Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer internationalen Vereinbarung — —
— Das kommt davon, wenn man zwei Minuten zu früh anfängt. Der Eifer des Parlaments ist nicht mehr zu überbieten.
— Morgen bin ich nicht als erster eingeteilt.
Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie den Versprecher. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung um die Zusatzpunkte erweitert werden, die unter Nr. 5 und 6 der Ihnen vorliegenden Liste der Zusatzpunkte aufgeführt sind. Ist das Haus damit einverstanden?
— Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Rechtsverletzungen während der Herbstmanöver
Meine Damen und Herren, die Fraktionen der CDU/CSU und FDP haben gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Rechtsverletzungen während der Herbstmanöver" verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei den Herbstmanövern sind unsere Soldaten von der Bevölkerung herzlich aufgenommen worden. Ich hebe das nicht hervor; das ist selbstverständlich. Es sind ja doch in unserer Wehrpflichtarmee unsere eigenen Söhne, die Söhne unseres Volkes. Auch wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, danken ihnen und ihren alliierten Kameraden für den Schutz, den sie unserem Lande gewähren.
Aber es hat bei den Herbstmanövern auch schlimme Rechtsbrüche gegeben, tätliche Angriffe gegen Soldaten, Beschädigungen von Waffen und Gerät und Demonstrationen gegen die Bundeswehr. Den Demonstranten rufe ich zu: Wer mit unserer Verteidigungspolitik nicht einverstanden ist, möge gegen uns demonstrieren, gegen die Regierung, nicht gegen die Armee.
Nicht die Armee, wir bestimmen die Verteidigungspolitik. Ferner ist die Bundeswehr keine Parteiarmee, es ist unser aller Armee. Wer die Bundeswehr angreift, greift nicht die Regierung an, er greift den demokratischen Staat, seine äußere Sicherheit und seine Fähigkeit zur Selbstbehauptung an.
Bei den Manöverbehinderungen haben sich drei Gruppen hervorgetan. Erstens kriminelle Rechtsbrecher. Ich fordere die Justiz auf, sie unnachsichtig ihrer Strafe zuzuführen.
Zweitens Anhänger der sogenannten Friedensbewegung. Den Gutwilligen unter ihnen rufe ich zu: Lassen Sie Ihren Friedenswillen nicht von denen mißbrauchen, die unseren demokratischen Staat schwächen, die ihn unter Umständen unter fremde Botmäßigkeit führen, die ihn vielleicht sogar zerstören wollen!
Leider hat auch die SPD als dritte Gruppe in diesem Zusammenhang eine Rolle gespielt.
Sie hat dazu aufgefordert, die Herbstaktionen der sogenannten Friedensbewegung politisch und finanziell zu unterstützen.
Zu diesen Herbstaktionen gehörten auch Manöverbehinderungen. Herr Kollege Brandt, darauf von
mir in der Debatte zum Haushalt angesprochen,
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Dr. Dregger
suchte sich mit dem Hinweis herauszureden, im Informationsdienst „Intern" habe er sich von diesen Manöverbehinderungen distanziert. Dieser Informationsdienst ist nicht der Öffentlichkeit zugänglich. Meine Frage, warum das nicht in dem Parteivorstandsbeschluß geschah, der der Presse übergeben wurde, ist bis heute unbeantwortet.
Meine Damen und Herren, die Gründe liegen auf der Hand. Die SPD sucht neue Mehrheiten: mit GRÜNEN, mit Alternativen, mit der sogenannten Friedens- und mit anderen Bewegungen.
Herr Börner exekutiert das zur Zeit in Hessen als Wortbrüchiger seinen Wählern gegenüber.
Das ist schlimm. Schlimmer ist es, daß die SPD jetzt auch auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik mit diesen Kräften ein Bündnis sucht.
Meine Damen und Herren der SPD, ich fordere Sie auf: Opfern Sie Ihrem Machtopportunismus nicht auch noch die Sicherheit unseres Landes!
Distanzieren Sie sich von jeder Form von Manöverbehinderungen in aller Klarheit, mögen sie gewaltfrei oder gewaltsam stattfinden!
Drittens. Stellen Sie sich hinter unsere Soldaten und hinter ihre verbündeten Kameraden!
Davon hängen Sicherheit, freiheitliche Existenz und Zukunft unseres demokratischen Staates ab.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmude.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Unsere Demokratie muß Gegensätze aushalten, und sie kann es.
Richtig ist es dann, klare Standpunkte zu beziehen,
falsch ist es, mit Rundumschlägen Situationen zur innenpolitischen Konfliktzuspitzung auszunutzen.
Nicht zum ersten Male, sondern zum wiederholten Male stelle ich für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hier in aller Kürze fest:Die Existenz der Bundeswehr und die Grundlinien ihres Auftrages werden von der SPD ebenso verantwortet wie von den jetzigen Regierungsparteien.
Die Bundeswehr sichert durch ihre Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit den Frieden.
Zur Erfüllung dieses Auftrages sind Manöver notwendig.
Die Bundeswehr und jeder einzelne Soldat in ihr tun in der Wahrnehmung ihrer Friedensaufgabe ihre Pflicht, wie wir sie ihnen durch politische Entscheidung gesetzt haben. Sie finden dafür unseren Dank, unsere Anerkennung, unsere praktische Unterstützung und auch unseren Schutz.
Die amerikanischen Streitkräfte sind wie die anderer westlicher Verbündeter mit unserem Willen zu unserem Schutz in der Bundesrepublik.
Wir wollen sie dafür auch hierbehalten, solange das weiterhin notwendig ist.
Gemeinsam mit der Bundeswehr sichern sie uns den Frieden.
Dafür haben sie unseren Dank, unsere Unterstützung und zusätzlich unsere besondere Wertschätzung als Gäste und hilfreiche Freunde.
Demonstrationen für Abrüstung, für eine Politik der Entspannung und Verständigung und gegen ein Übergewicht von immer mehr Waffen drücken die Sorge um den Frieden aus, die weit über die Zahl der Teilnehmer an diesen Demonstrationen hinaus viele Menschen bei uns empfinden.
Solche Demonstrationen sind legitim; sie dienen dem guten Zweck, einer mit allen Anstrengungen geführten konstruktiven Friedenspolitik
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Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6411
Dr. Schmudein der Öffentlichkeit den gebührenden ersten Rang zu verschaffen.
Allzu leicht wird Friedenspolitik von diesem Rang verdrängt.Manöverbehinderungen, Sachbeschädigungenund vor allem Gewaltanwendung sind mit glaubhafter Friedensdemonstration nicht vereinbar.
Die Friedensbewegung tut gut daran, die in ihren Reihen bereits heftig geführte Diskussion über solche Vorgänge in den letzten Wochen wirklich auszutragen. Am Ende wird mit Sicherheit die Bekräftigung stehen, daß für den Frieden nur friedfertig demonstriert werden kann und daß alles andere dieses Ziel verdunkeln muß. Für die Friedensbewegung und die ganz überwiegende Zahl der Demonstranten gilt das ohnehin, wie wir aus dem friedlichen Verlauf nicht nur der Demonstrationen im letzten Herbst, sondern auch der überwiegenden Demonstrationen in diesem Herbst erkennen können.
Meine Damen und Herren, die Polizei schützt beide, die Bundeswehr und die Soldaten unserer Verbündeten in der Erfüllung ihres Auftrages, die Demonstranten bei der Wahnehmung ihrer Grundrechte. Durchweg haben auch in diesen Wochen die Polizeibeamten ihre schwierigen Aufgaben gut gemeistert. Wir können nicht jeden Zwischenfall von hier aus abschließend beurteilen, doch das Gesamtbild ist eindeutig: Sicherheit und Freiheit sind durch ebenso energische wie behutsame Pflichterfüllung der Polizeibeamten gewährleistet worden. Mit dem hessischen Innenminister Winterstein stelle ich fest —
— Hören Sie sich das ruhig an!
Mit Herrn Winterstein stelle ich fest, daß sich die Polizei nicht als Instrument der Repression, sondern als eine besonnene demokratische Polizei erwiesen hat.
Mit ihm sprechen wir den Beamten Dank und Hochachtung aus.
Meine Damen und Herren, Konflikte müssen politisch ausgetragen werden, aber dies ohne pauschale Diffamierungen und ohne Ausgrenzung. Ich bedaure, daß Sie wieder einmal eine Gelegenheit zu solchen Rundumschlägen, zu Dramatisierung und zu Hysterie nutzen.
Das tut uns nicht gut, und dem treten wir entgegen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre sehr gut gewesen, wenn die Ausführungen, die der Kollege Schmude eben hier gemacht hat, als Stellungnahme der SPD einige Wochen früher an die Öffentlichkeit gedrungen wären.
Die SPD hätte sich damit in ihrer Stellung in der Öffentlichkeit selbst einen guten Dienst erwiesen.Aber es geht j a bei den Rechtsverletzungen dieses Herbstes noch um etwas ganz anderes. Die Frau Kollegin Hickel hat laut einer Meldung der ,,Stuttgarter Zeitung" vorn 13. September gesagt, Manöver seien für die GRÜNEN eine neue Demonstration von Kriegsvorbereitung.
— „Recht hat sie", das wiederholen Sie vielleicht nachher, wenn ich mit meinen Ausführungen fertig bin, Herr Kollege. — Ich glaube, hier liegt ein Mißverständnis vor, das nicht an der Oberfläche bleibt, sondern das tief in das Selbstverständnis eines demokratischen Staates hineingeht.
Die Bundeswehr, die Soldaten unserer Alliierten verteidigen auch unsere Freiheitsrechte, u. a. auch das Recht zur friedlichen Demonstration für die eigene politische Meinung.
Wenn es auf unserer Seite Demonstrationen geben kann, dann deshalb, weil wir die Bundeswehr haben, weil wir ein integrierter und fester Bestandteil des westlichen Bündnisses sind.
Ich möchte einmal fragen, ob diejenigen, die hier demonstriert haben — und auch gewaltsam demonstriert haben —, eigentlich je einmal den Versuch unternommen haben, gegen die Manöver im Warschauer Pakt in gleicher Weise aufzutreten, wie man es hier auf unserer Seite versucht.
Hier liegt die eigentliche Kernfrage dessen, was sich in diesem Herbst ereignet hat.Was wollen wir denn eigentlich mit unserer Politik? Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis. Begleitet von politischen Initiativen zur Abrüstung, zu vertrauensbildenden Maßnahmen und zu Kooperation, ist ihre militärische Strategie der Vornevertei-
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Ronneburgerdigung derzeit das einzig realistische Konzept, die Bundesrepublik und Westeuropa vor potentiellen militärischen Konflikten durch Abschreckung vorbeugend zu schützen. Zu dieser Vorbeugung gehören nun allerdings auch Manöver, gehört die Übung dessen, was in einem Ernstfall möglicherweise erforderlich sein würde.
Deswegen ergibt sich eine zusätzliche Frage an die Demonstranten. Unsere Soldaten in einem Manöver sind gefordert, unter Bedingungen, die weitgehend dem Ernstfall gleichen, ihren Dienst zu tun und unter erheblichen Anstrengungen zu üben. Bei diesen Bedingungen führen Demonstrationen der Art, wie sie hier stattgefunden haben, eine zusätzliche Gefährdung der persönlichen Unversehrtheit der Soldaten herbei. Dies sollten sich vielleicht auch diejenigen einmal überlegen, die glauben, sie könnten in dieser Art und Weise gegen Manöver auf unserer Seite auftreten.Ich kann Ihnen nur sagen: unsere Bundeswehr, unsere Alliierten und ihre Soldaten versehen einen Dienst, für den wir ihnen nur ausdrücklich Dank sagen können.
Deswegen wird es unsere Aufgabe bleiben, dafür zu sorgen, daß die Freiheitsrechte, die wir in unserem Staat in Anspruch nehmen und die verteidigt werden müssen, auch in Zukunft erhalten bleiben. Dies geschieht nicht dadurch, daß sie in gewaltsamer Weise mißbraucht werden, sondern dadurch, daß sie in demokratischer Weise angewandt werden.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Kelly.
Herr Präsident! Liebe Freundinnen und Freunde! Wir begrüßen diese Aktuelle Stunde, da sie uns Gelegenheit gibt, vor dem Deutschen Bundestag nochmals darzulegen, weshalb wir das gewaltfreie Vorhaben Manöverbehinderung gutgeheißen und unterstützt haben.
Natürlich ging es auch uns dabei nicht darum, den Soldaten zum Sündenbock zu stempeln und als Mitmenschen, nur weil er Uniform trägt, anzugreifen.
Es kam uns darauf an, mit zivilem Ungehorsam und mit gewaltfreien Aktionen, die niemals gegen Menschen gerichtet waren, auf die Funktion jedes Soldaten im Räderwerk einer Kriegsmaschinerie aufmerksam zu machen,
die mit aggressiven und völkerrechtswidrigen Angriffs- und Nuklearstrategien zur Gefahr für uns alle wird und auch den Soldaten mißbraucht. Soldaten von der Notwendigkeit eines kompromißlosen Nein zu überzeugen gehört zu den Grundelementen der von uns angestrebten sozialen Verteidigung.
Darum empfinden wir es als ein Zeichen von Hoffnung, daß soeben erst aktive Offiziere der Bundeswehr und Christen für Abrüstung in einem gemeinsamen Friedensappell zum Ausdruck gebracht haben, daß wir die Fähigkeit einüben müssen, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Das heißt, daß wir nicht nur bestimmte Waffensysteme wie Pershing II und SS 20 ablehnen, sondern die zunehmende Militarisierung unserer Gesellschaft und den ihr dienenden Militärdienstzwang insgesamt ablehnen müssen.
Umweltzerstörung und Rüstungswettlauf stehen in beiden Militärblöcken in engen Wechselbeziehungen, auch im Warschauer Pakt. Gerade in der Bundesrepublik aber überzieht der Militärkomplex das Land wie ein Krebsgeschwür mit einem dichten Netz von Depots, Flugplätzen, Militärstraßen, Übungsgebieten und Rüstungsbetrieben. Die Militäranlagen beanspruchen mittlerweile ca. 3 % der gesamten Fläche der Bundesrepublik. Nur 0,9 % des Bundesgebietes sind als Naturschutzflächen ausgewiesen.Der militärische Landschaftsverbrauch geht noch weiter.
Der neuen NATO-Konzeption der Vorwärtsverteidigung sollen in den nächsten Jahren noch zusätzlich 200 000 Hektar zum Opfer fallen. Der Militärkomplex frißt 10 % der Rohstoffe für seinen Zweck. Bereits 1983 ließ sich die Bundeswehr 700 Millionen DM zusätzlich gewähren, um viele Millionen Liter 01 für die energiefressenden Lastkraftwagen, Panzer, Flugzeuge und U-Boote zu kaufen. Zur Herstellung militärischer Geräte werden oftmals extrem giftige Stoffe wie Plutonium, Kadmium, Beryllium verwendet. Sowohl bei der Produktion wie auch beim Gebrauch belasten diese Giftstoffe unsere Umwelt. Mit dem gestiegenen Umweltbewußtsein ist aber die Bereitschaft gewachsen, sich nicht mehr nur gegen zivile, sondern auch gegen militärische Eingriffe in die Umwelt zur Wehr zu setzen.
Dieser Herbst hat uns gezeigt, daß wir, um erfolgreich zu sein, mit unserer gewaltfreien Strategie noch weit mehr Menschen überzeugen müssen, als es uns dieses Mal gelungen ist. Doch vielleicht gibt es unseren Mitbürgern noch zu denken, daß als Folge der Herbstmanöver 30 Menschen ihr Leben verlieren mußten, daß rund 30 Millionen DM allein für die Abgeltung von Schadenersatzansprüchen aufgewendet werden müssen.
und daß die in diesem Jahr besonders provozierende Massierung von Manövertruppen in einer
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6413
Frau Kellyohnehin schon kritischen Lage gewiß nicht spannungsmildernd gewirkt hat.
Als Antwort auf die Vorwürfe des Kommandierenden Generals des 5. Amerikanischen Corps, Generalleutnant Wetzel, möchte ich Ihnen Heinrich Albertz zitieren, der in Mutlangen vor einem Jahr, Herr Dregger, festgestellt hat, daß der Protest gegen Massenvernichtungswaffen wichtiger ist als die Straßenverkehrs-Ordnung.
Wenn man Gehorsam als ein Stück gelebter Gemeinschaft versteht, dann hat diese Loyalität dort ihre Grenze — dies sage ich wieder an die Adresse der CDU/CSU —, wo die Gemeinschaft aufs Spiel gesetzt und gefährdet wird durch Ersteinsatz z. B. der NATO; denn das Ja zum Staat ist immer und muß immer ein bedingtes Ja zum Staat sein.
Viele unserer Freunde machen, wie die amerikanischen katholischen Brüder Daniel und Philip Berrigan, beide Priester, deutlich, welche Risiken sie bei gewaltfreien Aktionen auf sich nehmen und daß sie der Ansicht sind, dies wegen des ungleich höheren Risikos eines Atomkrieges tun zu müssen. Die nukleare Drohung nimmt alle Völker zu Geiseln, und darum handeln nicht die Protestierenden, Herr Dregger, sondern Regierungen, die solche Geiselnahme vornehmen oder dulden, kriminell.
Ich komme zum Schluß.
Nein, Frau Abgeordnete Kelly, Sie haben Ihre Zeit voll ausgeschöpft, sogar noch ein wenig darüber hinaus. Darf ich bitten, das Mikrofon freizugeben.
Ich möchte noch einmal betonen, daß die Geschäftsordnung dem Präsidenten die Pflicht auferlegt, nicht über fünf Minuten Redezeit zu gestatten. Ich handele also exakt nach der Geschäftsordnung und nicht nach Gutdünken.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
In diesen Tagen haben die Bundeswehr und unsere Verbündeten den größten Teil der Herbstmanöver dieses Jahres auf unserem Boden erfolgreich abgeschlossen. Sie haben dabei erneut ihre Bereitschaft und Fähigkeit bewiesen, ihren Auftrag zu erfüllen, und dieser Auftrag lautet unverändert: Sicherungvon Frieden und Freiheit für die Bürger diese Landes und für die ganze freie Welt.
Mein erstes Wort ist ein herzliches Dankeschön an die Bevölkerung in den Manövergebieten.
und der FDP)
Die Bürger, und zwar die überwältigende Mehrheit der Bürger, haben gezeigt: Sie stehen auf seiten der Soldaten und nicht auf seiten der Demonstranten und schon gar nicht auf seiten der Gewalttäter.
Davon zeugt die bis dato noch nicht erlebte Welle der Hilfsbereitschaft und der spontanten Herzlichkeit gegenüber unseren Soldaten, und zwar den alliierten wie den deutschen: Landwirte räumten ihre gute Stube, Frauen brachten ihnen Kaffee, Tee,
bewirteten sie, boten ihnen Waschgelegenheit.
— Sie hätten keine Chance. Sie hätten sehen müssen, wie die Bevölkerung auf Leute Ihres Schlages reagiert hat.
Im Unterschied zu Ihnen weiß die überwältigende Mehrheit unseres Volkes: Die Bundeswehr und die alliierten Truppen sind zu seinem Schutz, zum Schutz des Bürgers da; sie leisten ihren Dienst für den Bürger und nicht gegen den Bürger.
Ein ebenso herzliches Wort des Dankes gilt den Soldaten, und zwar den deutschen wie den alliierten. Sie haben durch ihre Besonnenheit dazu beigetragen, daß es nicht zu der von den Gewalttätern gewünschten Eskalation kam. Sie haben überdies alles daran gesetzt, die Manöverschäden in Grenzen zu halten.Wir leben in einem freien Land mit dem unbestrittenen Recht auf freie Meinungsäußerung. Diese Freiheit verdanken wir vor allem dem Bündnis und der Bundeswehr. Ein Blick über den Eisernen Vorhang zeigt, wohin wir kämen, wenn wir das Bündnis verließen und unsere Freiheit nicht mehr verteidigen könnten.
Die Soldaten dieser Allianz und auch die Soldaten der Bundeswehr schützen auch die Freiheit derer, die anderer Meinung sind. Das ist so, und das wird so bleiben.
Aber, meine Damen und Herren: Demonstrationen und freie Meinungsäußerung sind eine Sache, Manöverbehinderung und gewalttätige Zerstörung eine andere. Anschläge auf Verteidigungsangriffe
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Bundesminister Dr. Wörner— auf Verteidigungseinrichtungen — oder gar tätliche Angriffe auf Soldaten haben mit freier Meinungsäußerung und Demonstrationsfreiheit nichts, aber absolut nichts zu tun.
Ich sage hier: Sie sind und sie bleiben kriminell, und keiner von den Gewalttätern kann sich auch nur von Ferne auf den Frieden berufen. Ein Mann oder eine Frau, der oder die Gewalt anwendet, hat mit dem Frieden nichts im Sinn.
In mehr als 150 Fällen kam es zu solchen Gewaltaktionen: Reifen wurden zerstochen, Zäune niedergerissen, Bremsschläuche zerschnitten, MolotowCocktails wurden geworfen; vereinzelt wurde mit Kleinkaliber auf Soldaten geschossen;
ein britischer Soldat wurde am Kopf verletzt; am 13. September wurde die Bahnstrecke EberbachHeidelberg mit schweren Hindernissen blockiert; am 22. September griffen 40 bis 50 mit Hieb- und Stichwaffen ausgerüstete Gewalttäter bei Hildesheim die Besatzung eines liegengebliebenen Schützenpanzers der Bundeswehr an;
am 24. September drangen — nach Zerschneiden des Zauns — etwa 100 Demonstranten in eine US-Kaserne ein, am 26. September 33 Demonstranten;
am 26.9. drangen erneut 50 Demonstranten über den Zaun des US-Depots Grebenhain in den militärischen Sicherheitsbereich ein.Meine Damen und Herren, wen wundert es, daß dann der amerikanische General Wetzel angesichts dieses Vandalentums seinem Herzen Luft macht und den Schutz reklamiert, auf den die amerikanischen Soldaten schon nach dem Gastrecht, aber mehr noch nach Vertrag und Recht der Bundesrepublik Deutschland Anspruch haben!
Wenn der hessische Innenminister ihn dann heftig kritisiert, dann zeigt das nur, wohin das Recht und das Rechtsbewußtsein kommen oder — besser gesagt — verkommen, wenn die GRÜNEN Einfluß auf die Regierung haben.
Nun noch ein Wort zu Ihnen, Herr Kollege Schmude. Ich nehme es Ihnen ja ab, was Sie hier gesagt haben. Nur: Warum haben Sie das nicht gesagt, bevor es zu diesen Manöverbehinderungen kam?
Warum veröffentlicht im Pressedienst Ihrer Parteidie Kollegin Wieczorek-Zeul eine Aufforderung,sich an dem „Menschennetz gegen Kriegsmanöver"zu beteiligen? Sie sagen: Manöver müssen sein. Und Ihre Kollegin von der SPD bezeichnet sie als Kriegsmanöver. Was eigentlich, Herr Kollege Vogel, sollen die jungen Wehrpflichtigen draußen denken, wenn die SPD in einer Front mit NATO-Gegnern, darunter auch erklärten Kommunisten, gegen diese Manöver Front macht, in denen sie dienen, um unserem Volk die Freiheit zu erhalten?
Das muß doch ihr Bewußtsein erschüttern.
Da ist es mit verbalen Alibi-Erklärungen, eine Konfrontation zwischen Soldaten und Friedensbewegung müsse vermieden werden, eben nicht getan.
Ich sage noch einmal: Das ist nichts anderes als die Vernebelung der Tatsache, daß man gemeinsame Sache mit denen macht, die im Grunde genommen gegen die Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland und gegen das Bündnis eingestellt sind.
Davon müssen Sie sich lösen, indem Sie eindeutig Stellung nehmen, und zwar vorher, meine Damen und Herren.
Ich sage: Das Bündnis und die Bundeswehr sind das Unterpfand unserer Sicherheit. Ihre Aufgabe ist der Schutz unserer staatlichen Ordnung und die Sicherung der Freiheit.
Diese Bundeswehr — —
Herr Bundesminister — —
— — und das Bündnis dienen dem Frieden und nicht dem Krieg — —
Herr Bundesminister, ich möchte Sie unterbrechen. Ich bitte, daß auch die Herren Bundesminister darauf achten, wenn sie der Präsident unterbrechen will.Herr Abgeordneter Stratmann, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf.Dieser Minister ist der Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland und nicht der Verteidigungsangriffsminister.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6415
Vizepräsident Stücklen— Herr Abgeordneter, ich erteile Ihnen den zweiten Ordnungsruf und mache Sie auf die Folgen eines dritten Ordnungsrufes aufmerksam.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in aller Ruhe
zum Schluß feststellen: Die Soldaten der Bundeswehr verdienen unseren Respekt, unseren Dank und unsere Anerkennung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Glotz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Damit wir uns nicht über die falschen Konflikte streiten, sage ich klipp und klar:
Wir Sozialdemokraten verurteilen Gewaltanwendungen, wie sie der Verteidigungsminister gerade geschildert hat, ohne jedes Wenn und Aber.
Und lassen Sie mich sagen: Frau Kollegin Kelly, ich akzeptiere, daß Sie sagen: Wir, die Partei der GRÜNEN, wollen mit Gewalt nichts zu tun haben. Wenn Sie aber sagen: „Gewalt gegen Menschen", dann greifen Sie eine Differenzierung auf, indem Sie Gewalt gegen Menschen von Gewalt gegen Sachen unterscheiden. Das hat in den 60er Jahren nicht funktioniert, das würde jetzt nicht funktionieren. Wir Sozialdemokraten halten diese Unterscheidung für falsch und stellen uns nicht dahinter.
Manöverbehinderungen sind, wie der Kollege Schmude gesagt hat, ein ungeeignetes Mittel, das Bewußtsein der Bevölkerung gegen Wettrüsten wachzurütteln, weil sie als Feindseligkeit gegen die Soldaten mißverstanden werden können.
Und ich sage als Sozialdemokrat: Solche Feindseligkeit darf es nicht geben.
Wir alle müssen die Kooperation von Bürgern in Uniform und Bürgern in Zivil wollen und nicht das gereizte Aneinandervorbei und schon gar nicht ein Gegeneinander von Bürgern in Uniform und Bürgern in Zivil.
habe ich den 22 000 verantwortlichen Funktionären der SPD gesagt: Keine Manöverbehinderungen. Herr Brandt hat es mehrfach an anderer Stelle gesagt, Herr Kollege Dregger, und andere auch. Sie wollen doch jetzt nicht die Bundeswehr verteidigen. Sie wollen die SPD treffen. Das ist doch die alte Taktik, die wir immer wieder erleben.
Meine zweite Feststellung lautet: Die Vorbehalte, die ich jetzt gemacht habe und die Herr Schmude gemacht hat, sind kein Alibi für Ausgrenzung. Nicht die ganze Union, aber Teile der Union versuchen, die Friedensbewegung als fragwürdig hinzustellen, weil am Rande der Friedensbewegung einzelne auch gewaltsame Aktionen versuchen.
Ich sage Ihnen: Solche Aussperrungskampagnensind vordemokratisch. Wer Hunderttausende oderZehntausende diffamiert, weil auch einige Dutzend
Halbextremisten oder Dreiviertelextremisten oder auch Ganzextremisten mitlaufen,
der kippt zurück in das Freund-Feind-Denken der Weimarer Zeit, und beschädigt die politische Kultur.
Im übrigen, Herr Kollege Dregger: Sie reden von der „sogenannten Friedensbewegung". Ich erlaube mir die Prognose, daß Sie mit diesem Sprachgebrauch genauso scheitern werden, wie mit dem Sprachgebrauch von der „sogenannten DDR".
Ja: Manche Einzelaktionen der Friedensbewegung oder am Rande der Friedensbewegung
schaden der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Aber gleichzeitig ist jedenfalls für mich klar: Mit Sicherheit schaden manche Sonntagsreden über die deutschen Ostgrenzen, wie sie der Bundesinnenminister oder Herr Czaja gehalten haben, der Außenpolitik der Bundesrepublik mehr als manches, was am Rande der Friedensbewegung passiert ist.
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6416 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Dr. GlotzAndreotti ist die Quittung der internationalen Diplomatie für die Wiedereinführung der ostpolitischen Sonntagsrede vom national-liberalen Flügel der Union.
Die dritte und letzte Feststellung. Die SPD — das kommt j a sicher auch noch — hat der Friedensbewegung keinen Kredit gegeben.
Aber sie hat ihre Mitglieder aufgefordert, sich an sinnvollen Aktionen
der Friedensbewegung privat zu beteiligen und sie auch zu fördern.
Und ich betone: Die Führung der SPD hält diese Aufforderung in der Tat für sinnvoll, weil neben der offiziellen Diplomatie und neben der offiziellen Außenpolitik
Aktivitäten in der Bevölkerung, Engagement der Bevölkerung für den Frieden notwendig sind. Deswegen unterstützen wir das.
Auch wir sehen: Solches Engagement von Tausenden und aber Tausenden von Menschen
— lassen Sie mich ausreden und die letzten Sätze sagen! — ist in der abstumpfenden Gleichgültigkeit des Alltags schwer aufrechtzuerhalten. Die Gefahr der Friedensbewegung liegt darin, daß sie sich jagen läßt vom Zwang zur Originalität. Aber unsere Gefahr läge darin,
daß wir die Gleichgültigkeit triumphierend gegen die Menschen wenden, die sich politisch engagieren. Ich hoffe, wir vermeiden beide Gefahren, auf beiden Seiten: Sie und wir.
Das Wort hat der Abgeordnete Wimmer .
Herr Präsident! Mein sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Glotz, Sie merken gar nicht, wie Ihre Rabulistik und die Einführung der sogenannten Privatgenossen
nur darüber wegtäuschen, daß Sie sich an einergefährlichen Wegscheide befinden. Ihr Verhaltenund Ihre unklaren Äußerungen tragen nämlich dazu bei, daß in vielen Bereichen der Verdacht besteht — obwohl wir Klarstellungen immer begrüßen —, daß bei Ihnen latent vorhanden ist, auch am Rechtsstaat und seinem Empfinden zu zündeln.
Und das ist etwas, was so bedenklich für uns alle ist,
daß diese Klarstellungen so hier nicht gemacht werden können, zumal da sie ja bei all Ihrer Rabulistik und der Einführung des Privatgenossen sehen müssen:
In der gleichen Weise werden Ihre Leute, die dieses Land unregierbar machen wollen, wie Herr Leinen, im Saarland ministrabel. Was ist das für ein Verhalten, das Sie uns hier predigen wollen, wenn Sie sich so verhalten, wie es klassischer nicht gegen Ihre Worte sprechen könnte? Das muß man hier mit allem Nachdruck einmal festhalten.
Ich glaube, wir sollten hier einen dreifachen Dank aussprechen.
Zunächst einen Dank an all die Soldaten, die durch ihre Übungstätigkeit dazu beitragen, Abschreckung zu produzieren. Und diese Abschreckung hat uns seit 1945 Freiheit in Frieden hier erhalten.
Ein zweiter Dank ist auszusprechen, gerade an unsere britischen Alliierten. Hier haben 165 000 Briten im Manöver geübt und haben damit deutlicher als alle gemacht, daß die Verteidigung Großbritanniens in der Bundesrepublik anfängt. Dafür unser herzliches Dankeschön.
Ein weiteres Dankeschön an unsere Bürger in den Manövergebieten.
Sie haben nicht nur deutsche Gastfreundschaft gezeigt, sie haben deutlicher gemacht als dieser hessische Minister, was die Bürger in unserem Lande denken, ein hessischer Minister, der diejenigen beschimpft, die auch seine Freiheit schützen und garantieren.
Wir haben erlebt, daß das deutsche Volk und auch die Medien auf der Seite unserer Soldaten stehen. Darüber sollten wir froh und dafür sollten wir dankbar sein.
Wir müssen hier eines feststellen, obwohl wir diesen erfreulichen Umstand zu verzeichnen haben: hier sind Funken losgetreten worden. Was soll ein
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6417
Wimmer
Soldat denken, dem man ins Gesicht geschossen hat?
Was sollen die Arbeitnehmer denken, deren Züge zu spät gekommen sind, weil man die Weichen zubetoniert hat? Und was soll ein Parksünder denken, der erleben muß, daß in Frankfurt die Polizei tatenlos zusieht, wenn Sachbeschädigungen vollzogen werden.
Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Lande mehr zu schützen, als denen bewußt ist, die ihre Späße treiben, das ist nämlich die rechtsstaatliche Ordnung dieses Landes. Diese zu schützen, ist unsere Bundeswehr und sind die Verbündeten angetreten.
Meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, was sollen diese Erklärungen von Herrn Glotz, so dankbar sie hier entgegengenommen werden, wenn sie nicht vorher gemacht werden,
wenn nicht klargemacht wird, daß Sie eben nicht Ihre Privatgenossen auffordern, in die Manöverbehinderungen zu gehen,
obwohl Sie wissen, daß diese Folgen eintreten, wie wir sie alle konstatieren müssen? Die GRÜNEN und diejenigen, die noch die GRÜNEN unterstützen, müssen sich fragen lassen, ob in Deutschland wieder der Zweck alle Mittel heiligen soll.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kolbow.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mich macht diese Debatte betroffen, insbesondere das, was Sie von der rechten Seite des Hauses sagen. Sie bestätigen nämlich genau das, meine Damen und Herren, was die „Süddeutsche Zeitung" am 2. Oktober schreibt, nämlich:Was bleibt — und das ist wahrlich kein Erfolg, zu dem man sich bekennen möchte —, ist der neuerliche Beweis erschreckender Kommunikationsunfähigkeit, die eine vernünftige und wirklich politische Auseinandersetzung der Kontrahenten verhindert.Sie haben durch Ihre Reden hier deutlich gemacht, daß Sie gar nicht willens sind, in dieser Frage kommunikationsfähig zu sein.
Herr Kollege Wimmer, wenn Sie sich im Verteidigungsausschuß hinstellen und sagen, ja, ihr liebenLeute von der SPD, ihr macht das ja ganz gut, aberdraußen hingehen und sagen: Was sind das für böse Sozialdemokraten, dann machen Sie deutlich,
wie unterschiedlich Sie nach innen und nach außen argumentieren.
Jetzt sage ich Ihnen mal eins:
Herr Kollege Wimmer und andere, die hier gesprochen haben,
Sie sagen immer: Hätte man das vorher gesagt und nicht hinterher! Sie verfahren doch nach dem Affenprinzip: Nichts sehen, nichts hören, aber lügen.
— Das beweise ich Ihnen jetzt. Wenn Sie nämlich sehen würden, hätten Sie den Herrn Lojewski — —
— Da kann man sich aufregen, Herr Kollege Hauser, bei so viel Ungeheuerlichkeit am frühen Morgen. —
Also der Herr Lojewski, einer, der sich über das Fernsehen durchaus an den Mann und an die Frau zu bringen versteht, sagt in einem Interview mit unserem Fraktionsvorsitzenden, der Eindruck verdichte sich, daß der Friedensbewegung die Motivation und vielleicht auch der Zulauf ausgehe. Warum fordere die SPD gerade jetzt noch ihre Mitglieder auf, sich noch am Friedensherbst zu beteiligen? Da sagt unser Fraktionsvorsitzender dazu in Aufnahme von Erklärungen Erhard Epplers, der das als erster deutlich gemacht hat — das haben Sie gar nicht gehört, weil Sie den nicht mehr hören wollen —, und eines Parteivorstandsbeschlusses oder auch anderer Mitteilungen:
„Warum sind Sie so ungenau?" Das frage ich Sie heute morgen ebenfalls. Die CDU/CSU weiß doch ganz genau, daß wir vor der Manöverbehinderung gewarnt haben. Sie haben selber Eppler zitiert, der vor der Beteiligung an der Behinderung gewarnt hat. Warum stellen Sie, Herr Dregger und die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, einen Zusammenhang zu der SPD her? Wir verbitten uns das. Ich beziehe mich auf das, was meine Kollegen gesagt haben.
Wenn das nicht reicht, erinnern Sie sich an die 13 Jahre unserer Verantwortung. Ohne unsere Ar-
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6418 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Kolbowbeit wäre das Konzept „Verteidigung und Entspannung" nicht entwickelt worden. Ohne unsere Arbeit wäre die Bundeswehr nicht die modern ausgebildete und gut ausgerüstete Verteidigungsstreitkraft, die sie heute ist. Wenn der Verteidigungsminister von Dank, Respekt und Anerkennung spricht, dann schließen wir uns dem selbstverständlich an. Ich wage allerdings zu bezweifeln, daß darauf nach der Kießling-Affäre noch jemand großen Wert legt.
Wir haben Verständnis für die Situation der wehrpflichtigen Soldaten, sowohl unserer Soldaten in der Bundeswehr als auch der Soldaten unserer Verbündeten. Was geht in ihren Köpfen vor, wenn sie sehen, daß sie, obwohl sie auf Grund staatsbürgerlicher Verpflichtung diesen Dienst leisten müssen, von einem Teil derer, die sie hineingeschickt haben, gewalttätig oder auch mit einer Behinderungstaktik überzogen werden? Es ist deutlich gemacht worden, daß dies abgelehnt werden muß und daß dieses Haus insgesamt nicht übereinander herfallen darf.
Dies ist nicht nur durch das klargeworden, was von unserer Seite ganz gewichtig eingebracht worden ist — weil Sie das nicht glauben —; das ist auch durch das klargeworden, was die Mehrheit unseres Volkes denkt.Wohl eher durch ein Mißverständnis in der Erregung — das merkt man ja hier; ich schließe mich da nicht aus — ist am heutigen Morgen der Eindruck entstanden, als wolle der in Hessen kommandierende amerikanische General die deutsche Polizei auffordern, endlich ihre Pflicht zu erfüllen.
Mit seiner Erwiderung hat sich der hessische Innenminister vor seine Beamten, nicht gegen die amerikanischen Streitkräfte gestellt.
Herr Abgeordneter Kolbow, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich muß gegen jeden Abgeordneten, der hier spricht, gleichmäßig vorgehen.
Danke.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kolbow, jetzt wissen wir es endlich:
Was uns schon am frühen Morgen Unbehagen bereitet, sind nicht die Ereignisse, über die wir zu
sprechen haben, sondern Verursacher sind diejenigen, die dazu eine Aktuelle Sunde im Deutschen Bundestag beantragt haben.
Wenn man einmal zurückverfolgt, aus welchen Gründen Sie uns manchmal zur frühen Morgenstunde zusammengerufen haben, kann man sich nur wundern. Es ist ja überhaupt nicht richtig, daß die Dinge nicht in der notwendigen Abgewogenheit, aber auch Deutlichkeit behandelt würden.
Ich will mit einer Vorbemerkung beginnen, weil dies nicht unter den Tisch fallen darf. In zweierlei Richtung ist Positives festzustellen. Wenn man im Vorfeld dieser Herbstmanöver verfolgt, was sich die Anzettler strafbarer Unternehmungen erwartet haben, so sieht man, daß sie bitter enttäuscht worden sind. Der Zulauf zu denen, die gewaltsam darangegangen sind, Störungen vorzunehmen, war weit geringer, als dies die Hintermänner hoffend im Hinterkopf hatten.
Ich will nochmals unterstreichen was der Kollege Wörner bereits ausgeführt hat:
Die Bevölkerung, die in den Manövergebieten natürlich betroffen ist, die auch Behinderungen und Störungen ausgesetzt ist, hat sich mit den Störern nicht solidarisiert, hat nicht schmunzelnd, mit stillem Beifall zur Kenntnis genommen, was dort passiert ist, sondern sie hat sich dagegengestellt, sie hat das abgelehnt. Das sollten alle diejenigen wissen, die in die Zukunft hinein ähnliches wieder anzuzetteln vorhaben.
Die Fülle der strafbaren Handlungen, die bei diesen Herbstmanövern wieder erfolgt ist, zwingt erneut dazu festzustellen — aber haben wir es eigentlich noch nötig, das immer wieder zu sagen —, daß die Behauptung, es handele sich hier um ein politisches Anliegen und die höhere moralische Qualität liege bei jenen, die sich Friedensfreunde nennen, es aber fertigbringen, in diesem friedlichen Land in weiten Bereichen unfriedliche Zustände hervorzurufen,
lediglich ein Vorwand ist. Das festzustellen ist erneut notwendig.
Ich glaube, man kann das, was diese Demokratie und dieser Staat den Menschen ermöglichen, zusammenfassen mit jenem kurzen Wort — dort verläuft auch die Grenze des Zulässigen —, das der Präsident des Deutschen Bundestages gestern bei Eröffnung des Jugendtages des deutschen Parlaments an den Anfang gestellt hat: Widerspruch ja, Widerstand nein.
So einfach ist das, meine Damen und Herren.
Nur, wenn jemand einiges der Art bietet, wie es Frau Kelly hier getan hat, wird man schon feststellen müssen, daß auch in diesem Hause leider die
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6419
Bundesminister Engelhard
geistigen Brückenbauer derjenigen sitzen, die sagen, sie hätten gemeint, das alles sei ja nicht so schlimm, das sei zulässig, j a es sei in einem höheren Sinne gerechtfertigt.
Was soll es, wenn gesagt wird, Gewalt gegen Menschen nein? Wie ist es mit den Sachen?
Die Frage, die von Frau Kelly aufgeworfen worden ist — wer handelt denn eigentlich verbrecherisch —,
stellt die geistige Brücke dar, die zu allen jenen hin gebaut werden soll, die sich bei der nächsten Aktion — wenn nicht gesetzlich, so doch innerlich — gerechtfertigt fühlen.
Ich will am Schluß eine Frage anschneiden, die meines Erachtens von zentraler Bedeutung ist: Manövertruppen sind verteidigungsfähig, und machten sie von jenen technischen und waffenmäßigen Mitteln Gebrauch, stünde wohl außer Zweifel, wer den Sieg davontrüge. Aber wir befinden uns nicht im Krieg,
wir haben nicht den Verteidigungsfall.
Manövertruppen haben keine andere Möglichkeit als jeder andere Bürger: Ihnen steht das Notwehrrecht und sonst nichts zu Gebote.
Nein, es ist sogar anders: Ihnen steht weniger zu Gebote, weil in diesem Staat aus gutem Grunde die Anweisung besteht, daß sich der einzelne Soldat bis zum Extremfall hin nicht gegen Angriffe wehren soll. Er muß die äußerste Zurückhaltung üben, und das aus gutem Grunde.
Damit ist sichergestellt, daß wir das Manöver in diesem Lande nicht als ein Kriegsspiel praktizieren. Vielmehr erfolgt das Manöver zu unserem Schutze. Dabei ist dem einzelnen Soldaten aufgegeben, sich bis zum äußersten zurückzuhalten, auch wenn er angegriffen wird.
Was ist die Folgerung daraus? — Daß es die Aufgabe der Polizeikräfte ist, in allen künftigen Fällen für den Schutz der Soldaten, an der Spitze für den Schutz unserer Verbündeten, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bereitzustehen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bastian.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach alter militärischer Regel disqualifiziert sich ein Soldat durch einen Fehlgriffin der Wahl der Mittel weit weniger als durch einen Handlungsverzicht. Oder anders ausgedrückt: Initiative ist, auch wenn sie des letzten Sinns entbehrt, der duldenden Passivität in jedem Fall vorzuziehen.
— Richtig. Ich bedanke mich.
Wollte man diese militärische Weisheit auf die Friedensbewegung übertragen, müßte man zu dem Schluß kommen, daß selbst unsinnige Manöverbehinderungen, womit kriminelle Handlungen ausdrücklich nicht gemeint sind, immer noch besser sind als absolute Passivität gegenüber einer Sicherheitspolitik, die sich von Monat zu Monat mehr als destabilisierender Risikofaktor entlarvt.
Dennoch bin ich der Meinung — daraus habe ich auch vor den Manövern keinen Hehl gemacht —, daß Manöverbehinderungen der falsche Weg sind, um den berechtigten Protest eines nicht zu unterschätzenden Teils unserer Bevölkerung gegen nukleare Aufrüstung und aggressive Stategien zum Ausdruck zu bringen.
Der Soldat ist nicht der Verursacher, sondern das vom Mißbrauch bedrohte Opfer dieser allein von der Politik — da gebe ich Herrn Dregger recht — zu verantwortenden Entwicklung.
Daher muß die Protestbewegung das Gespräch mit den Soldaten suchen und unvoreingenommen führen, nicht aber durch nicht vermittelbare und vielfach mit unzutreffenden Behauptungen begründete Aktionen dieses Gespräch erschweren.Trotzdem geht es nicht an, diejenigen, die, von anderen dazu animiert, geglaubt haben, der Sache des Friedens zu dienen, wenn sie den Versuch machen, mit gewaltfreiem zivilen Ungehorsam Manöver zu behindern, pauschal als „Chaoten" zu diffamieren und zu kriminalisieren, nur weil eine verschwindend kleine Minderheit das Prinzip absoluter Gewaltfreiheit leider mißachtet hat.
Genausowenig darf in der Debatte über Manöverbehinderungen verdrängt werden, daß es sehr wohl gute und schwerwiegende Gründe gibt, Manöver der in diesem Herbst wiederum veranstalteten Art und insbesondere die diesmal ungewöhnliche Manöverdichte für politisch unklug, militärisch sinnlos und volkswirtschaftlich wie ökologisch gleichermaßen schädlich zu halten und sich deshalb für eine drastische Reduzierung des Manöverumfangs in der Zukunft einzusetzen.
Die Bundeswehr wäre deshalb gut beraten, wenn sie die Zweckmäßigkeit von Großveranstaltungen mit Volltruppen im freien Gelände unvoreingenommen prüfen und untersuchen lassen würde, ob dem
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6420 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
BastianAusbildungszweck nicht besser gedient wäre, wenn die bei einem Verzicht auf solche Übungen eingesparten Mittel der intensiveren Ausbildung auf Truppen- und Standortübungsplätzen zugute kämen.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Laufs.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem schönen Beitrag des Herrn Kollegen Schmude drängt sich die Frage auf: Hat denn die SPD jedes Gefühl dafür verloren, wie sie sich mit Leuten einläßt und teilweise solidarisiert, die mit Rechtsbruch und Gewalttat den inneren Frieden und die äußere Sicherheit unseres Landes zerstören wollen?
Was ist es denn wert, wenn der SPD-Vorstand zwischen Manöverblockaden und Friedensdemonstrationen unterscheidet, aber die Proteste gegen die NATO-Manöver ausdrücklich unterstützt, obwohl er sehr gut weiß, mit welchen Mitteln diese Proteste gegen unsere Landesverteidigung vorgetragen werden?
Wo waren Sie denn, Herr Kollege Glotz, mit Ihren Klarstellungen, als vor wenigen Tagen die SPD Hessen-Süd ihre 85 000 Mitglieder zur Teilnahme an den Herbstaktionen der sogenannten Friedensbewegung aufgefordert hat?
Nichts illustriert den Niedergang rechtsstaatlicher Gesinnung mehr als die rüde Antwort des hessischen Innenministers Winterstein auf den Brief des amerikanischen Generals Wetzel, in dem der Amerikaner darauf aufmerksam gemacht hatte, daß drei Abgeordnete der GRÜNEN aus dem hessischen Landtag rechtswidrig in den Übungsplatz Wildflecken eingedrungen waren, und in dem der amerikanische General eine Verfolgung der kriminellen und unrechtmäßigen Aktionen verlangte. Bevor Minister Winterstein in unnachahmlicher Arroganz den amerikanischen General auf die hessische Verfassung verwies, hätte er — Winterstein — dort einmal Art. 2 Abs. 1 nachlesen sollen, in dem es heißt:
Der Mensch ist frei. Er darf tun und lassen, was die Rechte anderer nicht verletzt oder die verfassungsmäßige Ordnung des Gemeinwesens nicht beeinträchtigt.
Was waren denn die Störaktionen im osthessischen Raum, bei denen Zäune von Militäreinrichtungen niedergerissen, Eingänge blockiert und Bremsleitungen bei Zügen durchschnitten wurden? Wie kann sich dieser hessische Innenminister in der Öffentlichkeit hinstellen und behaupten, die Absichten des Koordinierungsausschusses der Friedensbewegung seien „lauter und friedlich", wenn er seit Wochen landauf, landab in den Flugblättern und aus den Reden der maßgeblichen Organisatoren etwas anderes, nämlich Blockaden und Manöverbehinderungen, auch mit den Mitteln der Sachbeschädigung, Nötigung und des Hausfriedensbruchs vernehmen konnte? Warum hat dieser hessische Innenminister seine Polizei nicht präventiv zur Verhinderung von Rechtsbrüchen und Gewalttaten aus den sogenannten Friedenscamps eingesetzt, obwohl sich beispielsweise einer der Organisatoren, der frühere Magistratsdirektor Schubart, mit nicht zu überbietender Deutlichkeit wie folgt vernehmen ließ:
Wir greifen bewußt in militärische Vorgänge ein und verstoßen, wenn notwendig, gegen bestehende Gesetze.
Es war vorauszusehen — und zwar nicht nur für Herrn Winterstein, sondern auch für die gesamte SPD —, daß aus den sogenannten Friedenscamps fortwährend, Tag für Tag Rechtsbrüche und Gewalttaten begangen würden.
Dennoch hat der SPD-Vorstand am 10. September des Jahres alle Sozialdemokraten aufgerufen, an den Veranstaltungen der Friedensbewegung im Herbst teilzunehmen und dabei — man höre und staune — „Zeichen des Friedens" zu setzen. Wie die Zeichen des Friedens ausgesehen haben, die von jedem vierten Teilnehmer der fünf osthessischen Friedenscamps ausgingen, wissen wir mittlerweile: Die Staatsanwaltschaft Fulda hat 350 strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen solche Zeichen des Friedens eingeleitet.
Meine Damen und Herren von der SPD, es gab einmal einen preußischen Innenminister, Carl Severing, aus Ihren Reihen, einen der großen Demokraten der Weimarer Republik. Von ihm stammt ein Erlaß aus dem August 1931, in dem er aus Anlaß gewalttätiger Übergriffe kommunistischer Ruhestörer seine Polizei wie folgt anweist:
Die Polizeibehörden werden angewiesen, das Vorhandensein solcher Trupps zu ermitteln, sie mit besonderer Aufmerksamkeit zu beachten und ihre gesetzwidrige Betätigung mit allen zu Gebote stehenden Mitteln auf das Nachdrücklichste zu verhindern.
Nichts anderes hat der amerikanische General Wetzel vom hessischen Innenminister verlangt.
Zwischen dem Minister Winterstein und dem preußischen Innenminister Severing liegen allerdings nicht nur 50 Jahre, sondern ein erschreckender Verfall rechtsstaatlichen Bewußtseins in der Sozialdemokratie.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Fuchs .
Herr Präsident! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Wenn man den Herren Dregger, Wörner, Laufs und anderen in dieser Debatte zuhört, wird doch eines ganz deutlich: Es geht Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU, nicht darum, hier und heute eine Lanze für Rechtsbewußtsein und Rechtsfrieden zu brechen, es geht Ihnen vielmehr darum, einen für Sie äußerst unbequemen Teil unserer Bevölkerung zu diffamierenDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6421Frau Fuchs
und unsere Gesellschaft zu teilen, zu spalten, wie das in vielen anderen gesellschaftspolitischen Bereichen zur Zeit bereits Praxis ist,
z. B. hier Soldaten, dort kriminelle Gewalt; hier gutgläubige Mitläufer, dort militante Anstifter.Warum das alles? Um den Widerstand gegen Ihre Politik zu schwächen, die Aufrüstung und Konfrontation begünstigt,
um eigene Schwierigkeiten, um eigene ungelöste Probleme wie Personalstruktur der Bundeswehr
und zu erwartende Kostenexplosion, um Pannen vergessen zu machen.
Es geht Ihnen vor allem darum, die Frage der Raketenstationierung und ihre politische Bedeutung in den Hintergrund zu drängen;
denn hier wird Ihr Versagen, für alle überprüfbar, am deutlichsten.
„Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen" hatten Sie versprochen. Sie hatten auch versprochen, daß die Verhandlungen mit der Sowjetunion nach der Stationierung besser als je zuvor weitergehen würden.
Was ist heute? Gar nichts geht weiter, außer Aufrüstung, Herr Marx. Mehr Raketen denn je bedrohen unsere Nachbarn im Osten von unserem Boden, und mehr Raketen denn je bedrohen uns aus unseren östlichen Nachbarländern. Unsere Sicherheit hat sich verschlechtert, der Frieden ist weniger stabil geworden; davon wollen Sie ablenken. Hören Sie doch endlich auf, die Hunderttausende von Anhängern der Friedensbewegung dafür verantwortlich zu machen, daß verschwindend wenige aus der ganzen Bundesrepublik das Prinzip der Gewaltfreiheit verletzen, was wir verurteilen! Meine Kollegen haben das Notwendige dazu gesagt.Ist es, liebe Kollegen und Kolleginnen, nicht geradezu beeindruckend, daß trotz der Rücksichtslosigkeit, mit der die Raketenstationierung gegen den Willen der Mehrheit unserer Bevölkerung durchgesetzt wurde,
die Friedensbewegung weiterhin zum Prinzip der Gewaltfreiheit und der Friedfertigkeit steht?
Ist es nicht beeindruckend, daß trotz der Verzweiflung über die Arroganz der Mächtigen immer noch hunderttausende aktive Anhänger der Friedensbewegung eben nicht resignieren und verzweifeln, sondern ihre Mobilisierungs- und Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung fortsetzen?
Und ist es nicht beeindruckend — das haben Sie nicht erwähnt —, daß Zehntausende in Friedenscamps und auf der Abschlußkundgebung in Fulda dafür gesorgt haben, daß am Montag in den Schlagzeilen der Zeitungen die Adjektive „gewaltfrei", „friedlich", „fröhlich" die häufigsten waren?
Wo liegt denn die Verantwortung für die andauernden öffentlichen Proteste? Ist nicht auch die sinkende Glaubwürdigkeit der Sicherheitspolitik dieser Bundesregierung für Angste und Verzweiflung verantwortlich?
Und ist nicht das stumpfsinnige Festhalten an der Politik des atomaren Ersteinsatzes Ursache für das Aufbegehren vieler Jugendlicher? Wer da von Sieg sprechen kann, Herr Engelhard, dokumentiert wirklich Ahnungslosigkeit.
Meine Herren und Damen von der CDU/CSU, wenn ich Sie so reden höre, bekomme ich Angst. Menschen verzweifeln, und Sie nutzen diese Ängste, um die Gesellschaft zu polarisieren, und Sie schrecken nicht einmal davor zurück, die Bundeswehr als Instrument Ihrer Spaltungs- und Polarisierungspolitik zu mißbrauchen!
Für die SPD und aus eigener Überzeugung sage ich hier klar und deutlich, daß wir nie dulden werden, daß die Soldaten der Bundeswehr von irgend jemandem diffamiert werden oder daß die Soldaten der Bundeswehr von irgend jemandem mißbraucht werden.
Genausowenig lassen wir zu, daß die Männer und Frauen in der Friedensbewegung an den Rand gedrückt werden. Es sind alle Bürgerinnen und Bürger, Soldaten wie Zivilisten, Anhänger einer vernünftigen Verteidigungspolitik, wie Pazifisten, die unter der Politik dieser Bundesregierung leiden müssen.
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6422 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Frau Fuchs
Ich darf an einen Satz erinnern, den mein Kollege Glotz nicht erwähnt hat, der auch vom Präsidium gesagt wurde:
Auf Dauer kann kaum eine Regierung gegen den andauernden friedlichen Protest der Bevölkerung gegen das Wettrüsten regieren. Ich wünsche, Sie würden sich diesen Satz zu Herzen nehmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Huyn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, die Einlassungen der Kolleginnen und Kollegen der SPD haben die Verlegenheit deutlich gemacht,
in der sich die SPD befindet; denn Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, stehen hier in der Verlegenheit der Situation zwischen traditioneller Sozialdemokratie und dem Liebäugeln mit der linken Szene.
Das ist genau die Schwierigkeit, in der Sie sich befinden.
Was nützt es uns, wenn hier nach den Manövern von Herrn Glotz und von verschiedenen anderen milde Töne angestimmt werden, wenn Gewalttaten verurteilt werden? Wir begrüßen das, und ich kann nur sagen: Ich nehme sehr gern auf, daß wir keine Polarisierung wollen, daß wir keine Weimarer Verhältnisse wollen. Aber, meine Damen und Herren, dann müssen Sie vorher dafür sorgen, daß solche Dinge nicht eintreten.
Nun möchte ich hier eines einmal sehr deutlich sagen. Hier ist öfter das Wort „Friedensbewegung" gefallen.
Was hier geschehen ist, war alles andere als friedlich. Es ist ein Etikettenschwindel, wenn man das Friedensbewegung nennt. Hunderte von Straftaten sind hier begangen worden: Mit Messern ist auf Panzerbesatzungen losgegangen worden, mit Kleinkalibergewehren, mit Steinwürfen wurde vorgegangen. Das hat mit Frieden nichts zu tun.
Leider Gottes spiegelt sich in dieser zunehmenden Radikalisierung natürlich auch die Haltung von Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die Sie erst nur den NATO-Doppelbeschluß verurteilt haben und nun mehr und mehr dazu übergehen, gegen die gesamte Sicherheitspolitik, die unsere gemeinsame Sicherheitspolitik gewesen ist — und ich wäre froh, sie würde es wieder —, vorzugehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz hat festgestellt, daß das sogenannte integrierte Aktionskonzept für den Friedensherbst aus der DKP, aus Gliederungen der Gewerkschaften und der SPD und aus einer bunten Mischung besteht, die von Anti-NATO-Gruppen bis zu den GRÜNEN reicht. Lösen Sie sich doch aus dieser Szene, nehmen Sie doch in der Praxis draußen die Haltung ein, die Sie, Herr Glotz, für Ihre Partei und für Ihre Fraktion heute in diesem Hause vertreten haben!
Was aber am schlimmsten ist, ist Ihr konsequent werdender Antiamerikanismus. Das ist keine Äquidistanz zwischen Moskau und Washington mehr;
dies wird immer mehr zu einem Antiamerikanismus einseitigster Prägung.
Meine Damen und Herren, unsere amerikanischen Freunde stehen hier, um uns zu schützen, und wir sind dankbar dafür, daß sie dies tun.
Die Art und Weise, auf die der hessische Innenminister Winterstein den General Wetzel abgekanzelt hat,
ist untragbar.
Er erklärte, er sei kein Vasall der Amerikaner! — Ich möchte, daß dieser Zwischenruf aus den Reihen der SPD im Protokoll festgehalten wird: „Mit Recht!". Hier entlarven Sie sich selbst und Ihre Politik! Ich kann nur sagen: Distanzieren Sie sich von dieser Haltung, finden Sie den Weg zurück zu einer gemeinsamen Politik westlicher Sicherheit, die wir, die unser Land nötig haben!
Das Wort hat der Abgeordnete Emmerlich.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hatte gehofft, daß wir gemeinsam die Chance, die diese Aktuelle Stunde geboten hat, nutzen würden, um deutlich zu machen, daß dieser Deutsche Bundestag darin übereinstimmt, daß Gewalt und strafbare Handlungen kein Mittel der Politik sind und daß wir es gemeinsam nicht dulden, daß strafbare Handlungen und Gewalt zu einem Mittel der Politik gemacht werden.
Deutscher Bundestag — l0. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6423
Dr. Emmerlich
Gemeinsam sollten wir unterstreichen, daß jeder Bürger unseres Landes gegen Gewaltmaßnahmen Anspruch auf unseren Schutz, auf den Schutz dieses Staates hat, jeder Bürger, auch und insbesondere unsere Polizeibeamten und unsere Soldaten.
— Hören Sie mal zu, Graf Huyn: Ich habe den Eindruck gewonnen und bin davon überzeugt, daß sehr viele Bürger unseres Landes sehr wohl bemerken, daß diese Aktuelle Stunde für Sie leider Gottes zwei Funktionen gehabt hat. Erstens geht es um eine Diskriminierung der Friedensbewegung, um eine Diskriminierung, die darauf hinauslaufen soll, die Friedensbewegung insgesamt in den Augen der Bevölkerung als gewalttätig und kriminell erscheinen zu lassen und herabzusetzen. Die zweite Funktion war die, daß Sie die Sozialdemokraten in den Verdacht der Zusammenarbeit mit Gewalttätern bringen wollen.
Ich meine, Sie sollten sich sehr davor hüten, eine Partei, die das Vertrauen nahezu der Hälfte der Bürger dieses Landes genießt,
in einer solchen Weise herabzusetzen.
Dadurch untergraben Sie die Grundlagen, auf denen unser Staat steht. Ich verstehe überhaupt nicht, daß Sie kein Gefühl dafür haben, was es bedeutet, wenn Sie Debatten so führen, daß der innenpolitische Kontrahent als ein Feind der Verfassung, als ein Feind unserer Ordnung erscheinen muß. Diess ist etwas, was im Endergebnis auf Sie selbst und auf unser parlamentarisches System negativ zurückschlagen wird. Sie sägen den Ast ab, auf dem wir alle sitzen. Und das werfe ich Ihnen vor, daß Sie hier nicht verantwortungsbewußt handeln und die Verantwortung, die Sie als eine große Volkspartei wahrzunehmen haben, nicht wahrnehmen können und wollen.
Lassen Sie mich auch noch eine Bemerkung machen, die hier hingehört. Ich protestiere ganz entschieden dagegen, daß die Bundesregierung und die Regierungskoalition für sich das Recht in Anspruch nehmen, die Aufgaben an sich zu ziehen, die der unabhängigen Justiz unseres Landes übertragen worden ist. Jetzt werden Sie fragen, was ich meine. Ich meine z. B. die Aufforderung des Regierungsmitglieds Würzbach an die Justiz, in bezug auf strafbare Handlungen, die bei diesen Manövern begangen worden sind, hart durchzugreifen. Und, Herr Wittmann, es steht der Bundesregierung auch nicht an, sich auf Fragen von Abgeordneten dazu zu äußern, welche Handlungen strafbar sind und welche Handlungen nicht strafbar sind. Dies ist Aufgabe der Justiz, und wir sollten alles tun, was wir tun können, um zu vermeiden, daß der Eindruck entsteht, wir wollten der Justiz Anweisungen erteilen. Ich bin der Auffassung, daß der Respekt vor dem Rechtsstaat solche Eingriffe in die Justiz verbieten sollte.
Das Wort hat der Abgeordnete Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, die beiden Reden von Frau Kollegin Fuchs und von Herrn Glotz haben deutlich gemacht, wie die SPD in dieser Frage sowohl strategisch als auch taktisch hier vorgeht: Herr Glotz beschwichtigend, abwiegelnd, verharmlosend, Verständnis habend für unsere Position, sich zur Bundeswehr und zu Manövern bekennend, und dann Frau Fuchs genau das Gegenteil davon. Ich kann nur fragen, wer ist hier die amtliche SPD, und wer, Herr Glotz, ist hier die private SPD?
Es ist hier der Eindruck erweckt worden, als handle es sich um Randgruppen, um periphere Erscheinungen bei dem, was wir hier heute in der Aktuellen Stunde zur Sprache bringen. Ich kann nur fragen: Wenn jeder vierte Teilnehmer in den sogenannten Friedenscamps — es waren ja fünf davon in Osthessen — wegen strafbarer Handlungen oder Ordnungswidrigkeiten mit einem Verfahren überzogen worden ist: sind das Randgruppen, oder ist das nicht ein Thema, das auch Sie aufwühlen müßte? Ist das nicht auch ein Thema, zu dem Sie sprechen müßten? Müßten Sie nicht auch dazu hier klare Position beziehen? Wer doch letztlich friedvollen Demonstrationen auch in diesen Fragen, die hier heute angesprochen wurden, gerecht werden will,
der muß sich mit aller Entschiedenheit gegen solche kriminellen Handlungen auch hier im Deutschen Bundestag aussprechen.
Wir haben vielleicht nicht die Zeit, auf die hessischen Besonderheiten einzugehen.
Aber Sie von der SPD sind doch angetreten, in Hessen ein Gegengewicht gegen Bonn schaffen zu wollen. Sie sind doch angetreten, um dort ein. neues Modell auszuprobieren. Und nun müssen wir doch feststellen, daß Sie dort in Hessen die Dinge verharmlosen, daß Ihr Innenminister Winterstein, einer der Architekten des rot-grünen Paktes dort, nicht aufsteht und sich klar von diesen kriminellen Handlungen distanziert, sondern ganz im Gegenteil den Anlaß sucht, das Haar in der Suppe sucht und
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Bohlunsere amerikanischen Freunde und den amerikanischen General Wetzel in einer ganz unerträglichen Weise in der Öffentlichkeit attackiert. Das ist das Schlimme.
Man kann nur staunen, wie weit die SPD inzwischen schon gekommen ist. Die politischen Domestizierungsversuche, die Sie ja in Wiesbaden gerne praktizieren wollen, sind fehlgeschlagen. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß Sie heute in Hessen dadurch, daß Sie die Polizei nicht einsetzen, wenn Sprengkammern an einer Brücke über den Main zubetoniert werden,
schlicht und einfach die Rechtstaatlichkeit in Hessen gefährden. Dies geschieht auch dadurch, daß besetzte Häuser nicht geräumt werden.
— Jawohl, weil GRÜNE dort sind. — Auch dadurch, daß Sie sich in Osthessen bei den Manövern in dieser Weise haben eingelassen, haben Sie dem Rechtsbewußtsein in Hessen und darüber hinaus einen ganz schweren Schaden zugefügt.
Lassen Sie mich ein letztes sagen. Was mich immer wieder umtreibt: Sie von der Fraktion der GRÜNEN mögen glauben, wir als CDU/CSU irrten in der Verteidigungspolitik, Sie mögen meinen, Sie seien moralisch sensibler, Sie mögen meinen, Sie seien uns intellektuell weit voraus, Sie mögen meinen, Sie seien die Elite der Nation — aber eines gilt mit Sicherheit: Auch Sie und Ihre Gesinnungsfreunde stehen nicht außerhalb der Gesetze.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Bevor ich den nächsten Punkt der Tagesordnung aufrufe, möchte ich auf unserer Ehrentribüne Frau Jutta Ehlers herzlich begrüßen.
Frau Ehlers, Sie sind hier nicht vergessen, wie auch Ihr Mann, dessen wir heute in schlichten Worten gedenken wollen.
Am 1. Oktober 1984 wäre Hermann Ehlers, der zweite Präsident des Deutschen Bundestages, 80 Jahre alt geworden. Am 29. Oktober 1954 verstarb er unerwartet. Die allermeisten empfanden damals, was Bundespräsident Theodor Heuss noch am Tage seines Todes erklärte: „Wir trauern vor diesem Toten um ein Stück deutscher Zukunft."
Dieser eigenwillige Mann war ein Vorbild. Es war ein Glücksfall für unser junges Parlament, als er am 19. Oktober 1950 zum Präsidenten gewählt wurde. Hermann Ehlers trug das Amt, prägte es, gab ihm Leben, Wirksamkeit und Würde. Ihm gelang es, dieses Ansehen auf das .Parlament und auf die Parteien zu übertragen — beide damals eher mißachtet als anerkannt. Unermüdlich warb er durch Wort und Schrift für die parlamentarische Demokratie. Darum lud er sehr bald auch Jugendliche in den Deutschen Bundestag ein. Entgegen mancherlei Warnungen setzte er die Rundfunkübertragungen wichtiger Parlamentsdebatten durch. Hermann Ehlers wußte, daß das Parlament in den Herzen der Bürger verankert sein muß. Das kann aber nur gelingen, wenn das Parlament die Demokratie lebt, gestaltet, trägt und ausfüllt, wenn es in offener und öffentlicher Debatte die Ohren und die Herzen der Bürgerinnen und Bürger erreicht.
Hermann Ehlers ist herausragend zu danken, daß der zweite Versuch der parlamentarischen Demokratie in Deutschland gelang. „Das Parlament soll eine Stätte nüchterner Arbeit sein, fern dem Pathos." Diese im Deutschen Bundestag ausgesprochenen Worte passen zu dem wuchtigen Bild von Hermann Ehlers, das dort im rechten Seitengang unmittelbar neben dem Plenarsaal hängt — und dort hängen nur zwei Bilder: Konrad Adenauer und Hermann Ehlers.
Hermann Ehlers übte sein Amt so erfolgreich aus, daß ihm bald eine breite Zustimmung aus allen politischen Richtungen zuteil wurde. Von ihm ging etwas aus, was ungewöhnlich war und Widerspruch oder Respekt erheischte — eine Art, die Zustimmung oder Ablehnung erzwang. Mir schien und scheint, daß sein Erfolg aus seiner Unbeirrbarkeit und seine Kraft aus seinem Glauben kam. Er wirkte als einer, der sagte, was er dachte, und dem man glaubt, was er sagt.
Dem Vaterland wollte er dienen, schrieb er in seinem Lebenslauf für das Abitur. Das hat er getan und sich, wie Carlo Schmid nach seinem Tode mit Zustimmung des ganzen Parlaments feststellte, „um das Vaterland verdient gemacht".
Heute danken wir mit Respekt und Sympathie Hermann Ehlers. Wir wollen die Erinnerung an diesen großen deutschen Demokraten wachhalten und sind dankbar, daß wir das in Ihrer Gegenwart tun dürfen.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung über die Konferenz zwischen den Mitgliedstaaten der EG sowie Spaniens und Portugals mit den Staaten Mittelamerikas und den Contadora-Staaten in San José am 28./ 29. September 1984
Interfraktionell ist eine Aussprache von einer Runde verabredet. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Debatte des Deutschen Bundestages zur Lage in Mittelamerika am 27. Januar 1984 habe ich das Angebot gleichberechtigter europäischer Part-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6425
Bundesminister Genschernerschaft an die Staaten Zentralamerikas bekräftigt. Dieses Angebot ist durch das gemeinsame Kommuniqué der Ministertagung von San José am 29. September 1984 feierlich angenommen worden.Der Präsident von Costa Rica hat bei der Eröffnung der Konferenz zu Recht auf die historische Bedeutung dieses Treffens hingewiesen. Er hat an die gemeinsame weltpolitische Verantwortung aller Beteiligten appelliert, als er sagte: Heute öffnen wir ein neues Kapitel im Kampf der Völker für Freiheit und für Frieden.Zentralamerika ist in den letzten Jahren immer mehr in das Bewußtsein der Weltöffentlichkeit getreten. Wir wurden Zeugen immer neuer krisenhafter Entwicklungen. Wir hier wissen, daß politische Stabilität wirtschaftliche Stabilität und soziale Gerechtigkeit voraussetzt. Das gilt gerade für die krisengeschüttelte Region Zentralamerikas. In den wirtschaftlichen und sozialen Problemen liegen die eigentlichen Ursachen für die bedrückenden Sorgen der Völker Zentralamerikas.Die Bundesregierung handelt in ihrer wirtschaftlichen Zusammenarbeit nach dieser Einsicht. Unter den europäischen Partnern ist die Bundesrepublik Deutschland der größte Geber. Der Handel der Gemeinschaft mit den Ländern dieser Region hat sich seit 1975 nahezu verdoppelt.Unsere diplomatische Präsenz in allen zentralamerikanischen Staaten sorgt für einen kontinuierlichen politischen Dialog. Die krisenhafte Entwicklung fordert unsere Mitverantwortung für den Frieden. Wir haben von der ersten Stunde an Bemühungen begrüßt und unterstützt, Lösungen der Probleme aus der Region selbst heraus zu entwickeln. In der Stuttgarter Erklärung vom Juni 1983 haben die Staaten der Europäischen Gemeinschaft ihre Unterstützung der Initiative der Contadora-Gruppe und die Notwendigkeit demokratischer Bedingungen und der Achtung der Menschenrechte in der Region gemeinsam betont.Am 29. September 1983 bekräftigte das unter deutscher Präsidentschaft vereinbarte erste Treffen der EG-Troika-Außenminister mit den Außenministern der Contadora-Staaten am Rande der 38. Generalversammlung der Vereinten Nationen den Willen der Zehn, den Contadora-Prozeß zu unterstützen. Ich hatte damals in New York einen institutionalisierten politischen Dialog und eine vertragliche Kooperation zwischen den Staaten der Europäischen Gemeinschaft und den Staaten Mittelamerikas vorgeschlagen. Der Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Gaston Thorn, hat dazu am 15. Juni 1984 in Brüssel erklärt:Die Kommission sieht die Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber Costa Rica und der ganzen zentralamerikanischen Region. Sie weiß um den europäischen Willen, zur Stabilisierung und der Wiederherstellung von Frieden und Demokratie überall dort beizutragen, wo diese Werte ernsthaft gefährdet sind oder nicht existieren.In der vergangenen Woche haben die Außenminister der fünf zentralamerikanischen Staaten Costa Rica, Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua sowie der vier Contadora-Staaten, Mexiko, Kolumbien, Venezuela, Panama, und der zehn Mitgliedstaaten der EG sowie Spaniens und Portugals und die Europäische Kommission ein gemeinsames Dokument verabschiedet. Das Ergebnis der Konferenz von San José bildet eine gute Grundlage für unseren europäischen Auftrag, zum Frieden in allen Teilen der Welt beizutragen.Die europäischen Erfahrungen zeigen, daß kleinere und mittlere Staaten durch regionale Zusammenarbeit ihre wirtschaftliche Entfaltung fördern und ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit wirtschaftlich und politisch festigen und ausbauen können. Aus unseren Erfahrungen heraus haben wir anderen Staatengruppen und anderen Regionen gleichberechtigte Zusammenarbeit angeboten. Mit den ASEAN-Staaten verbindet uns eine solche erfolgreiche und vorbildliche Zusammenarbeit, die auch auf deutsche Initiative zurückgeht. Die Zusammenarbeit mit den Staaten des Anden-Pakts entwickelt sich gut. Der europäisch-arabische Dialog ist ein Beispiel einer breit angelegten interregionalen Bemühung, auch wenn er unter den Gegensätzen innerhalb des arabischen Lagers leidet. Unser Angebot an die Staaten der Golf-Kooperation besteht fort. Es stößt dort auf neues Interesse. In Afrika zeichnen sich deutlichere Formen regionaler Zusammenarbeit ab. Das gilt für Westafrika genauso wie für die Staaten der sogenannten Lusaka-Gruppe. Das Lomé-Abkommen, dem eine andere Struktur zugrunde liegt, fördert die Zusammenarbeit mit Staaten verschiedener Regionen.Alle diese Beispiele zeigen, daß Europa in friedlicher und gleichberechtigter Zusammenarbeit, aber auch in neuen friedenstiftenden Initiativen, eine neue Identität findet. Europa, von dem in der Vergangenheit oft Kriege und Konflikte in andere Teile der Welt getragen wurden, wird heute zum Ausgangspunkt gleichberechtigter Zusammenarbeit, zum Ausgangspunkt von Dialog und Partnerschaft, von Bemühungen um wirtschaftliche Stabilität, um soziale Gerechtigkeit und um Friedenslösungen.
In dem Kommuniqué von San José haben die 21 Teilnehmerstaaten ihr Bekenntnis zu Frieden, Demokratie, Sicherheit, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung sowie zu politischer Stabilität in Mittelamerika bekräftigt. Sie wollen im Bewußtsein des gemeinsamen kulturellen Erbes handeln. Nicht durch Waffengewalt, sondern durch politische Lösungen, die von der Region ausgehen, sollen die Probleme Zentralamerikas bewältigt werden.
Die Befriedigungsmaßnahmen, die im Rahmen des Contadora-Prozesses ausgearbeitet werden, werden von uns unterstützt. Die Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten in der Region soll gefördert werden.
6426 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984Bundesminister GenscherDas muß in allen Staaten Zentralamerikas gelten. Das muß sich z. B. bei den bevorstehenden Wahlen in Nicaragua bewähren.
Ich habe darüber sowohl mit dem Außenminister Nicaraguas wie mit dem Führer einer der Oppositionskräfte, Dr. Cruz, gesprochen. Möglichkeiten der inneren Versöhnung waren Gegenstand meiner Gespräche mit dem Außenminister von El Salvador und einem Vertreter der Opposition, Dr. Ungor.Es gab europäische und zentralamerikanische Stimmen, die bis kurz vor der Konferenz Skepsis und Kleinmut verbreiteten und insbesondere bezweifelten, daß es den Staaten der Europäischen Gemeinschaft und Zentralamerikas gelingen werde, Verhandlungen für ein Kooperationsabkommen aufzunehmen. Alle diese Zweifel haben sich als unberechtigt erwiesen. Die zentralamerikanischen Staaten haben den Wunsch, ihre Beziehungen politisch und wirtschaftlich zu diversifizieren. Dieser Wunsch braucht eine Antwort demokratischer Staaten. Europa kann diese Antwort geben.
Wir wollen die Zusammenarbeit. Wir wollen sie gegen niemanden, sondern wir wollen Zusammenarbeit für politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und für soziale Gerechtigkeit in Zentralamerika.
Wir werden so bald wie möglich Gespräche mit dem Ziel aufnehmen, ein Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Staaten Zentralamerikas abzuschließen. Es soll drei Bereiche regeln: die handelspolitische Zusammenarbeit, die entwicklungspolitische Zusammenarbeit und die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Wir wollen vor allem Projekte im Agrarbereich mit regionaler Bedeutung fördern. Das soll die wirtschaftliche Integration Zentralamerikas erleichtern. Unser Vorschlag, im Rahmen der europäischen Unterstützung vor allem mittlere und kleinere Betriebe zu fördern, wurde positiv aufgenommen. Das gilt auch für die Anregung, für ausreichenden Investitionsschutz zu sorgen und damit die Rahmenbedingungen für Privatinvestitionen zu verbessern. Der EG-Haushalt wird allein im Jahre 1985 insgesamt 60 Millionen ECU, d. h. 132 Millionen DM, zur finanziellen und technischen Zusammenarbeit zur Verfügung stellen. Bei der üblichen fünfjährigen Laufzeit könnten somit den sechs Staaten der Region allein durch diese Kooperation rund 700 Millionen DM zufließen.Gesunde demokratische Strukturen erfordern eine gesunde wirtschaftliche und soziale Grundlage. Wir Deutschen wissen das aus eigener bitterer Erfahrung. Es geht aber auch um die Stärkung der Unabhängigkeit und der Selbständigkeit der zentralamerikanischen Staaten. Die Konferenz von San José hat gezeigt, daß das europäische Angebot zur Partnerschaft auch die zentralamerikanischen Staaten näher zueinander geführt hat. Wir sind der Überzeugung, daß die Zusammenarbeit zwischen den zwei Regionen auch die Identität und die gegenseitige Verbundenheit unserer zentralamerikanischen Partner fördern wird.Die Erwartungen, die wir in das Ergebnis dieser Konferenz gesetzt haben, haben sich erfüllt. Das gilt sowohl für den politischen Dialog, der im Rahmen des von der Bundesregierung vorgeschlagenen Lenkungsausschusses schon nach sechs Monaten fortgeführt wird. Das gilt auch für die wirtschaftliche Zusammenarbeit.Die Europäische Kommission wird zur Koordinierung der Zusammenarbeit eine regionale Verbindungsstelle mit dem Sitz in San José, Costa Rica, einrichten. Wir können mit Befriedigung feststellen, daß auch diese wichtige interregionale Kooperation auf eine deutsche Initiative zurückgeht.Die Vorbereitung und die Durchführung der Konferenz haben auf zentralamerikanischer Seite zu einer Vielzahl von Begegnungen geführt. Der Dialog zwischen Staaten, die lang nicht mehr miteinander gesprochen hatten, konnte wieder aufgenommen werden. Weitere Kontakte wurden verabredet.Besonders wichtig erscheint, daß diese Konferenz den Contadora-Prozeß gestärkt hat. Gerade bei der Suche nach Ausgleich, Gerechtigkeit, Verständnis und in vielen Fällen Aussöhnung können ein intensiver kulturpolitischer Dialog und wissenschaftlicher Austausch zwischen den Staaten der Region einerseits und mit uns andererseits von besonderer Bedeutung sein.Europäer und Zentralamerikaner haben sich vor der gemeinsamen historischen Herausforderung, den Frieden zu sichern, wieder aufeinander besonnen. Gerade weil es darum geht, in einer krisenhaften und konfliktreichen geostrategisch wichtigen Region die wirtschaftliche Stabilisierung, soziale Gerechtigkeit, die staatliche Unabhängigkeit und den gesellschaftlichen Pluralismus mit friedlichen Mitteln zu verwirklichen und zu erhalten, brauchen unsere Freunde in Zentralamerika die Partnerschaft der Europäischen Gemeinschaft.
Verweigern wir diese Partnerschaft oder sind wir zu kleinlich oder auch nur wankelmütig in unserem politischen und wirtschaftlichen Engagement, so überlassen wir die Völker dieser Region zunehmender Destabilisierung und der Belastung mit schweren sozialen Problemen. Wir treten der Gefahr entgegen, daß Mittelamerika zum Schauplatz eines verstärkten Ost-West-Gegensatzes wird.In dieser Einschätzung wissen wir uns einig mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben von Anfang an bei der Vorbereitung der Konferenz einen engen Meinungsaustausch mit den Vereinigten Staaten geführt. Es hat sich dabei gezeigt, daß frühzeitige Kontakte mit der amerikanischen Regierung den Sinn und den Nutzen der europäischzentralamerikanischen Zusammenarbeit verdeutlichen konnten.Gerade in diesem Zusammenhang gewinnt die Erklärung Gewicht, die der amerikanische Präsi-
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Bundesminister Genscherdent vor den Vereinten Nationen abgab, und in der er sagte, Einflußzonen sind eine Sache der Vergangenheit. Ich glaube, alle Teilnehmer der Konferenz von San José haben dem Präsidenten von Costa Rica zugestimmt, als er den Willen zur europäisch- zentralamerikanischen Zusammenarbeit wie folgt charakterisierte. Der Präsident sagte: „Eine größere solidarische Präsenz der Demokraten Westeuropas und eine breitere Zusammenarbeit mit ihnen wird den Kampf gegen die eigentlichen Ursachen für die dramatische Krise Zentralamerikas stärken." Und: „Angesichts des Pessimismus einiger wegen der Übel, die Zentralamerika bedrükken, wollen wir für Hoffnung und für den Glauben an uns selbst stehen." Europa muß Zentralamerika auf diesem Wege ein aufrichtiger und gleichberechtigter Partner sein.Ich danke Ihnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brück.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zu Beginn ausdrücklich erklären: Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt das Treffen der Außenminister der Europäischen Gemeinschaft, Spaniens und Portugals, Mittelamerikas und der Contadora-Staaten. Es war gut, daß die Europäische Gemeinschaft hier die Initiative ergriffen hat, gut deshalb, weil damit vielleicht ein Beitrag zur Lösung der Probleme in Zentralamerika geleistet werden kann, gut aber auch, weil ein einheitliches Auftreten der EG auch uns Europäern in unserem Selbstverständnis helfen kann. Auch daß neben den jetzigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft Spanien und Portugal an dieser Konferenz teilgenommen haben, muß aus europäischer Sicht begrüßt werden.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits im April dieses Jahres in ihrem Konzept für die Selbstbehauptung Europas gefordert: umsichtige und behutsame Hilfestellungen Westeuropas für die friedliche Lösung der außen- und innenpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Zentralamerika und der Karibik durch die politischen Kräfte der Region selbst.
Ich halte den Beitrag der Europäischen Gemeinschaft für die Lösung der Probleme in Zentralamerika deshalb für so wichtig, weil wir Europäer nicht in den Verdacht geraten können, daß wir hier die Probleme in einem unserer Hinterhöfe oder Vorgärten regeln wollten. Ich bin übrigens überhaupt nicht bereit, irgendwelche Regionen in dieser Welt zu Vorgärten oder Hinterhöfen irgendwelcher Großmacht zu erklären.
Noch so berechtigte Sicherheitsinteressen einer
Großmacht legitimieren diese nicht, in kleineren
Staaten in ihrer Nachbarschaft zu intervenieren, sei
es durch militärische Aktionen oder durch wirtschaftlichen Druck.
Das gilt für Zentralamerika, so wie es für Afghanistan gilt.
— Wissen Sie, Herr Kollege, ich wäre da vorsichtig mit den Unterschieden; Intervention ist Intervention.
Deshalb, Herr Bundesaußenminister, unterstütze ich nachdrücklich das, was Sie — Zeitungsberichten zufolge — zu den Lateinamerikanern beim Abschluß der Konferenz gesagt haben. Sie sagten:
Wir wollen hier keinen Einfluß bei Ihnen ausüben. Wir wollen im Gegenteil Ihre Selbständigkeit politisch und ökonomisch unterstützen.
Ich hoffe, daß dies nicht nur Floskeln waren.
Wehren müssen wir uns gemeinsam gegen Versuche unserer amerikanischen Freunde, uns Europäern vorzuschreiben, was wir in Zentralamerika zu tun und zu lassen haben. Wir wollen in Zentralamerika nicht als Konkurrenz gegenüber den USA auftreten. Wir würden uns sicherlich auch übernehmen.
Aber wir haben dort europäische Interessen zu vertreten. Im europäischen Interesse liegt es, zu einer friedlichen Konfliktlösung in Mittelamerika beizutragen, ohne Intervention von außen, in welcher Form auch immer.
Deshalb habe ich auch mit Erstaunen gelesen, daß der amerikanische Außenminister Shultz am 9. September Briefe an alle EG-Außenminister gesandt hat, in denen er sich — so steht es in den Zeitungen — höflich und wohlwollend über die Absicht der Europäer, Mittelamerika zu helfen, geäußert hat, aber nachdrücklich verlangt hat, daß jede wirtschaftliche Hilfe und politische Unterstützung der Sandinisten in Nicaragua unterlassen werden sollte.
Es wäre töricht, diesem amerikanischen Verlangen zu folgen.
Mit Erstaunen habe ich gestern in der „Süddeutschen Zeitung" den Satz gelesen:
Um den Friedensplan der Contadora-Staaten für Mittelamerika, dessen Unterzeichnung durch die fünf Konfliktparteien gesichert schien, hat auf Druck der Regierung der Vereinigten Staaten eine neue Kontroverse begonnen.
Ich habe das mit Erstaunen gelesen; eigentlich hätte ich sagen müssen: mit Unverständnis.
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Brück
Es ist gut, daß die Europäische Gemeinschaft keine Ausgrenzung Nicaraguas vorgenommen hat.
Ich will nicht verhehlen, daß ich selber manche Entwicklung in Nicaragua mit Sorge verfolge, weil nicht immer deutlich wird, ob Nicaragua die selbstgesetzten Ziele wie Blockfreiheit, Pluralität, gemischte Wirtschaftsform in aller Eindeutigkeit anstrebt.
— Das vorausgeschickt, Herr Kollege Pinger, frage ich mich aber doch, warum wir an die jetzige Regierung in Managua andere Maßstäbe anlegen, als wir sie an andere Regierungen in dieser Region anlegen.
— Doch dies ist leider so. — Was immer man an Kritik gegenüber der jetzigen sandinistischen Regierung üben kann: Das, was jetzt in Nicaragua geschieht, ist um vieles besser als das, was vorher unter Somoza in Nicaragua geschehen ist.
Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lammert?
Aber gern, Herr Lammert.
Herr Kollege Brück, würden Sie es denn für angemessen halten, an die Regierung in Nicaragua die Ansprüche heranzutragen, die sie selbst in ihren eigenen Proklamationen als für sich verbindlich und gültig vorgetragen hat?
Aber genau das, Herr Kollege Lammert, habe ich gesagt, daß ich nämlich mit Sorge manche Entwicklung dort beobachte.
Wer das Terrorregime Somozas ohne Kritik hingenommen, ja sogar unterstützt hat, hat nicht die moralische Autorität, die jetzigen Zustände in Nicaragua zu beklagen.
Ich will diese Debatte nicht nutzen, um mich mit der amerikanischen Lateinamerikapolitik auseinanderzusetzen. Aber ich erinnere mich bei all diesen Diskussionen immer an ein Gespräch, das ich vor vielen Jahren einmal mit einem Amerikaner geführt habe — und das war kein Linker —, der mir damals sagte: Der Fehler unserer Außenpolitik ist, daß wir aus Angst vor dem Kommunismus jeden, aber auch jeden unterstützen. Wer auf Kuba einst Batista und in Nicaragua Somoza unterstützt hat, darf sich nicht über die Folgen einer solchen Politik wundern.Man muß es immer wieder sagen — Herr Bundesaußenminister, auch hier stimme ich Ihnen ausdrücklich zu; Sie haben das soeben in Ihrer Regierungserklärung gesagt —: Es ist töricht und gefährlich, das Strickmuster des Ost-West-Konflikts auf die Dritte Welt zu übertragen.
Natürlich weiß auch ich, daß der Ost-West-Konflikt nicht schon allein dadurch von der Dritten Welt ferngehalten wird, daß wir ihn nicht dorthin tragen. Ich weiß schon, daß die Sowjetunion hier nicht nur ein ganz harmloser Zuschauer ist. Aber wer gerade will, daß die Sowjetunion in seiner Nachbarschaft keinen Einfluß gewinnt, muß nach den Ursachen fragen, die zu den Konflikten führen.Ursache für die Konflikte in Zentralamerika, ja in ganz Lateinamerika sind die sozialen Ungerechtigkeiten, sind die zum Himmel schreienden sozialen Ungerechtigkeiten.
Wer jemals in Lateinamerika gereist ist, wird das genauso empfunden haben, wie ich das tue.Es ist gut, daß die Konferenz in Costa Rica stattgefunden hat, in einem Land, das besser als alle anderen Länder der Region für mehr Gerechtigkeit, für mehr Demokratie gesorgt hat und im dem die Demokratie eine lange Tradition besitzt.
— Wenn Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, mir zustimmen, werde ich hinzufügen dürfen: Wir Sozialdemokraten sind stolz, daß dort seit vielen, vielen Jahren Sozialdemokraten regieren.
— Sie waren auch einmal dran, Herr Kollege Pinger, aber nur für eine Legislaturperiode.Wer die oft feudalistischen Strukturen in Lateinamerika nicht überwindet, wird auf Dauer keinen Frieden schaffen. Ich hoffe, daß die Konferenz von San José hier einen Anfang gemacht hat, zumindest was die Hilfe der Europäer betrifft. Natürlich bleiben noch einige Fragen offen.An die Zusammenarbeit zwischen den Staaten Zentralamerikas und der Europäischen Gemeinschaft werden zu große Hoffnungen geknüpft, als daß wir es uns erlauben könnten, nur den Mund zu spitzen und hinterher auf das Pfeifen zu verzichten. Ich habe mit Sorgfalt das Kommuniqué gelesen, das nach der Konferenz veröffentlicht wurde. Allzuviel Konkretes habe ich darin leider nicht gefunden.
Sosehr ich die Initiative der Europäischen Gemeinschaft für diese Konferenz zu Beginn gelobt habe, sosehr muß ich natürlich kritisch fragen: Was soll denn wirklich geschehen? Was soll geschehen, um den Handel zwischen Zentralamerika und der Europäischen Gemeinschaft zu verbessern?Sie haben, Herr Bundesaußenminister, einige Andeutungen über die finanziellen Hilfen gemacht. Aber wie sollen sie aussehen? Zu welchen Konditio-
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Brücknen sollen sie gewährt werden? Dazu steht in dem Kommuniqué: Neben der Hilfe, die die EG-Staaten den Ländern der Region auf bilateraler Basis zukommen lassen, wird die Gemeinschaft technische und finanzielle Hilfe besonders für landwirtschaftliche, agroindustrielle und ländliche Produkte gewähren.Wäre das nicht eigentlich eine gute Gelegenheit, um hier sowohl die Hilfe der Gemeinschaft selbst als auch die ihrer Mitgliedstaaten besser zu koordinieren, als wir das in den vergangenen Jahren weltweit getan haben? Ich gehe hier sogar einen Schritt weiter: Wäre es nicht im Interesse der Empfängerländer — aber ich füge hinzu: auch um der Identität der Europäischen Gemeinschaft willen — besser, es gäbe hier eine gemeinsame Aktion der Europäischen Gemeinschaft und alle Gelder, die aus Europa kommen, flössen über die Gemeinschaft?Ich mache diesen Vorschlag auch, weil ich der Bundesregierung hier nicht ganz über den Weg traue.
Ich fürchte, daß sie im Gegensatz zu den politischen Absichtserklärungen von San José die zentralamerikanischen Staaten nicht als Einheit betrachten wird.
Der Kabinettsbeschluß, die Hilfe für Nicaragua auszusetzen, begründet diese Furcht.Herr Kollege Marx, wenn Sie hier Zwischenrufe machen, dann muß ich Ihnen sagen, daß der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit gestern im Bundestagsausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit noch einmal auf diesen Kabinettsbeschluß hingewiesen hat. Genau das veranlaßt mich, hier Furcht zu haben, daß sich die Bundesregierung nicht an das hält, was in San José beschlossen worden ist.
Ich will unsere Forderungen im Anschluß an diese Konferenz zusammenfassen. Alle — ich betone: alle — Staaten in Zentralamerika, die von sich aus bereit sind, sich an der Contadora-Akte zu beteiligen, müssen in die Zusammenarbeit einbezogen werden. Die Souveränität und die territoriale Integrität aller Staaten müssen respektiert werden.
Jegliche direkte oder indirekte militärische Intervention oder jeder wirtschaftliche Druck müssen verurteilt werden.Diese Zusammenarbeit muß die Unabhängigkeit dieser Länder fördern. Diese Zusammenarbeit muß ein Beitrag sein für mehr Gerechtigkeit und Demokratie in diesen Staaten.Wenn von diesen Grundsätzen ausgegangen wird — Herr Kollege Marx, Sie haben j a eben dazwischengerufen: „Das ist selbstverständlich!" —, dann kann die Bundesregierung auch mit der Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion rechnen.Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich werde darauf aufmerksam gemacht, daß ich während der Rede des Abgeordneten Dr. Emmerlich in der Aktuellen Stunde ein Zwischenrufduell zwischen dem Abgeordneten Dr. Vogel und dem Abgeordneten Graf Huyn offensichtlich überhört habe. Danach hat der Abgeordnete Dr. Vogel den letzteren zweimal als „Heuchler" bezeichnet. Herr Abgeordneter Vogel, ich rufe Sie zur Ordnung.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Brück, ich möchte gern Ihre letzten Bemerkungen aufnehmen. Ich denke, daß es uns in der Tat bei einigem Bemühen möglich sein wird, auf diesem Feld, über das wir jetzt sprechen, eine vielleicht nicht vollständige, aber doch in den wichtigsten Punkten gemeisame Verabredung miteinander zu treffen.Heute, da wir über die Konferenz von Costa Rica sprechen, möchte ich an etwas erinnern, was in der schnelläufigen Zeit rasch vorbeigeht. Ich möchte daran erinnern, daß es vor allen Dingen Mitglieder der Union in unserem entwicklungspolitischen Ausschuß waren, die am 1. Februar 1982 in diesem Hause einen Antrag eingebracht haben, von dem ich nur zwei Sätze vorlesen will:Angesichts der krisenhaften Entwicklung in Zentralamerika und der Karibik wird die Bundesregierung aufgefordert, ihre politischen Anstrengungen in diesem Bereich zu verstärken, sie in einem Gesamtkonzept weiterzuentwikkeln, dieses im westlichen Bündnis abzustimmen und es dem Deutschen Bundestag vorzulegen.
