnen ist das Unsinn. In der Zwischenzeit istdie wissenschaftliche Diskussion aber schon ein bißchenweiter. Bevor man über Innovationen redet, sollte manauch einmal die neuere Literatur lesen.Wer über Ausstieg redet, muß auch über Neuordnungreden. Ich sehe vier Punkte, die dafür entscheidend sind,daß wir das schaffen können: erstens eine starke Erhö-hung der Energieproduktivität. Wir haben heute einWachstum der Energieproduktivität von 1,6 bis1,7 Prozent. Angesichts unserer technologischen Mög-lichkeiten können wir das auf gut 3 Prozent steigern.Wir können zweitens den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung auf etwa 110 Terawattstunden verdoppeln.Drittens können wir – heute ist das ja ein bescheidenerAnteil von nur 2,3 Prozent der Endenergie – den Anteilder regenerativen Energie verdreifachen. Wenn wirdiese drei Schritte gehen und dies mit einer neuen Gene-ration effizienter, schonender und hochwirksamerKraftwerke vor allem für bestimmte Bereiche derGrundlast verbinden, dann werden wir das Klimaschutz-problem lösen, gerade weil wir durch den Ausstieg ausder Atomkraft zu einer Neuordnung der Energieversor-gung gezwungen sind.Ich sage Ihnen umgekehrt: Wenn Sie den Status quoso lassen, wie er heute ist, wird die Bundesrepublik aufdem Feld der Energiepolitik nur verlieren; denn einenreinen Preiswettbewerb werden wir nicht durchhalten.Wer Beschäftigung sichern will, wer will, daß die mo-dernen Technologien zum Einsatz kommen, muß zuVeränderungen in der Energiepolitik kommen. Das istdie große Chance, um Beschäftigung, Ökologie undÖkonomie in sinnvoller Weise miteinander zu verbin-den. Das werden wir machen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, weitere Wortmeldungen liegen mir für
die heutige Sitzung nicht vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Mittwoch, den 24. Februar 1999,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.