In diesem Konzept soll die Entwicklungszusammenarbeit einen zentralen Stellenwert einnehmen. Alle Maßnahmen sollen, in dem sie den Ländern dieser Region helfen, sich friedlich und frei zu entwickeln, zugleich den wohlverstandenen Sicherheitsinteressen des Westens und dem Weltfrieden dienen.Ich glaube, daß muß man ebenso festhalten wie die Tatsache, daß Christliche Demokraten und Freie Demokraten am 10. Juli 1983 nahezu denselben Text noch einmal als einen gemeinsamen Antrag hier eingebracht haben. In der Begründung — ich lese nur einen Satz vor — wird ausgeführt:Es liegt nicht im Interesse der westlichen Demokratien, daß Diktatur und Unterdrückung in einzelnen Ländern bestehen bleiben, während in anderen lediglich die Vorzeichen zwischen Rechts- und sowjetisch gesteuerter Linksdiktatur ausgetauscht werden.Diese Sätze habe ich mir erlaubt vorzulesen, undzwar nicht aus historischen Gründen, sondern des-
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Dr. Marxhalb, weil sie nach wie vor Inhalt und Grundlage unserer Politik gegenüber dem zentralamerikanischen und karibischen Raum sind und sein müssen.
Meine Damen und Herren, das Treffen von Costa Rica wird von der Union ebenso wie die dort erzielten Ergebnisse grundsätzlich begrüßt. Es gab vorher — das wissen wir wohl — auch auf europäischer Seite manches Zögern, und es gab überbordende Illusionen über gewaltige finanzielle Hilfen der reichen Europäer, die in vielen mittelamerikanischen Zeitungen und auch von Offiziellen vorgetragen worden sind.Das Schlußkommuniqué hat — Herr Kollege Brück, so möchte ich meinerseits formulieren — solche unrealistischen Hoffnungen gedämpft. Es hat beide Seiten zur nüchternen Einschätzung geführt, was von den Europäern in diesem von so vielen Zuckungen geschüttelten amerikanischen Isthmus getan werden kann, aber auch, was von ihnen unterlassen werden muß.Den Zentralamerikanern hat es vor Augen geführt, daß sie nach dem ersten europäischen Schritt in jene — fast würde ich sagen: bisher allenfalls für Touristen interessante — Gegend mit unserer Solidarität rechnen können, wenn sie sich auf die Wahrung des Friedens konzentrieren und wenn sie — das ist eben vom Minister und von Ihnen, Herr Kollege Brück, gesagt worden; ich will es wiederholen — entschlossen sind, ihre Probleme hauptsächlich mit jenen Mitteln zu lösen, die nicht von außerhalb geholt werden, sondern aus der Region entwickelt werden. Contadora mag dazu ein gutes Beispiel werden.Der Herr Bundesminister hat in seiner Regierungserklärung die Meinung der Bundesregierung vorgetragen. Meine Fraktion beglückwünscht die Bundesregierung, daß sie mit Realitätssinn dieses wichtige Werk vorbereitet,
dafür geworben und jetzt damit begonnen hat. Wir werden ihr auch auf den folgenden Stufen einer sich enger und, wie ich denke, dann auch kenntnisreicher gestaltenden Zusammenarbeit innerhalb der Zentralamerikaner, der Zentralamerikaner mit den Europäern auf außen- und entwicklungspolitischem Gebiet unsere Unterstützung leihen. Wir bleiben dabei: nüchtern. Wir verfallen nicht in Schwärmerei.Ich will einige Punkte betonen, die für meine Fraktion und für mich besonders wichtig sind.Erstens. Ich denke, allzulange hat Europa den drängenden Problemen Zentralamerikas wenig Aufmerksamkeit gezeigt. Mancher hat voller Herablassung von „Bananenrepubliken" gesprochen. Endlich hat die Diskussion auf breiter Ebene in der Europäischen Gemeinschaft und den ihr angehörenden Staaten begonnen. Auch die dem lateinamerikanischen Kontinent durch vielfache Bande eng verbundenen Staaten Portugal und Spanien haben teilgenommen. Die fünf zentralamerikanischenStaaten — die sogenannte Contadora-Gruppe — haben ihre Diskussion untereinander neu beflügelt und ernsthaft vertieft. Sie sprechen jetzt über viele Fakten und Probleme, die sie früher meist umgangen haben.Alle diese Staaten — auch darüber muß man sich natürlich klar sein — verkörpern recht unterschiedliche politische Systeme und Vorstellungen. Das Wort Zentralamerika ist mehr ein geographischer, weitaus weniger ein politischer Begriff. Nicht bei allen — ich brauche hier nur das vom Sandinismus zum Leninismus übergehende System in Nicaragua zu erwähnen — wird die freiheitliche und rechtsstaatliche Demokratie als politisches Ziel verstanden und gewollt.Meine Damen und Herren, ich füge hinzu: Das Gastgeberland Costa Rica verdient unsere Unterstützung. Die beharrliche und positive Rolle des Präsidenten Monge, den wir im Frühjahr hier begrüßen konnten, soll ganz besonders hervorgehoben werden.
In seiner Hauptstadt wurde der Anfang gemacht. Man kann sagen, die Europäer haben jetzt endlich ihr Ohr, ihren Verstand und ihre hilfreiche Hand für diesen Raum und seine Menschen geöffnet. Sie tun es nicht — wie das normalerweise in der Politik der Fall ist — aus purem Altruismus, sondern auch deshalb, weil in einer enger gewordenen Welt das Bemühen um Frieden und Wohlfahrt in unruhigen Ländern auch in unserem Interesse liegt und auf uns selbst, wie ich hoffe, positiv zurückwirkt.Zweitens. Die Europäer, die bei den letzten EG-Konferenzen zu oft — ich denke jetzt nur an den gestrigen Tag — gezeigt haben, wie schwer es ihnen fällt, ihre eigenen Angelegenheiten zu ordnen, waren in diesem Falle, ähnlich wie gegenüber den ASEAN-Staaten, untereinander einig. Sie haben bei den Zusagen, die sie gegeben haben, weise gehandelt. Sie haben ihre eigenen Möglichkeiten, ihre eigenen finanziellen Nöte richtig eingeschätzt und nicht unseriöse Versprechungen gemacht. Der EG-Kommissar Pisani — das will ich mit besonderem Dank sagen — hat die Grenzen zwischen mancherlei protektionistischer Forderung und dem, was wir, marktwirtschaftlichen Grundsätzen folgend, tun können, klar markiert. Wir unterstützen daher ausdrücklich die Forderung, den freien Handelsverkehr zwischen den Staaten zu erhalten und zu verbessern, und wir sind auch zufrieden, obwohl — ich gebe Ihnen recht, Herr Kollege Brück — in dem Schlußkommuniqué sehr viele Worte und nicht allzu viel Substanz sind. Aber nehmen wir einmal an, das sei eine erste Runde, ein Anfang, dem mehr folgen soll! Ich sehe das nicht pessimistisch, sondern optimistisch. Wir unterstützen das und sind auch deshalb mit den Feststellungen des Schlußkommuniqués zufrieden.Drittens. Es ist unser Ziel, einen gemeinsamen Markt in Zentralamerika anzuregen, mit gemeinschaftlichen Institutionen, und die dortigen Staatsführer zu ermutigen, darauf hinzuwirken, daß Ansätze hierzu, die in früheren Jahren vorhanden wa-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6431Dr. Marxren, die aber durch Kriege und Grenzkriege verschüttet worden sind, wieder aufgegriffen und zeitgerecht weiterentwickelt werden. Wir machen aber auch klar, daß durch europäische finanzielle Leistungen nicht totalitäre Diktaturen gefördert werden dürfen
und wir nicht jene stützen wollen, die mit unseren Hilfsgeldern ihr ohnehin weit überrüstetes Heer noch immer weiter ausbauen
und ihre revolutionären Vorstellungen, die sie von Kuba und der Sowjetunion gelernt haben, in andere Länder exportieren.
— Frau Kollegin, Sie haben sich ja geäußert, daß Sie sich selbst als eine revolutionäre Kämpferin und Marxistin verstehen. Ich habe den Artikel aus dem Spanischen mit Freude gelesen.
— Ich verstehe, daß Sie Zwischenrufe machen, aber ich meine Ihre Freunde, die früher Sandinisten waren und sich heute offen als Leninisten bekennen.
Meine Damen und Herren, wir grenzen niemanden aus. Ich möchte hinzufügen, daß wir die Kommandanten in Nicaragua warnen, sich europäische Hilfe für ihren Feldzug gegen das eigene Volk und für Angriffe auf andere zu erschleichen.Meine Damen und Herren, die empörenden Vorgänge der letzten Monate, die — ich sage: durch eine Maskerade angeblich freier Wahlen — der Diktatur zum vollständigen Siege verhelfen sollen, rechtfertigen unser Mißtrauen und unsere Vorsicht.Ich füge hinzu: Wir unterstützen die getroffenen Vereinbarungen, daß das Präferenzsystem der Gemeinschaft für bestimmte zentralamerikanische Produkte ausgebaut werden soll, daß bessere technische und finanzielle Kooperation der Modernisierung der zentralamerikanischen Landwirtschaft dienen soll, daß kleine und mittlere Industrien bevorzugt errichtet und schließlich daß Stabilität und Vertrauen dadurch gefördert werden, daß die Grenz- und Bürgerkriege endlich beendet werden und damit die erwünschten privaten Engagements aus den europäischen Ländern und den USA wieder zunehmen.Wir wollen — das betrifft auch andere Länder in dieser Region, nicht nur das soeben von mir genannte Nicaragua —, daß die Verfolgung von Minderheiten, die Abtötung freiheitlicher Regungen in diesen Ländern und die leider noch weithin übliche grausame Verletzung von Menschenrechten endlich aufhören. Auch dies ist ein wichtiges Element unserer Politik und unseres Einwirkens bei den enger werdenden Kontakten gegenüber diesen Ländern.
Viertens. Meine Damen und Herren, meine Fraktion unterstreicht die Absicht, den außen- und entwicklungspolitischen Dialog künftig zu intensivieren, regelmäßige Zusammenkünfte zu organisieren und das ins Auge gefaßte Kooperationsabkommen als förmliche Grundlage für die Beziehungen zwischen den beiden Staatengruppen in absehbarer Zeit abzuschließen. Dies alles setzt — ich will es noch einmal sagen — friedliche Verhältnisse voraus; denn niemand wird sich dort engagieren, wo Willkür, Unruhe, Krieg oder Bürgerkrieg herrschen.Ich denke, wir sollten uns, weil von Herrn Kollegen Brück über Amerika gesprochen worden ist, noch einmal darüber unterhalten, ob es nicht sinnvoll wäre, daß, wie es auch bei anderen internationalen Konferenzen der Fall ist, zu künftigen Konferenzen ein Beobachter der Vereinigten Staaten mit eingeladen wird;
denn es ist ganz evident, daß die europäische Hilfe, die wir geben können, natürlich bei weitem nicht jene Hilfe erreicht, die von amerikanischer Seite immerfort geleistet wird,
übrigens in gegenseitiger Absprache mit den einzelnen Ländern Zentralamerikas.Meine Damen und Herren, es gab bei dieser Konferenz, bei der auch sehr viele Journalisten anwesend waren, Kommentare einiger Akteure und Journalisten, die dieser Konferenz die Bezeichnung „historisch" gegeben haben. Es gibt andere, die gesagt haben, Papier sei geduldig, man könne viel aufschreiben, aber ob daraus etwas werde, müsse man abwarten. Wieder andere haben das ganze Unternehmen mit einem — wie sie sagten — Marsch durch ein Minenfeld verglichen. Wir werden all diese Formeln für uns nicht aufnehmen können, sondern nüchtern den eingeschlagenen Weg weitergehen. Er ist politisch richtig.Präsident Monge nannte diese Tage in Costa Rica einen „Akt des Vertrauens Europas in die Zukunft der Region". Tun wir das Unsere, damit er am Ende eines längeren Prozesses, bei dem wir uns engagieren wollen, recht behält!Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, ich heiße eine Delegation des Parlaments der Föderativen Republik Brasilien, die auf unserer Ehrentribüne Platz genommen hat, herzlich willkommen. Meine Damen, meine Herren, herzlich willkommen!
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6432 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Präsident Dr. BarzelDer Besuch dieser Delegation aus Brasilien ist Ausdruck der guten und freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern und der guten Kontakte zwischen dem Parlament Brasiliens und dem Deutschen Bundestag.Ich freue mich besonders darüber, daß Sie auch Berlin einen Besuch abstatten werden. Sie sehen dort die deutsche Teilung und die Tragik der Teilung Europas.Ich wünsche Ihnen nützliche Gespräche und einen guten Aufenthalt in Deutschland. Herzlich willkommen!
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Gottwald.
Wenn ich Herrn Genscher richtig verstanden habe, so hatte die Konferenz von Costa Rica im wesentlichen zwei Ziele. Zum einen soll Europa in der Zukunft in der Region präsent sein. Zum zweiten soll eine regionale Zusammenarbeit der Staaten in Zentralamerika untereinander und mit der EG gefördert werden, und es sollen die Verhandlungen und Prozesse, die innerhalb der Contadora-Initiative ablaufen, seitens der Europäischen Gemeinschaft aktiv mitgetragen werden.
Ich bin ein bißchen verwundert über die Art und Weise der Diskussion; denn wenn man sich überlegt, was sowohl am Rande der Konferenz als auch seit dem Wochenende passiert ist, stellt man doch fest, daß genau diese Punkte nicht so ohne weiteres gelaufen sind. Der einzige, der darauf hingewiesen hat, ist Herr Brück. Er hat nämlich z. B. dieses wichtige Telegramm von Herrn Shultz erwähnt. Herr Shultz hat direkt und ganz bewußt den Versuch unternommen, genau die Absicht der europäischen Staaten, eine regionale Zusammenarbeit anzufangen, zu torpedieren,
indem er explizit versucht hat, Nicaragua auszuschließen. Ich bin sehr verwundert darüber, daß das hier von seiten der Regierung überhaupt nicht angesprochen wird.
Zweitens zur Contadora-Initiative: Man muß sich vielleicht noch einmal vor Augen führen, was eigentlich seit dem Beginn der Initiative Anfang letzten Jahres passiert ist. Mir hat es sich so dargestellt: Zuerst waren die USA gegen die Initiative, weil nämlich eine Entmilitarisierung der Region primär bedeuten würde, daß die USA ihre Militärpläne in Mittelamerika einstellen müssen. Deswegen haben sie von Anfang an versucht, diese Initiative zu behindern.
Die zweite Stufe war, daß eine zunehmende Zahl von Staaten diese Initiative verbal unterstützte, weil man den Eindruck hatte, daß sie eh keine realen Erfolge mit sich bringen würde. Von daher machte sich Gleichgültigkeit breit, und man sagte: Okay, alle unterstützen Contadora. Die USA sagten das auch.
Die dritte Stufe war, daß deutlich wurde, daß diese Initiative den Willen hat, eine Entmilitarisierung herbeizuführen. Von rechts versuchte man dann, diese Initiative gegen Nicaragua zu wenden, indem z. B. auch Mitglieder der CDU/CSU gesagt haben: Nicaragua wird beweisen müssen, ob es den Willen zur Abrüstung hat, und dieser Beweis wird daran festgemacht werden müssen, ob sie Contadora unterzeichnen.
— Selbstverständlich, Herr Pinger. — Dann passierte am Wochenende folgendes Absurde. Nicaragua hat gesagt: Wir unterzeichnen die Akte vorbehaltlos. Und dann haben die USA gesagt: Wir sind mit der Akte nicht mehr einverstanden. Das ist der Stand, der heute noch existiert, und ich wundere mich, warum das von Ihrer Seite, Herr Genscher, hier überhaupt nicht erwähnt wird. Heute steht in der „Frankfurter Rundschau", daß die Länder — man bedenke — El Salvador, Guatemala, Honduras und Costa Rica gesagt haben: Wir sind ebenfalls für eine Änderung der Akte. Jetzt können Sie sich einmal selber zusammenrechnen, wie diese Prozesse zustande kommen. Da kann man doch nicht sagen, Nicaragua ist gegen eine Friedensprozeß in Zentralamerika. Das ist absurd. Diese Sachen machen ganz deutlich: Die USA sind diejenigen, die überhaupt kein Interesse an einer Entmilitarisierung in der Region haben.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pinger?
Sofort.
Ich möchte Ihnen noch vorlesen, was Allan Romberg, der Sprecher des Weißen Hauses, der US-Regierung, als Begründung dafür gesagt hat. Erstens — ich zitiere eine AP-Meldung vom 2. Oktober —: „Die US-Regierung fürchtet, so meinte ein Beamter, daß beispielsweise El Salvador ohne US-Militärhilfe den Angriffen linksgerichteter Rebellen ausgeliefert sei."
Das war — unter anderem — die Begründung der Vereinigten Staaten, gegen die Akte zu sein.
Herr Kollege Pinger.
Frau Kollegin Gottwald, würden Sie mir zustimmen, daß die Vorbehalte und Bedenken der anderen zentralamerikanischen Staaten und auch der USA sich nicht gegen den Inhalt der Contadora-Akte richten, sondern dagegen, daß keine Kontrollmaßnahmen vorgesehen sind, und daß die Verifikation dieser Akte in Zwei-
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Dr. Pingerfel steht, d. h. daß zu befürchten ist, daß die anderen zentralamerikanischen Staaten sich an die Akte halten, nicht aber die Sandinisten?
Nein. Wie Sie zu dieser Einstellung kommen, ist mir völlig unklar. Sie müssen doch zugeben, daß es ein komischer Vorgang ist, wenn alle sagen: Die Akte liegt vor, wir sind aber mal gespannt, ob Nicaragua unterzeichnet. Dann unterzeichnet Nicaragua, und dann sagen die USA — die überhaupt nichts mit der Akte zu tun haben; das muß man j a auch mal sagen —, die hier direkt in die Contadora-Verhandlungen reinregieren: Wir sind damit nicht einverstanden. Was haben denn die USA damit zu tun? Sie haben sich ja geweigert, diese Akte zu unterzeichnen, und jetzt sind sie dafür, daß der Inhalt verändert wird. Dann sagen die anderen Staaten: Jetzt wollen wir auch eine Veränderung. Also ich denke, das kann man sich wirklich selbst zusammenreimen, daß das nichts damit zu tun hat, daß Nicaragua diese Akte nicht unterzeichnen wolle. Denn sie waren die einzigen, die gesagt haben: Wir machen es vorbehaltlos.Ein zweiter Punkt, den ich sehr wichtig finde, sind die Wahlen. Contadora legt sehr großen Wert auf freie Wahlen, und im Mittelpunkt der Diskussion über freie Wahlen in Zentralamerika steht immer Nicaragua, El Salvador nicht; ich denke, für El Salvador hätte das auch schlechte Konsequenzen. Wenn man mit den Kriterien, mit denen man die Wahlen in Nicaragua diskutiert, die Wahlen in El Salvador diskutieren würde, dann wären Sie heute nicht in der Lage, zu sagen, es habe freie und gleiche Wahlen gegeben. Das muß man mal sagen. Es hat nicht einmal eine Opposition gegeben, die an den Wahlen teilgenommen hat.
— Was heißt denn „die Geschichte korrigieren"? Wie kann man denn Wahlen frei nennen, wo es keine Opposition gibt? Das ist doch lächerlich.
— Zu Nicaragua möchte ich jetzt mal Stellung nehmen. Die Wahlen in Nicaragua sind eines der absurdesten Themen, die es in der Zentralamerika-Diskussion gibt. Wie über diese Wahlen diskutiert wird, ist eine Gemeinheit, möchte ich sagen, weil man ganz bewußt versucht, den Nicaraguanern jede Möglichkeit nimmt, sich überhaupt mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Das erste. Sie reden z. B. von der Opposition. Die Opposition kann an den Wahlen nicht teilnehmen. Da muß ich doch mal Herrn Schäfer das Wort reden.
Ich bin heute etwas netter zu Ihnen, Herr Schäfer.In Nicaragua ist es nicht die Coordinadora Democratica allein — das muß man doch sagen —, sind es nicht nur die drei winzigen Parteien, die sich in ihr zusammengeschlossen haben. Wenn es in Nicaragua überhaupt eine wichtige Oppositionspartei gibt, dann ist das der PLI. Das dürfte doch wohl für jeden, der sich nur ein bißchen auskennt, völlig klar sein.Das zweite. Die einzige Partei innerhalb der Coordinadora die überhaupt einen kleinen Stellenwert hat —
dadurch, daß sie eine sehr starke internationale Unterstützung hat —, ist Ihre Schwesterpartei, die Christlich-Sozialen. Das ist das Witzige. Ich habe es im Sommer genau mitbekommen, ich war nämlich in Nicaragua zur Zeit der Diskussion über die Einschreibung.
— Mit der Opposition!
Das war überhaupt das Interessante. Die PSC, also Ihre Schwesterpartei, war nämlich die Partei innerhalb der Coordinadora, die an den Wahlen teilnehmen wollte, die sich einschreiben lassen wollte. Sie hat sich nicht einschreiben lassen, weil es innerhalb der Coordinadora Druck gegeben hat, weil nämlich die Konservativen gesagt haben: Ihr nehmt nicht teil.Ich gehe noch weiter. Ich habe mit Vertretern der Konrad-Adenauer-Stiftung gesprochen. Die haben mir gesagt: Wir bedauern es zutiefst, daß die PSC sich nicht hat einschreiben lassen, daß die PSC nicht an den Wahlen teilnimmt.
Und dann stellen Sie sich hierhin und sagen: Die Opposition könnte nicht!
Man muß sich doch einmal die Frage stellen: Warum nimmt die PSC nicht teil? Warum kommt Cruz aus Washington? Er sagte voher: Ich nehme an den Wahlen teil. Warum sagt er dann, als er aus Washington kommt: Wir boykottieren den ganzen Laden? Wer ist überhaupt dieser Cruz? Wer ist denn dieser Mann, diese konservative Partei? Das ist eine Handvoll von Leuten, mehr sind das doch gar nicht.
Heute ist Cruz allerdings der politische Arm der Contra. Cruz hat in Costa Rica mit Herrn Genscher gesprochen.
6434 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984Frau GottwaldCruz hat offiziell ein Dokument der Contra-Gruppen überreicht, sie haben ihn zu ihrem Sprecher gemacht. Das muß man auch einmal sagen, wenn Sie immer von Demokratie und Pluralismus und diesen ganzen Sachen reden.
Man könnte auch noch — dazu reicht meine Zeit leider nicht aus —, minutiös nachskizzieren, was eigentlich seit einem halben Jahr an Diskussionen über die Wahl alles gelaufen ist und wie das Verhalten der Opposition eigentlich war. Das fing an mit den Einschreibungen. „Wir nehmen teil an den Einschreibungen." Sie haben dazu aufgerufen, die ganze Presse — das ist nicht viel, das muß man zugeben —, aber auch „La Prensa", hat aufgerufen, sich einschreiben zu lassen. Plötzlich sagte die Opposition: Wir schreiben uns nicht ein. — Dann wurde die Einschreibefrist verlängert. Dann hat sich die Opposition wieder nicht eingeschrieben. Dann haben sie gesagt: Doch, wir nehmen an den Wahlen teil. — Erst wurde gesagt, wir wollen die Wahlen vorverlegen — Sie haben es auch gefordert —, heute will man von den Sandinisten eine Wahlverschiebung nach hinten.
Man muß sich einmal vorstellen, was da für ein Affentheater gemacht wird. Man muß sich auch einmal überlegen, was damit eigentlich bezweckt werden soll. Meiner Meinung nach will die Opposition überhaupt nicht an den Wahlen teilnehmen.
Meiner Meinung nach hat die Coordinadora nie das Interesse gehabt, sich zur Wahl zu stellen, weil sie genau weiß, daß sie überhaupt keine Stimmen kriegen würde.
Die paar Prozente würden nämlich deutlich machen, welches reale Gewicht die Coordinadora hat.Dann sage ich Ihnen noch eines. Ich bin in Nicaragua gewesen und habe mir die Einschreibung angesehen. Ich würde Ihnen empfehlen, sich auch einmal die Mühe zu machen, sich solche Prozesse wirklich aus der Nähe anzusehen. Eine Einschreibung hat es übrigens in El Salvador so überhaupt nicht gegeben. Es hat in El Salvador überhaupt keine systematische Erfassung der Bürger gegeben, in Nicaragua dagegen wohl.
90 % aller Wahlberechtigten haben sich eingeschrieben.Dann will ich Ihnen noch etwas sagen. Ich bin in den Gebieten gewesen, wo die Contra sehr stark ist, und ich habe mitbekommen, wie die Contra die Leute, die sich einschreiben lassen wollten, schlichtweg umgelegt hat, wie die Contra die Wahlhelfer umgelegt hat. Selbige Leute machen heute Cruz zu ihrem politischen Sprecher und fordern von den Sandinisten freien Zugang zu den Wahlen. Ich finde, das ist echt ein lächerlicher Zusammenhang. Die Contra will keine Wahlen, und Cruz, der Sprecher, will auch keine Wahlen.
Dann kann man nicht diesen Mann nehmen und sagen: Der vertritt die Opposition in Nicaragua. — Das tut er nicht.Ich möchte noch einen Satz dazu sagen, was ich angesichts dieser Komplikation von der Bundesregierung erwarte. Die USA werden sich massiv wehren, wenn die EG versucht, Nicaragua mit in den Prozeß zu integrieren, mit in die Zusammenarbeit hereinzunehmen. Klar ist, daß es die USA geschafft haben, die Contadora Initiative kurz vor der Unterzeichnung wieder auseinanderzusprengen. Das ist klar. Wenn jetzt die Bundesregierung sagt: Wir unterstützen Contadora, wir unterstützen regionale Zusammenarbeit, dann möchte ich einmal wissen, wie Sie sich das jetzt vorstellen. Entweder unterstützt die Bundesregierung die Contadora-Beschlußakte — dann tut sie es inzwischen aber gegen die USA, gegen El Salvador, Guatemala, Honduras und Costa Rica; so sieht das aus —,
oder sie sagt: Okay, die haben ihre Meinung alle geändert — warum, das interessiert uns nicht, obwohl man es weiß —, und wir unterstützen jetzt wieder die Position der USA. Aber beides geht im Moment nicht mehr. Man muß sich entscheiden, und das ist hier überhaupt nicht diskutiert worden.Wenn man z. B. sagt, man wolle Nicaragua mit integrieren, dann kann man noch einmal erwähnen, was am Wochenende mit unserem Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herrn Warnke, gelaufen ist.
Während Herr Genscher in Costa Rica war und gesagt hat: Wir begrüßen jede regionale Initiative, war Herr Warnke in Kolumbien und hat gesagt, er fordere die Verschiebung der Wahlen. Für mich ist das nicht das gleiche. Das sieht mir nach abgesprochener Doppelstrategie der Bundesregierung aus.
Herr Warnke hat gestern im Ausschuß gesagt: Jede Reise ist natürlich mit dem Auswärtigen Amt abgestimmt. Wenn das die Abstimmung war, dann stellt sich für mich die Frage, ob dieser Schritt dann auch noch mit den USA abgestimmt war.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6435
Frau GottwaldJedenfalls fordere ich, daß diese Sachen hier geklärt und nicht systematisch verschleiert werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer [Mainz].
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich fand den Beitrag von Frau Gottwald — es reizt ja immer, unmittelbar nach ihr zu sprechen — wie immer interessant, in einigen Punkten auch sehr bedenkenswert. Schade war nur, daß Sie auf das Thema nicht eingegangen sind, nämlich auf die Bemühungen der Europäer, in San José einen positiven Beitrag zur Lösung der zentralamerikanischen Fragen zu leisten.
Vielmehr haben Sie sich aus dem verständlichen Engagement für Nicaragua heraus wieder mit diesem uns alle sehr berührenden Thema beschäftigt. Herr Marx hat j a zitiert. Ich würde heute morgen Ihnen den Ehrentitel „La Revolucionaria" geben wollen,
der auf Grund Ihres Engagements für Nicaragua sicher auch von dem hier anwesenden Botschafter mit unterschrieben würde.Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten das, was in San José geschehen ist, trotz aller der Ungereimtheiten, die es in Zentralamerika natürlich immer noch gibt und auf die ich noch eingehen möchte, nicht unterschätzen. Nachdem die sozialdemokratische Opposition Herrn Genscher verhalten, Willy Brandt ihn auf der Tagung in Rio de Janeiro, wie ich der „Süddeutschen Zeitung" heute entnehme, sogar sehr gelobt hat, darf ich dieses Lob hier auch seitens meiner Partei — und zwar nicht pflichtgemäß, sondern selbstverständlich — zum Ausdruck bringen,
und zwar auch deshalb, meine Damen und Herren, Herr Ehmke, weil zur Außenpolitik auch schöpferische Gedanken gehören müssen. Ich glaube, Herr Genscher — im „Spiegel" dieser Woche wieder einmal attackiert, wir seien in der Außenpolitik nicht selbständig — hat ja doch immer wieder schöpferische Gedanken, die wir hier auch einmal sehr deutlich zum Ausdruck bringen sollten. Dazu zählt nicht nur die Initiative zu San José, sondern es zählt z. B. auch der kluge Schritt dazu, auch die Spanier und Portugiesen dazuzunehmen, obwohl sie bedauerlicherweise immer noch nicht in die EG aufgenommen worden sind.
Es ist bedauerlich, daß sie jetzt anfangen müssen,zu drohen, damit der Prozeß der europäischen Einigung etwas schneller fortschreitet als die Gemeinsamkeit der Europäer, sich etwa den zentralamerikanischen Problemen zu nähern.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß das, was aus dem Kommuniqué von San José hervorgeht — das wurde von den Vorrednern j a schon sehr deutlich angesprochen —, unser aller Unterstützung haben wird, auch die Untersützung der GRÜNEN, wenn es hier heißt, daß Zielsetzung sein müsse, mit Unterstützung der Contadora — ich betone dies noch einmal — „Gewalttätigkeit und Instabilität in Zentralamerika zu beenden, soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Entwicklung, Respektierung der Menschenrechte und die demokratischen Freiheiten zu fördern". Ich hatte beim Lesen des Kommuniqués auch den Eindruck, daß sich die europäischen Staaten, die dort versammelt waren, gemeinsam mit den Contadora-Staaten natürlich auch für eine Unterzeichnung der jetzt vorliegenden Contadora-Akte ausgesprochen haben
Es ist auch mir allerdings nicht ganz verständlich — ich darf das hier einmal in kritischer Form sagen —, wie man eine Politik für sehr geradlinig und klug halten kann — ich meine jetzt nicht die europäische Politik —, wenn man voraussagt, Nicaragua werde diese Akte nicht unterzeichnen, und dann, als sie von Nicaragua überraschend unterzeichnet worden ist, sagt: Jetzt stimmt etwas nicht, nun ist es gar nicht ehrlich gemeint.
Also, wissen Sie, meine Damen und Herren, das bleibt für mich, unabhängig, ob ich hier in einer Regierungspartei, einer Koalitionspartei oder in der Opposition sitze, noch immer eine Sache, die ich nicht für gut halte.
— Ich halte es für richtig, daß man verifiziert. Das ist ganz klar. Ich weiß auch ganz genau — Herr Marx, da sind wir uns einig —, daß dieser Verifizierung seitens der Sandinisten sicher Schwierigkeiten entgegengebracht werden.
Aber man kann nicht erwarten, daß Nicaragua auf kubanische Militärberater verzichtet, wenn man gleichzeitig öffentlich erklärt, daß man die Contras auch weiterhin, möglicherweise durch private Firmen, unterstützt sehen will.
Meine Damen und Herren, das ist keine geradlinige Politik, und diese Politik werden die Europäer nicht mitmachen.Ich bin insofern sehr dankbar, Herr Genscher, daß die Europäer flankierend zu dem, was von Amerika versucht wird, handeln, aber doch mit einem gewissen wichtigen Unterschied, indem sie eben nicht bereit gewesen sind, bei der Konferenz in San José Nicaragua auszuschließen — weil es unklug gewesen wäre. Wir sagen doch nun seit vielen Jah-
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Schäfer
ren: Es ist unklug, politische Lösungen mit dem Brecheisen oder mit dem Holzhammer herbeiführen zu wollen. Notwendig sind vielmehr Diplomatie, Geschicklichkeit, aber auch Einfühlungsvermögen, meine Damen und Herren.
Ich glaube, da fehlt es gelegentlich doch auch in Washington, wenn es um diese zentralamerikanischen Fragen geht.
Es tut mir leid. — Diese Kritik ist unseren amerikanischen Freunden bekannt, und ich versäume keine Gelegenheit in Washington, sie zu wiederholen, in freundschaftlicher Weise. Man wird da auch gar nicht mißverstanden. Wir sollten aber nicht den Eindruck erwecken, die Politik, die wir betreiben, könne nur gemacht werden, indem wir immer ängstlich auf Amerika schielten.
Ich bin der Auffassung, wir sollten sie auch offensiv vertreten, mit derselben Zielrichtung, aber anders in der Methode. Ich meine, dafür hat San José ein gutes Beispiel gegeben. Ich bin sehr dankbar, daß das so gelaufen ist.
Ich bin auch sehr dankbar, meine Damen und Herren, daß doch, im Gegensatz zu dem, was Sie, Herr Brück, gesagt haben, eine ganze Reihe von konkreten Punkten genannt worden ist zur Hilfestellung der Europäer, natürlich in einem Umfang, der sicher nicht ausreicht, aber letzten Endes von Europa nur zu erbringen ist. Es geht jetzt darum, in dem von Herrn Genscher vorgeschlagenen Lenkungsausschuß die Vorbereitungen für eine Lösung zu treffen, d. h. ein Kooperationsabkommen abzuschließen, das sehr konkrete wirtschaftliche Hilfemaßnahmen vorsieht, auch Präferenzregelungen und natürlich auch finanzielle Hilfen. Hier, meine Damen und Herren ist, meine ich, ein richtiger Weg beschritten worden, auch im Hinblick auf die Bemühungen um einen regionalen Zusammenschluß. Das müßte langfristig möglich sein.Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal auf den entscheidenden Punkt der Zentralamerikapolitik zurückkommen. Friedrich Kassebeer hat heute in der „Süddeutschen Zeitung" einen bernerkenswerten Artikel, insbesondere über San José, aber auch über die Tagung der Sozialistischen Internationale in Rio de Janeiro, geschrieben. Er hat die Überschrift gewählt: „Die EG steigert in Lateinamerika ihr Prestige — Aber zur Lösung der Konflikte in El Salvador und Nicaragua reicht der Einfluß Westeuropas nicht aus". Das ist uns allen bewußt. Wir wissen auch, daß dort keine Lösungen ohne die Vereinigten Staaten zustande kommen können — das ist ganz klar —, deren Sicherheitsinteressen wir auch anerkennen. Aber, meine Damen und Herren, es ist uns doch unbenommen, auf verschiedenen Kanälen diese Lösungen zumindest positiv zu beeinflussen.Da darf ich einmal an eine erfreulicherweise zustande gekommene erste Konferenz der Vorsitzenden der drei internationalen Parteigruppierungen, also Saldiva, Willy Brandt und Malagodi, erinnern, die sich im April in Rom zum erstenmal getroffen und eine gemeinsame Erklärung zu Zentralamerika verabschiedet haben, in der wiederum diese klare Tendenz deutlich wird, daß wir, die wir alle verschiedene Parteispektren vertreten, auf die dortigen Parteien, die Bruder- und Schwesterparteien, Einfluß nehmen, um Lösungen zu finden. Ich halte das für einen sehr, sehr positiven Schritt.
Hier ist vielleicht der Rat von Kassebeer, den er heute in der „Süddeutschen Zeitung" gibt, zu befolgen. Er sagt, es genüge einfach nicht, das nur den Amerikanern zu überlassen, sondern von den Parteien her könne z. B. Kohl auf Duarte einwirken, das, was er, Duarte, vor der Wahl gesagt habe, auch durchzuführen, Gespräche mit der Guerilla zu suchen und sich nicht einschüchtern zu lassen.
Umgekehrt ist es durchaus möglich, daß Willy Brandt Einfluß auf die Links-Guerilla nehmen kann, endlich zu Gesprächen bereit zu sein, statt ihren bewaffneten Kampf fortzusetzen. Ich glaube, das wäre z. B. ein guter Weg.
Ich darf drittens sagen, daß auch die liberalen Parteien sich bemühen, gerade Anfang nächster Woche wieder. Ich selber werde nach Nicaragua fliegen und die FDP vertreten. Vertreter von 21 liberalen Parteien, davon 17 aus Lateinamerikanischen Ländern und 4 aus europäischen Ländern, werden sich in Nicaragua treffen, um nicht als Wahlbeobachter der Regierung, sondern in gemeinsamen Gesprächen mit Regierung und Opposition zu sehen, was eigentlich vorgeht. Denn unser Bild von dem, was dort vorgeht, ist diffus. Ich glaube, es ist besser, man geht dorthin. Ich lese, auch Willy Brandt wird es in der nächsten Woche tun.Wir haben A gesagt. Wir wollen dort Wahlen. Darum sollten wir auch B sagen. Wir sollten dazu beitragen, daß diese Wahlen doch noch sinnvoll verlaufen, und wir sollten nicht von vornherein erklären, sie werden in jedem Fall unsinnig sein.
— Ich muß jetzt doch versuchen, zwei Dinge klarzustellen.
Die liberale Partei ist nach allem, was wir wissen, wirklich wesentlich eher oppositionell und wird in ihren Wirkungen wahrscheinlich auch wesentlich mehr Leute hinter sich versammeln als die Grup-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6437Schäfer
pierung, die sich Coordinadora nennt und die fälschlich als die einzige Opposition bezeichnet wird.
Sie ist nicht die einzige Opposition. Das steht fest. Das ist eine fälschliche Darstellung. Ich meine nicht, daß sie nicht auch Opposition ist. Aber sie ist nicht die einzige. Das ist unrichtig. Das weiß ich aus vielen Gesprächen. Ich sage Ihnen: Als wir im März dort waren — Herr Kollege Herterich war dabei —, waren wir eigentlich enttäuscht von dem damaligen Zögern der Coordinadora, der Unentschlossenheit, dem Mangel an Fähigkeit, einen Kandidaten zu finden. Und als man ihn gefunden hatte — —
— Herr Cruz, ein hervorragender Mann — wird nun gesagt; er stellt neun Punkte auf. Das ist inzwischen alles zurückgezogen. Ich will nur ganz kurz die Ungereimtheit erwähnen. Herr Cruz hat in einem hervorragenden Artikel in „Foreign Affairs", den ich in meiner letzten Rede zu Zentralamerika zitiert habe, sehr deutlich gemacht, daß er nicht dafür ist, die Contras zu unterstützen. Und dann kommt er nach Nicaragua und stellt u. a. die Forderung auf, die Contras sollten sich an der Wahl beteiligen.
Und jetzt ein Wort zu den Wahlen in El Salvador, an denen ich als Beobachter teilgenommen habe. Frau Gottwald, es war natürlich nicht möglich, daß die Linksopposition sich beteiligte, weil sie gekämpft hat, weil sie ja gegen die Regierung ist, weil sie gar nicht bereit gewesen ist, an den Wahlen teilzunehmen.
Das ist klar. Aber genauso unsinnig ist es doch, zu sagen, die Contras sollten an den Wahlen in Nicaragua teilnehmen, während sie gleichzeitig den bewaffneten Kampf führen. Also da muß man, glaube ich, wirklich konsequent sein.
Da kann man nicht in Nicaragua etwas fordern, was man in El Salvador nicht fordert.
Das ist unehrlich. Das ist unfair. Und es führt dort nicht zur Lösung der Konflikte.
Es tut mir leid, daß ich das hier sagen muß. Es wäre gut gewesen, wenn Herr Cruz bei seiner Meinung geblieben wäre, daß man die Contras nicht unterstützen solle. Ich habe heute morgen in den Nachrichten gehört, daß das amerikanische Repräsentantenhaus jede weitere Hilfe für die Contras verweigert hat, auch einen Kompromißvorschlag. Sie sehen: Diese Meinungen gehen quer.
— Gut, Herr Marx. Aber die Mehrheit im amerikanischen Repräsentantenhaus sagt: Es bringt uns nicht weiter. Genau diese Meinung vertrete auch ich. Denn am Ende wird eben nichts dabei herauskommen, wenn wir uns alle ständig mit solchen Organisationen versuchen und im Endeffekt damit die Wahlen praktisch mit verhindern. Ich war immer der Meinung, daß man in Nicaragua von allen Seiten her bereit sein müßte, an den Wahlen teilzunehmen. Und wenn die Wahlbehinderungen wirklich so groß sind, daß man die Wahlen nicht durchführen kann, dann hätte man während des Wahlkampfs abbrechen und der Weltöffentlichkeit sagen müssen, wir machen diese Behinderungen nicht mit
statt von vornherein ein Hin und Her, ein Zögern, ein Verschieben und damit eine leider Gottes nicht mehr so ganz überzeugende Einstellung, wie sie eben von der Opposition vertreten worden ist, zu zeigen.Nun habe ich mich — Herr Genscher wird das gar nicht schätzen — doch wieder zu sehr mit Nicaragua und El Salvador befaßt. Aber ich schließe mit dem Hinweis, daß die europäische ZentralamerikaPolitik durch die Konferenz von San José einen ganz bedeutsamen Schritt weitergekommen ist, daß wir unbeirrbar eine Politik verfolgen, die die Stabilität zum Ziel hat, daß wir nicht aufhören werden, mit diplomatischen Mitteln zu versuchen, die Kontrahenten zu einem vernünftigen Frieden zu führen, daß wir auch in unserer Kritik gegenüber den Sandinisten nicht nachlassen werden, aufzuhören, den Pluralismus kaputtzumachen, statt die Opposition zuzulassen, aber daß wir umgekehrt auch bitten müssen, daß andere Staatsführer in dieser Region den Mut aufbringen, mit ihren Gegnern selber zu sprechen, statt sich über den Umweg Washington erst sagen zu lassen, was sie tun sollen. Die Europäer haben dafür einen, wie ich meine, guten, einen hervorragenden Ansatz gegeben. Wir sollten den Außenminister bitten, unbeirrbar diese politische Richtung zur Lösung des Konflikts in Zentralamerika beizubehalten.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Städtebauförderungsgesetzes— Drucksache 10/1013 —
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Präsident Dr. BarzelBeschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
— Drucksache 10/2039 —Berichterstatter:Abgeordnete Dörflinger Reschke
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dörflinger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als vor einigen Jahren der Minilook in Mode kam, dauerte es seine Zeit, bis man sich mit ihm anfreunden konnte. Ähnlich erging es uns in der Unionsfraktion mit der Mininovelle zum Städtebauförderungsgesetz, über die wir heute abschließend beraten.Die Novelle geht auf eine Initiative des Bundesrates zurück, präzise: des Landes Niedersachsen. Doch der gedankliche Ansatz stammt aus diesem Parlament selbst; denn bereits am 31. Mai 1979 hatte der Bundestag das gesetzliche Instrumentarium für eine vereinfachte städtebauliche Erneuerung gefordert. Ich räume ein, daß das Parlament damals gesetzlichen Handlungsbedarf auch noch auf anderen Gebieten des Baurechts reklamierte, etwa bei der Problematik der Gemengelage. Man könnte also sagen, Parlament und Regierung haben ihre Hausaufgaben nicht vollständig gemacht. Dem ist aber zumindest für die neue Koalition und die neue Bundesregierung nicht so. Wir haben uns vielmehr deswegen auf das Allernotwendigste beschränkt, weil die Bundesregierung die Reform des gesamten Baurechts mit großer Intensität angeht und weil wir eine ausschließlich dem Städtebauförderungsgesetz gewidmete Novelle nicht mit anderen Fragen befrachten wollten. Dennoch steht im Ausschußbericht zu der Novelle, was wir u. a. auf jeden Fall im neuen Baurecht geregelt haben wollen, z. B. auch die Beitragspflicht für Wohnwege.Die vorliegende Novelle stülpt sicher die Bauwelt nicht um; dennoch haben wir sie außerordentlich gründlich geprüft und diskutiert.
In einer nichtöffentlichen Anhörung der kommunalen Spitzenverbände und der Bundesländer, in einem von uns beantragten Hearing und mit vielen Rückfragen in der kommunalen Praxis haben wir viel Sachverstand zu mobilisieren und zu verwerten versucht.Für meine Fraktion von großem Gewicht waren die Voten der kommunalen Spitzenverbände. Daß sie Bedenken gegenüber einer vorgezogenen Novelle zum Städtebauförderungsgesetz hatten, ist bekannt. Ihre Bedenken richteten sich aber weniger gegen den materiellen Inhalt als vielmehr gegen den Zeitpunkt. Sie befürchteten Schwierigkeiten im praktischen Vollzug, die sich aus einem möglichen Nebeneinander von altem Recht, einer Art Übergangsrecht und komplett neuem Baurecht ergeben könnten. Meine Damen und Herren, es war die Bundesregierung, die diese Bedenken und einen Rest von Skepsis auch bei uns auszuräumen vermochte; denn bei der Vorlage der Zwischenergebnisse zum neuen Baugesetzbuch im August wurde klar, daß sich die jetzige Novelle nahtlos in das neue Baugesetzbuch einfügt, also in einem Teilbereich in das neue Baurecht überleitet.Ich darf darauf hinweisen, daß wir einigen Bedenken der kommunalen Spitzenverbände auch in der Sache abhelfen konnten, etwa durch den Verzicht auf eine Überleitungsklausel. Außerdem gebietet es der Realismus, zu sehen, daß selbst dann, wenn die Regierung ihren forcierten Zeitplan für das neue Baugesetzbuch einhält und wir uns alle um zügige, konzentrierte Beratung bemühen, das neue Baurecht erst zu Ende des Jahrzehnts voll wirksam wird. Allerdings ermuntern wir die Bundesregierung ausdrücklich, ihren anspruchsvollen Zeitplan auf dem Weg zu einem neuen Baurecht einzuhalten.
Die heute zur Verabschiedung anstehende Novelle stellt eigentlich ein ganz neues Gesetz dar, denn sie nimmt weder den Entwurf des Bundesrates noch die Stellungnahme der Bundesregierung lupenrein auf, sondern sie entwickelt ein eigenes, sachbezogenes Profil; Zeichen der Intensität unserer Beratungen im Ausschuß.Die Bundesregierung hat dazu einen wichtigen Beitrag geleistet. Ich hebe aber auch den gewichtigen Anteil der SPD, insbesondere meines Berichterstatterkollegen Reschke, hervor.
Vor diesem Hintergrund ist es zu bedauern, daß die SPD dennoch signalisiert, sie könne der Novelle nicht zustimmen.
Aber vielleicht wird sie bei den Beratungen noch vom Wehen des Spiritus sanctus beflügelt und stimmt dann doch noch zu.
Bei den GRÜNEN habe ich diese Hoffnung nicht, da sie sich in der Regel selbst für den politischen Spiritus sanctus halten. Wenn die SPD bei ihrer ablehnenden Haltung bleibt, wäre das kein guter Einstieg für das, was uns mit der Beratung des gesamten Baugesetzbuches bevorsteht. Es könnte den Hinweis erlauben, daß nicht mit der notwendigen konstruktiven Bereitschaft zur Diskussion in der Sache an dieses neue Gesetzeswerk herangegangen wird, sondern mit etwas anderem. Dazu werden wir aber wahrscheinlich anschließend noch etwas hören.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6439
DörflingerDie Städtebaunovelle betont den hohen politischen und wirtschaftlichen Stellenwert der Stadtsanierung. Die Bundesregierung hat diesen hohen Stellenwert erkannt. Im Gegensatz zur früheren Regierung bringt sie diese Erkenntnis aber nicht nur mit Worten zum Ausdruck, sondern mit der Tat. Sie selber hat die Bundeskasse nicht geleert. Sie hat aber die Mittel für die Stadtsanierung wesentlich erhöht.
Die prozentuale Steigerung ist dabei noch imponierender als die Beträge selber.Ich darf für die Unionsfraktionen sagen: Auch hier zeigt sich also, daß der Bauminister nicht nur ein Minister mit eloquenter Rhetorik, sondern auch ein Minister mit Fortüne ist. Ich sage das auch im Blick auf die gestrige Aktuelle Stunde mit den schrillen Zwischentönen seitens der Sozialdemokratischen Partei. Ich füge hinzu, auch als Ergebnis der Aktuellen Stunde: Ein Schneider in der Hand ist uns lieber als ein Sperling auf dem Dach,
zumal er mit einem größeren Vogel auf dem Dach eines Hauses steht, zu dessen Abbruch er wesentlich beigetragen hat.
Ich weiß, daß Minister Dr. Schneider — das weiß ich aus persönlichen Gesprächen — mit dem alemannischen Dichter Johann Peter Hebel etwas anzufangen weiß.
— Nicht nur mit dem, aber auch mit dem. Ich sage das als Alemanne mit besonderer Befriedigung. Deshalb lege ich ihm den Wunsch ins Schatzkästlein, weiterhin für die Erhöhung der Mittel für die Stadtsanierung zu kämpfen. Ich tue das vor dem Hintergrund unbestrittener Probleme in der Bauwirtschaft. Wir haben darüber gestern diskutiert.
Ich tue das aber auch, weil der investive Anstoß öffentlicher Mittel bei der Stadtsanierung gewaltig ist. 1 000 DM Bundesmittel bei der Stadtsanierung können in Multiplizierung all dessen, was es bewegt, 10 000 DM an Investitionen insgesamt mobilisieren.
Das Land Niedersachsen beziffert den bundesweiten Finanzbedarf bei der Stadterneuerung — es beruft sich da auch auf Schätzungen des Städtetages — mit rund 190 Milliarden DM. Ich glaube, da gibt es noch sehr viel Sinnvolles zu tun. Wir sollten es alle gemeinsam anpacken.Wir sind der Überzeugung, daß wir es mit der Novelle besser packen können. Sie bringt die zweite Schiene, ein vereinfachtes Verfahren, das die Anwendung des besonderen Bodenrechtes nicht mehr zwingend macht, generell den Zwang zum flächendeckenden Sanierungsbebauungsplan beseitigt,Lockerungen in der Genehmigungspraxis nach § 15 ermöglicht, und den Gemeinden mehr Spielraum bei der Entscheidung gibt, ob Ausgleichsbeträge erhoben werden müssen. Der Wegfall des § 10 und die Bagatellklausel bei den Ausgleichsbeträgen sind auch eine Hilfe für die Gemeinden, die in nächster Zeit über 300 Sanierungsprojekte abzurechnen und abzuschließen haben.Ich will auch noch ein Wort zum Wegfall des § 10 sagen, weil das zwischen Union und SPD besonders umstritten ist. Wir entlassen die Gemeinden keineswegs aus der Planungspflicht, wenn die Sachlage es erfordert: denn die Maßgabe des § 1 Abs. 3 des Bundesbaugesetzes bleibt ja. Aber wir meinen, daß die gewählte Lösung größere Klarheit bringt. Sie beeinträchtigt keineswegs die Mitsprache und das Mitwirken der Bürger. Im übrigen weiß jeder Praktiker, daß Partnerschaft mit dem Bürger wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der Stadtsanierung überhaupt ist. Ich meine sogar, daß dieser vereinfachte Weg viel stärker als das klassische Verfahren dazu zwingt, das Gespräch und die Partnerschaft mit dem Bürger zu suchen.
Die neue Regelung ermöglicht es den Gemeinden, sehr viel individueller als bisher auf spezifische Problemstellungen einzugehen. Sie bekommen ein Instrument an die Hand, mit dem sie schneller und zielsicherer als bisher arbeiten können. Die Novelle unterstreicht aber auch den prinzipiellen und methodischen Wandel bei der Stadterneuerung. Das Vorgehen ist behutsamer. Kleinteilige Projektsanierung erhält Vorrang vor voluminöser Flächensanierung. Neue Problemstellungen wie z. B. der Bodenschutz, die Lärmsanierung und das Aufbereiten von brachliegenden Gewerbeflächen sind aufzufangen. Wir waren uns alle einig, das zu tun.Weil dieser Wandel ein Faktum ist und weil wir wohl alle bereit sind, diese neuen Problemstellungen auch anzugehen, haben wir darauf verzichtet, neben dem bewährten Begriff des Mißstandes den Begriff des Mangels als Tatbestand der Förderung in das Gesetz aufzunehmen. Selbstverständlich Gewordenes und auch in der Praxis Gewachsenes braucht man nicht ausdrücklich in ein Gesetz hineinzuschreiben. Die Bundestagsfraktion der CDU/ CSU hofft nur, daß die Verwaltungspraxis das genauso sieht und die mit der Novelle bewußt geöffneten Entscheidungsspielräume der Gemeinden nicht wieder mit Restriktionen verstopft; denn vermutlich nicht nur hier ist der Glaube an die automatisch höhere politische Einsicht der oberen Verwaltungsbehörden etwas verlorengegangen, auch als Ergebnis praktischer Arbeit.Lassen Sie mich zusammenfassen: Unsere Fraktion ist gewiß, daß sich die Städtebaunovelle in ihrer jetzigen Fassung als Ergebnis sorgfältiger, sachbezogener, konstruktiver und parteiübergreifender Beratung aller Beteiligten in der kommunalen Praxis bewähren wird. Die Novelle bringt die Stadtsanierung als wichtige politische und auch wirtschaftspolitische Zukunftsaufgabe weiter voran. Mit unseren heutigen Entscheidungen kann sie den Gemeinden ab 1. Januar 1985 zur Verfügung stehen.6440 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984DörflingerDeswegen empfehlen wir Ihnen, die Beschlußempfehlung des Ausschusses in der nachfolgenden Abstimmung anzunehmen.Wir glauben, es wird so sein, daß auch die öffentliche Verwaltung, die kommunalen Praktiker sehr schnell mit diesem Gesetz arbeiten können und daß auch der große Antragsstau, den wir bei der Stadtsanierung zu verzeichnen haben, abgebaut werden kann. Vielleicht können wir auch dazu beitragen, ein wichtiges politisches Signal hinsichtlich der Notwendigkeit der Stadtsanierung den Gemeinden zu geben, die sich bisher mit Stadtsanierung noch nicht befaßt haben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Reschke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Anlaß dieser Minireform des Städtebaurechts waren Finanzwünsche des Landes Niedersachsen, zusätzlich aber auch der Wunsch von seiten Niedersachsens, Verfahrenswege auszuschalten bzw. zu ändern. Ich glaube, von dieser Ausgangslage muß man ausgehen. Der Bundestag bzw. der 16. Fachausschuß hat die Einzelberatungen in sachlicher, in sachbezogener Atmosphäre durchgeführt.Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das Ergebnis der Beratungen der letzten Wochen wird den Bundesrat sicherlich überraschen. Er bekommt aus dem Bundestag einen Gesetzentwurf mit Inhalten, die er größtenteils gar nicht beantragt und beabsichtigt hat. Das muß man einmal ganz nüchtern feststellen.
Der Bundesrat wünscht eine Änderung der Städtebauförderung bei der Mitfinanzierung des Bundes von der bisherigen Mißstandsbeseitigung hin zur Einbeziehung städtebaulicher Mängel. Weder Städte und Gemeinden noch die Fachwelt sehen die Notwendigkeit der Ausdehnung des Fördertatbestands ein, mittlerweile auch nicht die Regierung. Nach langen Diskussionen hat sich der Ausschuß dieser Meinung angeschlossen.Der Bundesrat wünscht ein vereinfachtes Verfahren in Sanierungsgebieten. Es ist mittlerweile erkannt worden, daß die Bundesratsvorlage eine finanzielle Erschwernis für Maßnahmen in Sanierungsgebieten bewirken kann. Ich komme gleich darauf zurück.Der Bundesrat wünscht die Aussetzung — nicht die Streichung — von Planungspflichten bei kleinen, einfachen Sanierungsmaßnahmen. Bundesregierung und Regierungskoalitionen greifen den Vorschlag des Bundesrats auf und machen aus der Aussetzung der Verpflichtung zur Aufstellung von Bebauungsplänen den gänzlichen Verzicht auf eine Bebauungsplanverpflichtung durch die Streichung des § 10 des Städtebauförderungsgesetzes.Mit welch heißer Nadel das im Bundesrat und auch von seiten der Bundesregierung genäht worden ist, will ich an einem Beispiel deutlich machen. In der Formulierung zur Änderung von § 7 des Städtebauförderungsgesetzes, wie der Bundesrat sie will, heißt es: Die Gemeinde kann durch Beschluß auf die Aufstellung von Bebauungsplänen verzichten.Das beinhaltet, daß für dieses Verfahren in Zukunft alle steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten für Sanierungsgebiete nach § 82 d wegfallen. Folgt man dem Willen des Bundesrats, gehen erhebliche Impulse für die Bauwirtschaft verloren. Ich darf die Regierung bitten, dazu gleich Stellung zu nehmen.Der Fachausschuß des Bundestags hat beschlossen, ein anderes Verfahren zu wählen. Dieses Verfahren bietet wieder die Möglichkeit von steuerlichen Abschreibungen im Zusammenhang mit Modernisierungs- und Energiesparmaßnahmen nach § 82 d des Städtebauförderungsgesetzes, sofern die Bescheinigung der Gemeinde vorliegt, daß das Gebiet ein förmlich festgelegtes Sanierungsgebiet ist.Allerdings ist die Konsequenz — das haben wir bei den Beratungen alle nicht erkannt, und die Regierung hat uns auch nicht darauf aufmerksam gemacht; der Finanzminister hat in diesem Bereich nicht hingeschaut —, daß alle Verfahren, die jetzt nach dem Bundesbaugesetz laufen, schnell auf Maßnahmen nach dem Städtebauförderungsgesetz umgestellt werden. Die Konsequenz ist, daß sich die steuerlichen Absetzungsmöglichkeiten — in vielen Bereichen sicherlich gewünscht — um ein Vielfaches erhöhen. Die haushaltswirtschaftlichen Konsequenzen aus dem Gesetz können noch gar nicht übersehen werden. Ich vermute, durch die Umstellung vom Bundesbaugesetz auf das Städtebauförderungsgesetz wird sich eine Verdreifachung oder gar eine Vervierfachung der Abschreibungsmöglichkeiten ergeben.
Zur Versachlichung der Diskussion möchte ich einen dritten Punkt anführen. Der Bundesrat wünscht die Aussetzung bodenrechtlicher Vorschriften, insbesondere den Verzicht auf Abschöpfungsbeträge bei sanierungsbedingten Wertsteigerungen. Sanierungspraktiker bestätigen die Problemlosigkeit und die Praktikabilität des hier in Frage kommenden § 41 des Städtebauförderungsgesetzes. Die Regierung und die CDU/CSU stimmen zu. Ich lasse die FDP bewußt aus. Herr Grünbeck und ich haben dieselben Besorgnisse wie die Städte und die Sanierungspraktiker.Regierung und Hauptteil der Koalitionsfraktionen stimmen dem zu, obwohl man mittlerweile weiß, daß allein die Feststellung, was „geringfügig" im Zusammenhang mit den Abschöpfungsbeträgen ist, zu einem enormen Verwaltungsaufwand führt. Nicht zuletzt führt eine derartige Feststellung zum Streit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden oder den Genehmigungsbehörden. Die Einnahmen aus den Abschöpfungen sind nämlich nicht unwesentlich für die Sanierungsfinanzierung. Statt „Ver-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6441
Reschkeeinfachung" gibt es hier eine „Enteinfachung", wie es ein Gemeindevertreter in der Anhörung so treffend formulierte.
Die SPD hat im Fachausschuß sachlich und problemorientiert mitgearbeitet. Ich darf mich auch für die Informationen bedanken, die wir beide — Kollege Dörflinger — während der Beratungen von seiten der Ministerien erhalten haben.Uns kam es darauf an — ich sage es einmal ein bißchen polemisch —, das Gesetz zu entgiften, ihm die Giftzähne zu ziehen. Uns kam es in der Hauptsache auf die Verhütung eines Schadens für die Stadtpolitik an. Das war unser Ziel bei der Beratung dieser Novelle.Wir vermögen allerdings der Verabschiedung dieser — wie Sie selbst sagen — Mininovelle nicht zuzustimmen und möchten hier offen die Gründe zur Diskussion angeben.Das Gesetz bringt keine Vereinfachung, wie es vermutet wird. Eine Beschleunigung der Sanierungs- und Stadterneurungsverfahren ist durch dieses Gesetz nicht zu erreichen. Zu Recht haben die Vertreter der Städte und Gemeinden gegenüber dem Fachausschuß in der Anhörung angemerkt, daß es nur von der Qualität der Mitarbeiter in den Verwaltungen abhängt, wie schnell, wie gut und wie qualifiziert die Verfahren über die Bühne gehen.Investitionshemmnisse sind andere Faktoren der Stadtpolitik. Wer sich vor Ort bewegt, weiß, welche Faktoren das sind. Investitionshemmnisse sind Bodenbereitstellung, Bodenverfügbarkeit, Erschließungsrecht, Gemeinde-Verkehrsfinanzierungsrecht, Finanzierung des Städtebaus.Dem steht gegenüber, daß man die Baulandnovelle 1982 von seiten Ihrer Regierung mit dem Hinweis auf das neue Baugesetzbuch zurückgezogen hat. Man hat angekündigt, daß man die Beratung in einem späteren Zeitpunkt betreiben will, und wartet ab.Die Streichung des § 10 des Städtebauförderungsgesetzes — also des Bebauungsplaninstruments, so will ich es in vereinfachter Sprache nennen, hat schlimme soziale Folgen für den Bürger und seine Beteiligung an den Planungen.
— Sie können dazu gleich Stellung nehmen.Planung heißt doch im Grunde genommen Abwägung. Bebauungsplanverfahren bedeutet für uns Sozialdemokraten Abwägung zwischen den verschiedensten Zielen und Interessen der Stadtpolitik. Wir sehen dieses, wenn das Instrument des § 10 nicht mehr besteht, in vielen Bereichen ausgeschaltet.Wir meinen sogar, wir kommen in Ansätzen zurück zur ruppigen Planungsmacht der Verwaltung und von Besitz aus der Zeit vor 1970, bevor die Städtebauinstrumente formuliert und eingeführt worden sind.Gesetzesumstellungen und Umstellungen im Verwaltungsvollzug dauern zwei bis drei Jahre, auch wenn es eine Miniumstellung des Gesetzes und eine Miniumstellung im Vollzug in der Verwaltung ist. Das muß man einfach deutlich sehen. Das sagt auch jeder Praktiker, und das hat die Anhörung erbracht.Vor dem Hintergrund der Ankündigung des Baugesetzbuches wird mit dieser Kleinstnovelle eine Handlungs- und Anwendungssicherheit geschaffen. In Zukunft werden wir neben den zwei Rechtspraktiken, die wir schon in den Gemeinden haben, durch diese neue Novelle eine zusätzliche, also drei Rechtspraktiken haben. Einmal haben wir die förmliche Sanierung. Das ist ein althergebrachtes Verfahren. Darüber brauche ich nicht zu diskutieren. Außerdem haben wir die Stadterneuerung außerhalb des Städtebauförderungsgesetzes. Mit dieser Novelle kommen Stadterneuerung ohne Bebauungsplan und besonderes Bodenrecht hinzu.Diese drei nebeneinander bestehenden Verfahren haben die Folge: Verwirrung der Beteiligten — insbesondere beim Bürger —, wenig Transparenz, Bürokratisierung statt Vereinfachung in den Architektengruppen der Verwaltungen —, in vielen Bereichen Rechtsunsicherheit, die sich in Gerichtsverfahren niederschlägt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kleinstnovellen tragen zum Verfall der Gesetzgebung bei.
Das haben Vertreter von Städten und Gemeinden in der Anhörung bemerkt. Das haben nicht wir festgestellt. Wir sollten das berücksichtigen und als Maßstab unserer Beratungen annehmen. Mit diesem Gesetzentwurf setzen wir uns nach meiner Auffassung — das hat die Anhörung ergeben — deutlich über die Notwendigkeiten hinweg, die Städte und Gemeinden, die ausführenden Organe, in diesem Gesetzentwurf sehen.Für behutsame Sanierung und auch für bewohnerorientierte Sanierung und Stadterneuerung lohnt es sich, die Städtebaugesetzgebung neu zu orientieren. Diese Novelle beinhaltet keine Neuorientierung.Wir sind bereit, die Ziele der Stadtpolitik und die Planungswege und -verfahren in der Diskussion über das Baugesetzbuch neu zu formulieren. Das bieten wir in dieser Debatte ausdrücklich an.Bisher ist allerdings keine Linie für die zukünftige Stadtpolitik zu erkennen. Um auf Ihren Satz von Schneider und Sperling zurückzukommen, Herr Kollege Dörflinger, möchte ich sagen:Bei der Formulierung und Vorlage des Baugesetzbuches könnte sich übrigens der Wohnungsbauminister Schneider endlich einmal seinen „Oscar" verdienen.
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6442 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Reschke— Wir werden sehen, ob er sich den Oscar verdient, d. h. ob mehr als eine Beschäftigungstherapie für das Parlament herauskommt.
Das möchten wir erkennen.Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Die Gemeinden und Städte brauchen Geld — das war Ausgangslage des Antrags von Niedersachsen — für anstehende Aufgaben in der Stadterneuerung und Stadterhaltung.Lärmsanierung und Verkehrsdifferenzierung, Beseitigung von Industriebrachen, Bodenschutz und Altlastenbeseitigung, Bestandserhaltung und Verbesserung im Wohnungsbau und im Wohnumfeld sind zukünftige zusätzliche Aufgaben in der Finanzierung der Städtebaupolitik. Sie können mit einer Bund-Länder-Vereinbarung herbeigeführt werden und nicht, wie oftmals hier in diesem Bereich angesprochen, mit dieser Novelle, die im Grunde genommen die Verfahrenswege anspricht.Die systematische Herbeiführung der Gemeindearmut durch Soziallastenüberwälzungen hat einen Investitionsstau und Investitionsbedarf größten Umfangs herbeigeführt. Nur die Mittelbereitstellung hilft der Sanierung und hilft, Verfahren zu beschleunigen. Die SPD-Fraktion sagt nein zu einem Gesetz, dessen Sinn und Wirkung Städte und Gemeinden nicht einsehen und nicht für nötig halten und dessen Ziele der Bundesrat im Grunde genommen gar nicht beantragt hat.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Grünbeck.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der letzten Debatte in diesem Hohen Hause habe ich anläßlich der Beratung des Mieten- und Wohngeldberichtes im Namen der FDP-Fraktion erklärt: „Bei einem Gesamtvolumen der Finanzmittel für die staatliche Wohnungsbauförderung von über 20 Milliarden DM ist es dringend erforderlich, nicht am Markt vorbei staatliche Förderungsmaßnahmen zu betreiben, zumal in einer soliden Haushaltspolitik der Einsatz der Finanzmittel doppelt abgewogen und ausgewogen sein muß." Ich habe darüber hinaus die Bundesregierung gebeten, rechtzeitig Schwerpunkte für die Wohnungsbauförderung zu setzen, damit Investoren ihre Entscheidungen treffen können, damit die Kapitalwirtschaft ihre Dispositionen treffen kann und damit in der Bauwirtschaft rechtzeitig arbeitsmarktpolitische Weichen gestellt werden können.Wir sind der Bundesregierung dankbar, daß in sorgfältiger Abstimmung die Leitlinien für die künftige Wohnungspolitik abgesteckt worden sind. Im Mittelpunkt steht dabei die verstärkte Bildung von Wohneigentum, gleich, ob durch Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen oder den Kauf von Eigentumswohnungen oder Eigenheimen. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, zumal der Markt auf diesem Sektor noch immer nicht gesättigt ist.Darüber hinaus wird der Städtebauförderung und der Dorferneuerung erfreulicherweise ein größeres Gewicht als bislang gegeben. Auch hierüber gibt es eindeutige Marktanalysen, die hohe Investitionen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten im Rahmen des Städtebauförderungsgesetzes und des Dorferneuerungsprogramms erwarten lassen.Die FDP-Fraktion war zu Beginn der Beratungen — dies sei offen zugegeben — auch mit den kommunalen Spitzenverbänden skeptisch eingestellt. Wir haben von Anfang an darauf gedrängt, daß das Bundesbaugesetzbuch möglichst bald und in einem Guß erstellt wird. Wir konnten unsere Bedenken zurückstellen, zumal drei wesentliche Forderungen von uns nunmehr erfüllt sind.Erstens. Die vorgezogene Teilnovellierung ist mit den Zielen des Gesetzgebungsverfahrens zum Bundesbaugesetzbuch zu vereinbaren. Wir haben darauf gedrungen, daß die Teilnovelle mit aller Sorgfalt so formuliert wird, daß sie unverändert in das künftige Baugesetzbuch übernommen werden kann. Dadurch ist sichergestellt, Herr Kollege Reschke, daß die Rechtslage nach der Verabschiedung der Teilnovelle und die endgültige Rechtslage nach der Verabschiedung des Bundesbaugesetzbuches praktisch zu einer Harmonisierung bei der Durchführung beider Gesetzesvorhaben führen werden.
Zweitens. Damit war eine wesentliche Forderung erfüllt, nämlich die Teilnovelle durch spürbare Vereinfachungen praktikabel zu machen.Schließlich ist drittens sichergestellt, daß aus dem Nebeneinander von Sanierungsverfahren und vereinfachten Verfahren keine Ungleichbehandlung der betroffenen Eigentümer in unseren Gemeinden entsteht. Insbesondere dürfen die Eigentümer nicht in unvertretbarer Weise unterschiedlich belastet werden. Wir wenden uns mit Nachdruck gegen erhöhte Belastungen, die sich etwa aus dem Vollzug der Novelle ergeben könnten.
Wir werden dieser Novelle auch zustimmen, weil mit der Vereinfachung des Städtebauförderungsgesetzes auch ein erweiterter Anwendungsbereich möglich wird. Damit kommen die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen der konjunkturpolitischen Bedeutung der Bauwirtschaft und der damit verbundenen arbeitsmarktpolitischen Bedeutung entgegen.
Damit erfüllt die Bundesregierung aber auch eine gesellschaftspolitische Forderung. Es muß verhindert werden, daß unsere Städte entfremdet oder entleert werden. Wir müssen schließlich darauf dringen, daß auch aus ökologischen Gründen nicht nur ständig Neubauten auf der grünen Wiese erschlossen werden, sondern daß vorrangig in den
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6443
GrünbeckBallungsräumen die Sanierung und Modernisierung fortschreitet, Baulücken geschlossen werden und ein Innenstadt- und Dorfleben entsteht, daß jene Lebensqualität anbietet, die unsere Bürger erwarten.Wir glauben, daß diese Novelle zum Städtebauförderungsgesetz von Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen durch Mieter begleitet wird, wobei ich unserem Justizminister Dank für die Rahmenverträge sage, die in diesem Bereich nunmehr — das erweist sich jeden Tag neu — für eine Rechtssicherheit, die erforderlich war, sorgen. Es genügt sicher nicht, daß allein die Fassaden verschönert werden; das Innenleben der Gebäude ist für uns aus familienpolitischen Gründen von viel größerer Bedeutung.Ich persönlich begrüße auch die jüngsten Vorschläge der SPD-Fraktion, möglicherweise die Städtebauförderung auch auf genossenschaftlicher Basis durchzuführen, zumal rund eine Million Wohnungen durch 1200 Genossenschaften betreut werden. Nur habe ich leider nirgendwo lesen können, welches Finanzvolumen dafür erforderlich ist und aus welchen Mitteln diese Vorschläge der SPD finanziert werden sollen. Ich nehme an, Herr Kollege Conradi, Sie werden diese Hausaufgabe noch nachholen.Gestatten Sie mir dazu eine Zwischenbemerkung: Wenn ich an die gestrige Aktuelle Stunde mit der Debatte über die Bauwirtschaft denke, so stelle ich fest, daß seitens der SPD von vielen guten Ansätzen die Rede war. Aber kein einziger von Ihnen hat über Geld geredet!
Normalerweise sagt man: Über Geld redet man nicht, das hat man. Aber Sie haben es nicht, und Sie reden auch nicht darüber. Sie lassen Illusionen aufkommen und reden über etwas, was Sie letzten Endes nicht solide finanzieren können.
Sie werfen anderen Unglaubwürdigkeit vor, aber Sie selbst haben gestern Unglaubwürdigkeit demonstriert.
Noch einige Sätze zum Inhalt der Teilnovelle zum Städtebauförderungsgesetz: die praktische Anwendung des Städtebauförderungsgesetzes hat sich von den sogenannten Flächensanierungsprojekten auf Erneuerungsmaßnahmen im kleineren Maßstab verschoben. Für diese Projekte ist das besondere bodenrechtliche Instrumentarium, das das Städtebauförderungsgesetz vorsieht — Stichworte: Vorkaufsrecht, Genehmigungsvorbehalt, Preisprüfung, Ausgleichsabgabe —, oft nicht mehr erforderlich. Deshalb wird mit diesem Gesetzentwurf den Gemeinden die Möglichkeit eröffnet, im Vollzug des Städtebauförderungsgesetzes einen gewissen Ballast abzuwerfen. Dies führt zur Vereinfachung in vier wesentlichen Punkten:Erstens. Es wird künftig ein vereinfachtes Verfahren geben. Wenn die Gemeinde feststellt, daß für Sanierungsprojekte besondere bodenrechtliche Instrumente nicht erforderlich sind, dann kann nämlich in der Satzung für das Sanierungsgebiet dieses Instrumentarium ausgeschlossen werden, und damit entfallen — was nur zu begrüßen ist — Reihe von Vorschriften.Zweitens. Es wird künftig nicht mehr erforderlich sein, für ein Sanierungsgebiet flächendeckende Bebauungspläne aufzustellen. Dies ist im Sinne unserer Bestrebungen, zu einer Entbürokratisierung zu kommen, sehr zu begrüßen. Die Mitwirkung der Betroffenen und die Pflicht der Gemeinden zur Abwägung aller Belange ist damit in keiner Weise außer Kraft gesetzt.Drittens. Die Gemeinden werden künftig die Möglichkeit haben, für bestimmte genehmigungspflichtige Verfahren und Rechtsvorgänge in Sanierungsgebieten ihre Genehmigung allgemein zu erteilen. Auch das bedeutet eine Entlastung der Verwaltung. Einzelanträge entfallen. Eine Beschleunigung des Verfahrens ist dadurch möglich.Viertens. Die Gemeinde ist nach dem geltenden Städtebauförderungsrecht berechtigt, die durch die Sanierung bedingte Wertsteigerung von Grundstükken in Form eines Ausgleichsbetrages abzuschöpfen. Es hat sich aber ergeben, daß häufig die Wertsteigerung gering ist und daß der Verwaltungsaufwand zur Erhebung des Ausgleichsbetrages in keinem Verhältnis zum Aufkommen steht. Für solche Fälle ist mit einer Bagatellklausel jetzt die Möglichkeit geschaffen worden, auf die Erhebung des Ausgleichsbetrages zu verzichten. Wir haben aber die Bundesregierung aufgefordert, bei den Durchführungsverordnungen auf diesem Gebiet eindeutige Formulierungen zu finden, damit nicht der Willkür Tür und Tor geöffnet wird. Wenn größere Bodenwertsteigerungen zu erwarten sind, muß das besondere Bodenrecht zur Anwendung kommen, auch und gerade aus Gründen des Schutzes der Betroffenen, etwa dann, wenn ohne das besondere Sanierungsrecht unerwünschte große Belastungen auf Mieter und Eigentümer zukommen würden.Damit ist gesichert, daß aus der Novelle keine erhöhten Belastungen für Eigentümer und Mieter erwachsen können. Damit und mit dem Verzicht auf eine Überleitungsvorschrift ist auch gesichert, daß aus dem Nebeneinander von Sanierungsrecht und vereinfachtem Verfahren keine Ungleichbehandlung der betroffenen Eigentümer in den Gemeinden entsteht.Wesentliche Forderungen der FDP — Praktikabilität, Verwaltungsvereinfachung, keine Ungleichbehandlung — sind damit erfüllt. Darüber hinaus haben wir gemeinsam mit den Kollegen der CDU/ CSU-Fraktion darauf gedrängt, daß der Entscheidungsspielraum, aber auch die Verantwortlichkeit der kommunalen Selbstverwaltungsorgane gestärkt wird.
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6444 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
GrünbeckFür mich war interessant, daß im Laufe der Beratungen festzustellen war, wie ernst die SPD diese Forderung nimmt. Auf der einen Seite — das sei zugestanden — gab es Kollegen aus Kreisen der SPD, die den hoheitsrechtlichen Entscheidungen der Gemeinden das Wort geredet haben. Andererseits aber war man dann, als es bei der Planungshoheit zum Schwur kam, der Auffassung, daß die Kommunen ihrer Verantwortung möglicherweise doch nicht gerecht werden könnten; man wollte die hoheitsrechtlichen Planungsentscheidungen weiter oben angesiedelt wissen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat immer den Standpunkt vertreten und bleibt unverändert auf diesem Standpunkt, daß wir da oben lange nicht so gut Bescheid wissen wie die Kommunalpolitiker vor Ort. Eine Bevormundung durch dirigistische Planungsfetischisten in den obersten Regionen war noch nie, meine Damen und Herren, ein heilsames Mittel für die kommunalpolitische Selbstentfaltung und Selbstverwaltung.
Abschließend darf ich noch einige Sätze zum angekündigten Baugesetzbuch formulieren. Wir haben zu Beginn dieser Legislaturperiode auf die Vereinfachung des Baurechts gedrängt und darauf hingewiesen, daß man es möglichst aus einem Guß machen soll. Wenn wir dieser Teilnovelle zur Städtebauförderung zustimmen, dann sicher nicht mit der Akzeptanz einer Verzögerung des Baugesetzbuches. Ich bitte aber auch alle Mitwirkenden hier im Parlament und in den Beamten- und Wirtschaftsetagen, gemeinsam dieses neue Baugesetzbuch so bald als möglich zu schaffen. Hier darf man nicht, aus welchen Gründen auch immer, die Sache zerreden, sondern muß die Lösungen anstreben. Für uns Liberale sind die Prioritäten beim Baugesetzbuch eindeutig.Erstens: Die Vereinfachung muß gelingen, um die Kluft zwischen denen, die bauen wollen, und denen, die den Bau genehmigen, nicht noch größer werden zu lassen; sie muß verringert werden.Zweitens: Eine Durchforstung der geltenden DIN-Vorschriften und anderer technischer Regeln ist dringend erforderlich. Man sollte sie ersatzlos streichen, soweit dies möglich ist. Man sollte aber vor allen Dingen die gegeneinanderstehenden Regelungen so schnell als möglich harmonisieren.Drittens: Die Verantwortung muß verstärkt auf die kommunale Ebene verlagert werden.Viertens: Wir begrüßen die bisherige Mitwirkung des Bau- und Ausbaugewerbes und der freien Berufe, weil damit auch gewährleistet ist, daß die Erfahrungen aus der Praxis in das neue Baugesetzbuch mit einfließen und dessen Praktikabilität positiv beeinflussen werden.Fünftens: Wir begrüßen die Erleichterung bei der Bauleitplanung und bei der Erstellung von Bauplanungen, damit — um mit den Worten des Wohnungsbauministers zu reden — keine Fußangeln für die Betroffenen gelegt werden. Wir begrüßen darüber hinaus natürlich die Leitlinien zur steuerlichen Behandlung des selbstgenutzten Wohneigentums. Die Bundesregierung wird aber von uns dringend gebeten, zu prüfen, ob man nicht auch unter Berücksichtigung konjunkturpolitischer Eckdaten den Stichtag vom 1. Januar 1987 um ein Jahr vorverlegen kann.Lassen Sie mich zum Schluß, meine Damen und Herren, noch einige Worte zur allgemeinen wohnungspolitischen Entwicklung sagen. Nahezu alle Fachleute in der Bundesrepublik sind sich darin einig, daß wir aus der Nachkriegsphase im Wohnungsbau zu einer Normalisierungsphase gekommen sind. Darüber hinaus kann und darf man die Bevölkerungsentwicklung — Stichwort Geburtenrückgang — nicht übersehen. Was für eine gezielte Wohnungsbauförderung fehlt, sind zuverlässige Zahlen. Wir hoffen, daß die Volkszählung möglichst bald durchgeführt werden kann, damit Fehlentscheidungen in der Wohnungsbauförderung durch zuverlässige Unterlagen vermieden werden. Immerhin verteilen wir mehr als 20 Milliarden DM, die zielgerecht eingesetzt werden müssen. Für die FDP-Bundestagsfraktion bleibt der Schwerpunkt in der Wohnungsbauförderung die Marktsituation im Eigentumsbereich. Wir begrüßen jede Maßnahme, die die Eigentumsquote in der Bundesrepublik erhöhen kann, zumal da die Sehnsucht nach den eigenen vier Wänden in großen Teilen unserer Bevölkerung nach wie vor ungebrochen ist. Wir werden uns ferner verstärkt dafür einsetzen, die Mittel für die Städtebauförderung, für die Modernisierung und Sanierung, für die Dorferneuerung aufzubessern.
Wir bitten in diesem Zusammenhang aber auch, wenn es haushaltsrechtlich solide abgesichert ist, jetzt schon sichtbare Wettbewerbsverzerrungen auf dem gesamten Markt zu prüfen und so weit als möglich zu beseitigen. Meine Damen und Herren, wenn gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften, über deren Wert hier überhaupt nicht gezweifelt werden soll, durch Steuerfreiheit sich in den gleichen Marktstrukturen bewegen wie die freien Wohnungsbaugesellschaften, dann sind auch steuerlich gleichrangige Bedingungen erforderlich. Ansonsten zahlt der eine die Steuern für den, der ihn anschließend im Wettbewerb verdrängen kann. Das kann sicher nicht im Sinne einer liberalen Wettbewerbsordnung sein.Die FDP-Bundestagsfraktion wird der Teilnovelle des Städtebauförderungsgesetzes zustimmen. Wir erkennen in den Haushaltsansätzen für 1985 — darüber wird noch zu reden sein —, die richtige Richtung der Bundesregierung. Auf diesem Wege, nämlich staatliche Förderung als Begleitinstrument für marktgerechte Lösungen, wird die FDP-Bundestagsfraktion diese Bundesregierung tatkräftig unterstützen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sauermilch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entstehung des geltenden Städtebauförderungsgesetzes war seinerzeit im we-
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Sauermilchsentlichen geprägt von zwei sehr unterschiedlichen Intentionen, erstens dem Druck zur kapitalistischen Verwertung der Innenstädte — historische Bausubstanz und kleinteilige Eigentumsstrukturen in den Altstädten standen einer optimalen Verwertung im Wege —,
zweitens den Bodenreformbestrebungen im linken SPD-Flügel zu Beginn der sozialliberalen Koalition. Das Ergebnis: Das Städtebauförderungsgesetz von 1971 war somit ein merkwürdiger Zwitter. Die alten Innenstädte wurden zwar freigegeben für die Planierraupen, nach dem Motto „Bürger fragen, Bagger antworten",
aber immerhin waren darin Versuche zur Eindämmung der Spekulation enthalten.Im Zuge weiterer Reformbestrebungen konnten Bau-, Instandsetzungs- und allerdings auch Abbruchgebote 1976 auf das allgemeine Städtebaurecht ausgedehnt werden, während der Planungswertausgleich als wirksamstes Instrument gegen Spekulation auf das besondere Sanierungsrecht nach dem Städtebauförderungsgesetz beschränkt blieb. Solche Sanierungspraxis brachte in den großen Städten, vor allen Dingen in Berlin, unter anderem die Hausbesetzer hervor. Sie sind somit Kinder eines leicht schizophrenen Erzeugers, nämlich des geltenden Städtebauförderungsgesetzes.Nachdem nun für die Spekulanten die Zeit vorüber ist, die auf den Baustellen den rationellen Einsatz der Planierraupen und auf den Tischen Gänseleberpastete und Chateaubriand erlaubte, möchte man sich jetzt in Ermangelung von Besserem mit den letzten zähen, eher sehnigen Bratenstückchen der kleinteiligen Sanierung bescheiden.Der qualitative Bevölkerungsaustausch „Türken raus, Ärzte rein" läuft heute viel behutsamer über Luxusmodernisierung. Das Instrumentarium der Gemeinden gegenüber den alten Grundeigentümern, z. B. zugunsten der Neuen Heimat, existiert noch als Anachronismus und ermöglicht heute die Durchsetzung bewohnerorientierter Stadterhaltung gegen die Interessen der Grundeigentümer — auch ein kleiner Spekulant ist ein Spekulant.In der Novelle geht es nun darum, diese Anachronismen wenn auch nicht zu kappen, so doch wenigstens zu verwässern. Das Sanierungsinstrumentarium soll nur noch für durchgreifende Sanierungen angewendet werden; für die einfachen Sanierungen gilt dann nur noch ein vereinfachtes Verfahren ohne die bodenrechtlichen Eingriffsmöglichkeiten der Gemeinden. Darüber hinaus soll die Gemeinde auch bei der klassischen Sanierung Genehmigungen für Veränderungen — § 15 — generell und nicht mehr einzelfallbezogen erteilen dürfen — Grundstücksverkauf etc. — sowie auf die Erhebung von Ausgleichsbeträgen nach § 41 — Spekulationsgewinnabschöpfung — vorab verzichten dürfen.Die Entscheidung liegt zwar bei allen neuen Möglichkeiten zur Vereinfachung bei der Gemeinde, aber da die Anwendung des alten bodenrechtlichen Instrumentariums viel Personal und Zeit erfordert — die alten Regelungen sind wirklich zu kompliziert —, werden insbesondere CDU-regierte Gemeinden auf ihre bodenrechtlichen Möglichkeiten in der Regel vorab verzichten.Begründet wird die Novelle unter anderem damit, daß jetzt flexible, kleine Maßnahmen wie Verkehrsberuhigung, Schallschutzmaßnahmen usw. gefördert werden könnten, ohne den ganzen bodenrechtlichen Ballast.
Die kleinteiligen Maßnahmen klingen ganz attraktiv — auch für uns GRÜNE. Was die Begründung allerdings verschweigt: Auch heute können kleinteilige Verbesserungen auch außerhalb von Sanierungs- oder Entwicklungsgebieten als städtebauliche Einzelmaßnahmen aus den Städtebauförderungstöpfen von Bund und Ländern gefördert werden. Wenn allerdings zusammenhängende Sanierungsgebiete ausgewiesen werden, entsteht automatisch ein Aufwertungsdruck. In diesem Fall wäre der Verzicht auf bodenrechtliche Eingriffe die Auslieferung der Gebiete an die Spekulanten. Wo dies politischer Wille des Stadtrats ist, geschieht das allerdings auch heute, nur ein wenig holpriger.Für die GRÜNEN ist Städtebauförderung nicht ein undurchsichtiger Verwaltungsakt von oben zugunsten von Unternehmern, sondern ein Prozeß der aktiven Gestaltung der Städte durch die Bewohner selbst.
Das bedeutet z. B.: Bebauungsplanverfahren mit verbesserter Bürgerbeteiligung, Transparenz aller Verwaltungsakte, mietenpolitisch kalkulierbare Sanierungsprogramme, Entwicklung von stadtteilbezogener Bürgerkultur ohne Kerntangenten, Lärmschutzwände, Umgehungsrennstrecken und ähnlichen Schwachsinn.
Den können sich die Technokraten, Bürokraten und Kfz-Fetischisten an ihren Hut stecken.
Außerdem müssen wir schließlich die Bodenfrage einmal ernsthaft angehen.
Wir glauben übrigens auch nicht, daß diese Novelle, obwohl das von meinen Vorrednern hier mehrfach so dargestellt wurde, zur Vereinfachung in der Praxis oder gar zu einer stromlinienförmigen Überleitung in das Sankt-Nimmerleins-Baugesetzbuch von Hern Minister Schneider geeignet ist.
Ich bin sehr gespannt, Herr Schneider, ob es Ihnentatsächlich gelingt, diesen Oscar zu erringen. Ich
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Sauermilchbin der festen Überzeugung, daß dies nicht sein wird.Mit unserer Ablehnung befinden wir uns übrigens in illustrer Gesellschaft.
Viele öffentlich-rechtliche Organisationen, der Deutsche Städtetag, auch der Landkreistag und der Mieterbund, lehnen die Novelle ab, wenn auch aus anderen Gründen.Eine sehr merkwürdige, ambivalente Haltung zeigt die SPD in dieser Frage.
Im 16. Ausschuß hat sie sich der Stimme enthalten.
Nunmehr hören wir, daß eine Ablehnung ins Haus steht.
Wenn sie heute gegen die Novelle stimmt, ist das aus meiner Sicht nicht mehr vermittelbar.
Wenn sie sich weiter enthält, dann zeigt dies, daß die SPD offenbar nicht mehr in der Lage ist, sich endlich von ihrer alten, verfehlten Städtebaupolitik zu distanzieren und eine Wende hin zur Opposition in diesem Fachbereich zu vollziehen, während die CDU/CSU die Politik der Stadtzerstörung zügig fortsetzt.
— Da stimmen Sie natürlich nicht zu, Herr Kansy. —Das alte Städtebauförderungsgesetz war eine Art Baulöwen-Gesetz. Die Novelle ist die Fortsetzung des Baulöwen-Gesetzes mit „enteinfachenden" Mitteln. Auch das macht den Kohl nicht fett.
Abschließend möchte ich noch sagen: Wenn diese Novelle demnächst z. B. in Nordrhein-Westfalen praktiziert werden sollte, dann steht den Bürgermeistern viel Ärger ins Haus: von den betroffenen Bürgern, von den Mietern und von den neuen GRÜNEN-Mitgliedern in den kommunalen Parlamenten. Dazu wünsche ich Ihnen viel Vergnügen.Ich danke.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf mich zunächst bei den Kollegen des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau für die gründliche und zügige Beratung und für den präzisen Ausschußbericht bedanken. Mein Dank gilt insbesondere den Herren Berichterstattern und allen beteiligten Beamten aus dem Bereich von Bundestag und Bundesrat, aber auch den Beamten meines eigenen Hauses.
Herr Kollege Reschke, Sie haben mich mit einem Filmpreis in Verbindung gebracht. Ich bedanke mich. Ich strebe nicht nach einem Preis in der Filmkunst, sondern in der Baukunst.
Ich darf sodann, weil Sie mich apostrophiert haben, Herr Kollege Reschke, präzise zu Protokoll des Bundestages feststellen: Die Steuervorschriften des Sanierungsrechtes gelten uneingeschränkt auch für das neue, vereinfachte Verfahren.
Zweifel, die hier bei den Bundesratsvorstellungen hätten bestehen können, sind durch die von mir vorgeschlagene Satzungslösung und die Beibehaltung des Anwendungsbereichs — für Mißstände — völlig ausgeschlossen.
— Der Bundesfinanzminister war an allen diesen Beratungen beteiligt.
— In dieser Bundesregierung trickst im Gegensatz zu Ihren Regierungen früherer Zeiten niemand jemanden aus.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reschke?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Zur Sache, weil Sie etwas präzise zu Protokoll gegeben haben: Kennen Sie die haushaltswirtschaftlichen Konsequenzen der Änderung des Städtebauförderungsgesetzes und der Einführung des vereinfachten Verfahrens, können Sie die in Mark und Pfennig beziffern, hat die der Bundesfinanzminister beziffern können, mitberaten oder zur Kenntnis genommen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Reschke, der Bundesfinanzminister war bei allen Beratun-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6447
Bundesminister Dr. Schneidergen, von Stufe zu Stufe, beteiligt. Als dieser Gesetzentwurf im Kabinett vorlag, hat er zugestimmt. Damit hat er seine Zustimmung gegeben. Und mit dieser Zustimmung — davon dürfen Sie sicher ausgehen — ist auch unter Beweis gestellt, daß er sich der haushaltsrechtlichen und finanzwirksamen Konsequenzen dieses Gesetzentwurfs voll bewußt gewesen ist.
Im übrigen, meine Damen und Herren, wollen wir doch mit großer Gelassenheit einmal festlegen: Der Eindruck, der hier erweckt wird, als habe auch der Bundesrat selber dagegen Bedenken, kann nicht stimmen. Der Sprecher des antragstellenden Landes Niedersachsen hat im Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau in der Sitzung vom 19. September 1984 dem Ausschuß für die Verabschiedung der Novelle namens des Landes Niedersachsen gedankt
und gesagt, dem Anliegen dieser Novelle sei in den Kernpunkten Rechnung getragen. In den Jahren 1985 und 1986 würden eine ganze Reihe neuer Maßnahmen begonnen werden, denen das neue Recht bereits zugute kommen könne.
Meine Damen und Herren, diese Novelle wird neue Impulse für die Lösung der städtebaulichen Aufgaben bringen, so unter anderem für städtebauliche Umstrukturierungen, für die Aufbereitung brachliegender Gewerbeflächen, für Maßnahmen des Bodenschutzes.Sowohl für die bereits laufenden als auch für die künftigen Sanierungsmaßnahmen werden die Verfahrensregelungen erheblich vereinfacht. Wir haben es hier mit einer gemeinde- und bürgerfreundlichen Rechts-, Verwaltungs- und Verfahrensvereinfachung zu tun. Die Verpflichtung zur Aufstellung flächendeckender qualifizierter Bebauungspläne wird vereinfacht. Diese Verpflichtung wird nämlich gestrichen. Die Regelungen über die Genehmigungsverfahren und die Erhebung von Ausgleichsbeträgen werden flexibler gestaltet. In vereinfachten Verfahren werden die Gemeinden ermächtigt, bei neuen Maßnahmen von der Anwendung der besonderen bodenrechtlichen Bestimmungen des Städtebauförderungsgesetzes abzusehen, wenn sie zur Durchführung der Sanierung nicht erforderlich sind.Meine Damen und Herren, die Novelle enthält zwar nur wenige Änderungen, ihre Wirkungen sind jedoch weitreichend. Die Handlungsmöglichkeiten der Gemeinden werden erweitert. Ihre politische Verantwortung für die Durchführung von Sanierungsmaßnahmen wird deutlich gestärkt.Die Bundesregierung hat die Gesetzesnovelle unterstützt, weil die vorgesehenen Verfahrenserleichterungen dazu beitragen werden, daß die Zukunftsaufgaben der Stadterneuerung besser gemeistert werden können. Für die Bundesregierung hat die Stadterneuerung einen hohen Stellenwert. Er wird auch daran deutlich, daß die Bundesfinanzhilfen für die Städtebauförderung im Entwurf des Bundeshaushalts 1985 erneut um 40 Millionen DM auf jetzt 320 Millionen DM angehoben worden sind.Wenn dieses Gesetz in Kraft tritt, entfällt für etwa 1 500 Sanierungsgebiete die Aufstellung von Bebauungsplänen.In der Diskussion um die StädtebauförderungsNovelle haben vor allem die Präsidenten der kommunalen Spitzenverbände — ich habe ja mit ihnen allen gesprochen und ausgiebig beraten — die Sorge geäußert, diese Novelle sei möglicherweise in kurzer Zeit durch das neue Baugesetzbuch überholt, so daß die Praxis in kurzen Abständen mehrere Rechtsänderungen verarbeiten müsse. Dies allein waren die Bedenken.Nach eingehender Prüfung des Einwands kann ich auf der Grundlage des bereits erreichten Stands der Arbeiten am Baugesetzbuch jedoch feststellen, daß die vorliegende Novelle schon in das Baugesetzbuch überleitet. Sowohl das vereinfachte Verfahren als auch die anderen Erleichterungen sollen in das Baugesetzbuch übernommen werden.
— Das liegt am Souverän. Das liegt am Deutschen Bundestag. Und zu diesem Souverän bei seiner derzeitigen mehrheitlichen Zusammensetzung habe ich uneingeschränktes Vertrauen.
Zu diskutieren ist nur noch die Frage — und da bitte ich jetzt einmal genau zuzuhören — ob die besondere bodenpolitische Konzeption des geltenden Rechts, also vor allem die besonderen Entschädigungsregelungen und die Ausgleichsbetragsregelung, voll erhalten bleiben sollen. Sie wissen, was die Sachverständigen in den sechs Ausschüssen gesagt und wie sie votiert haben. In diesem Punkt ist die fachliche und politische Meinungsbildung noch nicht abgeschlossen. Sie kann auch noch gar nicht abgeschlossen sein. Die Novelle zum Städtebauförderungsgesetz steht daher in der Kontinuität der Rechtsentwicklung im Bereich der Stadterneuerung und der Städtebauförderung. Wir haben damit ein wichtiges Teilstück des Baugesetzbuchs bereits verwirklicht.Das Städtebaurecht ist seit mehr als 30 Jahren, zuletzt in immer kürzeren zeitlichen Intervallen, Gegenstand von Gesetzgebungsvorhaben, Novellierungen und Novellierungsdiskussionen gewesen.
Aus der Praxis werden durchaus widersprüchliche Forderungen an den Gesetzgeber herangetragen, Kollege Reschke, vielleicht sogar aus dem Land Nordrhein-Westfalen, vielleicht sogar aus der Stadt Essen.
— Nein, nicht Echternacher Springprozession. Ichkomme aus Bayern. Unsere Prozessionen gehen im-
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Bundesminister Dr. Schneidermer nach vorn. Und ich halte mich an diesen Procedere-Rhythmus unserer Prozessionen.
— Nein, nein. Wir haben immer die richtigen Heiligen, zu denen wir wallfahren.
Zum einen wird gefordert, Teilnovellierungen zu vermeiden und damit eine Stetigkeit in der Rechtsanwendung zu sichern. Zum anderen werden — häufig von denselben Verbänden und Beteiligten — Einzelwünsche zur Änderung des Städtebaurechts geäußert, die im einzelnen meist auch berechtigt oder verständlich sind. Um alle diese Forderungen und auch die Erfahrungen mit dem Städtebaurecht umfassend aufzuarbeiten und die Praxis nicht mit laufenden Gesetzesänderungen zu belasten, hat die Bundesregierung beschlossen, durch eine Gesamtnovellierung ein einheitliches und modernes Städtebaurecht zu schaffen. Ich bin allen dankbar, die bereit waren, ihre Wünsche nach kurzfristigen Gesetzesänderungen zurückzustellen und jetzt konstruktiv am neuen Baugesetzbuch mitzuarbeiten.Die Arbeitsgruppen aus Städtebauexperten der Länder, der kommunalen Spitzenverbände und der Gemeinden haben gute Vorarbeit geleistet. Diese Vorarbeit stand unter keinem politischen Vorzeichen. Gefragt waren nur Sachverstand, Berufserfahrung und Bereitschaft mitzuarbeiten. Die von ihnen vorgelegten Ergebnisse habe ich bereits im August dieses Jahres den Kollegen im Deutschen Bundestag zusammen mit einer eigenen Stellungnahme übermitteln können. Der politisch-parlamentarische Bereich ist damit zugleich mit der gesamten Fachöffentlichkeit und Fachwissenschaft in die Vorarbeiten einbezogen. Das ist ein Verfahren, das im Deutschen Bundestag seinesgleichen sucht.Wir werden im neuen Baugesetzbuch das geltende Recht nicht auf den Kopf stellen. Was gut ist, soll bleiben. Die tragenden Grundsätze und die wichtigen Verfahren und Rechtsinstitute des Städtebaurechts haben sich im wesentlichen bewährt und sollen erhalten bleiben. Es wird jedoch eine Reihe von Verbesserungen und Vereinfachungen geben, die das Planen und Bauen für die Gemeinden und für die Bürger erleichtern. Dabei sind sämtliche Materien des geltenden Rechts betroffen, vor allem die Vereinfachung der Bauleitplanung, die Erhöhung der Bestandskraft der Bauleitpläne und der kommunalen Satzungen, die Wahrung elementarer Planungsgrundsätze wie des Abwägungsgebots und der Bürgerbeteiligung, die Vereinfachung der Vorkaufsrechte, die Verbesserung der Bestimmungen über die Zulässigkeit von Vorhaben im Innen- und Außenbereich, die Vereinfachungen in der Bodenordnung, im Erschließungsbeitragsrecht und bei der Wertermittlung und schließlich die entscheidenden Verbesserungen und Vereinfachungen im Recht der Stadterneuerung und der Städtebauförderung, die mit der heute zu beratenden Novelle bereits eingeleitet sind.Meine Damen und Herren, die vor uns liegenden Wochen und Monate werden ich für intensive Gespräche mit allen Beteiligten nutzen, mit den Verbänden, der Wissenschaft, den Ländern und den Vertretern der Städte und Gemeinden. Bereits im Frühjahr 1985 wird das Bundesbauminsterium den Referentenentwurf eines Baugesetzbuches vorlegen. Die Bundesregierung will noch vor Ende 1985 den Gesetzentwurf verabschieden und in das Gesetzgebungsverfahren einbringen.Meine Damen und Herren, ich mute mir selber, aber nicht nur mir, sondern auch meinen Mitarbeitern eine Riesenarbeitslast zu. Bedenken Sie, daß das Zustandekommen des Bundesbaugesetzes aus Verfassungsgründen — immer wieder waren Neuwahlen dazwischen — fast zehn Jahre gedauert hat. Das Städtebauförderungsgesetz wurde von 1960 bis 1971 diskutiert, und, Herr Kollege Conradi, wir haben uns in den Jahren 1972 bis 1976 ja sehr redlich bemüht, die Novelle zum Bundesbaugesetz zu erarbeiten.Die heute zur Entscheidung anstehende Novelle wird uns auf dem Weg zum neuen Baugesetzbuch einen entscheidenden Schritt voran bringen, und, wie ich eingangs schon gesagt habe, neue Impulse für die Lösung der vor uns stehenden städtebaulichen Aufgaben bringen. Dies gilt für die gesamte von mir angestrebte und betriebene Baugesetzgebung. Wir tun dies alles nicht, um Regierung, Parlament und Gerichte zu beschäftigen, wir tun es vielmehr, um die Umwelt unserer Städte und Dörfer auch für die kommenden Generationen zu sichern und zu verbessern.Herr Kollege Sauermilch, das meine ich, wenn ich von Humanisierung und Urbanisierung des Städtebaues spreche, und das bedeutet auch der Begriff der Stadtökologie, ein Begriff, der zu Recht heute in der öffentlichen Diskussion einen hohen Rang einnimmt. Wenn Sie daran interessiert sind, kann ich Ihnen Arbeiten aus meiner Feder, die über 20 Jahre alt sind, geben. Damals gab es nur einen Grünspecht im Wald und noch keine GRÜNEN im Deutschen Bundestag.
Ich darf Ihnen sagen, es ist ein liebenswürdiges Tier. — Da habe ich also schon über die Stadtökologie nachgedacht.
— Eine ganze Menge ist daraus geworden. Wenn Sie in meine Heimatstadt Nürnberg kommen und die Stadt im Wiederaufbau ansehen und feststellen, wie viele Bäume dort sind, werden Sie erkennen, daß vieles von dem, was wir damals als Kommunalpolitiker geplant und gedacht haben, längst Wirklichkeit geworden ist. Die GRÜNEN kämen, wenn es um die Rettung unserer Städte ginge, um Jahrzehnte zu spät.
Meine Damen und Herren, es mag paradox klingen, aber wir müssen auch in unseren dicht bebau-
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Bundesminister Dr. Schneiderten Gebieten die natürlichen Grundlagen des Lebens sichern, ja sogar wiederherstellen, wo sie durch menschliche Einwirkung beeinträchtigt sind. Hier liegen wesentliche neue Aufgaben für das Planen und Bauen. Durch Fernheizungsbetriebe und durch viele andere Maßnahmen ist heute die Luft in den zentralen Gebieten der Städte vielfach besser geworden als am Rande in Villengebieten, wo noch jedes Haus die eigene Befeuerung hat.Die Bodenfrage — Herr Sauermilch, darauf möchte ich eingehen — ist natürlich nicht die brennende Frage, wenn es darum geht, die stadtökologischen Bedingungen zu verbessern, wenn es darum geht, durch eine menschengerechte, maßstäbliche Städtebaupolitik, Stadterneuerungspolitik die Probleme zu lösen.
Denn in all den großen Städten, in denen wir nicht menschenmaßstäblich gebaut haben, in all den Städten mit ihren Kisten- und Containerarchitekturen, wo wir die riesigen Betonzyklopen bedauern, gab es ausreichend Bauland. Diese Städte, diese Architektur litt in gar keiner Weise an einem Mangel an ausreichendem Bauland. Bei Sanierungsmaßnahmen hat die Bodenfrage ohnedies nicht die Bedeutung. Die städtebaulichen und rechtlichen Instrumentarien des Umlegungsverfahrens und der Bodenordnung reichen durchaus aus. Man muß nur gegebene rechtliche Instrumentarien in der konkreten kommunalpolitischen Entscheidung angemessen anwenden.
— Aber natürlich, ich weiß von Bodenspekulanten. Ich könnte Ihnen da sogar ganz bedeutende Leute nennen, die Ihnen sehr nahe stehen. Die großen Sünder sitzen doch nicht rechts des Hauses, sondern links des Hauses. Wir sind aber in einer sachlichen Debatte. Ich möchte Ihnen deshalb die Frage zu Ihren eigenen Gunsten nicht beantworten.Die Öffentlichkeit erwartet von Regierung und Parlament wirksame Maßnahmen zur Erfüllung dieser drängenden Aufgaben. Dazu brauchen wir ein vereinfachtes und gut handhabbares Städtebaurecht. Ich habe bisher im Rahmen des von mir gewählten Gesetzgebungsverfahrens vor allen Seiten Unterstützung erhalten. Die fachlichen und sachlichen Diskussionen des vergangenen Jahres haben mich in meiner Überzeugung bestärkt, daß das Baugesetzbuch in ganz besonderem Maße einen Rechtsbereich erfaßt, der eine parteipolitische Polarisierung nicht verträgt. Alle Beteiligten haben dies bisher übrigens vermieden. Dafür möchte ich ein herzliches Wort des Dankes sagen.Mein Angebot, wie bisher alle Karten auf den Tisch zu legen und offen und sachlich zu diskutieren, besteht weiter.Die bauliche Ordnung des Zusammenlebens der Menschen in unseren Städten, Gemeinden und Dörfern ist eine so umfassende, grundlegende, allgemeine politische Aufgabe, daß ich tatsächlich alle Mitglieder dieses Hauses bitten möchte, sachlich beizutragen. Geistige Anleihen werden im Bauministerium sofort angenommen. Wir haben nicht den Dünkel zu glauben, wir wüßten alles besser und wüßten schon alles. Ich lade alle zu sachlicher Diskussion ein. Dazu lade ich nicht nur die Mitglieder des Deutschen Bundestages ein, dazu lade ich unsere Wissenschaftler ein, unsere Institute, insbesondere aber unsere Kommunalpolitiker, denen wir dieses neue Werk, diese einheitliche Kodifikation des Baurechts — die erste einheitliche geschlossene Kodifikation des Baurechts, die es in der deutschen Rechtsgeschichte überhaupt gibt — für unsere Bürger vorstellen. Darum bitte ich Sie alle. Dafür möchte ich bereits denen danken, die den ersten Schritt mit der Vorlage dieses Gesetzes mit mir getan haben.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmitt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Städtebauförderungsgesetz von 1971 hat sich in den vergangenen 13 Jahren bewährt. Der Gesetzgeber hat damit den Städten und Gemeinden ein Instrument an die Hand gegeben — dies sage ich zu Herrn Sauermilch —, das gleichermaßen der Stadterhaltung und Stadterneuerung und der Verbesserung der Wohnverhältnisse in unseren Städten diente. Während man noch in den 70er Jahren vom Begriff der Stadtsanierung ausging, hat sich im Rahmen dieses Gesetzes doch viel stärker die Stadterneuerung als Stadterhaltung und, wie man heute sagt, Stadtreparatur durchgesetzt. Dies spricht für ein Gesetz, das 1971 erlassen wurde und das der kommunalen Entscheidungsfreiheit, das der Mitgestaltung der Bürger einen entsprechenden Rahmen gab. Die anfängliche Skepsis bei den Bürgern und in den Gemeinden wandelte sich bald in eine lebhafte Nachfrage nach den angebotenen Hilfen.Wir können heute sagen: Die Städtebauförderung ist unseren Städten und Gemeinden gut bekommen. Die Städte wurden wohnlicher und damit menschlicher. 522 Städte und Gemeinden erhielten in den Jahren von 1971 bis 1981 insgesamt 3,81 Milliarden DM Bundesmittel. Diese gemeindlichen Maßnahmen lösten private Folgeinvestitionen aus. Wahrlich ein sinnvoller Einsatz staatlicher Mittel! Die Bilanz des Städtebauförderungsgesetzes kann sich also — hier widerspreche ich ausdrücklich Herrn Sauermilch — sehen lassen.Aber kein Gesetz ist so gut, daß man es nicht noch verbessern kann. Deshalb sind auch wir für eine Überarbeitung von Gesetzen, in der sich die praktischen Erfahrungen niederschlagen. Entscheidend sind aber das Wie und das Wann. Wenn ich Herrn Minister Schneider in seiner Argumentation folge — er hat ja ausdrücklich denen gedankt, die Änderungswünsche zum Baurecht zurückgestellt haben —, dann verstehe ich nicht, daß wir uns6450 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984Schmitt
heute mit dieser Novelle beschäftigen müssen, nachdem ja bereits 1985 der große Wurf, das Jahrhundertwerk — wie er es nennt — auf den Tisch gelegt wird. Das gilt um so mehr, als die Änderungen im Gegensatz zu dem, was Herr Dr. Schneider hier mitteilt, von den Hauptbetroffenen, nämlich den Vertretern der kommunalen Spitzenverbände, nicht nur hinsichtlich des Zeitpunktes, sondern auch hinsichtlich der Inhalte, die vorgelegt werden, einheitlich abgelehnt worden sind. Wir können dabei auf die entsprechenden Stellungnahmen der kommunalen Spitzenverbände bei den Anhörungen hinweisen.
Wenn wir die Entwicklung betrachten, können wir feststellen — ich habe durchaus Verständnis dafür, daß der Herr Bundesbauminister alle Kräfte auf sein Werk konzentrieren will und alles andere liegen läßt bzw. nebenbei behandelt —,
daß sich die Bundesregierung zunächst sehr zurückhaltend gegenüber dem Bundesratsentwurf verhielt. Das ist ja in der Begründung des Gesetzes auch deutlich geworden. Wir meinen — wir haben das ja auch im Ausschuß gesagt —, die Koalition wäre gut beraten gewesen, wenn sie die Regierung in ihrer ursprünglichen Absicht unterstützt hätte, den Gesetzentwurf gewissermaßen in die Wiedervorlage zur großen Baurechtsreform zu legen. Dort gehört er nämlich hin.Die öffentliche Anhörung hat unsere Bedenken gegen das Vorhaben bestätigt. Die Koalition selbst hat diese Bundesratsinitiative zu einer Mininovelle reduziert. Es ist schwer verständlich, daß Sie diese Mininovelle heute durchsetzen wollen. Wenn wir den Bundesbauminister gestern und auch heute wieder in seiner Selbstzufriedenheit gehört haben, dann ist die Frage schon erlaubt, ob die Koalition die Ankündigung ihres eigenen Bauministers hinsichtlich der Terminierung des großen Baugesetzbuches nicht auch selbst skeptisch betrachtet. Sie haben doch selbst Zweifel an den angekündigten Terminen. Wie würden Sie sonst heute, gewissermaßen ein Jahr vor der großen Vorlage, noch eine solche Mininovelle ins Gesetzblatt bringen wollen!
Oder wollen Sie — diese Frage stellt sich nach der gestrigen Diskussion in der Aktuellen Stunde — von dem Scheitern Ihres Bauministers ablenken, der trotz seiner lyrischen Worte seine Vorstellungen im Bundeskabinett nicht durchsetzen kann — weder beim Wohngeld noch bei dem Baukindergeld, noch bei der Frage der Gemeinnützigkeit? Die Wohnungsbaupolitik wird vom Finanzminister, nicht vom Bauminister bestimmt.
Auch gestern ist der Bauminister trotz seiner Eloquenz und Lyrik, trotz Brecht — das ist eigentlich verwunderlich; denn mit Brecht kann man ja vieles erreichen — die Antwort schuldig geblieben, was er zur Überwindung der Krise in der Bauwirtschaft zu tun gedenke. Die Zahlen haben es bewiesen: Wir stehen in der Bauwirtschaft in einer tiefen Krise. Aber Auftragsrückgänge und steigende Arbeitslosigkeit sind für den Bauminister eben ein marktwirtschaftlicher Prozeß, der mit gut wohlklingenden Ministerworten begleitet wird und den er in seiner bekannten Selbstzufriedenheit — das gehört zum Bonner Vokabular — natürlich auch gelassen betrachtet.Die Eigentumsförderung, die Sie ja selbst als Koalition möglichst bald verabschiedet haben möchten, wird immer wieder angekündigt. Aber auch sie bleibt uns ja sozusagen als Moment der Impulsgebung vorbehalten.Es bleibt — das haben wir heute immer wieder gehört — eines, nämlich der Trost der Städtebauförderung; die Städtebauförderung gewissermaßen als das Allheilmittel, und zwar zum einen, zur grundsätzlichen positiven Entwicklung unserer Städte, zum anderen zur Investitionsförderung.Dazu können wir nur sagen: Die derzeitige Situation in der Bauwirtschaft in den Städten und Gemeinden fordert von uns nicht kleinkarierte Gesetzesmacherei, die für den Bürger die Gesetze unübersichtlich macht und der Verwaltung dazu noch neue Arbeit beschert, sondern sie fordert von uns eine entsprechende Aufstockung der öffentlichen Finanzmittel, um die Städte in die Lage zu versetzen, die anstehenden Probleme zu lösen.
— Natürlich, aber das ist für ein Jahr. Die Dinge müssen aber langfristig gesehen werden. Wenn man das als so wichtig betrachtet, dann muß das in größerem Umfang und intensiver geschehen. Es müssen weitere Bereiche einbezogen werden, beispielsweise die Modernisierung und Maßnahmen zur Energieeinsparung.Meine Damen und Herren, Sie sprechen permanent von der Entbürokratisierung. Der Bundesbauminister verkündet immer, was er alles wieder entbürokratisiert hat, wieviel DIN-Normen aufgehoben werden und was auf diesem Gebiet noch alles von ihm zu erwarten ist. Sein Beitrag heute hat bewiesen, daß mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes — Sie werden es ja mit Mehrheit durchsetzen — schon Rechtsstreite angelegt sind. Wir schaffen damit für einige fähige Verwaltungsjuristen Arbeit. Die Verwaltungsgerichte werden sich bis zur großen Novelle in allen Instanzen mit diesen Fragen beschäftigen können.Haben Sie sich, meine Damen und Herren, die Sie permanent von der Entbürokratisierung als einem zentralen Punkt Ihrer Politik sprechen, auch einmal Gedanken darüber gemacht, wieviel Verfügungen der Aufsichtsbehörden, wieviel Fachseminare für Sachbearbeiter der kommunalen Verwaltungen, wieviel Einführungserlasse Sie mit dieser Ihrer Novelle produzieren? Wir können nur sagen: Diese Mininovelle schafft einen maximalen Auf-
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Schmitt
wand in der Verwaltung und belastet letzten Endes die Bürger.
Wenn dies, wie es heute vom Bundesbauminister zu hören war, der Prolog zum großen Schneider-schen Szenarium eines unbürokratischen Baurechts ist, dann verstärken diese wenigen Paragraphen die Skepsis nicht nur vor dem Melodrama, das uns angekündigt wird, sondern auch vor dem Regisseur, der dies ja als seine Hauptaufgabe als Bauminister betrachtet.Ich komme zum Ergebnis. Das Städtebauförderungsgesetz von 1971 hat sich bewährt. Eine Anpassung dieses Gesetzes an die veränderten Gegebenheiten in den Städten und Gemeinden muß die gegenwärtigen Probleme der Stadtentwicklung, muß vor allem Stadtreparatur, Stadtökologie einbeziehen und muß ein wesentlicher Teil einer Gesamtreform, einer Reform aus einem Guß sein.Was wir jetzt brauchen, sind keine neuen Paragraphen, sondern zusätzliche Mittel für die Städtebauförderung. Teile haben Sie für den Haushalt 1985 vorgesehen, aber da muß noch mehr geschehen.Diese Mittel — auch darauf haben Sie keine Antwort gegeben — können nur dann sinnvoll verwandt und eingesetzt werden, wenn zugleich die kommunalen Finanzen in dem Maße gestärkt werden, daß die Städte und Gemeinden auch in der Lage sind, die angebotenen Bundes- und Landesmittel für ihre Bürger einzusetzen. Jetzt gilt ja die Parole: Hast du Geld in der Gemeindekasse, dann kannst du Bundes- und Landesmittel einsetzen; fehlt dir das Geld, gehen diese Staatshilfen an dir vorbei.
— Es gibt da Unterschiede. Es gibt auch den Finanzausgleich. Ich denke hier an Hessen, wo diese Fragen kommunalfreundlich gelöst sind, es nicht alles allein von den Eigenleistungen abhängig ist.Meine Damen und Herren, wenn der Bundesbauminister hier erklärt, er sei sich mit den kommunalen Spitzenverbänden einig, dann weiß ich nicht, wo er bei der Anhörung war und ob er vergessen hat, was in den Stellungnahmen steht. Ich muß deshalb hier noch einen Satz zitieren. Der Deutsche Städtetag hat uns mitgeteilt:Die bisherigen Erörterungen haben keine Gesichtspunkte ergeben, die eine vorgezogene Novellierung des Städtebaurechts erforderlich machen würden.Es bleibt nach wie vor unverständlich, warum eine einzelne Teilnovellierung stattfinden soll, während andere, auch finanzpolitisch strengere Vorhaben wie etwa die Klärung der Beitragserhebung für sogenannte Wohnwege bis zur Verkündung des Baugesetzes zurückgestellt werden.
Herr Magin, Ihr Städte- und Gemeindebund hat es noch etwas härter formuliert:Im Blick auf den von der Bundesregierung beschleunigten Zeitplan für die Gesamtbaugesetzgebung ... halten wir jede einem Baugesetzbuch vorgezogene Teilregelung für schädlich.Meine Damen und Herren, wir haben an der Ausschußberatung, an der Sachdiskussion mitgewirkt und danken den beiden Berichterstattern für ihre sachbezogenen Vorschläge. Das war auch ein Grund für die Stimmenthaltung.Wir sind aber in der abschließenden politischen Wertung der Auffassung, daß wir uns an die Erfahrung und den Sachverstand der kommunalen Spitzenverbände halten sollten. Daher kommen wir zu einem Nein zu dieser Mininovelle, die besser als Material zum Baugesetzbuch verwandt werden sollte, als daß sie im Bundesgesetzblatt erscheinen sollte.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kansy.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir hatten vor vierzehn Tagen hier im Parlament eine Selbstverständnisdebatte. Ein Punkt, der beklagt wurde, war, daß wir im Ausschuß sachliche Arbeit leisten und dann im Plenum Schaukämpfe führen.Meine sehr verehrten Kollegen der Sozialdemokratischen Partei, insbesondere mein sehr verehrter Herr Kollege Reschke, Sie haben zwischen dem 11. April und dem 19. September in fünf Sitzungen des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau des Deutschen Bundestages mit uns gemeinsam eine sehr sachbezogene Beratung gemacht, haben in einem einzigen Punkt eine Kampfabstimmung mit uns gehabt, haben sich bei der Schlußabstimmung der Stimme enthalten. Heute stellen Sie sich hier hin und ziehen an den Haaren Gründe herbei, nur um zu kaschieren, daß Sie selbst in so elementaren Bereichen der Politik, die nun wirklich nichts mehr mit Schaukampf und Fensterreden zu tun haben, reine Obstruktionspolitik betreiben wollen.
Meine Damen und Herren, gerade der § 10 des Städtebauförderungsgesetzes, der hier als Beispiel angeführt wurde, ist symptomatisch. Es ist übrigens ein Paragraph, meine Herren Kollegen, der bei der Anhörung von den kommunalen Spitzenverbänden durchaus in unserem Sinne besprochen wurde, nämlich in dem Sinne, daß er wegfallen sollte. Ausschließlich diesen Paragraphen nehmen Sie als Angelpunkt, um Ihre Ablehnung zu signalisieren. Mir zeigt das nur, daß Sie trotz Ihrer Lippenbekenntnisse nach wie vor an Ihrer Aussage der 70er Jahre festhalten.
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6452 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Dr.-Ing. KansyDer § 10 Städtebauförderungsgesetz war das Flaggschiff der Flächensanierung. Wer diesen Paragraphen mit Zähnen und Klauen verteidigt, hat im Grunde noch nicht begriffen, wohin die Reise geht.
Nun zum Herrn Kollegen Schmitt. Herr Kollege Schmitt, die kommunalen Spitzenverbände haben insbesondere die zeitliche Zuordnung dieser Mininovelle zum geplanten Baugesetzbuch kritisiert. Dort war die Kritik einheitlich. In den Sachfragen haben sie sehr kontrovers unterschiedliche Stellungnahmen gebracht.Ohne den kommunalen Spitzenverbänden zu nahe zu kommen, möchte ich auch einmal sagen: Die geladenen Bauräte vor Ort
— die Praktiker —, die in den Planungsbüros draußen im Lande sitzen, haben den Herren Verbandsfunktionären nach dieser Anhörung in nicht unerheblichem Maße widersprochen.
Herr Kollege Schmitt, wir haben gestern über die Bauwirtschaft gesprochen. Ich sage das aber noch einmal mit zwei Sätzen. Hüten Sie sich davor, die Probleme sowohl der Bauwirtschaft wie des Städtebaus nur wieder damit lösen zu wollen, daß Sie wieder Geld fordern, daß Sie in der Hoffnung pumpen müssen, daß in der kurzen Zeit dann irgend jemand da ist, der diese Scharte wieder auswetzt!
Wir können nur eine seriöse Politik machen, wenn wir das unter den gegebenen Rahmenbedingungen machen. Wir haben einige Schwerpunkte im Städtebauförderungsgesetz und im Rahmen der Stadtsanierungsmittel im Haushaltsplan gesetzt, und wir werden auf diesem Weg fortfahren. Wir müssen einfach klar sehen, daß die Nachkriegszeit in der Bauwirtschaft — der Kollege Grünbeck hat das vorhin angesprochen — vorbei ist. Wir können uns in der Bauwirtschaft nicht Tausende und Abertausende von ARBED-Saarstahl leisten, die wir über Jahre, Jahre und Jahre subventionieren, wenn kein Bedarf mehr für die Sache besteht.
Lassen Sie mich noch etwas zu dem Thema sagen, das hier überall zwischen den Zeilen, zwischen den Worten eine Rolle gespielt hat, nämlich zum Baugesetzbuch. Dieses Baugesetzbuch ist natürlich der Kern unserer Bemühungen, Bauvorschriften zu vereinfachen und nicht zu komplizieren. Herr Kollege Schmitt, vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, mir für einen Moment Ihr Ohr zu leihen.
Es ist geradezu eine Verdrehung, wenn Sie ein Gesetzeswerk, das darauf abgestellt ist, das Bundesbaugesetz, das Städtebauförderungsgesetz, das Energieeinsparungs- und Modernisierungsgesetz und eine Reihe von Verordnungen aufzuheben, zusammenzufassen, wesentlich zu reduzieren, dadurch diskreditieren, daß Sie sagen: Es ist im Grunde keine Verwaltungsvereinfachung, sondern eine Komplizierung.
Meine Kollegen von der SPD, hier hören uns auch Bürger zu, die vielleicht nicht jedes Detail unserer Auseinandersetzung verstehen, aber die beispielsweise begriffen haben, daß sie heute, wenn sie ein Einfamilienhaus bauen, 40 Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Richtlinien und sonstwas anwenden müssen, daß sich daraus allein 400 sich unmittelbar ergebende Forderungen an Bauteile, an Baustoffe, an Räume, Flächen und was weiß ich ergeben und daß das für den Bürger auf die Dauer einfach unzumutbar ist, wenn wir bei der Bereinigung dieser Gesetzeswerke nicht vorankommen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Kernpunkte der Forderung unserer Fraktion, Herr Minister, bei der Konzipierung des neuen Baugesetzbuches hier einmal vortragen. Erstens. Wir wollen die kommunale Selbstverwaltung in ihrer Eigenverantwortung stärken, sei es gegen übergeordneten Instanzen, sei es gegen Einzelinteressen, die unter dem Deckmantel von Bürgerfreiheit ihr eigenes Schäfchen ins Trockene bringen, sei es gegen die Tendenz der Rechtsprechung, sich quasi als Obergesetzgeber zu bestätigen. Zur Stärkung dieser Selbstverwaltung gehört die tatsächliche Wiederherstellung der Planungshoheit der Gemeinden als die ureigentliche Aufgabe. Der Flächennutzungsplan muß als eines der wesentlichen Instrumente grobmaschiger werden, d. h. nur die Grundzüge der gemeindlichen Entwicklung darstellen, und der Bebauungsplan, also der Plan, der unmittelbar auf den Bürger mit seinem Bauwunsch wirkt, muß entfeinert werden, d. h. die inhaltlichen Überfrachtungen müssen rausgebraucht werden, damit der Bestand dieser Pläne so rechtssicher gemacht wird, daß es für die Gemeinden und auch für die Bürger nicht ein Lotteriespiel ist, auf solche Pläne zurückgreifen zu müssen.Zweitens. Wir wollen durch die Zusammenführung verschiedenster Gesetze — ich erwähnte es soeben schon — Rechtsvereinfachung bewirken, die das Baurecht für den Bürger wieder überschaubar und vor allen Dingen rechtssicher macht und damit das Bauen erleichtert.Drittens. Wir wollen die Krankheit häufiger Teilnovellierungen vergessen und den Versuch machen, eine schwierige Gesetzesmaterie diesmal in einem Guß zu schaffen. Das schließt überhaupt nicht aus, Herr Kollege Schmitt, daß wir jetzt letztmalig ein Petitum eines Verfassungsorgans, nämlich des Deutschen Bundesrates, aufgenommen haben, tatsächlich sehr zurechtgestutzt, und noch mal einige wenige Fälle mit der festen Absicht geregelt haben, keine Teilnovellierung in allen Rechtsberei-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6453
Dr.-Ing. Kansychen mehr zuzulassen, über die wir heute reden, bevor das Bundesbaugesetzbuch in diesem Deutschen Bundestag verabschiedet wird.Viertens. Diese neue Kodifikation soll nicht dem Augenblick verhaftet sein und nicht dem Zeitgeist frönen, sondern für künftige Entwicklungen offen sein, ob wir sie nun heute absehen können oder nicht, soll also das verhindern, was sich jetzt z. B. bei der Flächensanierung im Hinblick auf das vorhandene Städtebauförderungsgesetz in sehr ungünstigem Sinne auswirkt.Fünftens. Wir wollen bewährte Regelungen und Grundsätze erhalten. Die Reform wird kein Selbstzweck. Wir wollen nur die Vorschriften des bisherigen Bundesbaugesetzes konzentrieren und unter Erhaltung der Struktur nachbessern. Das bisherige Städtebauförderungsgesetz allerdings sollte nach unserer Auffassung grundsätzlich aufgehoben werden, wobei bewährte Teile in das neue Baugesetzbuch zu übernehmen sind. Aber auch hier: keine Kahlschlagsanierung des bisherigen Städtebauförderungsrechts, sondern Konzentration und Anpassung an die Aufgaben der letzten 15 Jahre dieses Jahrhunderts.Meine Damen und Herren, ich möchte dem Bauminister seitens der CDU/CSU-Fraktion zusichern, daß wir seiner Aufforderung, als Parlament unseren Beitrag zu einer zügigen Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes zu leisten, gerne nachkommen werden. Die Bürger und die Kommunen haben einen Anspruch darauf, daß wir dann, wenn sich die Bundesregierung — nicht zuletzt unter dem Druck der Regierungsfraktionen, Herr Kollege Grünbeck — nun bereit erklärt hat, den Entwurf des Gesetzes dem Parlament noch im Jahre 1985 zuzuleiten, als Deutscher Bundestag in der Lage sind, innerhalb der in diese Legislaturperiode verbleibenden eineinhalb Jahre dieses Gesetz auch zu verabschieden
und nicht heute schon wieder zu sagen, das seien so viele Paragraphen, das dauere alles so lange, das sei alles zuviel. Wir als Parlament sind aufgerufen, Sacharbeit zu leisten, nicht Obstruktion zu treiben. In diesem Sinne bitte ich Sie — auch die Kollegen aus den anderen Fraktionen —, an die schwierige Aufgabe heranzugehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Conradi.
Verehrter Herr Präsident!
— Ja, man soll es nicht bei den guten Vorsätzen aus der Selbstverständnisdebatte belassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuß und hochverehrte und willkommene Gäste, die an dieser öffentlichen Ausschußsitzung im Plenarsaal teilnehmen — einige von Ihnen kommen sicher in den Verdacht großer parlamentarischer Genußsucht! Wer will eigentlich dieses Gesetz?
Die Gemeinden wollen es nicht. Sie wissen, daß solche kurzfristigen kleinen Änderungen am Städtebaurecht die Bürger verunsichern und die Verwaltung belasten.
Der Bauminister und seine Fraktion haben das Gesetz ursprünglich auch nicht gewollt. Sie haben den Entwurf vom Juni letzten Jahres bis zum Frühjahr dieses Jahres liegengelassen, weil sie — richtigerweise — die große Novelle des Bundesbaugesetzes vorantreiben wollten. Was soll da eine solche Miniregelung vorab?
Die Länder wollten es auch nicht so richtig. Was die Länder dazu vorgebracht haben, war lauwarm und halbherzig. Wir hatten den Eindruck, die Länder hoffen, daß das Gesetz gar nicht zum Abschluß kommt.
Aber das Land Niedersachsen — das sei zugestanden — wollte das Gesetz. Es wollte die Bestimmungen des Städtebauförderungsgesetzes bei einfachen Sanierungen lockern. Dagegen wäre nichts einzuwenden, aber die anderen Länder haben uns im Ausschuß gesagt, das könne man ohne weiteres nach dem Bundesbaugesetz, dazu brauche man das Städtebauförderungsgesetz nicht zu lockern.
Niedersachsen wollte mit dieser Lockerung erreichen, daß auch einfache Sanierungen vom Bund bezuschußt werden. Das war des Pudels Kern. Deswegen waren ja auch die anderen Länder etwas zögerlich, denn sie merkten, daß dadurch von ihrem Geld etwas abgeht. Es ging also, was Niedersachsen betraf, ums Geld.
Bei der Bundesregierung und ihrem Sinneswandel in dieser Sache haben wir den Eindruck, Herr Minister, daß der Bundeskanzler dahinterstand, weil der etwas zum Vorzeigen brauchte, eine Erfolgsmeldung in Sachen Entbürokratisierung. Wer so viele Versprechen nicht gehalten hat — „Lehrstellen für alle", „Aufschwung für alle" und „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" —,
der will nun einmal eine Erfolgsmeldung. Nur, dieses Gesetz, Herr Minister, wird kein Erfolg sein. Es ist ein unnötiges, ein oberflächliches Gesetz. Die Tatsache, daß Sie hier nicht einmal Auskunft über die steuerlichen Auswirkungen geben konnten, daß Sie den Finanzausschuß gar nicht beteiligt haben, obwohl das Gesetz steuerliche Auswirkungen haben wird, zeigt, wie schludrig da gearbeitet worden ist.
— Also Pannen hat es ja bei uns in der sozialliberalen Koalition früher auch gegeben, darüber gibt es keinen Streit.
6454 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Conradi
— Ich weiß nicht, warum Sie hier protestieren. Damals haben uns manche Journalisten gesagt, die Konservativen seien erfahrener im Umgang mit der Macht, sie verstünden mehr vom Handwerk des Regierens. Mit dieser Legende hat die Bundesregierung Kohl gründlich aufgeräumt.
Nie hat dieses Land eine derart inkompetente, des Regierens unfähige Regierung gehabt.
Herr Abgeordneter Conradi, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Grünbeck, Sie wollen mich etwas fragen. Das ist mir sehr recht.
Das Saalmikrophon ist hochinteressant, auch richtig und zweckmäßig. Nur wird der Präsident dabei etwas ins Abseits gerückt, weil er nicht so leicht zugreifen kann.
Aber Sie haben mich ja verstanden. — Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grünbeck?
Herr Kollege Conradi, Sie haben gerade gesagt, dieses Gesetz sei eine schludrige Sache. Tun Sie das eigentlich nicht im Widerspruch zum Gesamturteil unseres Ausschusses und tun Sie nicht den Berichterstattern, auch Ihrem eigenen Freund, Herrn Reschke, wehe, wenn Sie sagen, es sei eine schludrige Sache, während wir alle zu der Ansicht gekommen sind, daß die beiden Berichterstatter so sorgfältig gearbeitet haben, daß es keine schludrige Sache ist?
Das wäre fern von mir, Herr Kollege Grünbeck. Denn Herr Reschke hat ja durch seine Mitarbeit einige Zähne aus diesem Gesetz herausgebrochen, und dafür sind wir ihm dankbar. Ich habe hier die Regierung angesprochen, die es in der Gesetzesberatung versäumt hat, die Frage der finanziellen Folgen — und das betrifft j a vor allem den Finanzminister, der hier auch nicht vertreten ist — in ihre Überlegungen und Stellungnahmen einzubeziehen.
Herr Präsident, ich habe Sie immer im Auge, und das ist eine wesentliche Verbesserung gegenüber dem Pult, wo man Sie im Rücken hat. Deshalb achte ich genau auf das, was Sie mir mitteilen wollen.
Herr Abgeordneter Conradi, ich habe noch mehr im Auge, Herrn Sperling, auch den Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Jahn, der als Abgeordneter eine Frage stellen will. Gestatten Sie das?
Ich gestatte es. Vizepräsident Stücklen: Herr Sperling, bitte.
Herr Kollege Conradi, stimmen Sie mir denn zu, wenn Sie über Entbürokratisierung und Pannenreichtum dieser Regierung sprechen, daß man geradezu aufpassen muß, daß die Entbürokratisierung nicht zu weit geht? Denn wer schützt die Bevölkerung noch vor Pannen dieser Regierung, wenn nicht die Bürokratie?
Herr Kollege Sperling, ich stimme Ihnen gern zu. Ich will hier eine Aussage unseres Kollegen Jung vom gestrigen Tag aufgreifen. Der Kollege Jung sprach davon, daß es bei der Schwarzarbeit viel Pfusch gebe. Was die Bundesregierung anbetrifft, kann ich ihm da voll zustimmen.
Herr Conradi, da Sie für sich in Anspruch nehmen, immer vorauszudenken, können Sie uns die Gründe darlegen für Ihren Sinneswandel zwischen der Abstimmung im Bauausschuß, wo Sie mit Enthaltung gestimmt haben, und heute, wo Sie gegen die Novelle stimmen wollen?
Das will ich jetzt gerade tun, Herr Dr. Jahn. Ich komme damit zu dem zentralen Punkt unserer Ablehnung. Sie streichen die Pflicht, in Sanierungsgebieten die Bebauungspläne aufzuheben, ersatzlos aus dem Gesetz. Wir haben Ihnen einen Kompromißvorschlag gemacht. Dort, wo die Gemeinde das Sanierungsziel auch ohne besonderen Bebauungsplan erreichen kann, soll sie darauf verzichten können. Generell aber soll die Planungspflicht drinbleiben. Das haben Sie abgelehnt. Damit wird die Tendenz Ihrer Entbürokratisierungskampagne deutlich. Sie sagen, weniger Planung, weniger Bürokratie, einfache Verfahren, Freiräume für das wirtschaftliche Handeln. Das klingt verführerisch und soll die Leute verführen. Aber was heißt denn Planung? Planung heißt doch, daß alle Gesichtspunkte einer Entscheidung — das Gesetz spricht von Belangen — geprüft, erörtert und abgewogen wird, bevor entschieden wird. Beispielsweise: gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse und die Interessen der Industrie, oder: Erhaltung der Natur und die Belange des Verkehrs, oder: soziale und kulturelle Bedürfnisse der Bevölkerung und Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen. Da gibt es, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ständig Konflikte, die im Planungsprozeß geklärt werden müssen. In Zukunft werden wir das noch sorgfältiger tun müssen als heute. Die Folgen dessen, was wir in den vergangenen Jahren falsch gemacht haben — Herr Minister, das ist kein Streit, da sind auch Sozialdemokraten daran beteiligt; d. h. wir selber haben auch dazulernen müssen —, was wir mit der Zersiedelung, mit der Versiegelung des Bodens, mit der Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen, in unwirtlichen Städten falsch gemacht haben, sind doch nicht die Folgen von zuviel Planung, das sind doch eher die Folgen von zuwenig und unzureichender Planung, das sind doch nicht die Folgen von zuwenig Baufreiheit, sondern im Gegenteil die Folgen von zuviel Egoismus und von zuviel Durchsetzung von wirtschaftlich Mächtigen gegen die Interessen aller anderen.
Sie wollen die Bürger befreien. Herr Minister, Sie reden immer von der Baufreiheit, aber Sie meinen die Freiheit der Investoren, die Freiheit der wirt-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6455
Conradischaftlich Stärkeren zu Lasten der anderen. Ich möchte mit Genehmigung des Präsidenten hier etwas vorlesen.
— Sie irren, Herr Kollege. Wenn man von der freien Rede abweicht und etwas vorliest, muß man den Präsidenten dazu — nicht zum Zitat — um Zustimmung bitten.
Sie zitieren nicht, Sie lesen vor.
Ich lese jetzt etwas vor. Die CDU schreibt in Ihrer Kommunalwahlplattform BadenWürttemberg:
Wir wollen, daß das Baurecht weiter vereinfacht und die Mitwirkungsrechte von Fachbehörden z. B. des Gewerberechts, des Denkmalschutzes und des Naturschutzes nicht zu Entscheidungsverhinderungsinstrumenten werden.
Ein schönes Wort: „Entscheidungsverhinderungsinstrumente", d. h. die, die hier entbürokratisieren wollen, verwenden die Sprache der Bürokraten.
Was heißt das denn? Entscheidungen müssen her, zack, zack. Wenn da andere Rechte, wenn der Schutz der Menschen, der Schutz der Natur, der Schutz unserer gebauten Geschichte entgegensteht, dann werden eben Denkmalschutz oder Naturschutz, soziale Rechte oder Gewerbeschutz kurzerhand in die Ecke gedrängt.
— Ihre Landwirtschaftsminister klagen über die Zubetonierung der Landschaft, über die ständige Zersiedelung, und dann kommt die Landesregierung Baden-Württemberg und kündigt in Leutkirch einen Antrag im Bundesrat an, den § 35 des Bundesbaugesetzes — „Bauen im Außenbereich" — zu lokkern, d. h. da den Sack aufzumachen
und die Abwasserbestimmungen zu lockern. Da soll wieder die einfache Klärgrube ausreichen; als hätten Sie niemals etwas von Verseuchung des Grundwassers gehört. Das ist die Tendenz.
Da reden Sie von den Bauernsöhnen, denen Sie helfen wollen, und wissen doch ganz genau, daß es nicht die Bauernsöhne — —
— Noch hätte ich gern das Mikrofon.
Aus Versehen, aus Versehen.
Herr Präsident, könnten Sie das vielleicht gelegentlich klären, daß ein Zwischenfrager nicht einfach dem Redner das Mikrofon abdrehen kann.
Ich möchte den Satz gerne zu Ende führen; dann dürfen Sie fragen.
Sie reden von den Bauernsöhnen, denen Sie helfen wollen. Wenn man aber aufs Land fährt — gerade in Niedersachsen zeigt sich das —, sind es doch nicht die Bauernsöhne, die gebaut haben, sondern die Ärzte, die Anwälte, die Architekten aus den Städten, die sich da in den Altenteilhäusern und im Naturschutzgebiet zu Lasten aller anderen ihre Ferienhäuschen gebaut haben.
Bitte, Herr Kollege.
Es ist so eingerichtet, daß immer nur ein Mikrofon und nicht zwei gleichzeitig eingeschaltet sind, damit hier nicht irgendwo ein Zwiegespräch laufen kann.
Bitte schön, Herr Möller.
Herr Präsident, ich wollte natürlich dem Kollegen Conradi nicht das Wort nehmen.
Herr Kollege Conradi, stimmen Sie mir aber nicht zu, daß in Gebieten mit Bebauungsplänen größerer städtebaulicher Unsinn entstanden ist als in Gebieten ohne Bebauungsplan?
Dem, Herr Kollege, kann ich nicht zustimmen. Ich weiß natürlich — das habe ich vorhin gesagt —, daß wir in der Planung Fehler gemacht haben, weil wir zuwenig abgewogen haben, weil wir zuwenig auf die Bedürfnisse der Menschen, zuwenig auf die Bedürfnisse der Natur geachtet haben. Aber was Sie wollen, ist doch die Ermessensentscheidung des Kreisbaumeisters ohne Abwägung. Wer da zum Bauen kommt, das wissen wir nun wirklich, das haben wir landauf landab erlebt.
— Ich würde jetzt gerne — ich bin sicher bei Zwischenfragen nicht kleinlich gewesen — zu einem anderen Punkt kommen.Wenn es keinen Planungsvorgang mehr gibt, dann gibt es auch keine Bürgerbeteiligung mehr, denn die Bürgerbeteiligung geht nur im Zusammenhang mit einem Plan.
Weil bei der Bürgerbeteiligung die Absicht und die verschiedenen Gesichtspunkte der Planung vorgelegt, diskutiert und erörtert werden müssen, so schreibt es das Bundesbaugesetz vor.Ich finde es eigenartig, daß Sie in einer Zeit, in der die Bürger allenthalben mehr Beteiligung wol-
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Conradilen, in der die Bürger sich wehren — denken Sie doch an die Volksbewegung gegen die Volkszählung oder an die vielen Initiativen, die zum Teil schlimme Schäden in unseren Städten und in der Umwelt verhindert haben —, in einer Zeit, in der die Bürger reifer geworden sind und dazugelernt haben und uns durch ihre Beteiligung helfen wollen,
sagen: Weniger Planung, und die Bürgerbeteiligung einschränken.
Das heißt: Hier wird einer der wenigen gesetzlichen Bereiche, in denen Bürgerbeteiligung durch das Gesetz vorgeschrieben wird, die von den Gemeinden und den Interessenten ja oft genug hintertrieben wird, um das hier auch einmal ehrlich zu sagen, eingeschränkt. Ich sage Ihnen, Herr Minister: Wer Partizipation abschafft, wird Protest ernten.Dies ist kein gutes Gesetz. Es ist kein wichtiges Gesetz, aber hier wird der Anfang eines Weges deutlich, unter der populistischen Forderung nach Entbürokratisierung dem Bauwillen der Mächtigen mehr Recht zu verschaffen, den Schutz der Natur, den Schutz der Umwelt abzubauen, d. h., die Planung zu reduzieren, während wir doch alle wissen, daß wir unsere Städte nur mit mehr und sorgfältigerer Planung menschlicher und erträglicher machen können.Die Sozialdemokraten sind für Verwaltungsvereinfachung gewiß zu haben.
Wir sind auch für Entbürokratisierung zu haben, aber das muß dann sinnvoll und darf keine Spiegelfechterei, kein Etikettenschwindel sein, wie bei diesem Gesetz. Wir sind z. B. sehr dafür, daß wir dem Volk verständlichere Gesetze machen und daß wir dieses schreckliche Bürokratendeutsch des Bundesbaugesetzes gemeinsam so vereinfachen, daß ein normaler Mensch das lesen kann. Aber diese Entbürokratisierung hier, die zu Lasten des Bürgers geht, wollen wir nicht mittragen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ruf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und mein Fraktionskollege Werner Dörflinger haben zum Thema Novellierung des Städtebauförderungsgesetzes gesprochen. Auch mein Kollege Dr. Dietmar Kansy hat den Zusammenhang der heute zu verabschiedenden Novelle des Städtebauförderungsgesetzes mit dem neuen Bundesbaugesetzbuch dargestellt. Dies alles waren sachliche Diskussionen und Ausführungen. Ich bedaure, daß Sie, Herr Kollege Conradi, jetzt Schärfe in diese Diskussion gebracht haben und auf Ihre Ideologien nicht verzichten konnten.
— Klassenkampf in Reinkultur, ja. —Beide Vorhaben, die soeben erwähnt wurden, nämlich die Novelle des Städtebauförderungsgesetzes und das neue Baugesetzbuch, beziehen ihren Generalauftrag aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 4. Mai 1983 und haben konkreten Bezug zum Beschluß der Bundesregierung vom 22. Februar 1984 zur Rechts- und Verwaltungsvereinfachung im Städtebau, Bau- und Wohnungswesen.Dieser Beschluß der Bundesregierung vom 22. Februar 1984 beinhaltet nicht nur die beiden genannten Gesetzesvorhaben, sondern spricht sich auch für eine Reihe weiterer Maßnahmen aus, die im Rahmen eines Debattenbeitrages von zehn Minuten gerade enumerativ aufgelistet werden könnten.Lassen Sie mich deshalb einen Schwerpunkt der Rechts- und Verwaltungsvereinfachung ansprechen, der mit der Gesetzesnovelle zwar nur in mittelbarem Zusammenhang steht, aber über die Entbürokratisierung der Baugesetzgebung hinaus auch konjunktur- und damit arbeitsmarktpolitische Bedeutung hat. Es ist ein Bereich, der von der Opposition in der gestrigen Aktuellen Stunde zur Lage der Bauwirtschaft und auch vorhin vom Kollegen Schmitt leider negativ apostrophiert wurde und insofern einer Klarstellung bedarf.Es geht um den Auftrag der Bundesregierung an den Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, im Zusammenwirken mit den beteiligten Bundesministern die technischen Regeln, aus denen sich Anforderungen an Gebäude ergeben, daraufhin zu prüfen, ob und inwieweit solche Regeln aufgehoben oder vereinfacht werden können. Darüber hinaus sollen die Bundesminister der zuständigen Ressorts „mäßigend auf die Setzung technischer Regeln einwirken".Angesprochen ist hier im Bereich der technischen Regeln insbesondere das Deutsche Institut für Normung e. V. — DIN — als Selbstverwaltungsorgan der deutschen Wirtschaft. Wenn man weiß, daß es 317 Normenausschüsse mit mehr als 4 000 haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern gibt, die bis jetzt im Baubereich rund 1 300 DIN-Normen produziert haben, die etwa 11 000 Druckseiten füllen, dann gibt es keinen Zweifel, daß hier ein Handlungsbedarf besteht.
Man kann den Bundesbauminister nur ermuntern, die Tätigkeit der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Baunormen" zu forcieren, die alle in der Praxis bekanntgewordenen Fälle besonders kostenträchtiger und komplizierter Normen überprüft, Vorschläge zur Streichung, Kürzung oder Verbesserung der technischen Regeln erarbeitet, an die regelsetzenden Stellen heranträgt und dort vertritt.
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RufAls Beispiel für die Reduzierung von Anforderungen möchte ich auf die für das Bauwesen wichtige Norm DIN 4109 — Schallschutz im Hochbau — hinweisen, bei der eine Zurücknahme des an einigen Stellen überzogenen und kostentreibenden Anforderungsniveaus im Entwurf erreicht werden konnte. Ein weiteres Beispiel ist die Überarbeitung der Norm DIN 277 „Grundflächen und Rauminhalte bei Hochbauten", die dazu führte, daß die DIN 283/Teil 2 „Berechnung von Wohnflächen und Nutzflächen", ersatzlos zurückgezogen wurde.Genauso wichtig wie die Überprüfung bestehender Normen und Anforderungen ist die Verhinderung neuer, überflüssiger Normen im Baubereich. Wir Deutschen neigen ja dazu, alles bis ins letzte Detail zu regeln, und bekannterweise steckt der Teufel im Detail. Mein Kollege Dr. Kansy hat bereits erwähnt, daß, wer heute in Einfamilienhaus baut, rund 40 Gesetze, Verordnungen und Erlasse sowie 425 sich daraus ergebende Forderungen an Bauteile, Baustoffe, Räume und Flächen zu beachten hat. Damit droht die Baufreiheit und die Bauwilligkeit am Übermaß von rechtlichen Regelungen zu ersticken. Außerdem wird das Bauen unnötig verteuert.Wenn der eben erwähnte Einfamilienhausbesitzer vielleicht noch einen gewerblichen Anbau planen sollte, dann erhöht sich die Zahl der zu beachtenden Gesetze, Verordnungen und Erlasse um die Bestimmungen aus dem Arbeitsstättenrecht, Gewerberecht, Immissionsschutzrecht, Abwasserrecht und vielleicht auch noch Lebensmittelrecht, wenn es sich um jenen Bäckermeister handelt, der künftig schon morgens um vier Uhr seinem 17jährigen Lehrling in der Backstube zeigt, wie die Brötchen gebacken werden.Es ist zu begrüßen, daß der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau in Zusammenarbeit und Abstimmung unter den beteiligten Bundesressorts eine strenge Kriterienliste für die Überprüfung von Normenanträgen und Normenentwürfen erarbeitet hat, um in neuen, vereinfachten Beteiligungs- und Abstimmungsverfahren eine einheitliche Haltung der Bundesregierung gegenüber dem DIN und anderen regelsetzenden Stellen zu gewährleisten.Hierzu war und ist erforderlich, die Vertretung der Normenanwender in den Lenkungsgremien nachhaltig zu verbessern — auch der Architekten, Herr Conradi —, um den oft verlorengegangenen Bezug zur Praxis zurückzugewinnen. Als leidgeprüfter sogenannter Normenanwender oder „Normenverfolgter" könnte ich davon ein Lied singen, aber Singen ist im Bundestag nicht oder noch nicht üblich.Insgesamt ist aber eine erfreuliche Tendenz festzustellen.
— Ich habe nur noch wenige Minuten. Leider nicht.Ein Umdenken bei der Setzung neuer technischer Regeln ergibt sich aus dem Rückgang der Zahl der Anträge und der Ablehnung etwa der Hälfte der eingegangenen Anträge auf neue Normen.Auch hier gibt es Erfolgsmeldungen, Herr Kollege Schmitt und Herr Kollege Conradi, wie z. B. die Ablehnung des Antrages, Haustüren unter Berücksichtigung sicherheitstechnischer Belange und Anforderungen für den Schallschutz zu normen, weil sich dieses Vorhaben überflüssig und baukostensteigernd ausgewirkt hätte. Auch sollte — um ein weiteres Beispiel zu nennen — der Normenentwurf über Rauchschutztüren abgelehnt werden, weil seit gut zwei Jahrzehnten Brandschutztüren in bewährten Konstruktionsarten in Geschosse mit mehr als vier Wohnungen aus Gründen der Begrenzung der Rauchgasausbreitung im Brandfall eingebaut werden.Meine Damen und Herren, Sie sehen, daß es hier ein weites Betätigungsfeld zur Erzielung echter Erfolgserlebnisse bei der Entbürokratisierung und Entnormierung gibt. Deshalb heißt es auch im Bulletin der Bundesregierung, Nr. 110, Sonderausgabe vom 2. Oktober 1984, zum Thema Entbürokratisierung:Die Bundesregierung will die Bürger von überflüssigen oder vermeidbaren Vorschriften befreien, um den Handlungsspielraum des einzelnen möglichst weit zu fassen. Die Bundesregierung hat deshalb alle Mitbürger aufgefordert, überflüssige Vorschriften mit aufzuspüren und beseitigen zu helfen.Meine Damen und Herren, dieser Aufforderung möchte auch ich als Bürger und praktizierender Handwerksmeister nachkommen und abschließend auf Bestrebungen hinweisen, die weder zur Entbürokratisierung passen noch mit marktwirtschaftlichen Grundsätzen vereinbar sind. Ich meine die erneuten Bemühungen des RAL — vormals „Reichsausschuß für Lieferbedingungen e. V."; heute „Deutsches Institut für Gütesicherung und Kennzeichnung e. V." — mit dem Anspruch, ein Monopol auf Gütesicherung durch einen — man höre und staune — Staatsvertrag mit der Bundesregierung zu erreichen. Wenn ein solcher Staatsvertrag zwischen dem RAL und der Bundesregierung, vertreten durch den Bundesminister für Wirtschaft, zustande käme, ergäben sich für den Baubereich nicht nur eine ungeheure Wettbewerbsverzerrung, sondern auch eine erhebliche Verteuerung aller Bauleistungen und eine weitere Überbürokratisierung der Bauwirtschaft. Es würden auf die insgesamt 19 000 Normen noch 19 000 RAL-Gütebestimmungen aufgesattelt.Damit es keinen Zweifel gibt: Nichts gegen Güte und Gütesicherung; aber das geht auch ohne Staatsvertrag mit dem RAL und ohne öffentliche Mittel aus dem Bundeshaushalt.Leider fehlt im Rahmen meines Kurzbeitrages die Zeit, die verheerenden Folgen einer Monopolverwaltung der Gütesicherung durch RAL ausführlich darzustellen.Der jetzt wieder angestrebte RAL-Vertrag ist aber nicht ohne Grund Ende Juni 1983 vom damali-
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Rufgen Bundesminister für Wirtschaft im Interesse einer „Beruhigung der Atmosphäre" im deutsch-französischen Verhältnis nicht weiter verfolgt worden. Dabei sollte es bleiben. Wir brauchen nicht mehr, sondern weniger Bürokratie und erst recht keinen gütegesicherten bürokratischen Wasserkopf. Schon Parkinson — und dies ist auch eine Antwort an Herrn Sperling — sagte zutreffend: „Bürokratie ist für die Gesellschaft wie ein geblähter Bauch für den einzelnen, nur nicht so leicht zu beheben."Der Abschnitt „Entbürokratisierung" im genannten Bulletin vom 2. Oktober 1984 schließt mit der Feststellung:Die Bundesregierung will in Abstimmung mit den Ländern und Gemeinden so den Bürgern und der Wirtschaft beim Bauen wieder mehr Freiräume zu eigenverantwortlichem Handeln verschaffen und auf bürgernahe Verwaltungsentscheidungen hinwirken.Es gibt also noch viel zu tun. Packen wir es an und beginnen wir mit der Verabschiedung der Novelle des Städtebauförderungsgesetzes.Ich danke Ihnen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung.
Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das erste war die Mehrheit. Die aufgerufenen Vorschriften sind damit angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Gegenstimmen der SPD und der GRÜNEN ist das Gesetz mit Mehrheit angenommen.
Ich habe noch eine Mitteilung zum weiteren Verlauf der heutigen Plenarsitzung zu machen. Auf Grund einer interfraktionellen Vereinbarung sollen die heute noch zu beratenden Tagesordnungspunkte nach der Fragestunde in folgender Reihenfolge aufgerufen werden: Tagesordnungspunkte 14, 15 und 16; Tagesordnungszusatzpunkte 5 und 6; Tagesordnungspunkte 9, 10, 11, 12, 13, 17 und 18.
Wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die unterbrochene Sitzung, und zwar mit der
Fragestunde
— Drucksache 10/2051 —
Zuerst haben wir eine Dringliche Frage, die den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten betrifft. Es ist die Frage des Herrn Abgeordneten Eigen:
Wie wirkt sich nach Meinung der Bundesregierung die EG-Verordnung 2677/84 vom 20. September 1984 — die Intervention von Getreide zum vom Ministerrat für das Wirtschaftsjahr 1984/85 beschlossenen Preis auf 2,5 Mio. t zu begrenzen, den Zuckerpreis um 3,8 v. H. zu senken und das Zahlungsziel für Raps auf 120 Tage festzusetzen — auf dem Markt für diese Produkte aus, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den Zusammenbruch der Märkte zu verhindern?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. von Geldern zur Verfügung. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie sind dran.
Herr Kollege Eigen, auf Grund der Verordnung der Kommission der Europäischen Gemeinschaft werden die Rübenbauern von den Zuckerfabriken für die angelieferten Zuckerrüben 3,8 % weniger Rübengeld erhalten. Dies wird über die fünfprozentige Mehrwertsteuerregelung ausgeglichen. Die Auswirkungen auf die Marktpreise für Weißzucker lassen sich im Moment noch nicht vollständig übersehen. Ein Zusammenbruch des Zuckermarktes ist — wegen der im Grundsatz unveränderten Marktordnungsinstrumentarien — nicht zu befürchten.Die Festlegung des Zahlungsziels für Raps, die nicht in der von Ihnen zitierten Verordnung enthalten ist, durch die zuständige EG-Kommission gilt für die gesamte Gemeinschaft und ist erlassen worden, nachdem entsprechende Regelungen bereits für Getreide, Milch, Fleisch und Olivenöl ergangen waren. Das Zahlungsziel hat einen leichten Rückgang des Marktpreises für Raps in der gesamten Gemeinschaft zur Folge.Wegen der großen Getreideernte dieses Jahres in der Bundesrepublik Deutschland und in der Gemeinschaft haben sich in der Bundesrepublik die Marktpreise für Weizen bisher leicht unterhalb des Interventionspreises bewegt, die Preise für Gerste etwas stärker darunter, bei beiden Getreidearten allerdings nicht so stark wie in anderen Mitgliedstaaten.Die sich auf Grund der Verordnung der Kommission in der Bundesrepublik ergebenden Getreideinterventionen zum höheren Preis sind größer, als sie jemals in der Vergangenheit gewesen sind. Es wird sich deshalb im Markt ein Mischpreis bilden, der voraussichtlich etwas unter dem jetzt noch geltenden Interventionspreis liegt. Die Erzeuger haben auf den fünfprozentigen Mehrwertsteuerausgleich einen gesetzlichen Anspruch. Bei Händlern, Genossenschaften und Verarbeitungsbetrieben, die größere Mengen Getreide zum bisherigen Preis gekauft hatten, können zum Teil gewisse Wertminderungen des Bestandes eintreten. Ein Zusammenbruch des Getreidemarkts ist nicht zu befürchten,
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Parl. Staatssekretär Dr. von Geldernda zum neuen Interventionspreis die Intervention jederzeit möglich ist.Die Bundesregierung prüft zur Zeit, wegen der Verordnung der Kommission den Europäischen Gerichtshof anzurufen. Angesichts der angespannten Finanzlage sieht sie keine Möglichkeit, aus dem Bundeshaushalt über den Mehrwertsteuerausgleich hinaus im gleichen Zusammenhang weitere Mittel zur Verfügung zu stellen.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Eigen. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, empfinden Sie es nicht auch als Vertrauensbruch gegenüber der Landwirtschaft, dem Landhandel und den Genossenschaften, die jetzt die Ware im Lager haben, daß die Kommission keine Preisbruchvergütung durchführt, wie es der Ministerrat im März 1984 vorgesehen und ermöglicht hat, sondern mit restriktiven Interventionsmaßnahmen bis zu 2,5 Millionen Tonnen den Getreidemarkt in der Tat gefährdet? Was gefährdet ist oder nicht, sagt ja der Marktpartner. Wenn die aufnehmende Hand z. B. 2 DM oder 2,50 DM verliert, bedeutet das für den Marktpartner, daß der Preis zusammengebrochen ist. Ich frage also: Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß in solcher Situation, wo sich die Kommission europaschädlich verhält, die Bundesregierung eingreifen muß, um nicht aus nationalen Haushaltsmitteln, sondern aus den Mitteln, die für den Nachtragshaushalt der Europäischen Gemeinschaft vorgesehen sein werden, die Preisbruchvergütung durchzuführen und die Kosten dafür der Kommission anzulasten?
Herr Kollege Eigen, auch Sie sind darauf hinzuweisen, daß Fragen kurz zu gestalten sind.
Herr Staatssekretär, ich bitte um die Antwort.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, ich bin mit Ihnen der Meinung, daß diese Maßnahmen der Kommission der Europäischen Gemeinschaft dem Beschluß des Ministerrats vom 31. März nicht entspricht und nicht gerecht wird. Das ist der Grund dafür, daß ich gerade erklärt habe, daß die Bundesregierung die Möglichkeit prüft, wegen dieser Verordnung der Kommission den Europäischen Gerichtshof anzurufen.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Eigen.
Hat die Kommission gewußt, daß wegen der unterschiedlichen Zinshöhen in Dänemark, Frankreich und Deutschland auch noch zusätzlich Getreide aus Dänemark und Frankreich in die Bundesrepublik Deutschland importiert worden ist, wodurch sich eine besondere Situation zeigt und die Marktschwierigkeiten noch größer werden? Haben Sie Kontakt zur Kommission gehabt, und wie konnte sie dennoch trotz all dieser Schwierigkeiten diese Maßnahmen durchführen?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, ich könnte Ihnen eine ganze Chronologie von Vorstößen der Bundesregierung gegenüber der Europäischen Kommission seit dem Ministerratsbeschluß vom 31. März bis zu dieser Entscheidung ausbreiten, bei denen die Bundesregierung die Kommission gedrängt hat, im Sinne des Beschlusses des Ministerrates zu verfahren. Wir haben zunächst die jetzt in der Zuständigkeit der Kommission getroffene Entscheidung hinnehmen müssen, überlegen uns aber die angekündigten rechtlichen Schritte dagegen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
In Anbetracht der Dürftigkeit der Antwort der Bundesregierung, von der man befürchten muß, daß sie nicht auf Grund des bei Dringlichkeitsfragen zur Verfügung stehenden kurzen Zeitraums zur Beantwortung zustande gekommen ist, und in Anbetracht der restriktiven Praxis des Präsidiums bei der Anerkennung von Dringlichkeitsfragen möchte ich fragen, was an dieser Frage eigentlich dringlich ist, außer daß sich Herr Eigen als Funktionär des Bauernverbandes dringlicher Kritik der Bauern zu erwehren hat?
Herr Kollege Gansel, es steht der Regierung frei, zu antworten. Die Frage richtete sich aber mehr an den Präsidenten, nicht an das Präsidium.
Ich werde dazu aber im Präsidium um eine Antwort nachsuchen. Das ist ein Gesprächsthema für das Präsidium.
Ich bitte um Entschuldigung, daß ich diese Form gewählt habe, Herr Präsident.
Jetzt möchte ich gern den Vertreter des Ministeriums fragen, ob er antworten will.
— Meine Damen und Herren, ich bitte dem zuzuhören, was der Vertreter des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten antworten möchte.Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, ich möchte Ihre Frage nicht weiter kommentieren, sondern aus meiner Sicht nur sagen, daß ich Ihr Urteil über die Antwort der Bundesregierung nicht teilen kann. Ich denke, daß wir auf die Frage des Kollegen Eigen einen Überblick über die Marktsituation gegeben haben, der durchaus
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Parl. Staatssekretär Dr. von Geldernfür die betroffene Landwirtschaft, aber auch für das Parlament von aktueller Bedeutung und Interesse ist.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Jannsen.
Herr Staatssekretär, ist davon auszugehen, daß die Bundesregierung ihre EG-Politik im Hinblick auf die starke Stützung industrieller Bereiche auf Kosten der Landwirtschaft und darüber durch Intervention der Steuerzahler, das heißt aller Bürger, überprüfen wird?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jannsen, die Bundesregierung hat gemeinsam mit den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft im Frühjahr dieses Jahres eine einschneidende und wichtige Kurskorrektur der europäischen Agrarpolitik vorgenommen. Ich glaube, daß diese Kurskorrektur die finanzielle Solidität und damit auch die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft stabilisieren hilft und daß sie dringend geboten war, so daß ich die in Ihrer Frage liegende Unterstellung, eine Korrektur sei nicht erfolgt und müsse erst noch kommen, nicht unterstützen kann. Ich glaube, daß mit den Beschlüssen vom März dieses Jahres der notwendige Wechsel in der Agrarpolitik eingeleitet worden ist.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stockhausen.
Herr Staatssekretär, sieht sich die Bundesregierung, da j a im März eine Preisbruchvergütung in Aussicht gestellt worden war und da beschlossen ist, zur Restfinanzierung der EG 650 Millionen DM zur Verfügung zu stellen, in der Lage, von diesem Betrag einen Teil einzubehalten, um die Kommission einmal deutlich darauf hinzuweisen, daß wir auch Zahler sind und nicht nur Empfänger?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stockhausen, ich habe darauf hingewiesen, daß wir die rechtlichen Möglichkeiten gegen diese für falsch gehaltene Entscheidung der Kommission prüfen und entschlossen sind, sie auszuschöpfen. Aber ein rechtswidriges Verhalten der Bundesregierung gegenüber der Europäischen Gemeinschaft kommt sicher nicht in Frage.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Becker .
Herr Staatssekretär, am Schluß dieser Dringlichkeitsfrage heißt es: „... was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den Zusammenbruch der Märkte zu verhindern?". Ist das im Zusammenhang mit dem zu sehen, was in Schlagzeilen der Zeitungen — „Tumulte in den Dörfern werden kommen", „Die Stimmung der Bauern gegen Kiechle ist revolutionär" — steht?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Becker, Herr Kollege Eigen hat nach der Marktsituation gefragt und in seiner Frage von einem befürchteten Zusammenbruch der Märkte gesprochen. Ich habe in der Antwort darauf hingewiesen, daß wir einen solchen Zusammenbruch nicht befürchten, und habe das im einzelnen begründet.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Weyel.
Herr Staatssekretär, haben Sie nicht den Eindruck, daß diese Frage nach einzelnen Produkten, die im Zusammenhang mit den Verhandlungen der europäischen Gremien steht, deutlich macht, daß es offensichtlich eine Lücke gibt in der Darstellung der Gesamtproblematik der Lage der deutschen Landwirtschaft im Zusammenhang mit den veränderten EG-Bedingungen?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich habe den Eindruck, daß der Kollege Eigen mit seiner Dringlichen Frage in sachgerechter Weise nach der Situation bestimmter agrarischer Produkte gefragt hat. Es erscheint sinnvoll und richtig, das im einzelnen nüchtern und sachlich zu behandeln und zu beurteilen.
Das war die Behandlung der Dringlichkeitsfrage. Ich danke dem Parlamentarischen Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Staatsminister Vogel zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Schwenninger auf:
Kann die Bundesregierung den Inhalt des Berichts der Mainzer „Allgemeinen Zeitung" vom 24. Juli 1984 bestätigen, daß der Staatsminister im Bundeskanzleramt Vogel während eines offiziell als Urlaubsreise deklarierten Aufenthalts in Namibia für den Bundeskanzler sondiert hat und dort mit führenden Politikern von internen Parteien sowie dem südafrikanischen Generaladministrator zusammengetroffen ist?
Herr Staatsminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Schwenninger, Ihre Frage beantworte ich mit nein.
Das war kurz, aber bündig.
Sie haben eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schwenninger.
Wie kann die Bundesregierung glaubhaft versichern, daß es sich um eine private Urlaubsreise gehandelt hat, angesichts der Tatsache, daß Staatsminister Vogel offiziell auf Einladung der südafrikanischen Armee die Front im Norden Namibias besucht und dort mit vielen wichtigen Persönlichkeiten gesprochen hat, u. a. mit — ich beziehe mich hier auf einen Artikel aus der „Allgemeinen Zeitung" vom 24. Juli 1984 — van
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Schwenninger
Nieukerk, mit einem Repräsentanten der SWAPO-Democratic, mit einem Vertreter der Swanu und mit Herrn Matjila von der Caprivi-Partei?
Herr Abgeordneter Schwenninger, ich darf Sie unterbrechen. Sie müssen zum Fragezeichen kommen.
Wollen Sie angesichts dieser Tatsache immer noch Ihre Version aufrechterhalten?
Vogel, Staatsminister: Herr Kollege Schwenninger, Sie gehen in Ihrer Frage davon aus, daß ich eine als Urlaubsreise getarnte Reise im Auftrage des Bundeskanzlers durchgeführt und im Rahmen einer solchen Reise im Auftrage des Bundeskanzlers Gespräche geführt hätte. Da ich eine solche Reise nicht durchgeführt habe, können auch derartige Gespräche im Rahmen einer solchen Reise nicht durchgeführt worden sein. Ich habe Ihnen bereits im August mitgeteilt, daß ich eine private Urlaubsreise durchgeführt habe. Ich lege größten Wert darauf, daß eine Urlaubsreise, die ich privat durchführe, auch eine Privatreise ist.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schwenninger.
Dann frage ich ganz konkret: Wer hat diese Reise bezahlt? Haben Sie sie mit eigenen Mitteln bezahlt? Daran kann man ja erkennen, ob es eine offizielle oder eine private Reise war.
Vogel, Staatsminister: Ich habe Ihnen, Herr Kollege, bereits am 23. August 1984 mitgeteilt, daß ich diese Reise privat finanziert habe.
Zusatzfrage des Abgeordneten Toetemeyer.
Herr Staatsminister, würden Sie bestreiten wollen, daß Sie innerhalb dieser privaten Urlaubsreise Gespräche mit Politikern in Namibia darüber geführt haben, ob es möglich sei, bestimmte Entwicklungshilfeprojekte in Namibia durchzuführen?
Vogel, Staatsminister: Herr Kollege, im Rahmen einer Privatreise spreche ich, mit wem ich will, und über solche Gespräche berichte ich, wem ich berichten will. Dies ist keine Angelegenheit der Bundesregierung.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Jannsen.
Herr Staatsminister, darf ich das so interpretieren, daß Sie auch nicht bereit sind, Aussagen dazu zu machen, ob Sie über den Bezug von Uran aus Namibia geredet haben?
Vogel, Staatsminister: Ich kann Ihrer Phantasie keine Grenzen setzen, Herr Kollege; aber mich überrascht die Frage sehr.
Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Herr Staatsminister, ist Ihre Antwort so zu verstehen, daß, nachdem bekannt ist, daß der Bundeskanzler nicht weiß, was seine Spitzenbeamten im Bundeskanzleramt während der Dienstzeit tun, er nun auch nicht weiß, was sie in ihrem Urlaub anstellen?
Vogel, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube, daß die Frage so polemisch gestellt war, daß sich jede Antwort darauf erübrigt.
Wir sind am Ende des Geschäftsbereichs des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts. Ich danke Herrn Staatsminister Vogel für die Beantwortung der Frage.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung zum zweitenmal in dieser Woche auf.
Die beiden Fragen 51 und 52 des Herrn Abgeordneten Heyenn sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 53 des Herrn Abgeordneten Wiefel auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß Soldaten der Luftwaffe, die zur Tiefflug-Ausbildung nach Goose Bay/Kanada kommandiert werden, über die hohen Lebenshaltungskosten und Kaufpreise klagen, die dort auf Grund der extremen geographischen Lage herrschen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Kollege Wiefel, ich antworte mit Ja. Der Bundesregierung ist bekannt, daß die Soldaten die derzeitige Aufwandsvergütung von täglich 11 DM für unzureichend halten und eine Anhebung anstreben. Die Bundesregierung versteht, begrüßt und unterstützt deshalb die Bemühungen z. B. der Arbeitsgruppe „Verteidigung" der Unionsfraktionen — diese übrigens für Goose Bay und Shiloh — sowie auch Ihre Bemühungen und die anderer Kollegen, eine Verbesserung für unsere Soldaten zu erreichen. Wir sind in der vorgeschriebenen Form interministeriell kurz vor dem erfolgreichen Abschluß in dieser Richtung.
Keine Zusatzfrage. Dann rufe ich die Frage 54 des Herrn Abgeordneten Wiefel auf:
Ist die Bundesregierung bereit, den nach Goose Bay/Kanada kommandierten Luftwaffensoldaten diese hohen Lebenshaltungskosten bzw. den Kaufkraftverlust durch eine angemessene Erhöhung der Auslandsaufwandsentschädigung auszugleichen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Wiefel, auch hier antworte ich mit Ja, mache jedoch darauf aufmerksam, daß wir dies nicht, wie Sie in Ihrer Klammer gesagt haben, durch eine Änderung der Ländergruppenzuordnung anstreben — dies be-
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Parl. Staatssekretär Würzbach
dürfte eines sehr komplizierten auch gesetzgeberischen Verfahrens, Herr Kollege —, sondern daß wir den Weg der Anhebung der Aufwandsvergütung, der einfacher zu beschreiten ist, wählen wollen.
Haben Sie dazu eine Zusatzfrage? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Wiefel.
Herr Staatssekretär, ich darf davon ausgehen, daß Sie als Mitglied des Verteidigungsausschusses oder in Ihrer jetzigen Tätigkeit viele militärische Auslandsdienststellen besucht haben, die ich nun keineswegs gegeneinander ausspielen will.
Herr Abgeordneter Wiefel, irgendwann muß das Fragezeichen kommen.
Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß unter allen diesen Dienststellen Goose Bay eine Sonderstellung einnimmt? Wäre Ihr Haus bereit, das zu berücksichtigen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Wiefel, im Unterschied zu manchen unserer Kollegen habe ich in den zurückliegenden zwei Jahren in dieser Funktion Dienststellen in Übersee noch nicht besuchen können. Aber ich stimme Ihnen aus Kenntnis der Akten und nach vielen Gesprächen mit Kollegen, die dort waren, und mit Soldaten, die mit ihren Männern dort geübt haben, zu, daß eine Anhebung um etwa 5 DM für Shiloh und möglichst dieselbe Summe — 2 DM haben wir bisher in den Gesprächen erreicht — für Goose Bay erforderlich ist.
Ich füge auf Ihre Frage hinzu: Leider ist dies am 1. Januar 1982 durch das Ministerium reduziert worden. Wir wollen gemeinsam den alten Zustand durch eine Anhebung auf 16 DM wiederherstellen.
Die Frage 55 des Herrn Abgeordneten Dr. Kübler ist zur schriftlichen Beantwortung vorgesehen. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 56 des Herrn Abgeordneten Weisskirchen . Ich sehe den Abgeordneten nicht im Saal. Dann wird die Frage so wie in der Geschäftsordnung vorgesehen behandelt. Das gilt auch für Frage 57 desselben Fragestellers. *)
Ich rufe die Frage 58 des Herrn Abgeordneten Hettling auf:
Auf welcher gesetzlichen Grundlage kann das Schiff der Bundesmarine Y 857 am 20. August 1984 auf der internationalen Seewasserstraße Fehmarnsund—Kiel außerhalb der deutschen Hoheitsgewässer andere Schiffe auffordern, diese Seewasserstraße zu verlassen und parallel dazu zwei Seemeilen nördlicher zu fahren, weil in einem Schießgebiet, das südlich der Seewasserstraße liegt, scharf geschossen wird?
Bitte schön, Herr Staatssekretär. *) siehe Seite 6463 B
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, am 20. August hat das Sicherungsboot des Truppenübungsplatzes Todendorf mit dem Kennzeichen Y 857, das übrigens über eine ausschließlich zivile Besatzung verfügt, an der Nordostgrenze des Warngebiets Todendorf im Bereich der hohen See, der Ostsee, fünf deutsche Sportboote — vier Segeljachten und ein Motorboot — aufgefordert, wegen der militärischen Schießübungen im dortigen Seegebiet den Kurs nördlich, seewärts des genannten Schiffahrtsweges zu nehmen.
Durch diese Maßnahme sollte sowohl — der Übungsbetrieb ungestört fortgeführt werden, als auch Gefährdungen der Besatzung und ihrer Boote verhindert werden. Bei dem betreffenden Seegebiet — es handelt sich um die Hohwachter Bucht in der Ostsee — sind Warngebiete mit den Namen Putlos und Todendorf, durch Rechtsverordnung der Wasser- und Schiffahrtsdirektion seit 1953 eingerichtet. Diese sind im entsprechenden Bundesanzeiger zuletzt im Jahre 1984 veröffentlicht. Die Maßnahme des Schifführers des Sicherungsbootes diente dem Hinweis auf die Rechtslage und der Abwehr von Gefahren für unbeteiligte Dritte.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hettling.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie nicht mit mir überein, daß Sie die Frage insoweit nicht beantwortet haben, als das hier bezeichnete Gebiet — der Tonnenweg Fehmarnsund-Kiel — eine internationale Seewasserstraße ist und die Bundesmarine dort keine Hoheitsrechte hat?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich stimme dem deshalb nicht zu, weil auf der hohen See sowohl die internationale freie Schiffahrt, wie aber auch militärische Übungen durchgeführt werden können.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Hettling.
Auf welcher internationalen gesetzlichen Grundlage beruht das Eingreifen des bezeichneten Bootes der Bundesmarine?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich habe das, wie ich meine, auf Ihre Frage sehr ausführlich beantwortet. Ich sage Ihnen noch einmal genauer, wo die letzte Fassung — datiert vom 4. Mai 1984 — veröffentlicht ist. Es ist der Bundesanzeiger Nr. 96 vom 22. Mai und dort die Seite 4837.
Wir kommen zur weiteren Frage des Abgeordneten Hettling, zur Frage 59:Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, damit Schiffe der Bundesmarine in Zukunft nicht mehr den Verkehr auf internationalen Seewasserstraßen behindern und damit internationale Bestimmungen verletzen?Bitte schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.Würzbach, Parl. Staatssekretär: Die Freiheit der Schiffahrt auf der hohen See beinhaltet neben dem Befahren auch eine militärische Nutzung zu Übungszwecken, und zwar bei uns wie bei allen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6463
Parl. Staatssekretär Würzbachanderen Küstenanrainern. Kurzfristige militärische Übungen lassen den Grundsatz der Freiheit der hohen See unberührt. Durch die bezeichnete Übungstätigkeit der Streitkräfte werden internationale Bestimmungen — wie sich aus der Antwort zu Ihrer vorangegangenen Frage ergibt — nicht verletzt.
Keine weitere Zusatzfrage. Wir kommen zu Frage 60 der Abgeordneten Frau Nickels:
Treffen Presseberichte zu, daß bei den gegenwärtigen Herbstmanövern im Rahmen einer Übung im süddeutschen Raum Schiedsrichter und ausgesuchtes Fachpersonal mit scharfer Munition ausgerüstet wurde, und welche Begründung vermag die Bundesregierung dafür anzugeben?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Außerhalb von militärischen Sicherheitsbereichen werden alle besonders schutzbedürftigen Güter der Bundeswehr bewacht. Zu den besonders schutzbedürftigen Gütern zählen u. a. Waffen, Kampffahrzeuge, Munition, Sprengmittel und auch Verschlußsachen ab einem bestimmten Geheimhaltungsgrad. Ausgewählte Soldaten, denen Sicherheitsaufgaben im Ausbildungsdienst übertragen werden — also Soldaten, die andere daran ausbilden —, sind im Regelfall Zugführer oder haben eine vergleichbare Dienststellung, d. h. sie verfügen auch über gute Erfahrung. Sie werden, wie auch die anderen Wachsoldaten, mit Handfeuerwaffen und Munition ausgestattet. Um bei Gefechtsübungen — besonders bei denen mit zwei Parteien, bei denen mit Manövermunition geschossen wird — jede Verwechslung auszuschließen, werden Soldaten des Leitungs- und des Schiedsrichterdienstes diese Sicherheitsaufgaben übernehmen.
Frau Nickels, keine Zusatzfrage? — Dann sollten wir darin übereinstimmen, daß wir dem eilig zu uns gekommenen Abgeordneten Weisskirchen doch noch die Chance der mündlichen Beantwortung geben. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, blättern Sie doch noch einmal zurück.
Ich rufe Frage 56 des Abgeordneten Weisskirchen auf:
Treffen Meldungen der Stuttgarter Nachrichten vom 18. September 1984 zu, daß die Panzertruppe der türkischen Armee mit deutschen Leopardpanzern modernisiert wird?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Im Rahmen der vom Deutschen Bundestag genehmigten Rüstungssonderhilfe, die von 1980 bis 1983 durchgeführt wurde — sie ist abgeschlossen —, hat die Türkei 77 Kampfpanzer Leopard 1 A3 und vier Bergepanzer erhalten. Es ist der Bundesregierung bekannt, daß die Türkei an einer Beschaffung weiterer Kampfpanzer Leopard 1 A3 interessiert ist und Gespräche darüber mit der deutschen Industrie führt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Weisskirchen.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie die Freundlichkeit haben, meine Frage doch noch zu beantworten, möchte ich Sie fragen, Herr Staatssekretär, wie sich die Bundesregierung zu diesem Interesse der Türkei stellt.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung sagt hierzu sehr eindeutig — aus Kenntnis der Kräftesituation im Vergleich dessen, was konventionell der Türkei gegenübersteht —, daß dies für die Südostflanke der NATO nicht nur eine gute, sondern eine dringend notwendige konventionelle Verstärkung der dortigen Region wäre. Nur — Ihre zweite Frage gibt hierauf die Antwort — sieht sich die Bundesregierung nicht in der Lage, durch ein Aufstocken oder durch Verschiebung im Haushalt aus der Militärhilfe eine zusätzliche Zahl von weiteren Panzern im Augenblick von uns aus zu finanzieren.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Gansel.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß es sich bei der Modernisierung der türkischen Panzerwaffe um die Einführung des Typs Leo 2 handelt, und können Sie ausschließen, daß die Bundesregierung erwägt, ein solches Panzergeschäft mit Hermes-Bürgschaften abzusichern?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich habe dies in meiner Frage soeben ausreichend und klar, auch bezogen auf den Typ, Herr Kollege, beantwortet.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schwenninger.
Handelt es sich denn bei der Türkei nicht um ein Spannungsgebiet, wohin deutsche Waffenlieferungen nicht getätigt werden dürfen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin ganz sicher, daß Ihnen, wenn Sie wollen, die einfachsten Informationen darüber ohne große Komplikationen zugänglich sind, aus denen Sie ersehen können, daß die Türkei Mitglied in der NATO ist.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Peter.
Herr Staatssekretär, in Anbetracht der Kennzeichnung Ihrer Antwort als ausreichend und klar: darf ich das so verstehen, daß Sie Leo 2 gesagt haben?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn Sie im Protokoll nachlesen werden, werden Sie sehen, daß ich über den Leo 1 A3 geredet habe.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Stockhausen.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir nochmals bestätigen, daß die Verpflichtung zur Lieferung von Leopard-Panzern vom Jahr 1980 stammt und die jetzige Bundesregierung die Verpflichtungen von damals erfüllt?
6464 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Dies ist korrekt.
Ich rufe die Frage 57 des Herrn Abgeordneten Weisskirchen auf:
Trifft es zu, daß in der Bundesregierung Überlegungen angestellt werden, wie durch ein Lieferprogramm von Leopardpanzern für die türkische Armee eine Auslastung der Panzer-Produktion erreicht werden kann?
Herr Staatssekretär, bitte.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn Sie einverstanden sind, verweise ich auf die vorweggenommene Antwort, die sich aus Ihrer ersten Zusatzfrage ergab. Ich habe bereits gesagt, daß wir im Augenblick keine finanziellen Mittel sehen, um hier den Türken, wie sie es wünschen, im Augenblick helfen zu können.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Weisskirchen.
Würden Sie, Herr Staatssekretär, so freundlich sein und schriftlich erklären oder erklären lassen, in welcher Art und Weise sich die Bundesregierung die weitere militärpolitische Zusammenarbeit — das sage ich mal in Anführungsstrichen — im Blick auf einige wichtige Systeme, z. B. Panzerwaffensysteme, mit der Türkei vorstellt?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Auf entsprechende Fragen werden wir Ihnen mündlich, oder, wenn Sie wollen, schriftlich antworten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Gansel.
Hat die Bundesregierung Meldungen der türkischen Presse zur Kenntnis genommen oder ist sie bereit, auf diese Meldungen mit einem klaren Dementi zu antworten, daß mit der Modernisierung der türkischen Panzerwaffe der Türkei auch das Know how für Panzerproduktion verschafft werden soll, um einen Weiterexport in Länder des Nahen Osten, insbesondere nach Saudi-Arabien, zu ermöglichen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung nimmt Pressemeldungen über Vorgänge in der ganzen Welt interessiert zur Kenntnis, aber sie sieht überhaupt keinen Anlaß — im Gegenteil, es wäre ein Fehler —, auf Pressemeldungen hin nun mit irgendwelchen Bestätigungen, Erklärungen oder, wie Sie sagen, Dementis tätig zu werden.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers der Verteidigung. Ich bedanke mich bei dem Parlamentarischen Staatssekretär Würzbach für die Antworten.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Möllemann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 12 des Herrn Abgeordneten von der Wiesche auf:
Wann gedenkt die Bundesregierung, die Zusatzprotokolle I und II zu den Genfer Rotkreuzabkommen vom 12. August 1949, die die Bundesrepublik Deutschland am 10. Juni 1977 paraphiert hat, zu ratifizieren?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Herr Kollege, die Bundesrepublik Deutschland hat an der Ausarbeitung der beiden Zusatzprotokolle von 1977 zu den Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte aktiv mitgewirkt und hat diese am 23. Dezember 1977 — kurz nachdem sie zur Zeichnung aufgelegt worden waren — gezeichnet.
Bei den mit der Ratifizierung zusammenhängenden Fragen kommt für die Bundesrepublik Deutschland als Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses und als Staat, auf dessen Territorium Truppen anderer Bündnispartner stationiert sind, der rechtlichen und politischen Abstimmung mit den Bündnispartnern besondere Bedeutung zu. Die entsprechenden Konsultationen mit dem Ziel, innerhalb des Bündnisses zu möglichst einheitlichen Interpretationen hinsichtlich der Bestimmungen der Zusatzprotokolle zu gelangen, konnten im vergangenen Jahr im wesentlichen zu einem Abschluß gebracht werden.
Die Ratifikation der Zusatzprotokolle wird derzeit vorbereitet. Hinsichtlich der zeitlichen Planung hat die Bundesregierung vor dem Deutschen Bundestag wiederholt ihre Absicht bekräftigt, die Zusatzprotokolle noch in dieser Legislaturperiode dem Parlament zur Zustimmung zuzuleiten. Wie ich bereits am 26. Januar 1984 im Bundestag erklärt habe, bemüht sich die Bundesregierung, das Ratifikationsverfahren noch im Laufe dieses Jahres einzuleiten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten von der Wiesche.
Herr Staatsminister, können Sie mir sagen, wie denn zur Zeit die rechtliche Situation möglicher Opfer in der Bundesrepublik und vor allen Dingen bei den Organisationen, die im Falle von Konflikten sowohl nationaler als auch internationaler Art eingesetzt werden, aussieht?
Möllemann, Staatssminister: Herr Kollege, Ihnen die gesamte Rechtslage entsprechend den internationalen Vereinbarungen hier in einer Antwort auf eine Frage darzustellen ist unmöglich. Ich stelle Ihnen gerne das entsprechende Material zur Verfügung.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Verheugen.
Herr Staatsminister, hält die Bundesregierung an ihrer Absicht fest, die Ratifizierung des Zusatzprotokolls I mit der Abgabe einer Nuklearerklärung zu verbinden, mit der praktisch
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6465
Verheugendie Wirkung dieses Zusatzprotokolls für Nuklearwaffen ausgeschlossen wird?Möllemann, Staatsminister: Diese Frage ist auf Regierungsseite zu entscheiden, was Voraussetzung für den Ratifizierungsprozeß ist. Sie ist noch nichtentschieden.
Danke schön.
Wir kommen zur Frage 13 des Abgeordneten Grunenberg, der nicht im Saal ist. Somit werden diese Frage und die Frage 14 des Abgeordneten Grunenberg entsprechend der Geschäftsordnung behandelt.
Wir kommen zur Frage 15 des Abgeordneten Gansel:
In welcher Weise hat die Bundesregierung im derzeitigen Vorsitz im Ministerrat der WEU der Empfehlung der WEU-Versammlung vom 19. Juni 1984 entsprochen, das Rüstungskontrollamt der WEU zu beauftragen, Erklärungen der Mitgliedstaaten zu überprüfen, demzufolge sie die kriegsführenden Staaten im Golfkrieg weder direkt noch indirekt mit chemischen Waffen versorgt haben?
Bitte schön.
Möllemann, Staatsminister: Herr Präsident, ich möchte den Kollegen Gansel bitten, damit einverstanden zu sein, daß ich seine beiden Fragen im Zusammenhang beantworte.
Sind Sie einverstanden?
Wer kann Herrn Möllemann in dieser Situation eine Bitte abschlagen?
Möllemann, Staatsminister: Vielen Dank, Herr Kollege.
Dann rufe ich zusätzlich die Frage 16 des Abgeordneten Gansel auf:
Hat sich die Tätigkeit des Rüstungskontrollamtes der WEU hinsichtlich der Kontrolle von Entwicklung und Produktion von Fertigungsanlagen von Stoffen und Gegenständen, die zur chemischen Kriegsführung geeignet sind, bewährt, und wie beurteilt die Bundesregierung auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen Behauptungen, sie habe durch die Genehmigung bestimmter Verkäufe an den Irak die Voraussetzung für den Einsatz chemischer Waffen im Golfkrieg geschaffen?
Herr Staatsminister.
Möllemann, Staatsminister: Ich möchte auf Ihre Fragen wie folgt antworten:
Erstens. Die Empfehlung Nr. 403 der WEU-Versammlung ist vom Präsidenten der WEU-Versammlung an den Ständigen Rat der WEU weitergeleitet worden. Sie wird dort zur Zeit nach dem unter den sieben WEU-Partnern und mit der WEU-Versammlung vereinbarten Verfahren beraten. Eine unter den Sieben abgestimmte Antwort wird der WEU-Versammlung zur gegebenen Zeit zugeleitet.
Zweitens. Zur Tätigkeit des Rüstungskontrollamtes der WEU ist zu sagen, daß gemäß dem revidierten Brüsseler Vertrag von 1954 in bezug auf die Herstellung chemischer Waffen nur die Bundesrepublik Deutschland Kontrollen unterworfen ist.
Drittens. Die Bundesregierung hat in keinem Falle die Ausfuhr von chemischen Anlagen oder Ausrüstungen, die möglicherweise für die Herstellung von chemischen Waffen verwendet werden können, genehmigt. Auch hat sie nach Inkrafttreten der 53. Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste und der 56. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung, die eine Genehmigungspflicht für Ausfuhren von — ich zitiere —
Anlagen, Anlagenteilen und sonstigen Ausrüstungsgegenständen, geeignet für die Untersuchung, Herstellung, Verarbeitung oder Erprobung von phosphororganischen Verbindungen, Lost oder anderen hochtoxischen Verbindungen
geschaffen hat, keine derartigen Genehmigungen erteilt.
Vor Erlaß dieser Verordnung, die am 9. August dieses Jahres in Kraft getreten ist, konnte die Ausfuhr chemischer Anlagen nur verhindert werden, wenn sie für die Herstellung von chemischen Waffen „besonders konstruiert" waren. Genehmigungen für die Ausfuhr solcher Güter wurden weder beantragt — —
— Doch; wenn sie für die Herstellung von chemischen Waffen „besonders konstruiert" waren.
— Gern. — Vor Erlaß dieser Verordnung, die am 9. August 1984 in Kraft getreten ist, konnte die Ausfuhr chemischer Anlagen nur verhindert werden, wenn sie für die Herstellung von chemischen Waffen „besonders konstruiert" waren. Genehmigungen für die Ausfuhr solcher Güter wurden weder beantragt, noch wurden sie erteilt. Von einer deutschen Firma in den Irak gelieferte Chemieanlagen wiesen keine solchen Konstruktionsmerkmale auf. Es ist zunächst Sache des Rüstungskontrollamtes, zu entscheiden, ob sich die Kontrollen in der Praxis bewährt haben. Das Rüstungskontrollamt ist frei, dem WEU-Rat Verbesserungsvorschläge vorzulegen. Wir verstehen diese Nichtherstellungskontrollen, denen wir uns als einziges Land unterworfen haben, als einen substantiellen Beitrag zur Rüstungskontrolle. Darüber hinaus setzt sich die Bundesrepublik Deutschland in der Genfer Abrüstungskonferenz für die Erarbeitung eines weltweiten, umfassenden und zuverlässig verifizierbaren Abkommens über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung chemischer Waffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen und Produktionsstätten ein.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Herr Staatsminister, halten Sie es für möglich, daß trotz der Kontrollen des Abrüstungsamtes der WEU und trotz der insofern eindeutigen und zu unterstützenden Haltung der Bundesregierung zur Produktion und zum Einsatz von
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6466 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Ganselchemischen Waffen es Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland möglich ist, Anlagen zu entwickeln, herzustellen und zu exportieren, die im Ausland zur Produktion von chemischen Waffen verwendet werden können?Möllemann, Staatsminister: Der Bundesregierung liegen entsprechende Erkenntnisse nicht vor. Ich darf hinzufügen, Herr Kollege Gansel: Ich habe mich über die Größenordnung des von Ihnen angesprochenen Amtes anläßlich Ihrer Frage erst einmal näher informiert. Das ist ja eine beachtenswert große Institution im Verhältnis zu der Aufgabe, die ihr gestellt ist. Ich bin sehr sicher, daß sie diese Frage bei uns immer wieder mit großer Aufmerksamkeit prüft, da sie in keinem anderen Land diese Prüfung vornimmt. Ich glaube, daß die Testate, die der Bundesrepublik Deutschland bisher ausgestellt worden sind und die Ihre Frage verneinen, sicher begründet sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Herr Minister, teilt die Bundesregierung meine Betroffenheit, daß der Bundesrepublik trotz ihres Verzichtes auf die Produktion von chemischen Waffen von Sprechern der amerikanischen Regierung, auf besonderen Kanälen durch die israelische Regierung und auch durch eine Anzahl Veröffentlichungen in der internationalen und der deutschen Presse der Vorwurf gemacht worden ist, sie habe nicht verhindern können, daß Anlagen in den Irak geliefert worden sind, die zur Herstellung chemischer Waffen verwendet werden können? Teilt sie diese Betroffenheit, und führt sie zu Konsequenzen?
Möllemann, Staatsminister: Wir nehmen das Thema jedenfalls außerordentlich ernst. Denn alle Erklärungen gegen die Herstellung und gegen den Einsatz von chemischen Waffen sowie unsere entsprechenden Selbstverpflichtungen wären j a nicht glaubwürdig, wenn wir nicht solchen Behauptungen nachgingen. Wir haben das aus unserer Sicht Menschenmögliche getan, um entsprechende Vorgänge auszuschließen. Sie können im übrigen die von mir erwähnte Verordnung, die am 9. August in Kraft getreten ist, in diesem Zusammenhang sehen.
Sie haben noch zwei weitere Zusatzfragen, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatsminister, in Anbetracht des Umstandes, daß man akzeptieren muß, daß der Irak auf seiner Souveränität beharrt und Inspektionen durch eine ausländische Regierung auf seinem Grund und Boden nicht akzeptiert, halten Sie es für ausreichend, daß ein Angehöriger der in diesem Zusammenhang genannten Firma Kolb im Irak die Verwendbarkeit der Anlagen zur Produktion chemischer Waffen überprüft?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Gansel, ich würde Sie bitten, auf Grund der Empfindlichkeit dieses Themas einverstanden zu sein, daß ich eine
Unterrichtung des entsprechenden Ausschusses in Aussicht nehme.
Herr Staatsminister, stimmen Sie mit mir darin überein, daß die Problematik ernster zu nehmen ist, als Sie mit Ihren ersten Antworten zu erkennen gegeben haben,
und nehmen Sie das Angebot entgegen, diese Frage im Interesse der unzweideutigen Klarheit nicht nur über den Verzicht, sondern auch über den Ausschluß der Herstellung chemischer Waffen im Auswärtigen Ausschuß noch einmal zu erörtern und möglicherweise im Einverständnis zwischen Opposition und Regierung zu klären? Das ist, glaube ich, keine Sache, die nur Parteienstreit ist, sondern eine, bei der wir Ansehen gutzumachen und Unzweideutigkeit zurückzugewinnen haben.
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Gansel, ich sage noch einmal: Wir nehmen dieses Thema sehr ernst. Vielleicht ist wegen der Länge der Antwort ein wichtiger Satz ein bißchen untergegangen, den ich noch einmal wiederhole, nämlich, daß die Bundesregierung nach Inkrafttreten der 53. Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste und der 56. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung, die eine Genehmigungspflicht für Ausfuhren von — jetzt zitiere ich das wörtlich —
Anlagen, Anlagenteilen und sonstigen Ausrüstungsgegenständen, geeignet für die Untersuchung, Herstellung, Verarbeitung oder Erprobung von phosphororganischen Verbindungen, Lost oder anderen hochtoxischen Verbindungen
geschaffen hat, keine derartigen Genehmigungen erteilt hat. Ich glaube, das ist eine sehr deutliche Aussage.
Wir kommen zu einer Zusatzfrage des Abgeordneten Stutzer.
Herr Staatsminister, können Sie unter Bezugnahme auf den letzten Teil Ihrer ersten Antwort bestätigen, daß die Forderung des freien Westens nach einem Verbot chemischer Waffen an der Haltung der Sowjetunion gescheitert ist?
Möllemann, Staatsminister: Jedenfalls ist die Sowjetunion bislang nicht hinreichend bereit, die für ein solches Abkommen und seine Wirksamkeit unabdingbaren Verifikations-, also Überprüfungsmechanismen auch auf dem eigenen Territorium zu akzeptieren.
Zusatzfrage des Abgeordneten Voigt .
Herr Staatsminister, können Sie mir erläutern, wenn die Bundesregierung so sorgfältig bei diesem ganzen Vorgehen in bezug auf chemische Waffen ist, warum sie die Änderung in der Außenwirtschaftsverordnung, die Sie angesprochen haben, erst vorgenommen hat, nach-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6467
Voigt
dem Abgeordnete aus der SPD-Fraktion, insbesondere die Abgeordneten Klejdzinski und Gansel, hier auf dieses Problem aufmerksam gemacht haben, und können Sie mir erläutern, warum Sie, wenn Sie die WEU-Kontrollen für ausreichend halten, die viel strengeren und anders gearteten Kontrollen, die die Amerikaner im Genfer Ausschuß vorgeschlagen haben, der über chemische Abrüstung verhandelt, unterstützen?Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, zu den beiden Zusatzfragen folgende Anmerkungen.Die von mir angesprochene Veränderung der beiden Verordnungen ist durch diese Bundesregierung vorgenommen worden. Sie hatte diese Verordnungen von der früheren Bundesregierung übernommen und hat — warum sollte sie das auch nicht tun? — dabei auf Anregungen auch aus dem parlamentarischen Raum reagiert. Ich finde, daß man, wenn eine Anregung gut ist, sie nicht deshalb zurückweisen sollte, weil sie von Kollegen der Opposition kommt.Nun zur Frage der Überprüfungsmechanismen. In dem einen Fall handelt es sich j a wohl um ein Vorgehen innerhalb der WEU, im anderen Fall geht es um die Diskussion eines weltweit anzuwendenden Verfahrens; das muß naturgemäß etwas unterschiedlich sein.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Voigt .
Ich frage deshalb nach dem Vergleich WEU und weltweit, weil ich immer wieder von der Bundesregierung höre — und danach möchte ich fragen —, daß sie die WEU-Kontrollen als vorbildlich für weltweite Regelungen darstellt und weltweit als vorbildlich anpreist. Deshalb komme ich zu meiner Frage, warum Sie einerseits dies eine als vorbildlich — angeblich nicht nur für den Bereich der WEU, sondern als Vorbild für die Kontrolle chemischer Waffen — darstellt, und andererseits ganz andere und weit darüber hinausgehende Regelungen der Amerikaner unterstützt. Ich kritisiere die Amerikaner gar nicht. Ich frage nur, ob hier nicht ein innerer Widerspruch besteht. Entweder ist es bei uns unzureichend — die jetzige Situation deutet offenbar darauf hin —, oder die Amerikaner sind überzogen. Wie stehen Sie dazu?
Möllemann, Staatsminister: Die WEU-Bestimmungen sind beispielhaft. Wir wären froh, wenn sich alle schon an diesen Gedanken gewöhnen könnten. Aber nichts ist so gut, daß es nicht verbessert werden könnte; und wenn die von Ihnen in diesem Zusammenhang erneut — wie auch sonst — gelobten Amerikaner eine bessere Regelung vorgeschlagen haben, warum sollten wir sie nicht unterstützen?
Zusatzfrage des Abgeordneten Weisskirchen.
Sind Sie denn bereit, Herr Staatsminister, in dem Zusammenhang, in dem es darum geht, neue bzw. verbesserte rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, beispielsweise durch Veränderung des Außenwirtschaftsrechts, auch darüber nachzudenken, ob man nicht direkte Kontrollen, insbesondere bei der produzierenden Wirtschaft, vornehmen müßte, um die Unebenheiten und Unsicherheiten jedenfalls völlig ausschließen zu können?
Möllemann, Staatsminister: Herr Präsident, es ist für mich außerordentlich schwierig, zu erkennen, in welchem Zusammenhang diese Frage mit dem Rüstungskontrollamt der WEU steht.
Ich habe keine Bedenken, diese Frage zuzulassen, aber Sie sind frei, sie zu beantworten oder nicht.
Möllemann, Staatsminister: Also, ich erkenne keinen Zusammenhang mit der ursprünglichen Frage.
Dann rufe ich die Zusatzfrage des Abgeordneten Verheugen auf.
Ich möchte, Herr Staatsminister, doch gern etwas genauer wissen, ob das Rüstungskontrollamt wirklich so gut ist. Stimmt es eigentlich, daß es im wesentlichen aus pensionierten französischen Generälen besteht?
Möllemann, Staatsminister: Nein, Herr Kollege, das ist nicht richtig. Aber ich kann nicht ausschließen, daß dort auch pensionierte französische Generäle tätig sind. — Man findet pensionierte Generäle heute j a in den verschiedensten Positionen.
Nun muß ich den Abgeordneten Grunenberg genauso behandeln wie vorhin den Kollegen Weisskirchen. Er ist hier ganz kurze Zeit nach seinem Aufruf erschienen.Herr Staatsminister, blättern Sie bitte zu den Fragen 13 und 14 zurück.Ich bitte zunächst um Beantwortung der Frage 13, die ich hiermit aufrufe:Ist der Bundesregierung die Vereinbarung eines Zeitplans bekannt, der festlegt, daß die erste Gruppe der Pionierinvestoren im Tiefseebergbau der Vorbereitungskommission für die Meeresbodenbehörde bis zum 9. Dezember 1984 Anträge auf Abbaufelder vorlegen wird, die dann in der nächsten Sitzung der Vorbereitungskommission vom 4. März bis 5. April 1985 registriert werden, diese Antragsteller sich am 17. Dezember 1984 treffen, um die Koordinaten ihrer Abbaufelder auszutauschen zwecks Feststellung von Feldüberschneidungen, diese Antragsteller sich bis spätestens 11. Januar 1985 treffen müssen, um im Falle von Feldüberschneidungen Verhandlungen zur Streitbeilegung aufzunehmen, und diese Verhandlungen bis zum 4. März 1985 abgeschlossen sein müssen und das Ergebnis der Verhandlungen dem Vorsitzenden der Vorbereitungskommission bis zum 8. März 1985 vorgelegt werden muß?Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Grunenberg, der Bundesregierung ist der erwähnte Zeitplan bekannt. Er ist Teil einer Absprache zwischen der Sowjetunion, Frankreich, Japan und Indien, mit der sich diese Länder am 30. August dieses Jahres über die Behandlung der ersten Gruppe von Antragstellern, also der von Ihnen so genannten First
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Staatsminister MöllemannFamily, unter dem System des vorläufigen Investitionsschutzes des Seerechtsübereinkommens verständigt haben. Diese vier Staaten haben bereits Anträge bei der Vorbereitungskommission gestellt. Zu der genannten Absprache wird bis zum Ablauf der Zeichnungsfrist für das Seerechtsübereinkommen am 9. Dezember dieses Jahres die Möglichkeit offengehalten, daß sich noch weitere sogenannte Pionierinvestoren der ersten Gruppe von Antragstellern anschließen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Grunenberg.
Kann ich auf Grund Ihrer Antwort davon ausgehen, daß sich die Bundesregierung doch zur Zeichnung der Konvention entschließt, um eben die AMR gleichberechtigt in diesen Klub hineinzubringen?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Grunenberg, ich bin sicher, Sie wissen, daß die Entscheidung der Bundesregierung über diese Frage noch nicht getroffen worden ist. Aber Sie dürfen davon ausgehen, daß der von Ihnen angesprochene Aspekt bei der Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle spielt.
Herr Abgeordneter Voigt zu einer Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatsminister, ich nehme zur Kenntnis, daß das Aussitzen auch in diesem Fall zur grundlegenden Regierungsstrategie gehört, um dann allmählich eine Entscheidung zu finden, die man nicht fällen will oder von der man meint, sie noch nicht fällen zu können. Ich möchte daher fragen, wann dieser Eiertanz beendet ist und wann wir im Parlament endlich erfahren, ob gezeichnet wird oder nicht.
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Voigt, es steht Ihnen frei, den Entscheidungsablauf der Bundesregierung und ihre Tätigkeiten mit solchen Begriffen zu belegen.
— Ja, ja, ich weiß. Das kennzeichnet aber den Urheber des Begriffs selbst wahrscheinlich mehr als den so Bezeichneten.
Aber wir werden eine Entscheidung so rechtzeitig treffen, daß die entsprechende Frist gewahrt wird, die hier mit dem 9. Dezember angegeben ist.
Also, mir hat das hier beides nicht gefallen, und ganz parlamentarisch war das nicht, Herr Kollege Voigt.
Was die Antwort des Staatsministers betrifft, so bitte ich auch ihn, darüber nachzudenken.
Jetzt kommen wir zur Frage 14 des Abgeordneten Grunenberg:
Sieht die Bundesregierung im Falle der Existenz des Zeitplans eine Möglichkeit, der Arbeitsgemeinschaft meerestechnisch gewinnbare Rohstoffe das vorgesehene Abbaufeld im Falle einer Anerkennung als Pionierinvestor zu sichern, ohne in Konflikt mit der ersten Gruppe der Pionierinvestoren, Frankreich, Indien, Japan, Sowjetunion, zu geraten?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Grunenberg, die Bemühungen der deutschen Delegation bei der Vorbereitungskomission um eine nachträgliche Anerkennung der Arbeitsgemeinschaft meerestechnisch gewinnbare Rohstoffe — AMR — haben — das ist die erfreuliche Mitteilung, die ich hier machen kann — ein grundsätzlich positives Echo gefunden. In einer Konsenserklärung vom 5. September dieses Jahres hat die Vorbereitungskommission die Bedeutung einer Lösung dieses Problems anerkannt und zugesagt, sich in der nächsten Sitzung damit zu befassen, sofern die Bundesrepublik Deutschland das Seerechtsübereinkommen zeichnet.
Die Sowjetunion hat ihrerseits den Wunsch nach einem zusätzlichen Feld für die osteuropäischen Staaten vorgebracht, mit dem sich die Vorbereitungskommission ebenfalls befassen soll. Falls die Bundesrepublik Deutschland das Seerechtsübereinkommen zeichnet, bietet die Erklärung vom 5. September jedenfalls die Grundlage, über die Absicherung der AMR im System des vorläufigen Investitionsschutzes weiter zu verhandeln.
Eine Überschneidung des Abbaufeldes, an dem die AMR interessiert ist, und den von Frankreich und Japan bereits beantragten Feldern besteht nicht. Konflikte werden insoweit durch die vorläufige Absprache zu Fragen des Tiefseebodens vom 3. August 1984 ausgeschlossen. Die AMR geht davon aus, daß auch mit Indien und der Sowjetunion keine Überschneidungskonflikte bestehen, weil Indien allein am Indischen Ozean und die Sowjetunion an einem anderen Teil des Pazifik als die AMR interessiert ist.
Zusatzfrage des Abgeordneten Grunenberg.
Herr Staatsminister, kann ich davon ausgehen, daß im Falle einer Nichtzeichnung alle Anstrengungen, am Tiefseebergbau als privilegierter Staat, einer von den vier oder fünf, teilnehmen zu können, vergeblich sind und damit weiteres Investieren, Erforschen und Erproben seinen Sinn verliert, weil wir uns dann aus dem Tiefseebergbau verabschiedet hätten?
Möllemann, Staatsminister: Die Bundesregierung ist daran interessiert, daß die deutschen Unternehmen, die sich in dieser Arbeitsgruppe zusammengeschlossen haben, ein solches Schicksal nicht erlei-
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Staatsminister Möllemannden, und wird dieses Anliegen deshalb bei der Entscheidung über die Zeichnung berücksichtigen. Wir möchten eben nicht, daß das eintritt, wovon Sie gesprochen haben.
Noch eine Zusatzfrage des Abgeordneten Grunenberg.
Muß ich denn davon ausgehen, Herr Staatsminister, daß Sie meinen, daß die vorläufige Absprache vom 3. August 1984 — an sich sollte es doch ein Gegenseitigkeitsabkommen der acht Länder sein — eine Grundlage dafür sein soll, ohne Konflikt dann doch noch diesen Bergbau betreiben zu können, daß also im Gegensatz zu den restlichen Völkern, die die Konvention befürworten, ein Potential geschaffen wird, das uns nach außen erhebliche Schwierigkeiten bringen wird?
Möllemann, Staatsminister: Ich kann nicht erkennen, inwiefern uns bei Zeichnung dieses Abkommens solche Schwierigkeiten entstehen sollten.
Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Toetemeyer auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Äußerungen des südafrikanischen Ministerpräsidenten Botha anläßlich der 3. Lesung des Haushalts 1985 vor dem südafrikanischen Parlament, „er sei während seiner Europareise auf wenig Widerstand gegen Pretorias Forderung gestoßen, die Kubaner müßten vor einer Durchführung des Lösungsplanes für Südwestafrika/Namibia aus Angola abgezogen werden", und hat gegebenenfalls auch die Bundesregierung diese Forderung des südafrikanischen Ministerpräsidenten Botha unterstützt?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Toetemeyer, die Bundesregierung tritt konsequent für die Verwirklichung der Sicherheitsratsresolution 435 ohne Verzögerungen und ohne Vorbedingungen ein.
— Ja, das tue ich ja hier gerade.
Sie hat dies auch gegenüber dem südafrikanischen Premierminister anläßlich seines Besuchs in Bonn am 5. Juni 1984 deutlich gemacht.
Im Anschluß an sein Gespräch mit Premierminister Botha bekräftigte der Bundeskanzler in einer Erklärung, „die Lösung des Namibia-Problems sollte unverzüglich auf der Grundlage der Resolution 435 des VN-Sicherheitsrats eingeleitet werden".
Zusatzfrage des Abgeordneten Toetemeyer.
Herr Staatsminister, habe ich Sie richtig verstanden, daß der Herr Bundeskanzler dem südafrikanischen Ministerpräsidenten ausdrücklich widersprochen hat, als er die Verbindung zu den kubanischen Truppen in Angola angesprochen hat?
Möllemann, Staatsminister: Dazu sind zwei Feststellungen zu machen.
Erstens. Der Bundeskanzler hat dem Gesprächspartner, dem südafrikanischen Premierminister, deutlich gemacht, daß wir für die Verwirklichung der UNO-Resolution 435 ohne Vorbedingungen sind.
Zweitens hat der Bundeskanzler, der sich auch insoweit in einer guten Tradition gegenüber seinem Vorgänger befindet, darauf hingewiesen, daß wir grundsätzlich auch dafür sind, daß sich ortsfremde Truppen, egal, woher immer sie kommen mögen, aus dieser Region zurückziehen.
Das eine ist keine Vorbedingung für das andere. Aber für beides treten wir ein.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Toetemeyer.
Da ich also mit Ihnen übereinstimme, daß die Feststellung des südafrikanischen Ministerpräsidenten, daß Widerstände nicht geleistet worden seien, nach Auffassung der Bundesregierung nicht richtig ist, darf ich Sie dann fragen, wie Sie die Beurteilung der Bundesregierung durch den südafrikanischen Ministerpräsidenten in derselben Parlamentssitzung werten, der gesagt hat: Der eine oder die zwei meiner Partner in Europa, die Einwände vorgebracht haben, waren nicht gut informiert?
Möllemann, Staatsminister: Die Bundesregierung ist über die Situation im südlichen Afrika ausgesprochen gut informiert.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hedrich.
Herr Staatsminister, würden Sie die Auffassung teilen, daß ein Abzug der kubanischen Streitkräfte aus Angola den Friedensprozeß im südlichen Afrika erleichtern würde?
Möllemann, Staatsminister: Zweifellos. Der Abzug fremder Truppen aus Regionen, in denen diese nichts zu suchen haben, ist immer nützlich.
Vizepräsidet Westphal: Zusatzfrage des Abgeordneten Schwenninger.
Ist die Bundesregierung nicht gewillt, das, wenn es falsch dargestellt ist, zu berichtigen, d. h. hier vielleicht ihr Mißfallen auszudrücken, daß Herr Botha das auf diese Art und Weise, also falsch, dargestellt hat? Es wäre doch gut, wenn Sie dementsprechend hier etwas übermitteln würden.
Möllemann, Staatsminister: Diese Äußerung, die ich hier gemacht habe, wird ja aus diesem Parlament nach außen gebracht. Sie können davon ausgehen, daß sie auch an der richtigen Adresse ankommen wird.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Jannsen.
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6470 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Herr Staatsminister, würden Sie mir in der Auffassung zustimmen, daß der Abzug südafrikanischer Truppen aus Namibia die Lösung der Namibia-Frage wesentlich erleichtern würde?
Möllemann, Staatsminister: Das ist unbestreitbar richtig. Ja.
Zusatzfrage des Abgeordneten Verheugen.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung der Auffassung, daß es Angelegenheit der Souveränität Angolas ist, darüber zu entscheiden, ob es Truppen aus einem anderen Land in seinem Territorium duldet oder nicht?
Möllemann, Staatsminister: Es gehört zweifellos zur Souveränität eines Staates, sich mit anderen zu verbünden. Aber es gehört auch zur Souveränität eines Staates, die Auswirkungen zu bedenken, die eine starke Präsenz fremder Truppen in einer bestimmten Region mitbewirkt. Ich glaube, daß der angolanischen Regierung diese Auswirkungen außerordentlich deutlich bewußt sind. Anders wären die Gespräche, die über dieses Thema auch von der angolanischen Regierung geführt werden, ja nicht zu verstehen.
Wir kommen zu der Frage 18 des Abgeordneten Toetemeyer:
Wenn ja, wie verträgt sich diese Unterstützung mit der Resolution 435 der Vereinten Nationen?
Möllemann, Staatsminister: Ich glaube, Herr Präsident, daß die Beantwortung der Frage 18 auf Grund dessen, was ich zu der Frage 17 gesagt habe, entfällt.
Der Abgeordnete Toetemeyer hat die Möglichkeit, zwei Zusatzfragen zu stellen.
Herr Staatsminister, Sie erlauben, daß ich Ihnen nicht ganz zustimme. Meine Frage, die ich als Zusatzfrage stelle, ist: Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um dem, was sie dem Herrn Botha feierlich erklärt hat, Nachdruck zu verleihen, nämlich die UNO-Resolution 435 ohne Vorbedingungen schnell durchzuführen?
Möllemann, Staatsminister: Ich denke, Herr Kollege Toetemeyer, daß die Bundesregierung sich bisher von nahezu allen westlichen Regierungen wohl mit dem größten Nachdruck für die Lösung der Namibia-Frage auf der von mir beschriebenen Grundlage eingesetzt hat, sei es in der Kontaktgruppe, sei es in unmittelbaren Gesprächen mit den an dieser Frage Beteiligten und Interessierten. Das wird sie weiterhin mit großem Nachdruck tun.
Noch eine Zusatzfrage des Abgeordneten Toetemeyer.
Sind Sie in der Lage, mir die Frage zu beantworten, wann die Kontaktgruppe zum letzten Mal getagt hat und wann sie das nächste Mal tagen wird?
Möllemann, Staatsminister: Die Daten kann ich Ihnen im Moment nicht sagen. Aber ich bin gern bereit, sie Ihnen mitzuteilen.
Die Frage 19 des Abgeordneten Dr. Czaja soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke Ihnen, Herr Staatsminister, für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Karwatzki zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 61 des Abgeordneten Lambinus auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß alle nichtapothekenpflichtigen Medikamente uneingeschränkt gesundheitlich unbedenklich sind, auch bei Beachtung der sogenannten Beipackzettel?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege, der Gesetzgeber hat die Abgabe von Arzneimitteln grundsätzlich den Apotheken vorbehalten. Einzelne im Arzneimittelgesetz genannte und auf Grund seiner Ermächtigungen in Rechtsverordnungen näher bestimmte Arzneimittel und Arzneimittelgruppen dürfen auch außerhalb der Apotheken im Einzelhandel abgegeben werden. So sind für den Verkehr außerhalb der Apotheken nur solche Arzneimittel zugelassen, die nicht verschreibungspflichtig sind, auf Grund ihrer Zusammensetzung oder Wirkung einer Prüfung, Aufbewahrung oder Abgabe durch eine Apotheke nicht bedürfen, durch ihre Freigabe keine unmittelbare oder mittelbare Gefährdung von Mensch oder Tier, insbesondere durch unsachgemäße Behandlung, befürchten lassen, durch ihre Freigabe nicht die ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung gefährden. Frei verkäuflich sind also nur solche Arzneimittel, bei denen es im Hinblick auf die Arzneimittelsicherheit verantwortet werden kann.Wenn sich Anzeichen ergeben, daß nicht apothekenpflichtige Arzneimittel die für die Freigabe erforderlichen Voraussetzungen nicht oder nicht mehr erfüllen, wird ihre Unterstellung unter die Apothekenpflicht geprüft. So hat die Bundesregierung vor kurzem nach Anhörung des im Arzneimittelgesetz vorgesehenen Sachverständigen-Ausschusses einen Verordnungsentwurf den obersten Landesgesundheits- und Veterinärbehörden sowie den betroffenen Berufs- und Fachverbänden vorgelegt, in dem eine Reihe von Arzneimitteln, insbesondere Abführmittel, die bisher als Vorbeugungsmittel außerhalb der Apotheken abgegeben werden durften, der Apothekenpflicht unterstellt werden sollen. Ergeben sich neue Erkenntnisse, daß durch die Abgabe weiterer Arzneimittel außerhalb der Apotheke gesundheitliche Bedenken bestehen, wird die Bundesregierung nicht zögern, sie unter die
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6471
Parl. Staatssekretär Frau KarwatzkiApothekenpflicht zu stellen. Auch eine allen Ansprüchen gerecht werdende Packungsbeilage wird nicht verhindern können, daß bei freiverkäuflichen Arzneimitteln gesundheitliche Bedenken auftauchen können, die eine Überprüfung der Freiverkäuflichkeit notwendig machen.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lambinus?
Keine Zusatzfrage.
Dann kommen wir zu Frage 62 des Herrn Abgeordneten Dr. Lammert:
Welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, um die noch vorhandenen rechtlichen und tatsächlichen Benachteiligungen von Adoptivkindern bzw. Adoptiveltern zu beseitigen, und wird sie bei der für 1986 angekündigten Einführung des Erziehungsgeldes sicherstellen, daß dies auch Adoptiveltern von Kleinkindern in Anspruch nehmen können?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lammert, das Adoptionsrecht ist durch das Gesetz über die Annahme als Kind und zur Änderung anderer Vorschriften am 2. Juli 1976 neu geregelt worden.
Zielsetzung des Adoptionsgesetzes war, das minderjährige Kind in jeder Beziehung rechtlich und tatsächlich wie ein leibliches Kind des Annehmenden voll in dessen Familie aufzunehmen. Soweit diese Gleichstellung noch nicht durch das Adoptionsgesetz selbst erfolgt ist, wird sie durch den von der Bundesregierung eingebrachten, gegenwärtig in der parlamentarischen Beratung befindlichen Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung rechtlicher Vorschriften an das Adoptionsgesetz vervollständigt.
Der Entwurf eines Gesetzes über Erziehungsgeld wird derzeit im Ministerium vorbereitet. Es ist geplant, das Erziehungsgeld für Kinder zu zahlen, die nach dem 31. 12. 1985 geboren werden. Zwischen leiblichen und adoptierten Kindern ist — nach dem derzeitigen Stand der Überlegungen — eine unterschiedliche Behandlung nicht vorgesehen.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lammert.
Frau Staatssekretärin, läßt sich für das von Ihnen angesprochene Anpassungsgesetz ein Abschluß dieses mühseligen Verfahrens absehen, nachdem sich dies ja nun — bezogen auf ein Gesetz aus dem Jahre 1976 — schon durch das achte Jahr quält?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Von der Sachzuständigkeit her müßte ich jetzt sagen, daß der Kollege vom Justizministerium für die Beantwortung zuständig wäre. Ich weiß aber, daß sich alle Kollegen aller Parteien viele Mühe geben, gerade diesen verändernswerten Tatbestand noch abschließend zu beraten und damit eben auch als Gesetz zu initiieren.
Also mindestens in dieser Legislaturperiode?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Ja, davon gehe ich aus.
Das war schon die zweite Zusatzfrage?
Ich denke, das war nur die präzise Beantwortung der ersten.
Herr Dr. Lammert, aufpassen! Ich passe auch auf. Aber Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, kann man davon ausgehen, daß die Auskunft, die Sie für die beabsichtigte Regelung des Erziehungsgeldes für Adoptivkinder gegeben haben, auch für solche Kinder und Eltern gilt, die sich in Adoptivpflege befinden, wo also das Adoptionsverfahren noch nicht förmlich abgeschlossen ist, sondern noch ein Pflegeverhältnis besteht, aber mit dem Ziel einer Adoption, bzw. daß rechtlich so präzise Regelungen beschlossen werden, daß sich daraus nicht Mißverständnisse und Interpretationsprobleme ergeben?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Es ist unser Ziel, gerade diesen Tatbestand so zu prüfen, daß gerade für die annehmenden Eltern hier keine Rechtsunsicherheit entsteht.
Herr Dr. Lammert, Sie wissen, daß Ihre nächste Frage, die Frage 63, nach Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien schriftlich beantwortet wird. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 64 des Herrn Abgeordneten Würtz. — Er ist nicht im Saal. Es wird nach der Geschäftsordnung verfahren.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Ich danke Ihnen, Frau Staatssekretärin, für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Da wir nur noch einige Fragen haben, wäre ich dankbar, wenn über den Lautsprecher bekanntgegeben würde, daß im Anschluß daran der nächste Tagesordnungspunkt — Bericht des Wehrbeauftragten — aufgerufen wird, damit wir dann gleich in die Beratung eintreten können, falls wir nicht die ganze Zeit der Fragestunde brauchen werden.
Ich rufe die Frage 65 des Herrn Abgeordneten Hedrich auf:
Beabsichtigt die Deutsche Bundesbahn auf der Strecke Hamburg-Hannover für das Jahr 1985 die Bedienung der Orte Lüneburg, Uelzen und Celle durch D-Züge, die ab Hannover als Intercity-Züge weiterlaufen, aufzuheben?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hedrich, mit Ihrem Einverständnis möchte ich Ihre beiden Fragen zusammen beantworten.
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6472 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Ich rufe dann auch die Frage 66 auf:
Welchen Ausgleich wird die Deutsche Bundesbahn schaffen, falls Züge wie der IC 581 Riemenschneider nicht mehr in den Orten Lüneburg, Uelzen und Celle halten sollen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Nach Mitteilung der Deutschen Bundesbahn ist von ihr geplant, ab dem Jahresfahrplan 1985/86 die IC-Züge 581 — das ist Hamburg-München — und 580 — das ist München-Hamburg — in Lüneburg, Uelzen und Celle halten zu lassen. Des weiteren wird sie eine auch künftig gute Anbindung der Orte Lüneburg, Uelzen und Celle an den Fernverkehr durch FD-Züge — Fernexpreß — und D-Züge — Schnellzüge — bzw. durch eine Verbesserung der Anschlüsse von und zu den IC-Knoten Hamburg und Hannover sicherstellen.
Falls Sie noch weitere Auskünfte wünschen, ich habe noch eine ganze Liste von zusätzlichen Angeboten, die aber wahrscheinlich nicht in die Fragestunde des Deutschen Bundestages gehören.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hedrich.
Herr Staatssekretär, zunächst einmal ein Dank für das Angebot.
Jetzt meine Frage: Ist die Bundesregierung bereit, sich auch mittelfristig, also nicht nur für das nächste Jahr, dafür zu verwenden, daß die genannten Orte eine IC-Anbindung behalten?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß die Deutsche Bundesbahn sehr genau zur Kenntnis nimmt, was hier in der Fragestunde des Bundestages abläuft. Im übrigen muß ich auf die Rechtslage verweisen: Die DB erstellt ihr Angebot im Schienenpersonenfernverkehr in eigener Verantwortung, d. h. der Bundesminister für Verkehr oder die Bundesregierung machen die Fahrpläne nicht.
Keine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Hedrich.
Bestätigt die Bundesregierung Informationen, denen zufolge das mit der „Mont Louis" im Ärmelkanal untergegangene leicht angereicherte Uran aus den Beständen des Atomkraftwerkes Neckarwestheim stammt und nach Anreicherung in der Sowjetunion dort erneut zum Einsatz kommen sollte?
Bitte schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann mir die Antwort ganz einfach machen: Ja.
Sie haben eine Zusatzfrage, Herr Kollege Ehmke.
Seit wann ist der Bundesregierung bekannt, daß sich Uran aus dem AKW Neckarwestheim an Bord der „Mont Louis" befand, und warum hat die Bundesregierung dies der Öffentlichkeit nicht kundgetan?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann aus meinen Unterlagen nicht erkennen, wann irgendeinem Ministerium diese Tatsachen zur Kenntnis gebracht worden sind. Mir liegt hier die Nachricht vor, daß die französische Botschaft in einer Presseerklärung vom 30. August dieses Jahres die deutsche Öffentlichkeit informiert hat. Es gab dann auch eine dpa-Meldung vom 2. September 1984. Mehr kann ich zu dieser Frage nicht sagen. Ich habe keine weiteren Unterlagen.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Ehmke.
Herr Staatssekretär, trifft meine Annahme zu, daß sich heute, also immerhin fünf Wochen nach dem Unfall, immer noch mindestens ein Faß mit Uranhexafluorid auf dem Boden des Meeres befindet und noch nicht geborgen worden ist?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich muß davon ausgehen, daß Ihre Information stimmt.
Ich rufe Frage 68 des Abgeordneten Dr. Ehmke auf:
Für welche weiteren Atomkraftwerke der Bundesrepublik Deutschland gilt, daß ihr Brennstoff im Rahmen des sogenannten Brennstoffkreislaufes über Frankreich in die Sowjetunion und zurück transportiert werden muß, und welche Schlußfolgerungen zieht die Bundesregierung nach dem „Mont Louis"-Unglück für weitere vorgesehene Transporte dieser Art?
Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Nach Informationen der Bundesregierung findet in diesem und in den kommenden Jahren eine Vielzahl derartiger Transporte statt. Entsprechende Vertragsabschlüsse sind Angelegenheit der Elektrizitätsversorgungsunternehmen. Die Sicherheit der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland beim Transport radioaktiver Stoffe ist in größtmöglichem Umfang gewährleistet.
Unabhängig davon ist die Bundesregierung bemüht, Erkenntnisse aus jenem Unfall zu gewinnen, die für die Sicherung des Transports von Bedeutung sind und damit zur Verbesserung der Transportvorschriften verwendet werden können.
Im internationalen Bereich tritt die Bundesregierung dafür ein, daß die Vorschriften der Internationalen Atomenergieorganisation ständig fortentwickelt und dem jeweils geltenden Stand von Wissenschaft und Technik angepaßt werden. Weiterhin wird auf der noch in diesem Jahr stattfindenden Nordseeschutzkonferenz auch die Frage der Seetransporte radioaktiver Stoffe zur Sprache kommen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Ehmke.
Herr Staatssekretär, vor einigen Tagen ist das Schwesterschiff der verunglückten „Mont Louis", die „Borodin", mit einer ähnlichen Ladung in See gestochen. Ich frage Sie: In welcher Form und auf welchen Kanälen wird die Bundesregierung bei der französischen Re-
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Dr. Ehmkegierung vorstellig werden, um diesen sorglosen Umgang mit solchen gefährlichen Transporten zu unterbinden?Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe Ihnen gesagt, nach welchen Vorschriften solche Transporte bisher abgewickelt werden. Bis jetzt haben sich diese Vorschriften, die international sind, bewährt. Wir wollen trotzdem überlegen, welche Erkenntnisse aus dem stattgefundenen Unfall gezogen und welche Vorschriften geändert werden müssen. Zum Beispiel ist zu überlegen, ob ein Meldepflichtsystem für solche Schiffstransporte eingeführt werden soll. Dies wird auch Gegenstand der Konferenz über den Schutz der Nordsee sein, die Ende diesen, Anfang nächsten Monats stattfinden wird. Mir ist im Augenblick nicht bekannt, ob es einen Anlaß gäbe, bei der französischen Regierung vorstellig zu werden.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Ehmke.
Trifft also meine Annahme zu, daß solche ungeeigneten Schiffe, wie wir ja bei diesem Unglück gesehen haben, mit nuklearer Ladung auch bundesdeutsche Häfen anlaufen können und daß die Bundesregierung noch keinen Termin nennen kann, bis wann solche Transporte und das Anlaufen bundesdeutscher Häfen unterbunden werden kann?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann nach alldem, was ich von dem Unfall, von dem Schiff, von der Ladung des Schiffes weiß, Ihre Vermutung nicht bestätigen. Aber Sie müssen bitte davon ausgehen, daß die Bundesregierung ernsthaft alles prüfen wird, was zur Verhinderung solcher Unfälle geeignet ist, und das auch in den internationalen Gremien zur Sprache bringen wird. Im übrigen gibt es für solche Transporte weltweite Abmachungen, an die wir uns bisher gehalten haben.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Jannsen.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung angeben, welche Mengen von Uranhexafluorid sich im großen Kreislauf über Frankreich und die Sowjetunion befinden, und gedenkt die Bundesregierung, Maßnahmen zu ergreifen, um die Mengen, die sich in diesem Kreislauf befinden, zu reduzieren oder herauszuziehen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe keine Kenntnis von den Mengen.
Da die Fragen 69 und 70 des Abgeordneten Pauli und 71 und 72 des Abgeordneten Dr. Schroeder auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden — die Antworten werden als Anlagen abgedruckt —, sind wir am Ende der Fragestunde, und zwar vorzeitig. Das ist ein seltener Fall. Aber ich habe bereits die Geschäftsführer im Ältestenrat darauf hingewiesen, daß das so eintreten könnte. Insofern können wir, zumal wir heute noch eine sehr, sehr lange Tagesordnung abzuwickeln haben, zum nächsten Tagesordnungspunkt übergehen.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts 'des Verteidigungsausschusses zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 1983
— Drucksachen 10/1061, 10/1611 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Hauser Heistermann
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir in die Beratungen eintreten, möchte ich den Wehrbeauftragten Herrn Berkhan bei uns begrüßen.
Heute wird zum letztenmal ein Bericht beraten, den Sie vor Ihrem Ausscheiden aus dem Amt im nächsten Jahr vorgelegt haben. Insofern ist es, glaube ich, erlaubt, Sie in besonderer Weise zu begrüßen.
Ich muß außerdem darauf hinweisen, daß der Herr Bundesminister der Verteidigung dem Präsidenten geschrieben hat, daß er mit großem Interesse der parlamentarischen Beratung zum Jahresbericht des Wehrbeauftragten am 4. Oktober im Plenum des Bundestags entgegengesehen habe. Er wäre gerne anwesend gewesen, zumal er damit auch in besonderer Weise die Zusammenarbeit mit dem Wehrbeauftragten zum Wohle unserer Bundeswehr dokumentieren wollte. Aber zur gleichen Zeit wird der Verteidigungsminister den Herrn Bundespräsidenten bei seinem ersten Besuch der Bundeswehr begleiten. Deshalb wird der Parlamentarische Staatssekretär, Herr Würzbach, den Verteidigungsminister in der Debatte vertreten. Ich nehme an, daß das auf Verständnis und Zustimmung aller Fraktionen stößt. Wir müssen diesen Bericht also ohne den Bundesminister der Verteidigung beraten.
Wünschen die Berichterstatter das Wort? — Das scheint nicht der Fall zu sein.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Krone-Appuhn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was zum Jahresbericht des Herrn Wehrbeauftragten aus der Perspektive der CDU/CSU zu sagen war, habe ich in diesem Hohen Hause bereits am 30. März 1984 gesagt. Ich danke dem Herrn Wehrbeauftragen nochmals für diesen sehr informativen und guten Bericht und bitte ihn im Namen meiner Fraktion, in dieser Debatte noch einmal dazu Stellung zu nehmen.Seit der Kommandeurstagung 1978 steht in unseren Wehrbeauftragtenreden der Mensch im Mittel-
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6474 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Frau Krone-Appuhnpunkt. Alle Reden, die sich der Bundesverteidigungsminister Dr. Apel von mir hier anhören mußte, könnte ich heute genau noch so wiederholen. Geändert hat sich nichts. Im Gegenteil: Es ist schlimmer geworden.Warum? Wir haben uns ein Bundesministerium der Verteidigung geschaffen, das ich schon einmal mit dem Vatikan verglichen habe: Hunderte von Prälaten, und draußen fehlen die Dorfkapläne.
Wer war der Schöpfer dieses großartigen Hauses? — Bundesverteidigungsminister Schmidt, unser späterer, von mir sehr geschätzter Bundeskanzler, von dem die Deutschen glaubten, er könne alles machen, weil er ungeheuer fleißig ist, sehr viel weiß und auch noch sehr gut Orgel spielen kann.
— Meine Herren, hören Sie zu: Dann kam die Wende, und wir bekamen einen Minister, der kann sogar fliegen und von uns allen am allermeisten von Verteidigungspolitik sagen. Dazu versteht er auch noch beide NATO-Sprachen und spricht sie fließend.„Wende" hieß für uns „Hoffnung". Steilkurve nach oben, vor allem für die Soldaten und ihre Familien.Nach einigen Loopings sausen wir nach unten, aber ohne Follow-on-Radar. „Erblast" heißt es dann, „Sand im Getriebe", „Seilschaften", „Unregierbarkeit". Nur wir selber sind natürlich an gar nichts schuld.Was also ist zu tun? — Besinnung, Umkehr. Preußische Könige pflegten in solchen Situationen einen Buß- und Bettag zu verordnen, der bekanntlich im November ist und mir überhaupt nicht gefällt, der uns allen aber bitter nötig ist.Der Minister und sein ganzes Haus — das möchte ich hier ausdrücklich betonen — waren genauso fleißig wie Bundeskanzler Schmidt. Man kennt Operations Research, man kennt Netzplantechnik, American Management, und man machte einen tollen Bundeswehrplan, der uns von einer Horrorkurve in die nächste Horrorkurve treiben wird, und danach folgt wieder eine Horrorkurve. Aber in der Zeitung liest sich dieser Bericht sehr gut.Und wie geht es der Bundeswehr? Die Stimmung war noch nie so schlecht. In solchen Situationen ist es immer gut, sich auf bayerische Lebensart zu besinnen: Wir gehen sonntags in die Kirche und hinterher ins Wirtshaus; dann brauchen wir gar kein Meinungsforschungsinstitut; wir hören schon, was draußen los ist.Angesichts des heißen Herbstes, der uns angedroht war, beschloß ich, eine amerikanische Panzerbrigade, die „Hell on Wheels", im Raum Braunschweig/Helmstedt zu besuchen, weil ich durch bayerisch-amerikanische Manövererfahrungen vor einigen Jahren nichts Gutes ahnte und schon die schweren Breadleys und Abrahams, also die großen Panzer der Amerikaner, die ganz schönen neuen, im Morast versinken sah. In Fort Hood machen sie sich nämlich prima. In der warmen Texassonne wirken sie sehr imponierend. Aber ich hatte Befürchtungen, daß sie für unser Gelände nicht so ganz geeignet waren.Was stelle ich fest? — Die Amerikaner waren fabelhaft, nichts ist passiert, die Grenzlandbevölkerung hat sie herzlich empfangen und bewirtet und zum Aufwärmen in ihre Häuser gebeten. Angesichts der real vor sich habenden Bedrohung schätzen Niedersachsen nämlich schon immer zuverlässige und starke Bündnispartner.Wen aber traf ich in unserem schönen Dorf? — Einen T-Panzer I — wir nennen ihn „Fuchs" — mitten zwischen den Hühnern und den Dahlien. Der interessierte mich natürlich. Er gehörte zur deutschen I. Panzerdivision. Was stelle ich im Gespräch mit den Soldaten fest? Zehn Tage kein warmes Essen. Einmal war ein Verpflegungswagen vorbeigekommen und hatte drei Essen für acht Mann ausgegeben, weil er es eilig hatte. Warmen Kaffee bekommen amerikanische Soldaten jeden Tag und unsere nicht. In diesem Zusammenhang frage ich nun einmal: Wo bleibt denn eigentlich die Fürsorge? Wo sind die Führer, die den Soldaten beibringen, wie man im Gelände Feuer macht und sich die sogenannte EPA, die Einheitsessenspackung, anwärmt? Diese armen Panzergrenadiere und Panzerfahrer standen im wahrsten Sinne des Wortes im Regen und hatten im Gegensatz zu den Amerikanern auch noch schlechte und nasse Schlafsäcke.Ihre Kameraden in Douaumont hatten obendrein Ardennenwind und mußten vier Stunden vor dem Eintreffen des Herrn Bundeskanzlers den Parka ausziehen und durften vier Stunden in Wind und Regen im Kampfanzug Paradeaufstellung üben. Welcher Kommandeur hat das wohl an welchem Schreibtisch befohlen?
Ein Hauptmann der I. Panzerdivision, ein Diplompädagoge, schikaniert seine Soldaten damit, daß er freitags lächelnd mit ihnen darüber diskutiert, wie viele Wochenenden er ihnen eigentlich streichen könnte und reduziert dann eine Strafe auf fünf Wochenenden.Da wird nicht geführt, da wird nicht erzogen, da wird demotiviert und verunsichert, meine Damen und Herren. Da lobe ich mir unsere alten Bataillone. Wer da dummes Zeug machte, wurde bestraft, und zwar sofort. Wer sich bemühte, wurde belohnt. Da machte das Dienen Spaß.Resümee: Die Heeresstrukturreform IV muß nachgebessert werden. Zum Beispiel brauchen unsere Kompanien wieder einen Koch. Eine Kompanie muß leben, auch und gerade im Manöver. Der erste, der erkannt hat, daß das mit der Heeresstrukturreform IV nicht so ganz klappen wird, war unser derzeitiger Bundesverteidigungsminister Dr. Wörner. Er erzählte nämlich damals im Ausschuß, diese Strukturreform sei „auf Rand genäht". Meine Damen und Herren, jetzt platzen schon die Nähte. Seine Prophezeiung war also durchaus nicht unrichtig.Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6475Frau Krone-AppuhnMit Management kann man sehr schöne Pläne machen. Die Realität, vor allem im Heer, kann man aber nicht managen. Da gibt es Menschen, die einem natürlich immer im Wege stehen. Da gibt es Wetter. Da gibt es Gerät. Da gibt es Gelände. Ich habe nichts dagegen, daß Kompaniechefs studieren. Im Gegenteil: Das Goethesche Ideal, der gebildete Offizier, ist auch mein Ideal. Ich nenne Ihnen dafür stellvertretend für alle anderen gleich einmal ein Beispiel, nämlich unseren und Ihren, meine Herren, Generalinspekteur. Ein Kompaniechef hat aber nicht nur ein gebildetes Vorbild zu sein. Er muß in aller erster Linie ein guter Kamerad sein!Wer ist denn nun schuld an diesem von mir geschilderten Verhau? Wir alle, meine Damen und Herren; denn die Reformen machen bekanntlich immer wir. Wir machen die Gesetze — alle miteinander —, nicht die Herren Generale, auf die immer gezeigt wird. Wenn den Politikern irgend etwas nicht paßt, sollen immer die Generale schuld sein. Das möchte ich hier auch einmal sagen: Die Generale sind nicht schuld daran, sondern sie führen das aus, was wir hier beschließen.Ich verlange keine neuen Reformen. Die hätten uns und der Bundeswehr auch gerade noch gefehlt. Die deutsche Armee hat eine gute und alte Tradition und gute Führungsgrundsätze gehabt. Zu denen haben wir zurückzukehren. Der größte Feind unserer Armee sind seelenlose Technokratie, Überorganisation und Bürokratie. Das müssen wir alle bekämpfen. Dann steht der Mensch endlich im Mittelpunkt, und die Kompanie, das Bataillon, die Brigade und die Division sind wieder Heimat für die Soldaten.Mit dem, was bei mir täglich auf dem Schreibtisch landet und was mir vorgetragen wird, könnte ich jeden Tag eine Schlagzeile für die ,,Bild"-Zeitung liefern und mich „profilieren", zum Schaden der Bundeswehr. Das tue ich nicht. Wo ich Probleme selbst lösen kann, spreche ich mit den Soldaten, den Beamten, den Kollegen, den Politikern, die Verantwortung tragen. Mit den Frauen der Soldaten mache ich demnächst mit Hilfe des Deutschen Bundeswehrverbandes, dem Bundesminister der Verteidigung und dem Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit eine Tagung, wo wir die Probleme der Soldatenfamilien mit den zuständigen Ressorts besprechen und Lösungsvorschläge erarbeiten wollen. Der Mensch steht nur im Mittelpunkt — das möchte ich Ihnen hier wirklich ins Buch schreiben, Herr Staatssekretär —, wenn wir den Soldaten wirklich helfen und nicht nur immer über sie reden.
Ich danke den Soldaten der deutschen Bundeswehr im Namen meiner Fraktion, daß sie trotz ihrer vielen Probleme täglich ihre Pflicht erfüllen und unserem Vaterland den Frieden und die Freiheit sichern.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heistermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Krone-Appuhn! Bevor ich zu meinen Ausführungen komme, möchte ich Ihnen für den wirklich ausgewogenen Vortrag Dank sagen.
Ich möchte aber auch das aufgreifen, was Sie vom Fliegen gesagt haben. Es ist allgemein bekannt, daß der Minister fliegen kann. Er wäre auch fast geflogen, zwar nicht mit einer fliegerischen Leistung, sondern über einen Vorgang, der dieses Haus mit einem Untersuchungsausschuß beschäftigt hat. Aber dies nur als Anmerkung.Ich stimme Ihnen zu, wir haben immer zu beklagen, daß die Bürokratie eines der großen Übel ist; denn wenn man sich bestimmte Bearbeitungsdauern vor Augen führt, bis dann ein Beschluß oder eine Anregung vom Parlamentsausschuß dann tatsächlich in der Truppe unten angekommen ist oder Veränderungen dort sichtbar werden, kann man nicht in Tagen, sondern da muß man schon in Jahren rechnen, wenn wir uns bestimmte Vorgänge, die wir gerade jetzt bei der Haushaltsberatung wieder festgestellt haben, vor Augen führen.Ich möchte, Herr Präsident, meine Damen und Herren, in diesem Jahr noch einmal daran erinnern, daß die Institution des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages ihr 25jähriges Wirken zu begehen hatte. Ich möchte auch daran erinnern, daß die Einrichtung des Wehrbeauftragten bei den Streitkräften zunächst unter Vorbehalt stand. Wurde sie zunächst auch als Ausdruck eines unberechtigten Mißtrauens gewertet,
so stellt sich diese Frage heute nicht mehr. Heute wird der Wehrbeauftragte als Partner der Soldaten für die Lösung von Problemen, die es in vielen Bereichen der Bundeswehr gibt, gesucht. Herr Wehrbeauftragter, dafür möchte ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern von dieser Stelle aus den Dank der SPD-Bundestagsfraktion abstatten.Sie, Herr Wehrbeauftragter, haben es mit Ihrer Persönlichkeit verstanden, das Vertrauen der Wehrpflichtigen zu erreichen, in vielen Fällen Anwalt der Soldaten und ihrer Familien zu sein. Wir haben Ihnen anläßlich der Veranstaltung zum 25jährigen Bestehen Ihres Amtes dazu gratuliert, aber ich möchte es auch in diesem Hause wiederholen.Wie verhält sich nun der zuständige Minister gegenüber den ihm unterstellten Soldaten? Identifiziert er sich mit ihren Interessen, oder schiebt er sie beiseite, oder schiebt er sie vor sich her? Herr Würzbach, was hat sich eigentlich der Minister dabei gedacht, ein vereinbartes Gespräch mit dem Präsidium des Deutschen Bundeswehrverbandes abzusagen? Äußert sich so Ihre Fürsorgepflicht?
Herr Würzbach, in der Truppe setzt sich immer mehr der Verdacht durch, daß auch dieser Minister ein Ankündigungsminister ist. Da werden laufend
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6476 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
HeistermannErklärungen formuliert, da werden die Lippen gespitzt, aber es kommt keine vernünftige Melodie heraus. Mit jedem Tag der Entscheidungslosigkeit verstärkt sich der Eindruck: Sie haben keine Konzeption zur Lösung der anstehenden Probleme.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und auch von der FDP, dieses Parlament, die Bundeswehr und die breite Öffentlichkeit haben doch wohl Anspruch darauf, zu erfahren, was diese Regierung eigentlich will.Lassen Sie mich meinen Vorwurf an einigen Beispielen verdeutlichen. Da gibt die Bundesregierung ein Weißbuch heraus, in dem der Sozialteil völlig fehlt. Berechtigterweise wird die Frage gestellt: Warum beantwortet die Bundesregierung nicht die Fragen über die tatsächliche soziale Lage der Soldaten und ihrer Familien?Da wird angekündigt: Der Wehrdienst muß verlängert werden. Sogar eine Absprache mit dem Bundeskanzler wird herbeigeführt, und wenige Tage später entnimmt man der Zeitung, daß die Entscheidung erst nach 1987 fallen soll.
Da wird über Verwendungsstau, vorzeitige Zurruhesetzung von Truppenoffizieren und Abbau von Versetzungshäufigkeit räsoniert, aber von der politischen Leitung abgesegnete Regelungen werden nicht vorgelegt.Da stellt die SPD-Opposition dieses Hauses einen Antrag auf Wehrsolderhöhung, der von der Mehrheit dieses Parlaments abgelehnt wird. Der zuständige Minister erklärt, im Jahre 1984 stehe kein Geld für die Wehrsolderhöhung zur Verfügung. Dann plötzlich ist doch eine Regelung für Oktober 1984 da, und es ist auch plötzlich Geld da. Bei meinen Besuchen in der Truppe habe ich immer wieder gehört, daß diese diffuse Haltung auf kein Verständnis gestoßen ist.Im übrigen: Über das Thema „Wehrgerechtigkeit", das Sie immer wieder angesprochen haben, wird ebenfalls nur geschwafelt. Da rauscht es im Blätterwald, aber Taten folgen nicht.
Wenn Sie Konzepte haben, frage ich: Wer hindert eigentlich die Regierung daran, sie auf den Tisch zu legen? Es ist doch wohl keine Antwort, nach dem Motto zu verfahren „Majestät fühlen sich beleidigt, Majestät empfangen nicht", wie es der zuständige Minister gegenüber dem Bundeswehrverband getan hat. Das ist keine Antwort, und das ist auch nicht würdig.Ich habe einmal die Reden nachgelesen, die Herr Wörner gehalten hat, als der Bundeswehrverband die sozialliberale Koalition entsprechend angegriffen hat. Da hat man das bewußt unterstützt; aber nun ist plötzlich von dieser Argumentation nicht mehr die Rede.
Herr Abgeordneter Heistermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Berger?
Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Heistermann, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß die Wehrsolderhöhung zum 1.Oktober 1984 aus der Mitte dieses Hauses — im Verteidigungsausschuß — beantragt worden war, und was haben Sie als Demokrat dagegen, wenn nicht entsprechend dem früheren Regierungsverhalten und der Regierungsvorlage des Haushalts aus der Mitte des Parlaments ein solcher Antrag gestellt wird und dann auch noch Erfolg hat?
Darauf darf ich folgendes antworten: Wir haben — um das deutlich zu sagen — nicht gezögert, diesem Antrag, der aus der Mitte des Hauses kam, zuzustimmen, weil das im Interesse der Wehrpflichtigen war. Nur haben wir bedauert, daß ein Kompromiß, den wir vorgeschlagen hatten, nämlich das wir uns auf den Juli einigen, von Ihnen abgelehnt wurde.
Ebenso sage ich in aller Deutlichkeit, Herr Kollege Berger: Die lockeren Sprüche von einst — „Ich führe die Bundeswehr mit der linken Hand" — erweisen sich immer mehr als Sprücheklopferei. Ich meine, die Öffentlichkeit hat das Recht, zu erfahren, wie wir die Situation der Soldaten beurteilen.Es bedrückt uns, wenn der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages feststellt, daß die menschliche Wärme in der Bundeswehr vermißt wird. Es ist richtig, daß, wie es im Kommentar der „Stuttgarter Zeitung" vom 31. März 1984 heißt, „die Armeen höchst selten als Pflanzstätten warmherziger Menschlichkeit sich erwiesen haben". Ebenso stimmt, daß — wie an anderer Stelle in diesem Kommentar vermerkt — das Klima in einer Einheit in erster Linie von der Person des Vorgesetzten geprägt wird, davon, ob ein Wehrpflichtiger gute oder schlechte Erfahrungen macht. Zeitgerechte Menschenführung verträgt nicht den berüchtigten Kasernenton, den der Wehrbeauftragte in Einzelfällen festgestellt hat.Herr Staatssekretär, das Handeln des obersten Dienstherrn ist Maßstab dafür, auf welche Art und Weise sich das Vertrauen zwischen dem Parlament einerseits und der Bundeswehr andererseits entwickelt. Sie haben die SPD-Bundestagsfraktion immer an Ihrer Seite, wenn die Soldaten der Bundeswehr unberechtigterweise beschuldigt oder angegriffen werden.
Auch das in aller Deutlichkeit.Lassen Sie mich auf einige wenige Beispiele, die nicht symptomatisch für die gesamte Bundeswehr sind, hinweisen. Es ist gut, zu wissen, daß das Bundesministerium der Verteidigung mit entsprechenden Weisungen und Informationen sicherstellen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6477
Heistermannwill, daß künftig alle Soldaten ihr Wahlrecht unbeeinflußt und ungehindert wahrnehmen können. Warum aber keine Würdigung der Vorgänge, wo ein Leiter einer Dienststelle morgens am Schwarzen Brett einen Presseartikel aushängte, der in sehr einseitiger Weise zugunsten einer Partei zu verschiedenen politischen Fragen Stellung nahm? Das Verhalten dieses Dienststellenleiters verstieß eindeutig gegen das Soldatengesetz.Geradezu provokativ ist die Antwort des BMVg auf die Feststellung des Wehrbeauftragten über die Debatte um die Stationierung von atomaren Mittelstreckenwaffen auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland. Wieso eigentlich, Herr Staatssekretär, handelte es sich dabei nur um eine „sogenannte Friedensdiskussion"? Dies ist nicht sachgerecht. Der Wehrbeauftragte hat recht, wenn er feststellt, daß die Soldaten, aber auch die Mitglieder der Friedensbewegung in vielen Fällen ein Verhalten gezeigt haben, das demokratisch vorbildlich ist. Es hätte der Bundesregierung gut angestanden, diese positiven Begebenheiten besonders zu würdigen. Warum brauchen Sie eigentlich in dieser Frage ein Feindbild, was überhaupt nicht notwendig ist? Einerseits begrüßt man grundsätzlich die Beteiligung an der öffentlichen politischen Diskussion über Fragen der Sicherheitspolitik. Andererseits wird gesagt, die Loyalitätspflicht, vor allem der Vorgesetzten, deren persönliche Meinung von der geltenden Sicherheitspolitik abweiche, gebiete besondere Zurückhaltung. Was für eine Interpretation des Soldatengesetzes! Ich wiederhole, was ich bereits am 30. März 1984 in diesem Hause gesagt habe: „Es geht nicht an, daß Äußerungen, seien sie nun pro oder contra Nachrüstung, dienstrechtlich unterschiedlich gewertet werden."
Hier erwarten wir eindeutige Erklärungen. Die Vorgesetzten bedürfen im übrigen keines Maulkorbs, Herr Staatssekretär, die Vorgesetzten wissen, dem Primat der Politik Rechnung zu tragen. Staatsbürgern in Uniform muß das Recht zugestanden werden, als mündige Bürger selbst zu entscheiden, wann und wo sie bereit sind, mit wem auch immer zu diskutieren.
Das Soldatengesetz ist der gesetzliche Rahmen hierfür. Die Soldaten haben bewiesen, daß sie nicht der Bevormundung durch den Minister bedürfen.Wiederholt hat der Wehrbeauftragte die Quälereien und Brutalitäten und die Unterdrückung von Schwächeren in der Bundeswehr aufgezeigt. Schon der Jahresbericht 1978 weist auf entsprechende Beispiele hin. Um so erstaunlicher ist es, daß es heute noch abstoßende Aufnahmerituale gibt. Die geschilderten Vorfälle sind nicht nur bedauerliche Beispiele für besondere Geschmacklosigkeit, wie das BMVg sagt, nein, sie sind ein klarer Verstoß gegen die Würde des Menschen, die unantastbar ist. Wir begrüßen deshalb die klare Aussage, daß Vorgesetzte solche Rituale zu unterbinden haben. Nur, wir fragen, warum nicht bei anderen Fragen ebenso klare Aussagen?Ein besonderes Problem ist die soziale Situation der Soldaten auf Zeit. Nach der Dienstzeit bei der Bundeswehr stehen sie ohne Arbeitslosenversicherung da, oft ohne ausreichende berufliche Qualifikation, wenn sie nicht die Chance hatten, durch den Berufsförderungsdienst gefördert zu werden. Hier sind schnelle und dringende Entscheidungen erforderlich, um die Perspektiven und Möglichkeiten dieser jungen Soldaten zu verbessern. Dies ist nicht allein durch die Bundeswehr zu bewerkstelligen. Hier ist die Hilfe des Parlaments, der öffentlichen Hand, der Industrie sowie des Handwerks notwendig. Es kann nicht sein, daß sie über Jahre diesem Staat dienen und dann keine Arbeitsstelle in diesem Staate mehr finden. Dies ist untragbar für diese jungen Menschen.Aus Gesprächen mit ihnen weiß ich, daß sie darüber Klage führen, bei gleichen oder besseren Qualifikationen später befördert zu werden als Wehrpflichtige. Aus einem Regiment weiß ich, daß dort die durchschnittliche Beförderungszeit für SaZ inzwischen 16 Monate beträgt, während die Wehrpflichtigen, so wie es die ZDv 20/7 vorsieht, bereits nach zwölf Monaten zum Obergefreiten ernannt werden. Diese Benachteiligung trägt zur Dienstmotivation nicht bei. Hinzu kommt, daß sie heute bereits bei ihrer Einstellung als SaZ erfahren, daß sie keine Chance haben, Unteroffizier zu werden, da alle Planstellen besetzt sind. Ich erwarte deshalb von der Bundesregierung umgehend einen Bericht, welche Lösungen zu den von mir hier aufgeworfenen Fragen im BMVg vorbereitet werden.Die Probleme im Sanitätsbereich werden wir bei der Haushaltsberatung für den Etat 1985 besonders ansprechen. Hier sind dringend Lösungen erforderlich, wie der Wehrbeauftragte sehr eindrucksvoll nachgewiesen hat. Beschönigungen sind nicht angebracht.Mein Kollege Dr. Karl-Heinz Klejdzinski wird in einem weiteren Beitrag für meine Fraktion auf einzelne Probleme im Bericht des Wehrbeauftragten noch eingehen.Lassen Sie mich zum Schluß meiner Ausführungen auf einen besonderen Vorgang hinweisen. In der 25jährigen Geschichte des Wehrbeauftragten ist es ein einmaliger Vorgang, daß die erste Antwort des BMVg zum Jahresbericht 1983 des Wehrbeauftragten durch alle Parteien im Verteidigungsausschuß auf unseren Antrag hin zurückgewiesen wurde und eine zweite Synopse angefertigt werden mußte. Die Antwort der Bundesregierung ist in vielen Bereichen dürftig, unzureichend und blaß. Sie nimmt in so allgemeiner Form Stellung, daß es äußerst schwierig ist, Inhalte konkreter Art zu erkennen.Wir stimmen der Bewertung des Deutschen Bundeswehrverbandes zur Antwort der Bundesregierung zum Jahresbericht 1983 des Wehrbeauftragten zu, die wie folgt lautet:Allgemein ist festzustellen, daß die vom Wehrbeauftragten aufgezeigten zentralen Probleme, z. B. Verwendungsstau, vom BMVg zwar anerkannt und Lösungen hierzu auch für notwendig erklärt werden. Jedoch fehlt es in den meisten6478 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984HeistermannFällen am Aufzeigen konkreter Konsequenzen bzw. getroffener Entscheidungen. Deshalb bleibt die Stellungnahme in wichtigen Punkten unverbindlich und wirkt spiegelbildlich wie die gesamte enttäuschende Politik des BMVg bzw. der Bundesregierung zu wichtigen sozialpolitischen Fragen der Soldaten.Soweit die Stellungnahme des Bundeswehrverbandes.Wir danken dem Wehrbeauftragten für seine vorbildliche Arbeit. Wir bitten Sie, Herr Wehrbeauftragter, den Dank der SPD-Bundestagsfraktion an Ihre Mitarbeiter weiterzuleiten. Ihnen persönlich danken wir für Ihre Gradlinigkeit und vorbildliche Interessenwahrnehmung der Grundrechte der Soldaten und der Grundsätze der Inneren Führung.Die Soldaten in der Bundeswehr und ihre Familien können sicher sein, daß die SPD ihre Interessen so wie bisher in der Vergangenheit wahrnehmen wird. Wir werden die Regierung drängen, nicht nur zu reden, sondern endlich zu handeln.
Herr Präsident, namens meiner Fraktion beantragte ich Rederecht für den Herrn Wehrbeauftragten.Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Feldmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst zu Ihnen, Herr Kollege Heistermann. Sie sind heute so ein richtiger Miesmacher gewesen. Das paßt doch gar nicht zu Ihnen; Sie sind doch sonst auch nicht so. Freuen Sie sich doch, daß wir es sogar noch geschafft haben, die Erhöhung des Wehrsoldes vorzuziehen.
Das Weißbuch zur sozialen Situation der Soldaten kommt — das wissen Sie doch ganz genau — im Frühjahr nächsten Jahres. Eine Wehrdienstzeitverlängerung ist noch nicht angekündigt worden. Wer soll denn das angekündigt haben? Es sind Überlegungen auf der Hardthöhe im Gange, nicht mehr und nicht weniger.Zunächst aber möchte ich hier feststellen, daß wir heute nicht zahlreicher versammelt sind als bei der ersten Lesung. Ich bin fast geneigt, mich bei den anwesenden Soldaten auf der Tribüne zu entschuldigen. Aber bitte haben Sie Verständnis: man überrascht uns hier täglich mit Aktuellen Stunden und Ausschußsitzungen, so daß uns fast keine Zeit mehr fürs Plenum bleibt.
— Sie haben es deutlich gesagt, Herr Kollege Wimmer.Wegen der geringen Präsenz bei der ersten Lesung ist empfohlen worden, die erste Lesung ganz ausfallen zu lassen, sie mit der Schlußlesung zusammenzulegen und die Zeit entsprechend aufzustocken. Ich hielte einen solchen Verzicht auf die erste Lesung für bedauerlich. Meines Erachtens behandeln wir im Frühjahr und jetzt im Herbst zwei etwas unterschiedliche Diskussionsgegenstände, die jeweils ein eigenes Gewicht haben. Im Frühjahr stehen allein der Bericht des Wehrbeauftragten und seine Vorschläge zur Debatte. Jetzt, im Herbst, haben wir die Stellungnahme des BMVg dazu und haben uns hierzu zu äußern. Ich meine, es sollte uns nicht zu viel sein, wenn wir den Soldaten zweimal im Jahr in den Mittelpunkt unserer Debatten im Deutschen Bundestag stellen.
Meine Damen und Herren, wir müssen unsere Aufgabe ernst nehmen. Denn wir, das Parlament, haben zusammen mit dem Wehrbeauftragten darüber zu wachen — aber nicht kleinlich, mißtrauisch zu kontrollieren —, ob und daß unser Leitbild vom Bürger in Uniform keinen Schaden leidet. In der Bundeswehr leisten 495 000 Männer ihren Dienst, und wir haben einen jährlichen Durchlauf von fast 250 000 Mann. Sie alle müssen wegen des besonderen Auftrags der Streitkräfte eine gewisse Einschränkung ihrer Grundrechte in Kauf nehmen. Die Maxime von Befehl und Gehorsam und das besondere Disziplinarrecht lassen von einem „besonderen Gewaltverhältnis" sprechen. Wo aber ein solches „besonderes Gewaltverhältnis" besteht, kann es leicht Probleme mit der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geben. Hier fühle ich mich als Liberaler besonders in die Pflicht genommen, wenn es um die Rechte und Befugnisse des Bürgers in Uniform geht.Die Neufassung des Gesetzes über den Wehrbeauftragten stellt klar, daß dieses Amt Hilfsorgan des Deutschen Bundestages ist und keinesfalls in der Hierarchie des Bundesverteidigungsministeriums aufgehen darf. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise mißverständlich, wenn es in der Stellungnahme des BMVg heißt, 70% der Eingaben aus dem Sanitätsbereich seien unbegründet gewesen. Ob eine Eingabe unbegründet oder begründet ist, meine Damen und Herren, entscheidet allein der Wehrbeauftragte und nicht die Exekutive. Unsere Soldaten sollten sich da den Schneid nicht abkaufen lassen. Es ist gut, Herr Staatssekretär Würzbach, daß Sie diese etwas mißverständliche Formulierung in unserem Ausschuß korrigiert und richtiggestellt haben.Lassen Sie mich im Zusammenhang Rechtsstaat und Bundeswehr zwei kritische Anmerkungen zur Stellungnahme des Verteidigungsministeriums machen.Erstens. Der Wehrbeauftragte hat in seinem Bericht simplifizierende und pauschalierende Bewertungen wie „Die Bundeswehr ist die größte Friedensbewegung" kritisiert. Die Hardthöhe hat sich dieser Kritik des Wehrbeauftragten angeschlossen, zugleich aber zu Recht die umgekehrte Pauschalierung beklagt, nur der Zivildienst könne als der Frie-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6479
Dr. Feldmanndensdienst schlechthin angesehen werden. Dieser Klarstellung kann man zustimmen.Dann aber wurde meines Erachtens des Guten zu viel getan. So heißt es z. B.:Es kommt aber einer Umkehrung der Wertordnung des Grundgesetzes gleich, würde man den auf Grund einer Gewissensentscheidung geleisteten Ersatzdienst dem Dienst für die von der Verfassung geforderte militärische Landesverteidigung in der politischen Bewertung gleichsetzen.Dies liest sich, als wäre der Zivildienst ein Dienst zweiter Klasse. Wir Liberale sehen keine Veranlassung, den jetzt um fünf Monate verlängerten Zivildienst gegenüber dem Wehrdienst in irgendeiner Weise gering zu achten.Zweitens — Zitat aus der Stellungnahme des BMVg —:Die Loyalitätspflicht gebietet vor allem Vorgesetzten, deren persönliche Meinung von der geltenden Sicherheitspolitik abweicht, besondere Zurückhaltung.Herr Berkhan, Sie haben darauf die einzig richtige Antwort gegeben, daß nämlich Loyalität nicht mit „Wes' Brot ich eß, des' Lied ich sing" übersetzt werden darf. Es kann doch gar keine Frage sein, daß § 15 des Soldatengesetzes und das Gebot der Zurückhaltung in politischen Äußerungen unabhängig vom Inhalt der politischen Meinungen gelten. Die Bundeswehr ist eine Verteidigungsarmee einer lebendigen Demokratie, einer pluralistischen Gesellschaft. Und es gibt eben unterschiedliche Meinungen, ob uns das gefällt oder nicht.Lassen Sie mich auf die soziale Lage unserer Soldaten eingehen. Eigentlich sind es ja in jedem Jahr ähnliche Probleme, die vom Wehrbeauftragten hier vorgetragen werden. Lassen Sie mich die Probleme am Beispiel eines SaZ 12 erläutern. Dieser Zeitsoldat ist für die Truppe ein unverzichtbarer Träger der Ausbildung und Einsatzbereitschaft.
Er muß aber damit rechnen, im Laufe seiner 12jährigen Dienstzeit mindestens viermal versetzt zu werden, d. h. daß er viermal umziehen muß, daß seine Kinder viermal die Schule wechseln müssen, daß seine Frau viermal einen neuen Arbeitsplatz suchen und die Familie sich viermal einen neuen Freundeskreis aufbauen muß, von dem sie weiß, daß sie ihn in einigen Jahren wahrscheinlich wieder verlieren wird. Und wenn es ganz dick kommt — Herr Kollege Heistermann, Sie haben mit Recht darauf hingewiesen —, kann es sein, daß am Ende der 12jährigen Dienstzeit Arbeitslosigkeit droht, für die nicht entsprechende Vorsorge getroffen wurde.Wir alle können uns von dieser Situation an Hand der Mobilitätsstudie des BMVg überzeugen. Es gibt, meine Damen und Herren, kaum einen zivilen Beruf, der mit ähnlichen Belastungen verbunden ist.Natürlich wird in jedem Jahr etwas getan, um die Belastungen für die Soldaten und ihre Familien zu mindern. Die FDP begrüßt, daß in diesem Jahr vomVerteidigungsminister erhebliche Anstrengungen unternommen worden sind, um Nachteile des Soldatenberufs auszugleichen. Ich hebe da hervor: die Maßnahmen zur Verminderung des Verwendungs-und Beförderungsstaus. Die Personalausgaben sollen im Jahre 1985 überproportional, um 5,6 %, steigen. Aber reicht das auf Dauer aus, um die Situation der Soldaten nachhaltig zu verbessern?Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen Blick auf die Personalsituation der Bundeswehr in den 90er Jahren werfen und die sogenannte HorrorKurve ins Visier nehmen. Das wirklich Bedenkliche an der Horror-Kurve ist meines Erachtens nicht der Rückgang der Zahl der Wehrpflichtigen. Es sind doch gesetzgeberische Maßnahmen möglich, um die Ausschöpfung der Jahrgänge zu erhöhen und den Dienst zeitlich zu verlängern. Bedenklich wird die Situation, wenn es nicht gelingt, die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten auf den erforderlichen Stand zu bringen.
Herr Abgeordneter Dr. Feldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Klejdzinski?
Herr Klejdzinski, bitte, wenn Sie sich kurzfassen.
Herr Kollege, Sie haben vorhin angesprochen, daß die Personalausgaben um einen bestimmten Prozentsatz steigen, und damit den Eindruck zu erwecken versucht, als würde die soziale Lage der Soldaten damit verbessert. Aber ist es nicht vielmehr so, daß diese Steigerung der Personalausgaben notwendig ist, um bestimmte strukturelle Mängel zu beheben?
Herr Kollege Klejdzinski, Sie wissen doch genauso gut wie ich, daß es so ist, wie Sie gesagt haben. Deswegen haben wir doch die Ansätze für Personalausgaben erhöht. Wenn uns das nicht gelingt, kann die für 1989 von der Hardthöhe ins Auge gefaßte Wehrdienstverlängerung bezüglich der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr ein Bumerang werden. Sollte die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten, wie es die Hardthöhe in internen Dokumenten selber annimmt, nicht wesentlich über 200 000 gehalten werden können, könnte sich gerade durch eine Verlängerung des Wehrdienstes das Verhältnis von Ausbildern und Führungskräften in der Truppe zu auszubildenden Grundwehrdienstleistenden drastisch verschlechtern. Die Überbelastung der Langdiener, für die in vielen Verwendungsbereichen schon heute die 60-Stunden-Woche die Regel ist, würde bedrohlich zunehmen. Jeder einzelne Ausbilder hätte noch mehr Rekruten und Reservisten auszubilden als heute. Die soziale Situation der Berufs- und Zeitsoldaten könnte dann selbst auf dem heutigen Stand kaum gehalten werden. Von einer Verbesserung der sozialen Lage könnte schon gar nicht die Rede sein. Angesichts einer zu erwartenden schärferen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt würde dann aber auch die Bereitschaft zu einer längeren Verpflichtung rapide abnehmen.
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Dr. Feldmann
Sie wissen, ich bin kein Freund einer Wehrdienstverlängerung, aber über eines müssen wir uns alle im klaren sein: Voraussetzung für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr in den 90er Jahren ist ein möglichst hoher Anteil an Langdienern. Das gilt auch und gerade für den Fall einer Verlängerung des Wehrdienstes. Der Personalansatz muß vergrößert werden, vor allem für Längerdienende. Dies kann meines Erachtens, Herr Kollege Klejdzinski, nur zu Lasten einiger Großprojekte gehen. Es muß meines Erachtens auch zu Lasten einiger Großprojekte gehen; denn es sind weniger die Waffen, wovon die Einsatzbereitschaft unserer Bundeswehr abhängt, es sind vielmehr die Menschen. Die Qualität ihrer Ausbildung und ihre Motivation sind Voraussetzungen für die optimale Nutzung der Waffensysteme. Ihre soziale Lage, ihre Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen in der Truppe entscheiden über ihre Motivation. Und mit dieser Motivation steht und fällt die Einsatzbereitschaft. Daher wird für die Soldaten in den nächsten Jahren mehr getan werden müssen — da stimme ich Ihnen zu, meine Herren Kollegen Klejdzinski und Heistermann —, auch wenn dies zu Lasten anderer Bereiche im Verteidigungshaushalt gehen muß.
Auch ich darf zum Schluß im Namen der FDP-Fraktion dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern für die geleistete Arbeit danken.
Auch ich beantrage für den Wehrbeauftragten Rederecht. — Ich bedanke mich bei Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Berkhan! Ich bitte, nachher bei der Abstimmung zu klären, über was wir überhaupt abstimmen sollen. Denn im Text — Herr Hauser, wir haben gerade diesen kleinen Trick geklärt — steht, daß über die in dem Bericht enthaltenen Empfehlungen usw. hier abgestimmt werden soll. Über Ihren Bericht — mit dem ich mich gleich auseinandersetze — wäre damit abgestimmt. Dem können wir nicht zustimmen. Wir hätten aber den Empfehlungen des Wehrbeauftragten zustimmen können. Deshalb haben die GRÜNEN bereits getrennte Abstimmung beantragt.Wenn ich vor allem einigen Feststellungen und Anregungen der Berichterstatter, der Herren Hauser und Heistermann, widerspeche, so tue ich es in der Hoffnung, dem Vertrauen gerecht zu werden, das viele Soldaten als Staatsbürger dem parlamentarischen Wächteramt des Wehrbeauftragten und dem Deutschen Bundestag entgegenbringen.Die Empfehlung, den Jahresbericht des Wehrbeauftragten dem Verteidigungsausschuß ohne vorherige Aussprache im Plenum zuzuleiten, können wir — und da stimme ich dem Abgeordneten Dr. Feldmann zu — nicht mittragen. Würden wir ihr folgen, dann wäre das weder für die Soldaten noch für dasAmt des Wehrbeauftragten noch für den Deutschen Bundestag bekömmlich. Das Amt des Wehrbeauftragten verdankt seine Existenz dem Strukturbruch zwischen Bundeswehr und Gesellschaft. Einer noch sehr jungen Demokratie ist seinerzeit eine Institution aufgedrängt worden, die sich selbst nicht demokratisch strukturiert ist. Ich habe das in der Haushaltsdebatte bereits mit den Worten angedeutet: „Das Militär ist und bleibt ein Fremdkörper in einer jeden Demokratie, und es ist letztlich parlamentarisch nicht wirksam zu kontrollieren."
— Bei Ihnen!Dieser Satz hat Minister Dr. Stoltenberg Gelegenheit gegeben, sich schützend vor die Truppe zu stellen und sich auch noch auf diesem für ihn eigentlich gar nicht ressortgemäßen Terrain sozusagen als Nachrücker für den Kanzler Kohl zu empfehlen. Ein objektiv gemeinter Befund wurde so zur Ehrkränkung an die Adresse von einzelnen Soldaten umgedeutet. So kann man — an die Adresse von Dr. Stoltenberg — das Problem allenfalls karrierepolitisch angehen, aber nicht tatsächlich lösen. In Wirklichkeit ist es nämlich nicht lösbar, es sei denn durch Abschaffung dieser auf Befehl und Zwang beruhenden demokratiefremden Institution. Es muß erlaubt sein, die Institution des Militärs in Frage zu stellen und damit auch die der Gesellschaft aufgezwungene Arbeitsteilung in Sachen der sogenannten Sicherheit bis hin zum aufgenötigten Vernichtungsrisiko abzulehnen.
Es muß auch gestattet sein, Heinemann gegen Heuss zu wenden, Biedermeier gegen Aufklärung. „Nun siegt mal schön!" klingt, während nukleare Kriegführungsstrategien im Schwange sind, ohnehin nicht mehr so launig wie in der Gründerzeit der Bundeswehr. Ganz anders paßt das Ansinnen, die Bundeswehr solle in der Lage sein, sich selber in Frage zu stellen, in die veränderte Landschaft.Den Soldaten, den ich auf den Strukturbruch aufmerksam mache, achte ich als Staatsbürger. Ein Verstecken der Diskussion, die wir in der ersten Beratung des Berichts des Wehrbeauftragten hier coram publico geführt haben, in den nicht öffentlichen Verteidigungsausschuß halten wir für fatal, weil so die Möglichkeit, auf Mißstände in der Bundeswehr aufmerksam zu machen, verspielt wird. Der Wehrbeauftragte erfährt viel, er kann aber nicht alles wissen. Einer Fraktion bzw. den Abgeordneten geht es auch nicht besser; aber sie können flankierend auf Mißstände aufmerksam machen, die von ihrer je spezifischen Anhängerschaft an sie herangetragen werden, also Anhängerschaft Frau Krone-Appuhn und Anhängerschaft der GRÜNEN — sehr unterschiedliche Anregungen! Wenn dies frühzeitig öffentlich geschieht, kann sich der Wehrbeauftragte zwischen erster und zweiter Lesung damit befassen.Ich hatte jedenfalls, als wir am 30. März dieses Jahres in öffentlicher Debatte über Nachteile, denen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6481
Vogt
bekennende Nachrüstungsgegner in der Bundeswehr ausgesetzt waren, beraten haben, den Eindruck gewonnen, daß Herr Berkhan aufmerksam zuhörte. Es würde mich schon interessieren, in welcher Weise sich sein Amt mit den geschilderten Fällen befaßt hat.Eine allzu frühzeitige Verlagerung der Diskussion in den Verteidigungsausschuß ist auch deshalb fatal, weil wir uns in einer grundlegend veränderten sicherheitspolitischen und gesellschaftlichen Lage befinden.Zur veränderten Lage gehört einerseits die wachsende Kriegsgefahr und die Unfähigkeit, darauf abrüstungspolitisch angemessen zu reagieren. Dazu gehört aber auch der nicht zuletzt von Mitgliedern der Führungsakademie Hamburg und Mitarbeitern des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr festgestellte moralische Verfall der militärischen Sicherheitspolitik.
Ich zitiere Wolfgang Vogt von der Führungsakademie Hamburg, der von „moralischem Verfall der Anerkennungswürdigkeit und moralischem Verfall der Anerkennungsbereitschaft von Sicherheitspolitik" spricht. Die Zerstörungspotentiale, mit denen die Streitkräfte ausgerüstet sind, sind moralisch und ethisch immer weniger tolerierbar und werden, wie sich an der wachsenden Kritik innerhalb und außerhalb des Militärs zeigt, auch tatsächlich immer weniger toleriert.
Die Friedensbewegung hat viele Impulse auch von Soldaten erhalten. Das trifft nicht nur auf so bekannte Menschen wie Bastian und Mechtersheimer zu, sondern auch auf viele Reservisten und Kriegsdienstverweigerer in der Bundeswehr, die sich der Risiken ihres Dienstes nachträglich bewußt geworden sind und entsprechend gehandelt haben. Die Stationierungsentscheidung ist gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung getroffen, auch gegen den Willen vieler Soldaten.
Für den Bundestag und den Wehrbeauftragten als ein Hilfsorgan des Bundestages ergibt sich daraus die Notwendigkeit, das Problem, daß das Militär als vorgebliches Mittel der Sicherheitspolitik immer mehr zu einem Sicherheitsrisiko wird und als solches erkannt wird, zu akzeptieren und sich damit auseinanderzusetzen.
Auch für Sie ergibt sich diese Notwendigkeit.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Biehle?
Nein, Herr Präsident, ich lasse sie nicht zu.
Gilt das generell?
Es gilt für alle.
Die Aufforderung der Berichterstatter an die Schulen — ich zitiere —, „den Sinn des Wehrdienstes und den friedenssichernden Auftrag der Bundeswehr zu vermitteln", ist deshalb abwegig. Hier wird Lehrern etwas zugemutet, was Politiker selber nicht mehr leisten können,
nicht etwa, weil sie zu dumm wären, sondern weil die objektive Lage dies nicht mehr zuläßt.
Wenn die militärische Sicherheitspolitik zunehmend in Frage gestellt wird, dann ist das nicht Indiz für einen unzureichenden Schulunterricht,
sondern dafür, daß eine rationale Begründung der Sicherheitspolitik und des Wehrdienstes als deren Teil unter den heutigen Bedingungen nicht mehr zu leisten ist.
Aufgabe von Parlament und Wehrbeauftragtem ist es,
diese Debatte nicht unter den Tisch fallen zu lassen, sondern aufzugreifen und ihre Folgen für das Verhältnis von Militär und Gesellschaft und die innere Ordnung der Bundeswehr zu debattieren und bewußt zu machen.
Zu den veränderten Aufgaben von Parlament und Wehrbeauftragtem gehört daher erstens:
Den wachsenden Gewissenskonflikten von Soldaten ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dies bedeutet zum einen, Sorge zu tragen für den Schutz derjenigen, die sich während ihrer Dienstzeit in der Bundeswehr auf Grund der Konfrontation mit der militärischen Realität dafür entscheiden, den Wehrdienst zu verweigern. Dies bedeutet auch, eine Schutzfunktion für die sogenannten Totalverweigerer zu übernehmen, die unter Inkaufnahme von persönlichen Nachteilen durchsetzen wollen, daß in der Bundesrepublik ein wirklicher, und das heißt, ein gewaltfreier Friedensdienst geleistet werden kann.
Dieses bedeutet schließlich, dafür Sorge zu tragen, daß alle Soldaten die Möglichkeit haben, in der Friedensbewegung aktiv zu werden,
6482 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Vogt
über ihre Gewissensprobleme und über Alternativen zur aktuellen militärischen Sicherheitspolitik zu diskutieren. Die GRÜNEN begrüßen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts, daß auch Bundeswehrsoldaten sich in ihrer Freizeit in der Friedensbewegung ohne Nachteile engagieren dürfen, selbst wenn dies dem Kurs der Bonner Regierung zuwiderläuft. Wir begrüßen auch den Westerland-Appell der Christen für Frieden und Abrüstung.
Zweitens. Es ist die Pflicht von Parlament und Wehrbeauftragtem, dafür Sorge zu tragen, daß Soldaten als Menschen in Verantwortung und nicht als Befehlsempfänger behandelt werden. Die GRÜNEN tun dies, wie auch heute die Kollegin Kelly ausgeführt hat, indem sie die Soldaten nicht zu ihren Gegnern machen, sondern vielmehr immer wieder durch gewaltfreie Aktionen, Protestformen und Diskussionen appellieren, zu prüfen, ob die Soldaten die Folgen der militärischen Sicherheitspolitik, in die sie eingebunden sind und die sie tragen, mit ihrem Gewissen noch verantworten können.
Drittens. Schließlich betrachten wir es als Aufgabe des Parlaments und des Wehrbeauftragten, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen, daß immer mehr junge Menschen Soldat werden, nicht etwa weil sie für diese militärische Sicherheitspolitik sind, sondern aus sozialer Not, die nicht zuletzt durch die gigantischen Aufrüstungsprogramme und die damit verbundene Umverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen auf den Rüstungsbereich zu Lasten des sozialen Bereichs entsteht.
Was bedeutet es für diese Gesellschaft, meine Damen und Herren, wenn es sich junge Menschen nicht mehr leisten können, ihr Gewissen zu prüfen und ihm zu folgen?
Viertens wird es zu einer dringenden Aufgabe des Parlaments und des Wehrbeauftragten, der Frage nachzugehen, ob der Wehrdienst jungen Menschen heute überhaupt noch zumutbar ist.
Die vielzitierte Auffassung von Theodor Heuss, der Wehrdienst sei das legitime Kind der Demokratie, reicht angesichts der Bedrohung, die Rüstung und Militär heute für die gesamte Schöpfung darstellen, nicht mehr aus.
Wir brauchen darüber eine ausführliche gesellschaftliche Auseinandersetzung in der Bevölkerung, in der Friedensbewegung, aber auch im Parlament.
Die Antwort der GRÜNEN geht in Richtung Nein: Der Wehrdienst ist unter den heutigen Bedingungen nicht mehr zumutbar.
Daher unterstützen wir alle Versuche, den Kriegsdienst zu verweigern, und bemühen uns um eine Ausweitung dieser Möglichkeiten. Wir unterstützen die vielfältigen Aktionen der Friedensbewegung zur Verweigerung aller Kriegsdienste, die an diesem Wochenende mit dem Kongreß „Verweigert jetzt!" beginnen und ihren Höhepunkt zum Jahrestag der Stationierungsentscheidung mit den „Tagen der Verweigerung" vom 20. bis 24. November finden.
Wir fragen uns gemeinsam mit einigen Kräften in der Friedensbewegung, inwieweit ein Wehrbeauftragter von der gesetzlichen Ausstattung her den geschilderten Gewissenskonflikten noch gerecht werden kann.
Wir haben diese Frage bereits in der ersten Lesung angesichts des Befundes aufgeworfen, daß der Bericht, abweichend vom vergangenen Jahr, diesmal, ausgerechnet im Jahr der Nachrüstung, den Totalverweigerern, die er damals Dienstleistungsverweigerer nannte, keine gesteigerte Aufmerksamkeit mehr widmet. Dies hat mit dazu beigetragen, daß in einigen Organisationen der Friedensbewegung die Schaffung eines Ombud für Friedensarbeit diskutiert wird, also einer Institution oder Person, die Totalverweigerern und Friedensarbeitern Ermutigung und Schutz geben könnte. Der Ombud für Friedensarbeit soll auch den Gedanken fördern helfen, der Vollzeitkriegsstruktur eine Vollzeitfriedensstruktur entgegenzusetzen.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, gemäß § 115 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung ist verlangt worden, dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages das Wort zu erteilen. — Sie sind damit einverstanden.Das Wort hat der Herr Wehrbeauftragte.Berkhan, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Ich danke Ihnen, daß Sie mir auch in diesem Jahr Gelegenheit geben, von diesem Pult aus zu meinem Jahresbericht zu sprechen.Frau Abgeordnete Krone-Appuhn, meine Herren Heistermann, Dr. Feldmann und Vogt, ich habe großes Verständnis dafür, daß Sie vielleicht erwarten, ich würde auf Ihre Ausführungen eingehen. Das wird aber nur sehr unzureichend möglich sein, da ich meine, das Amt des Wehrbeauftragten verlangt
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Wehrbeauftragter Berkhanbei der Auseinandersetzung im Parlament eine große Zurückhaltung, um das Vertrauen aller Gruppen nicht zu stören.Frau Krone-Appuhn, Sie werden es mir nachsehen, wenn ich in einem Satz sehr vorsichtig und behutsam sage: Was Sie über meinen Dienstherrn Helmut Schmidt gesagt haben, trifft natürlich auch mich. Ich war damals sein alter ego. Ich saß auf dem Stuhl, auf dem heute Ihr Freund Kurt Würzbach sitzt. Aber das soll genug sein.
Wenn Sie auf dieses Redekonzept zurückkommen, denken Sie daran, daß vor der Wende noch ein Minister Apel da war. Das Alphabet beginnt bei A und endet vielleicht bei Z. Ich will keine Namen nennen.
Herr Heistermann, Sie sind auf die Wärme in der Truppe eingegangen. Das ist im Zusammenhang mit der Bemerkung von Frau Krone-Appuhn über die Funktion eines Kompaniechefs zu sehen. Ich halte es ohnehin für einen Irrtum, wenn man meint, deutsche Hochschulen dürften nur eine reine kalte Wissenschaft erbringen. Ob ich Arzt, Rechtsanwalt, Lehrer, Pfarrer oder Offizier werde, so wird dazu in der Praxis immer Umgang mit Menschen notwendig sein. Hierfür bedarf es der notwendigen Wärme. Ich meine, das Gebildetsein müßte die Fähigkeit einschließen, mit Menschen umzugehen. Erst dann hätte das Studium einen richtigen Sinn erfahren.Lassen Sie mich, Herr Feldmann, zu Ihnen eine Bemerkung machen. Ich bin natürlich mit Ihnen einer Meinung: Es kommt gar nicht darauf an, ob nun 30 % begründet und 70 % unbegründet waren. Wenn 30 % begründet waren, reicht es, insbesondere angesichts der sanitätsdienstlichen Versorgung. Wenn sich ein Mensch krank fühlt und er am Ende gesund geschrieben wird, es sich jedoch herausstellt, daß er doch krank war — ich habe da Erinnerungen an sehr traurige und tragische Fälle, die ich zu untersuchen hatte —, dann ist das eine schlimme Sache. Das stehe dem Ministerium nicht zu, sagen Sie als Abgeordneter. Ich begrüße Ihre Aussage. Ich will nicht sagen, daß ich mich dieser Aussage ausdrücklich anschließe. Aber vielleicht denkt das Ministerium darüber nach, wie man mit meinem Nachfolger im Amt in dieser Frage umgeht.Natürlich haben Sie recht, Herr Vogt und auch Herr Feldmann, daß die Äußerungen von Soldaten in politischer Hinsicht nach § 15 unabhängig davon zu bewerten sind, ob sie einer Mehrheitspolitik zustimmen oder ob sie eine Minderheitsmeinung vertreten. Es gehört, meine ich, auch zu einer pluralistischen Gesellschaft, daß wir in einer Wehrpflichtarmee bei aller Loyalität zum Dienstherrn ertragen müssen, daß unterschiedliche Vorstellungen — natürlich in gebührlicher Form, ohne den Dienst zu stören — vorgetragen werden.
Soweit ein paar Bemerkungen zu den bisher gemachten Ausführungen der Damen und Herren Abgeordneten.Ich habe mich in meinen Vorbemerkungen zum ersten Jahresbericht 1975 zu den Kernbereichen meines Aufgabengebiets, dem Schutz der Grundrechte und der Grundsätze der Inneren Führung, geäußert. Damals habe ich Ihnen berichtet, daß die Verletzung von Grundrechten der Soldaten unwesentliche Randerscheinungen geblieben seien und die allgemeine Respektierung der Grundrechte in den Streitkräften aus Überzeugung als gesichert bezeichnet werden könne. Diese Feststellung gilt heute genauso wie vor neun Jahren. Das möchte ich ausdrücklich betonen.Gleichwohl habe ich aber in meinem letzten Jahresbericht Fälle von schwerwiegenden Grundrechtsverletzungen dargestellt. Das geschah jedoch nicht, um die Existenzberechtigung meines Amtes nachzuweisen oder gar den Streitkräften etwas auszuwischen, sondern mir ging es darum, Ihnen, meine Damen und Herren, aber auch denen, die als Soldaten meinen Jahresbericht lesen, den verhängnisvollen Zusammenhang zwischen übermäßigem Alkoholgenuß und Grundrechtsverletzungen oder Dienstvergehen in den Streitkräften plastisch vor Augen zu führen.In nahezu jedem zweiten Mißhandlungsfall, den ich im Berichtsjahr überprüft habe, war Alkohol im Spiel. Ich glaube, sagen zu können: Ohne den Alkohol als eine wesentliche Ursache hätten wir in den Streitkräften die Zahl von Mißhandlungen Untergebener, aber auch umgekehrt die der Nötigungen Untergebener gegenüber Vorgesetzten oder die der Bedrohung von Vorgesetzten oder gar die der tätlichen Angriffe auf Vorgesetzte etwa um die Hälfte reduziert. In konkreten Zahlen hieße das — ich weise darauf hin, daß da sicher eine große Dunkelziffer ist; die jetzt bekannten Zahlen werden uns durch besondere Vorkommnisse bekannt —: Man müßte sich nur noch mit 20 bis 30 dieser häßlichen Fälle pro Jahr beschäftigen. Wenn ich „nur" sage, so doch in dem Bewußtsein, daß jeder Fall von Mißhandlung ein Fall zuviel ist. Aber wir sollten keinen Illusionen nachhängen. Bei nahezu einer halben Million Soldaten aus allen sozialen Schichten werden wir die Zahl solcher Fälle leider nie ganz in Richtung Null bringen. Doch die Chance, die Zahl erheblich zu reduzieren, ruft alle Verantwortlichen zur vermehrten Anstrengung auf. Ich bin froh, daß als erster, Herr Staatssekretär, ein allgemeiner Umdruck Nr. 300 als Führungshilfe im Jahr 1984 zu dieser Frage erschienen ist. Ich habe ihn bei mir liegen.Als ich in meinem Jahresbericht 1978 zum erstenmal über die Auswirkungen übermäßigen Alkoholgenusses auf Dienstpflichtverletzungen aufmerksam gemacht habe, hatte man schnell den Hauptschuldigen gefunden. Die Armee war es selbst, die den Saufteufel in ihre Reihen eingereiht hatte. So einfach war das damals. In der Folge machten hämische Vokabeln wie „Saufschule der Nation" oder „Säuferarmee" die Runde.6484 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984Wehrbeauftragter BerkhanHeute sehen wir hoffentlich alle — auch die schreibende und sprechende Presse — die Dinge etwas differenzierter. Ob wir es mögen oder nicht: Die Alltagsdroge Alkohol ist als Nahrungsmittel in einer gewissen Landschaft unseres schönen Vaterlands oder als Genußmittel in den anderen Landschaften inzwischen gesellschaftlich integriert. Wenn dies schon so ist und wenn es richtig ist, daß fast 40 % der Deutschen täglich Alkohol trinken, so muß derjenige, der Alkohol trinkt, damit umgehen können, insbesondere dann, wenn man als Vorgesetzter für junge Menschen Verantwortung zu übernehmen hat.
Genauso, wie der Autofahre lernen und wissen muß, daß Alkohol sein Fahrvermögen beeinflußt, muß sich der Vorgesetzte in unseren Streitkräften bewußt machen, daß sich Alkohol auch auf sein Führungsverhalten und damit auf die Ordnung und Disziplin seiner ihm unterstellten Soldaten auswirkt.Ich habe in meinem Jahresbericht Fälle genannt, in denen Vorgesetzten dieses Bewußtsein fehlte. Wer als Kompaniechef und Kompaniefeldwebel mit seinen Rekruten zum feierlichen Gelöbnis zu einer Patengemeinde fährt, der darf sich nicht gleich beim Empfang durch den Bürgermeister im Rathaus vollaufen lassen. Bitte entschuldigen Sie diesen harten Ausdruck, aber ich wollte das hier besonders deutlich sagen.
Ein solches Verhalten schadet nämlich nicht nur dem Ansehen der Bundeswehr — das allein wäre schlimm genug —, sondern birgt gleichsam den Keim für eine Kette dienstlicher Verfehlungen in sich. Sie können in dem Bericht nachlesen, was daraus alles geworden ist.Der Bundesminister der Verteidigung hat in seiner Stellungnahme angekündigt, die Alkoholprophylaxe in den Streitkräften erheblich verstärken zu wollen. Über die Führungshilfe habe ich hier schon gesprochen. Ich hoffe allerdings, daß diese Führungshilfe auch von den Kommandeuren, den Chefs und der Truppe angenommen wird. Ich hoffe, daß die angesprochenen Maßnahmen von der Truppe beherzigt werden. Informationsmaterial allein reicht doch nicht aus.
Nur dann, wenn die Probleme auf den Tisch kommen, wenn über diese Fragen mit den Soldaten bei der Offiziersausbildung, bei der Unteroffiziersweiterbildung, wo immer man es machen kann, diskutiert wird, vielleicht sogar im lebenskundlichen Unterricht durch den Seelsorger, besteht eine gewisse Chance, diese schwierige Situation besser in den Griff zu bekommen.Ich habe weiter in meinem ersten Jahresbericht 1975 zu einem anderen Herzstück meines Kontrollbereichs, nämlich der Einhaltung der Grundsätze der Inneren Führung, festgestellt, daß diese Grundsätze in der Bundeswehr anerkannt werden. Auch von dieser Feststellung will und muß ich heute nichts zurücknehmen. Daß immer wieder Verstöße gegen die Grundsätze der Inneren Führung vorkommen und wohl auch in Zukunft vorkommen werden, kann dieser Feststellung nicht entgegenstehen; denn die Grundsätze der Inneren Führung sollen von Menschen praktiziert werden, oft von sehr jungen Vorgesetzten, die früher als in anderen Berufen in solche Funktionen gekommen sind.Innere Führung ist eine Führungs- und Erziehungsaufgabe, eine Aufgabe also, die es praktisch umzusetzen gilt. Wie bei allen Hochzielen in unserem Leben gilt auch hier, daß bei der Umsetzung leider oft etwas verlorengeht.Wichtig ist aber, daß möglichst wenig verlorengeht, daß die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht zu weit auseinanderklafft und das Ziel immer in Sichtweite bleibt. Wichtig ist, in der Truppe die Bereitschaft wachzuhalten, auf das Hochziel hinzuarbeiten, den Versuch zu unternehmen, die Meßlatte möglichst hoch zu legen und sie dennoch ohne Touchierung zu überspringen, auf das Hochziel im Alltag hinzuarbeiten und die Verwirklichung der Grundsätze der Inneren Führung als ein besonderes Anliegen jedes einzelnen Soldaten und nicht nur als Anspruch des Dienstherrn an seine Soldaten zu sehen.Lassen Sie mich dies am Beispiel der Menschenführung verdeutlichen. Ich habe eine Reihe von Rahmenbedingungen genannt, die mir geeignet erscheinen, die Menschenführung in unseren Streitkräften zu verbessern. Der Minister hat in seiner Antwort den von mir genannten Rahmenbedingungen noch weitere hinzugefügt. Die für 1985 vorgesehene Erhöhung des der Längerdienendenanteils wirkt sich zusätzlich günstig aus; denn mit ihm wird das jetzt noch bestehende Unteroffiziersfehl deutlich weiter reduziert und eine wichtige Nahtstelle der Menschenführung, nämlich das Zahlenverhältnis zwischen Führer und Geführten, zwischen Unteroffizier und Mann, verbessert.Gute Unteroffiziere, so sagte Napoleon, sind der Kitt einer Armee. Dieser Kitt soll die Armee zusammenhalten. Diese Feststellung gilt damals wie heute. Der Unteroffizier ist der Vorgesetzte, zu dem der Mann den nächsten Kontakt hat. Er begleitet und führt den Mann durch den täglichen Dienst.Aber Kitt allein in Form von mehr Planstellen reicht doch nicht aus. Kooperatives Führungsverhalten von Vorgesetzten und mitdenkender Gehorsam Untergebener, beides sind Eckpunkte der inneren Führung, stellt hohe Ansprüche, oft so hohe Ansprüche, daß der junge Unteroffizier überfordert ist. Er bedarf der Hilfe. Diese Hilfe kann der Dienstherr allein durch eine verbesserte Unteroffiziersausbildung sicher nicht geben. Sie muß eingebettet sein in die positive Gestaltung des Gefühls- und Erlebnisbereichs des Unteroffiziers in seiner militärischen Heimat. Sie muß eingebettet sein in die Kompanie.Der junge Unteroffizier muß sich ein Beispiel nehmen können. Kompaniechef, Kompaniefeldwebel, Zugführer, die älteren, erfahrenen KameradenDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6485Wehrbeauftragter Berkhanmüssen Beispiel und Vorbilder sein. Vorbild erzieht mehr als Theorie.Aber leider fehlt beispielgebendes Führen dann und wann doch noch in den Streitkräften. Es gibt sogar gegenläufige Bewegungen. Negative Vorbilder bestimmen nach meiner Meinung noch zu oft Klima und Richtung. Meine Fallbeispiele im Jahresbericht belegen das. Wie sollen denn da die Rahmenbedingungen des Dienstherrn greifen? Es kommt also darauf an, das Klima zu verbessern.Um solchen unerwünschten Entwicklungen wirkungsvoll entgegentreten zu können, muß die Dienstaufsicht auf allen Führungsebenen verstärkt werden, aber Dienstaufsicht als Hilfe für die Untergebenen und nicht Dienstaufsicht als Schrecken. Ich bin dankbar, daß der Generalinspekteur auf der letzten Kommandeurtagung gerade auf diesen Punkt deutlich hingewiesen hat. Wie eine gute Sportausbildung noch keinen guten Sportler macht, ein noch so vorbildlicher Sportunterricht noch keinen Athleten formt, so bleiben ohne die Mitwirkung der Truppe die genannten Rahmenbedingungen leerer Rahmen. Das Bild im Rahmen fehlt. Daher muß die Truppe immer wieder zum Mitmachen gewonnen werden. Daher muß es gelingen, daß wir sie überzeugen, daß es ihre eigene innere Führung ist, um die es geht, und nicht die innere Führung des Dienstherrn, oder gar die innere Führung des Staates. Ohne Mühe, Anstrengung und Zähigkeit kann hier kein geistiger Fortschritt erzielt werden, aber ohne Theorie und ohne die Fähigkeit, theoretische Dinge zu bewältigen, eben auch nicht. Dem muß das Studium dienen.Zum Schluß möchte ich mich einem mich sehr bedrückenden Thema zuwenden, das auch in meinem Jahresbericht eine Rolle spielt. Das sind die schwerwiegenden Mängel bei der Gesundheitsfürsorge unserer Soldaten. Derzeit kann der Sanitätsdienst seinen Friedensauftrag, die vom Gesetz garantierte unentgeltliche Heilfürsorge für alle Soldaten sicherzustellen, mehr schlecht als recht erfüllen, und zwar hauptsächlich aus folgenden Gründen.Immer noch fehlen längerdienende Sanitätsoffiziere, Zeit- und Berufssoldaten. Grundwehrdienstleistende Sanitätsoffiziere, also Wehrpflichtige nach ihrem Studium, können diese Lücke nur unzureichend schließen. Sie kommen in der Regel frisch von der Universität und haben noch keine praktische Erfahrung im Umgang mit Patienten. Auch fehlen darüber hinaus noch grundwehrdienstleistende Ärzte, weil es nicht gelingen will, die gewünschte Zahl zur gewünschten Zeit einzuberufen. Die grundwehrdienstleistenden Sanitätsoffiziere werden auch noch schlecht ausgebildet. Das ist die Lage, wie sie sich mir aus Truppenbesuchen und vielen Gesprächen mit Betroffenen und zirka 500 Eingaben darstellt.Manche der hier aufgezeigten Mängel bestehen nicht erst seit 1983 — über das Jahr berichte ich —, sondern gehen bis in die Anfangsphase der Bundeswehr zurück, so z. B. das beträchtliche Fehl an Sanitätsoffizieren, mit dem wir trotz der Ärzteschwemme noch einige Zeit werden leben müssen. Wie Sie wissen, werden seit 1964 zur Deckung dieses Fehls grundwehrdienstleistende Sanitätsoffiziere eingezogen, aber im letzten Quartal 1983 und in diesem Frühjahr stand der Truppe nicht einmal die benötigte Anzahl von grundwehrdienstleistenden Sanitätsoffizieren zur Verfügung. So fehlten z. B. in einer Division des Heeres bei einem Bedarf von 31 SanOffizieren Arzt 9 Truppenärzte, fast ein Drittel. In einer Reihe von Bataillonen des Heeres fehlt der eigene Truppenarzt überhaupt, und in manchen Standorten kann seit Monaten nur noch ärztliche Notversorgung durchgeführt werden. Die Truppe nimmt daher zu Recht Anstoß daran, daß bei dieser Situation dennoch 46 grundwehrdienstleistende Ärzte zweckentfremdet als Musterungsärzte verwendet werden. Eigentlich ist das ja eine Aufgabe der zivilen Behörden der Bundeswehr und nicht des uniformierten Dienstes.Wenn wir auch — ich kann das auch nicht — Zeit- und Berufssanitätsoffiziere nicht herbeizaubern können, muß es doch gelingen, zumindest genügend grundwehrdienstleistende Ärzte einzuberufen, und hier muß etwas Entscheidendes getan werden. Ich kann mich jedenfalls mit der resignierenden Antwort des Ministers auf meinen Jahresbericht, daß Versuche, in jedem Monat eine im Voraus genau festgelegte Zahl an Sanitätsoffizieren zum Grundwehrdienst einzuberufen, in der Vergangenheit keinen Erfolg gehabt hätten, nicht abfinden.
Wenn das z. B. bei Elektronikern, bei Kfz-Mechanikern und bei den anderen Berufen, Fernmelde-, Gerätemechanikern, auch passierte, dann könnten wir — fast hätte ich gesagt: den Laden zumachen, aber das ist etwas despektierlich — im Alltag auf den militärischen Dienst der Streitkräfte verzichten.Aber es müssen nicht nur ausreichend viele Ärzte einberufen werden, auch ihre Ausbildung muß verbessert werden; sonst sind sie nicht mehr als Füllmasse. Ich habe in den neuneinhalb Jahren, in denen ich dieses Amt bekleide, nicht einen einzigen grundwehrdienstleistenden Arzt angetroffen, der sich nicht negativ über seine Ausbildung, insbesondere seinen Einweisungslehrgang bei der Sanitätsakademie, geäußert hat. Der Bundesminister der Verteidigung macht hierfür u. a. die erheblich schwankende Zahl der Lehrgangsteilnehmer — im Jahr 1983 zwischen 50 und 210 Teilnehmern — verantwortlich und räumt dann ein: „Damit wird selbst eine nur halbwegs ausreichende organisatorische Vorbereitung äußerst schwierig." Ich meine, wenn ein Lehrgang nicht einmal halbwegs ausreichend vorbereitet werden kann, dann muß er eben geändert werden, oder man muß ihn ganz streichen und muß sich dann etwas anderes einfallen lassen.Ich bleibe dabei, daß die Sanitätsakademie von den Formalitäten der ersten Wochen, wie Einkleidung, Einstellungsuntersuchung, Fototermin, Ausgabe eines Ausweises und dergleichen mehr, entlastet werden muß. All dies kann schon im zukünftigen Stammverband des einberufenen Arztes als Soldat erfolgen. In der einen Woche, die der zukünftige Truppenarzt dann hier bei seinem Stammverband verbringt, lernt er den Verband kennen, und er lernt auch schon Personen kennen. Ich bin über-
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6486 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Wehrbeauftragter Berkhanzeugt, daß das Erleben seines eigenen Verbandes, Tips und Hinweise des dort tätigen Truppenarztes und anderer Kameraden bewirken werden, daß der betreffende Arzt seinen Lehrgang bei der Sanitätsakademie mit einer ganz anderen Motivation antritt.Was spricht dagegen? Zum Beispiel zusätzliche Reisekosten, wird mir gesagt, oder daß der Mann noch nicht grüßen kann. Das letztere erscheint mir nun wirklich untergeordnet. Ich bezweifle, meine Herren Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die in diesem Jahr erstmals eine Wehrübung gemacht haben, ob Sie so darunter gelitten haben, daß sie noch nicht richtig grüßen können, ob die Truppe so darunter gelitten hat. Für mich ist der Truppenarzt in erster Linie Arzt, Betreuer der Soldaten. Er ist doch kein Grüß-Gott-Schorsch.
Ich bleibe auch dabei, daß der Lehrgang der Sanitätsakademie praxisnäher gestaltet werden muß und werden kann. Nicht umsonst verlangen die Kassenärztlichen Vereinigungen, bei einem Arzt der Kassenarztzulassung zwei Jahre klinische Praxis vorangehen zu lassen. Hingegen werden grundwehrdienstleistende Ärzte zu einem Teil gleich nach der Universität auf die Menschheit — hier: auf die Soldaten — losgelassen.Darum gilt für mich: in der Kürze der Zeit, die wir nur haben, so viel Praxisnähe und Praxiskenntnis wie möglich, und daher sollten eben auch mehr leitende Sanitätsoffiziere aus der Truppe für Vorlesungen oder Vorträge tage- oder stundenweise an die Sanitätsakademie abkommandiert werden.Ich freue mich darüber, daß der Minister mit mir darin übereinstimmt, daß die Vordermannausbildung der grundwehrdienstleistenden Ärzte zwingend erforderlich ist und daß auch an ihr festgehalten wird. Für diejenigen, die sich nicht damit beschäftigen: Vordermannausbildung bedeutet nicht „Richt' euch" und „Augen geradeaus", sondern der neue Arzt soll drei oder vier Wochen lang gemeinsam mit dem alten Truppenarzt arbeiten. Das nennt man so schön militärisch Vordermannausbildung. Die soll also erhalten bleiben. Aber die Durchführung der Vordermannausbildung setzt natürlich voraus, daß genügend Ärzte vorhanden sind. 1983 war dies nicht der Fall. Ich habe jedenfalls aus dem Heer erfahren, daß in manchen Großverbänden die Vordermannausbildung überhaupt nicht stattfindet.Das starke Engagement, mit dem dennoch die vielen grundwehrdienstleistenden Ärzte unter diesen Umständen ihren Dienst verrichten, verdient meine Anerkennung und, so hoffe ich, auch Ihre Anerkennung.
Es entläßt uns aber nicht — insbesondere Sie nicht — aus der Verpflichtung der Fürsorge gegenüber dem jungen in der Truppe tätigen Arzt.Wir dürfen daher unsere Augen nicht davor verschließen, daß viele Truppenrärzte weit mehr Soldaten zu betreuen haben, als es dem Betreuungsschlüssel von 800 entspricht. Ich habe Truppenärzte angetroffen, die die doppelte Zahl von Soldaten zu betreuen haben. Dort wären also eigentlich zwei Ärzte erforderlich. Bei solchen Zahlenverhältnissen bleibt dann sehr häufig nicht nur der Patient, sondern auch und insbesondere der junge Truppenarzt auf der Strecke. Ärzte und Patienten bedürfen also unserer fürsorglichen Hinwendung.Können wir es denn unseren Berufs- und Zeitsoldaten, die ja zu dem gleichen Arzt gehen, zumuten, sich bei jedem Besuch einem neuen Arzt anvertrauen zu müssen, jedesmal neu ihre Krankengeschichte vortragen zu müssen? Ich glaube, jeder von Ihnen würde rebellieren, wenn ihm so etwas zugemutet würde. Haben Soldaten im Frieden denn nicht auch Anspruch darauf, von einem Hausarzt behandelt zu werden, der sie kennt und den sie kennen? Fast jeder von uns nimmt doch dieses Recht in Anspruch.Ich denke auch an die grundwehrdienstleistenden Soldaten. Welche Ehefrau dieser jungen Männer, welche Mutter, welcher Vater, welche Eltern schicken denn den Sohn noch gern zur Bundeswehr, wenn sie befürchten müssen, daß die ärztliche Betreuung des Soldaten unzureichend ist? Wenn wir durch Gesetz unsere jungen Männer verpflichten, mit Waffen umzugehen, schweres Gerät zu handhaben und bei Wind und Wetter Dienst im Gelände zu verrichten, muß auch die ärztliche Betreuung stimmen.
Herr Abgeordneter Vogt, Sie werden kein Verständnis dafür haben, aber ich will es offen und ehrlich sagen: Ich werde mich in die Auseinandersetzung über die Friedensbewegung nicht einmischen. Das, was ich zum offenen Wort in den Streitkräften zu sagen hatte, habe ich zu Beginn gesagt. Dennoch, seien Sie versichert: Der Wehrbeauftragte hat auch dort, wo Soldaten in Bedrängnis waren, wo sie nach meiner Überzeugung zu arg wegen ihres Engagements in der Friedensbewegung bedrängt wurden, Mittel und Wege gefunden, diesen Soldaten beizustehen. Das geschieht nicht immer laut und mit großen Erfolgsmeldungen, weil es nie guttut, wenn es Sieger und Besiegte gibt; der Kompromiß ist j a das Heilsamste im demokratischen Leben. Daher bitte ich Sie, mir abzunehmen, daß ich mir Mühe gegeben habe. Daß ich nicht alle Ihre Wünsche erfüllen konnte, liegt in der Natur der Sache.Ich schließe mit der eindringlichen Bitte an Sie alle, nicht bis in die 90er Jahre damit zu warten, daß sich die Personallage — insbesondere die Personallage bei den Sanitätsoffizieren — bessert, sondern jetzt schon alles Erdenkliche dafür zu tun, die Führerlücke zu schließen, mehr Sanitätsoffiziere zu haben und damit dazu beizutragen, unseren Streitkräften im Alltag ihr ohnehin schweres Geschäft etwas zu erleichtern.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Wehrbeauftragter! Herr Präsident Westphal hat zu Beginn der Aus-
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Vizepräsident Wurbssprache bereits darauf hingewiesen, daß Sie heute nach fast 10jähriger Amtstätigkeit zum letztenmal in diesem Haus zu Ihrem Jahresbericht Stellung nehmen. Aber ich möchte noch ein Wort hinzufügen dürfen. Ihr so erfolgreiches Wirken wird von berufener Stelle wohl noch gewürdigt werden. Dennoch nehme ich die heutige Debatte zum Anlaß, Ihnen schon heute, sicherlich im Namen aller Mitglieder des Deutschen Bundestages, für Ihren Einsatz recht herzlich zu danken. Wir werden Sie hier vermissen.
Meine Damen und Herren, auf der Ehrentribüne hat eine Delegation beider Häuser des österreichischen Parlaments unter Leitung des zweiten Präsidenten des Nationalrates, Herrn Roland Minkowitsch, Platz genommen.Ich habe die Ehre, Sie im Deutschen Bundestag zu begrüßen. Wir wünschen Ihnen einen erfolgreichen und angenehmen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Besuch, über den wir uns sehr herzlich freuen, drückt unsere guten Beziehungen wie unser nachbarliches Miteinander aus. Herzlich willkommen in der Bundesrepublik Deutschland!
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung.
Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen. Herr Wehrbeauftragter, ich möchte Ihnen im Namen aller Soldaten und im Namen des leider abwesenden Verteidigungsministers herzlich danken, danken für den Bericht, den Sie auch für diesen Berichtszeitraum wieder vorgelegt haben, aber darüber hinaus einen Dank Ihnen persönlich ausdrücken für die Art und Weise, für Ihr Engagement, für Ihren erfahrenen Einsatz, mit dem Sie sich um jeden einzelnen Soldaten, der Sie dazu rief oder bat, gekümmert und damit zum Wohl unserer Soldaten und zum Wohl unserer Bundeswehr gearbeitet haben. Dafür sagen wir aufrichtigen, offenen Dank, Ihnen als Person, als Persönlichkeit, weit mehr als nur der Institution, der Sie durch diesen Einsatz ein hohes Ansehen verschafft haben. Und was mich persönlich freut, Herr Berkhan, ist, daß Sie bei all diesem Einsatz, der eine Menge forderte, frisch und gesund geblieben sind. Die im nächsten Jahr fast 70 Lenze merkt man Ihnen nicht an. Vielen Dank für diesen Einsatz für unsere Soldaten!
Herr Wehrbeauftragter, Sie haben in Ihrem Bericht einige Kapitel — die Reihenfolge stellt keine Gewichtung dar — herausgehoben. Ich möchte zunächst einige Bemerkungen zu dem Bereich machen, in dem Sie sich mit der Debatte im letzten Herbst über die Sicherheitspolitik auseinandersetzen, und hier sehr deutlich feststellen, daß es bei unseren Soldaten unabhängig vom Dienstgrad zu einer Verwirrung und Irritation geführt hat, miterleben zu müssen, daß nach dem Regierungswechsel die bisherige Regierungspartei einen solch rapiden Kurswechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik vorgenommen hat. Dies ist mit Verwirrung und Irritation tief in die Bereiche, alle Dienstgrade unabhängig vom Status treffend, der Truppe hineingegangen.
— Wissen Sie, Sie können dies am besten nachlesen, weil diesen Quellen von Ihnen mehr Glauben geschenkt wird. Vielleicht waren Sie selbst dabei, als der Fraktionsvorsitzende Vogel vor wenigen Tagen zu einem Treffen mit der SPD angehörenden aktiven Soldaten eingeladen hat. Dort ist noch massiver, als ich es eben tat, genau dies von den Soldaten gesprochen worden.
Lesen Sie dies nach.
Ich verweise zu dem Kapitel Sicherheitspolitik und den Betrachtungen des Wehrbeauftragten, die beide Seiten beinhalten, auch auf die Debatte über das Verhalten im Manöver, die uns heute morgen zusammengeführt hat. Hier sah man den Gesichtern einiger Ihrer Kollegen in der Fraktion sehr deutlich an — es ist gut, daß dies von vorne sehend abzulesen war —, daß Sie die Auffassung teilten, daß solches Verhalten mancher die Soldaten verwirrt, irritiert und verunsichert. Ich will hier sehr klar formulieren: Wer sich einreiht in die Reihen derer, die gegen unsere Soldaten, gegen die Bundeswehr und damit gegen jeden einzelnen Mann, der draußen in Uniform seinen Dienst tut, demonstrieren, agitieren, blockieren, der verstößt — ich nehme dieses Wort bewußt auf — in einer überhaupt nicht gutzumachenden Form gegen die Fürsorge, die er erst recht als gewählter Politiker gegenüber den Streitkräften der Bundeswehr und gegenüber jedem einzelnen Soldaten hat.
— Nein.
Herr Staatssekretär, gilt das generell? — Gut.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich würde mir wünschen, daß Sie so wie der Verteidigungsminister und der Bundeskanzler — wo immer Sie können
und nicht nur dort, wo dies einmal irgendwo gefordert ist —, vor der Öffentlichkeit deutlicher klarmachen, daß der Dienst, den unsere Soldaten leisten, ein Friedensdienst, ein — wie es der Bundeskanzler
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6488 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Parl. Staatssekretär Würzbachhier in aller Klarheit formuliert hat — Ehrendienst ist.
Den Kollegen Abgeordneten aus allen Parlamenten rufe ich zu: Wenn wir das Prinzip „Primat der Politik" ernst nehmen, Herr Kollege, dann hat der Soldat, dann hat erst recht der Wehrpflichtige, auch Ihr Sohn, ein Anrecht darauf, daß der Abgeordnete diese Fürsorge gegenüber den Wehrpflichtigen, wo immer er kann, auch durch sein Verhalten und durch sein Eintreten und seine Fürsprache für die Soldaten in allen Situationen deutlich macht.
In den letzten Jahren ist die Durchführung von öffentlichen Gelöbnissen, nämlich das In-diePflicht-Nehmen unserer jungen Soldaten, den Gesetzen der Demokratie zu gehorchen, erfreulicherweise wieder zur Regel geworden. Wir verstecken die Soldaten nicht — wie es eingerissen war — in der Kaserne hinter dem Zaun, sondern wir gehen mit ihnen, den Menschen, die als Soldaten Bürger in Uniform sind, auf die Plätze zu den Bürgern, um die Bürger als Zeugen teilhaben zu lassen an dieser In-die-Pflichtnahme.
Herr Kollege Heistermann, wenn Sie noch einmal Punkt für Punkt und Aussage für Aussage prüfen und mir einen Unterschied in einer Sachaussage zwischen der Ihnen übergebenen Stellungnahme des Ministeriums und den Ergebnissen von jemandem, der sich — wie ich es im Ausschuß gesagt habe — langhangeln will an der Reihenfolge des Berichts des Wehrbeauftragten, dann können Sie mir was weiß ich welche Dinge abverlangen.
Sie finden keinen. Die Unterschiede, die Sie konstruieren wollen, sind unsachlich.Herr Wehrbeauftragter, Sie anerkennen und begrüßen die Durchführung und die Umsetzung der Ergebnisse der verschiedenen Tagungen, Tagungen, unter Teilnahme von Geführten und Führern, von Müttern von Wehrpflichtigen, von Kommunalpolitikern, die Unteroffiziere oder Offiziere sind. Wir werden diese Kette von Tagungen fortsetzen. Im nächsten Jahr ist eine geplant, um das Kantinenwesen mit den Wehrpflichtigen, mit den Kasernenpflichtigen, mit den Kantinenpächtern und den Gesellschaften und Kommandeuren zu einem Thema zu machen. Ich lade alle Fraktionen dazu ein, dies entsprechend mit uns so auf- und vorzubereiten, daß das eigentliche Ergebnis, das wir anstreben, erreicht wird.Herr Wehrbeauftragter, ein wichtiger Abschnitt in Ihrer Unterrichtung ist dem Personal gewidmet. Dem möchte ich mich nun zuwenden, weil auch wir den Fragen um den einzelnen Mann als Menschen höchste Priorität vor all den anderen Dingen einräumen.
— Sie werden zur ärztlichen Fürsorge — ich freue mich, daß Sie Anteil daran nehmen — von mir gleich ein klares Wort hören. —Zur Unteroffizierslage: Wer sich die Meldungen ein wenig anschaut oder den Haushalt durchblättert, wird die Formulierung zu unterstreichen haben, die ich hier jetzt gebrauche: Noch nie hat es in der Bundeswehr mehr Unteroffiziere gegeben als heute.
Noch nie war das Verhältnis Wehrpflichtiger — Unteroffizier, Geführter — Führer, wie der Wehrbeauftragte eben gesagt hat, besser als heute. Zur Klarstellung eine Zahl: In den Jahren 1983 bis 1985 sind mehr als 10 000 Unteroffiziere in die Bundeswehr hineingekommen.
Was dies bedeutet, weiß der Soldat und auch der sich mit den Streitkräften beschäftigende NichtSoldat zu beurteilen. Es sind weniger Wehrpflichtige in weniger Situationen sich selbst überlassen. Daß wir diese Unteroffiziere gut auszubilden haben, daß sie über alle Fähigkeiten und Fertigkeiten und menschlichen Stärken verfügen, die eine solche Aufgabe abverlangt, ist unbestritten.Der Spitzendienstgrad, d. h. als Unteroffizier das Ende der Laufbahn nicht beim Hauptfeldwebel erreicht zu haben, sondern Stabs- und Oberstabsfeldwebel werden zu können, ist wieder eingeführt. Zehn Jahre wurde geredet, in jedem Wehrbeauftragten-Bericht hat es gestanden, viel wurde gefordert, jetzt gibt es diesen Spitzendienstgrad wieder, und er hat einen hohen Stellenwert und eine hohe Anerkennung bei den Portepee-Unteroffizieren erreicht.
— Ich bin noch beim Personal.—Die Gruppenführer in der Kampftruppe bei den Schützenpanzern werden stufenweise — damit ist begonnen worden — Feldwebel, nicht mehr Unteroffizier. Sie stehen länger, sie sammeln mehr Erf ah-rung.Was den Verwendungsstau angeht, ein Thema, das sich in den letzten Jahren wie ein roter Faden durch die Berichte zog, so ist im Bereich der Unteroffiziere mit dessen Abbau begonnen worden.
Wir haben in den letzten Jahren — trotz des Sparens — eine Reihe von Stellen in den Haushalt eingestellt, um hier zu mindern.
3 500 Veränderungen konnten vorgenommen werden, um den Verwendungsstau in ersten Schritten
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Parl. Staatssekretär Würzbachabzubauen. Ausgangspunkt der Regierung bis 1982 war Null.
Ich komme jetzt zu den Offizieren des militärfachlichen Dienstes, eine Laufbahn, die sich bewährt hat, eine Laufbahn, in der die Soldaten, die ihr zugeordnet sind, durchweg gute Leistungen bringen. Hier ist das Verhältnis Leutnant/Oberleutnant zum Hauptmann bisher 70 : 30 gewesen, ein Punkt, den Sie oft moniert haben. Wir haben dies inzwischen in einem ersten Schritt auf 64 : 36 verbessert. Jetzt können in dieser Laufbahn mehr verdiente Männer vor Ausscheiden Hauptmann werden. Das Ziel ist — und hier sind die Maßnahmen eingeleitet, im Haushalt an den Zahlen ablesbar —,
zu einem Verhältnis von 60 : 40 zu kommen. Das sind alte Forderungen, die jetzt erreicht werden.
Auch sind die Fachdienstoffiziere in die 3 500 Stellen einbezogen gewesen.Ich komme nun zu den Truppenoffizieren: Hier sind die genannten Zahlen ebenfalls auf die Truppenoffiziere zu beziehen. Leider stand in dem übernommenen Fünfjahresplan, den Sie uns gegeben haben, zum Abbau des Verwendungsstaus 0,00.
Es ist schon abenteuerlich, wenn jetzt der Verteidigungsminister, der keine Vorbereitung, keine Vorarbeiten vorfand, hier in dieser Hinsicht gescholten wird.
— Im Fünfjahresplan stand 0,0. Wir haben begonnen, den Verwendungsstau abzubauen, die Konzepte sind fertig, der Bundeskanzler und der Finanzminister unterstützen dies. Wir werden dies zum 1. Januar 1986 wirksam werden lassen und dann den Verwendungsstau in verschiedenen Schritten abgebaut haben.
Ich mache das Parlament darauf aufmerksam, daß sich heute, wo darüber geredet wird, ein SPD-Sprecher aus dem Verteidigungsausschuß — also nicht irgend jemand — hinstellt und diesen endlich kommenden Plan, der überfällig war, torpediert, als Unsinn bezeichnet.
Das soll er einmal der Bundeswehr, der Truppe, den verantwortlichen Vorgesetzten und bitte auch dem Wehrbeauftragten zu erläutern versuchen, was die SPD hier auf Kosten der Einsatzfähigkeit der Truppe für eine zweideutige, um mich noch zurückhaltend auszudrücken, Politik betreibt.
Meine Damen und Herren, leider war die Dienstzeitregelung durch eine politische Entscheidung, nämlich um 30 Millionen DM zu sparen, so beeinträchtigt worden, daß die Vorgesetzten in eine schwierige Situation gebracht wurden, die das Vertrauen der Soldaten stark erschüttert hat. Wir haben eine vernünftige, berechenbare Dienstzeitregelung wiederhergestellt
und die Teilstreitkräfte beauftragt, ein Modell zu entwickeln, das im nächsten Jahr in Kraft treten wird, um zu einem gerechten Ausgleich zu kommen.Sehr klar will ich hier sagen: Der Verteidigungsminister wird solchen Forderungen nicht entsprechen, die eine Dienstzeitregelung ähnlich der bei den Beamten für Soldaten einführen wollen. Dies werden wir nicht tun;
denn dies hieße, die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr in Frage zu stellen. Hier müssen andere Maßnahmen des Ausgleichs und einer gerechten Dienstplangestaltung ergriffen werden.
Die kompanieweise Auffüllung ist inzwischen eingeführt und abgeschlossen und damit, Herr Wehrbeauftragter, Ihre Forderung erfüllt, den Soldaten wieder ein Zuhause zu geben. Man kennt sich. Man lernt einander vertrauen, die Stärken und Schwächen kennen, untereinander wie der verantwortlichen Führer und umgekehrt.Ich komme auf den Komplex der Einberufungen. Hier sind in den letzten Jahren Änderungen im Interesse des Menschen vorgenommen worden. Derjenige, der arbeitslos ist, sich meldet und in dieser Zeit zur Bundeswehr will, wird genommen. Er hat Vorrang. Der Abiturient wird, soweit es geht, in den Quartalen einberufen, die ihm nachher einen nahtlosen Übergang zum Studium ermöglichen. Jemandem, der zurückgestellt werden möchte, werden wir diesen Wunsch erfüllen. Leider werden wir dem Wunsch auf heimatnahe Einberufung nur begrenzt und in Ausnahmefällen entsprechen können. Das hängt mit der Geographie und dem Aufkommen der Wehrpflichtigen zusammen. Klar ist, daß nicht der Computer, sondern jeweils im Einzelfall der Mensch berücksichtigt
und immer wieder versucht wird, berechtigten Interessen Rechnung zu tragen.
6490 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984Parl. Staatssekretär WürzbachMit der Einführung einer äußerst großzügigen Regelung der vorzeitigen Entlassung geht der Verteidigungsminister den Männern, die ihrer Pflicht nachgekommen sind, in einer Form entgegen, wie sie nicht noch weiter auszudehnen ist. Wir geben eine Vielzahl von Sonderurlaub. Zusammen mit dem normalen Urlaub bedeutet dies, am Ende des Wehrdienstes die Bundeswehr bis zu zwei Monate vorzeitig verlassen zu können. Hier gehen wir an die Grenze der für die Einsatzfähigkeit notwendigen Präsenz. Wir tun dies, um den jungen Menschen zu helfen.Es wurde hier über den Wehrsold gesprochen. Wir begrüßen, daß nicht nur die Zusage der Erhöhung eingelöst, sondern der Zeitpunkt sogar vorgeholt werden konnte. Dies haben unsere jungen Wehrpflichtigen, die eine harte Pflicht unter unbequemen Bedingungen, eine Pflicht für uns, zu erfüllen haben, verdient.
Ich möchte beim Erwähnen des Wehrsoldes darauf hinweisen, daß es eine gemeine Unterstellung ist, wenn den wehrpflichtigen Soldaten, aber auch allen anderen Soldaten, durch welche Formulierung auch immer man das geschickt ausspricht oder andeutet,
unterstellt wird, daß sie nicht in derselben gültigen, ernsten Form wie die ihr Gewissen geprüft haben, die eine andere Entscheidung gefällt haben.
Jeder Soldat in der Bundeswehr hat sein Gewissen geprüft und ist nach Prüfung dieses Gewissens zu der Entscheidung gekommen: Jawohl, der Dienst, unter diesen Umständen, in dieser Streitkraft, für diesen Staat, mit dem Ziel, Krieg abzuwehren und den Frieden zu erhalten, lohnt sich.Diese wehrpflichtigen Soldaten — ich möchte das hier vor dem Plenum erwähnen — haben innerhalb Jahresfrist über eine halbe Million DM für eine Aktion gespendet, die wir gemeinsam mit der Welthungerhilfe durchführen, Überschrift: „Soldaten helfen Kindern in der Dritten Welt". Soldaten mit niedrigem Sold haben in einem Jahr über eine halbe Million gespendet.
— Das finde ich einen schlimmen Zwischenruf. Ich ermuntere Sie: Rufen Sie auch andere Organisationen auf,
sich bei knappem Geld selbstlos für andere zu engagieren.
Verehrte Kollegen, wir werden, um die entlassenen Soldaten in der schwierigen Arbeitsmarktsituation besser abzusichern
— und dafür haben wir Geld im Haushalt eingestellt —, etwa dem Entwicklungshelfermodell folgend, die soziale Absicherung für Zeitsoldaten verbessern.Wir haben in der Bundeswehr im Augenblick 5 300 Lehrlinge, die dort ihren Dienst tun, damit wir auch als Bundeswehr neben unserem Auftrag Jugendlichen helfen.Herr Wehrbeauftragter, im Ausschuß schon — ich wiederhole das — rieben wir uns ein wenig bezüglich der Auffassung von Bestrafung. Sie haben Vergleiche zwischen den Laufbahngruppen angestellt. Wir teilen Ihr Urteil nicht und freuen uns auf die Diskussion. Die Bestrafung eines unverheirateten Wehrpflichtigen und die Bestrafung eines verheirateten Familienvaters z. B. mit der Ausgangsbeschränkung können nicht verglichen und dann prozentual aufgewogen werden.Ich stimme Ihnen zu — ohne Abstriche!-, daß wir in der Frage der sanitätsärztlichen Versorgung eine Menge, Menge noch verbessern müssen, und zwar nicht irgendwann, sondern zügig.
Und ich versichere dem Parlament, daß wir hier Dinge einleiten, endlich einleiten, über das schon Getroffene hinaus, daß nicht die Grenze der Haushalt ist. Hier müssen wir vom Haushalt her alles tun,
um den Soldaten — und hier sind besonders die längerdienenden angesprochen — die nötige Versorgung auf dem ärztlichen Gebiet uneingeschränkt zukommen zu lassen. Im übrigen trägt die augenblickliche Situation auch nicht zur Motivation der Ärzte selbst bei, die oft vier Wochen in dem Verband und dann vier Wochen im nächsten sind, die Patienten, die Männer als Kameraden nicht kennen und überhaupt nicht mit ihnen in Kontakt kommen können.Herr Wehrbeauftragter, Herr Kollege Feldmann: Auf die 70-%-Aussage in unserer Stellungnahme habe ich im Ausschuß klar hingewiesen. 30 Prozent waren es, die uns, die den verantwortlichen Inspekteur für das Sanitätswesen zu Maßnahmen, um Änderungen herbeizuführen, veranlaßten. Die 70 Prozent bei der Prüfung — alle wurden geprüft — ergaben, daß dies subjektiv vorgetragene Dinge waren, wo nicht generelle Änderungen erforderlich waren.
Verehrte Kollegen, zu beklagen ist — oft Gegenstand hier gewesen — die große Zahl von Verset-
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Parl. Staatssekretär Würzbachzungen unserer Soldaten. Aber auch hier stelle ich mit dem positiven Zeichen fest: Wir konnten die Versetzungen im Jahr 1980 von 11 300 durch personalführende Maßnahmen, den Menschen, die Familie, den Betroffenen sehend, auf 9 300 in 1983 reduzieren.
Es wird nicht weiter zu reduzieren sein, höchstens minimal. Aber das ist unter der Überschrift „Fürsorge", Mensch, Familie der Soldaten beachtend, ein guter Weg.
Zum ersten Januar 1985, von Ihnen gefordert und immer wieder angeregt, werden wir einführen die zweite Familienheimfahrt, werden wir verdoppeln den Betrag für Nachhilfeunterricht für solche Kinder, die durch Versetzung Nachteile in der Schule hatten.Wir werden die Ausnahmen bei der Wehrdiensttauglichkeit zur Herstellung der Wehrgerechtigkeit ändern. Es wird weniger Freistellungen geben. Es werden mehr Männer, die zum Dienst taugen und die in der Grundausbildung ein bißchen anders anzufassen sind, in die Streitkräfte eingezogen werden.
Herr Wehrbeauftragter, die Dienstaufsicht und die Auftragstaktik setzt zwei wichtige Punkte. Sie kennen die Einlassung der Regierung. Beides muß noch lebendiger gemacht werden: von oben nach unten und von unten nach oben. Und da gehört auch der Politiker hinein. Wenn wir die Soldaten, die Kommandeure und Chefs, mehr Dinge entscheiden lassen, müssen auch wir alle — nicht nur der Verteidigungsminister, jeder Politiker — mehr Vertrauen und zuweilen auch mehr Gelassenheit vorleben und praktizieren.
Ich will nicht auf den Haushalt eingehen, auf die Summen, die wir erhöht haben, um die Situation des Menschen, des Soldaten auch in den Unterkünften zu verbessern. Ich möchte aber erwähnen, daß die Bundeswehr nicht nur aus den aktiven Soldaten besteht, sondern auch aus den Reservisten. Sie sind immer mit angesprochen, wenn wir über die Bundeswehr reden. Und die Reservisten, unabhängig von Beruf und Alter, haben in hoher Motivation exzellent ihre Aufträge in der Vergangenheit, auch jetzt in den jüngsten Manövern, erfüllt.
Ich möchte schließen mit einem Dank an alle Soldaten und zivilen Mitarbeiter, die auch in der vergangenen Zeit wieder dazu beigetragen haben, den Auftrag zu erfüllen, und, Herr Wehrbeauftragter, mit einem Dank an Sie, aber auch alle Damen und Herren Ihres Amts, die es Ihnen ermöglicht haben, in der eingangs angesprochenen Form, ich sage, den Finger in die Schwachstelle, die es noch gibt, zu legen und uns zu helfen, bestimmte Dinge in Bewegung zu bringen, und danken für die gute vertrauensvolle Zusammenarbeit.Ich habe aber einen Wunsch neben diesem Dank, und der Wunsch richtet sich an Sie, die Kollegen, besonders der Oppositionsfraktion. Der Wunsch ist: Kümmern Sie sich mehr um unsere Soldaten, informieren Sie sich bitte mehr und häufiger und direkt in unserer Bundeswehr, bei unseren Soldaten.
Dieses brauchen wir, um gemeinsam die Probleme zu regeln. Dies brauchen die Soldaten. Es sind unsere Soldaten, unsere Wehrpflichtigen, unsere Bundeswehr.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Klejdzinski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich mich dem eigentlichen Thema zuwende, ein paar Bemerkungen zu Herrn Würzbach.
— Das kann ich noch auswendig. — Herr Staatssekretär, Sie sollten an sich Ihre CDU-Reden nicht im Parlament als Staatssekretär halten, sondern draußen irgendwo,
wo Ihnen dann vielleicht jemand zuhört, dem Sie das so einfach vormachen können.
Weiterhin sollten Sie die Zensuren, die Sie uns zu erteilen versuchten, unterlassen.
Warum, kann man doch einmal fragen, haben Sie denn nicht mit dem Bundeswehrverband gesprochen, als der Ihnen möglicherweise ein paar Vorhaltungen machen wollte, was Sie für die soziale Lage der Soldaten nicht getan haben.
Sie stellen sich hier hin und reden davon, daß
der Wehrsold ab Oktober erhöht wurde. Dabei wissen Sie doch, daß man in diesem Jahr 720 Millionen DM weniger ausgegeben hat
und nicht bereit war, 125 Millionen DM bereits abJanuar 1984 im Etat einzusetzen. Da muß man doch6492 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984Dr. Klejdzinskifragen: Wo ist denn Ihre wirkliche Politik in dieser Frage?
Dann, Herr Würzbach, haben Sie von Verwirrung und Irritationen in der Sicherheitspolitik gesprochen.
Sie haben von einem großen Vertrauenseinbruch in die Bundeswehr gesprochen.
Wissen Sie, was wirklich Irritationen und Verwirrung in diese Bundeswehr hineingetragen hat? Das war die Wörner-Affäre, an der Sie auch beteiligt waren.
In keinem Punkt, Herr Würzbach, ist soviel in die Bundeswehr hineingetragen worden wie in dieser Frage, nämlich von Ihnen.
Viele Soldaten haben wirklich gezweifelt, wie hochqualifizierte Leute, sich zu etwas so hingaben, im Grunde genommen etwas bewirkt haben, was der Truppe erheblich geschadet hat.
— Natürlich, Herr Vorsitzender des Verteidigungsausschusses, dieses steht nicht im Bericht des Wehrbeauftragten; wir hätten das vielleicht noch hineinschreiben können, damit die Soldaten endlich einmal wissen, was in der Führungsspitze auf der Hardthöhe los ist.
Wir diskutieren heute den Jahresbericht des Wehrbeauftragten.
Der Wehrbeauftragte ist natürlich im Namen des Parlaments tätig, und zeitweise wird er in die Rolle des Anwalts des Soldaten förmlich gedrängt.
Er hat natürlich auch eine Brückenfunktion —
zwischen Parlament und Streitkräften. Er ist insofern ein wichtiges Bindeglied zwischen diesen.Der jetzige Amtsinhaber Willi Berkhan hat den letzten Bericht in seiner Amtsperiode vorgelegt; er wird bald in den verdienten Ruhestand treten.
Herr Wehrbeauftragter, lieber Freund Willi Berkhan, niemand weiß es besser, man hat es in den vielen Jahren noch zusätzlich erfahren:
Die Kunst des richtigen und erfolgreichen Umgangs mit Menschen stellt an die militärischen Vorgesetzten hohe Anforderungen. Wie ein roter Faden zieht sich durch Ihren Bericht, daß die Kunst des richtigen und erfolgreichen Umgangs mit Menschen die Grundlage der Führungsfähigkeit und der Auftragserfüllung ist.
In Ihrer Funktion als Anwalt der Soldaten haben Sie in der Vergangenheit bewußt das Spannungsfeld „Führung und Soldat" als Teil unserer Gesellschaft immer wieder unter dem Gesichtspunkt humaner und sozialer Belange der Soldaten beleuchtet. Dafür gebührt Ihnen Dank. Die Einbindung der Bundeswehr in den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und die positive Einstellung der Soldaten zu der Ordnung unseres Staates sind im wesentlichen mitgeprägt durch die Beziehung der Soldaten zu ihrem Wehrbeauftragten.Nicht Probleme der Bewaffnung und der Modernisierung, nicht Fragen der Tradition sind die Fragen der Truppe. Vorrangiges Thema in der Truppe ist: Wie hält es der Minister mit seiner Fürsorgepflicht? Das ist das Thema! Ist der Verteidigungsminister in seinem Obligo, was Fürsorgepflicht anbetrifft, wenn er verkündet: „Die materielle Basis der Bundeswehr — sprich: Milliardenbeträge für Waffen und Systeme — habe ich verbindlich entschieden, über den Personalumfang der Streitkräfte habe ich noch nicht entschieden." Wie ist das aufzufassen? Wenn wir hier Logik anwenden, heißt es doch: Die Menschen, die betroffen sind, wissen zwar, was sie an Waffen und Gerät einmal bekommen sollen, nur Umfang und Gliederung der Streitkräfte stehen weiterhin in den Sternen.
Ich befürchte, der Minister verhält sich wie ein Hosenproduzent
— wie ein Hosenproduzent —, der unablässig produziert und dem später einmal einfällt, daß er zu
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Dr. Klejdzinskiden vielen Hosen Männer suchen muß, die diese Hosen tragen wollen und auch tragen können. Da aber die Männer für diese vielen Hosen des Ministers nicht ausreichen, wird er sich ein bißchen umgucken, um früher oder später die Frauen dazu zu bewegen, die seiner Meinung nach so schicklichen Hosen zu tragen.
Das ist genau der Punkt: Daß der Minister nicht als sogenannter Hosenberg-Manfred in die Militärgeschichte eingehen will.
— Ich hätte gern in diesem Zusammenhang mal von Ihnen, Herr Wimmer, etwas eingebracht.
Aber das, was Sie uns im Ausschuß so schicklich vortragen, sollten wir hier nicht tun.Ich komme jetzt zu einem Punkt, der mir erhebliche Schwierigkeiten bereitet.
Gern hätte ich beispielsweise seine Bewertung vernommen zu einem Fall, in dem ein Stabsoffizier in einem Gespräch mit einem Grundwehrdienstleistenden diesen als „Müslifresser" bezeichnet, weil er gegen die Nachrüstung ist. Wenn ich beispielsweise im Bericht des Ministeriums dazu nur lese, daß hier die Wehrdisziplinarordnung angewendet werden müßte, dann ist das zu wenig. Ich deute das so: Da drückt sich seine allgemeine Unsicherheit aus, seine Verständnislosigkeit, daß der Minister dieser Fragestellung bewußt ausweicht oder auf diesen Zustand so eine Replik macht, wie sie gerade vorhin der Staatssekretär Würzbach gemacht hat.Ich möchte einige weitere Kritikpunkte herausgreifen, weil sie uns in meiner Einschätzung stärker beschäftigen müssen.Ein wesentlicher Punkt ist die Personalführung und die unorganische Alterstruktur der Streitkräfte; das ist richtig. Zu Recht weist der Wehrbeauftragte darauf hin, daß die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte nur mit motivierten Soldaten gewährleistet werden kann. Ich unterstreiche dabei die Bedeutung des offenen fürsorglichen Personalgesprächs. Der Soldat muß frühzeitig wissen, wohin er und seine Familie wandern muß. Es reicht nicht aus, wenn man dann dazu schreibt, Problemdichte und Lösungsansätze für die Laufbahn seien grundverschieden. Das reicht nicht, sondern es muß mehr her.Wenn andererseits die auf der Hardthöhe gärenden Vorlagen für 1 500 Soldaten ab A 14 aufwärts Verpflichtungen beinhalten, die in 20 Jahren eine Milliarde ausmachen, um frühere Pensionierungen auf freiwilliger Basis zu ermöglichen, dann sind die nicht gerade unter „Einfallsreichtum" abzuheften, insbesondere, wenn man weiß, daß dies zu grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Konflikten führen muß. Es ist nicht von ungefähr, daß gerade der Herr Blüm sich in dieser Frage geäußert hat. Wenn überhaupt, dann müßte das für alle Soldaten gelten; denn der Verwendungsstau bezieht sich nicht nur auf Leute ab A 14 aufwärts, sondern trifft bei den Unteroffizieren genauso gut zu, und im militärfachlichen Dienst auch. Und schließlich gehen gerade diejenigen, auf die man nicht verzichten möchte.Ein anderer Kritikpunkt ist die Dienstzeitbelastung. Der Versuch von Ihnen, Herr Würzbach, war nach meiner Ansicht ein untauglicher Versuch, als Sie auch die Dienstzeitbelastung ansprachen. Ich bin der Meinung, die Dienstzeitbelastung muß reduziert werden, und zwar auch unter der Perspektive, daß man endlich einmal die Ausbildungspläne dahin gehend strafft, daß nicht so viel Dienstzeitbelastung für die Soldaten herauskommt.Ich möchte noch die Gesundheitsfürsorge kritisieren, die im einzelnen heute schon eine entscheidende Rolle gespielt hat. Da wird auf Grund von bürokratischem Kompetenzgerangel einem Fahnenjunker, der stark kurzsichtig ist, zugemutet, 14 Tage ohne Brille auszukommen. Begründung: weil der Arzt, der zuständig ist, im Weihnachtsurlaub ist. — Das möge sich einer mal vor Augen halten: daß sich dies in dieser Bundeswehr ereignen kann!
Solche Vorgänge sind nach meiner Einschätzung nicht gerade geeignet, Soldaten zu motivieren.Die Absicht, die Belästigung der Bevölkerung durch Tiefflug zu mindern, begrüße ich. Das Wenigste müßte natürlich dabei sein, daß diejenigen Soldaten, die beispielsweise in Goose Bay in Labrador üben, dort nicht zusätzlich noch eine Last auf sich nehmen müssen. Ich möchte daran erinnern: In Goose Bay beispielsweise kosten ein Kopf Salat und ein Liter Milch jeweils 4 DM.
— Wenn sie keine Milch trinken, dann möglicherweise etwas anderes.Ich möchte in dem Zusammenhang — weil Sie das so lächerlich machen, Herr Wimmer; für mich ist das ein sehr ernster Punkt —
Soldaten erhalten bei Übungen neben Unterkunft und Verpflegung auf der Grundlage des Bundesreisekostengesetzes eine Aufwandsentschädigung von 6,20 DM pro Tag in Kanada.
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6494 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Horn?
Nein!
Vizepräsident Wurbs: Gilt das generell?
Ich muß jetzt zeitlich durchkommen!
Er fährt fort — man muß wirklich fragen, wer hier wen beraten hat —:
Dieses erhöht sich für Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit gegenwärtig um 4,80 DM für die zu zahlende Gemeinschaftsverpflegung.
Einverstanden!
Man muß weiter fragen — wenn dieses so gilt —, ob Berichte von Kommandeuren beispielsweise nicht auf der Hardthöhe gelesen werden. Ansonsten ist die Stellungnahme der Bundesregierung nicht verständlich. Die Bundesregierung hat nämlich dazu erklärt, ihr lägen keine Erkenntnisse vor, daß durch wechselkursbedingte Kaufkraftänderungen die Abfindung unzureichend sei. Dieses sagt diese Bundesregierung!
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren — und dieses ist gelinde ausgedrückt —, daß diejenigen, die solche Entscheidungen fällen, nicht wissen, was sie tun.
Diejenigen, die solche Entscheidungen fällen, sollten einmal bei Temperaturen zwischen minus 40 Grad und plus 30 Grad üben, mit den geringen Mitteln auszukommen und dabei nicht die Motivation zu verlieren.
Herr Staatssekretär, es ist notwendig, daß man das Ohr dort hat, wo der Schuh drückt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitergehende Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen — wie Erhöhung des Auslandszuschlages oder der Aufwandsvergütung — bedürfen der Mitwirkung des Bundesministeriums des Innern und der Zustimmung des Bundesministers der Finanzen. Auch die Feststellung, eine interministerielle Kommission prüfe, reicht nicht aus.Ich erinnere mich noch an den schneidigen Oppositionspolitiker Wörner, der mit großen rhetorischen Fähigkeiten jeden Tag den Soldaten Abhilfe und Verbesserung versprach — verbunden mit demHinweis: Ich weiß, wo die Soldaten der Schuh drückt;
ich habe entscheidungsreife Vorlagen in der Schublade; ich werde anordnen und die Ausführung persönlich überwachen. Das ist Wörner-Stil vergangener Zeiten.Oder hat der Minister beispielsweise jetzt nicht den Mut dem Bundeskanzler und seinen Kabinettskollegen gegenüber zu vertreten, was er für die Soldaten für notwendig hält? Oder meint er, nur Schönwetterreden — und nicht Handeln — sei gefragt? Weil Handlungsbedarf besteht, muß er handeln. Aber vielleicht wagt er gar nicht mehr zu handeln.
Eine menschliche Gemeinschaft lebt davon,
daß sich jeder auf jeden verlassen kann. Dieses ist keine Einbahnstraße. Der Minister ist aufgefordert, dafür zu sorgen, daß durch sein Handeln daraus wieder eine Zweibahnstraße wird.Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Herr Biehle, hat meinen Redebeitrag vor einem Jahr mit dem Zwischenruf bereichert: „Wir sollen nachholen, was ihr versäumt habt!" Ich glaube, diese Spule spult nicht mehr. Langsam sind Sie wirklich in der Phase, daß Sie zeigen können, ob Sie was können.
Der Herr Minister hat genügend Zeit gehabt, sich durch zielgerichtetes Handeln auszuzeichnen. Er hat die Soldaten enttäuscht; enttäuscht auch deshalb, weil er ihnen jahrelang eine Erwartungshaltung vermittelt hat, die er selbst nicht durchhalten konnte.
Dieses muß man mit aller Deutlichkeit sagen.Ich möchte zum Schluß meines Beitrags
— insbesondere für Sie, Herr Wimmer — Ihnen als Wegzehrung folgendes mitgeben: „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen." Dieses ist nachzulesen bei Matthäus, Kapitel 5, Vers 37.
Für die SPD-Fraktion darf ich erklären, daß wir der Drucksache 10/1611 zustimmen. In diesem Sinne bitten wir, so zu beschließen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6495
Dr. Klejdzinski Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Ehrbar.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Parlamentarischer Staatssekretär Würzbach hat zu einigen Beiträgen meiner Vorredner die notwendigen Klarstellungen gegeben. Ich möchte mich auf Anmerkungen zu den Ausführungen der Kollegen Heistermann und Klejdzinski beschränken. Es waren eigenartige Diskussionsbeiträge, die sie gebracht haben, gewissermaßen als Politrundschläge mit dem Vehikel des Berichts des Wehrbeauftragten, zu vielen Dingen, die der Bericht gar nicht hergibt.
Herr Heistermann, es waren interessanterweise Sachverhalte, die Sie beklagt haben, die seit zwei Jahren von dieser Regierung erfolgreich aufgenommen wurden. Teilweise wurden die Probleme beseitigt.
Das Schlimmste an Ihrer Verhaltensweise, Herr Kollege, ist, daß Sie das, was Sie beklagt haben, selbst verantworten müssen, da Sie es in Ihrer Verantwortungszeit verschludert und teilweise bewußt kaputtgemacht haben, meine lieben Freunde.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Horn?
Keine Zwischenfragen. Vizepräsident Wurbs: Gilt das generell?
Generell. Ich habe leider wenig Zeit; bei der nächsten Gelegenheit gern.
Ich möchte das Beispiel der Bundeswehrplanung ansprechen. Was Sie in diesem Zusammenhang geliefert haben, war unverantwortlich. Es war gefährlich für die Sicherheitspolitik,
und es hat Ihre Hilfslosigkeit signalisiert.
Man braucht schon ein hohes Maß an Heuchelei und Realitätsferne, um sich so zu verhalten, wie Sie es getan haben.
Abschließend zu diesem Punkt möchte ich Ihr Hosenbeispiel, Herr Klejdzinski, aufnehmen. So, wie Sie mit abgesägten Hosen oder mit vollen Hosen dastehen, sollten Sie still sein, Herr Klejdzinski.
— Das war Ihr Hosenbeispiel, Herr Kollege.Frau Kollegin Krone-Appuhn hat in ihrem Beitrag insbesondere die Bereiche Fürsorge und Betreuung sowie den Schutz der Grundrechte und die Grundsätze der Inneren Führung angesprochen. Ich werde ergänzend zu einem Bereich Stellung nehmen, der in dem Bericht des Wehrbeauftragten auch eine große Rolle gespielt hat. Es ist die auch von Herrn Feldmann und Herrn Heistermann angesprochene Bewertung der sicherheitspolitischen Diskussion des vergangenen Jahres, insbesondere ihre Auswirkungen auf die Bundeswehr. Darüber hinaus möchte ich noch einen Punkt ansprechen, der meiner Meinung nach zukünftig viel stärker als bisher Gegenstand der Untersuchungen durch alle Beteiligten sein muß. Es geht dabei um die drängenden Fragen und Probleme im Zusammenhang mit der deutlich zu verstärkenden Integration der Reserve in die Bundeswehr.Der Herr Wehrbeauftragte stellt in seinem Bericht fest, daß für ihn ein positives Beispiel für den Stand der Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft war, wie die Bundeswehr die Debatte um die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland bestanden hat. Er dankt zu Recht den in dieser Diskussion engagierten Soldaten für ihren Einsatz und auch dafür, daß hierdurch die Friedensdiskussion nicht in einer Frontstellung gegen die Bundeswehr geführt wurde.
Dabei wurde deutlich gemacht, daß sich die Bundeswehr nahtlos in unseren Rechtsstaat einfügt und ihren Auftrag von der Gesamtgesellschaft erhalten hat. Obwohl der Herr Wehrbeauftragte einräumt, daß es angesichts der Emotionalisierung dieser Diskussion für die Chefs und Kommandeure nicht immer einfach war, mit Untergebenen Fragen der Nachrüstung zu erörtern, beklagt er, daß insbesondere junge Offiziere und Offiziere der älteren Generation nicht immer den richtigen Ton getroffen hätten. Herr Wehrbeauftragter, ich wage nicht zu beurteilen, inwieweit die von Ihnen zur Unterlegung dieser These angeführten Beispiele repräsentativ sind. Aber unter Bezugnahme auf den oft zitierten Ausspruch, daß die Bundeswehr die größte Friedensbewegung sei, teile ich die in dieser Form von Ihnen geäußerten Bedenken nicht.
Der Wehrbeauftragte meint, daß solche Verkürzungen bei der Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit in der Truppe nur wenig bewirken würden. Natürlich muß der Auftrag der Streitkräfte differenzierter erläutert werden. Der Bundesminister der Verteidigung hat mehrfach deutlich gemacht, daß dies auch geschieht.6496 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984EhrbarMan muß jedoch in diesem Zusammenhang auch auf die zunehmende begriffliche Verwirrung hinweisen, in deren Folge Tatsachen häufig falsch gesehen und bewußt falsch gewertet werden. Es ist höchst bedauerlich, daß bei solchen Verbiegungen der objektiven Gegebenheiten, z. B. bei dem Versuch der Verharmlosung der Bedrohungssituation, auch Repräsentanten von im Bundestag vertretenen Parteien und anderer Institutionen, wie der Kirchen, beteiligt sind, meine Damen und Herren.
Ich habe schon traurigen Anlaß für dieses Thema gehabt. Es gab Beiträge einzelner Akteure aus den Kirchen, die teilweise bis hin zum Mißbrauch des seelsorgerischen Mandats zu politischen Zwecken gingen.
— Es handelt sich um Einzelbeispiele, meine Damen und Herren.Wenn die Soldaten darüber enttäuscht sind, ist dies in hohem Maße verständlich. Vor dem Hintergrund einer Vielzahl polemischer Anfechtungen, Beschimpfungen, Demonstrationen und Blockaden muß man manchmal auch Nachsicht haben. Sie muß geübt werden, wenn die Reaktionen der Betroffenen nicht immer in jeder Formulierung ausgewogen sind.
In der Sache muß deutlich gemacht werden — nach meinem Verständnis auch heute in dieser Debatte —, daß nach dem Willen des Grundgesetzes die Erhaltung des Friedens in Freiheit — als gleichrangige Zielsetzungen — das primäre Ziel unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist. Nur diesem Ziel dienen Aufstellung, Erhaltung und Ausbildung der Streitkräfte. In diesem Sinne ist der Wehrdienst Dienst für den Frieden.
Die Soldaten haben Anspruch darauf, daß dieser Zusammenhang jederzeit dort verdeutlicht wird, wo— z. B. innerhalb der selbsternannten Friedensbewegung in ihrer schillernden Struktur — bewußt versucht wird, ein anderes Bild von der Rolle des Soldaten zu zeichnen. Gerade die Störungen und die Störungsversuche der letzten Herbstmanöver, z. B. mit Parolen wie „Soldaten sind alle bezahlte Mörder", sind ein Skandal.
Meine Damen und Herren, es ist ein noch größerer politischer Skandal, wenn sich Parteien und Personen auch dieses Hauses von solchen Verketzerungskampagnen nicht eindeutig distanzieren.
Wir haben von den GRÜNEN dazu überhaupt nichts zu erwarten. Herr Vogt, Ihre Hetzrede vorhin hat das wieder gezeigt. Sie sind destruktiv, Sie sind bündnisschädigend und bundeswehrfeindlich. Ich will jetzt gar nicht mehr näher darauf eingehen.
— Herr Vogt, wir können uns gerne damit auseinandersetzen, aber meine Bewertung ist zutreffend. Zutreffend ist auch das, was heute morgen in der Aktuellen Stunde zu diesen Fragen gesagt worden ist.
Meine Damen und Herren von seiten der Sozialdemokraten, Sie haben eine Chance gehabt. Sie haben diese Chance vertan.
Es war traurig und schlimm, den Versuch anhören zu müssen, das, was in Hessen geschehen ist, zuzudecken. Das haben Sie heute morgen versucht.
— Das müssen Sie anderer Bewertung überlassen. Sie haben die Chance nicht genutzt, sich deutlich von dem zu distanzieren, was in Hessen geschehen ist. Das erschüttert die Soldaten. Sie dürfen sich doch nicht wundern, daß das die Soldaten erschüttert,
auch wenn Sie noch so schöne zudeckende Reden halten.Meine Damen und Herren, es ist ein dringendes Gebot der verantwortlichen Politik, den Aktionen mit aller Schärfe entgegenzutreten, die das Ansehen der Soldaten und damit den Stellenwert unserer Landesverteidigung im Nerv treffen wollen.
Ebenso ist dem stärker werdenden emotionalen Druck auf den Soldaten von bestimmten Gruppen, die Verteidigungsanstrengungen total ablehnen, massiv entgegenzuwirken.
— Herr Duve, in diesem Sinne will ich mal deutlichmachen — Herr Duve, das können Sie nicht sobewerten —: Es darf nicht hingenommen werden,Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6497Ehrbardaß in Kindergärten — hören Sie mit bitte mal zu —
den Kindern von Soldaten erklärt wird, der Beruf des Vaters bestehe aus dem Umbringen von Menschen, und es darf nicht hingenommen werden, daß Familien von Soldaten die Wohnung wechseln müssen, weil wegen der beruflichen Tätigkeit direkte Anfeindungen stattfinden, und es darf nicht hingenommen werden, daß beispielsweise auch Pfarrer Soldaten diskriminieren.
Es darf nicht hingenommen werden, daß in kirchlichen Jugendorganisationen Leitlinien zur Friedensarbeit entwickelt werden
— dafür bedanke ich mich —, die geeignet sind, den Dienst in der Bundeswehr in einen Gegensatz zur Friedenserhaltung und damit in das moralische Abseits zu stellen.
Hier sind alle verantwortbewußten Bürger und die Träger politischer Verantwortung
zur Wachsamkeit und zum Handeln aufgerufen.Meine Damen und Herren — ich glaube, es ist vorhin vom Kollegen Feldmann angesprochen worden —, lassen Sie mich noch etwas zum Thema Wehrdienst deutlich sagen. Im Gegensatz zum Wehrdienst ist der Zivildienst, der meiner Meinung nach häufig fälschlicherweise als der Friedensdienst schlechthin bezeichnet wird, vom Grundgesetz als Ersatzdienst
und nicht als alternative Form der Erfüllung der Wehrpflicht vorgesehen. Er ist Wehrpflichtigen nur aus Gewissensgründen vorbehalten. Der Staat und die Bürger haben diese Gewissensentscheidung zu respektieren. Herr Feldmann, da stimmen wir leider nicht ganz überein: Es ist jedoch eine Umkehrung der Wertordnung des Grundgesetzes, wenn man die Ersatzdienstleistung dem Dienst für die von der Verfassung geforderte militärische Landesverteidigung in der politischen und gesellschaftlichen Bewertung gleichsetzen würde.
Der Wehrdienst hat einen höheren gesellschaftlichen und politischen Rang,
und dies muß auch politisch deutlich gemacht werden.Der Dank gilt allen Soldaten, ob aktiv oder in der Reserve, die in dieser schwierigen Diskussion überzeugend dazu beigetragen haben, daß die Truppe selbst von inneren Turbulenzen verschont blieb und daß die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft weiter verstärkt wurde.
Dank gilt auch der militärischen Führung für ihre umfangreichen Bemühungen, das Informationsbedürfnis aller Soldaten zu befriedigen und die notwendige Weiterbildung der Vorgesetzten in sicherheitspolitischen Fragen zu gewährleisten.
Dies wird auch in Zukunft ein Schwerpunkt der politischen Bildung in den Streitkräften bleiben müssen.Ergänzt werden muß dieses Bemühen jedoch auch durch alle anderen Institutionen des Staates. Besonders in den Schulen muß endlich im Unterricht verbindlich über den Verfassungsauftrag unserer Bundeswehr informiert werden.
Nur mit Unterstützung aller politisch verantwortlicher Kräfte — ich meine die, die sich auch zu dieser Verantwortung bekennen, viele tun es nicht bzw. nicht mehr — wird es möglich sein, unsere Jugend von den Werten unseres Lebens in Frieden und Freiheit, vom Sinn der Verteidigung und — auch das ist ganz wichtig — vom Sinn ihres eigenen Wehrdienstes zu überzeugen.Nun komme ich noch zu dem Thema Reservisten und umfassende Reservistenkonzeption. Meine Damen und Herren, es ist zu begrüßen, daß der Bundesminister der Verteidigung als Schwerpunkt der zukünftigen Arbeit auch die notwendige Aufwertung der für die Auftragserfüllung dringend benötigten Reservisten anspricht. Diese müssen angesichts der sich abzeichnenden personellen Engpaßsituation mehr denn je für ihre Aufgaben in den Streitkräften aus- und weitergebildet werden. Weit mehr als die Hälfte aller Soldaten des personellen Verteidigungsumfangs der Bundeswehr sind Reservisten. Ihr Ausbildungsgrad und ihre Motivation sind Grundpfeiler der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Um diese Bedeutung der Reservistenkomponente stärker erkennbar zu machen, wurde der stellvertretende Inspekteur des Heeres als Beauftragter des Generalinspekteurs für Reservistenangelegenheiten eingesetzt. Diese Entscheidung war zweckdienlich und ist voll zu unterstützen und zu begrüßen.
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6498 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
EhrbarAls wesentliche Maßnahme sind alle Wehrübungen von den verantwortlichen Vorgesetzten mit besonderer Sorgfalt vorzubereiten, so daß eine sinnvolle Aus- und Weiterbildung gewährleistet ist.
— Vielen Dank für die Anerkennung!
Hierbei ist die Bundeswehr in ihrer Fähigkeit zu verstärkter Integration der Reserve in hohem Maße gefordert. Es muß auf Dauer sichergestellt werden, daß den Belangen der Reservisten mehr Aufmerksamkeit
und ihnen selbst mehr Anerkennung zuteil wird.
Mit dieser Entscheidung ist es jedoch nicht getan. Vielmehr kommt es meiner Meinung nach darauf an,
daß noch folgende Aspekte in die konkrete Arbeit und in die Planung mit einbezogen werden: Bei der vorhersehbar deutlich steigenden Zahl der Wehrübungsplätze hat sich nicht nur die Bundeswehr, sondern auch die Öffentlichkeit im weitesten Sinne auf vermehrte Personalbewegungen aus der zivilen Arbeitswelt in die Streitkräfte hinein einzustellen. Im Hinblick auf die derzeitige sensible Situation der öffentlichen Meinung ist es deshalb dringend geboten, eine vorausschauende Informations- und Aufklärungsarbeit zu leisten.
Die Bundeswehr selbst muß sich konzentriert auf die neue Situation einstellen. Vor allem muß das Reservistenbewußtsein dringend geweckt und gefördert werden.
Die teilweise vorhandene Zurückhaltung der Bundeswehr — das sage ich ohne jeden Vorwurf; wir wissen, daß sehr viel guter Wille vorhanden ist — gegenüber den übenden Reservisten muß abgebaut werden.
Dies bedeutet die Schaffung der Voraussetzungen dafür, daß sich jeder einzelne Reservist nach Beendigung seiner aktiven Dienstzeit der Bundeswehr zugehörig fühlen muß und auch kann. Eine Grundlage hierfür kann die Begründung von Patenschaftsverhältnissen zwischen aktiven Truppenteilen und Reservetruppenverbänden sein. Ich weiß, es gibt da erste Erfahrungen, die positiv sind. Soweit erforderlich, müssen die personellen Voraussetzungen hierfür in den Streitkräften vordringlich geschaffen werden.Die wesentliche Grundlage für den Erfolg ist jedoch die Vermeidung des Eindrucks der Zweitklassigkeit der Reservisten.
— Darüber können wir uns gerne unterhalten.
Dies setzt jedoch voraus,
daß den militärischen Führern der Reserve die volle Fähigkeit zur Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben auch abverlangt wird.
— Herr Duve, Sie zumindest irritieren mich nicht!Meine Damen und Herren, auch vermeintlich kleine Probleme am Rande spielen eine Rolle. Das kann schon mit der Qualität der Bekleidung und der anderen Ausrüstung anfangen. Wir haben diese Fragen gestern im Verteidigungsausschuß systematisch und intensiv diskutiert, und es ist zu begrüßen, daß ein ansehnlicher Millionenbetrag noch in diesem Jahr zur Verfügung gestellt wird, um Probleme, die da gegeben sind, zu beseitigen, vermeintlich kleine Probleme, die aber zu sehr starkem Arger und Demotivation bei den Betroffenen führen können. Ich glaube, auch das müssen wir als periphere Probleme in die Betrachtungen aufnehmen.
Der Grad der Einsatzfähigkeit und der Kampfwert von Reservetruppenteilen hängen entscheidend vom Engagement und vom Leistungswillen der Aktiven ab. Da könnte Abhilfe geschaffen werden, oder eine unterstützende Funktion könnte darin bestehen, daß man den inneren Zusammenhalt auch dadurch begründet und pflegt, daß man, wie vorhin schon angesprochen, Patenschaftsverhältnisse oder eine enge Kooperation in anderer Form auch über den Dienstplan hinaus zu erreichen versucht.Das zu verstärkende Reservebewußtsein und die zu aktivierende Reservekomponente erfordern die Einbeziehung dieser Thematik auf allen Ebenen der Ausbildung der militärischen Führung. Das heißt, bei Chef-, bei Kommandeur-, bei Führungsakademielehrgängen und auch beim obligatorischen Studium sollten diese Themenbereiche mit einbezogen werden, um alle militärischen Führer für die Notwendigkeiten in diesem Bereich auszubilden und sie darauf vorzubereiten.
Darüber hinaus sollten führende Soldaten der Reserve regelmäßig zu Kommandeurstagungen eingeladen werden,
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Ehrbarum den notwendigen Kontakt und Austausch zwischen Aktiven und Reserve sicherzustellen.Meine Damen und Herren, auch die Notwendigkeit des Abbaus von Bürokratismen und Formalismen sowie der damit verbundenen latenten Gefahr einer unpersönlichen Handhabung der Personalführung von Reservetruppenteilen muß gesehen werden. Solchen Gefahren muß entgegengewirkt werden.
Die teilweise zu bürokratisch gesteuerte Personalfluktuation muß praxisorientierter gestaltet werden. Eine engere Zusammenarbeit zwischen der Truppe als kalenderführender Dienststelle und den Kreiswehrersatzämtern ist deswegen notwendig. Beispielsweise ist eine Einplanung und Ausplanung nur per Computer und ohne Mitwirkung von z. B. Betreuungstruppenteilen für die Sache in höchstem Maße schädlich.Auch atmosphärische Dinge spielen eine große Rolle. So muß im militärischen Sprachgebrauch — ich darf das vielleicht an die Adresse der Vertreter sagen — der Begriff der Geräteeinheit gestrichen werden und durch Begriffe wie Reserveverband oder Reservetruppenteil ersetzt werden.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Abschließend möchte ich zu der Tätigkeit und zum Bericht des Wehrbeauftragten feststellen, daß die Bundeswehr vertrauensvoll mit ihm zusammenarbeitet. Damit können Verständnis des Soldaten für unsere Staats- und Rechtsordnung, Vertrauen zur Demokratie und auch zur Bundeswehr selbst wesentlich gefördert werden. Dem Wehrbeauftragten gebührt Dank und Anerkennung für die geleistete Arbeit. Dank gilt ebenso dem Bundesminister der Verteidigung und der militärischen Führung für die in den letzten zwei Jahren erzielten großen Fortschritte in wesentlichen Fragen der besseren Gestaltung des soldatischen Dienstes und der Schaffung der Voraussetzungen hierfür. Dem Wehrbeauftragten obliegen kraft Gesetzes — —
— Darf ich den letzten Satz noch sagen? Vizepräsident Wurbs: Bitte, Herr Abgeordneter.
Danke schön, Herr Präsident.
— Dem Wehrbeauftragten obliegen kraft Gesetzes der Schutz der Grundrechte der Soldaten und die Überwachung der Einhaltung der Grundsätze der Inneren Führung. Diese Aufgaben sind jedoch in erster Linie dem Bundesminister der Verteidigung selbst gestellt. Mit der Forderung, dem Menschen vor dem Material Priorität einzuräumen, hat er dies als seine vornehmste Pflicht hervorgehoben. Meine Damen und Herren, auf diesem Weg hat der Bundesminister der Verteidigung — —
Herr Abgeordneter, Sie haben noch einen Satz sagen wollen. Ich muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen. Sie sind über die Zeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
— — die volle Unterstützung unserer Fraktion.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Es gibt offenbar Mißverständnisse bezüglich der Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses. Ich möchte zur Klarstellung vor der Abstimmung folgendes sagen. Mit der Drucksache 10/1611 wird nur über die Beschlußempfehlungen, und zwar die drei Beschlußempfehlungen des Ausschusses, abgestimmt. Bei dem Wort „Bericht" in dieser Beschlußempfehlung handelt es sich um den Jahresbericht des Wehrbeauftragten, nicht um den Bericht des Ausschusses auf dieser Drucksache.
Dann kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses. Wer der Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses auf der Drucksache 10/1611 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie der Veränderungen im militärischen Kräfteverhältnis 1984
— Drucksache 10/1650 —
Überweisungsvorschag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Sind Sie mit dieser Regelung einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Staatsminister im Bundesministerium des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Bericht stellt die seit dem Vorjahresbericht eingetretene Entwicklung bis Ende Mai 1984 dar. Gegenüber dem Vorjahresbericht enthält er eine Reihe von Erweiterungen, die auf Anregungen zurückgehen, die im Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie im Auswärtigen Ausschuß vorgebracht worden sind. So werden die Militärstrategien der NATO und des Warschauer Paktes in den Grundzügen dargestellt, Probleme der Wechselwirkung von Rüstungskontrolle und Einführung neuer Waffen umrissen und vor allem die Haltung der Dritten Welt im Bereich der Rüstungskontrolle und Abrüstung ausführlicher als bisher behandelt. Der Bericht zeichnet nach, daß der Rüstungskontrollprozeß im
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Staatsminister Möllemannvergangenen Herbst keineswegs zum Stillstand gekommen ist, auch wenn die Haltung der Sowjetunion die Wiederaufnahme von Verhandlungen über die Begrenzung und Reduzierung von Nuklearwaffen bisher verhindert hat. Doch in anderen Gremien findet der Dialog statt, und alle Beteiligten zeigen damit, daß sie ihn für nützlich, da notwendig halten.Ich möchte mich zu den einzelnen Bereichen der Rüstungskontrollverhandlungen äußern, zunächst zur Konferenz für Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa, KVAE. Die Bundesregierung darf für sich beanspruchen, bei der Weiterführung des Dialogs eine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Es war unser Gedanke, die Außenminister der Teilnehmerstaaten zur Eröffnung der Stockholmer Konferenz zusammenzuführen. Damit ist nicht nur unterstrichen worden, für wie wichtig die Beteiligten die Eröffnung eines neuen Rüstungskontrollforums zu diesem Zeitpunkt hielten. Es wurde auch Gelegenheit für zahlreiche Gespräche unter vier Augen, in vielen Fällen für ein erstes persönliches Kennenlernen der Außenminister geschaffen. Niemand hat erwartet, daß die Konferenz selbst schon in ihren ersten Runden konkrete Ergebnisse bringt. Wichtig ist: Es liegt ein westliches Vorschlagspaket auf dem Tisch, das wir zusammen mit unseren Verbündeten gleich zu Konferenzbeginn eingeführt haben. Es sieht Informationsaustausch im militärischen Bereich, die Ankündigung wichtiger militärischer Aktivitäten, einen Beobachteraustausch und angemessene Maßnahmen der Verifizierung vor. Wir können mit Befriedigung feststellen, daß auch die neutralen und nicht gebundenen Staaten einen Ansatz verfolgen, der ähnlich wie der unsere auf Vereinbarungen konkreter Maßnahmen gerichtet ist.Alle Teilnehmerstaaten sind nun aufgerufen, diesem wichtigen und neuen Forum zum Erfolg zu verhelfen. Fortschritte in Stockholm im Jahre 1985, in dem die Schlußakte von Helsinki zehn Jahre bestehen wird, können dazu beitragen, die Vertrauensbildung im West-Ost-Verhältnis zu stärken und damit auch die Voraussetzungen für die Lösung anderer offener Fragen zu verbessern.Zu den MBFR-Verhandlungen: In dem anderen Forum für konventionelle Rüstungskontrolle in Europa, MBFR, hat in diesen Tagen eine neue Verhandlungsrunde begonnen. Wir hoffen, daß wir auf der Basis der neuen westlichen Vorschläge vom April dieses Jahres unserem Ziel, nämlich der Herstellung von Parität der Personalstärken von NATO und Warschauer Pakt, näherkommen.Zu den Verhandlungen über chemische Waffen: Auch die CW-Verhandlungen im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz haben Fortschritte gemacht. Die Struktur eines künftigen Abkommens konnte erarbeitet werden, zum Teil bereits in Vertragssprache. Damit ist das von der Bundesregierung mit Nachdruck angestrebte umfassende Verbot aller chemischen Waffen nähergerückt. Wir halten mit guten Gründen daran fest, daß nur ein weltweites Verbot der Produktion und der Lagerung von chemischen Waffen das Problem wirklich lösen kann.Der Einsatz von chemischen Waffen im Golfkrieg unterstreicht die Bedeutung einer weltweiten Lösung. Es genügt nicht, daß diese schrecklichen Waffen nur aus einem geographisch begrenzten Gebiet verbannt werden. Ihre Produktion muß überhaupt verboten, sämtliche vorhandenen Bestände müssen vernichtet werden, und zwar in nachprüfbarer Weise.
Das ist nicht einfach, aber noch schwieriger wäre es, zu garantieren, daß eine bestimmte Region chemiewaffenfrei ist und bleibt, solange die C-Waffen in anderen Teilen der Welt nicht verboten werden.Die Bundesregierung hat sich auf Beiträge zur Lösung des Verifikationsproblems, also der Überprüfung solcher Maßnahmen, konzentriert, so zuletzt im Juni dieses Jahres mit einem Workshop, bei dem praktisch demonstriert wurde, wie die Vernichtung von chemischen Waffen überprüft werden kann. Wir haben für diese Initiative viel Anerkennung gefunden. Bedauerlich ist, daß die Genfer Abrüstungskonferenz in anderen Bereichen während der letzten Sommersitzungen kaum Fortschritte machen konnte.Zur Rüstungskontrolle im Weltraum: Von großer Bedeutung für die Zukunft der Rüstungskontrolle sind die Entwicklungen, die sich in letzter Zeit auf dem Gebiet des Weltraums ergeben haben. Die USA hatten der Sowjetunion schon im Sommer vergangenen Jahres vorgeschlagen, bilateral über einen besonders wichtigen Teilaspekt der Rüstungskontrolle im Weltraum, nämlich die Frage neuer strategischer Abwehrsysteme, zu sprechen. Die Sowjetunion ist damals nicht darauf eingegangen. Sie hat aber ihrerseits am 29. Juni dieses Jahres vorgeschlagen, im September in Wien Verhandlungen über die Entmilitarisierung des Weltraums aufzunehmen. Die USA haben prompt und positiv reagiert und in den folgenden Kontakten mit der Sowjetunion ein hohes Maß an Flexibilität bewiesen. Sie haben angesichts des unbestreitbaren sachlichen Zusammenhangs zwischen der Begrenzung von Offensiv- und Defensivwaffen angekündigt, daß sie auch die Frage der Fortsetzung der INF- und START-Verhandlungen ansprechen wollten, also der Verhandlungen über Mittelstrecken- und strategische Systeme, ohne daraus aber eine Vorbedingung zu machen. Sie haben sich auch bereit erklärt, in den Verhandlungen eine Verständigung über ein wichtiges sowjetisches Anliegen, nämlich ein Moratorium für Antisatelliten-Waffen, zu suchen. Die Sowjetunion hat bisher leider keine dem entsprechende Flexibilität an den Tag gelegt. Sie hat vielmehr ihre Verhandlungsbereitschaft von Vorbedingungen abhängig gemacht und praktisch darauf bestanden, daß die USA das sowjetische Verhandlungskonzept von vornherein akzeptieren. Deshalb konnten die Gespräche nicht, wie ins Auge gefaßt, schon am 18. September aufgenommen werden. Wir hoffen aber, meine Damen und Herren, daß derartige Verhandlungen angesichts des großen Interesses, das alle Staaten an der Vermeidung destabilisierender Entwicklungen haben müssen, in naher Zukunft doch noch in Gang kommen werden.Zur Reduzierung von Nuklearwaffen: Von solchen Gesprächen, von solchen positiven Entwick-
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Staatsminister Möllemannlungen erwarten wir auch Anstöße für die Begrenzung und Reduzierung von Nuklearwaffen. Wir haben aufmerksam vermerkt, daß Generalsekretär Tschernenko in seinem „Prawda"-Interview vom 2. September dieses Jahres die Verbindung zwischen Regelungen für Weltraumwaffen und solchen für strategische Rüstungen besonders hervorgehoben hat.Meine Damen und Herren, das Thema Rüstungskontrolle und Abrüstung beherrscht auch die diesjährige Generalversammlung der Vereinten Nationen. Präsident Reagan hat in seiner mit Recht stark beachteten Rede am 24. September erneut bekräftigt, daß die Vereinigten Staaten zu konstruktiven Verhandlungen mit der Sowjetunion bereit sind. Die Verwirklichung seiner Vorschläge für eine Intensivierung des Ost-West-Dialogs, insbesondere der Wiederbelebung der bilateralen Verhandlungen über Rüstungskontrolle, läge im Interesse aller Völker.Auch aus der Rede von Außenminister Gromyko wurde — trotz aller Versuche, den USA die Schuld für mangelnde Fortschritte und Rückschläge zuzuweisen — ein grundsätzliches Interesse an vereinbarten Regelungen in diesem Bereich und vor allem im Weltraum erkennbar.Die Gespräche von Bundesaußenminister Genscher mit zahlreichen Außenministern aus Ost und West haben das starke Interesse an einer Intensivierung der Verhandlungsbemühungen deutlich gemacht.Die Bundesregierung hat das Treffen des sowjetischen Außenministers mit Präsident Reagan und Außenminister Schultz begrüßt; der Meinungsaustausch war ein wichtiger Neubeginn. Wir hoffen, daß ihm bald weitere Schritte folgen und daß insbesondere Wege gefunden werden, um die bilateralen Verhandlungen über Weltraumwaffen zu beginnen und die unterbrochenen Nuklearverhandlungen wieder aufzunehmen.Es gibt neue Chancen für die Rüstungskontrolle. Die Bundesregierung wird weiterhin ihre ganze Kraft daran setzen, daß diese Chancen genutzt werden. Ihr Einfluß, der Einfluß der Bundesregierung, beruht darauf, daß sie als zuverlässiges Mitglied im Atlantischen Bündnis, aber auch als Gesprächspartner der Warschauer-Pakt-Staaten und nicht zuletzt der Blockfreien anerkannt und respektiert wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Verheugen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch der dritte Bericht zu Rüstungskontrolle und Abrüstung kann niemanden zufriedenstellen; ich denke, den Absender nicht und auch die Empfänger nicht. Denn es ist kein Abrüstungsbericht, sondern ein Aufrüstungsbericht.
Gemessen an der Zielsetzung der Bundesregierung, die sie selber mit den Worten beschreibt: „Frieden schaffen mit weniger Waffen", ist der Bericht sogar tief deprimierend. Es hat weder Fortschritte in der Rüstungskontrollpolitik gegeben, noch ist es gar zu Abrüstungsmaßnahmen gekommen. Im Gegenteil: Der Rüstungswettlauf hat sich weltweit noch verschärft, die Expansion der Rüstungsausgaben erscheint ungehemmter denn je, und auch die weiteren Perspektiven stimmen nicht hoffnungsvoll.Über weite Strecken erscheint der Bericht der Bundesregierung nicht als Darstellung einer konsequenten, hartnäckigen Politik der Friedenssicherung durch Verhinderung der Rüstungen, sondern als eine Aufzählung von Entschuldigungsgründen, weshalb weitere Aufrüstung — wieder einmal — angeblich unvermeidbar gewesen ist.
Wir bezweifeln nicht, daß die Bundesregierung Abrüstung ernsthaft will. Wir bezweifeln aber, daß die Bundesregierung wirklich alles getan hat, was sie hätte tun können und tun müssen, um den völligen Stillstand der Abrüstungspolitik seit fast einem Jahr zu verhindern.
Dieses Versäumnis wiegt schwer. Die ungeheure Dynamik des Wettrüstens betrifft kein Volk so sehr wie das deutsche Volk. Die Aufrüstung findet auf deutschem Boden statt, auf dem Territorium beider deutscher Staaten. Sie bedroht am unmittelbarsten die Menschen, die in den beiden deutschen Staaten leben. Wer also müßte leidenschaftlicher und drängender um ein Ende einer Rüstungsentwicklung bemüht sein, die jenseits aller Vernunft liegt?Uns allen muß klar sein, daß die Dynamik, also das Tempo und der Inhalt der Rüstungsentwicklung, für sich genommen bereits eine schwere Gefahr darstellt. Es ist ja schon lange nicht mehr die quantitative Dimension der Rüstung allein, die uns bedrückt, es ist mehr und mehr die qualitative Dimension. Es sind die Fortschritte der Rüstungstechnologie im nuklearen und im konventionellen Bereich, die den Glauben an die Stabilität der Sicherheit erschüttern können. Wenn sich Vorwarnzeiten verkürzen und Waffenwirkungen durch bisher ungekannte Zielgenauigkeit immer weiter steigern lassen, stimmen ein paar Grundannahmen der Verteidigungspolitik nicht mehr.
Diese qualitative Rüstungsdynamik wirft z. B. die Frage auf, ob der bisherige Gleichgewichtsbegriff noch zu halten ist, ob also Stabilität der Sicherheit durch Gleichgewicht der Rüstungen garantiert werden kann, auf welchem Niveau auch immer, bisher immer nur auf höherem Niveau. Uns ist klar, daß es für Rüstungskontrolle und Abrüstung weltpolitische Rahmenbedingungen gibt, die nicht wir bestimmen. Die Frage ist aber, ob wir Einfluß nehmen können auf diese Rahmenbedingungen oder nicht
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Verheugenund, wenn ja, ob die Bundesregierung es getan hat.Wenn die Bundesregierung sagt, sie halte an der von ihr verfolgten realistischen Entspannungspolitik fest, so relativiert sie die entscheidende außenpolitische Rahmenbedingung, und sie relativiert auch ihren eigenen Handlungsspielraum. Entspannungspolitik war in der Vergangenheit die Voraussetzung für Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung. „Realistische Entspannungspolitik" bedeutet doch wohl im Klartext, daß es eine andere Entspannungspolitik sein soll, daß es jedenfalls die Entspannungspolitik, die wir meinen, nicht mehr gibt. Diese Entspannungspolitik ist versandet. Man hat sie verkommen lassen. Daran war nicht nur eine Seite beteiligt. Das wissen wir.
— Ja, warum ist sie gescheitert, Herr Berger? Weil eine Seite nicht mehr bereit war, sie fortzusetzen. Darum ist sie gescheitert.
Für uns und die Frage unseres Einflusses ist allerdings entscheidend, die Ursachen zu erkennen, die auf unserer Seite liegen. Es reicht nicht aus, das oft genug irrationale Verhalten der Sowjetunion zu brandmarken. Das kennen wir ja. Auch die Sowjetunion müßte wissen — und wir haben Hinweise, daß sie es weiß —, daß ihre Rüstungspolitik für sie selbst nicht mehr Sicherheit erzeugt, sondern weniger. Aber das befreit uns nicht davon, nach den Faktoren zu fragen, die wir beeinflussen können.Ist es nicht so, daß der Westen das Konzept einer politischen Friedenssicherung, Abrüstung durch Entspannung, aufgegeben hat zugunsten eines militärischen Konzepts?
Ist nicht durch die USA der Gedanke der Balance in Frage gestellt und durch eine Politik der Stärke, sogar des Strebens nach Überlegenheit ersetzt worden? Und ist nicht die jetzige Bundesregierung diesen Weg bereitwillig mitgegangen?
Politik der Stärke hat die Welt schon einmal in eine Sackgasse geführt. Jetzt sind wir alle zusammen dabei, nur noch tiefer in dieselbe Sackgasse hineinzurennen. Der Einfluß der Bundesregierung hat nicht ausgereicht, das zu verhindern, weil sie Partnerschaft mit Ergebenheit verwechselt hat. Liebedienerei kann souveräne Vertretung deutscher Interessen nicht ersetzen.
Der Wendepunkt war die Entscheidung zur Nachrüstung unter den gegebenen Bedingungen. Und daß die Bedingungen so waren und nicht anders, hat die Bundesregierung mit herbeigeführt, indem sie, ob fahrlässig, ob ungeschickt, ob gewollt, sei dahingestellt, den Verhandlungsdruck in Genf vermindert und den Erfolgszwang aus den Verhandlungen genommen hat. Was die Bundesregierung dann getan hat, um den Schaden zu begrenzen, ein Unternehmen, bei dem sie unserer Unterstützung sicher sein konnte und auch in Zukunft sicher sein kann, hat sie selber konterkariert. Die Begleitmusik aus Ihren Reihen zum gescheiterten Honecker-Besuch klingt uns noch schrill genug in den Ohren.Das Scheitern der Genfer Verhandlungen fällt in den Zeitraum, über den die Bundesregierung hier berichtet. Es war wohl nicht zu erwarten, daß der Bericht die von vielen vorhergesagten und tatsächlich eingetretenen, von der Bundesregierung aber stets bestrittenen negativen Folgen der damaligen Entscheidung ungeschminkt darstellen würde.Diese Folgen sind: Erstens. Es gibt keine neue Konzessionsbereitschaft Moskaus unter dem Eindruck der laufenden westlichen Raketenstationierung. Zweitens. Im Ost-West-Verhältnis bewegt sich nichts; das Jahr 1984 ist für Abrüstung ein verlorenes Jahr. Drittens. Die militärische Antwort Mos, kaus auf die Nachrüstung ist da: Uns bedrohen heute mehr Waffen als vor einem Jahr.
— Ja, sowjetische.
Überraschend ist das alles nicht. Es ist nun wirklich ein sattsam bekanntes Verhaltensmuster von Großmächten und einer in Sicherheitsfragen so traumatisch befangenen Großmacht wie der Sowjetunion zumal, daß militärischer Druck mit militärischem Gegendruck beantwortet wird; Rakete um Rakete. Wem fiele da nicht das Wort „Auge um Auge, Zahn um Zahn" ein?Die Bundesregierung hatte dieses Verhaltensmuster verdrängt und sich an die Fiktion geklammert, der Vollzug der Nachrüstung werde die Sowjetunion zum Nachgeben veranlassen. Zu diesem Trugbild der Wirklichkeit paßt es, daß im Abrüstungsbericht die militärischen Folgen der Nachrüstung verharmlost, ja, mehr als das: rundheraus bestritten werden. Die sowjetischen Gegenmaßnahmen, einschließlich der Stationierung von SS-12bzw. SS-22-Raketen in der DDR und in der CSSR, schaffen keine neuen Optionen, sagt die Bundesregierung. Also würde die dramatische Verkürzung der Vorwarnzeiten, die diese Stationierung nach sich zieht, nichts bedeuten? Also wäre es militärisch belanglos, daß die Sowjetunion entgegen ihrer eigenen Doktrin Waffen in die DDR und die CSSR schafft, die so weit vorne nur als Ersteinsatzwaffen überhaupt Sinn haben könnten? Wir werden an diese Fragen erinnern, wenn Rüstungsentscheidungen anstehen, die sich auf die Vornestationierung von SS-12 bzw. SS-22 beziehen. Ob die nächste Nachrüstung nicht kommt, werden wir dann ja sehen.Die INF-Stationierung hat ihr sicherheitspolitisches Ziel verfehlt. Sie hat keine Rüstungsbalance geschaffen. Sie hat nicht mehr Stabilität in Europa bewirkt, sondern zeigt eindeutig destabilisierende Wirkungen. Es wiegt besonders schwer, daß ein Teilelement der westlichen Nachrüstung, nämlich die Landstationierung von Cruise Missiles, insofern
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Verheugensogar direkt destabilisierend wirkt, als landgestützte Cruise Missiles rüstungskontrollpolitisch nicht erfaßbar sind. Es ist nicht akzeptabel, wenn die Bundesregierung in ihrem Bericht sagt, sie setze sich dafür ein, daß bei Rüstungsentscheidungen die Wechselwirkung zwischen den Erfordernissen der Verteidigungspolitik und denen der Rüstungskontrollpolitik berücksichtigt wird; deshalb nicht akzeptabel, weil es hier nicht geschehen ist und auch nicht gewollt war. Was nützen uns hehre Prinzipien im Abrüstungsbericht, wenn die Praxis ganz anders ist?
Für uns wird an dieser Stelle sichtbar, daß die Bundesregierung einer falschen und gefährlichen Philosophie folgt. Sie kleidet diese Philosophie in den Satz: „Instabilität auf niedrigem Niveau der Rüstungen wäre gefährlicher als Stabilität auf hohem Niveau." Zu Ende gedacht heißt das: Notfalls eben auf einem immer höheren Niveau.Diese Philosophie hat die Welt dahin gebracht, daß vom Tag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima an das Atomwaffenarsenal der USA alle 30 Minuten um die Sprengkraft dieser Bombe gewachsen ist. Die Opfer dieser Bombe sind bekannt — und seither alle 30 Minuten eine solche Bombe mehr, Tag und Nacht, seit fast 40 Jahren; und auf der sowjetischen Seite ebenso.Dieses Denken hat 50 000 Atomsprengköpfe in die Welt gebracht. Dieses Denken hat die USA veranlaßt, sich ein strategisches Abschreckungspotential zuzulegen, das heute zwanzigmal so groß ist wie das Potential, das McNamara seinerzeit als Verteidigungsminister für ausreichend erklärt hat. Und wiederum: Auf der sowjetischen Seite ebenso. Immer mehr Atomwaffen schaffen eben nicht immer mehr Stabilität. Dieser Wettlauf ist nicht zu gewinnen.
Immer wird eine Seite ein System haben, das technologisch höher entwickelt ist als das vergleichbare System der anderen Seite, und immer wird sich die andere Seite dadurch bedroht fühlen und glauben, gleichziehen und Stabilität herstellen zu müssen. Wir haben in den 70er Jahren den verhängnisvollen Einfluß der MIRV-Entwicklung auf die Rüstungskontrollpolitik erlebt. In den 80er Jahren können dasselbe die Weltraumwaffen bewirken. Es ist ein Irrweg, Sicherheit durch immer mehr Rüstung gewinnen zu wollen. Mit immer mehr Waffen kommen immer mehr Gefahren. Die 2,18 Billionen DM — Billionen, meine Damen und Herren! —, die im vergangenen Jahr weltweit für Rüstung ausgegeben worden sind, vergrößern das Konfliktpotential, verschärfen das Elend in der Dritten Welt und hindern uns, die weltweiten Umwelt- und Wirtschaftsprobleme zu lösen. Sicherheit könnten wir gewinnen, wenn Ost und West endlich begriffen, daß sie entweder gemeinsam den Frieden bewahren oder im Untergang vereint alles verlieren können.
Wir haben daraus das politische Konzept einer Sicherheitspartnerschaft entwickelt, also ausgehend von der Respektierung der Interessen der jeweils anderen Seite, den Gedanken, ein kooperatives Sicherheitsmodell an die Stelle des traditionellen antagonistischen Modells zu setzen. Weil wir nicht an Friedenssicherung durch Hoch- und immer höhere Rüstung glauben, haben wir Vorschläge gemacht, wie ein neuer Verhandlungsansatz gefunden werden kann.
Wir halten drei aufeinanderfolgende Schritte für notwendig, erstens Stopp der Nachrüstungen auf beiden Seiten, zweitens Abbau der seit November 1983 stationierten Systeme auf beiden Seiten und drastische Reduzierung der SS-20-Systeme, drittens Zusammenführen der INF- und der START-Materie in eine gemeinsame Verhandlungsrunde, damit sich der Fehler des SALT-Prozesses nicht wiederholt, und dies unter Einbeziehung der britischen und französischen Systeme.Wir halten das für einen Weg, um nicht nur die Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen neu zu beleben, sondern auch die START-Diskussion, die mit in den Strudel gerissen worden ist, wieder in Gang zu bringen.Meine Damen und Herren, ein paar Bemerkungen zu den übrigen Verhandlungsrunden MBFR, KVAE und Genfer Abrüstungskonferenz. Über alle drei ist tatsächlich etwas Positives zu sagen, nämlich daß es sie wirklich gibt. Das ist das einzig Erfreuliche. Der Abrüstungsbericht stellt den Stand der Wiener Verhandlungen nach unserer Meinung viel zu optimistisch dar. Er läßt aus, daß die Sowjetunion auf die Einhaltung des Mandats pocht und verlangt, nicht nur über Truppen, sondern auch über Waffen zu reden. Und es ist schlicht falsch, wenn der Bericht sagt, es bestehe Übereinstimmung, auf kombinierte Höchststärken von jeweils 900 000 Mann für Land- und Luftstreitkräfte zu reduzieren. Man muß dabei doch erwähnen, daß die sowjetische Forderung, innerhalb dieser Gesamthöchststärke die Luftstreitkräfte auf 200 000 Mann zu begrenzen, bisher speziell am deutschen Widerstand gescheitert ist. Was ist das für ein Bericht, der diesen wichtigen Dissens verschweigt?Die westlichen Vorschläge zur Behebung der Datenkalamität erinnern an Beschäftigungstherapie. Nach den bisherigen Erfahrungen können leicht zehn weitere Jahre vergehen, ehe man sich einigt, was denn nun die militärisch bedrohlichen Kategorien sein sollen. Wir halten die Bemühungen um die Datenverifikation vor Vertragsabschluß für gescheitert. Wenn in Wien überhaupt noch etwas zustande kommen soll, dann muß man sich auf das Ergebnis konzentrieren, das heißt, verifiziert werden die nach einem vereinbarten Reduzierungszeitraum tatsächlich noch vorhandenen Kräfte. Wir haben nicht ewig Zeit in Wien. Der Warschauer Pakt verfolgt die Diskussion im Regierungslager hier auch und weiß, wie unsere Personalprobleme aussehen. Für uns stellt sich die Frage so: Entweder wir bekommen eine beiderseitige Truppenreduzierung auf Grund eines Vertrages, oder wir reduzieren ein-
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Verheugenseitig auf Grund der Bevölkerungsentwicklung und bekommen nichts dafür.Das Zustandekommen der KVAE und damit den Erfolg des KSZE-Folgetreffens von Madrid haben wir begrüßt. Die positive Rolle des Bundesaußenministers in diesem Zusammenhang hatten wir ausdrücklich hervorgehoben. Es ist zu früh, die KVAE zu bewerten, aber eines muß ich doch sagen: der recht behäbige, sehr technisch-bürokratische Geschäftsgang in Stockholm macht uns Sorgen. Politische Impulse müssen früh und kontinuierlich erfolgen. Abrüstung steht ja ohnehin bei der KVAE noch nicht zur Debatte. Wenn wir lesen, daß Vereinbarungen militärisch bedeutsam, politisch verbindlich, angemessen nachprüfbar und auf ganz Europa bezogen sein müssen, befürchten wir, daß eine ganze Reihe möglicher vertrauensbildender Maßnahmen von atomwaffenfreien Zonen bis zu Gewaltverzichtsabkommen in Stockholm überhaupt nicht diskussionsfähig sein werden. Unsere Erwartungen an Stockholm knüpfen an der Gewaltverzichtsidee an. Sie sollte das tragende Prinzip der Ost-West-Beziehungen sein. Alles, was dahin führen könnte, wird unsere Unterstützung finden.Ein Blick auf Genf. Die Abrüstungskonferenz beschäftigt uns im Zusammenhang mit dem Verbot chemischer Waffen. Hierzu erweckt der Bericht den Eindruck, als stünden die Dinge ganz gut; das hat Herr Möllemann gerade auch noch einmal dargelegt. Man mag es für einen Fortschritt halten, daß man sich wenigstens auf eine Liste der Übereinstimmungen, Annäherungen und Divergenzen einigen konnte. Aber was soll der Nichtfachmann mit diesem Hinweis anfangen, wenn ihm nicht mitgeteilt wird, daß allein die Liste der divergierenden Auffassungen mehr als 100 Positionen umfaßt — in der Substanz sehr unterschiedlich, aber insgesamt ein massives Hindernis?Auf das unverzichtbare weltweite Chemiewaffenverbot werden wir wohl noch eine gute Weile warten müssen. Ich frage deshalb noch einmal, auch wenn die Bundesregierung davon bisher nichts hören wollte, ob unter diesen Umständen der Gedanke einer chemiewaffenfreien Zone in Europa als erster Schritt nicht doch einmal ernsthaft geprüft und bei der anderen Seite getestet werden sollte.
Wir begrüßen, daß der Bericht Aussagen über die Rüstungskontrolle im Weltall macht. Verhandlungen gibt es noch nicht. Wir wünschen sie ebenso dringend wie die Bundesregierung auch. Aber hier wird eine eigenständige deutsche Position in der Sache vergeblich gesucht. Ich warne dringend vor einer kritiklosen Übernahme der amerikanischen Weltraumrüstungspläne. Frankreich hat das, was wir als Europäer in dieser Frage gemeinsam empfinden sollten, präzise ausgesprochen; die Bundesregierung hat geschwiegen. Das Thema wird uns schon bald intensiv beschäftigen. Es könnte sich dann zeigen, daß unsere Interessen von denen beider Supermächte deutlich abweichen. Wir jedenfalls wollen erstens keine deutsche Beteiligung an der militärischen Nutzung des Weltraums und zweitens den totalen Verzicht beider Seiten auf Waffen im Weltraum.Meine Damen und Herren, der Abrüstungsbericht kann nichts dafür, daß die Welt in bezug auf Rüstungskontrolle und Abrüstung so ist, wie sie ist. Die Bundesregierung sollte die Welt aber auch nicht schöner malen. Die Wirklichkeit, mit der wir es hier zu tun haben, ist leider häßlich, und daran trägt sie ein gutes Teil Schuld.
Der Bericht enttäuscht uns, weil er nicht ernsthaft analysiert, warum das so ist, sondern sich in Schuldzuweisungen und Selbstrechtfertigungen flüchtet. Er ist ein Abrüstungsbericht geworden, der Aufrüstungsgründe entschuldigt. Die Mitverantwortung der Bundesregierung für die Rückschläge in der Rüstungskontrollpolitik ist ein weiterer schwerer Minusposten in ihrer ohnehin tristen Zweijahresbilanz.
Bei vielen Übereinstimmungen im Detail fehlt uns in der Bundesregierung ein überzeugendes politisches Konzept. Sie werkeln so vor sich hin. Kraft und Mut zu neuen Gedanken bringen Sie nicht auf. Wir vermissen die unerschütterliche Entschiedenheit für eine aktive Friedenspolitik. Daß diese Entschiedenheit bei Ihnen fehlt, ist genau das, was der Abrüstungsbericht letztlich dokumentiert.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Todenhöfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Verheugen, ich hatte ursprünglich zu Beginn vorgehabt, Ihre Rede als „Äquidistanzrede" einzustufen. Ich kann das jetzt nicht mehr, nachem ich feststellen mußte, daß Ihre Distanz zu sowjetischen Argumenten wesentlich geringer und Ihre Distanz zu amerikanischen Argumenten wesentlich größer geworden ist als in der Vergangenheit. Ich bedaure das sehr.
Mein Kollege Berger wird auf Ihre Rede im einzelnen noch eingehen.Ich möchte die Kritik, die Sie, Herr Verheugen, an der Bundesregierung und an ihrem AbrüstungsBericht geübt haben, zurückweisen. Der Jahresbericht der Bundesregierung zur Abrüstung und Rüstungskontrolle und zum militärischen Kräfteverhältnis zwischen Ost und West beruht dankenswerterweise erkennbar auf einem zentralen Grundgedanken: der Bereitschaft des Westens und insbesondere der Bundesregierung, gemeinsam mit dem Osten auf alle Waffen zu verzichten, die Ost und West zu ihrer Verteidigung und zur Abschreckung nicht benötigen. Das ist der Grundgedanke dieses Berichtes und unserer Abrüstungsstrategie. Und wir unterstreichen diesen Grundgedanken. Wir werden die Bundesregierung in diesem Bereich massiv unterstützen.
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Dr. TodenhöferDer genannte Grundgedanke wird u. a. deutlich in dem vor allem von der deutschen Bundesregierung betriebenen Versuch, ein weltweites Verbot aller chemischen Waffen zu erreichen. Er wird auch deutlich, Herr Verheugen, in dem Versuch, die Zahl der Atomgefechtsköpfe in Europa drastisch zu verringern. So hat der Westen im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluß ein Verfahren entwikkelt, das sicherstellt, daß für jeden neuen Gefechtskopf fünf andere Gefechtsköpfe beseitigt werden. Ich erwähne nur das Stichwort Montebello, Herr Verheugen. Das scheint an Ihnen völlig vorbeigegangen zu sein. Wenn die Sowjetunion wie wir für jeden neuen Gefechtskopf fünf andere Gefechtsköpfe abrüsten würde, wären wir schon sehr viel weiter, zumindest im quantitativen Bereich der Abrüstung.
Diese Abrüstungsoffensive der Bundesregierung, die Sie doch gar nicht bestreiten können, wenn Sie diesen Bericht wirklich gelesen haben, ist im Kern der Ausdruck der festen Entschlossenheit der gesamten deutschen Bevölkerung zum Frieden mit der Sowjetunion. Ich habe in den zwölf Jahren, die ich dem Deutschen Bundestag angehöre, nicht einen einzigen Politiker kennengelernt, der bereit wäre, durch einen Krieg die durch den zweiten Weltkrieg entstandene Lage in Europa mit militärischer Gewalt zu verändern. Wir wollen Frieden mit der Sowjetunion, und wir wollen Abrüstung mit der Sowjetunion, weil wir wissen, daß im Atomzeitalter die Aufrüstung keine Sieger, sondern nur Verlierer kennt. Darauf ist auch dieser Abrüstungsbericht abgestellt.
Wir halten dabei auch an den Grundlagen des Harmel-Berichts fest, d. h. an der Notwendigkeit ausreichender Verteidigungsfähigkeit und -bereitschaft auf der einen Seite bei gleichzeitiger Bereitschaft zu ausgewogener Abrüstung, zu einem offenen und fairen Dialog mit der Sowjetunion und zur Verständigung mit dem gesamten Ostblock auf der anderen Seite.Dieser weitgehenden Abrüstungsbereitschaft und Dialogbereitschaft des Westens steht zur Zeit leider eine Politik der Dialogverweigerung und der hemmungslosen Aufrüstung auf seiten des Ostens gegenüber. Ich nenne nur wenige Beispiele für die sowjetische Strategie der Aufrüstung gegenüber Westeuropa.Erstens. Die Sowjetunion, die zur Zeit über 378 SS-20-Abschußsysteme verfügt, hat das Tempo des Ausbaus neuer SS-20- Stellungen dramatisch verschärft. Sie wird, wenn man das jetzige Bautempo zugrunde legt, Ende des Jahres 1985 über etwa 500 SS-20-Atomabschußsysteme verfügen. Legen Sie eine Nachladerakete pro Abschußsystem zugrunde, dann sind das 3 000 atomare Gefechtsköpfe, über die die Sowjetunion verfügen kann.Schon zum jetzigen Zeitpunkt verfügt die Sowjetunion auf ihren SS-20 über 2 268 Atomgefechtsköpfe, die sie jederzeit einsetzen kann. Der Westen hingegen, dem Sie, Herr Verheugen, Aufrüstung vorwerfen, wird Ende dieses Jahres auf den amerikanischen Pershing II und den amerikanischen Marschflugkörpern ganze 150 Gefechtsköpfe haben. 2 268 Gefechtsköpfe auf den SS-20 und 150 westliche Gefechtsköpfe durch die westlichen Nachrüstungsmaßnahmen — das ist eine Überlegenheit von über 15 : 1. Und da reden Sie, Herr Verheugen, von einer Aufrüstung des Westens.
Ich finde, zu irgendeinem Zeitpunkt haben sich bei Ihnen die Kriterien verschoben.
Zweitens. Die Sowjetunion hat bereits heute eine Nachfolgerakete zur SS 20 entwickelt, die SS-X-25 mod, die kurz vor ihren ersten Tests steht. Sie wird noch zielgenauer sein als die SS 20, und sie wird bis zu sechs Atomgefechtsköpfe tragen können.Drittens. Die Sowjetunion hat inzwischen weitreichende atomare bodengestützte Marschflugkörper entwickelt, die Ende 1985 einsatzfähig sein werden.Viertens. Nachdem die Sowjetunion bereits 40 SS-21-Kurzstreckenraketen in der DDR stationiert hat, hat sie nunmehr in ihrem westlichen Vorfeld mit der Stationierung der SS-22-Mittelstreckenraketen begonnen. Die ersten 50 SS-22-Abschußsysteme stehen bereits mit insgesamt 100 SS-22Atomraketen, die mit ihrer Reichweite aus der DDR und der CSSR — wohin sie aus der Sowjetunion transportiert worden sind — die gesamte Bundesrepublik Deutschland abdecken können.
— Jetzt sagt Herr Ehmke: Das haben wir euch doch gesagt. Die Sowjetunion nennt ähnlich wie Herr Verheugen und führende Sozialdemokraten diese Aufrüstungsmaßnahmen der Sowjetunion „Gegenmaßnahmen",
Gegenmaßnahmen gegen die Nachrüstung. Sie wissen doch, daß das nicht stimmt. Die Unrichtigkeit dieser Legende ist doch sehr leicht zu beweisen. Zur Entwicklung derartiger Systeme braucht man rund zehn Jahre. Das bedeutet, daß die Entscheidung der sowjetischen Führung, die SS 21, die SS 22, die SS 23 und auch die atomaren Marschflugkörper aufzustellen, Mitte der 70er Jahre auf dem Höhepunkt der Entspannungspolitik, als Sie Verantwortung hatten,
viele Jahre vor dem NATO-Doppelbeschluß 1979 und fast zehn Jahre vor dem Beginn der westlichen Nachrüstung getroffen worden ist.
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6506 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Herr Abgeordneter Todenhöfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Ehmke?
Her Präsident, ich habe noch eine Minute Redezeit; ich sehe mich leider nicht in der Lage dazu.
Dies ist eine, durch nichts gerechtfertigte Vorrüstung der Sowjetunion, die in krassem Widerspruch zur offiziellen Abrüstungslyrik der Sowjetunion steht.
— Sehen Sie, Herr Ehmke, wieder diese Vergleiche „wie bei uns", das ist Aquidistanz.
— Herr Ehmke, wenn hier schlimme Propaganda gemacht worden ist, dann soeben von Ihnen, weil Sie die sowjetische Propaganda mit dem Jahresbericht der deutschen Bundesregierung über Abrüstung und Rüstungskontrolle auf eine Stufe gestellt haben. Das, finde ich, ist Propaganda.
Wir warnen die Sowjetunion davor, diesen Weg der hemmungslosen Aufrüstung gegen Westeuropa fortzusetzen. Wir fordern die Sowjetunion dringend, auch im sowjetischen Interesse, zur militärischen Mäßigung auf.
Wir appellieren an die Sowjetunion, zu den Abrüstungsverhandlungen über Mittelstreckenraketen und über interkontinentalstrategische Waffen zurückzukehren. Wir appellieren an die Sowjetunion mit großem Nachdruck, endlich auf die Bereitschaft der amerikanischen Regierung einzugehen und Rüstungskontrollverhandlungen über den Weltraum zu führen.
Die sowjetische Regierung hat nicht das Recht, ihre Teilnahme an atomaren Abrüstungsverhandlungen zu verweigern. Sie hat sich in Artikel VI des Atomwaffensperrvertrages vor allem gegenüber den Nichtkernwaffenstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland feierlich in völkerrechtlich verbindlicher Weise verpflichtet, in redlicher Absicht Abrüstungsverhandlungen zu führen, um das atomare Wettrüsten in naher Zukunft zu beenden.
Die Bundesrepublik Deutschland besitzt keine Atomwaffen, und sie will auch keine eigenen Atomwaffen. Aber gerade deshalb hat unser Land einen völkerrechtlichen und moralischen Anspruch darauf, daß sich die Sowjetunion endlich wieder zu atomaren Abrüstungsverhandlungen an den Tisch setzt und einen ehrlichen Beitrag zur Beendigung des Wettrüstens in dieser Welt leistet.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Vogt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herrn! Der Saal füllt sich wieder ein bißchen, und zwar deswegen — —
— Ach, wissen Sie, da bin ich schon bescheiden genug, um die Ursache richtig auszuloten.
Der Saal füllt sich wieder etwas, weil wir anschließend auch über das Thema Waldsterben, Katalysatoren usw. noch einmal sprechen. Ich würde mir wünschen, das wir zu dem Thema Abrüstung in unserem Volk und in diesem Bundestag allmählich die gleiche Leidenschaft erleben würden, wie wir sie zur Zeit in der Frage des Kampfes gegen das Waldsterben erleben. Ich meine, wir, Parlament und jeweils an der Macht befindliche Regierung, sollten uns das auch gemeinsam vornehmen.
Allerdings muß ich dann sagen, daß ein Bericht, der vielleicht eine Ratlosigkeit ausstrahlt, aber auch eine tödliche Langeweile wie der Bericht der Bundesregierung, den sie Abrüstungsbericht nennt, natürlich in Zukunft so nicht mehr vorkommen sollte.
Wie, meine Damen und Herren, würden Sie das nennen: Jemand tritt auf der Stelle, kommt mit mehreren Projekten über Jahre und Jahrzehnte nicht vorwärts und meint dennoch den Eindruck erwecken zu müssen, es gehe langsam, aber stetig, voran? Abgesehen davon, daß dies eine fürchterliche Quälerei sein muß — und da empfinde ich mit den regierungsamtlichen Abrüstern durchaus Mitgefühlt —, nenne ich das einen erweiterten Selbstbetrug: Der Täter betrügt sich selbst und andere mit. Einzig der Titel des vorliegenden Berichts drückt in angemessener Weise Skepsis und Realismus aus, wenn er sagt, vom Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung 1984 sei die Rede. Nun stammt dieser Titel auch nicht von der Regierung, sondern er stammt vom Parlament, das diesen Titel vor drei Jahren gefunden hat. Erfolge in der Sache können nicht vorgewiesen werden. Daß es die nicht gibt, ist zu einem gerüttelten Maß mit Schuld dieser Regierung, die nun in sehr globaler Weise über ihre Bemühungen berichtet. Das unheilverkündende Vibrieren in den Ost-West-Beziehungen, der neue atomare, chemische und konventionelle Rüstungsschub, der Abbruch der INF- und START-Verhandlungen, die Absagen von Honecker und Schiwkow, die Sterilität der Gesprächsrunden in Wien, Genf und Stockholm — all dies sind Konsequenzen einer Politik — Ihrer Politik —, die vorgab, mit neuartigen Raketen in der Bundesrepublik mehr Sicherheit produzieren zu können.
Wegen der sehr knappen Zeit — ich habe nur sieben Minuten zur Verfügung — beschränke ich mich auf wenige Punkte der Kritik.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6507
Vogt
Erstens. In dem Bericht fehlt jede Spur einer kritischen oder selbstkritischen Prüfung, warum Rüstungskontrolle und Abrüstung zur Zeit nicht stattfinden.
Zweitens. Statt dessen wird seitenlang die Stationierung gerechtfertigt, mit der ebenso konsequenten wie paradoxen Folge, daß auch die Gegenmaßnahmen des Warschauer Paktes in ihrer Gefährlichkeit heruntergespielt werden. Herr Kollege Verheugen hat eindrucksvoll darauf hingewiesen, und auch ich sage Ihnen: Wir werden Sie beim Wort nehmen, wenn sie Ihre Gegenmaßnahmen zu den Gegenmaßnahmen einleiten wollen.
Drittens. Dort, wo sie Begründungszusammenhänge herstellt, begibt sich die Bundesregierung auf das Niveau infantiler Schuldzuweisung, das für die Vormächte der beiden Militärbündnisse bisher kennzeichnend war. Nun hat uns aber der Kollege Todenhöfer noch einmal plastisch die Methode vor Augen geführt: Schuld ist immer nur die andere Seite; die selbstkritische Bewertung unterbleibt.
Viertens. Auf das Entwickeln von Erfolgskriterien wird völlig verzichtet. Konsequenterweise unterbleibt die Prüfung, inwieweit neu eingeführte oder geplante Waffensysteme beziehungsweise Strategien mit rüstungskontrollpolitischen Absichten vereinbar sind. Zwar ist in ideologischer Weise von Stabilität die Rede. Es unterbleibt aber die Untersuchung, von welchen neuen Waffensystemen und Strategien des eigenen Bündnisses möglicherweise destabilisierende Wirkungen ausgehen.
Fünftens. Das Erwartungsniveau ist soweit gesunken, daß das bloße Zustandekommen einer Konferenz als Erfolg bejubelt wird. Beispiel: KVAE in Stockholm. Es versteht sich von selbst, daß eine Analyse der Erfolgsbedingungen gar nicht versucht wird. Nach unserer Einschätzung leidet die KVAE in Stockholm am gleichen Gebrechen wie die INF-Verhandlungen. Der Verhandlungstisch befindet sich sozusagen in einer Schieflage. In Genf war die nukleare Seemacht nur bereit über Landstationierungen zu sprechen. In Stockholm will die nukleartechnologisch überlegene Macht USA mit der vermeintlich konventionell überlegenen Macht UdSSR nur über vertrauensbildende Maßnahmen im konventionellen Bereich verhandeln.
Hinzu kommt noch erschwerend, daß die Bundesregierung von vornherein blockpolitisch, nämlich als Teil der NATO aufgetreten ist. Statt die Möglichkeiten auszuloten, die im Zusammentreffen von 35 Staaten, darunter 33 europäische, liegen, hat die Bundesregierung dazu beigetragen, daß auch in Stockholm ein blockpolitisches Pingpong gespielt wird. Bereits am siebten Tag knallten die NATO-Länder das Paket ihrer Vorschläge auf den Tisch und provozierten damit geradezu das Njet der Warschauer-Pakt-Länder. Meine Damen und Herren, nichts gegen Stockholm; diese Ebene muß genutzt werden. Aber wir wenden und gegen den blockpolitischen Mißbrauch und die Phantasielosigkeit, die darin liegt, dort sozusagen nur als Teil des Blocks aufzutreten.
Sechstens. Im Hinblick auf die in der Bundesrepublik hochkonsensfähige Frage der Eliminierung chemischer Waffen folgt die Bundesregierung der Formel: Das Bessere ist der Feind des Guten. Unter Hinweis auf einen angeblich bevorstehenden Durchbruch auf Weltebene bekämpft sie das Konzept einer chemiewaffenfreien Zone Europa bzw. einer einvernehmlichen Lösung zwischen den beiden deutschen Staaten.
Siebentens. Der tiefe Grund für all diese Fehlleistungen, meine Damen und Herren, ist pure Ideologie. Höchster Wert ist für diese Bundesregierung nicht der Frieden, sondern Frieden in Freiheit. Der Frieden wird damit einer Bedingung unterstellt, nämlich der der Freiheit in ihrem ideologischen Sinne.
Freiheit wird damit zu einem höheren Wert als Frieden. Vertreten wird also das Ziel einer Freiheit, die auch bereit ist, den Frieden aufzuheben im Krieg, ohne daß diese Leute merken, daß sie damit auch Freiheit negieren. Sie negieren durch diese Kriegsbereitschaft, die nur von wenigen laut ausgedrückt wird, ihr eigenes Freiheitspostulat, das die Freiheit des einzelnen dort enden läßt, wo die Freiheit des anderen beginnt. „Frieden in Freiheit" heißt also nichts weniger als „Wir tun nicht alles für den Frieden".
Dagegen, meine Damen und Herren, begehren wir auf, weil die voratomare Verblendung dieser Bundesregierung noch zu etwas Schlimmerem führen kann als dem erweiterten Selbstbetrug: zum Selbstmord, der sich, wenn er verübt wird, zum globalen Suizid ausweitet.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben von Herrn Staatsminister Möllemann noch einmal die Zusammenfassung der wesentlichen Punkte des Berichtes, die hier diskutiert werden, und der Bemühungen der Bundesregierung gehört, im Bereich der Abrüstung weiterzukommen.Wer die Rede des Bundesaußenministers vor den Vereinten Nationen liest, Herr Vogt und Herr Kollege Verheugen, der kann mit Sicherheit nicht so tun, als strahlten wir tödliche Langeweile aus, hätten nichts zu bieten, träten auf der Stelle, sondern ich glaube, wenn Sie den Begriff „leidenschaftlich" für sich in Anspruch nehmen, dürfen wir sagen: Herr Genscher hat dort eine Rede gehalten, die an Deutlichkeit, an Bemühungen der Bundesrepublik nichts zu wünschen übrig läßt.
Ich vermute, auch ein Politiker Ihrer Fraktion hätte keine bessere Formulierung gefunden.
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6508 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Schäfer
— Er hat die Weichen falsch gestellt, das meinen Sie. Ich bin mir dessen nicht sicher.Herr Kollege Verheugen, ich erlaube mir, heute auch einmal etwas rabulistisch zu werden, wie Sie es in Ihrer Rede waren. Sie haben davon gesprochen, daß dieser Bericht kein Abrüstungsbericht, sondern ein Aufrüstungsbericht sei. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen: Das, was Sie hier verlesen haben, war Abrüstungs-Feuilleton und der Aufguß alter Vorschläge der SPD, die in keiner Weise neu sind, ja, die wir schon mit Herrn Bahr zusammen vor dem Nachrüstungsbeschluß, vor der Debatte im Deutschen Bundestag, in Washington, in Moskau vorgetragen haben. „Zusammenlegung der Verhandlungen" haben Sie gesagt. Das ist wiederholt vorgetragen worden. Bisher kommt aus Moskau dazu keine Bereitschaft.Herr Ehmke, soweit ich gelesen habe, hat Ihr Seminar der Ebert-Stiftung in Moskau auch keine so neuen Erkenntnisse über die Beweglichkeit der Sowjetunion hervorgebracht, als daß wir hier sagen könnten: Wenn wir nur den Willen hätten, könnten wir schon weiter sein. Das unterstellt Herr Vogt ja nun dauernd. Wir haben den Willen, aber wir können deshalb nicht weiter sein, weil die Sowjetunion sich im Augenblick noch verweigert, weil sie die Wahlen in den Vereingten Staaten abwartet, sich aber jetzt immerhin — nachdem sie erkannt hat, daß wahrscheinlich der jetzige Präsident auch der nächste sein wird — zum ersten Mal wieder bereit erklärt hat, im Weißen Haus Gespräche aufzunehmen: vier Stunden. Das ist doch Bewegung!Ich darf einmal den sowjetischen Botschafter in der Bundesrepublik, Herrn Semjonow, zitieren, der vor der deutsch-sowjetischen Parlamentariergruppe besorgt fragenden Kollegen — ich glaube, sogar von der Fraktion der GRÜNEN — geantwortet hat: Wissen Sie, ich war 15 Jahre meines Lebens Abrüstungsbeauftragter meines Landes. Wenn man Abrüstungsverhandlungen zu führen hat, braucht man Geduld, Zähigkeit und Zeit, aber nicht nur Bereitschaft, Dinge zu ändern. Das hängt einfach nicht von uns ab.
Es wird hier ständig unterstellt, es läge an der Politik dieser Bundesregierung, daß wir nicht weitergekommen sind. Wir sind nun mal nicht die Großmacht, von deren Willen es abhängt, daß sich die Dinge bewegen. Aber daß wir uns um Bewegung bemühen, meine Damen und Herren — und das kam heute doch wenigstens in Nebensätzen zum Ausdruck —, werden Sie doch wohl auch nicht mehr leugnen können; denn letzten Endes waren es doch Bemühungen dieser Bundesregierung, daß es überhaupt zu einem Gespräch zwischen Gromyko und Reagan gekommen ist. Selbst der Außenminister der Vereinigten Staaten hat uns bescheinigt, daß wir dabei eine Rolle gespielt haben. Tun wir doch nicht so, als bemühten wir uns nicht! Wir bemühen uns ja nicht nur gegenüber dem Westen, sondern tun das auch in der Sowjetunion, und bei den Gesprächen des Bergedorfer Kreises, an denen ich — und auch Kollegen Ihrer Fraktion — teilgenommen haben, haben wir das auch getan.
Meine Damen und Herren, ich glaube also, daß wir hier heute nicht den Versuch unternehmen sollten — und das, was Sie hier vorgetragen haben, war j a auch nicht so leidenschaftlich —, so zu tun, als könnten wir der Bundesregierung den Vorwurf machen, sie sei es, die in der Abrüstungsfrage versage, die dazu beigetragen habe, daß es mehr Waffen gibt, sondern wir sollten realistisch bleiben.Ich halte auch nichts davon, wenn hier ständig wieder versucht wird, mit alten Formulierungen — etwa, Herr Verheugen, die Einbeziehung der französischen und der britischen Waffen betreffend — so zu tun, als wären das sensationelle neue Erkenntnisse.
Sie müssen bitte erst einmal Frankreich und Großbritannien fragen, ob sie überhaupt dazu bereit sind. Das waren sie bisher nicht, und auch unser Wille, mit ihnen weiterzukommen, hat dazu nichts beitragen können. Sie wissen genau, weshalb: weil beide Länder sagen, solange die sowjetische Aufrüstung in diesem Umfange vorhanden ist, können wir unsere Waffen gar nicht zurückziehen, und wir sind erst dann, wenn beide Großmächte bereit sind, abzurüsten, und wenn substantielle Abrüstung erfolgt, bereit, auch über unsere Waffen, die ja in überhaupt keinem Verhältnis zu den Waffen der Sowjetunion stehen, mit uns reden zu lassen.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir, statt ständig den Versuch zu unternehmen, die Bundesregierung vor einer kritischen Öffentlichkeit verantwortlich machen zu wollen, besser daran täten, ein bißchen zusammenzuarbeiten, damit wir gemeinsam gleiche Zielsetzungen gegenüber den Großmächten verfolgen können.Herr Verheugen, vielleicht darf ich auch noch einen kleinen Rückblick halten. Sie haben heute kritisch davon gesprochen, die Bundesregierung verwechsele die Partnerschaft gegenüber den USA mit Ergebenheit. Ich möchte einmal Ihre eigenen Worte von vor drei Jahren aus einer „fdk" — damals waren Sie noch Generalsekretär der FDP — zitieren. Sie haben damals völlig zu Recht — ich stimme Ihnen darin noch zu — gesagt:Der NATO-Doppelbeschluß entspricht der Zielsetzung der NATO, für Sicherheit durch Verteidigungsbereitschaft und Entspannung zu sorgen. Wir stehen nicht zuletzt deshalb dazu, weil der Gedanke der Verhandlungskopplung im Zusammenhang mit der Nachrüstung von der FDP in die internationale Politik eingeführt worden ist.Sie haben damals auch gesagt:Die Bundesrepublik ist keine windstille Zoneder Weltpolitik, keine Insel der Seligen. SieDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6509Schäfer
steht an der Seite der USA fest im westlichen Bündnis.
Ich bin nicht so sicher, ob Ihre heutige Rede noch genau den gleichen Tenor hat.
Aber Sie werden mir gestatten, darauf hinzuweisen, daß man natürlich auch seine politischen Meinungen ändern kann. Ich will Ihnen das ja gar nicht vorwerfen;
ich will nur feststellen, daß die Schlüsse, die Sie heute gezogen haben, meiner Ansicht nach nicht zu halten sind. Sie wissen genausogut wie wir, daß wir in unseren Bemühungen um Abrüstung nicht nachlassen werden.Herr Vogt, eines meine ich allerdings: Es sollte bitte niemand in diesem Lande den Begriff „Friedensbereitschaft" für sich pachten. Es sollte bitte niemand so tun, als wäre die Verteidigung der Freiheit Ideologie. Lieber Herr Vogt, ich kann nur sagen, wir kommen dann wieder auf diese lächerliche alte Debatte, ob lieber rot als tot oder lieber tot als rot, zurück. Das will hier niemand!
Wir wollen, lieber Herr Vogt, nicht in Hysterie verfallen, wir machen auch keine Manöverbehinderungen, sondern wir wollen den Versuch unternehmen, in zähen Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten und mit der Sowjetunion zu erreichen, daß es Verhandlungen gibt. Aber mit Aktionen, wie Sie sie befürworten, und mit solchen Versuchen werden Sie nach beiden Seiten hin keinen Erfolg haben. Ich garantiere Ihnen, das wird auch nicht zu Abrüstung führen, selbst wenn Sie glauben, das hätte Erfolg.
Herr Abgeordneter Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Verheugen?
Aber gerne! Vizepräsident Westphal: Bitte schön.
Herr Kollege Schäfer, wenn wir das Spiel denn schon betreiben wollen: Würden Sie mir zugeben, daß es etwas ganz anderes ist, vor drei Jahren die Politik der Regierung Schmidt/Genscher zu vertreten, als heute die Politik der Regierung Kohl/Genscher zu vertreten, die sich nämlich im vergangenen Jahr ganz anders verhalten hat, als die Regierung Schmidt/Genscher es gewollt hatte?
Soweit ich die jetzige Regierungspolitik sehe, ist sie eine gradlinige Fortführung der Politik des Bundeskanzlers Helmut Schmidt,
während Sie sich von dieser Politik bei der Abstimmung in diesem Hause doch abgewandt haben. So war es doch wohl, liebe Freunde!
— Entschuldigen Sie bitte, Herr Schmidt hat Ihrer Ablehnung hier nicht seine Stimme gegeben. Das war doch wohl am Ende dieser berühmten Nachrüstungsdebatte ein Faktum, das nachzulesen ist. Herr Ehmke, Sie wissen genausogut wie ich, daß auch Helmut Schmidt, wäre er Kanzler geblieben, trotz seiner unnachahmlichen Fähigkeiten, die ich ihm ja unterstelle, die Weltmächte wahrscheinlich nicht hätte bewegen können; es wäre ihm mit Sicherheit nicht gelungen, die Sowjetunion so schnell zu neuen Verhandlungen zu bewegen, und er hätte genauso handeln müssen wie wir.
Wir überschätzen uns nicht als Großmacht. Aber wir sollten hier auch nicht in eine Art Götterdämmerungsstimmung verfallen, die meiner Ansicht nach eine ganz schlechte Voraussetzung ist, zur Abrüstung zu kommen. Wir halten den Bericht nicht für so schlecht, wie Sie ihn hinstellen. Es ist hier noch mehr zu tun. Aber Sie sollten bitte nicht dauernd den Versuch unternehmen, als sei die Bundesregierung Kohl/Genscher schuld daran, daß die Weltmächte im Augenblick nicht verhandeln. Es sind optimistische Prognosen eher am Platz als Götterdämmerung. Ich glaube, wir sollten auch unserer Bevölkerung mit vernünftigen Reden statt mit einer zusätzlichen Resignation eher Mut machen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Berger.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich stimme dem Kollegen Verheugen ausdrücklich zu, daß der Inhalt dieses Berichtes der Bundesregierung niemanden hier im Saal wirklich zufrieden stellen kann. Das liegt allerdings nicht an der Bundesregierung, sondern das liegt an dem Gegenstand, über den hier berichtet werden muß.Herr Verheugen, wir haben auch schon an anderer Stelle über dieses Thema gesprochen. Die Art, wie Sie diesen Bericht sofort im zweiten Satz, sogar im Nebensatz nach Ihrer Einleitung charakterisiert haben, ist charakteristisch dafür, wie gespenstisch zum Teil diese Debatte hier geführt wird. Sie haben der Bundesregierung gleich in Ihrem zweiten Satz vorgeworfen, dies sei kein Abrüstungsbericht gewesen, sondern es sei ein Aufrüstungsbericht gewesen. Dies ist Rabulistik, schon deswegen Rabulistik, weil es ausdrücklicher Auftrag des Bundestages ist, die Bundesregierung möge jährlich berichten über den
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6510 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
BergerStand der Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie — und das gehört zum Titel dieses Berichts — über die Veränderungen im militärischen Gleichgewicht und das Kräfteverhältnis 1984.Der Bundesregierung ist gar nichts anderes übriggeblieben, als das zu berichten, was Sie beklagt haben. Aber es gehört weiterhin chrakteristisch zu Ihrem Verhalten, Herr Verheugen, daß Sie das, was andere in diesem Zusammenhang tun, um uns zu bedrohen, der Bundesregierung zum Vorwurf machen. Die Bundesregierung ist weiß Gott nicht dafür verantwortlich, daß etwa SS 23, SS 22 in der Tschechoslowakei und in der DDR stationiert werden.Dafür ist die Bundesregierung nicht verantwortlich zu machen. Die Bundesregierung ist auch nicht dafür verantwortlich zu machen, wie Herr Bahr es tut, etwa in seinem Bericht als Ausschußvorsitzender, daß er völlig wertneutral vom Scheitern der Genfer Abrüstungskonferenz spricht, einer Konferenz, die die Sowjetunion einseitig und ohne Grund verlassen hat. Sie ist auch nicht dafür verantwortlich zu machen, Herr Verheugen, daß bei dieser Gelegenheit die Sowjetunion sozusagen in einem Aufwasch auch gleichzeitig noch eine Konferenz verlassen hat, die mit der IMF-Stationierung überhaupt nichts zu tun haben konnte, nämlich die START-Verhandlungen abgebrochen und seit dieser Zeit nicht wieder aufgenommen hat. Solange Sie, Herr Verheugen, das Verhalten Moskaus in dieser Weise verharmlosen, werden Sie dort die Hoffnung nähren, daß Härte und Aufrüstung eher zum Erfolg, und zwar im sowjetischen Sinne, führen könnten als etwa die Bereitschaft, durch Nachgiebigkeit, durch Entspannung, durch Rüstungskontrolle, durch Verträge den Frieden mit weniger Waffen sicher zu machen.Ich möchte Sie bitten, Herr Verheugen, lassen Sie doch diese Rabulistik, lassen Sie uns zurückkehren zu einem Minimum an Gemeinsamkeiten in der Außen- und Sicherheitspolitik, gerade in diesen zentralen Fragen. Sprechen Sie der Regierung, sprechen Sie den Koalitionsparteien nicht den ernsthaften Willen ab, wie Sie es j a immer wieder versuchen, mit weniger Waffen zur gleichen Sicherheit, zur gleichen Stabilität zu kommen, wie wir das seither gewohnt waren. Dies ist so, meine Damen und Herren. Ich will Ihnen das gleich mal an Zahlen benennen. Sie wissen sehr genau, was das Stichwort Montebello umschreibt. Montebello bedeutet, daß gleichzeitig mit dem, was etwa durch die Nachrüstung jetzt neu stationiert werden muß, 1000 Systeme und noch einmal 1400 zusätzlich abgezogen worden sind. Dies bedeutet, daß wir zur Zeit weniger Atomwaffen auf unserem Territorium haben als vor der Nachrüstung. Dies bedeutet, daß diese Nachrüstung sich im Verhältnis 1 :6 vollzieht. Für jede neue Atomwaffe, die jetzt auf dem Territorium der Bundesrepublik bzw. in Europa stationiert wird, zieht das westliche Bündnis sechs Atomwaffen ab. Wer dies als eine Politik der Aufrüstung denunziert, der leistet unserem Land einen schlechten Dienst. Herr Verheugen, bitte kehren Sie im deutschen Interesse zu einem Minimum an Gemeinsamkeit in dieser Politik zurück.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Burgmann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann keine Zwischenfragen zulassen, weil mir insgesamt nur fünf Minuten überlassen worden sind und diese fünf Minuten zu Ende sind.
Ich möchte Sie alle und gerade die Kollegen, mit denen wir zum Teil sehr vertrauensvoll in dem Unterausschuß Abrüstung und Rüstungskontrolle des Verteidigungsausschusses zusammenarbeiten, auffordern: Lassen Sie uns zurückkehren zu etwas mehr Gemeinsamkeit in der Sicherheitspolitik. Nur so dienen wir dem deutschen Interesse.
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Tagesordnungspunkt nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Bericht der Bundesregierung auf Drucksache 10/1650 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß und den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 und die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:16. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Ehmke (Ettlingen) und der Fraktion DIE GRÜNEN Notmaßnahmen gegen das Waldsterben durch Geschwindigkeitsbegrenzungen bei Kraftfahrzeugen— Drucksachen 10/536, 10/1981 —Berichterstatter:Abgeordnete DuveDr. Ehmke SchmidbauerBaum5. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNENAbgasverminderung bei Lastkraftwagen alsNotmaßnahme gegen das Waldsterben— Drucksache 10/2059 —Überweisungsvorschlag: Innenausschuß
FinanzausschußAusschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr Haushaltsausschuß6. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Bekämpfung des Waldsterbens und gesund-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6511
Vizepräsident Westphalheitlicher Gefährdungen durch Geschwindigkeitsbegrenzungen— Drucksache 10/2065 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß FinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für VerkehrHaushaltsausschußInterfraktionell sind eine gemeinsame Beratung und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wird das Wort zur Berichterstattung oder zur Begründung gewünscht? — Herr Abgeordneter Dr. Ehmke hat das Wort als einer der Berichterstatter gewünscht. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir bitte aus aktuellem Anlaß als Berichterstatter eine mündliche Ergänzung zum vorliegenden Bericht des Innenausschusses zu geben.
Während der Beratungen des Innenausschusses legte meine Fraktion in einem Beschlußvorschlag unter anderem eine damals neue Berechnung des Umweltbundesamtes vor, die zu dem auf Seite 9 im Bericht nachzulesenden Ergebnis der Reduzierung von Emissionen und Kraftstoffverbrauch kam. Gerade die Bekanntgabe dieser Berechnungen führte während der Beratungen im Innenausschuß zu verschiedenen Reaktionen, die im vorliegenden Bericht festgehalten sind. So führte die Fraktion der CDU/CSU aus — ich zitiere —: Hinsichtlich der neuen Berechnungen des Umweltbundesamtes, die in der von der Fraktion DIE GRÜNEN vorgelegten Begründung zum Antrag erwähnt seien, sei anzumerken, daß es sich insoweit allenfalls um Zahlenwerte aus einem internen Zwischenbericht handeln könne, der eine Vielzahl von Fehlern enthalte und von daher unter keinen Umständen als offizielles neues Material zugrunde gelegt werden könne.
Meine Damen und Herren, inzwischen liegt, wie Sie alle aus den jüngsten Presseberichten entnommen haben, ein offizieller Bericht des Umweltbundesamtes vor, datiert vom September 1984 und versehen mit der Überschrift „Der Einfluß der Fahrgeschwindigkeiten auf den Schadstoffausstoß von Kraftfahrzeugen". Dieser Bericht konnte noch keinen Eingang in die Beratungen des Innenausschusses finden. Ich fühle mich verpflichtet, Sie darauf hinzuweisen, daß dieser Bericht die von uns genannten alten Emissionsminderungszahlen des Umweltbundesamtes im wesentlichen bestätigt.
Die Bundesbehörde kommt unter der Annahme eines 70%igen Befolgungsgrades bei der Maßnahmenkombination 100 bzw. 80 Kilometer pro Stunde zu einer jährlichen Abnahme der Stickoxidemission um 182 000 Tonnen, der Kohlenwasserstoffemission um 12 000 Tonnen, der Kohlenmonoxidemission um 420 000 Tonnen sowie des Kraftstoffverbrauchs um 1 830 000 Tonnen. Zusätzlich wird auf Grund der Verminderung der umgeschlagenen Kraftstoffmengen eine Abnahme der Kohlenwasserstoffemission um 11 000 Tonnen pro Jahr berechnet, so daß sich bei einem Tempolimit die gesamte Kohlenwasserstoffbilanz um insgesamt sogar 23 000 Tonnen jährlich verbessern würde.
Das Umweltbundesamt hat wiederholt darauf hingewiesen — ich erinnere an die Anhörung im Innenausschuß —, daß zwar eine Anzahl von Einflußfaktoren derzeit nicht berücksichtigt werden könne — es nannte während der Anhörung insgesamt sechs Faktoren —, daß aber feststehe, daß sie alle tendenziell zu einem stärkeren Rückgang der Stickoxidemissionen bei einer Reduzierung der Fahrgeschwindigkeiten führen. Wenn das Umweltbundesamt auch jetzt wieder mitgeteilt hat, daß gewisse repräsentative Daten noch fehlen, so auch mit der Bemerkung, daß seine Berechnungen eine untere Abschätzung darstellen, daß folglich weitere und genauere Daten noch zu höheren Emissionsverminderungswerten führen müssen.
Ich darf als Berichterstatter und für meine Fraktion daraus schließen, daß die alte wie auch die aktuelle Datenbasis völlig ausreichen, um die sofortige Einführung des beantragten Tempolimits zu beschließen.
Gibt es andere Berichterstatter, die das Wort als Berichterstatter wünschen? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. Als erster hat das Wort der Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Schadstoffbelastungen der Luft bedrohen unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Die von CDU und CSU auf den Weg gebrachten Entscheidungen können sich in Anbetracht der kurzen Zeitspanne sicher sehen lassen; vieles greift bereits heute.
— Herr Schäfer, dies ist die Einleitung, die dann immer Ihren Beifall herausfordert. — Einigen geht das alles noch nicht schnell genug. Angesichts der Schadensmeldungen häufen sich Rufe nach Sofortmaßnahmen, und da scheint sich, meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Tempolimit bei Kraftfahrzeugen direkt anzubieten.
Im diesbezüglichen Antrag der GRÜNEN wird eine Abnahme um 350 000 bis 400 000 Tonnen Stickoxiden pro Jahr offeriert. Wer wäre angesichts solcher Mengen nicht versucht, einem sofortigen Tempolimit zuzustimmen, so etwa nach dem Motto: Runter vom Gas, der Wald lebt auf!
Eine solche vereinfachende Formel, die nur die Emotionen anheizt, darf aber nicht Grundlage dieser Diskussion und unserer Entscheidung sein.
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6512 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
SchmidbauerWir werden alles prüfen müssen, was geeignet sein könnte, die Schadstoffbelastung der Luft zu vermindern. Dazu gehören auch Vorschläge wie generelles bzw. geteiltes Tempolimit auf Autobahnen und Außer-Ort-Straßen. Diese Vorschläge sind legitim und geboten.
Es gilt, alle Möglichkeiten zu untersuchen und auf ihre Effektivität zu überprüfen.
Die vom Innenausschuß am 6. Februar 1984 durchgeführte Anhörung ergab ein äußerst unklares Bild. Die Größenordnungen der Emissionsminderung für Stickoxide hatten eine Bandbreite von 70 000 bis 400 000 Tonnen pro Jahr. Zwischenzeitlich liegt ein neues Zwischengutachten des Umweltbundesamtes vom September 1984 vor. Dieser Bericht kommt zu einer neuen Bewertung auf der Grundlage des derzeitigen Wissensstandes.
Allerdings, Herr Kollege Ehmke, hat sich gegenüber der Situation vom Februar 1984 im wesentlichen nichts Neues ergeben.
— Sie sollten jetzt nicht auf Emotionen machen, sondern einmal zuhören und hier nachher Ihre eigenen Vorstellungen rational darlegen.
— Ich kann mir nur vorstellen, daß Sie andere Argumente nicht hören wollen. Denn sonst könnten Sie hier ja jetzt nicht laufend diese „qualifizierten" Zwischenrufe machen und mich in meinen Ausführungen unterbrechen.Was ist der Streitwert, um was geht es? Unter Zugrundelegung der ungesicherten Daten des Umweltbundesamtes und unter der Voraussetzung, daß heute pro Jahr insgesamt 3,1 Millionen Tonnen Stickoxide und 1,6 Millionen Tonnen Kohlenwasserstoffe emittiert würden, würde ein Tempolimit eine Reduzierung der Stickoxidemission um 5% und der Kohlenwasserstoffemission um 0,6 % bringen. Der Streitwert — auch unter dem Aspekt Sofortmaßnahmen — sieht also so aus, daß, bezogen auf die Gesamtemission, an Stickoxiden 5% und auf Kohlenwasserstoffe bezogen 0,6 % reduziert werden könnten, und dies, so das Umweltbundesamt — Sie hatten es eben zitiert, Herr Kollege Ehmke —, unter der Voraussetzung, daß das Tempolimit von 70% der Verkehrsteilnehmer eingehalten wird.Vergleicht man die Ergebnisse der verschiedenen Studien, so ergeben sich erhebliche Differenzen — und dies, obwohl zum Teil gleiches Datenmaterial zugrunde lag. Vielfach handelt es sich — um es provozierend zu sagen — um reine Glaubensbekenntnisse ohne harte Fakten.
Auf einen Punkt gebracht heißt dies: Viele Antworten, die gegeben wurden, sind so nicht haltbar, und eine Menge Fragen sind offengeblieben. Keine der bisherigen Untersuchungen basiert auf einer großen, bestandsrepräsentativen Anzahl von Kraftfahrzeugen im Hinblick auf Baujahr, Kilometerzahl, Wartungszustand, Hubraum und Gewichtsklasse, typische Fabrikate, Gangabstufung und Getriebeart. Dies erklärt auch ein wenig die große Streubreite der Ergebnisse der durchgeführten Messungen.Neben diesen Einflußparametern sind aber auch andere, wie beispielsweise das reale Verkehrsverhalten im Verkehrsfluß, reale Beschleunigungsund Verzögerungsvorgänge, bei weitem nicht genügend untersucht. Seitens der Bundesanstalt für das Straßenwesen wird dies auch zugestanden und ausgeführt, daß die Einflüsse des tatsächlichen Verkehrs, namentlich die Fahrmodi, in den bisherigen Untersuchungen nicht nachvollzogen werden konnten. In allen Untersuchungen fehlt — und dies war auch nicht Aufgabe des Umweltbundesamtes —eine sich aus den Emissionen ergebende Abschätzung der Umweltbelastung. Die Wirkungskette der emittierten Schadstoffe ist weitgehend unbekannt. Anders ausgedrückt:
Wir wissen nicht, wieviel Prozent der emittierten Schadstoffe aus dem Kraftfahrzeugbereich unmittelbar auf den Zustand des Waldes wirken.Ich stelle diese Fragen nicht, um eine Entscheidung zu verzögern; denn selbstverständlich werden wir nicht warten können, bis all diese Fakten auf dem Tisch liegen. Nur, unser Weg ist nicht, eine ungesicherte Einzelmaßnahme auf Grund von Emotionen zu forcieren und darüber zu entscheiden, sondern der, ein umfassendes Gesamtkonzept zu realisieren.
Zur Klärung aller aufgeworfenen Fragen bietet sich eine zusätzliche Untersuchung an. In einem breit angelegten Großversuch können und müssen Antworten gefunden werden. Wir begrüßen deshalb die gestrige Entscheidung des Bundeskabinetts zur Durchführung eines solchen Großversuchs. Damit wird dann eine Basis geschaffen, die politische Entscheidungen ermöglicht. Dieser Großversuch muß selbstverständlich in einer realistischen Zeitspanne ablaufen.Neben den beschlossenen Maßnahmen, Großfeuerungsanlagen-Verordnung, Technische Anleitung Luft und Einführung schadstoffarmer Fahrzeuge, sind für die Übergangsphase, d. h. bis die Einführung schadstoffarmer Fahrzeuge ihre volle Wirkung entfaltet, zusätzliche Maßnahmen geboten und notwendig.Dazu gehören u. a. erstens verstärkte Abgaskontrollen bei allen Altfahrzeugen in mindestens jährlichem Rhythmus, zweitens rasche Prüfung aller Möglichkeiten des nachträglichen Einbaus von Abgasreinigungssystemen in Altfahrzeuge.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6513
SchmidbauerBei einer Reduzierung des Summenwerts der Emissionen der Stickoxide und Kohlenwasserstoffe um ca. 50 % muß auch die Einbeziehung dieser Fahrzeuge in eine steuerliche Regelung erwogen werden.
Hier muß verstärkt mit dem Bundesforschungsminister, mit der Automobilindustrie an der Entwicklung solcher Systeme gearbeitet werden. Hier ist offensichtlich durch die Diskussion des Tempolimits ein produktiver Druck entstanden.
Anders verhält es sich mit dem Argument, wir sollten uns doch den Geschwindigkeitsregelungen unserer europäischen Nachbarn anschließen.
Abgesehen davon, daß wohl niemand will, daß wir uns der Regelung in Italien, wo eine Höchstgeschwindigkeit von 140 km/h gefahren werden darf, anschließen — bei entsprechender Kontrolle —, darf die Gefahr nicht übersehen werden , daß die Einführung eines Tempolimits die europaweite Einführung des schadstoffarmen Autos verzögert, und zwar nach dem Motto: Der Wald ist gerettet, und die Einführung schadstoffarmer Autos ist nicht mehr vordringlich.
Ich fasse zusammen: Wir arbeiten mit großen Anstrengungen für eine bessere Umwelt.
Unsere natürlichen Lebensgrundlagen sind bedroht. Die derzeit vorgeschlagene Therapie des Tempolimits überzeugt nicht, meine Damen und Herren.
Die Fehlerquote sämtlicher Studien ist zu hoch, und die Grundlage für eine solche Entscheidung ist zu schmal.
— Ich habe eine begrenzte Redezeit.Wir sind fest entschlossen, durch einen Großversuch die Wirksamkeit eines Tempolimits zu prüfen und gegebenenfalls in unseren Maßnahmenkatalog einzubeziehen.
Unabhängig davon werden wir unsere Gesamtkonzeption zur Minderung der Schadstoffe in der Luft konsequent weiterführen.Unsere Absicht ist nicht ein Hinausschieben, sondern eine fundierte, effektive und rationale Umweltpolitik.
Nur dadurch werden wir den anstehenden Problemen gerecht werden, nur dadurch können wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen erhalten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es dem Bundeskanzler nicht gelingt, die Positionen Dollinger und Kiechle zusammenzubringen, dann muß eine solche Rede hier, verehrter Herr Kollege, das versuchen. Aber leider ist der Versuch total mißlungen. Mir tun Sie leid, weil doch deutlich wurde, welch große Sympathie Sie für das Tempolimit haben — nur, Sie dürften es nicht sagen. Mir tut es ausdrücklich leid.
Ich bin an literarischen Fragen ja interessiert, wie Sie wissen, und freue mich über einen neuen Mitarbeiter der Unionsfraktion: den Stückeschreiber namens Ziethen aus dem Buschhaus.
Wir werden heute von der Regierung hoffentlich hören, wie sein neues Stück inszeniert wird. Es heißt: Tempolimit für die Regierungsentscheidung in diesem Fall.
Im Umweltschutz ist es hohe Zeit für dieses Hohe Haus, mit den hohlen Worten, Herr Schmidbauer, aufzuhören.
Die SPD-Bundestagsfraktion hält die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen und Landstraßen für unumgänglich. Wir haben das diese Woche beschlossen: 100 auf Autobahnen, 80 auf Landstraßen, 30 in Wohnstraßen. Warum? Der Wald stirbt wesentlich schneller als voraussehbar; die Regierung handelt noch langsamer, als zu befürchten war.
Beim Einführungsdatum — Herr Zimmermann, hören Sie zu! — 1. Januar 1986 für das abgasarme Auto gilt das vielfach gebrochene Wort von Ihnen, Herr Minister. Für das Datum 1. Januar 1989 gilt das Weichmacherwort von Bangemann vom Brüsseler Erlaubnisvorbehalt für den nationalen Alleingang.
— Ich weiß nicht, ob wir einander die Zeit rauben sollten. Ich habe Sie Ihnen ja auch nicht geraubt, Herr Schmidbauer. Wenn Sie irgendwie dafür sorgen, daß ich die Minute wiederkriege — —
6514 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Das geht nicht. Aber Sie müssen trotzdem entscheiden, ob Sie die Zwischenfrage zulassen.
Ich möchte es nicht, und ich glaube, der Kollege wird es nicht als Unfairneß auslegen.
Wer auf europäischer Ebene Erfolge haben will, muß auf nationaler Ebene glaubwürdig sein.
Was heißt das? Mit dem Tempolimit können wir bis 1990 ca. 1,6 Millionen t Stickoxid vermeiden — mit den halbherzigen Regierungsmaßnahmen bis 1990 allenfalls 400 000 t. Wenn bis 1995 ca. 5 Millionen Kraftfahrzeuge umgerüstet wären, hätten wir erst die Menge erreicht, die ich eben genannt habe. Diese Rechnung werden uns die Europäer aufmachen, wenn wir sie auf die abgasfreie Technik bringen wollen. Auch aus diesen Gründen müssen wir für einheitliche Geschwindigkeitsverhältnisse in Europa sorgen.
Tempolimit ist also auch ein politischer Schritt zur unerläßlichen technischen Umrüstung, zur ökologischen Modernisierung unseres gesamten Fahrzeugparks. Da dieser Schritt zu langsam getan wird,
muß der technischen Umrüstung die Verhaltensänderung vorausgehen.
Tempolimit ist kein Thema für Selbstgerechtigkeit, allemal nicht für uns Politiker. Hören Sie gut zu, meine Herren Minister! Auch wir Kollegen, wir Politiker, die sich häufig genug in letzter Minute — mich eingeschlossen — zum Flugplatz rasen lassen, sollten uns mit diesem Gedanken befassen. Wenn Tempolimit die rascheste Maßnahme gegen die Stickoxid-Verseuchung unserer Luft ist, dann müssen wir selbst damit anfangen.
Ein Wort also an uns selbst!
Wir alle gehören zur Nomenclatura der dekorierten Bedeutung und der chauffierten Elite —
und der chauffierten Eile. Ich muß hier sagen: Ich
habe mich eben versprochen. Ich hatte „Eile" sagen
wollen, und „Elite" ist mir gekommen. Sie können das deuten, wie Sie mögen.
Wenn wir uns nicht ändern — Sie wollen sich wohl nicht ändern; das ist Ihre Sorge und Ihre Sache —, wer will es dann von den Bürgern verlangen? Darum ein Wort an die Berufsfahrer und an unsere Bundestagsfahrer, die für die Sicherheit and Pünktlichkeit ihrer Insassen oft hohe Verantwortung tragen, indem sie uns tagtäglich Hunderte von Kilometern über Landstraßen und Autobahnen fahren.
— Ich sehe Ihre Empörung. — Wir selbst treiben sie häufig an, damit wir den Flug nicht verpassen
und rechtzeitig zur Veranstaltung erscheinen. Wir müssen gemeinsam lernen, uns als Politiker mit ihnen zusammen umzustellen. Es wird ein schwieriger Prozeß sein. Wir wollen doch ein bißchen ehrlich sein. Auch wenn Sie jetzt lachen, Sie wissen genau, was ich meine, und Sie wissen genau, daß dies auch ein Problem des Bundestages ist.
Es ist für uns Politiker unvermeidlich. Unsere Verantwortung für den Wald ist größer als unsere Verantwortung für unsere allzu vollgestopften Terminkalender.
Tempolimit hat keine Chance, wenn sich Politiker nicht daran halten.
Ein Wort an die Leitungen der Automobilfirmen in Stuttgart, Wolfsburg, München und anderswo: Nehmen Sie, meine Herren von der Automobilindustrie, das Argument der hohen Geschwindigkeit aus Ihren Werbekampagnen heraus! Nutzen Sie Ihre millionenfach erprobte Überzeugungskunst für diesen gemeinsamen Feldzug! Setzen Sie sich an die Spitze und zeigen Sie solchen Angstmachern wie Herrn Bangemann, der heute morgen wieder die Arbeitslosen für seine Argumente mißbraucht hat, zeigen Sie dem Kabinett-Azubi,
wie verantwortungsbewußte Produkt- und langfristige Arbeitsplatzsicherung wirklich aussieht!
Sagen Sie in Ihren Anzeigen, warum Porsche seinen größten Absatz in den USA des Tempolimits hat! Zeigen Sie diesem Wirtschaftsminister, was Verantwortung heißt!
Meine Damen und Herren, wir verhandeln hier heute über den Bericht des Innenausschusses, dessen Mehrheit unsere SPD-Vorlage zum Tempolimit und den Antrag der GRÜNEN abgelehnt hat. Nun signalisiert die Union — Sie haben es eben ge-
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6515
Duve
macht, Herr Schmidbauer —, daß sie gelernt habe, daß sie die Ablehnung des Tempolimits so nicht aufrechterhalte, sondern neu beraten wolle. Es wird sich rasch herausstellen, ob dies verfahrenstechnische Trickserei ist, oder ob sich hier ein ernsthafter Lernprozeß ankündigt. Die Nachrichten aus dem Buschhaus-Lager überstürzen sich, ein sichtbares Zeichen für Diskussion und Dissens. Kiechle, der Vielgescholtene, hat unsere Position und die Position der GRÜNEN übernommen. Kohl will oder kann nicht einmal die wissenschaftlichen Befunde zur Kenntnis nehmen, und des Verkehrsministers Einlassungen zum Thema werden immer doller.
Er nennt einfach eine falsche Zahl, wenn er von 4 %
Minderung des Stickoxids spricht, wo UBA und die
anderen Sachverständigen von über 11 % sprechen.
Auch in diesem Feld, meine Damen und Herren — dies nur am Rande —, hat sich der Kanzler übrigens zum einfach drauflosredenden Kabinettsmitglied degradiert wie alle anderen Kabinettsmitglieder, die mit ihren eigenen Tagesrichtlinien unbehelligt bis zum jeweiligen Abend regieren.
Wir werden im Innenausschuß sehr bald sehen, wie ernst es mit der Meinungsäußerung Ihrer eigenen Leute ist. Ich bin sicher, daß wir in der nächsten Woche noch manchen Unionsspitzenpolitiker bekommen, der mit ungeheurer Geschwindigkeit auf den Zug der Geschwindigkeitsbegrenzung aufspringen wird.
Im Innenausschuß brauchen wir nicht lange neu zu diskutieren. Die Anhörung hat eindeutige Untersuchungsergebnisse erbracht. Das UBA hat die Untersuchungsergebnisse in dieser Woche noch einmal bestätigt. Die CDU-Fraktion sollte sie endlich lesen.
Aber wenn es zu Ihrem Lese- und Lernprozeß beiträgt, sind wir bereit, im Innenausschuß noch einmal darüber zu diskutieren. Nur, hoffen Sie nicht auf eine Chance, dieser Sache ausweichen zu können; die wird es nicht geben.
Wenn jetzt die angekündigten Versuche in Bayern — ich meine den Kabinettsbeschluß von gestern — zeigen sollen, daß Sie Großversuche machen wollen, dann mögen das erste Schritte zum Handeln sein; aber wir werden nicht dulden, daß sie als Ersatz für Entscheidungen im Bundestag mißbraucht werden.
Diese Entscheidung muß rasch kommen. Wir werden im Plenum dafür sorgen.
Zum Schluß ein Wort, verehrte Kollegen von den GRÜNEN. Sie waren schon vor einem Jahr überzeugt, daß das Tempolimit starke Entlastung brächte. Ich persönlich war auch davon überzeugt. Aber dem Wald hilft es mehr, wenn wir mit dem gesammelten Sachverstand der Wissenschaftler im Rükken vor die Bürger treten und auch große Parteien, auch die Union, dazu bringen, diese Sache mitzutragen.
— Es war jedenfalls ein „fleißiger" Zwischenruf, Herr Kollege.
Ich freue mich über den großen Erfolg der mühsamen Überzeugungsarbeit in meiner Partei; das ist nicht leicht gewesen.
Ich freue mich auch über die Union, während sich die GRÜNEN in den letzten Tagen darüber zu grämen scheinen, daß jetzt alle vom Tempolimit sprechen. Ihr müßt euch nicht grämen; Sie müssen sich darüber freuen.
Ich muß jetzt zum Schluß kommen; die rote Lampe leuchtet auf. Gott sei Dank leuchten nicht die grüne und die rote zur gleichen Zeit; sonst würden Sie wieder Zeter und Mordio schreien. — Herr Minister Zimmermann, verbinden Sie sich mit Herrn Minister Kiechle — Sie beide sind in der gleichen Partei —, nehmen Sie den Kollegen Dollinger in die Mitte — auch er ist in der gleichen Partei —, und versuchen Sie, auf ihn einzureden. So, wie sich Herr Kiechle mit uns verbündet hat, verbünden Sie sich nunmehr mit ihm! Wir werden weiterhin fordern, die Richtgeschwindigkeiten in Pflichtgeschwindigkeiten für den Wald umzuwandeln. „Für den Wald" heißt: schneller handeln, langsamer fahren.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Hoffie.
Nach den kabarettreifen Sprüchen und Phrasen, Herr Kollege Duve,
zurück hoffentlich zum Ernst der Sache.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine politische Entscheidung über ein Ja oder Nein, über ein Wie und Warum neuer Tempobegrenzungen ist unausweichlich. Seit Monaten liegen Zahlen und Daten darüber vor, in welchem Umfang Geschwin-
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Hoffiedigkeitsbegrenzungen einen Beitrag zu weniger Abgas und zu mehr Umweltschutz leisten können.Zehn deutsche und weitere ausländische Expertenstudien liefern Untersuchungsergebnisse, und jeder greift die heraus, die ihm am besten in den Kram passen. Da sprechen die GRÜNEN in ihrem Antrag, der Grundlage der heutigen Debatte ist, von 350 000 bis 400 000 t Verminderung der Stickoxide, da begründet die SPD ihren neuesten Antrag mit 150 000 bis 200 000 t, und da berufen sich beide Fraktionen gleichzeitig auf die neueste Studie des Umweltbundesamtes, die bei gleichem Tempolimit auf 120 000 bis 182 000 t, also auf höchstens die Hälfte der Antragsbehauptungen der GRÜNEN, kommt. Diese Schwankungsbreiten sind schon abenteuerlich, ebenso wie die Emotionen, die damit geschürt werden und die zunehmend an die Stelle einer sachgerechten Entscheidung und von Vernunft gesetzt werden sollen.
Nicht umsonst spricht selbst die SPD von „grünen Tempo-Showeffekten", Herr Schäfer. Nach dem Prinzip „Verantwortung — nein danke" scheint das politisch Mode zu werden. Aber daran wird sich die FDP auch künftig nicht beteiligen. Tempobegrenzungen sind für uns kein Tabuthema. Wir haben jedoch von Anfang an, zuletzt noch einmal auf unserem Bundesparteitag, gefordert, daß im Zweifel nur wissenschaftlich gesicherte Fakten Grundlage von Entscheidungen sein können.Weil nichts wirklich klar ist, sich die Daten der Hochrechnungen und Laborversuche aber verdichten, brauchen wir weitere Untersuchungen wie die des TÜV Rheinland im Auftrag des Bundesumweltamtes. Zu Recht veranlassen Bundesregierung, Bayern und Hessen Großversuche. Dabei geht es nicht, wie Herr Hauff gemeint hat, um die Untersuchung von Untersuchungen, sondern um die noch fehlende Feststellung der Schadstoffwerte unter realistischen Alltagsbedingungen: bei Hitze und Kälte, bei Beschleunigung und Stau, in verschiedenen Gängen, bergauf und bergab und auch auf Landstraßen. Aber dafür braucht man — das hätte ich gern Herrn Hauff gesagt, wenn er anwesend wäre — keine vier und, Herr Zimmermann, auch keine zwei Jahre. Da drängt Wolfgang Mischnick zu Recht.Aber man hätte sich Großversuche natürlich auch ganz sparen können; denn wir leben j a im zweiten Autojahrhundert und mitten in der Computerrevolution. Es ist schon schlimm, daß es nicht einen einzigen Simulator gibt, wie ihn die Flugzeugindustrie schon seit Jahrzehnten kennt, der das gesamte deutsche Straßennetz, die durchschnittlichen Verkehrsbedingungen über das ganze Jahr, die Leistungen aller Fahrzeugtypen und die entsprechenden Abgaswerte bei unterschiedlichem Tempo darstellen und dann auch bewerten kann.
Aber wie auch immer die endgültigen Ergebnisse und die weiteren Versuche aussehen sollten: Die FDP lehnt eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung ab; denn das wäre der falsche Weg, jedenfalls im Hinblick auf unser gemeinsames Hauptziel, nämlich die Umstellung aller Fahrzeuge auf abgasarmen Betrieb. Wenn man schon ein Tempolimit als Notmaßnahme gegen das Waldsterben braucht, dann doch wohl nur als Übergangslösung und in der Form, die dem Wald am meisten nützt. Das ist bei einem allgemeinen Tempolimit eben gerade nicht der Fall. Man muß vielmehr über Geschwindigkeitsbegrenzungen — dann wäre der Zeitpunkt 1. Juli 1985 richtig — einen zusätzlichen Anreiz für den Umstieg auf abgasarme Pkw — sei es durch Neukauf oder durch Umrüstung — schaffen.Das kann optimal geschehen, indem das abgasarme Auto von einer Beschränkung ausgenommen wird. Das habe ich bereits in der Umweltdebatte in diesem Hause im Februar vorgetragen. Ich begrüße es sehr, daß der Landwirtschaftsminister, Herr Kiechle, als erster Unionspolitiker diese Vorstellung übernommen hat und daß ihm inzwischen weitere gefolgt sind. Das ist so zwingend, daß man für diese Fahrzeuge die Geschwindigkeitsfreigabe geradezu erfinden müßte, gäbe sie es noch nicht.Das haben ja auch die Umweltexperten der SPD mit ihrem Antrag im Innenausschuß gesehen, indem sie eine Geschwindigkeitsdifferenzierung von 100 km/h und 130 km/h gefordert haben: Das ist zwar weniger konsequent, aber die ideologische Verbeugung ist natürlich unausweichlich. Ich kann das verstehen.
Alle reden von freiwilligen Beiträgen, von Opfern für mehr Umweltschutz. 58 % der Bevölkerung befürworten angeblich Tempolimits. Öffentliche Verkehrsmittel wollen übrigens alle. Aber die Bundesanstalt für das Straßenwesen stellt fest: 70 % aller Fahrleistungen auf Autobahnen werden mit über 100 km/h erbracht, obwohl jeder überall ganz freiwillig und ungehindert umweltfreundlich langsam fahren könnte. Ebenso könnte jeder Schiene und Bus benutzen. Nicht umsonst machen deshalb j a auch alle Studien Fragezeichen hinter die sogenannte Befolgungsrate von Tempolimits. Man unterstellt bestenfalls 50 bis 70 %; in den Niederlanden sind es ganze 40 % bei Tempobegrenzung.Die logische Schlußfolgerung ist:
Wenn man die Mehrzahl der Autofahrer zu mehr Umweltschutz veranlassen will, kann es überhaupt keinen stärkeren Anreiz geben, als diejenigen Fahrzeuge, die die Umwelt nicht belasten, von möglichen Tempobegrenzungen freizustellen und Einschränkungen von jenen zu verlangen — das entspricht dem Verursacherprinzip —, die Umweltschäden verursachen. Das, Herr Kollege Zimmermann, hat nichts mit Störung des sozialen Friedens zu tun. Das schafft, Herr Minister Dollinger, auch kein Zweiklassenrecht; denn Differenzierungen sind uns ja geläufig.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6517
HoffieIch erinnere an Tempo 100 für Millionen von Autos mit Spikes-Reifen, an das Tempolimit für Autos mit runderneuerten und Winterreifen, an Tempo 80 und 100, je nach technischer Ausstattung. Von der neuen Klasse der Inhaber des Führerscheins auf Probe oder des Stufenführerscheins will ich gar nicht reden. Für all diese hat sich das jetzt behauptete Problem der Kontrollierbarkeit offenbar überhaupt nie gestellt. Aber beim Auto, wo die Kennzeichnung — wie ich schon aufgezeigt hatte — denkbar einfach ist, soll alles an diesem vermeintlichen Hindernis scheitern.Zusammenfassend stelle ich fest: Wenn es der Opposition wirklich nur um die Maßnahme gegen das Waldsterben, um Umweltschutz und nicht um Ideologie, nicht um Schaueffekte geht,
dann muß die Frage beantwortet werden, wieso es sinnvoll ist, elektro- und flüssiggasbetriebene Autos nicht weiterfahren zu lassen wie bisher, obwohl sie die Umwelt gar nicht belasten, und wieso Autos mit 90 %iger Abgasentgiftung mit herkömmlichen gleichgesetzt werden müssen. Ist es nicht logischer, auf Gängelei und Restriktionen dort zu verzichten, wo es aus Umweltgründen nichts mehr zu regeln gibt? Müssen wir nicht ohne Hysterie das Waldsterben als globales, als komplexes Problem begreifen und erforschen,
wo doch auf der nördlichen Erdhälfte, in Nordamerika, auch in Sibirien die Wälder sterben, zehn Jahre, nachdem man in den USA den Katalysator als Pflicht bei strengem Tempolimit eingeführt hat, und in autoleeren Großräumen?Meine Damen und Herren, niemand in der FDP verharmlost die erkannten Folgen verkehrsbedingter Umweltschäden. Aber genausowenig verdrängen wir die Risiken für Tausende von Arbeitsplätzen;
denn die Möglichkeit — begreifen Sie von den GRÜNEN das doch einmal —, auch hohe Geschwindigkeiten fahren zu können, ist das Qualitätsmerkmal unseres Exporterfolgs für Autos made in Germany. Das wissen die Käufer gerade auch in Ländern mit Geschwindigkeitsbegrenzung.
Sicherheits- und Qualitätsreserven garantieren Wettbewerbserfolg gegen Billigprodukte.Sie müssen uns einräumen: Regierung heißt Verantwortung, Verantwortung auch für Millionen von Arbeitern und Angestellten in der Automobilindustrie. Die FDP, meine Damen und Herren, wird das bei ihrer Entscheidung sehr ernsthaft beachten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Duve, bei Ihrer schnellen Lippe, die Sie da riskiert haben,
haben Sie nur vergessen, zu sagen, daß die SPD-Fraktion sich erst in den allerletzten Tagen nach langwährender Uneinigkeit zu diesem Weg entschlossen hat. Aber sie teilt damit das Schicksal der SPD-Regierung von 1969 bis 1982. Die hat sich nämlich 13 Jahre lang zu gar nichts entschlossen,
obwohl es die Vorbilder neuer Technik in den USA und in Japan gab und obwohl es auch damals schon eine ganze Reihe von Ländern mit Tempobeschränkungen gab.
— Einen kurzen historischen Rückblick, Herr Duve, müssen Sie auch einem Minister gestatten.
Das sind alles Dinge, die uns an der Wahrhaftigkeit Ihrer Entscheidungen zweifeln lassen.
Meine Damen und Herren, mit unseren Kabinettsbeschlüssen zum umweltfreundlichen Auto haben wir als erstes großes Durchgangsland der Welt eine Pilotfunktion wahrgenommen. Wir sind kein Kontinent und keine Insel; wir sind das bedeutendste Durchgangsland in Europa und haben als erste die Maßstäbe für das umweltfreundliche Auto gesetzt.
Wir haben trotz der jetzt vorgegebenen Daten einen schweren Weg in der Europäischen Gemeinschaft vor uns. Die ökologische Notwendigkeit und die technische Machbarkeit der Abgasreinigung bis zu 90% ist erwiesen. Wir haben die Weichen gestellt. Die Automobilindustrie hat jetzt die Chance, nicht nur mit den besten, sondern auch mit den saubersten Autos ihre Spitzenstellung zu festigen.
Wir sind uns sicher einig, daß eine Geschwindigkeitsbegrenzung im Vergleich mit der Einführung umweltfreundlicher Autos allenfalls eine relativ geringfügige Verbesserung bringen kann.
— Junge, was ich schon alles vor dir kapiert habe, das möchte man hier ja gar nicht sagen.
Was die Experten gesagt haben, das ist j a auch nichts Neues. Ich hoffe, Sie haben auch die anderen Untersuchungen gelesen. Experten sagen ja oft Verschiedenes, aber eine solche Mißübereinstimmung, wie sie bei den zahlreichen vorliegenden Gutachten von Bern bis Berlin festzustellen ist, sprengt wirklich jeden Rahmen. Die Unterschiede in den Mes-
6518 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Bundesminister Dr. Zimmermann
sungen betragen bis zu 400%. Jeder hat sich bestimmte Basisdaten herausgesucht und hat sie so bewertet und so hochgerechnet, wie er wollte.
Einen wirklich repräsentativen Test hat es bisher nicht gegeben.
Auch das Umweltbundesamt, das schließlich dienst- und fachaufsichtlich dem Bundesminister des Innern untersteht, bringt einen Gesamtwert bei 50 %iger Akzeptanz — und mit mehr können Sie doch überhaupt nicht rechnen — von maximal 5 % heraus. Das heißt, da sind eine ganze Reihe von Fragen, die einfach nicht geklärt werden.
Es gibt andere Gutachten, die darlegen, daß nennenswerte Reduktionen der Stickoxidemissionen nicht realisiert werden können und daß bei Kohlenwasserstoffen und Kohlenmonoxid sogar ein Anstieg nicht auszuschließen ist.
Meine Damen und Herren, angesichts dieser Sachlage — eine ganze Reihe von Rednern hat dazu schon einiges Richtiges gesagt — stelle ich für die Bundesregierung fest: Das ist heute nicht entscheidungsreif.
Die Sache ist nicht entscheidungsreif, wie auch Ministerpräsident Strauß vor wenigen Tagen in einer sehr ausgewogenen Rede vor dem Bayerischen Landtag festgestellt hat.
Eine solche Entscheidung, die erhebliche wirtschafts- und verkehrspolitische Auswirkungen hat, die 30 Millionen Bürger unmittelbar und 61 Millionen mittelbar betrifft, kann nur auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse getroffen werden.
Die Bedeutung des Problems erfordert daher überlegtes Handeln und nicht blinden Aktionismus.
Daher sage ich ja zu weiteren Untersuchungen dieses komplexen Problems.
Mein Kollege Dollinger und ich sind vom Bundeskabinett beauftragt worden, einen Großtest zur Ermittlung abgesicherter Daten über die Abhängigkeit des Schadstoffausstoßes der Fahrzeuge von der Fahrgeschwindigkeit durchführen zu lassen. Die sachgemäßen Kriterien für diesen Großtest sind mit den beteiligten Institutionen festzulegen. Schon die Festlegung dieser Daten ist ein komplexes Thema. Aus meiner Sicht sollte ein solcher Großtest insbesondere in folgende Richtungen gehen.
Erstens. Ermittlung eines realistischen Verkehrsverhaltens mit und ohne Geschwindigkeitsbegrenzung auf ausgewählten Autobahnabschnitten und Bundesstraßen und im Stop-and-go-Verkehr, bei Schlangenbildung, das für eine statistiksichere Aussage geeignet ist.
Zweitens. Die Prüfung aller möglicher bestandsrepräsentativer Fahrzeuge auf Rollenprüfständen, z. B. beim TÜV, unter Zugrundelegung des zunächst ermittelten realistischen Fahrverhaltens.
Erst mit einem solchen Großtest wird sich beispielsweise feststellen lassen, wie Kollege Schmidbauer richtig gesagt hat, ob im Hinblick auf Fahrzeuge, die durch eine Geschwindigkeitsbegrenzung gezwungen werden, im nächstniedrigeren Gang oder im ungünstigen Drehzahlbereich zu fahren, das Tempolimit aus der Sicht des Umweltschutzes nicht sogar kontraproduktiv sein kann.
Gleichzeitig — das sei an die Adresse der Automobilindustrie gerichtet — muß alles getan werden, um die nachhaltige Verbesserung der Umwelt durch beschleunigte Umstellung auf das umweltfreundliche Auto zu erreichen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Nein.
Das Tempolimit könnte gegenwärtig bei der Umstellung auf das schadstoffarme Auto und in bezug auf unsere europäischen Vorstellungen auch kontraproduktiv sein.
Das bedeutet nicht, daß eine Geschwindigkeitsbegrenzung für jede Zukunft ausgeschlossen ist.
Zur raschen Umstellung auf abgasarme Pkw nach ausreichendem Angebot oder ab dem Zeitpunkt der obligatorischen Einführung könnte sie den Umstellungsdruck auf die Altfahrzeuge sogar verstärken.
— Auch das ist möglich. Aber zuerst muß der Großversuch durchgeführt werden.
Meine Damen und Herren, für die Bundesregierung kann ich Ihnen versichern, daß die uns bewegenden Umweltprobleme mit Entschlossenheit und zugleich mit Augenmaß angegangen werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Ehmke .
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6519
Vizepräsident Westphal— Ich wäre dankbar für Aufmerksamkeit für den Abgeordneten Dr. Ehmke . Er hat wegen seiner Absicht, ein begrenztes Demonstrationsobjekt mitzubringen, vorher beim Präsidenten gefragt. Ich habe ihm die Erlaubnis für ein begrenztes Demonstrationsobjekt erteilt, zu nichts anderem.Herr Dr. Ehmke !
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Waldfreunde! Der Wald stirbt immer schneller, und, wie wir soeben wieder hörten, die Bundesregierung kann sich nicht zu Notmaßnahmen aufraffen.
Meine Damen und Herren, ich war letzte Woche auf der Tagung des Deutschen Forst-Vereins und habe dort Erschreckendes über den Zustand unserer Wälder gehört. Sie haben die Zahlen wohl alle mitbekommen. Allein in Baden-Württemberg sind jetzt zwei Drittel der Waldfläche geschädigt. Dabei hat nach Tanne und Fichte jetzt auch die Rotbuche — hier sind kranke Zweige der Rotbuche — einen katastrophalen Schadenszuwachs gezeigt.
Herr Dr. Ehmke, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein, ich kann leider keine Zwischenfrage zulassen.
Doch was tut die Bundesregierung angesichts dieser Notsituation? Sie tut das, was sich unter diesem Kanzler offensichtlich zur höchsten politischen Tugend entwickelt hat, nämlich Aussitzen und den Wald sterben lassen. Glauben Sie denn, der Wald wird von selbst wieder gesund?
Meine Damen und Herren, wenn der Wald so langsam stürbe, wie sich bei Ihnen die Erkenntnisse über notwendige Maßnahmen durchsetzen, dann bräuchten wir in diesem Jahrtausend keine Sorgen mehr um den Wald zu haben.
Doch der Wald tut uns diesen Gefallen nicht. Die Natur folgt nicht dem politischen Willen — und auch nicht der Rechtsprechung. Sie folgt ganz allein ökologischen Gesetzmäßigkeiten. Wenn wir zu der Erkenntnis kommen, daß wir den Wald um unserer Zukunft willen erhalten müssen — und ich möchte den in diesem Haus sehen, der offen behaupten wollte, wir könnten ohne weiteres auf den Wald verzichten —,
dann müssen wir notfalls, in Notfällen wie jetzt, eben die Politik und gegebenenfalls das Recht ändern, um den Wald zu retten.
Eines dieser ökologischen Gesetze lautet — damit bin ich bei meinem Antrag zur Geschwindigkeitsbegrenzung —: Alles bleibt irgendwo. Die 1,4 Millionen Tonnen Stickoxide pro Jahr, die Kohlenwasserstoffe, Schwermetalle, Ruß und andere Schadstoffe, die der Kraftverkehr bei uns erzeugt, lösen sich nicht in Luft auf, sondern sie kommen in irgendeiner Form wieder zu uns herunter und tragen u. a. zum Waldsterben, zur Gesundheitsgefährdung und zur Bodenbelastung bei. Die Autoabgase können durch eine Geschwindigkeitsbegrenzung deutlich vermindert werden, viel deutlicher als mit dem verhungerten Katalysatorkonzept der Bundesregierung, dessen Verwirklichung angesichts unserer Erfahrungen mit Ihrer Umfallpolitik ohnehin in den Sternen steht.
Meine Damen und Herren, die Zahlen liegen längst auf dem Tisch. Ich habe vorhin schon ausgeführt, welche Wirkungen ein Tempolimit nach den Berechnungen des Umweltbundesamtes haben würde. Doch das Innenministerium und die CDU/ CSU-Fraktion desavouieren nach wie vor ihre eigene Fachbehörde, die trotz ihrer erschwerten Arbeitsbedingungen national und international einen sehr guten Ruf genießt. Sie klammern sich statt dessen verzweifelt an die Zahlen des Verbandes der Deutschen Automobilindustrie, den man wohl besser als Verband der deutschen Automobilideologen bezeichnen sollte. Dieser ist nicht nur mit seiner Katalysatorkostenberechnung vor einigen Wochen voll auf die Nase gefallen, sondern er hat auch den Innenausschuß in billigster Roßtäuschermanier an der Nase herumzuführen versucht; aber nur Sie sind darauf hereingefallen.
Es wurden nicht nur Zahlen des TÜV Rheinland falsch zitiert, sondern es wurden auch angeblich höhere Schadstoffausstöße bei Tempolimit herausgerechnet, indem der VDA Abgasmessungen vom Prüfstand mit Abgasmessungen bei echten Fahrten in unzulässiger Weise durcheinanderwarf.
Man kann einfach nicht Äpfel mit Birnen vergleichen, und ich werde nicht müde, meine Damen und Herren, auch als Wissenschaftler, der sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, dieses unseriöse, unwissenschaftliche, ja primitive Verhalten des VDA so lange anzuprangern, bis der VDA diese Zahlen öffentlich korrigiert hat.
Herr Dr. Ehmke, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Vizepräsident Westphal: Gilt das generell? Dr. Ehmke (GRÜNE): Jawohl.
Ich werde auch nicht müde, allen Forstleuten, Umweltfreunden und betroffenen Bürgern mitzuteilen, daß Ihre Untätigkeit in Sachen Tempolimit auf Lug und Trug aufgebaut ist. Dazu kommen dann noch diese dümmlichen Sprüche z. B. von Bundesautobahnminister Dollinger, nur 1,5 % der
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Dr. Ehmke
Straßen in der Bundesrepublik seien ohne Geschwindigkeitsbegrenzung.
Warum verschweigen Sie denn, Herr Dollinger, daß allein auf den Autobahnen ca. 30 % der Verkehrsemissionen stattfinden, obwohl Autobahnen nur 5 aller Straßen umfassen? Warum verschweigen Sie die positiven Bewertungen von anerkannten Verkehrssachverständigen, z. B. Professor Steierwald und anderen, wonach etwa der Verkehrsfluß verbessert und die Zahl der Verkehrstoten deutlich sinken würde?
Ich sage es Ihnen: Sie wollen nur das angeblich Negative sehen, und man könnte meinen, Sie hätten, wie auch andere Minister, Ihren Amtseid nicht auf das Gemeinwohl, sondern auf das Wohl der Autoindustrie abgelegt.
Herr Dr. Ehmke, ich muß darauf aufmerksam machen, daß dies keine parlamentarische Ausdrucksweise ist, wie Sie sie eben gewählt haben. Das gilt auch für den voher verwendeten Ausdruck „auf Lug und Trug aufgebaut".
In einem Punkt allerdings, meine Damen und Herren, bin ich mit dem Kollegen Dollinger einig: Eine gespaltene Geschwindigkeitsbegrenzung für Autos ohne und Autos mit Katalysator lehnen wir ab.Lassen Sie mich das mit einem Satz begründen. Verschiedene Höchstgeschwindigkeiten führen, wie heute schon, zu einer Ungleichmäßigkeit des Verkehrsflusses, also zu einem hohen Anteil von Beschleunigungs- und Abbremsvorgängen, wodurch ein erheblicher Anteil der Emissionen verursacht wird. Außerdem würden die Fahrer, die nur 100 km/h fahren dürfen, durch die vorbeipreschenden Katalysatorautos fortlaufend dazu animiert, Tempo 100 zu überschreiten.Im übrigen hätte die gleiche Höchstgeschwindigkeit für alle Fahrzeuge weiterhin den allgemeinen Nutzen, daß der Kraftstoffverbrauch, daß die Zahl der Unfälle und die Lärmbelästigung niedriger liegen als bei gespaltenem Tempolimit. Deswegen lehnen wir die Zweiklassengesellschaft auf den Straßen ab.
Meine Damen und Herren, es gibt noch eine andere Gruppe von Schadstoffverursachern auf unseren Straßen, die bisher von der Bundesregierung aus allen Betrachtungen ausgeklammert wurde, obwohl sie zu ganz erheblichem Umfang zur Belastung des Waldes beiträgt; ich meine die Lastkraftwagen.
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage wird uns immerhin die erstaunliche Erkenntnis vermittelt, daß von den im Jahre 1982 geschätzten anderthalb Millionen Tonnen Stickoxidemissionen des Straßenverkehrs allein 460 000 Tonnen — das entspricht immerhin 31 % — auf den schweren Nutzfahrzeugverkehr entfallen, obwohl der Lkw-Anteil selbst auf stark belasteten Autobahnen
meist nur zwischen 15 und 20 % des Gesamtverkehrs beträgt.
— Da sieht man wieder einmal, wie wichtig Ihnen das Thema ist. — Meine Damen und Herren, wir haben daher einen Antrag eingebracht, um dessen sofortige Überweisung an den federführenden Innenausschuß und andere Ausschüsse wir Sie bitten möchten. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, unverzüglich Maßnahmen zur wirksamen Abgasverminderung bei Lkws durchzuführen, wie das in den USA schon seit einigen Jahren der Fall ist.
Nun komme ich zu einem wesentlichen Punkt, meine Damen und Herren. Zu unserer Überraschung haben sich CDU und SPD ohne Rücksprache mit uns als Antragsteller darauf geeinigt, den Antrag auf Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung an den Innenausschuß zurückzuüberweisen, um noch ein Obergutachten einzuholen
und die neuesten Zahlen des Umweltbundesamtes einzuarbeiten. Meine Damen und Herren, lieber Herr Duve, diese Begründung halte ich für unverantwortlich und auch fadenscheinig.Wie ich vorhin schon sagte, sind die Zahlen des Umweltbundesamtes dem Innenausschuß in der Größenordnung längst bekannt. Bei einer neuen Beratung sind keine wesentlich neuen Erkenntnisse zu erwarten.
Mein Antrag liegt seit einem Jahr auf dem Tisch. Wertvolle Zeit ist bereits verstrichen, und der Wald stirbt immer weiter.Für die CDU/CSU als Autolobby-Partei ist der Wille verständlich, daß sie ein für sie so unbequemes Thema wie das Tempolimit auf die lange Bank schieben will.
Warum macht aber die SPD dieses Spiel auf Kosten des Waldes mit? Wollen Sie unseren Antrag so lange hinauszögern — —
— Sie haben doch der Rücküberweisung zugestimmt. — Jedenfalls kann man den Verdacht haben, daß bei Ihnen eher eine Taktik dahintersteht als der Wunsch, dem Wald zu dienen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6521
Dr. Ehmke
Wenn Sie meinen, man müßte angesichts der durch unseren Antrag in Gang gekommenen öffentlichen Diskussion über das Tempolimit jetzt noch ein bißchen abwarten, weil sich dann vielleicht eine parlamentarische Mehrheit ergeben könnte, Herr Duve, dann hat man Sie offensichtlich von der CDU hier geleimt, als Sie der Rücküberweisung an den Innenausschuß zugestimmt haben. Sie hätten sich besser vorher informieren sollen,
was nämlich das Kabinett gestern beschlossen hat. Jetzt hören Sie mal gut zu! Der Kabinettsbeschluß: Erstens, es soll ein Großtest der verschiedenen Automodelle auf ihr Abgasverhalten durchgeführt werden. Zweitens — das ist der wesentliche Punkt —, als Zeitplan für diesen Großtest wird genannt: Entwicklung der Testbedingungen bis Ende 1984, Testabschluß und Entscheidung über Tempolimit etwa im Sommer 1985. Und da machen Sie mit bei dieser großen Koalition der Umweltbremser! Uns geht es nicht um Showeffekte oder parteitaktische Rechthaberei.
Wir haben genug Fakten auf dem Tisch, um jetzt abzustimmen. Wenn wir immer bessere Fakten und Daten abwarteten, dann würden wir in zehn Jahren noch keine Entscheidung fällen können.
Herr Dr. Ehmke, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Meine Fraktion wird deshalb der Rücküberweisung an den Innenausschuß nicht zustimmen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
— Ich bitte um Aufmerksamkeit!
Meine Damen und Herren, die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben zu Tagesordnungspunkt 16 die Rücküberweisung zu federführender Beratung — —
— Ich bitte um Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren. Die Musik wird hier oben gemacht und nicht woanders.
— Meine Damen und Herren, wenn Sie nicht den Showeffekten, die Sie ablehnen, wie ich spüre, Ihre Aufmerksamkeit widmeten, sondern der Geschäftsführung des Präsidenten, dann brauchten wir jetzt nicht eine solche Zwischensituation zu erleben. — Ich fahre in der Tagesordnung fort.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben zu Tagesordnungspunkt 16 die Zurückverweisung zur federführenden Beratung an den Innenausschuß sowie zur Mitberatung an den Finanzausschuß, den Haushaltsausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für Verkehr beantragt. Wird zu diesem Antrag das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wir kommen deshalb zur Abstimmung.
Wer dem Antrag auf Zurückverweisung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von Gegenstimmen und einer Enthaltung ist der Antrag auf Rücküberweisung in die genannten Ausschüsse angenommen.
Interfraktionell wird für die Zusatzpunkte 5 und 6 Ausschußüberweisung vorgeschlagen. Die Überweisungsvorschläge ersehen Sie aus der Liste über die Zusatzpunkte. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Preisangaben
— Drucksache 10/1526 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 10/2024 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Wissmann
Das Wort zur Berichterstattung wird gewünscht. Herr Wissmann, Sie haben das Wort.
Ich möchte dem Kollegen Wissmann etwas mehr Aufmerksamkeit verschaffen und wäre dankbar, wenn die Kollegen, die etwas zu besprechen haben und an diesem Tagesordnungspunkt nicht teilnehmen wollen, nun den Raum verließen und die Gespräche draußen führten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir kommen von einem sehr kontroversen Thema zu einem Thema, in dem sich die verschiedenen Seiten im Ausschuß des Deutschen
6522 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Wissmann
Bundestages einig über eine gemeinsame Regelung waren, nämlich beim Gesetz zur Regelung von Preisangaben. Da der Ältestenrat beschlossen hat, daß eine kurze mündliche Berichterstattung erfolgen soll, möchte ich dieser Pflicht in wenigen Minuten nachkommen.
Ich weise darauf hin, daß dieses Gesetz aus zwei Gründen von erheblicher Bedeutung für Verbraucher, für Bürger, aber auch für viele Einzelhändler ist:
Erstens. Unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten dient die Preisauszeichnung der Preiswahrheit und Preisklarheit und sichert dem Verbraucher die Möglichkeit des Preisvergleichs. Dies ist in der heutigen Zeit eines differenzierten und sehr umfassenden Warenangebots von besonderer Bedeutung. Die Preisauszeichnung ermöglicht die schnelle und zuverlässige Information über das preisgünstigste Angebot und hat damit eine wichtige Verbraucherschutzfunktion.
Zweitens. Dieses Gesetz ist auch ein Beitrag zur Rechtssicherheit; denn wir müssen es heute beschließen, weil das Bundesverfassungsgericht am 8. November 1983 die Verordnung über Preisangaben für verfassungswidrig erklärt hat und § 2 des Preisgesetzes aus dem April 1948 keine ausreichende Ermächtigung für eine Verordnungsregelung darstellt.
Es ist erfreulich, daß es in weniger als einem Jahr möglich war, die notwendigen Arbeiten zu dem jetzt hier vorliegenden und hoffentlich gemeinsam verabschiedeten Gesetz sicherzustellen und damit wieder völlige Rechtssicherheit für alle Beteiligten herzustellen.
Ich möchte aber an dieser Stelle auch ein Wort des Dankes an den deutschen Einzelhandel und seinen Verband sagen; denn obwohl keine gesetzliche Regelung vorlag, ist in der Zwischenzeit kein wesentlicher Fall bekanntgeworden, in dem die Preisauszeichnung zum Nachteil der Verbraucher aufgehoben worden ist, obwohl eine entsprechende Rechtsgrundlage gefehlt hat.
Die anstehende Regelung war aber auch notwendig, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil die Bundesrepublik Deutschland durch eine EG-Richtlinie aus dem Jahre 1979 verpflichtet ist, Vorschriften über die Preisangaben von Lebensmitteln zu erlassen. Der Entwurf einer weiteren Richtlinie über die Angabe von Preisen anderer Erzeugnisse als Lebensmitteln liegt seit Anfang 1984 den Mitgliedsstaaten vor.
Die Parteien des Deutschen Bundestages haben im Wirtschaftsausschuß gegenüber dem uns vorliegenden Entwurf eine wesentliche Änderung vorgeschlagen und in den Gesetzestext aufgenommen, über die ich Sie noch kurz unterrichten will. Nach Auffassung des Ausschusses ist es wichtig, daß die Einhaltung der neu zu erlassenden Preisangabenverordnung wirkungsvoll überwacht werden kann. Deswegen haben wir eine Bestimmung aufgenommen, die die Voraussetzungen für die Betretens- und Besichtigungsrechte der Behörden regelt, andererseits aber auch die Grenzen einer solchen Kontrolle, die nur während der üblichen Geschäftszeiten erfolgen darf, die ein Auskunftsverweigerungsrecht beinhaltet, sicherstellt.
Ich möchte zum Schluß darauf hinweisen, daß es mit den verbesserten Kontrollmöglichkeiten für die Einhaltung der Preisangabeverpflichtung gelingen kann, den teilweise beobachteten Mißständen bei der Preisauszeichnung in einigen Großhandelsunternehmen in Zukunft besser zu begegnen. Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs müssen nämlich Großhändler, die mehr als 10 % ihres Umsatzes für den Privatbedarf verkaufen, also nicht an Wiederverkäufer, nicht mehr zu Nettopreisen, also ohne Mehrwertsteuer, sondern zu Bruttopreisen auszeichnen. Dies dient dem Verbraucherschutz, dient dem einzelnen dazu, daß er besser erkennen kann, was der wirkliche Preis für ihn ist.
Ich möchte darauf hinweisen, daß der Ausschuß für Wirtschaft die Bundesregierung aufgefordert hat, in einem Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes im Deutschen Bundestag über die Einhaltung der Preisauszeichnung bei Großhändlern, die auch an Letztverbraucher liefern, zu berichten. Es wird sich dann zeigen, ob die Bundesregierung notfalls weitere Schritte unternehmen muß, um den Verbraucherschutz zu sichern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, daß das kein Gesetz ist, das zu den großen politisch diskutierten Themen gehört. Aber ich meine, im Interesse einer Vielzahl von Einzelhändlern und von Millionen von Verbrauchern haben wir über Parteien hinweg hier ein wichtiges Gesetz wirtschaftspolitischer Natur zu verabschieden.
Ich bitte Sie um gemeinsame Zustimmung.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Das Wort zur Aussprache wird nicht gewünscht.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die Artikel 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften einstimmig angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Ich stelle fest: das Gesetz ist einstimmig angenommen worden.Meine Damen und Herren, es ist noch über eine Beschlußempfehlung des Ausschusses abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt in der Drucksache 10/2024 unter Ziffer 2 die Annahme einer Entschließung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Keine Stimmen dagegen. Enthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses einstimmig angenommen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6523
Vizepräsident WestphalIch rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungSondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen „Umweltprobleme der Nordsee"— Drucksachen 9/692, 10/358 Nr. 6, 10/2054 —Berichterstatter:Abgeordnete Jansen, Dr. Ehmke Dr. OlderogBaumHierzu liegt Ihnen ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/2074 vor.Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu 10 Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte zunächst um Verständnis dafür, daß ich hier im Rahmen einer begrenzten Demonstration nicht mit einem Eimer Nordseewasser erschienen bin. Denn ich habe die Befürchtungen, daß sich der Kollege Burgmann von den GRÜNEN bei Demonstrationen zu leicht die Hosen naß macht, so daß ich darauf verzichtet habe. Darüber hinaus war von vornherein klar, daß das Fernsehen hier offensichtlich nur für begrenzte Aktionen von bestimmten Parteien seine Apparate aufgebaut hat.
Meine Damen und Herren, die Diskussion über Umweltfragen im politischen Bereich leidet gegenwärtig daran, daß häufig nach dem gleichen Schema verfahren wird: Der Erkenntnis eines bestimmten, meistens dreizehn Jahre alten Problems folgt die Aufbauschung zur eigenen Profilierung mit der anschließenden Erörterung radikaler, pseudowissenschaftlich belegter Forderungen und nachfolgender Kritik über die nicht sofort erfolgte Lösung. Darauf wendet sich das mit Hilfe der Medien emotionalisierte Publikum teilweise mit Enttäuschung von der — etablierten — Politik ab.Die Gefahr dieses Ablaufs droht offensichtlich auch bei der Diskussion über den Gewässerzustand der Nordsee. Schlagzeilen wie „Es ist fünf vor zwölf", „Die Nordsee stirbt", „Die Nordsee ist so gefährdet wie der Wald" — angeblich vom Deutschen Hydrographischen Institut geäußert — bestätigen dies.Der Innenausschuß hat mit der vorliegenden — einstimmigen — Beschlußempfehlung meines Erachtens versucht, das Problem zu versachlichen. Ich darf Sie namens der CDU/CSU-Fraktion bitten, der Beschlußempfehlung zu folgen. Die Menschen an der Nordseeküste, für die ich hier auch spreche, erwarten dies.Die Nordsee ist vieles auf einmal: Lebensraum für Pflanzen, Fische und Vögel, Verkehrsweg mit immer noch mehr als 130 000 Schiffsbewegungen im Jahr, Gefahr für die Küstenbewohner unter den Deichen, Energie- und Nahrungsquelle, Arbeitsplatz für viele hundert Fischer, Mülldeponie und trotzdem Naherholungs-, Freizeit- und Urlaubsgebiet für viele Millionen Bürger. Allein 20 Millionen Übernachtungen wurden im letzten Jahr an der deutschen Küste gezählt. Sie widerlegen die Behauptung, daß die Nordsee kaputt ist und keinen Erholungswert mehr darstellt.Das jüngst vorgelegte Gutachten des DHI läßt sich so zusammenfassen: Großräumige Schäden sind nicht zu erkennen, überwiegend ist die See sauber, aber in vielen Teilgebieten sind konkrete Gefährdungen vorhanden oder — mit entsprechenden Folgen — zu befürchten.Aus dem Bundesland Hamburg — ich bedaure, daß ich den Kollegen Duve nicht sehe —, das ja in vielen Bereichen des Umweltschutzes negativ von sich reden gemacht hat und reden macht, wurden bis vor kurzem noch jährlich mehr als 300000 Tonnen Klärschlamm in der Deutschen Bucht verklappt. Wenn man dort heute auf dem Meeresgrund nachsieht, sieht man nichts an Leben, sondern nur eine trübe Brühe.
— Ja, die Elbe kommt hinzu. — Zu Beginn der „Verklappungsära" ist man noch davon ausgegangen, daß der eingebrachte Müll durch Wasseraustausch in den Atlantik getrieben wird, was offensichtlich nicht der Fall ist. Schadstoffe halten sich dort etwa bis zu drei Jahren.Verstärkt wird der schlechte Zustand der Küstengewässer in der Deutschen Bucht durch die Elbe, zu 90 % aus DDR und CSSR vorbelastet — das ist eine Senatsaussage —, und auch dadurch, daß aus anderen Bereichen, Schiffsverkehr, unbefugte Einleitungen, Schadstoffeintrag aus der Luft und Verschmutzung über die übrigen Flüsse, weitere Belastungen hervorgerufen werden. Ich bin erstaunt darüber, daß nicht seitens der GRÜNEN im hessischen Landtag ein Antrag zu Börners Blokkade eines baldigen Abschlusses einer Vereinbarung mit der DDR zur Werra-Entsalzung eingebracht worden ist. Aber auch hier ist außer vielen Worten nichts zu erwarten.Die Bundesregierung hat in jüngster Zeit erste konkrete Maßnahmen ergriffen. Sie betreffen die Radarüberwachung der Deutschen Bucht, die Luftüberwachung des Seeverkehrs, die Erweiterung der Lotsenannahmepflicht, zusätzliche Forschungsaufträge, die Beschaffung weiterer Schiffseinheiten zur Bekämpfung der Ölverschmutzung auf hoher See, Aufstockung des 100-Millionen-DM-Programms und die Entwicklung von Maßnahmen ge-Austermanngen das Ablassen von Bilgewasser sowie die Forschung im Bereich des Wattenmeers. Auch die Bundesmarine wird demnächst eine neue Aufgabe übernehmen. Bei der Überwachung der Küste mit zwei Flugzeugen vom Typ Do-28 sollen Umweltverschmutzer aus der Luft bei Tag und Nacht, auch bei schlechtem Wetter, erkannt werden.Die Bundesregierung hat einen zweiten Schritt unternommen. Sie hat für Oktober 1984 die Nordseeanrainer zur Nordsee-Schutzkonferenz eingeladen; denn so wie in anderen Bereichen des Umweltschutzes ist es auch hier: Umweltschutz kennt keine Grenzen, und nur ein gemeinsames Vorgehen kann Ergebnisse bringen.Für diese Umweltschutzkonferenz liegen inzwischen mit dem Entwurf der Vereinbarung der Staatssekretäre, die sich zuletzt am 21. September 1984 in Wilhelmshaven getroffen haben, erste Ergebnisse vor. Diese Vorkonferenz war meines Erachtens ein wichtiger Schritt, der zu Hoffnung auf konkrete Ergebnisse Ende Oktober/Anfang November in Bremen berechtigt.Aus einem Katalog von ca. 15 Punkten wurden 12 übereinstimmend beschlossen. Ich darf einige wiedergeben.Das Vorsorgeprinzip wurde im wesentlichen anerkannt. Die Schadstoffzufuhr über Flüsse, Küstengewässer und Luft soll drastisch gesenkt werden. Ein System von Ölauffanganlagen um die Nordsee wird vorgeschlagen. Die Gewässerüberwachung soll Öl-Sündern kein Schlupfloch mehr lassen. Die Ölverschmutzung der See von Plattformen aus soll mit technischen Verbesserungen gestoppt werden. Umweltschutzbeauftragte für Plattformen werden vorgesehen. Die Überwachung der Wasserqualität soll koordiniert und flächendeckend erfolgen. Und die IMO, die Schiffahrtsorganisation der UNO, soll gebeten werden, die Entwicklung eines Meldepflichtsystems für Schiffe mit gefährlicher Ladung zu prüfen. Aus den jüngsten Tagen wissen wir, wie wichtig gerade diese Forderung ist.Offengeblieben sind im wesentlichen drei Bereiche, in denen wir den Einsatz des Innenministers erwarten. Das sind drei Bereiche, die über den Erfolg dieser Konferenz entscheiden werden.Der erste ist, daß wir eine Erklärung der Nordsee zum Sondergebiet im Sinne des MARPOL-Abkommens dringend brauchen. Meines Erachtens wäre es eine Blamage, wenn das, was für den Bereich der Ostsee gemeinsam mit Ostblockländern gelungen ist und dazu geführt hat, daß die Wasserqualität der Ostsee inzwischen besser werden konnte, unter den westlichen Ländern, den Nordseeanrainern, nicht erreicht werden könnte.Wir wollen zweitens in Übereinstimmung mit dem Vorsorgeprinzip der gesicherten Beseitigung von Abfällen auf dem Land den Vorrang einräumen und das Dumping auf See zeitlich begrenzen.Wir wollen drittens die mengenmäßig bedeutsamen Belastungen für die Nordsee, die über die Flüsse und Küstengewässer kommen, dadurch eingrenzen, daß strikte Grenzwerte für Substanzen derSchwarzen und Grauen Liste gesetzt werden, eine spürbare Verschärfung gemäß den besten verfügbaren technischen Hilfsmitteln erfolgt.Schließlich muß sichergestellt sein — und diese Forderung, meine ich, sollten wir ganz besonders im Auge behalten —, daß in einer angemessenen Zeit nach den Vereinbarungen, die Anfang November in Bremen erzielt werden, ein Bericht an den Bundestag gegeben wird, der ausweist, was im einzelnen in die Praxis umgesetzt worden ist.Wir erwarten darüber hinaus von unserer Regierung endlich eine Kompetenzregelung für die überwachenden Bundesbehörden und Landesbehörden, Verkehrsministerium, Verteidigungsministerium, Innenministerium, Finanzministerium, die auch seit vielen Jahren auf sich warten läßt — seit mindestens 13 Jahren. Wir erwarten, daß eine Koordinierung der Meßmethoden aller Beteiligten erfolgt, und ich würde es begrüßen, wenn man sich verständigte, auch den Bund in der Länderarbeitsgemeinschaft zur Reinhaltung der Elbe mitwirken zu lassen. Ich schlage weiter vor, daß geplante Investitionen wie die Anschaffung neuer, nordseegängiger Boote für den Bundesgrenzschutz von 1986 auf 1985 vorgezogen wird.Man guckt sich nun an: Was ist politische Alternative? Was hat insbesondere die Alternative der GRÜNEN hierzu zu sagen? Diesem Thema haben Sie sich bisher nur am Rande gewidmet. Die GRÜNEN haben etwa 343 Anträge, Initiativen, Anfragen im Bundestag eingebracht. Von diesen 343 sind 312 nur Fragen — Große, Kleine, oder ganz kleine. Die Wasserqualität der Nordsee hat kein einziger Antrag bisher betroffen. — So viel zur Umweltpartei.Und nun zur sogenannten Aktionskonferenz der Umweltverbände. Sie war bei einer Anhörung des Innenministers am 30. August beteiligt. Auch dort kam nichts Sinnvolles heraus.Ich freue mich, daß die SPD-Opposition, die Dreizehnschläfer, inzwischen diese Empfehlung des Innenausschusses mitmacht und daß der Kollege Jansen begriffen hat, daß die Dünnsäure-Verklappung nicht das Problem ist, wie j a die wieder steigenden Krabbenvorkommen in der Nordsee zeigen.Unsere Aufgabe als Politiker wird es bleiben, dem Bürger deutlich zu machen, daß auch hier einfache, billige und schnelle Patentlösungen von einem Tag auf den anderen nicht möglich sind, daß aber Parlament und Regierung dieses Problem erkannt haben und entschlossen sind, zu handeln. Die Nordsee-Schutzkonferenz muß Erfolg bringen. Der Innenminister hat die eindeutige Mehrheit des Hauses hinter sich.Ein Letztes zum Entschließungsantrag der GRÜNEN: Er ist utopisch, weil er vieles auf einmal sofort ohne Rücksicht auf Arbeitsplätze fordert, was gar nicht zu realisieren ist, was schließlich dazu führt, daß das, was heute womöglich aus Deutschland noch verklappt wird, künftig von anderen Ländern verklappt wird. Die übrigen Forderungen, die Sie stellen, sind deshalb utopisch, weil Sie davon ausgehen können, daß unsere Kompetenz für die Hohe See national nicht gegeben ist. Wir schlagen
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Austermanndeshalb vor, diesen späten Antrag der GRÜNEN abzulehnen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Jansen.
Herr Präsident! Ich wende mich zuerst an die Fraktion der GRÜNEN, weil das, was wir eben bei der Debatte über Tempolimit erfahren haben, meines Erachtens nicht ihren tatsächlichen Zielen entsprechen kann. Ich hatte den eindeutigen Eindruck: Sie wollten hier heute eine Ablehnung haben, um sich zu profilieren.
Dabei ist das Gutachten des Bundesumweltamtes die Chance, andere im Innenausschuß rüberzuholen. Das Ziel muß sein, daß wir das erreichen, und nicht, daß Sie heute auf den Tag genau das durchzusetzen gedenken, was hier nicht mehrheitsfähig ist.
Ich schließe daran an: Es scheint Ihr Arbeitsstil zu sein. Das was der Bundesvorstand der GRÜNEN im Saarland vermittelt hat — ich weiß nicht, ob Sie das Basisdemokratie nennen —, nämlich sich nicht an Regierungsarbeit zu beteiligen, fällt in die gleiche Richtung: nicht mit anzufassen, keine harte Arbeit zu leisten, sondern nur Resolutionen zu machen. Und das geht nicht.
Herr Dr. Ehmke, Sie haben im Innenausschuß dabeigesessen, als wir in der Nordseefrage mit klaren Forderungen Einstimmigkeit hergestellt haben. Sie kommen heute herbei, um sich erneut mit einem Sonderantrag abzusetzen, der fast alles wiederholt, was im Antrag des Innenausschusses ist. Seien Sie vorsichtig im Interesse der Bürger, die Sie vertreten wollen!
Die merken sonst, daß Sie Politik spielen und nicht ernsthaft praktizieren.
Nach Buschhaus und dem Katalysator-Auto ist die Nordsee nun der dritte Versuch der Bundesregierung, den Widerspruch zwischen schönen Umweltschutzworten und effektivem Handeln für den Umweltschutz zu überspringen. Bei den beiden vorangegangenen Versuchen hat die Koalition trotz gewaltiger Muskelspiele beim Anlauf die Meßlatte politischer Glaubwürdigkeit glatt gerissen. Ein dritter Flop — in Sachen Nordsee — würde die Bundesregierung, Herr Staatssekretär, aus dem engeren Kreis der ernsthaften Bewerber um eine wirksame Umweltpolitik endgültig hinauswerfen. Das könnte die politischen Konkurrenten freuen, wäre aber für die Nordsee im wahrsten Sinn des Wortes tödlich.
Deshalb fordern wir Sozialdemokraten die Bundesregierung auf: Wenn Sie schon die erforderliche Höhe der Meßlatte in Sachen Umweltschutz nicht überwinden — und die Bürgerinnen und Bürger erwarten von Ihnen noch lange keine Rekorde —, dann überwinden Sie jetzt zumindest die erste Barriere für eine bessere Umwelt. Und das ist die Überwindung des Aufschubprinzips. Kommen Sie um Gottes willen nicht von der Nordseeschutzkonferenz in Bremen mit einem Text zurück, in dem steht: „Im Bewußtsein, daß ...; in Erkenntnis ...; in der Besorgnis um ...; in der Überzeugung ...; in der Erwartung ..."; und dann kommen die Adjektive und die Handlungsanweisungen dazu: „muß geprüft werden", „soll möglichst angestrebt werden", „sollen internationale Kontakte fortgesetzt werden". Wenn das der Inhalt Ihres Entwurfs eines Textes für die Vorkonferenz ist, dann lassen Sie das Ganze sein. Für ein solches Ergebnis der Konferenz wären die Reisekosten zu schade.
Wo die Belastung der Luft für jeden spürbar ist, wo das Waldsterben sichtbar voranschreitet und das Wasser unverkennbar trüber wird, da helfen eben keine Beschwörungsformeln mehr, und da helfen auch nicht Gesetze und Verordnungen weiter, in denen die Ausnahmegenehmigung zur Regel wird und deren Wirksamkeit bis ans Ende des Jahrtausends geschoben wird.
Die Nordsee, Herr Austermann, ist akut gefährdet. Ich glaube, das kann man sagen. Die Ursachen sind bekannt, und die Verursacher haben Adressen. Spätestens nach der Nordseekonferenz Ende Oktober in Bremen muß endlich gehandelt werden. Wenn ich „endlich" sage, dann beziehe ich die Kritik nicht nur auf die jetzige, CDU-geführte Bundesregierung, sondern auch auf die Versäumnisse ihrer Vorgängerin, einer SPD-geführten Bundesregierung, und auf alle Landesregierungen, unabhängig von ihrer Couleur. Wir alle haben viel zu lange geredet, statt Handlungsprozesse einzuleiten.
Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft" steht für die Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Zusammenbruch des Schreckensregimes der Nationalsozialisten. Heute steht die Natur vor dem Zusammenbruch. Wir brauchen daher eine neue Wiederaufbauphase. Wir brauchen neue Prinzipien der Wirtschaft und des Haushalts. Lassen Sie uns doch gemeinsam z. B. darüber nachdenken, wie wir zu einem ökologisch und strukturpolitisch ergänzten Stabilitätsgesetz kommen. Lassen Sie uns an alle Haushaltsentscheidungen endlich den Maßstab einer Umweltverträglichkeitsprüfung anlegen, und lassen Sie uns nicht mehr über den Abbau von Subventionen in den Haushalten reden, sondern lassen Sie uns darüber Einigkeit herstellen, daß wir Subventionsmittel, die wir frei machen, dringend umwidmen müssen, um damit Umweltschutzinvestitionen zu fördern, nicht nur wegen der Beschleunigung, sondern auch, um den Produktionsbetrieben zu helfen, konkurrenzfähig zu bleiben, und mit öffentlichen Mitteln das zu tun, was umweltschutztechnisch nötig ist.
Wenn die Bundesregierung den heute zu erwartenden gemeinsamen Beschluß des Bundestages — und ich würde die GRÜNEN dringend bitten, ihren Zusatzantrag nicht zur Abstimmung zu stellen —
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Jansen
ernst nimmt, muß der Bundesinnenminister mindestens folgende Punkte erfüllen. Erstens, über die Nordseeschutzkonferenz hinaus bedarf es einer europäischen Gipfelkonferenz, und dabei müssen wir den anderen Europäern klarmachen: entweder handeln alle sehr schnell und gemeinsam, oder wir handeln allein, d. h. wir lassen uns Umweltschutzmaßnahmen nicht mehr mit dem Vorschlaghammer „Handelshemmnisse und Protektionismus" abringen, sondern es muß begriffen werden: Gemeinsamkeit kann nicht heißen, auf Umweltschutzmaßnahmen zu verzichten. Zweitens, die Nordsee muß Sondergebiet werden. Drittens, die Verschmutzung der Nordsee durch die Luft, über die Flüsse und vom Land aus muß in fest umrissenen Größenordnungen Schritt für Schritt abgebaut werden.
Dabei ist ein wichtiger Punkt — Herr Austermann, da haben Sie mich sicherlich nicht richtig begriffen — die Verklappungsfrage selbst. Ab sofort — und dies ist eine Frage der Entscheidungsfreudigkeit dieser Regierung — muß mit Verklappung von Dünnsäure und anderen Schadstoffen in die flache, inzwischen stark belastete Nordsee Schluß gemacht werden.
Wir Sozialdemokraten sind bereit, ein Konzept mitzutragen, das den Titandioxidherstellern auch finanziell hilft, bis spätestens Ende 1988 Wiederaufbereitungsanlagen zu erstellen. Wir sind im Interesse des Erhalts der Arbeitsplätze bereit, auch erforderliche Hilfe bei einer sofortigen Verlagerung der Verklappung aus der Nordsee heraus mitzutragen. Aber bitte, handeln Sie von der Regierung. Wenn der Verkehrsminister noch eine einzige Verklappungsgenehmigung für die Nordseeverschmutzung erteilt, muß die Bundesregierung aufhören, so zu tun, als wolle sie wirklich der Nordsee helfen. Beides geht nicht. Entweder man handelt oder man praktiziert alte Dinge weiter. Wer die Verklappung von Dreck in die Meere beenden will, kann es. Es ist nur eine Frage des Preises, und es ist die Frage, wer den Preis bezahlt. Auch von den betroffenen Firmen kann man in Umstellungsprozessen erwarten, daß sie für den Zeitraum der Umweltschutzumstellung auf hohe Gewinne verzichten; denn wenn es so weitergeht wie bisher, zahlen wir alle, und zwar mit unserer Gesundheit, und zahlt die Nordsee mit ihrem ökologischen Tod.
Nehmen Sie unser Angebot zur aktiven Mitarbeit an diesem Problem ernst. Wir sind bereit, Entscheidungen für eine neue konsequente Umweltpolitik mitzutragen. Aber hören Sie auf, nur zu reden, und das, was Sie wirklich meinen, im Nebel stehen zu lassen! Wir müssen handeln, wenn wir Natur und Menschen in der Entwicklung der nächsten Jahre schützen wollen. Ich hoffe, daß diese Debatte zu der Nordseefrage dazu beiträgt.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich begrüße die bevorstehende Nordseekonferenz sehr und stelle fest — Kollege Austermann hat mit mir gemeinsam eine Zeitlang in einem kommunalen Parlament gewirkt —, daß es in diesem Haus doch auch zeitlich überschaubare Erfolge gibt, wenn es in der Kommunalpolitik auch etwas schneller geht.Am 11. September 1981 habe ich vor hier dem Hause gesagt — ich darf, obwohl unter 50, mich ausnahmsweise einmal selber zitieren —:Es bedarf einer Nordseekonferenz aller Staaten, unserer eigenen vier norddeutschen Staaten, die dort angrenzen, und aller anderen, und es bedarf dann einer Nordseeschutzkonvention, damit wir das erreichen, was die Ostsee schon hat, niedergelegt im Helsinki-Abkommen.Ich finde, es hat ein bißchen gedauert. Aber ich möchte dem Innenminister meinen Dank ausprechen; denn es ist ja nicht ganz einfach, bei solchen Problemen die beteiligten Länder unter einen Hut zu bringen. Der Hut muß dann mindestens von der Größe eines mexikanischen Ferienmitbringsels sein, um das zu erreichen.Ich glaube, daß der Beginn hoffnungsvoll stimmen kann; auch die Staatssekretärskonferenz zeigt das. Aber wir wünschen natürlich noch weitere Schritte — ich will hier ein paar aufzählen —, damit wir mit einer gemeinsamen Strategie vorgehen können.Herr Kollege Jansen, sicher ist bei vielen Problemen auch ein Alleingang wünschenwert. Aber es hilft uns wenig, wenn die Gesetze, die wir dann vorschreiben, die Verursacher nach Holland, Frankreich oder Großbritannien ausweichen lassen. Das schädigt unsere Nordsee im Grunde genauso schwer, wie die von uns ausgehende Nordseeschädigung. Wir müssen darauf sehen, daß wir die anderen dazu bringen, ein Bewußtsein für das besondere ökologische Gebiet Nordsee und insonderheit die Deutsche Bucht mit dem Wattenmeer zu schaffen und die Bestimmungen so festzusetzen und so kontrollierbar zu machen — auf die Kontrolle kommt es insbesondere an! —, daß wir die Chance haben, die Probleme nicht in ein anderes Land abgeschoben zu bekommen, das sich mit geringeren Umweltschutznormen darstellt.
Es ist sehr wünschenswert, daß es uns gelingt, die Nordsee zu einem Sondergebiet im Sinne des internationalen Abkommens zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe — abgekürzt mit dem jedermann bekannten Begriff „MARPOL" — zu deklarieren. Jedenfalls ist es des Schweißes der Edlen wert, diesen Schritt intensiv zu fordern und voranzutreiben.Dasselbe gilt für die Seeverkehrssicherheit. Ich will dazu nur anführen, daß vor kurzem eine Zollkutterexpedition die Nordsee abgefahren und bezüglich der Seeverkehrssicherheit einiges festgestellt hat. Sie hat etwa die Einführung von Verkehrstrennungsgebieten — Herr Austermann, Sie haben die Zahl der Schiffe genannt —, langzeitige Verkehrslenkung und zentrale Radarüberwachung ab 1985 gefordert. Das ist positiv und wird helfen,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6527
Wolfgramm
drohende Ölunfälle zu vermeiden. Aber auch dazu bedarf es der internationalen Hilfe. Wir wissen durch die Erklärungen und Angaben des Zolls, daß die Frachter ihre Ölreste in der Nordsee nachts abzulassen pflegen, bevor sie in die entsprechenden Häfen einlaufen. Das ist etwas, wo wir versuchen müssen, die Sache durch eine Kontrolle des Bordbuches, durch eine Kontrolle des Ölbuches international, Nordsee-national in den Griff zu bekommen. Das ist sicher mühsam, aber es ist notwendig.Das Nordseegutachten hat für mich deutlich gemacht, daß dies ein Testfall des Vorsorgeprinzips ist. Das Vollzugsdefizit ist dabei groß. Aber wir müssen das international und national in den Griff bekommen. Die von mir vorhin schon erwähnte Nordseeschutzkonvention sollte dazu eine juristische, rechtliche Verklammerung bieten.Übrigens hat sich das Europaparlament im Januar 1984 mit den Forderungen der Nordseeschutzkonvention befaßt. Es hat bereits erste Grundrisse verabschiedet, so daß die Konferenz auch darauf bauen kann.Die FDP hat jedenfalls den Wunsch, daß diese Konferenz einen Erfolg hat, der wirklich meßbar ist, und daß das nicht die letzte Konferenz über dieses Thema bleibt. Wir werden sicher noch das eine oder andere zu beraten haben, und so sollte das eine Einrichtung werden für die Staaten, die davon betroffen sind.
Aber wir haben auch die Verpflichtung, im nationalen Bereich uns weiter zu engagieren. Wir müssen die Gewässerreinigung der Flüsse stärker vorantreiben. Ich habe das begrüßt, Herr Kollege Jansen, was Sie dazu gesagt haben. Die Glaubwürdigkeit auch der Hansestädte ist dabei natürlich in starkem Maße tangiert oder sagen wir höflicher: angesprochen.Was übrigens den Punkt Glaubwürdigkeit betrifft, meine Kollegen von den GRÜNEN: Wir haben vorhin ja die — ich möchte fast sagen — treuherzige Erklärung des Kollegen Ehmke gehört, Sie strebten keine Showeffekte an. Ich muß schon sagen, ich habe selten erlebt, daß eine solche Erklärung so schnell von der Wirklichkeit überholt worden ist.
— Sie haben anderen Lug und Trug vorgeworfen. Sie müssen sich vielleicht dann selbst einmal fragen, was das ist, wenn man so etwas sagt und im nächsten Moment den Showeffekt unmittelbar praktiziert.
— Ich habe weder eine durch Trockenheit geschädigte Rotbuche zur Hand noch irgend etwas, was ich Ihnen überreichen könnte. Dann könnten Sie nämlich einmal feststellen, Herr Kollege Fischer, daß es auch noch andere Ursachen des Waldsterbens gibt als das, was wir alle gemeinsam beklagen.
Lassen Sie mich noch einen Punkt nennen. Es geht um die Frage, wie wir darüber ausreichend informiert werden. Ich schlage vor, daß die Regierung uns nach Abschluß der Konferenz eine sorgfältige Unterrichtung zuteil werden läßt, damit wir über die Ergebnisse im Ausschuß und auch im Plenum debattieren können. Schließlich haben die Nordsee und die Gewässer ja eine besondere Beziehung zueinander, wenn es um das ökologische System geht. Deswegen möchte ich Fontane zitieren, der sich mit den Beziehungen des Stechlin zu anderen Gewässern befaßt. Er schreibt in seiner Novelle „Der Stechlin":Aber was hat der Stechlin? ... Er hat Weltbeziehungen, ..., geheimnisvolle Beziehungen ... Und wenn es in Java oder auf Island rumort oder der Geiser ... in Doppelhöhe dampft und springt, dann springt auch in unserem Stechlin ein Wasserstrahl auf, und einige — wenn es auch noch niemand gesehen hat —, einige behaupten sogar, in ganz schweren Fällen erscheine zwischen den Strudeln ein roter Hahn und krähe hell und weckend in die Ruppiner Grafschaft hinein. Ich nenne das besondere Beziehungen.Ich auch, sagte Melusine.Meine Damen und Herren, wir wünschen der Konferenz Erfolg, und wir wünschen uns, daß wir danach positiv darüber debattieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Sauermilch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will diese Debatte zum Anlaß nehmen, unter Bezug auf das Sondergutachten des Rats von Sachverständigen für Umweltfragen vom Juni 1980 zunächst einmal etwas über das Verhältnis von etablierter Politik zu wissenschaftlicher Arbeit zu sagen.
Meine Vorredner haben mich darin nur bestärkt.Da arbeiten die besten Experten dieses unseres Landes ein hochqualifiziertes Gutachten aus. Im Juni 1980 übergeben sie dieses Werk der Bundesregierung. Volle vier Jahre später, nämlich heute, haben wir Gelegenheit, endlich über den hochbrisanten Inhalt zu reden, wobei sich die Probleme in den verstrichenen Jahren nur noch zugespitzt haben.
Auf die Aussagen der Wissenschaftler reagiert die Bundesregierung mit einem Dreiphasenkonzept, das man wie folgt umreißen kann. Erste Pha-
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Sauermilchse: Alle Kritiker werden für nicht zurechnungsfähig erklärt, und das Problem wird für nichtig erklärt.
Beispiele: Unser Wald ist doch noch grün; das Zifferblatt einer Armbanduhr strahlt mehr als ein Atomkraftwerk; in der Nordsee kann man doch noch baden.
Zweite Phase: Läßt sich das Problem nicht mehr für nichtig erklären, so wird eifrige Geschäftigkeit in der Suche nach der Ursache vorgetäuscht. In dieser Phase muß dann der arme Borkenkäfer als Ursache für das Waldsterben herhalten,
oder es wird eine Grippewelle für den PseudoKrupp verantwortlich gemacht.
Oder: Chemiearbeiter leiden plötzlich unter Erbkrankheiten. Dabei helfen auch Gefälligkeitsgutachten sehr.Dritte Phase: Das Problem hat sich inzwischen so zugespitzt, daß vielleicht sogar ein oder zwei Minister Handlungsbedarf entdecken. Dies ist die Phase der Ankündigungen. Dann laufen solche Sachen wie Buschhaus oder die Katalysator-Tragikomödie, wie auch heute hier wieder erlebt zum Thema Tempolimit.
Bezüglich des hier anstehenden Problems befinden wir uns zur Zeit in der Phase Nummer drei. Die eigentlichen Verursacher, allen voran die Großindustrie, werden verschwiegen, egal, ob es sich um ihre Giftemissionen oder um ihre rücksichtslose Ansiedlungspolitik handelt. An den Kräften, die durchgesetzt haben, daß Buschhaus ans Netz geht, daß die Katalysatoren erst 1989 eingeführt werden, daß Jahr für Jahr die Dünnsäureverklappungsgenehmigungen verlängert werden, die dafür sorgen, daß der Ärmelkanal mit Uranhexafluorid angereichert wird, scheitern Ihre Papiertiger, Ihre Verbalresolutionen und kläglichen Ankündigungen dauernd.
und zwar deshalb, weil Sie aus niederen Motiven nicht bereit sind, an den Kern dieser Probleme heranzugehen.Unter dem Druck der Phase 3 können Sie zur Zeit nicht mehr umhin, auch das Wort „Vorsorgeprinzip" wie eine bittere Medizin in Ihrem Mund hin- und herzuschieben. Aber berücksichtigen Sie doch bitte, daß die Lebensgrundlagen der Menschen und der gesamten Natur im Zusammenbrechen begriffen sind.
Herr Zimmermann ist wieder einmal nicht anwesend.
— Herr Spranger, richten Sie es bitte Ihrem Chef aus. Ihr Chef will nämlich demnächst in Bremen die große Öko-Show abziehen.Was ist Ihre Realität in Phase 3? Ankündigungen in Sachen Abwasserabgabengesetz und Wasserhaushaltsgesetz. Wir haben dazu schon Anfang dieses Jahres unsere Gesetzentwürfe eingebracht. Es besteht auf Ihrer Seite Handlungsbedarf, Herr Staatssekretär. Wir wissen: Ihre Parteikollegen aus einigen Bundesländern haben Ihre Minireform abgeblockt. Wieder einmal kreißte der Berg und gebar nichts als eine Fahrt nach Bremen mit weiteren Ankündigungen in der Tasche.Bremen ist übrigens eines der schwärzesten Schafe dieser Republik, was die Abwassermoral betrifft. Wir diskutieren hier über die dritte Reinigungsstufe bei Kläranlagen. In Bremen funktioniert noch nicht einmal die zweite. Der verantwortliche Bausenator — übrigens SPD — möchte die Schaumberge am liebsten wenigstens während der Nordseekonferenz irgendwie verschwinden lassen. Das nennt man auf deutsch: vertuschen.Andere, wie der Ökotechnokrat Lothar Späth, bemühen neuerdings Zauberformeln: Wirtschaftswachstum ja bitte, aber mit modernster Umwelttechnologie. Er sollte sich einmal nach Wilhelmshaven begeben und dort die Horrorszenerie der dortigen sogenannten modernen Industrieansiedlung ansehen, wobei z. B. die ICI mal eben jährlich 110 000 Tonnen hochkrebserregendes Vinylchlorid auf den Weg in unserer aller Umwelt schickt. Man möchte das auch nicht etwa reduzieren. Man möchte gerne einen Antrag auf Erhöhung auf 180 000 Tonnen genehmigt bekommen.Was ist mit der Vergiftung des Jadebusens? Was ist mit dem Alptraum des Flüssiggasterminals, das in Minuten ganze Landstriche vernichten kann? Selbst bei modernster Umwelttechnologie ist es nicht möglich, die Risiken der Technik — vor allem der Großtechnik — zu beherrschen.Es gibt auch noch andere Varianten, den Schutz unserer Umwelt zu unterlaufen. Weil nach dem Gesetz über die Einbringung von Abfällen in die hohe See für uns ein Verbrennen bestimmter Giftstoffe auf der Nordsee verboten ist, umgeht die deutsche Großindustrie das folgendermaßen: Die Gifte werden einfach in einen ausländischen Hafen gekarrt und dort einem ausländischen Verbrennungsschiff übergeben. Dann kommt das Zeug nach Rotterdam. Dort wird es von der „Vulkanus" übernommen, die unter der Flagge Panamas fährt. Eine sehr feine Lösung.Ich habe Unterlagen über eine Horrorliste der jährlichen Einleitungen in die Nordsee über Flüsse und über die Luft.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6529SauermilchIch möchte auch Ihnen mit Ihren merkwürdigen Äußerungen ein paar dieser Zahlen ins Gedächtnis rufen. Nur drei Zahlen: 7 Millionen t Chemieabfälle, 11 Millionen t ungeklärte Abwässer und über 200 Millionen t Bauabfälle und Baggergut werden jährlich in die Nordsee gekippt. Das ist nur eine winzig kleine Auswahl der Gesamtmenge.Hier gibt es keinen Bedarf mehr für Ursachenforschung. Es gibt nur noch dringlichen Handlungsbedarf. Meine Damen und Herren, daran sollten Sie sich schnellstens begeben.Wir haben hier einen Änderungsantrag zur Beschlußempfehlung des Innenausschusses eingebracht, der in seinem Forderungskatalog Handlungsanweisungen enthält, die alle überfällig, unverzichtbar und — Herr Jansen, das mögen Sie bitte auch zur Kenntnis nehmen — machbar sind. Ich brauche sie nicht hier zu nennen. Sie liegen Ihnen als Tischvorlage vor.Wir werden davon ausgehen müssen, daß Sie unseren Ergänzungsantrag — gerade weil er präzise Forderungen enthält — ablehnen werden.
Auch in vier Jahren wird noch Dünnsäure in die Nordsee fließen, wenn Sie in der Regierungsverantwortung bleiben, weil für Sie die Investitionsplanung eines Chemiegiganten mehr Gewicht hat als unsere Lebensgrundlagen.Der Zustand des Patienten Nordsee — ölverklebte Vogelkadaver, geschwürübersäte Fische seien dafür symbolhaft genannt — verlangt eine weitherzige Auslegung des Vorsorgeprinzips als Vermeidungsstrategie. Auf dieser zentralen Überlegung beruht unser Antrag, dessen Umsetzung allein das Sterben der Nordsee verhindern kann.Die bevorstehende internationale Nordseekonferenz wird zeigen, wieviel von Ihrer Beschlußempfehlung auf dem rauchenden Trümmerhaufen Ihrer Ankündigungs- und Wendepolitik übrigbleibt.Danke.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich lasse zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/2074 abstimmen. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses. Wer der Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 10/2054 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der
SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Straf-
rechtsänderungsgesetzes — Gesetz zum weiteren Ausbau der Strafaussetzung zur Bewährung —
— Drucksache 10/1116 —Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Sind Sie mit der Regelung einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich darf fragen, ob das Wort zur Begründung gewünscht wird. — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Strafaussetzung zur Bewährung ist heute für unsere Strafrichter die zweitwichtigste Strafart neben der Geldstrafe. Das war nicht immer so. Das Reichsstrafgesetzbuch 1871 kannte die Strafaussetzung zur Bewährung nicht. Oskar Wirth, ein Gefängnisdirektor, startete 1888 den ersten Versuch, die englische Form der probation einzuführen. Er scheiterte. Aber er bewirkte immerhin, daß seine Gedanken Eingang in die Gnadenerweise des Staates fanden. Erst 1923, ein gutes halbes Jahrhundert später, erschien erstmals in einem deutschen Gesetz die Einrichtung der Strafaussetzung zur Bewährung, und zwar als Gustav Radbruch Reichsminister der Justiz war, der die Beratungen zum Jugendgerichtsgesetz im damaligen Reichsrat begleitete.1943 schafften die Nazis die Strafaussetzung zur Bewährung im Jugendgerichtsgesetz wieder ab. Und erst — sage und schreibe — 1953 wurde die Strafaussetzung zur Bewährung im Jugendgerichtsgesetz und erstmals im Erwachsenenstrafrecht wieder eingeführt. Und es war 1969, als Gustav Heinemann im Rahmen der Großen Koalition die Strafaussetzung zur Bewährung von neun Monaten auf ein Jahr ausdehnte. Horst Ehmke konnte dies 1969 unterschreiben, so daß es im Gesetz- und Verordnungsblatt verkündet werden konnte.Seitdem gilt bei uns folgende Regelung: Wer bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe erhalten hat, dem wird grundsätzlich Strafaussetzung zur Bewährung gewährt. Wer eine Strafe von bis zu drei Jahren erhalten hat, kann nur in seltenen Ausnahmefällen mit der Strafaussetzung zur Bewährung rechnen. Das gilt im Prinzip auch im Jugendstrafrecht. Außerdem gibt es seit geraumer Zeit den sogenannten Restdrittelerlaß. Das heißt, wer zwei Drittel seiner Strafe verbüßt hat, erhält in aller Regel das letzte Drittel, wenn er sich gut führt, erlassen. Möglich ist auch der Erlaß der hälftigen Strafe, aber auch davon wird ganz selten Gebrauch gemacht.Die SPD-Bundestagsfraktion will nun mit ihrer Vorlage die Strafaussetzung zur Bewährung in beiden Richtungen ausdehnen. Was heute bei einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr gilt, soll in Zukunft bei einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren
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Dr. de Withgelten, d. h. es soll dann grundsätzlich Strafaussetzung zur Bewährung gewährt werden können,
und wer eine Strafe bis zu drei Jahren erhalten hat, soll in Ausnahmefällen diese Gunst erwiesen bekommen. Ebenso meinen wir, daß es gut wäre, daß grundsätzlich der hälftige Straferlaß gewährt wird. Dasselbe soll natürlich auch im Jugendrecht Geltung haben.Sie fragen: Warum und vor allem warum jetzt, fast 100 Jahre nach dem ersten Einführungsversuch? Nun, wir haben allesamt 1976 den Strafvollzug reformiert. Aber wir alle müssen, so meine ich, bekennen, daß noch immer bei vielen das Wort gilt, daß die Justizvollzugsanstalten „Zwingburgen gegen präsumtiven Ausbruch" — ein Wort von Radbruch — oder — wie Eberhard Schmidt noch drastischer sagte, „steingewordene Riesenirrtümer" darstellen. Das bedeutet, daß trotz der Reform von 1976 nicht nur keiner gerne, wie es so schön heißt, einrücken will, sondern daß auch die Strafrichter klar erkannt haben: Es ist einfach besser, wenn Strafaussetzung zur Bewährung gewährt werden kann, weil der Erfolg einer Verbüßung noch immer zweifelhaft ist.
Großzügigkeit, das Gewähren einer Chance und der Druck, daß der Widerruf droht, bewirken ganz offensichtlich mehr.Um das mit Zahlen zu belegen, darf ich auf folgendes verweisen. Wurden 1970 noch 41 276 Personen unbedingt und etwa ebenso viele, nämlich 46 672 Personen, bedingt zu Freiheitsstrafen verurteilt, war im Jahre 1981 das Verhältnis 37 167 zu 71 223 Personen. Das heißt, in der Praxis hat sich zugunsten der Strafaussetzung zur Bewährung im Prinzip eine Verdoppelung ergeben. Der Trend in der Praxis ist also ganz eindeutig.Die Strafaussetzung zur Bewährung hat — auch das kann man statistisch belegen — auch Erfolg. Von 1963 bis 1980 stiegen die Erlasse bei der Bewährung kontinuierlich um 6,4 %, wobei angemerkt werden muß, daß von vornherein schon mehr als 50% der mit Bewährung Verurteilten einen Erlaß erhielten.Ich darf auch daran erinnern, daß bereits bei den Beratungen 1968/69 die Rede davon war, daß man die Bremse der Jahresfrist doch, wenn die Zeit reif sei, ausweiten möge. Wir meinen, heute, 15 Jahre später, ist die Zeit reif.Mit der Ausweitung der Strafaussetzung ersparen wir, nebenbei bemerkt, nicht nur Menschen Leid, helfen wir nicht nur der Allgemeinheit, sondern wir sparen damit auch Geld und tun etwas gegen die Überfüllung unserer Gefängnisse. Wir schließen damit auch wieder zur Spitze der internationalen Reformentwicklung auf.Für den Strafvollzug gibt dieser Staat — man sollte sich diese Zahlen vergegenwärtigen — pro Jahr etwa 2 Milliarden Deutsche Mark aus. Jeder Häftling kostet pro Tag etwa 100 DM. Es liegt auf der Hand, daß, wenn mehr Strafaussetzung zur Bewährung gewährt wird, auch wenn dadurch mehr Bewährungshelfer eingestellt werden müssen, damit eine deutliche Verbilligung eintritt.Von den 16 wichtigsten Staaten im Westen hält die Bundesrepublik Deutschland mit 104 Gefängnisinsassen pro 100 000 Einwohner zusammen mit Österreich und den Vereinigten Staaten einen traurigen Rekord.
Die Holländer begnügen sich mit 24 Insassen je 100 000 Einwohner.
Zwischen 53 000 und 60 000 sitzen bei uns, wie es im Jargon so schön heißt, jährlich ein; die Untersuchungshälftlinge sind da allerdings mit eingeschlossen.Wer die Entwicklung im Ausland verfolgt hat, muß zugeben, daß man dort deutlich an uns vorbeigeschritten ist.Der Herr Bundesminister der Justiz — ich bin froh, daß er anwesend ist — hat nun — offenbar unter dem Druck unserer Vorlage — seinerseits eine Vorlage eingebracht. Er selbst sagt, er plädiere für eine „behutsame Ausweitung". Sein Entwurf ist in der Tat mehr als behutsam. Er ist, Herr Justizminister, halbherzig und — ich sage es vorsichtig — möglicherweise teilweise auch restriktiver. Aber darüber sollten wir debattieren. Die Bundesregierung hat in ihrem Entwurf im Grunde nur die großzügige Rechtsprechung kodifiziert. Sie plädiert in gewissen Grenzen für den hälftigen Straferlaß, und im übrigen schließt sie eine Lücke bei den lebenslangen Freiheitsstrafen, wobei, wie ich sagte, hier möglicherweise in Zukunft zum Teil restriktiver als nach der jetzigen Praxis verfahren wird. Ich sage deshalb dem Herrn Bundesminister der Justiz und bitte ihn: Hören Sie nicht auf die Hardliner in den Reihen der Koalition, sondern folgen Sie der besseren Einsicht!
Sie kriegen dabei vielleicht ein bißchen Ärger mit Franz Josef Strauß. Aber sicher ist es, daß Sie, folgen Sie unserem Entwurf, vielen helfen und daß viele Leute es begrüßen würden, käme es hier zu einer einmütigen Verabschiedung im Deutschen Bundestag, und zwar möglichst bald, ohne Verzug.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Entwurf der SPD-Fraktion eines Gesetzes zum weiteren Ausbau der Strafaussetzung zur Bewährung — ein etwas schwieriger Titel — bleibt also nicht der einzige Antrag zu die-
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Seesing
sem Problem. Ich will mich deswegen auch weniger mit den Einzelheiten des Gesetzentwurfs befassen. Das werden wir in der Ausschußberatung ja wohl tun. Vielmehr möchte ich versuchen, mich diesem Anliegen überhaupt zu öffnen und zu fragen, welche Auffassung von Sinn und Zweck des Strafrechts hierin deutlich wird. Denn die mehrfach von Ihnen jetzt genannte, auch für mich sehr unerfreuliche Tatsache, daß die Haftquote in unserem Land zu hoch ist, ist ja nicht der einzige Grund — das haben Sie auch ausgeführt — für diese Gesetzesvorlage. Ich meine dennoch, man sollte sich in der beginnenden Diskussion auch mit dieser Frage beschäftigen. Denn man muß sich wirklich fragen, warum in den Niederlanden, wie mir gesagt wurde, 31 Personen — Stand vom 1. März 1984 —, bei uns aber 104 Personen auf jeweils 100 000 Einwohner in Justizvollzugsanstalten einsitzen. Dazu wäre es wohl auch gut, zu wissen, wie es sich mit der Zahl der Untersuchungshäftlinge und mit der Dauer der Untersuchungshaft verhält. Das ist kein Leid von heute, das wir seit der Regierungsumbildung haben, sondern das ist eine Sache, die uns jetzt seit Jahren quält.
Bleibt also weiter die Frage nach dem Sinn und Zweck des Strafrechts. Ich will nicht verschweigen, daß ich in jüngeren Jahren andere Vorstellungen über Strafvollzug hatte als heute. Das ist mir beim Nachdenken über den Antrag der SPD-Fraktion deutlich geworden. Ich kann mir aber auch heute noch nicht vorstellen, daß der Staat auf das Instrument der Freiheitsstrafe verzichten kann. In der Antragsbegründung werden grundsätzliche Einwände gegen den Strafvollzug angeführt, die aber dann nicht, um das ganz deutlich zu sagen, in einem Plädoyer für die Abschaffung der Gefängnisse enden, wie ich es fast befürchtet hatte. Ich hatte nämlich kurz vorher — das muß ich hier ergänzend sagen — Auszüge aus dem gemeinsamen Positionspapier der Berliner SPD und der Alternativen Liste zur Strafvollzugsreform gelesen, dazu die Äußerung des AL-Abgeordneten Dieter Kunzelmann, der den offenen Vollzug als Vorstrafe zur Abschaffung der Gefängnisse forderte.
— Ach, Herr Fischer, lassen Sie nur!
Ich will auch nicht verschweigen, daß ich mir bei diesen Überlegungen auch die Frage gestellt habe, ob man bei den Strafzwecken nur die Sozialisierung oder Resozialisierung im Auge haben kann. Ich habe mir die Frage gestellt: Erfordert die Gerechtigkeit nicht, daß der Täter für seine Übeltaten auch sühnen muß? Darf man einen solchen Gedanken auch in die Diskussion über die Strafaussetzung zur Bewährung einführen? Ich weiß darauf jetzt keine abschließende Antwort. Ich will mich also nur noch den Fragen zuwenden, die das Verlangen nach einer Ausweitung der Möglichkeiten der Strafaussetzung zur Bewährung aufwirft. Da wir noch weitere Gesetzentwürfe zu erwarten haben und ich heute noch nicht weiß, wie die entgültig aussehen werden, möchte ich Sie bitten, meine Einlassung wirklich als grundsätzliche Fragestellung zu verstehen. Ich will versuchen, am Schluß noch zu einer kurzen ersten Wertung zu kommen.
Erstens: Geben die Erfahrungen, die bisher mit dem Institut der Strafaussetzung zur Bewährung gemacht wurden, Anlaß für eine eher behutsame — auch jetzt zitiert — Erweiterung des Anwendungsbereichs der Strafaussetzung nach § 56 des Strafgesetzbuchs oder für weitergehende Möglichkeiten? Das heißt, erweitere ich die Möglichkeit der Strafaussetzung auf Verurteilte, die eine zwei- oder gar eine dreijährige Haftstrafe zu verbüßen haben? Beim ersten Lesen des SPD-Gesetzentwurfes sind mir da bei den Vorstellungen über den § 56 Abs. 2 des Strafgesetzbuches doch noch einige Bedenken gekommen.
Zweitens. Welche Täter sollen denn nun betroffen sein? Sollen es nur Erstverurteilte sein, oder kann man sich oder darf man sich hier auch anderen Vorstellungen öffnen? Sollen Regelungen der Strafaussetzung auch bei Gewaltkriminalität gelten, um einmal harte Elemente der Kriminalität anzusprechen?
Drittens. Es geht bei der Strafaussetzung auf Bewährung nicht nur um die Frage, ob ein Verurteilter von der Vollstreckung einer Strafe verschont bleibt, es geht auch um die Frage, ob ein Gefangener im Strafvollzug vorzeitig aus der Freiheitsstrafe zur Bewährung entlassen werden darf. Wenn ja: Wer kommt für eine solche Regelung in Frage, und welche Bedingungen sind zu erfüllen? Welche Freiheitsstrafe darf nur verhängt sein, um zu einer Strafaussetzung zu kommen? Wieviel der Freiheitsstrafe muß verbüßt sein, um entlassen werden zu können?
Ich habe den Eindruck, daß wir uns zu hüten haben, diese Fragen vordergründig mit Kosteneinsparungen zu begründen; das sind natürlich wichtige Gründe, aber, meine ich, doch nicht die wichtigsten für den Ausbau dieser Möglichkeiten.
Ich halte den Hinweis auf die guten Erfahrungen, die bei Strafaussetzung im Gnadenwege bei Gefangenen mit guter Prognose gemacht wurden, für entscheidend wichtiger. Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß eine Strafaussetzung zur Bewährung nach Vollstreckung der Hälfte der Freiheitsstrafe bei sonst angemessenen Bedingungen erreicht werden kann. Auf jeden Fall muß aber an ein konkretes Strafmaß angeknüpft werden. Ich meine auch, daß wir uns darauf einigen können, wenn wir festhalten, daß mindestens sechs Monate einer Freiheitsstrafe verbüßt sein sollten, bevor einem Gefangenen die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt wird.
Ich möchte nun einen weiteren Punkt zum Bedenken hier ansprechen. In den Gesprächen, die ich im Vorfeld führte, wurden mir mehrmals die Sorgen von an diesen Fragen interessierten Bürgern — meistens also aus dem Bereich des Rechtswesens — mitgeteilt. Es wird befürchtet, daß Richter in vielen Fällen zu höheren Strafen kommen könnten, um eine Strafaussetzung zu umgehen. Ich weiß
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nicht, ob solche Befürchtungen einen realen Hintergrund haben, aber ich meine, wir sollten sie in unseren anstehenden Gesprächen auch ausräumen.
Noch eine letzte Bemerkung, die Entwicklung der Bewährungshilfe. Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir uns im Laufe der kommenden Beratungen intensiv mit diesem Instrument der Hilfe beschäftigen. Nicht ohne Grund klagen viele Bewährungshelfer über die fast unerträgliche Belastung, der sie unterliegen. Es muß nach einem vernünftigen Weg gesucht werden, hier die Dinge zu verbessern. Ich persönlich weiß noch keine Antwort, die zufriedenstellt.
Meine Damen und Herren, wir werden mit großem Ernst, Herr de With, Ihre Vorschläge und auch die anderen Vorschläge prüfen und wünschen uns, daß diese weiter vorliegenden Gesetzentwürfe möglichst schnell in die Beratungen des Deutschen Bundestages eingebracht werden.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Reetz.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Na j a, also „Gastarbeit", von wegen. Es muß jeder Abgeordnete über jedes Thema reden können.
— Entschuldigung, dann habe ich Sie mißverstanden.Zum Thema. Grundsätzlich begrüßen wir GRÜNE jede Initiative, die bewirkt, daß weniger Menschen Lebenszeit in Strafanstalten verbringen müssen. Strafaussetzung zur Bewährung stellt gegenüber der Freiheitsstrafe eine weichere Form der staatlichen Sozialkontrolle dar. Insofern befürworten wir den Gesetzentwurf der SPD, haben jedoch Bedenken hinsichtlich der Ausgestaltung.Angesichts des Umstandes, daß in dem Zeitraum von 1971 bis 1981 die Zahl der Inhaftierten trotz Erweiterung der Möglichkeiten der Aussetzung zur Bewährung um 29 % gestiegen ist, kann nicht behauptet werden, sie stelle einen Ersatz für die Haftstrafe dar. Sie ist vielmehr eine Auffangstufe vor der Haftstrafe. Um dem entgegenzuwirken, muß nach unseren Vorstellungen die Hilfsfunktion von der Kontrollfunktion der Bewährungszeit getrennt werden, d. h. die gerichtliche Kontrolle muß mit der Strafzeit beendet sein. Solange der Bewährungshelfer Helfer und Kontrollinstanz zugleich ist, wird er es schwer haben, das Vertrauen des Probanden zu gewinnen. Aus diesem Grunde halten wir es für unerläßlich, daß dem Probanden die Möglichkeit gegeben wird, auf die Person des Bewährungshelfers Einfluß zu nehmen.Helfen setzt Vertrauen voraus. Vertrauen ist ohne Freiheit nicht möglich. Um zu verhindern, daß der Bewährungshelfer eine Art Feuerwehrfunktion für kurzfristige Aufgaben übernimmt, sollte eineMindestdauer von einem Jahr für die Zusammenarbeit zwischen Bewährungshelfer und Proband festgelegt werden.Im Hinblick auf diese soeben dargelegten Bedenken werden wir einen Änderungsantrag einbringen.Das Ziel des Gesetzentwurfs, den Anwendungsbereich der Bewährungshilfe zu erweitern und damit den Strafvollzug zu entlasten, kann nur in dem Maße erreicht werden, in dem es gelingt, zwischen Proband und Bewährungshelfer Vertrauen zu stiften. Unter diesem Aspekt ist es unerläßlich, sich Gedanken über die materiellen Arbeitsbedingungen der Bewährungshelfer zu machen.Nach einer Statistik der Arbeitsgemeinschaft deutscher Bewährungshelfer standen am 31. Dezember 1981 für 99 597 Verurteilte 1 771 hauptamtliche Bewährungshelfer zur Verfügung. Angesichts solcher Relationen kann nicht allzuviel Optimismus aufkommen, ob die Ziele des Gesetzentwurfs realisiert werden können.Ein weiterer grundsätzlicher, problematischer Punkt sei angesprochen: Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß mit der vergrößerten Möglichkeit, Strafen zur Bewährung auszusetzen, bei den Richtern im Hinblick auf das Strafmaß auch die Hemmschwelle gesenkt wird. Auch insoweit ist Skepsis angebracht.Wir begrüßen trotzdem den Gesetzentwurf, halten ihn für verbesserungsfähig und verhehlen nicht unsere Skepsis, dies auch auf Grund der Erfahrung, die wir mit der Ministerialbürokratie machen, und die ist j a bekanntlich auch in der Verwaltung im Justizministerium.Ich habe heute morgen ein gutes Erlebnis im Umgang mit der Verwaltung gehabt. Es war im Petitionsausschuß, und es ging um einen kleinen Straßenabschnitt in meinem Wahlkreis im Ortenaukreis. Es war möglich, daß auf Grund einer außerordentlichen Kompetenz sowohl der Vorsitzenden, Frau Berger, wie auch der Berichterstatter und deren Ortskenntnis die Verwaltung, das Verkehrsministerium, total in die Ecke gedrängt wurde. Ich muß das so sagen. Der Staatssekretär Bayer wußte am Schluß überhaupt nicht mehr, was er sagen sollte.
Ich habe als Abgeordnete hier erstmalig das Erlebnis gehabt, daß wir Abgeordnete, wenn es uns gelingt, in einer Sachfrage
gemeinsam die Argumentation zu entwickeln, die meistens nicht gerechtfertigten und vor allem dem Bürger nicht gemäßen Planungen der Verwaltung überwinden können.
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Frau ReetzIch meine, daran sollten wir auch in dieser ganz anderen Situation denken. Es geht um die Bürger. Hier geht es um die Menschen, die — aus welchem Grunde auch immer — im Strafvollzug sind. Deshalb ist auch Skepsis angebracht gegen den Entwurf der Regierung mit der „behutsamen Ausweitung".
Das Wort hat Herr Abgeordneter Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die unterschiedlichen Auffassungen, die hinsichtlich der Neuregelung der Strafaussetzung zur Bewährung bestehen, sind durch die vorangegangenen Beiträge, wie ich meine, doch recht deutlich geworden. Ich möchte deswegen auch nicht auf alle Einzelheiten der sich entgegenstehenden Entwürfe eingehen, sondern beschränke mich auf einige wenige grundsätzliche Überlegungen.In der Öffentlichkeit, aber auch bei vielen Politikern werden die Maßnahmen, die hier vorgeschlagen werden, oft mit dem Problem der Überbelegung der Justizvollzugsanstalten in Zusammenhang gebracht. Ich meine, im Vordergrund unserer Gedanken sollte aber nicht die Entlastung der Vollzugsanstalten stehen, sondern die Abwägung zwischen einer wirkungsvollen Strafrechtspflege und den Interessen der betroffenen Straftäter.
Bei dieser Interessenabwägung kann dem Argument der Überbelegung der Anstalten aus meiner Sicht nur untergeordnete Bedeutung zukommen.
Zwar verleiten zugegebenermaßen die hier vorgeschlagenen Regelungen auf den ersten Blick zu der Annahme, die Strafanstalten würden tatsächlich spürbar entlastet. Ich werde jedoch versuchen darzulegen, daß diese Annahme nicht zutrifft.
— Herr de With, Sie führen in Ihrer Begründung zu dem Entwurf der SPD aus, daß die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Strafaussetzung zur Bewährung zu einer verstärkten Inanspruchnahme der Bewährungshilfe führen wird. Diese Folge Ihrer Reformbemühungen wollen Sie dann durch die von Ihnen vorgesehene Verkürzung der Dauer der Bewährung und der Dauer der Unterstellung unter die Bewährungsaufsicht ausgleichen. Habe ich Sie so richtig verstanden? — Zur Begründung dieses Vorhabens führen Sie dann an, in den Zeiten knapper Ressourcen komme dem Kosten-Nutzen-Argument eine besondere Bedeutung zu. Die Bewährungshilfe, so meinen Sie, könne im Vergleich zum Strafvollzug wesentlich kostengünstiger arbeiten und habe zudem große Erfolge aufzuweisen. In ca. 57 % aller Fälle werde die Bewährungshilfe durch Straferlaß abgeschlossen.Meine Damen und Herren, das sogenannte Kosten-Nutzen-Argument kann sich aber bei näheremHinsehen in sein Gegenteil verkehren. Denn was wird geschehen? Die öffentlichen Mittel zu einem adäquaten Ausbau der Bewährungshilfe — das wissen wir — sind nicht vorhanden. Das erkennen auch die Kollegen von der SPD, wenn ich es richtig gelesen habe. Die eventuellen Mehrbelastungen, wie sie bei der Verlagerung des Belegungsproblems auf die Bewährungshilfe auch bei der Verkürzung der Bewährungszeit durchaus denkbar sind, können also nicht durch vermehrten Personaleinsatz aufgefangen werden. Folgerichtig bleibt nur die vorgesehene Möglichkeit, die Dauer der Bewährungszeit und die Dauer der Unterstellung unter die Bewährungsaufsicht zu verkürzen. Aber gerade hierin liegt meines Erachtens der grundlegende Denkfehler dieses Entwurfs der SPD-Fraktion.Es ist anerkannt, daß, je länger die Bewährungszeit dauert, die Chancen für ein Gelingen der Resozialisierung um so höher sind.
Die Nachbetreuung der Strafgefangenen durch den Bewährungshelfer ist für den Bewährungserfolg ausschlaggebend. Diese mangelnde Nachbetreuung kann daher die Folge nach sich ziehen, daß die Verstöße gegen die Bewährungsauflagen zunehmen werden. Auch ist denkbar, daß in vermehrtem Umfang Straftaten begangen werden. Die als so kostengünstig gepriesene Bewährungshilfe wird dann auch an Effektivität erheblich verlieren. Insbesondere wird — so muß man befürchten — die Zahl derjenigen, deren Bewährung widerrufen wird, zunehmen.
Im Endeffekt — so meine These — werden daher bald weit mehr als bisher der der Bewährungshilfe unterstellten Straftäter in die Haftanstalten zurückkehren bzw. erstmals eine Strafe antreten. Dies wiederum führt zu einer vermehrten Inanspruchnahme von Haftplätzen.Also, meine Damen und Herren, das von der SPD vorgeschlagene System ist nach meiner Einschätzung weder kostenneutral noch gar kosteneinsparend, sondern wird höchstwahrscheinlich das Gegenteil mit sich bringen.
Deswegen meine ich, daß der von der SPD eingebrachte Entwurf auch wegen seiner Resozialisierungsfeindlichkeit nicht akzeptiert werden kann.Ich bin vielmehr der Ansicht, daß der von Herrn Justizminister Engelhard vorgelegte Entwurf eher geeignet ist, einen gerechten Interessenausgleich herbeizuführen.
Ich bin im übrigen Herrn Engelhard ausgesprochen dankbar, daß er zu der hier diskutierten Lösung eine in meinen Augen sehr ausgewogene Alternative vorgelegt hat, eine Alternative, die die von mir aufgezeigten Probleme zu vermeiden trachtet.
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BeckmannIch bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion entspricht wortwörtlich dem Entwurf des Landes Nordrhein-Westfalen, der vom Rechtsausschuß des Bundesrates bereits zur Ablehnung empfohlen ist und morgen im Plenum des Bundesrates ebenso wie der Entwurf der Bundesregierung zur Beratung ansteht.Herr Kollege de With, eine so weitgehende Erweiterung des Anwendungsbereichs der Strafaussetzung zur Bewährung, wie Sie sie wünschen, läßt sich meines Erachtens sachlich nicht hinreichend begründen. Eine solche Erweiterung würde in der Bevölkerung auch weithin auf völliges Unverständnis stoßen.Die kriminalpolitische Bedeutung der Strafaussetzung rechtfertigt nur eine vorsichtige — und Sie haben ganz richtig gehört —, eine behutsame, wie ich sagen will, Erweiterung des Anwendungsbereichs. Wer um der bloßen Entlastung des Strafvollzugs willen eine tiefgreifende Änderung des Rechtsinstituts der Strafaussetzung fordert, der setzt ja eine höchst bedenkliche rechtspolitische Entwicklung in Gang. Dies ist aber eines der zentralen und der Hauptargumente, die ich über die Zeiten immer gehört habe. Das wirft natürlich die Frage auf: Sollte — was niemand hofft — durch eine unglückselige Entwicklung der Zustand der Überfüllung in den Strafanstalten noch schlimmer werden, wollen Sie dann flugs daran gehen, auf vier oder wieviel Jahre zu gehen, wo die Strafaussetzung zur Bewährung vorgenommen werden kann?
Es geht ja schließlich nicht um die sogenannte Bagatellkriminalität.
Eine erweiterte Anwendung der Strafaussetzung, so wie Sie es wollen, würde vielmehr zunehmend strafrechtlich erheblich vorbelastete Täter mitumfassen. Das ist die Folge, wenn man die Strafaussetzung bis zu einer Strafe von drei Jahren gewähren will.
Es ist vielleicht einmal ganz gut, kurz zurückzudenken. Sie haben ja auch etwas die Vergangenheit aufgeblättert. Ich finde das gut. Es muß daran erinnert werden, daß die Alternative zur vollzogenen Freiheitsstrafe durch die Strafrechtsreform vergangener Zeiten bereits so stark ausgebaut worden ist, daß erstens seit Jahren von der Gesamtzahl der nach allgemeinem Strafrecht zu Freiheitsstrafe unter sechs Monaten Verurteilten nur noch ganze1,7 % ohne Strafaussetzung zur Bewährung bleiben, daß zweitens über 80 % aller nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten überhaupt nicht zu Freiheitsstrafen, sondern — wie Sie auch gesagt haben— zu Geldstrafen verurteilt werden und daß drittens der Anteil ausgesetzter Freiheitsstrafen mit einer Dauer von einem Jahr bis zu zwei Jahren bereits über 20 % beträgt.
— Es findet dies meine volle Zustimmung. Nur erwähne ich dies, Herr Kollege Lambinus, um die Dinge einmal zurechtzurücken und aufzuzeigen, in welcher Landschaft wir eigentlich leben, in die Sie nun fast wie einen Findling etwas hineinsetzen wollen, was in diese Landschaft nicht paßt. Denn die Rechtsprechung ist stets davon ausgegangen — und Sie wissen dies —, daß es auch zu den Aufgaben der Strafe gehört, die Rechtstreue der Bevölkerung zu erhalten. Nicht im Sinne des bloßen Abschreckens— nein, dies ist einiges mehr. Ein Strafrecht, das sich nicht am rechtstreuen, vernünftigen, einsichtigen, aber auch nachdenklichen großen Teil unserer Bevölkerung orientiert, wird keinen guten Weg einschlagen. Ich meine, auf die Forderungen der Rechtspraxis muß Rücksicht genommen werden. Es muß uns darum gehen, eine kriminalpolitisch sinnvolle Anwendung der Aussetzungsvorschriften vorzunehmen.Nun haben Sie zum Jugendstrafrecht eine Lösung vorgeschlagen. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß man daran denken sollte, bei Jugendlichen bei der Strafaussetzung zur Bewährung einen Schritt weiter zu gehen.
Hier muß die Bereitschaft bestehen, einiges mehr an Wohlwollen, an Vertrauensvorschuß einem straffällig gewordenen Jugendlichen entgegenzubringen, als dies bei Erwachsenen der Fall sein kann. Nur, ich warne davor, das bei dieser Gelegenheit so en passant mit zu erledigen. Wir sind zur Zeit in der Abstimmung zu einer Novelle zum Jugendgerichtsgesetz, die ein Gesamtkonzept bringen wird, das diesem Anliegen sicherlich besser gerecht wird als Ihr sehr isoliert darstehender Vorschlag.
Meine Damen und Herren, ich will zusammenfassend noch einmal betonen, daß wir nicht glauben sollten, mit einer maßlosen Erweiterung der Strafaussetzung zur Bewährung
unsere Schulaufgaben gut erledigt zu haben.
Wir werden nicht nur immer die spezialpräventive Seite der Sache sehen können, sondern werden sehen müssen, daß unser Strafensystem auch auf die Generalprävention angelegt ist und daß es demjenigen, der dies vernachlässigt, schwerfallen wird, dies
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Bundesminister Engelhardder Bevölkerung in ihrem Rechtsbewußtsein zu erklären.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, _den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/1116 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit sowie zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 und 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Bundesärzteordnung
— Drucksache 10/1963 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jaunich, Frau Fuchs , Egert, Lutz, Glombig, Hauck, Kirschner, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gewährleistung der Weiterbildung der Hausärzte in der kassenärztlichen Versorgung (Hausärzte-Weiterbildungsgesetz)
— Drucksache 10/1755 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 12 und 13 und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Sind Sie mit dieser Regelung einverstanden'? — Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat Frau Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Durch das Vierte Gesetz zur Änderung der Bundesärzteordnung soll die ärztliche Ausbildung verbessert werden. Seit Jahren wird von allen Beteiligten beklagt, daß die praktische Ausbildung im Medizinstudium in hohem Maße unzureichend ist. Unsere jungen Ärzte sind theoretisch gut, aber keinesfalls auch praktisch so ausreichend qualifiziert, daß sie die Befähigung besitzen, ihren Beruf, wozu sie die Approbation als Arzt berechtigt, eigenverantwortlich und selbständig auszuüben.
Das liegt vor allem daran, meine Damen und Herren, daß wir eine extrem hohe Zahl von Medizinstudenten haben. Die Zahl der Studienanfänger hat sich seit 1970 mehr als verdoppelt, liegt in den letzten Jahren bei über 11 000 und steigt immer noch an. Zwangsläufig haben sich unter diesen Umständen die Möglichkeiten für den praktischen Unterricht und die praktische Unterweisung im Medizinstudium immer mehr verrringert. Es wäre illusorisch, zu erwarten, daß sich hieran Wesentliches ändern ließe.
Es ist höchste Zeit, die praktische Befähigung der Ärzte zu verbessern, um drohenden Gefahren für die ärztliche Versorgung und unerträglicher Belastungen unseres Systems der sozialen Sicherung entgegenzuwirken. Ärzte, die den Anforderungen einer qualifizierten ärztlichen Versorgung nicht gewachsen sind, können zu einem erheblichen Risiko für den einzelnen Patienten und für die Volksgesundheit werden. Untragbare Kostensteigerungen können eintreten, wenn sie in ihrer verständlichen Unsicherheit falsche oder unangemessene teure Behandlungsmethoden anwenden.
Es muß schnell gehandelt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn wir das Ziel erreichen wollen, die praktische Befähigung aller Ärzte nachhaltig zu verbessern, gibt es keine Alternative zu dem im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Weg der Einführung einer im Anschluß an das sechsjährige Medizinstudium abzuleistende zweijährige Praxisphase. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß umfassende Verbesserungen im Medizinstudium wegen der hohen Zahl der Medizinstudenten nicht möglich sind.
Künftig würde es wegen der hohen Zahl der Ausbildungsabsolventen nur noch einem Teil der Ärzte möglich sein, nach dem Studium eine Stelle als Assistenzarzt zu finden. Die übrigen müßten sich notgedrungen ohne jede praktische Erfahrung in freier Praxis niederlassen. Wenn die Vorbereitungszeit für den Kassenarzt ausläuft, gibt es insoweit nicht einmal mehr Hürden für den Zugang zur Kassenpraxis. Diese Entwicklung zwingt dazu, sicherzustellen, daß alle Ärzte die notwendige Qualifikation im Rahmen ihrer Ausbildung erwerben können.
Das Ziel einer ausreichenden Befähigung aller Ärzte wäre nicht über den Weg erreichbar, den der von der Fraktion der SPD eingebrachte, heute ebenfalls zur ersten Lesung anstehende Entwurf eines Hausärzte-Weiterbildungsgesetzes vorsieht. Mir liegt die Verbesserung der primärärztlichen Versorgung sicherlich ebenso sehr am Herzen wie den Kollegen der SPD, die hinter diesem Entwurf stehen. Dieses Ziel kann aber auf dem von der Bundesregierung beschrittenen Weg auch und, wie ich meine, besser erreicht werden.
Mit allem Nachdruck muß ich deshalb feststellen, daß mit dem Modell, das der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion vorsieht, in keiner Weise der Notwendigkeit Rechnung tragen wird, allgemein beste-
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Parl. Staatssekretär Frau Karwatzki
hende Ausbildungsdefizite abzubauen. Es liegt auch auf der Hand, daß durch eine Lösung, die für die Zulassung als Kassenarzt für eine allgemeinmedizinische Praxis eine abgeschlossene Weiterbildung zum Allgemeinarzt voraussetzt, nicht nur keine Verbesserung, sondern eine erhebliche Verschlechterung der primärärztlichen Versorgung bewirkt würde.
— Herr Egert, Sie dürfen auch gleich. — Bekanntlich sind die Weiterbildungsstellen in der Allgemeinmedizin so knapp, daß nicht annähernd so viele Allgemeinärzte herangebildet werden können, wie sie für eine ausreichende Versorgung im Bereich der Allgemeinmedizin gebraucht werden.
Was sollte im übrigen mit den Ärzten geschehen, die keine Weiterbildungsmöglichkeit finden? Sollte nur noch wenigen der Zugang zur Kassenarztpraxis offenstehen, obwohl wegen der steigenden Zahl der Ärzte auch die Möglichkeiten für eine Tätigkeit in Krankenhäusern oder anderen Einrichtungen beschränkt sein werden? Auch dieses Problem müssen wir sehen.
Wir müssen an die vielen jungen Menschen denken, die sich in der Erwartung eines beruflichen Unterkommens einem langwierigen Studium unterziehen. Meine Damen und Herren, es muß schon verblüffen, daß sich eine Partei wie die SPD, die laufend den Abbau von Privilegien predigt, für Regelungen einsetzt, die zwangsläufig dazu führen würden, daß nur einem Teil der jungen Ärzte der Zugang zu einer auskömmlichen beruflichen Existenz offensteht. Auch aus dieser Sicht darf es nur eine Lösung geben, die die Zielsetzung hat, alle Ärzte ausreichend auszubilden. Dies sieht der von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf vor.
Auch der Bundesrat begrüßt die Einführung der zweijährigen Praxisphase. Er hat auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die mit der Bereitstellung von 24 000 Stellen für Ärzte im Praktikum verbunden sind. Die Bundesregierung ist sich dieser Schwierigkeiten bewußt, hält sie aber bei einem gemeinsamen Einsatz aller Verantwortlichen für lösbar.
— Das ist richtig. Die Verbände, die an der Bereitstellung der Stellen entscheidend mitwirken, haben zugesichert, sich mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln dafür einzusetzen, daß die Voraussetzungen für die Durchführung der Praxisphase geschaffen werden. In dem mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Verbänden der gesetzlichen Krankenversicherung, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Bundesärztekammer abgestimmten Text der Begründung zum Gesetzentwurf zur Frage der Bereitstellung der Stellen sind diese Zusicherungen eingegangen. Sie sind eine entscheidende Grundlage für die weiteren Absprachen, für die sich die Bundesregierung einsetzt.
Die vielen Gespräche, die wir über die Praxisphase geführt haben, waren stets von der fachlichen Überzeugung bestimmt, daß heute die weitgehende Berechtigung, die die Approbation als Arzt beinhaltet, nur noch über eine zweijährige Praxisphase nach dem Medizinstudium verantwortet werden kann. Angesichts einer großen Bereitschaft bei Institutionen und Verbänden, die zweijährige Praxisphase zu realisieren, wäre es verfehlt, auf eine kürzere Dauer der Tätigkeit als Arzt im Praktikum zurückzugehen. Das schließt nicht aus, daß man den Vorschlag des Bundesrates, für eine Übergangszeit die Dauer der Praxisphase auf 18 Monate zu beschränken, aufgreift. Eine stufenweise Einführung erleichtert sicherlich die Bereitstellung der endgültig erforderlichen 24 000 Stellen für Ärzte im Praktikum.
Das Gesetz sollte so bald wie möglich verabschiedet werden. Wir brauchen eine schnelle Entscheidung des Gesetzgebers, damit die Praxisphase, die erstmals 1987 anlaufen soll, rechtzeitig vorbereitet werden kann. Stellen können erst geschaffen werden, wenn die geplante Regelung Gesetz geworden ist.
Die Verbesserung der ärztlichen Ausbildung ist eine vorrangige Aufgabe aller Beteiligten. Unsere Bemühungen dürfen sich nicht auf die Einführung der Praxisphase beschränken. Auch die Ausbildung im Studium sollte im Rahmen des Möglichen verbessert werden. Hierauf zielt die Fünfte Verordnung zur Änderung der Approbationsordnung für Ärzte, die zur Zeit vorbereitet wird. Sie ist vor allem auf eine Intensivierung der praktischen Ausbildung im Studium und auf Verbesserungen im Prüfungswesen ausgerichtet.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich habe mich an den Text gehalten, allerdings etwas schneller geredet, weil der Parlamentarische Geschäftsführer mich gebeten hat, in unser aller Interesse eben das zu tun, damit wir anschließend etwas eher nach Hause gehen können.
Das Wort hat der Abgeordnete Egert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Karwatzki, ich bestätige Ihnen gern, daß Sie schnell geredet haben. Nur war das, was Sie gesagt haben, deswegen nicht unbedingt überzeugender, weil Sie schneller geredet haben. Wir werden in der Ausschußberatung Gelegenheit haben, den einen oder anderen Aspekt der Gesetzentwürfe, die hier in verbundener Debatte diskutiert werden, zu vertiefen. Auf ein paar Punkte will ich bereits jetzt eingehen, damit wir hinsichtlich der Motive, die zu den unterschiedlichen Regelungen geführt haben, keine Legenden weben.1969 und 1971 war der Bundestag gemeinschaftlich der Auffassung, daß er mit der Regelung der ärztlichen Ausbildung den Stein der Weisen unter dem Gesichtspunkt einer praxisnäheren Ausbildung gefunden habe. Das war 1969 und 1971 unsere
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6537
Egertgemeinsame Auffassung. Nun sind wir durch Erfahrung allesamt klüger geworden, und wir versuchen, diesen stärkeren Praxisbezug in der Ausbildung zu erweitern. Dabei gehen wir unterschiedliche Wege.Diese Wege sind tatsächlich dringend notwendig, nicht nur für diejenigen, die ausgebildet werden sollen, sondern auch für diejenigen, die sich in die Hände einer Ärztin oder eines Arztes begeben, nämlich die Patienten. Die Frage, inwieweit ein Arzt nach den gegenwärtig geltenden Ausbildungsbestimmungen in der Lage sein kann, die Menschen ordnungsgemäß zu versorgen, hat doch wesentlich mit der Frage zu tun, was er mit seiner Approbation macht: ob er sich unmittelbar nach seinem Studium niederlassen will, d. h. ohne jede weitere praktische Erfahrung auf die Menschheit losgelassen wird, oder ob er die Zeit nutzt, sich einer Weiterbildung im Krankenhaus zu unterziehen, um dort im Kontakt mit anderen Ärztinnen und Ärzten praktische Erfahrungen zu gewinnen.Die Qualität der Ärzte, die gegenwärtig auf die Patienten losgelassen werden, ist also unterschiedlich. Wir müssen daran interessiert sein, die Qualität zu vereinheitlichen.Einer der Gesichtspunkte, die zu dem Gesetzentwurf der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion geführt haben, ist, daß wir gesagt haben: Wir wollen den niederlassungswilligen Teil der frischgebackenen Mediziner in die Lage versetzen, qualifizierte Arbeit leisten zu können. Mit dem Hausärzte-Weiterbildungsgesetz haben wir uns für den Weg entschieden, als zusätzliche Qualifikation für die Zulassung zum Kassenarzt obligatorisch die Absolvierung einer Weiterbildungspflicht vorzusehen.Dies ist keine quantitative Beschränkung, Frau Kollegin Karwatzki, sondern es ist eine qualitative Anforderung, die wir an einen zur Kassenpraxis zugelassenen Arzt stellen.
Eine solche Regelung ist auch angesichts der Kompetenzverteilung, die wir im Gesundheitswesen zwischen Bund und Ländern haben, unumstritten; denn die Zuständigkeit des Bundes für das Kassenarztrecht ist eindeutig.Wir nehmen dabei in Kauf, daß ein Teil der niederlassungswilligen Ärzte, der nicht in die Kassenpraxis strebt, der also ausschließlich eine Privatpraxis betreiben möchte, sich ohne Weiterbildung niederlassen kann. Hier verweise ich allerdings darauf, daß diesem Teil der Ärzteschaft — insofern stimmt auch Ihr anderes Argument nicht, Frau Kollegin Karwatzki — nach den landesrechtlichen Bestimmungen der Weg zur Weiterbildung über die freiwillige Entscheidung ohnehin offenbleibt.Meine Damen und Herren, vor allem die Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion haben sich mit unserem Gesetzentwurf beschäftigt und ihn heftig kritisiert. Unserem Lösungsvorschlag wird vorgeworfen, wir vermischten bundes- und landesrechtliche Kompetenzen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Mit unserem Entwurf werden Kompetenzvermischungen ausdrücklich vermieden, weil wir uns auf das Kassenarztrecht beschränken, das verantwortlich vom Bund zu regeln ist.
— So ist es.Die FDP-Kollegen haben uns weiter vorgeworfen, unsere Lösung sei verfassungsrechtlich bedenklich. Verfassungsrechtlich bedenklich ist in dieser Republik schon fast alles. Wenn dieser Vorwurf kommt, muß man ihn ernst nehmen. Es wird gesagt, unsere Lösung sei verfassungsrechtlich bedenklich, weil die Pflichtweiterbildung für die kassenärztliche Tätigkeit die Ausübung des Berufs als Kassenarzt mit einer bisher freiwillig zu erwerbenden Qualifikation verknüpfe.Auch dieser Vorwurf geht in die Irre. Die Ausübung des Berufs als Kassenarzt ist bereits heute keinesfalls mit einer bisher freiwillig zu erwerbenden Qualifikation verknüpft. Wenn sich z. B. ein chirurgisch tätiger Arzt als Kassenarzt niederlassen will, hat er die Pflicht, vorher eine Weiterbildung zum Chirurgen abzuleisten. Sonst kann er sich nicht als Chirurg niederlassen.
Diese Regelung gilt für alle medizinischen Bereiche. Für einen Bereich gilt sie nicht, nämlich für den Bereich der Allgemeinmedizin. Nun habe ich in vielen Sonntagsreden gehört, daß man den Bereich der Allgemeinmedizin und den bewährten Hausarzt stärken will. Aber ausgerechnet in diesem Bereich wollen wir diese Ausnahme weiter gelten lassen. Wir sagen, daß in dieser Regelung kein Sinn liegt. Wieso verlangen wir denn von einem Arzt, der sich mit einem medizinischen Teilbereich befaßt, etwa von einem Augenarzt, eine mehrjährige Weiterbildung, während wir einen Arzt, der sich mit der medizinischen Gesamt- oder Basisversorgung der Menschen befaßt, von dieser Anforderung freistellen? Wenn wir wollen, daß die allgemeinmedizinisch tätigen Ärzte keine Ärzte zweiter Wahl sind, dann müssen wir verhindern, daß sie eine mindere Ausbildung erhalten. Diesem Anspruch genügen wir aber nicht, wenn wir sie als einzige Arztgruppe von einer pflichtgemäß zu erwerbenden Weiterbildungsqualifikation ausschließen.Eine weitere Bestimmung unseres Gesetzentwurfs hat Kritik hervorgerufen. Dies ist unser Vorschlag, die Zulassung als Kassenarzt künftig mit dem 65. Lebensjahr erlöschen zu lassen. Ich verstehe in dem Zusammenhang die Aufregung nicht. Da streiten wir hier in diesem Haus bei der Vorruhestandsregelung für Arbeitnehmer darüber, ob sie mit 59, 58 oder 57 Jahren in den Ruhestand gehen sollen, damit zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden, und bei einer Gruppe, die immerhin zu den Spitzenverdienern in unserem Land zählt, soll es ein Sakrileg sein, eine Altersgrenze von 65 Jahren einzuführen.
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EgertIch finde, daß wir uns im Interesse der nachwachsenden Ärzte und auf dem Hintergrund der zu erwartenden Ärzteschwemme durchaus damit befreunden sollten, auch für diesen Arztberuf eine Altersgrenze einzuführen. Dabei geht es auch wieder um den Kassenarzt. Herr Kollege Cronenberg, Sie haben in einer Presseerklärung gesagt, daß die Freiberuflichkeit keine Altersgrenze kennt.
Das ist wohl wahr. Nur: Die Freiberuflichkeit bezieht sich auf die Ausübung des Berufs als niedergelassener Arzt. Die Aufgaben und Pflichten des Kassenarztes sind eine völlig andere Frage.
Wir schlagen keine Altersgrenzen für niedergelassene Ärzte vor. Wer unseren Vorschlag mit dem Hinweis bedenkt, mit einer solchen Altersregelung träfen wir genau jene Berufsgruppe, die wir doch eigentlich fördern wollten, nämlich die Allgemeinärzte und die praktischen Ärzte, dem entgegne ich: Der hat den Gesetzentwurf schlicht nicht gelesen. Dort steht ausdrücklich, daß wir Ausnahmen von der 65-Jahre-Regelung dann wollen, wenn die Versorgung der Patienten dies erforderlich macht.Gestatten Sie mir, Frau Kollegin Karwatzki, noch ein paar Worte zur Vierten Novelle der Bundesärzteordnung. Wir können den Vorschlag der Bundesregierung nicht akzeptieren. Wir lehnen vor allen Dingen die neu vorschlagene Ausbildungsphase „Arzt im Praktikum" ab. Dabei sind wir uns sehr wohl bewußt, daß die Bundesregierung ihren Vorschlag in der Absicht unterbreitet hat, mit dieser neuen Ausbildungsphase einen stärkeren Praxisbezug zu erreichen.Nur: Wer dies wirklich will, darf sich nicht darauf beschränken, lediglich zwei Jahre zusätzliche Ausbildung zu verlangen. Er muß sagen, was an Ausbildungsinhalten in diesen zwei Jahren vermittelt werden soll. Eine Verlängerung der Ausbildung um zwei Jahre ohne Festlegung der Ausbildungsinhalte ist ein rein formaler Vorgang, dessen Sinn wir nicht einsehen können.
Hinzu kommt: Wer sagt, die Ausbildung müsse um zwei Jahre verlängert werden, muß auch sagen, wie und wo er die dafür erforderlichen Ausbildungsplätze bereitstellen will. Auch hier bleibt der Regierungsentwurf die Antwort schuldig. Die bisherigen Beratungen im Bundesrat haben gezeigt, daß weder die Länder noch die ärztlichen Körperschaften in den Ländern bereit oder in der Lage sind, die erforderliche Anzahl der Ausbildungsplätze zu gewährleisten. Diese Garantie ist doch wohl erforderlich, wenn wir nicht wollen, daß ein Medizinstudent oder eine Medizinstudentin seine oder ihre Ausbildung beginnt und im weiteren Verlaufe dieser Ausbildung erfährt, daß ihr oder ihm kein Platz für die praktische Ausbildung zur Verfügung gestellt werden kann. Dies heißt doch, auf dem Rücken der dort Auszubildenden die Probleme zu verschieben und sie so auch nicht zu lösen. Hier wird ein Wechsel zu Lasten Dritter gezogen.
Die Bundesregierung will, daß ihn die Länder einlösen. Die Länder sagen, sie wissen nicht, wie sie es tun können. Ich halte das für eine sehr offene Regelung, die keinesfalls das Problem löst.Gestatten Sie mir noch einen abschließenden Hinweis. Wir registrieren gerade im Zusammenhang mit dem Lösungsversuch der Bundesregierung die Stellungnahme der Fachkreise, inbesondere die der Bundesärztekammer. Dort wird offensichtlich so getan, als sei mit dieser neuen zweijährigen Ausbildungsphase das Weiterbildungsproblem für Allgemeinmediziner gelöst. Dies kann allerdings nur glauben, wer nicht sieht, daß sich die Bundesärztekammer hinter der Bundesregierung versteckt, um ihre standespolitischen Interessen mit Hilfe der Bundesregierung durchzusetzen.
Herr Abgeordneter, ich bitte, zum Schluß zu kommen.
Ich komme zum letzten Satz: Wir werden nicht zulassen, daß diese Absicht erfolgreich verfolgt wird, und werden die Bundesärztekammer an ihre Beschlüsse der letzten Ärztetage erinnern.
Ich bedanke mich für Ihre geduldige Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich habe selten so viel Harmonie hier in diesem Parlament erlebt wie in den letzten zehn Minuten. Aber wenn man irgendwelche Erfrischungen genießt, trägt das wohl dazu bei, daß die Zwischenrufe verhältnismäßig gering werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Faltlhauser.
Einigkeit ist schön, meine Damen und Herren, insbesondere wenn der Abend sich neigt. Einig sind wir — das will ich noch einmal festhalten — in der Diagnose. Eine zu große Zahl von Studenten hat die Konstruktion der bestehenden Approbationsordnung untauglich gemacht. Das Ergebnis ist ein Defizit der jungen Ärzte an Praxiskenntnissen.Ein ausgewachsener Gynäkologe, eine Kapazität, hat mir erst kürzlich erzählt, daß viele der jungen Ärzte nicht einmal die Geburt eines Kindes miterlebt haben, geschweige denn, daß sie bei der Geburtshilfe assistiert hätten.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6539
Dr. FaltlhauserBei jedem, der Auto fahren will, verlangen wir vernünftigerweise eine Vielzahl von Praxisstunden. Beim Arzt begnügen wir uns gewissermaßen mit dem Nachweis, daß er die Verkehrsregeln kennt und weiß, wo der vierte Gang ist.Die Wege, die die SPD auf der einen Seite und die Bundesregierung und die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf der anderen Seite einschlagen wollen, sind sehr unterschiedlich.Der SPD-Entwurf hat mit seiner Pflichtweiterbildung beim ersten Hinsehen sicherlich etwas Reizvolles. Wenn ohnehin schon fast zwei Drittel freiwillige Weiterbildung machen, müßte man für das letzte Drittel durch gesetzliche Verpflichtungen einen Weg weisen, um das Problem der praktischen Qualifizierung sicherzustellen. „Pflichtweiterbildung" heißt es so schön. Das ist insbesondere deswegen eine anscheinend elegante Lösung, weil die EG so etwas ähnliches vorgeschlagen hat.
Dagegen stehen aber unsere Bedenken. Verfassungsrechte haben Sie, Herr Kollege Egert, ganz elegant weggewischt; das interessiert Sie nicht. Ich will mich hier nicht darauf kaprizieren. Ich meine, es sind ernsthafte Bedenken.Ich will vor allem auf ein praktisches Bedenken hinweisen, Herr Kollege Egert. Wir würden durch das SPD-Gesetz nicht mehr Allgemeinärzte in unserem Land bekommen, sondern weniger.
Das Verhältnis der Gebietsärzte zu den Allgemeinärzten ist heute grob 60 : 40. Ich nehme an, daß wir uns auch hier einig sind, daß 50 : 50 die bessere Relation wäre. Dieses Ziel werden wir jedoch mit Ihrer Pflichtweiterbildung nie erreichen, da die entsprechenden Weiterbildungsplätze einfach nicht vorhanden sind. Sie sprechen vom Kapazitätsproblem des Entwurfs der Regierung. Sie haben in Ihrem Entwurf ein massives Kapazitätsproblem, mit dem Sie mit Sicherheit Schiffbruch leiden würden.Sie haben einen zweiten Vorschlag in Ihrem Gesetz, und damit zielen Sie auf die 65jährigen Ärzte. Der Arzt soll also mit 65 seinen weißen Kittel ausziehen, damit sein Platz für die vielen nachdrängenden Jungen frei wird.
Fabelhaft, so einfach ist das! Man muß nur einen Paragraphen in der RVO ändern, und dann kann man ganze Bevölkerungsgruppen auf dem Schachbrett der Politik verschieben.
7 700 niedergelassene Ärzte über 65 Jahre gibt es gegenwärtig; das sind 12,9% der niedergelassenen Ärzte. Sie wollen sie also ohne Ansehen ihrer Qualifikation, ihrer Rüstigkeit, ihrer persönlichen Erfahrung und ihrer persönlichen Lebensplanung in den Schaukelstuhl des Ruhestandes versetzen. HerrEgert, Sie sagen: Wir wollen ihnen ja nur die Kassenzulassung entziehen. Sie entziehen ihm dadurch die Grundlage seiner Existenz! Dadurch ist er seinen freien Beruf los. Das ist doch nur ein Spiel mit Worten. Haben Sie denn nicht überlegt, daß Sie dadurch den freien Beruf in seiner Qualität angehen? Sie, Herr Egert, vergleichen das hier an diesem Pult mit der Vorruhestandsregelung. Die Vorruhestandsregelung gilt eben nur für Angestellte, und hier handelt es sich um den Beruf eines Arztes, und dieser Beruf ist ein freier Beruf!
Haben Sie sich auch überlegt, daß viele Bürger den älteren, erfahrenen Ärzten oft mehr Vertrauen als dem jungen entgegenbringen, der frisch von der Massenuniversität kommt? Haben Sie auch berücksichtigt, daß einige Versorgungswerke erst mit dem 67. Lebensjahr einsetzen? Sie wollen die Betroffenen wohl zwei Jahre zum Stempeln schicken!Ich halte Ihren Vorschlag für eine rücksichtslose Fallbeilmethode, die rechtlich nach unserer Auffassung nicht haltbar und gesundheitspolitisch nicht erwünscht ist.
Herr Egert, Ihr Parteivorsitzender hat erst vor mehr als einem Jahr seinen 70. Geburtstag gefeiert. Legen Sie ihm doch einmal diesen Vorschlag vor und erläutern Sie ihn ihm! Was für Ärzte für möglich gehalten wird, ist doch für Politiker nicht undenkbar.
Ich glaube, daß er nicht besonders begeistert sein wird.Wir sollten es, meine Herren von der SPD, den Ärzten und ihrer Selbstverwaltung überlassen, ihren Generationswechsel punktuell schneller zu gestalten. Wir sollten auch nicht immer so reglementieren und alle über einen Kamm scheren. Sie müssen auch berücksichtigen: Unter jenen, denen Sie die Existenzgrundlage entziehen würden, sind vor allem Allgemeinärzte. 20% aller über 65jährigen Ärzte sind Allgemeinärzte. Den Landarzt wollen Sie also in den Zwangsruhestand schicken; gerade auf dem Land draußen werden wir dann erhebliche Versorgungslücken haben.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung scheint uns der richtige Weg zu sein, diese Kapazitätsengen zu lösen.
Wir sind der Bundesregierung dankbar, daß sie so zügig gearbeitet und bereits zur Halbzeit dieser Legislaturperiode einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt hat. Bereits 1977 hat — ich darf daran erinnern — die Konzertierte Aktion unter beifälligem Nicken der damaligen Regierung gesagt: Es muß schnell etwas geschehen! Passiert ist bis 1982, bis die neue Bundesregierung kam, gar nichts.6540 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984Dr. Faltlhauser
Rede von: Unbekanntinfo_outline
die Grundkonstruktion für den Arzt im Praktikum findet unsere Zustimmung, die Grobstrukturierung ebenfalls sowie auch und vor allem die Möglichkeit der Anrechnung auf die freiwillige Weiterbildung. Dazu sagen wir ausdrücklich ja. Dabei gehen wir aber von einer Mindestanrechnung von etwa einem Jahr aus und hoffen, daß bei den Allgemeinärzten — das ist dann landesrechtliche Ausfüllung — u. U. sogar die gesamte Zeit angerechnet werden kann.
Drei kurze Anmerkungen zu Hauptproblemen will ich noch machen.
Erstens. Die Verlängerung der Ausbildung der Ärzte soll und kann nicht Maßstab und Beispiel für eine Verlängerung der Ausbildung in anderen Studien- und Lehrbereichen sein. Das Draufsatteln der AiP-Zeit auf das Universitätsstudium ist gewissermaßen eine Notmaßnahme auf Grund des Ansturms der Studenten auf das Medizinstudium. 50 Studenten pro Blinddarm sind halt einfach zuviel! Wir dürfen es aber nicht zum Prinzip erheben, daß qualitative Probleme jeweils durch quantitative Lösungen, wie hier durch das Draufsatteln, gelöst werden. Ich halte es für eine höchst besorgniserregende Entwicklung, daß die Ausbildungszeiten unten immer länger werden, und daß am Ende des Arbeitslebens die Pensionsgrenze immer weiter heruntergefahren wird. Nicht nur, daß wir auf die Schultern der arbeitenden Bevölkerung immer mehr Soziallasten aufladen; wir machen diese Schultern auch noch schmächtiger! Dies sollten wir insgesamt beachten, und vor diesem Hintergrund meine ich, daß wir in der Lage sein müßten, dann, wenn der Studentenberg zurückgegangen ist, die gesamten Ausbildungszeiten auch wieder zur Diskussion zu stellen; vielleicht kann man sie dann wieder reduzieren.
Zweitens. Die Diskussion über die Zeit als Arzt im Praktikum darf nicht den Blick von der Organisation der Studiengänge ablenken. Die Frau Staatssekretärin hat das schon gesagt, und sie hat dabei auf die Approbationsordnung verwiesen. Bei der Approbationsordnung geht es um eine grobe Strukturierung des Studiums. Ich will einen Schritt weiter gehen und sagen: wenn der Gesetzgeber bei der Neuordnung des Studiums der Mediziner und die Regierung mit der Approbationsordnung ihre Pflicht getan haben, sind aber auch die Universitäten dran, ihrereits zu entrümpeln und die Grundbedingungen für das Studium im Jahre 2000 zu schaffen.
Drittens zum Kapazitätsproblem. Wir begrüßen ausdrücklich den Kompromißvorschlag des Bundesrates für eine Übergangszeit von 18 Monaten. Damit ist die Kapazitätsfrage sicher leichter zu lösen. Frau Staatssekretärin, wir werden zu diskutieren haben, ob diese 18 Monate als Dauerlösung geeignet sind.
Meine Damen und Herren, das Vertrauen in die Qualität der Ärzte ist eine wesentliche Säule des Zutrauens der Bevölkerung
in die ausbildenden Institutionen und in die Verläßlichkeit der gesetzlichen Vorgaben. Wir reden immer von der „Betroffenheit" der Bürger. Hier sind die Bürger wirklich sehr persönlich und unmittelbar betroffen. Ich glaube, dies verpflichtet uns, gerade dieses Gesetz besonders sorgfältig und sachgerecht zum Wohle der Bürger und ihrer Gesundheit zu diskutieren.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Bard.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Arme Kranke!
Angesichts des vorliegenden Entwurfs der Regierung zur Bundesärzteordnung fragt man sich langsam, ob diese Regierung überhaupt noch vor irgendwelchen Verschlechterungen zurückschreckt. Wie kann sich ein Minister derart über Bedenken der Betroffenen — und an diesem Gesetz ist sowohl von den Medizinstudenten als auch vom Fakultätentag, also von den Ausbildern, massiv Kritik geübt worden — hinwegsetzen und hier ohne Not einen Entwurf vorlegen, der sein Ziel der Verbesserung der ärztlichen Ausbildung absolut gründlich verfehlt? Der vorliegende Entwurf ist ein Musterbeispiel dafür, daß politisches Handeln so gesehen wird: Auf bestehende Probleme wird mit Flickwerk reagiert, und unter dem Strich kommt gar noch eine Verschlechterung gegenüber den jetzigen Zuständen heraus.
Seit vielen Jahren gibt es das Problem, daß sowohl die Hochschullehrer als auch die Studenten darüber jammern, daß in den Studiengang viel zuwenig Praxisbezug eingebaut ist. Das gilt für die Medizinstudenten, das galt auch für meinen Studiengang, der dem verwandt ist. Wir wissen über diese Problematik schon seit langem. Die jetzige Ausbildung kann nicht das Notwendige an Erfahrungen liefern, die ein junger Arzt braucht, um verantwortungsvoll seine Tätigkeit ausüben zu können.Das Problem ist aber doch nicht jetzt irgendeine Verlängerung des Studiums, um den Praxisbezug hintenanzuhängen. Wir müssen doch nachdenken über die Inhalte der Medizinerausbildung als Ganzes und über die Heranführung der Ausbildung der Studenten an die Praxis. Wenn wir so wie jetzt die Qualifizierung von jungen Ärzten dahin verstehen, daß wir sie in Multiple-choice-Verfahren, nach theoretischen Kenntnissen von Anatomiewissen abfragen — Psychosomatik wird dann noch aufgesetzt —, dann werden wir da niemals eine Besserung erreichen. Sollten wir nicht endlich zur Kenntnis nehmen, daß der Mensch mehr ist als die
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Frau Dr. BardSumme biochemischer Vorgänge, daß er auch ein soziales und kulturelles Wesen ist und daß wir entsprechend unsere Mediziner darauf einstellen müssen?
Die Menschen in unserem Land sind nicht gesünder geworden. Das Vertrauen in die medizinische Versorgung, in die Ärzte heute ist aber geschwunden.
— Früher waren sie auch nicht gesund. Aber es wird immer behauptet, heute seien sie gesünder. Das ist eine Lüge. Die Menschen leben heute auch nicht länger. Die Lebenserwartung ist nur deswegen gestiegen, weil die Säuglingssterblichkeit heruntergegangen ist. Wenn Sie sich die Lebenserwartung von jemandem angucken, der heute 30 ist, dann ist es gar nicht anders als früher. Sie müssen bloß die Statistiken richtig lesen.
Der Arzt ist heute zunehmend degradiert worden zu einem Anwender von Geräten und zu einem Verschreiber von Pillen. Was wir uns vorstellen — das ist wohl auch das, was die Medizinstudenten sich gedacht haben —, ist ein zunehmendes Nachdenken über die Inhalte ihrer Ausbildung selber. Da sehen wir allerdings schon eine Verschlechterung im Regierungsentwurf, weil dieses Nachdenken über die Ausbildung selber den Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis geradezu voraussetzt. Diesen Entwicklungsgang blockiert der vorliegende Entwurf.Der Minister hat gesagt, die Einbeziehung weiterer Kliniken zur praktischen Ausbildung der Studenten innerhalb des Studiums sei zu teuer. Die hier vorgeschlagene zweijährige Zeit des Arztes in Praktiken ist aber nicht kostenneutral. Die Durchführung dieser Gesetzesvorlage ist überhaupt nicht garantiert. Sie haben vorhin selber gesagt, daß Sie zwar darauf hoffen, daß die beteiligten Institutionen das durchführen werden. Woher aber die Praktikantenstellen kommen sollen, wenn sie überhaupt nichts kosten dürfen, das wird man hier doch noch einmal fragen dürfen.
— Das ist nett.Vorgesehen war zunächst eine Halbierung von Assistentenstellen an den Krankenhäusern. Inzwischen redet man von Drittelung der Stellen. Das heißt, diese einzelnen Praktikanten würden dann noch 100 bis 1 000 Mark im Monat kriegen, und das als ausgebildete Menschen. Das muß man sich mal überlegen. Das geht wohl nicht.Und wer soll diese Praktikanten eigentlich betreuen? Wie stellen Sie sich die Situation in den Krankenhäusern vor, wo jetzt schon die Assistenten ausgelastet sind und so viel Nachtdienst machen müssen? Praktikanten dürfen keine Nachtdienste machen. Der Wegfall von Assistentenstellen hieße, daß noch mehr Nachtdienste auf weniger Ärzte zukommen. Da wünsche ich Ihnen, Frau Staatssekretärin, nicht, daß Sie als Kranke dann einem Arzt zur Behandlung übergeben werden, der gerade einen solchen Dienst rund um die Uhr hinter sich hat.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser? — Bitte sehr!
Frau Kollegin, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß es sich hier nicht um Praktikanten handelt, sondern um einen voll ausgebildeten Arzt, der natürlich alle Tätigkeiten nur unter Aufsicht vornehmen kann? Dadurch fällt Ihre ganze Argumentation zusammen.
Wenn der Arzt, wie wir jetzt bemängelt haben, in der Studienzeit nicht die notwendige Praxis hat, so wollen Sie ihn Nachtdienst machen lassen und ihm allein auf einer großen Station Patienten anvertrauen, ohne daß er Hilfe hat? Er soll die Praxis erst lernen! Wo bleibt denn die Betreuung?
Ich werde überhaupt den Verdacht nicht los, daß es sich bei diesem Entwurf um ein Nachgeben gegenüber der Standesorganisation der Ärzte handelt.
— Einen vernünftigen Grund dafür kann es nicht geben. — Die wollen durch die Verlängerung der Ausbildung Menschen vom Studium abschrecken und mit dem Engpaß bei den Praktikantenstellen noch zusätzlich Konkurrenz vom Hause fernhalten. Angesichts voller Wartezimmern in unseren Arztpraxen sollte eine Regierung solchen Tendenzen nicht nachgeben.
— Gleich sage ich Ihnen noch etwas zu der ideologischen Frage.
Die Medizinischen Fakultätentage, die Fachschaften der Studenten haben sich alle gleichgehend geäußert, haben die Bedenken gegen diesen Gesetzentwurf vorgetragen. Ich verstehe nicht, wie sich eine Regierung dermaßen über die Einwände der Fachleute hinwegsetzen kann. Ich kann mir nur eine Erklärung vorstellen: daß der Minister Geißler inzwischen auch bei ehrenwerten Professoren an unseren Hochschulen Melonenhaftigkeit festgestellt hat, nämlich außen grün und innen rot.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bard, ich frage mich wirklich manchmal, wann es uns in diesem Hause gelingt, daß alle Fraktionen
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6542 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Frau Dr. Adam-Schwaetzereinsehen, daß man politische Probleme auf unterschiedliche Weise lösen kann.
Ich bin da nicht so sicher, an welchen Fraktionen im Hause das liegt. Ich muß Ihnen sagen, daß Intoleranz und das Nichteingehen auf die Vorstellungen anderer mir in besonders massiver Form immer aus Ihrer Fraktion, der Fraktion der GRÜNEN, begegnet.
— Toleranz liegt nicht an den Gegenständen, sondern Toleranz ist eine Geisteshaltung, und genau die vermisse ich.
Frau Bard, Sie gingen auf Statistiken und deren Interpretation ein. Ich kann das eigentlich nahtlos an Sie zurückgeben. Daß heutzutage die Menschen länger leben, wird eigentlich von niemandem mehr bestritten. Keiner sagt, daß sie deshalb glücklicher sind, aber sie leben mit Sicherheit länger, und auch das ist zweifellos eine Folge der verbesserten medizinischen Versorgung.
Früher war es üblich, daß ein junger Arzt bis zu fünf Jahren im Krankenhaus arbeitete, bevor er sich niedergelassen hat. Dies passiert heute leider nicht mehr, d. h. die Zeit von der Beendigung des Studiums bis zur Niederlassung wird immer kürzer. Das führt uns besonders deutlich vor Augen, daß wir hier eine Verbesserung vor allen Dingen der praktischen Ausbildung vornehmen müssen, um sicherzustellen, daß die Qualifikation der jungen Ärzte so groß ist, daß sie mit gutem Gewissen und voller Ruhe und Sicherheit an die Behandlung von Patienten herangehen.Deshalb begrüßen wir, daß der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit den Entwurf vorgelegt hat, einen „Arzt im Praktikum" als zusätzlicher zweijähriger Ausbildungsabschnitt einzuführen. Wir wollen, daß die ärztliche Ausbildung verbessert wird, und wir begrüßen es, daß dies vor allen Dingen in der praktischen Ausbildung geschieht. Aber wir halten an einem fest, nämlich daran, daß die Approbation, die nach dieser zweijährigen Zeit „Arzt im Praktikum" erworben wird, dann auch dazu befähigt, sich niederzulassen, d. h. als praktischer Arzt tätig zu werden. Wir bestehen allerdings darauf, daß die Zeit „Arzt im Praktikum" zwei Jahre dauern muß. Es sind aus den Ländern Vorstellungen laut geworden, diese Zeit auf eineinhalb Jahre zu verkürzen. Wir würden das nicht für ausreichend halten.Wir glauben allerdings auch, daß die jetzt nur angedeutete Strukturierung dieser Zeit „Arzt im Praktikum" nicht ausreichen wird.
Wir sind der Meinung, daß wir sehr wohl überlegen müssen, ob nicht eine stärkere Gestaltung dieser zwei Jahre nach Lehrplänen möglich sein wird. Wir werden darüber auch mit den Ländern reden müssen. Denn die Approbationsordnung für Ärzte ist im Bundesrat zustimmungspflichtig. Das heißt: Wir müssen schon dafür sorgen, daß Bund und Länder hier an einem Strick ziehen.Mir erscheint es vor allen Dingen auch deshalb notwendig, diese Zeit stärker nach Lehrplänen zu strukturieren, damit sie auf eine mögliche Weiterbildung anrechenbar wird. Denn das wollen wir mit diesem Gesetzentwurf natürlich auch erreichen: Es soll schon ein Sog auf zusätzliche Weiterbildung ausgebübt werden.Wir sind im übrigen sicher, daß von einer anrechenbaren Zeit „Arzt im Praktikum" ein Sog auf die Weiterbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin ausgeht. Das, meine Damen und Herren von der SPD, macht dann Ihren Gesetzentwurf, gegen den in der Tat eine Menge von Bedenken zu erheben sind, überflüssig. Es macht ihn auch deshalb überflüssig, weil wir, wie gesagt, daran festhalten, daß mit der Approbation die Fähigkeit zur Ausübung der ärztlichen Tätigkeit gegeben sein muß.Ich verhehle nicht, daß es einen weiteren Punkt gibt, den wir im Gesetzgebungsverfahren noch einmal sorgfältig beleuchten müssen, nämlich den, daß nach diesem Gesetzentwurf alle an dieser Zeit „Arzt im Praktikum" teilnehmen müssen, auch die, die später keine Tätigkeit als Arzt ausüben wollen, z. B. Mediziner in der Industrie, die nicht darauf angewiesen sein dürften, eine solche praktische Zeit zu durchlaufen. Eine Änderung dürfte zu einer gewissen Entlastung bei der Vergabe der sicherlich sehr spärlich vorhandenen Plätze für diesen Ausbildungsabschnitt führen. Ich betone aber noch einmal, daß dies natürlich nur für diejenigen möglich wäre, die später keine ärztliche Tätigkeit ausüben würden. Es müßte allerdings sichergestellt sein, daß sie jederzeit die Möglichkeit haben, das später nachzuholen.Meine Damen und Herren, Herr Egert,
Ihr Gesetzentwurf zur Hausärzte-Weiterbildung zeigt sehr deutlich sozialdemokratischen Geist.
Er macht nämlich wieder einmal deutlich, daß Freiberuflichkeit und damit Freiheit für Sie nur einen sehr begrenzten Stellenwert hat.
Ihre haarspalterische und doch sehr scheinheilige Argumentation, daß der Arzt ja noch die Möglichkeit habe, Privatpatienten weiterzubehandeln, macht die ganze Dürftigkeit Ihrer Argumentation deutlich.
Sie wollen eine Zwangspensionierung für Freiberufler. Ich frage mich wirklich: Wann bringen Sie
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Frau Dr. Adam-Schwaetzerhier im Bundestag einen Gesetzentwurf zur Zwangspensionierung von Parteivorsitzenden ein?
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der Bundesregierung wird im Gesetzgebungsverfahren noch sehr gründlich im Hinblick auf weitere Verbesserungen zu diskutieren sein. Aber auf jeden Fall stellt er das Ziel, nämlich eine verbesserte praktische Ausbildung junger Ärzte sicherzustellen, sehr viel eher sicher als alles, was dazu bisher an Vorschlägen von der Opposition gekommen ist.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe zu den Tagesordnungspunkten 12 und 13 an die Ausschüsse vor. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates ersehen Sie aus der Tagesordnung. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 17 a auf:
Beratung der Sammelübersicht 43 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 10/1966 —
Hier liegt Ihnen auf Drucksache 10/2007 ein Änderungsantrag der Abgeordneten Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN vor.
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag von bis zu fünf Minuten Dauer für jede Fraktion vorgesehen worden. Sind Sie mit dieser Regelung einverstanden? — Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Darf ich fragen, ob zur Begründung das Wort gewünscht wird. — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der vorliegenden Petition geht es darum, eine Petition zum Volksentscheid der Regierung als Material zu überweisen oder sie eben als erledigt zu betrachten.Heute morgen in der Beratung des Städtebauförderungsgesetzes hat der Abgeordnete Conradi davon gesprochen, daß bei der Bauleitplanung die Beteiligung der Bürger wichtig sei. Bei Einschränkung dieser Beteiligung würde die Regierung Protest ernten.Die Regierung erntet in der letzten Zeit vor allen Dingen deshalb auf allen möglichen Feldern der Politik massiven Protest, weil die Beteiligung der Bürger am allgemeinen politischen Leben immer noch auf das Kreuz am Wahltag alle vier Jahre beschränkt ist.
Im Grunde genommen stellt der Bürger damit einen Blankoscheck aus, weil dieses Kreuz besagt, daß man damit alles, was die Partei, die man wählt, zu bieten hat, richtig findet — ob einem alles gefällt oder nicht. Daß die Leute viel mündiger sind, als das im allgemeinen von den Parteien angenommen wird, zeigt sich darin, daß in der jüngsten Zeit auch viele Anhänger der Unionsparteien in der Frage der Katalysatoren, in der Frage der Raketen ganz gerne anders gestimmt hätten als die von ihnen gewählte Regierung, wenn sie nur die Möglichkeit bekommen hätten.
Wir finden es darum sehr wichtig, daß nach vielen Jahren die Forderungen des Art. 20 Abs. 2, daß alle Staatsgewalt vom Volke auszugehen hat und der Bürger in Wahlen und Abstimmungen mitbestimmen darf, endlich konkretisiert werden.
Wir sind der Meinung, daß die immer wiederkehrende stereotype Begründung, das Grundgesetz habe Volksabstimmungen und Volksentscheid auf die in den Artikeln 29 und 118 vorgesehenen Plebiszite zur Länderneugliederung beschränkt, auch nicht dadurch richtiger wird, daß sie permanent wiederholt wird. Die Verfassungsmütter und -väter haben zwar darauf verzichtet, Art. 20 Abs. 2 zu konkretisieren, wir als GRÜNE haben das aber keineswegs als bewußt antiplebiszitären Schritt verstanden, wie manche von Ihnen behaupten, auch in den Ausschußberatungen behauptet haben. Die Wahlen und Abstimmungen des Art. 20 Abs. 2 heute zu konkretisieren, ist daher besonders dringlich.Interessant ist für mich, daß im Ausschuß die Mitglieder der anderen Parteien, auch die der SPD, ganz anders gesprochen haben, als sie das in der Öffentlichkeit immer tun.
So hat z. B. der „Sozialdemokratische Pressedienst" am 7. August 1984 ein Plädoyer für den Volksentscheid von Herrn Rawe aus Schleswig-Holstein veröffentlicht. Und der Fraktionsvorsitzende Vogel hat in der Raketen-Debatte gesagt, daß es nötig sei, in der Bundesrepublik endlich plebiszitäre Elemente einzuführen, damit diese Frustration der Bevölkerung aufhöre.
Besonders interessant ist allerdings für mich die Stellung, die die FDP in dieser Debatte immer wieder eingenommen hat. Die FDP hat jahrelang die Forderung nach dem Volksentscheid in ihren Programmen gehabt. Sie steht unter anderem in den Wahlprogrammen der FDP zu den Bundestagswahlen 1980 und 1983, wo es unmißverständlich heißt:
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Frau NickelsEinführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene sind Ziele der FDP.
Wie weit ist es eigentlich — und jetzt möchte ich Ihren Parteifreund Ralf Dahrendorf zitieren — mit der „moralischen Verrottung" Ihrer eigenen Politik gekommen, wenn Sie diese Forderung jetzt verleugnen? Oder ist es bloße Taktik, wenn der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der Aktion Volksentscheid schriftlich abwinkte, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Uwe Ronneburger dagegen mäßig positiv antwortete? Ich bitte Sie von der FDP darum nochmals ganz herzlich: Besinnen Sie sich auf Ihre eigenen Wahlversprechen! Die Wähler könnten es nämlich sonst als einen Beweis von Machtbesessenheit und Doppelzüngigkeit verstehen, wenn Sie diese Forderung einfach über Bord werfen.
Die GRÜNEN werden dafür Sorge tragen, daß über Volksbegehren und Volksentscheid in den nächsten Monaten eine breite Debatte innerhalb und außerhalb dieses Hauses stattfindet.Sollten Sie diese Petition, die wirklich ein Musterbeispiel für eine qualitativ hochstehende Argumentation ist — ich habe selten eine so ausformulierte und differenzierte Petition in Händen gehabt — gleich für erledigt erklären, so bedenken Sie, vor allem Sie von der FDP, bitte, daß Sie sich damit ein Armutszeugnis ausstellen könnten. Sorgen Sie lieber mit dafür, daß diese Petition der Regierung, den zuständigen Bundestagsausschüssen für Inneres und Recht sowie dem gesamten Volk zur weiteren intensiven Beratung überwiesen wird.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Göhner .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Väter unseres Grundgesetzes
haben sich aus guten Gründen für die parlamentarische repräsentative Demokratie entschieden, und dieses System, diese Verfassungsprinzipien haben sich in unserem Land glänzend bewährt.
Deshalb gibt es für uns in Übereinstimmung mit der Enquete-Kommission Verfassungsreform keinen Anlaß, an diesen Prinzipien zu rütteln.
Der konkrete Vorschlag der Petition, ein Bundesabstimmungsgesetz einzuführen und damit auf dem Weg des Volksentscheids eine Gesetzgebung zu ermöglichen, stößt unseres Erachtens sowohl auf verfassungsrechtliche als vor allem auch auf verfassungspolitische Bedenken. Die Gesetzgebung durch Volksentscheid würde bedeuten, daß wir unsere Arbeit in den Ausschüssen beim Erlaß von Gesetzen, wo wir schwierige, komplizierte und vielfältige
Sachverhalte gegeneinander abwägen, wo wir versuchen, Kompromisse zu finden und in einzelnen Formulierungen Verbesserungen herbeizuführen, durch eine einfache Entweder-oder-Alternative des Volksentscheids ersetzen. Die politischen Probleme unserer Zeit lassen sich leider nicht auf solche Entweder-oder-Alternativen reduzieren.
Diese Petition mit dem Begehren, ein solches Gesetz herbeizuführen, stellt einen wesentlichen Eingriff in unsere bisherigen Verfassungsprinzipien dar.
Die Debatte ist nicht neu. Frau Nickels, Sie haben darauf hingewiesen. Wir haben Ende 1983 über einen ähnlichen Sachverhalt hier im Parlament geredet, als Sie einen Gesetzentwurf zur konsultativen Volksbefragung eingebracht hatten. Deshalb ist diese Debatte heute abend eigentlich auch völlig überflüssig; jedenfalls ist sie eine überflüssige Wiederholung der Debatte über diese Prinzipien.
Gleichwohl haben wir uns bemüht, diese Petition völlig normal zu behandeln, wie sich das gehört, obwohl sie natürlich Besonderheiten aufwies, etwa ganzseitige Zeitungsanzeigen in einer überregionalen Zeitung — ich habe mir sagen lassen, weiß aber nicht, ob es stimmt, Herr Beuys habe die finanziert —: „Die Lehre aus dem Raketenbeschluß." Und dann kommt auf einer Seite, übrigens nach meinen Informationen in der „Welt" veröffentlicht, also der Empfänger dieser Anzeige — natürlich sehr bemerkenswert —: Für zigtausend Mark eine solche Petition unterstützt.
Ich möchte Ihnen nur sagen: Wir werden auch in Zukunft Petitionen dieser Art genauso behandeln wie die eines jeden einzelnen Bürgers. Für uns kommt es nicht darauf an, wieviel Geldmittel hinter einer solchen Petition stecken.
In der Sache bot diese Petition keinen Anlaß für eine weitere Maßnahme. Denn der Vorschlag ist verfassungsrechtlich bedenklich und verfassungspolitisch wenig sinnvoll. Wir bleiben daher dabei, diese Petition für erledigt zu erklären.
Das Wort hat der Abgeordnete Meininghaus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Nickels, auch die Sozialdemokratische Partei ist für mehr Bürgerbeteiligung, und zwar immer da, wo es ange-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6545
Meininghausmessen ist. Ich glaube nicht, daß die Petenten einverstanden wären, wenn sie das, was Sie wollen, mit dem vergleichen, was der Herr Conradi heute im Plenum gesagt hat, nämlich: mehr Bürgerbeteiligung beispielsweise beim Zustandekommen von Baumaßnahmen oder Bebauungsplänen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die SPD-Fraktion lehnt den Antrag der Fraktion der GRÜNEN zur Petition der „Aktion Volksentscheid" ab
und unterstützt den Beschluß des Petitionsausschusses.Trotz umfangreicher Ausarbeitungen, die ja auch allen Mitgliedern dieses Hauses zugegangen sind, konnten uns die Petenten nicht von der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit eines Gesetzes zum Volksentscheid überzeugen. Die Arbeitsgruppe der SPD-Fraktion hat sich mehrmals, noch bevor die Petition in zwei Ausschußsitzungen behandelt worden ist, eingehend mit der Problematik eines Volksentscheids befaßt, wobei uns als Rechtsexperten unsere Kollegen Dr. Emmerlich und Dr. Schmude — beide stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion — mit ihrem Rat zur Seite gestanden haben.Nun kann ich mich, meine Damen und Herren, in diesen fünf Minuten Redebeitrag nicht auf verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Analysen einlassen; lassen Sie mich aber die wichtigsten Fakten hier herausstellen.Der Petitionsausschuß erhielt Anfang Januar 1984 von einer Bürgerinitiative aus Achberg-Liebenweiler mit dem Namen „Aktion Volksentscheid" die Forderung nach einem Bundesgesetz zur Ermöglichung von Volksbegehren zum Volksentscheid. Dazu gehörte der Entwurf eines Bundesabstimmungsgesetzes mit Begründung.Es geht also hier nicht um die Volksbefragung jedweder Art oder um das, was auch in der Vergangenheit schon einmal von den GRÜNEN hier im Bundestag als Antrag eingebracht worden ist, sondern es geht um die Forderung, daß in wichtigen Lebensfragen der Nation eine Volksgesetzgebung durch Volksabstimmung erfolgen soll. Es wird die Auffassung vertreten, daß Art. 20 Abs. 2 GG den Gesetzgeber verpflichtet, ein entsprechendes Ausführungsgesetz zu erlassen.
Alle anderen Rechtsauffassungen werden von der „Aktion Volksentscheid" kategorisch abgelehnt.Unsere Arbeitsgruppe dagegen stützt sich bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Eingabe auf die vorherrschende Ansicht im wissenschaftlichen Schrifttum, auf den Schlußbericht der Enquetekommission Verfassungsreform und die Stellungnahme der zuständigen Ministerien. Wir sehen den Begriff „Abstimmungen" in Art. 20 Abs. 2 GG als Bezug zu Art. 29, der bei Neugliederung des Bundesgebietes eine Bestätigung durch Volksentscheid vorschreibt. Das Bundesabstimmungsgesetz, wie es von der „Aktion Volksentscheid" vorgelegt worden ist, könnte nach unserer Auffassung nur nach einer Verfassungsänderung erlassen werden.Es bestehen aber auch erhebliche verfassungspolitische Bedenken gegen die Prozedur eines Volksentscheids, wie sie hier vorgeschlagen wird mit Beispielswiese vorangehenden Volksinitiativen und Volksbegehren, mit Unterschriftensammlungen und Abstimmungen. Wie wird wohl die Beteiligung der Bevölkerung sein, wenn sie sehr häufig aufgefordert wird zu entscheiden?
Die niedrige Wahlbeteiligung der jüngsten Vergangenheit sollte uns da eigentlich zu denken geben.
Entscheidend ist aber in jedem Fall die Fragestellung: Kann man eine Frage überhaupt so formulieren, daß sie einem gesamtpolitischen Rahmen gerecht wird? Kann man sie isoliert bewerten, ohne notwendige Kompromißlösungen zu behindern oder ohne ganze Programme in Frage zu stellen? Gibt es nicht schon bei der Fragestellung Manipulationsmöglichkeiten durch Demagogen, die eine Antwort in ihrem Sinne schon vorprogrammiert haben?Mit all diesen Fragen hat sich auch die „Aktion Volksentscheid" auseinandergesetzt. Doch die Antworten, die sie darauf gegeben hat, konnten uns leider nicht überzeugen.Meine Damen und Herren, wir messen auch der möglichen Emotionalisierung bei Volksabstimmungen eine größere Bedeutung bei. Hier könnten sich bereits bestehende Konfrontationen verstärken. Ich möchte hier keinen Katalog von Beispielen aufzeigen, denn jeder von Ihnen weiß, daß es viele emotionsgeladene Themen gibt, die bei entsprechend aufgeheizten Gemütern Abstimmungsergebnisse zeitigen würden, die wir alle nicht wollen.Ich möchte Sie bitten, der Ausschußempfehlung zuzustimmen und den Antrag der GRÜNEN abzulehnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Nickels hat es deutlich gemacht: Sie und die Initiatoren der Aktion Volksentscheid, die die heute vorliegende Petition eingereicht haben, werden mit dem Beschluß des Petitionsausschusses, der hier zur Entscheidung ansteht, nicht nur nicht zufrieden sein. Sie werden ihre Bemühungen, uns — wie sie meinen — zur Vernunft bringen zu müssen, fortsetzen und dabei, wie bisher auch, und eben durch Sie, in der Charakterisierung der uns unterstellten Haltung zur Demokratie und Verfassung nicht gerade zimperlich sein.Ich sage das mit allem Respekt vor der Mühe und Energie, mit denen die Petenten ihr Anliegen verfolgen, diese Gesetzgebungsmöglichkeit durch
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NeuhausenVolksentscheid auf Bundesebene auf der Grundlage des von ihnen eingereichten Entwurfs eines Bundesabstimmungsgesetzes durchzuführen. Fünf Minuten sind eine etwas kurze Zeit, um diese Initiative verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch ausreichend ausführlich zu diskutieren. Aber weil nicht nur die Petenten, sondern auch Frau Nickels sich eben — die Petenten in ihren zahlreichen Schriftsätzen, Frau Nickels jetzt mündlich — auch auf das Wahlprogramm der FDP von 1980 beziehen, sei nun wirklich der Hinweis erlaubt, daß die dort enthaltene Forderung nach Einführung des Volksbegehrens und des Volksentscheids unter dem Vorzeichen der unmittelbar vorangehenden Feststellung zu sehen ist — ich zitiere wörtlich —:Die Formen der repräsentativen Demokratie sind unverzichtbar, wenn Entscheidungen zentral und von allgemeinverbindlicher Wirkung zu treffen sind. Bei Aufgaben und Problemen, die nicht zentral behandelt werden, soll die unmittelbare Beteiligung der Bürger ermöglicht werden.
Nun haben wir es aber nicht mit einer offenen und allgemeinen Diskussion zu tun, die sich aus dem zugegebenen Spannungsverhältnis zwischen solchen Aussagen ergeben kann, sondern um den ganz konkreten Entwurf eines Gesetzes, das, wie ich einem Schreiben der Petenten entnehme, „die einzig angemessene Form der Ergänzung der repräsentativen Demokratie behandelt und sich den Petenten auch als „die einzig überzeugende Antwort" ergeben hat. Der sich in einem solchen wiederholten „einzig" anzeigende, fast absolut anmutende Argumentationsstil ist den Petenten eigen. „Legendenbildung" ist noch eine milde Bezeichnung anderer Ansichten, „argumentationslose Ignoranz" geht ja auch noch; der Vorwurf „bewußten Verfassungsbruchs" krönt dann die überzeugende Methode, wie man Freunde für seine Ideen gewinnt.
Daß das Recht auf Widerstand in Anspruch genommen wird und das letzte Wort mit unseren Entscheidungen noch nicht gesprochen sei, ist schon selbstverständlich. Jetzt bitte ich, Frau Nickels, zuzuhören: Auch die Erfinder anderer ähnlicher Fragen, wie etwa der konsultativen Volksbefragung, kommen nicht viel besser weg — weil sie nicht die „einzig angemessene Form" dieses Gesetzentwurfes vertreten, muß fairerweise hinzugefügt werden.
Ich sage das nicht aus Empfindlichkeit. Dazu sind im politischen Streit noch schlimmere Vokabeln — Sie haben eben einige benutzt — leider schon allzu sehr gängige Sprachmünze geworden. Aber es mutet seltsam an, daß Leute, die sich aufmachen, für ein neues und besseres Demokratieverständnis aufzubrechen, in einen solchen Stil verfallen.
Ich sage es hier auch nur methodisch, weil es die Verengung deutlich macht, die auch die Vorstellung der Petenten kennzeichnet, ihre weitreichenden Ideen auf dem Wege einer Petition verwirklichen zu wollen; denn das — Sie wissen es selber am besten— ist nicht der Weg, auf dem Vorstellungen von historischer Bedeutung — davon sind die Petenten überzeugt — ins Bewußtsein des Volkes und des Parlamentes dringen.Meine Damen und Herren, drei Bemerkungen:Erstens. Ich sehe — abgesehen von einer verfassungsrechtlichen Bewertung — in dem Entwurf die Gefahr einer Zentralisierung politischer Entscheidungen — ich stimme da einem Artikel im „Grünen Basisdienst" von 3/84 zu —, die alle Ansätze
— warum denn nicht, warum denn nicht? — einer bürgernahen Dezentralisierung und Gliederung des politischen und sozialen Organismus nach Verantwortung, Kompetenz und Betroffenheit zunichte machen würde.Zweitens. Für Liberale — ich zitiere wieder das Programm — ist es das oberste Prinzip, die Rechte des einzelnen und der Minderheiten zu achten. Ich halte den Minderheitenschutz nicht für gewährleistet, wenn im Prinzip alle Gesetzgebungsvorhaben der Emotionalisierung durch ein solches zentralistisches Volksabstimmungsverfahren unterliegen.
Drittens möchte ich den Petenten sagen: Ein wenig erinnert mich Ihre Geschichte, da Sie ja neue Ideen, neue Initiativen aus dem Volke heraus erwarten, an die Geschichte vom Zauberlehrling, der entgegen seinen Wünschen eines Tages die Geister, die er rief, nicht mehr loswird.Meine Damen und Herren, ich halte es auch für ehrlicher, den Antrag für erledigt zu erklären, als ihn — wie es die GRÜNEN fordern — in die Schubladen eines Ministeriums zu verweisen.
Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe zuerst den Änderungsantrag der Abgeordneten Frau Nikkels und der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/2007 auf.Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Danke schön. Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen und befürwortenden Stimmen der Antragsteller ist der Änderungsantrag abgelehnt worden.Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ab.
— Kann ich mit Ihrer Aufmerksamkeit rechnen?
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Vizepräsident WestphalWer der Beschlußempfehlung, den in der Sammelübersicht 43 enthaltenen Antrag anzunehmen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich jetzt um ein Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen?— Bei einigen Enthaltungen und Gegenstimmen der Fraktion DER GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 17b) und 17c):Beratung der Sammelübersicht 44 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/1982 —Beratung der Sammelübersicht 45 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/2005 —Das Wort dazu wird nicht gewünscht.Wir kommen zur Abstimmung. Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses, die in den Sammelübersichten 44 und 45 enthaltenen Anträge anzunehmen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist das angenommen.Dann kommen wir zu dem Tagesordnungspunkt 17d):Beratung der Sammelübersicht 46 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/2006 —Hierzu liegt Ihnen auf Drucksache 10/2064 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag von bis zu 5 Minuten je Fraktion vereinbart worden. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht?— Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zuerst der Abgeordnete Peter .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben es bei der vorliegenden Petition, die wir zum Gegenstand eines Änderungsantrages erheben,
im Unterschied zu der vorangegangenen Beratung mit einer inhaltlich sehr präzise beschriebenen, aber knappen Begründung zu tun. Die Petenten beziehen sich auf Pressemeldungen über die Lagerung chemischer Kampfstoffe in der Bundesrepublik. Es heißt in solchen Pressemeldungen, daß bis zu 4 000 Tonnen aus amerikanischer Produktion früherer Jahre in der Bundesrepublik gelagert seien.Die Petenten fordern erstens die Bundesregierung auf, öffentlich eine Stellungnahme zu diesen Berichten abzugeben. Zweitens fordern sie von der Bundesregierung sofortige Verhandlungen mit derRegierung der USA mit dem Ziel, alle chemischen Kampfstoffe aus dem Gebiet der Bundesrepublik zu verbringen und ohne Umweltschädigung zu vernichten.
Wir übernehmen den Petitionsinhalt und machen ihn uns zu eigen, indem wir zu dem ersten Teil die Empfehlung Überweisung als Material an die Bundesregierung und im zweiten Teil Berücksichtigung der Petition beantragen.Wir sind mit dieser Forderung im Ausschuß überstimmt worden. Wir hielten wegen der völlig unzureichenden Stellungnahme der Bundesregierung die Anhörung von Herrn Staatsminister Möllemann für notwendig. Es ist erfreulich, daß in dieser Anhörung die Erörterung zu dem Zeitpunkt wesentlich differenzierter wurde, als Herr Möllemann sich entschloß, das von den Beamten Aufgeschriebene zur Seite zu legen.Wir meinen zu der Forderung nach einer öffentlichen Stellungnahme, daß eine stereotype Antwort, sich ständig wiederholend, nämlich „Die Bundesregierung kann die Fragen weder bestätigen noch dementieren", im Selbstverständnis der Bürger in diesem Land als zynisch, arrogant und letztlich politisches Engagement bekämpfend aufgefaßt werden muß.
Wir meinen, daß dies politisch verantwortungslos ist und mit eine Teilursache der heute morgen hier behandelten Aktionen und Demonstrationen der Friedensbewegung.
Ich weiß, daß der Kollege Göhner den Hinweis geben wird, das sei keine neue Praxis. Das ist sicherlich richtig. Aber Sie legen j a sonst immer soviel Wert auf die Wende; hier wäre die Wende sogar einmal am Platze.
Man kann tatsächlich mehr mitteilen, als in der Stereotype zum Ausdruck kommt, und dabei auch durchaus den militärischen Geheimnisschutz bewahren und rechtfertigen. Das wird in anderen Waffenbereichen, beispielsweise bei der Frage der Atomraketen und der Stationierung von Cruise missiles und Pershing II, ebenfalls gemacht.Bezüglich des zweiten Punkts halten wir die Aktivitäten der Bundesregierung auf der Ebene des Abrüstungsausschusses der UNO in Genf begrüßenswert. Wir wehren uns allerdings dagegen, daß diese Aktivitäten, die an sich begrüßenswert sind, dazu benutzt werden, die Forderung nach Beseitigung der auf dem Boden der Bundesrepublik gelagerten alten chemischen Waffen zu mißbrauchen. Das ist auch eine Praxis, mit der man berechtigte Anliegen in der Ihnen eigenen Form aus der Welt schaffen kann.Wir meinen: Die beiden Aktivitäten schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich. Auf der Genfer Ebene, im Abrüstungsausschuß, geht es um ein
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6548 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Peter
weltweites und verläßlich verifizierbares Abkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung sowie um die Vernichtung der Waffen und der Produktionsstätten. Bei einer bilateralen Verhandlung geht es um die Verbringung und Vernichtung veralteter, wahrscheinlich für die Bevölkerung höchst gefährlicher Waffen, deren Abschreckungswert höchst fragwürdig ist.Wir haben hier die Chance einer einseitigen Vorleistung, die im Interesse der Bevölkerung der Bundesrepublik liegt, die aber auch im Interesse der Regierung liegen müßte,
weil sie sonst die Möglichkeiten, auch zu Aktivitäten beispielsweise der beiden deutschen Staaten in der C-Waffen-Problematik zu kommen, zerstört.Wir geben Ihnen mit der Beratung hier im Plenum des Deutschen Bundestags die Chance, das, was im Ausschuß sehr global gesagt und verallgemeinert wurde, zu korrigieren. Nutzen Sie diese Chance bitte, und stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu!
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Göhner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin überrascht, und zwar nicht nur über die Vielzahl der Kollegen, die zu so später Stunde eine interessante Petitionsdebatte verfolgen, sondern vor allem über den Kollegen Peter, der einen Antrag begründet hat, den die SPD-Fraktion nicht gestellt hat.
Sie haben hier eben erklärt, Sie würden in Abweichung vom Ausschußvotum beantragen, die Petition insoweit als Material zu überweisen, als es um die Offenlegung und die Bekanntgabe der Lagerstätten gehe, und zur Berücksichtigung, soweit es um bilaterale Verhandlungen mit den USA gehe, die chemischen Kampfstoffe hier zu beseitigen.
Die Drucksache 10/2064, unterschrieben von Herrn Dr. Vogel und der Fraktion der SPD, weist aber aus, daß Sie diese Petition insgesamt zur Berücksichtigung überweisen wollen. Das sind zwei gegensätzliche Voten. Ich fände es interessant zu wissen, was Sie denn nun wollen: das, was Sie hier erklären, oder das, was Sie in Ihren Antrag hineinschreiben.
Vielleicht hängt das auch damit zusammen, Herr Peter, daß die Haltung Ihrer Fraktion zu dieser Petition in der Tat erneut deutlich macht, daß Sie sich bei einer sicherheitspolitischen Wende Ihrer Partei — schrittweise weg von den Positionen der NATO — befinden.
In der Tat steht das völlig im Gegensatz zu dem, was alle sozialdemokratischen Verteidigungsminister und alle früheren Bundeskanzler der SPD — so viele waren es ja nicht — zu diesem Thema gesagt haben. Sie unterstützen eine Petition, eine Forderung, die gegen die Position der NATO gerichtet ist, die mit berechtigten Chancen durch Aussichten auf ein weltweites verifizierbares Verbot von C-Waffen — der Herstellung, der Vorhaltung und des Einsatzes von C-Waffen — erreichbar wäre.
Das ist doch klar: Wenn Sie einen regionalen und einseitigen Abbau chemischer Kampfstoffe fordern, gibt es kein Interesse der Sowjetunion an einem weltweiten Abkommen für das Verbot von C-Waffen mehr.
Deshalb untergraben Sie mit Ihrer Position die Verhandlungsposition des Westens in dieser Frage.
Meine Damen und Herren, diese Fragen haben wir heute nachmittag im Plenum im Rahmen der Diskussion über den Abrüstungsbericht der Bundesregierung intensiv diskutiert. Vertreter aller Fraktionen haben auch zu Fragen der chemischen Kampfstoffe Stellung genommen. Eigentlich machen wir hier heute wieder eine überflüssige Wiederholung.
Was den zweiten Teil der Petition angeht, also die Offenlegung der Lagerstätten, möchte ich hier noch einmal deutlich sagen: Wir sind dafür, daß die Lagerstätten chemischer Kampfstoffe offengelegt werden, und zwar in West und Ost. Wir sind weitergehend dafür, daß diese Lagerstätten beseitigt werden. Deshalb setzen wir uns für das weltweite Abkommen ein, die C-Waffen zu verbieten.
Ich fordere Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, auf, erstens zu klären, was Sie wollen — im Hinblick auf Ihre Vorträge, die Sie hier im Gegensatz zu Ihrem Antrag gebracht haben —, und zweitens, zum sicherheitspolitischen Kurs der früheren Verteidigungsminister Ihrer Partei zurückzukehren, die in dieser Frage jene Position vertreten haben, die auch heute noch, wie damals, die unsrige bleibt.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Petenten bitten um umfassende Auskunft über die Lagerung chemischer Waffen auf bundesdeutschem Boden. Wir sind der Meinung, daß dieses Anliegen voll berechtigt ist.Ich will jetzt einige Ungereimtheiten im Zusammenhang mit der Lagerung chemischer Waffen auf deutschem Boden vortragen. 1925 ist die Genfer Konvention zur Nichtanwendung von Giftgas unterzeichnet worden. 1929 hat Deutschland diese Konvention ohne Einschränkung unterzeichnet, was bedeutet, daß sich die Bundesrepublik damit verpflichtet, Giftgas weder offensiv noch defensiv einzusetzen. 1954 dann hat sich Deutschland feierlich verpflichtet, kein Giftgas zu produzieren. Im gleichen Jahr hat sich die Bundesrepublik damit
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Frau Nickelseinverstanden erklärt, daß die Bündnispartner auf deutschem Boden alle Waffen — ganz gleich welche — die die Bündnispartner für nötig halten — lagern dürfen, und zwar indem die Bundesregierung das NATO-Truppenstatut ratifiziert hat. Meiner Meinung nach eine einmalige Schizophrenie: Feierliches Abschwören der Produktion und des Einsatzes von Giftgas; gleichzeitig gibt man jemand anderem einen Blankoscheck, zu lagern und anzuwenden, damit zu tun und zu lassen, was man will.Zweitens kommt mir sehr bedenklich vor, daß es innerhalb des Bündnisses ein Zweiklassenrecht bei Zugang zu Informationen über die Lagerung chemischer Waffen gibt. In der Bundesrepublik gilt die Regierungsdevise, Meldungen weder zu bestätigen noch zu dementieren. Die Bevölkerung darf amtlicherseits nichts wissen. Nicht einmal die Abgeordneten dürfen amtlicherseits etwas wissen, geschweige denn über diese Lagerung mit entscheiden.In Amerika dagegen, bei unserem Bündnispartner, werden nur die Mengen der Giftgase geheimgehalten. Die Orte sind dagegen bekannt. Jeder Transport von Giftgas muß sogar 30 Tage vorher dem Kongreß angekündigt werden.Grundlage für beide Arten von Geheimhaltungsbestimmungen hier in der Bundesrepublik wie auch in den USA sind nicht deutsche Gesetze hier und amerikanische dort, sondern amerikanische Geheimhaltungsbestimmungen in der Army Regulation Nr. 380/86 vom 3. 5. 1976.
Er hat uns dann folgende Begründung für dieses eigenartige Zweiklassenrecht im Bündnis gegeben.
Erstens — hat Herr Staatsminister Möllemann gesagt — unterliegt die Lagerung chemischer Kampfstoffe in den NATO-Ländern strikter Geheimhaltung.
Auf die Frage, wo gelagert wird, hat er gesagt: nur in den USA und in der Bundesrepublik.
Zweitens — sagte Staatsminister Möllemann — unterliegen die chemischen Waffen auch im Warschauer Pakt strikter Geheimhaltung. Ich frage mich, seit wann der Warschauer Pakt für uns Vorbild im Hinblick auf Freiheits- und Informationsrechte sein kann. Ich sehe den Warschauer Pakt da nicht als Vorbild.
Drittens hat Herr Staatsminister Möllemann diese Geheimhaltung damit begründet, daß unterschiedliche regionale Gegebenheiten in den USA und in der Bundesrepublik bestimmend dafür sind. Er hat gesagt, daß die Bundesrepublik als ein Staat an der Frontlinie zwischen Ost und West besondere Sicherheitsvorkehrungen haben muß und daß diese Sicherheitsvorkehrungen in bestimmten Hinsichten sehr viel präziser und strenger zu handhaben seien. Herr Staatsminister, ich kann gut verstehen, daß Sie dafür plädieren; denn wenn die Leute wirklich wüßten, daß sie direkt neben einem Giftgasdepot sitzen, müßten sie unheimliche Angst kriegen.
Denn im Ernstfall wird die Bevölkerung in dem dichtbesiedelten Europa sofort vergiftet. Ich habe den Eindruck, daß diese Geheimhaltungsbestimmungen nicht zum Schutz im Angriffsfall oder gegen den Aggressor, sondern zum Schutz gegen die eigene Bevölkerung dienen, nach der Devise: Was die Bevölkerung nicht weiß, das macht sie auch nicht heiß.
Darum finden wir das Anliegen der Bevölkerung voll berechtigt, und wir wollen diese Petition zur Berücksichtigung überwiesen haben.
Das Wort hat Herr Staatsminister Möllemann. Es entbehrt sicher nicht der Wichtigkeit, daß ich seine Mitteilung weitergebe: Er will die FDP-Position gleich mit abdecken und damit unseren Zeitbedarf kürzen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Göhner hat bereits darauf hingewiesen, daß wir das Thema, um das es in dieser Petition geht, hier anläßlich der Beratungen dreier Großer Anfragen im letzten Jahr sehr ausführlich behandelt haben. Er hat darauf hingewiesen — und Frau Kollegin Nickels hat es gerade noch einmal unterstrichen —, daß wir uns in einer ausführlichen Unterredung im Auswärtigen Ausschuß mit der Frage beschäftigt haben. Ich möchte mich ausdrücklich der Bemerkung anschließen, die der Kollege Neuhausen vorhin gemacht hat: Ich glaube nicht, daß es eine Chance für die Lösung von wirklich relevanten Problemen ist, sie abends gegen 22.30 Uhr über den Umweg der Behandlung von Petitionen hier auf die Tagesordnung zu bringen. Das kann j a wohl nicht ernsthaft so gemeint sein.
— Ich nicht.Nach dieser allgemeinen Bemerkung wollte ich drittens hinzufügen, daß die Position der Bundesregierung in dieser Frage auch die Position der früheren Bundesregierungen ist.
Ich habe hier heute in diesem Parlament von HerrnVerheugen gehört, der es mit der Kontinuität seiner
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Staatsminister MöllemannHaltung insgesamt sehr ernst meint, wir wir wissen,
daß es ganz wichtig sei
— seien Sie doch nicht so empört, ich erinnere Sie doch nur an eine Haltung, die Hans-Dietrich Genscher und Helmut Schmidt hier immer eingenommen haben —, in der Außen- und Sicherheitspolitik keine Veränderung in der Haltung vorzunehmen, und das tun wir hier.
Daß Sie in Ihrer geradezu grenzenlosen Anbiederung an eine Fraktion nahezu keine Scham mehr haben, konnte man heute den ganzen Tag über beobachten.
Ich glaube, daß sich die GRÜNEN insgeheim kaputtlachen über das, was Sie da in Grundfragen der Außen- und Sicherheitspolitik aufführen.
Lassen Sie mich kurz an die Voraussetzungen und Gründe — —
— Ich habe gelesen, Herr Präsident, meine Kolleginnen und Kollegen, daß Stilformen im Parlament auch Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung sein können. Der Versuch, jemanden niederzuschreien, ist Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung.
Lassen Sie mich kurz an die Voraussetzungen und Gründe der Lagerung chemischer Kampfstoffe in der Bundesrepublik erinnern. Das Atlantische Bündnis sieht sich einer ernsthaften Bedrohung auch durch chemische Waffen des Warschauer Paktes gegenüber. Der seit 15 Jahren bestehende Verzicht der USA auf die Produktion chemischer Waffen hat weder zu einer Minderung dieser Bedrohung geführt, noch eine Beschleunigung der Abrüstungsverhandlungen bewirkt. Ein völkerrechtswidriger Einsatz chemischer Kampfstoffe kann nach wie vor trotz des Einsatzverbots durch das Genfer Protokoll von 1925 nicht ausgeschlossen werden.Die sowjetische Militärdoktrin — Herr Kollege Peter, das wissen Sie so gut wie ich — erkennt unverändert den Einsatz chemischer Kampfstoffe als Mittel der Kriegführung an. Das können Sie nachlesen. Wir müssen davon ausgehen, daß der Warschauer Pakt materiell und personell zu chemischer Kriegführung in der Lage ist.Ich entsinne mich noch der Sitzungen des Verteidigungsausschusses, in denen ich zusammen mit dem Kollegen Nagel gesessen und die damaligen Minister Georg Leber und später Hans Apel gefragt habe: Wie sieht das eigentlich aus, können Sie, Herr Minister, bestätigen — so haben wir damals den sozialdemokratischen Verteidigungsminister gefragt —, daß die sowjetischen Streitkräfte chemische Kampfstoffe nicht nur bevorraten, sondern daß sie auch aktiv an deren Anwendung ausbilden? — Da haben uns die beiden sozialdemokratischen Minister erklärt: Jawohl, so ist das. — Deshalb und nur deshalb gibt es eine Legitimation für die Bevorratung eines begrenzten Kontingents chemischer Waffen auf unserer Seite. Liebe Freunde, daran hat sich nichts geändert. Was sich geändert hat, ist Ihre Einstellung auf Grund einer anderen Strategie. Das muß hier einmal gesagt werden!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, weil sich in der Sache j a nichts geändert hat — außer der Tatsache, daß Sie krampfhaft versuchen, gegenüber einer Gruppe, die jetzt neben Ihnen sitzt, einen Anpassungskurs zu fahren —, kann ich nur empfehlen, der Empfehlung der SPD nicht zuzustimmen. Es gibt in der Sache nichts Neues zu entscheiden.
Um eine Frage des Abgeordneten Dr. Göhner zu beantworten, hat sich noch der Herr Abgeordnete Becker gemeldet. Das ist nach einem Regierungsvertreter möglich.
Bitte schön, aber kurz!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zwei kurze Bemerkungen. Die erste: Ich glaube nicht, daß wir das, was der Herr Staatsminister hier ausgeführt hat, etwa so verstehen müssen, daß die Rechte des Petitionsausschusses in irgendeiner Weise eingeschränkt werden sollen.
Ich glaube, da sind wir einer Meinung.
Zweitens. Falls es hier irgendein Mißverständnis gegeben hat: Zur Abstimmung steht der Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 10/2064, sonst nichts.
Danke schön.Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen hierzu nicht vor; ich schließe deshalb die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe zuerst den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2064 auf. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Danke schön. Stimmenthaltungen? — Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ab. Wer der Beschlußempfehlung, der in der Sammelübersicht 46 enthaltenen Antrag anzunehmen, zuzustimmen wünscht, den
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Vizepräsident Westphalbitte ich um ein Handzeichen. — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Danke. Enthaltungen? — Gegen eine Reihe von Stimmen ist die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses angenommen.Ich rufe Punkt 18 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Bard und der Fraktion DIE GRÜNEN Tierversuche im wehrmedizinischen Bereich— Drucksache 10/1307 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit VerteidigungsausschußMeine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe und höhere keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Bard.
Auf das Thema ,,chemische Kampfstoffe" komme ich in diesem Zusammenhang leider Gottes gleich noch einmal zurück.
Der heutige Welttierschutztag ist für uns GRÜNE Anlaß, die anderen Parteien in diesem Hause einmal an die vielen Reden zu erinnern, die sie zur Beruhigung der Tierschützer draußen halten. Da ist immer viel von Einschränkung der Tierversuche die Rede. Die konkreten und wirksamen Vorschläge kamen bisher nur von außen, von den Tierschützern. Weder die letzte noch diese Regierung haben dazu konkrete Schritte unternommen. Vielleicht könnten wir heute in einem Bereich einmal anfangen.
Wir GRÜNEN treten für die Abschaffung der Tierversuche überhaupt ein. Wir halten Tierquälerei, zu welchem Zweck auch immer, für Tierquälerei und somit eigentlich für eine Kulturschande.
Wir schlagen Ihnen vor, mit einem ersten Schritt in dieser Richtung in dem Bereich größter Unerträglichkeit anzufangen, nämlich bei den Tierversuchen, die im Rahmen der sogenannten wehrmedizinischen Forschung gemacht werden. 20 000 Tiere sterben pro Jahr im Namen unserer sogenannten Verteidigungskraft. Was dies an Grausamkeit tausendfach bedeutet, will ich Ihnen nur mit einigen Beispielen andeuten. Tiere werden beschossen, werden dann operiert und werden beobachtet, bis sie qualvoll sterben. Tiere werden Detonationslärm ausgesetzt, bis die Trommelfelle platzen und Nervenfasern im Gehörgang kaputtgehen. Tiere werden mit Gift eingerieben oder müssen es einatmen, auch, bis sie qualvoll sterben und eingehen.
Diese Liste des Grauens läßt sich beliebig vermehren. Getestet werden sowohl konventionelle als auch atomare Waffen, biologische und chemische Kampfstoffe. Verteidigt werden diese Experimente — so sagte es auch der Parlamentarische Staatssekretär Würzbach in der Fragestunde am 3. April dieses Jahres — mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Diagnose, der Therapie und der Schutzmöglichkeit der Soldaten und der Zivilbevölkerung. Ich kann einem solchen Gedanken überhaupt nicht folgen. Die Testung der Auswirkung von Waffen stellt für die Militärs doch vielmehr die Möglichkeit dar, eine Abschätzung dieser Waffensysteme vorzunehmen, und macht den Einsatz dieser Waffen erst möglich. So ist auch hier der Schritt vom Tierversuch zum Menschenversuch nicht weit. Und in der Tat ist dieser Schritt vollzogen worden.
— Herr Eigen, schauen Sie sich die Berichte an. Sowohl aus der Sowjetunion als auch aus dem Bereich der NATO-Staaten gibt es Versuche an Soldaten und auch an der Zivilbevölkerung, die davon gar nichts wußte. Diese Fälle sind belegt. Reichen uns denn eigentlich die Erkenntnisse über die Waffen und deren Folgen beim Menschen nicht aus, die tagtäglich in den vielen Kriegen gewonnen werden, die heute auf der Welt stattfinden? Müssen wir hier noch Tiere zusätzlich — nicht an Stelle — leiden lassen?
Besonders absurd wird das Argument des Schutzes im Falle der ABC-Waffen. Daß es gegen atomare Auswirkungen trotz aller wissenschaftlichen Forschung keinen Schutz gibt, zeigen uns die Toten von Hiroshima, wo bis zum heutigen Tage Jahr für Jahr Menschen an den Atombombenspätfolgen sterben. Kein Arzt hat etwas dagegen gefunden. Ähnliches gilt auch für die biologischen und chemischen Waffen, deren Entwicklung so rasant vorangetrieben wird, daß eine Abwehr zu spät käme. Tatsache ist, daß mit der Bereitstellung derartiger Stoffe für Tierexperimente, d. h. auch der biologischen und chemischen Kampfstoffe, die Bundesrepublik automatisch über das Know-how dieser Waffen verfügt. Bei biologischen und chemischen Waffen ist das Know-how das Wichtigere; die Produktion ist dann keine Schwierigkeit mehr.
Die Fragwürdigkeit der Übertragung dieser Versuche auf den Menschen, der Zwang, am Know-how dieser Stoffe teilzuhaben, lassen für uns nur den Schluß zu: es gibt nur eine Schutzmöglichkeit für den Menschen vor diesen Waffen, die Achtung.
Es ist überflüssig und gefährlich, Tiere hierfür leiden zu lassen. Das verstößt bereits gegen das jetzt geltende Tierschutzgesetz, worin es nämlich heißt: Tierversuche sind auf das notwendige Maß einzuschränken. Helfen Sie mit, diesem Ärgernis in diesem Bereich ein Ende zu machen, wie es viele Tierschützer in diesem Lande von uns erwarten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Michels.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute nachmittag den Bericht des Wehrbeauftragten diskutiert. Dabei
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Michels
ging es um das Wohl unserer Soldaten. Werden nicht auch mit diesem Beratungspunkt das Wohl und die Fürsorge für unsere Soldaten berührt? Wer sich mit diesem Thema vorurteilsfrei befaßt, kommt bei dieser Frage zu einem klaren Ja. Ich gehe davon aus, daß alle Mitglieder dieses Hohen Hauses sich in der Sorge für die Gesundheit unserer Soldaten einig sind. Hierfür müssen die notwendigen Erkenntnisse geschaffen und weiterentwickelt werden. Unsere Soldaten erfüllen mit ihrem Dienst einen grundgesetzlichen Auftrag.
— Dazu komme ich. — Sie haben einen Anspruch darauf, daß Ihnen auch im Falle einer Verletzung spezieller Art optimal geholfen werden kann.
Leider kann bei der Erforschung notwendiger Heil- und Schutzmittel heute noch nicht ganz auf die Durchführung von Tierversuchen verzichtet werden. Aus diesem Grunde können wir uns auch nicht der Forderung der GRÜNEN zur Einstellung aller Tierversuche im wehrmedizinischen Bereich anschließen. Wir sind aber gemeinsam aufgerufen, unsere gesetzlichen Möglichkeiten dahin gehend zu nutzen, daß die für das Wohl der Menschen unnötigen Versuche ausgeschlossen werden. Andererseits haben wir die Pflicht, die Voraussetzungen für die Erforschung und Weiterentwicklung von Schutz-und Heilmitteln speziellen Bedarf sicherzustellen.
Die zivile Forschung deckt leider nicht — hoffentlich nie — eintretenden Bedarf im militärischen Bereich voll ab. Ich weise in diesem Zusammenhang auf die gräßlichen Vorkommnisse im Iran und Irak hin. Hier, Frau Bard, sollten Sie sich auch einmal daran erinnern, daß solche Vorgänge, wie Sie sie geschildert haben, nur möglich sind in totalitären Staaten; nirgendwo in Staaten mit einer funktionierenden Demokratie können Sie über so etwas berichten, über das Sie eben von dieser Stelle berichtet haben.
Was wäre aber, wenn man den so zugesetzten Menschen nicht wenigstens hier bei uns helfen könnte? Ohne Forschung und in der Vergangenheit durchgeführte Tierversuche gäbe es wirksame Hilfs- und Heilmittel nicht.
Der Respekt vor dem uns anvertrauten Tier gebietet es nun aber dennoch, die Meßlatte für die Durchführung von Tierversuchen höher zu legen. Deshalb werden wir auch mit dem Tierschutzgesetzentwurf bei der Bundeswehr das Genehmigungsverfahren verschärfen. Wenn auch aus verständlichem Grund die Bundeswehr bei ihren Versuchsdurchführungen besonderer Geheimhaltungspflicht unterliegt, so sollten wir doch prüfen, ob es nicht auch möglich ist, im Tierversuchsgenehmigungsverfahren die Stelle eines Tierschutzbeauftragten aus nichtmilitärischem Bereich einzurichten.
Darüber hinaus bin ich der Meinung, daß Tierversuche nur dann durchgeführt werden dürfen, wenn andere Erkenntnisse und Möglichkeiten nicht zur Verfügung stehen, z. B. schmerzlose Materie oder abrufbares Wissen aus Datenbanken. Wenn auch die Versuchstiere nur in narkotisiertem bzw. schmerzfreiem Zustand den Versuchen unterzogen werden, so können wir doch heute kein Verständnis für unnötige Mehrfachversuche bei uns und, soweit wir darüber hinaus Einfluß haben, auch innerhalb der NATO mehr aufbringen.
Wer den Tierschutz ernst nimmt, meine Damen und Herren, sollte in seinem diesbezüglichen Bemühen nicht vor der eigenen Haustür haltmachen. Es ist also anzuraten, daß die NATO-Staaten auch gerade auf diesem Gebiet zu einem möglichst intensiven Erfahrungsaustausch kommen. Ich bitte die Bundesregierung, den Aufbau einer hierfür dienlichen Datenbank zu unterstützen.
Die Bundesregierung hat uns die Vorlage eines neuen Tierschutzgesetzes angekündigt. Wir werden während der nächsten Wochen und Monate Gelegenheit haben, diesen Entwurf eingehend zu beraten. CDU und CSU werden sich bei der Beratung des angekündigten Gesetzentwurfes auf der Basis ihrer ehtischen Grundsätze von der Verantwortung gegenüber Mensch und Tier leiten lassen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt .
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bedaure sehr, daß wir zu dieser Stunde unter Ausschluß der Öffentlichkeit ein Thema besprechen, das an diesem Tag und am Wochenende Zehntausende auf die Straßen bringen wird und das Hunderttausende zu ihrer Unterschrift veranlaßt hat.
Es ist weiterhin zu bedauern, daß der angekündigte Gesetzentwurf der Regierung jetzt schon so lange auf sich warten läßt. Denn dieses lange Warten bedeutet, daß mehr Tiere sterben, daß mehr Tiere leiden müssen, als wenn wir schnell überkommen würden. Das, was die Menschen in anderen Bereichen des Umwelt- und des Naturschutzes, aber auch hier umtreibt, ist eine moralische, eine ethische Frage, nämlich die Frage, ob wir Menschen das Recht haben, uns zum Herrscher über andere Lebewesen zu machen,
ob wir das Recht haben, Natur im allgemeinen und Tiere im besonderen zum Wegwerfprodukt zu erklären. Aus diesen Gründen und weil das mit dem Gesetzentwurf so lange dauert, sehen wir den Antrag, der hier vorliegt, mit Sympathie. Für Sozialdemokraten kommen Tierversuche zur Erprobung von Kampfstoffen jeglicher Art nicht in Frage. Denn dies würde die Perversion auf die Spitze trei-
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Frau Schmidt
ben: Tiere zu töten, um zu testen, wie man am besten Menschen töten kann.Nun sagt der Verteidigungsminister — ich wage das jetzt nicht zu beurteilen, vielleicht stimmt es ja auch —, es werden gar keine Tierversuche durchgeführt, um Kampfstoffe zu erproben. Aber ich frage mich: Warum verzichtet das Verteidigungsministerium dann nicht auf das Privileg, das es im jetzigen Tierschutzgesetz hat, in eigener Zuständigkeit und bei nachgeordneten Behörden derartige Versuche durchzuführen, wenn es doch angeblich nur um die Therapie geht? Im übrigen sind auch wir, lieber Kollege Michels, selbstverständlich für das Wohl der Soldaten. Auch wir sehen diese Soldaten als Menschen, die vor Krankheiten geschützt werden müssen.Mit der derzeitigen Praxis eines interministeriellen Genehmigungsverfahren werden der Verdacht und der Ruch immer aufrechterhalten bleiben, daß eben doch Versuche durchgeführt werden, die zur Erprobung von Kampfstoffen dienen. Die Begründung, die die Kollegin Bard hier gegeben hat, brauche ich wohl nicht zu wiederholen — sie entspricht meiner Auffassung —, die Begründung, warum diese Versuche nicht durchgeführt werden dürfen. Ich meine, Versuche im medizinischen Bereich, in der medizinischen Forschung, die vielleicht notwendig sind, die allen Menschen dienen, nicht mehr in der Zuständigkeit der Bundeswehr — ich sage noch einmal, ich kann es nicht beurteilen — durchzuführen, hätte mehrere Vorteile: Anwendung der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über alternative Methoden, also die häufige Anwendung von Ersatzmethoden, und eine größere Öffentlichkeit und damit auch eine größere Akzeptanz. Was in meinen Augen am wichtigsten ist: Nur dann, wenn Regierung und Gesetzgeber, also wir, beispielhaft vorangehen, wird es gelingen, Industrie und Forschung zu überzeugen, auf Tierversuche weitgehend zu verzichten. Solange wir in acht Gesetzen und unzähligen Verordnungen Tierversuche quasi vorschreiben, solange überflüssige oder zu ersetzende Tierversuche durch Insitutionen der Regierung durchgeführt werden, werden uns die Kraft und die Glaubwürdigkeit fehlen, eine wirkliche Novellierung des Tierschutzgesetzes durchzusetzen.Wir Sozialdemokraten streben ein grundsätzliches Verbot von Tierversuchen mit streng geregelten Ausnahmegenehmigungen an. Tierversuche dürfen nicht mehr die Regel sein, sie müssen die Ausnahme werden, und zwar in ethisch begründeten Fällen.
wir wissen dabei — auch das möchte ich ganz deutlich sagen —, daß es derzeit noch Tierversuche gibt, auf die wir nicht verzichten können. Aber, wie gesagt, da müssen strengere Maßstäbe als bisher angelegt werden.Wir bitten daher, den Antrag an die Ausschüsse, die genannt worden sind, sowie — dies ist im Überweisungsvorschlag nicht enthalten — an den Ausschuß für Forschung und Technologie zu überweisen. Ich gehe davon aus, daß dieser Antrag schnell behandelt wird. Wird er es nämlich nicht, werden noch mehr Tiere sterben und leiden müssen.Zum Schluß möchte ich noch an einen Satz erinnern, der gestern in der Sitzung der Jugend hier im Plenarsaal geäußert worden ist. Da hat uns ein junger Mann alle aufgefordert, wir möchten doch das Anliegen der Natur zu unserem Anliegen machen. Er hat uns gebeten, wir möchten uns doch einmal in einen Baum hineinversetzen. Das ist vielleicht ein bißchen schwierig, aber ich möchte es doch aufgreifen und Sie ganz herzlich bitten, sich einmal in die Lage einer Versuchsratte, einer Maus oder eines Kaninchens hineinzuversetzen. Bei den unterschiedlichen Voraussetzungen, die gegeben sind, dürfte das dem einen leichter, dem anderen schwerer fallen.
Frau Kollegin Schmidt, da Sie das rote Zeichen hier nicht sehen können, möchte ich Ihnen das mündlich mitteilen.
Ich bin sofort fertig. Es sind wirklich die letzten Worte. — Vielleicht gelingt es Ihnen, zu erreichen, daß wir wirklich zu einem schnellen Handeln kommen, um die Menschen davon zu überzeugen, daß es nicht an der Handlungsunfähigkeit von uns Politikern liegt, wenn Tiere leiden und sterben müssen.
Das Wort hat der Abgeordnete Bredehorn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Antrag und die Begründung des Antrages der GRÜNEN, den wir heute als letzten Tagesordnungspunkt zu dieser späten Stunde noch behandeln müssen, mehrmals in der Hoffnung durchgelesen, einen Begründungspunkt ausfindig machen zu können, der mich überzeugt — leider allerdings vergeblich.
Solche Anträge, meine ich, tragen nur dazu bei, die öffentliche Diskussion um den Tierschutz emotional aufzuladen und anzuheizen.
Ich wehre mich, da mitzumachen.
Wir sollten doch hier im Hause endlich einmal dazu übergehen, Sachpolitik zu betreiben.
Erstens sieht es nach der Antragsbegründung fast so aus, als ob Forscher in großer Zahl Versuchstiere für die Laborarbeit ohne das nötige Verantwortungsgefühl verwendeten.
Von Forschungszielen ist nicht die Rede. Eine Partei, auch die GRÜNEN, kann doch nicht ernsthaft
glauben, daß das Verteidigungsministerium Tier-
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Bredehorn
versuche durchführt, um die Effizienz neuer Waffentechniken zu erproben.
— Sie wissen doch genau, daß das nicht zutrifft.
Zweitens appellieren die GRÜNEN mit ihrem Antrag, den Frieden zu erhalten. Jeder von uns hier will den Frieden. Es wäre schön, wenn es keine Krisenherde auf der Erde mehr gäbe. Aber die Welt ist nun leider nicht so.
Ich werde den Verdacht nicht los: Dieser Antrag der GRÜNEN soll auch den Auftrag der Bundeswehr in Frage stellen. Wenn Sie in dem Antrag schon von ethischen Gefühlen den Versuchstieren gegenüber sprechen, erlaube ich mir, auch an Ihr ethisches Gefühl einem Soldaten gegenüber zu appellieren. Im Verteidigungsauftrag der Bundeswehr ist auch von der Verantwortung für die ihr anvertrauten Menschen die Rede, nämlich diese im Ernstfall, den wir alle nicht herbeiwünschen, vor feindlichen Waffen zu schützen oder gegebenenfalls ihre Verletzungen bestens zu versorgen. Möglicherweise ist es dann aber zu spät, Heilmethoden zu testen. An den verletzten Soldaten herumzuprobieren, verbietet sich schon allemal. Dann kann es in Sekundenschnelle um Tod oder Leben gehen.
Ethik hat mehrere Seiten. Spätestens dann, wenn das Leben eines nahestehenden Menschen oder sogar eigenes Leben auf dem Spiel steht, wird so mancher nicht mehr umhin können, seine absolute Ablehnung von Tierversuchen zu überprüfen. Soweit zur Ethik und zur brüchigen Logik Ihres Antrages.
Bei den Tierversuchen im wehrmedizinischen Bereich geht es in erster Linie um die Erprobung spezieller Arzneimittel gegen die Wirkungen von Waffen. Das Arzneimittelgesetz, das Chemikaliengesetz und das Tierschutzgesetz sind auch für die Bundeswehr verpflichtend. Tierversuche im Zusammenhang mit der Entwicklung und Erprobung neuer Waffen werden weder von der Bundeswehr noch in ihrem Auftrag durchgeführt. Nochmals: Vorrangiges Ziel der Forschungsarbeiten bei der Bundeswehr ist die Suche nach geeigneten Heilsubstanzen, und zwar sowohl für eine vorbeugende Anwendung als auch für die Therapie.
Wie wichtig es ist, hier Erkenntnisse zu sammeln, habe ich eben in unmißverständlicher Weise zum Ausdruck gebracht.
Angriffsfläche zur Diskussion bietet die Tatsache — das sage ich hier ganz deutlich; Frau Schmidt, da bin ich mit Ihnen einer Meinung —, daß die Dienststellen der Bundeswehr für ihre eigenen wehrmedizinischen Tierversuche verantwortlich zeichnen. In der Praxis bedeutet das, daß sie ihre Tierversuche selber genehmigen. Nun vertrete ich zwar die Ansicht, daß eine Kommission, bestehend aus vernünftig denkenden Menschen, selbst, wenn sie dem Verteidigungsministerium angehören, diese Aufgabe verantwortungsvoll wahrnehmen kann, aber ich sehe ein, daß Tierschützer hier eine Schwachstelle in der Überwachung entdecken, eben weil es diesen Experten an unabhängiger Meinungsbildung fehlen könnte. Ich meine, hier müssen wir in der anstehenden parlamentarischen Diskussion über das Tierschutzgesetz darüber nachdenken und entscheiden, ob die bundeswehreigene Aufsicht nicht durch unabhängige Fachleute ergänzt werden muß, damit eine bestmögliche Absicherung notwendiger Tierversuche gewährleistet ist. Dabei sind natürlich die besonderen Umstände unserer Verteidigung zu sehen, besonders die Notwendigkeit der Geheimhaltung. Die vielen Fragen, die mit der Wehrmedizin und darüber hinaus mit dem Tierschutz in Zusammenhang stehen, lassen sich durch eine Radikalkur, d. h. durch eine vollständige Abschaffung von Tierversuchen, nicht lösen. Denn das würde neue Probleme in der wissenschaftlichen Forschung in der Humanmedizin usw. heraufbeschwören. Wir wollen Tierversuche auf das notwendige Maß beschränken.
Zu fragen ist allerdings: Wie prüft man denn, ob Tierversuche unerläßlich sind?
Gibt es allgemeingültige Unerläßlichkeitskriterien, die wir als Parlamentarier bundesweit festschreiben sollten?
Vor einem uneingeschränkten Ja zur letzten Frage warne ich. Denn nur zu schnell könnten unsere eigenen Entscheidungen von neuen Forschungen überrollt werden.
Ich sehe gerade: Das Licht hier leuchtet. Ich komme zum Schluß.
— Ich habe leider keine Zeit, darauf einzugehen.
Die FDP fordert schon seit langem, daß dort, wo alternative Forschungsmethoden zur Verfügung stehen, Tierversuche verboten werden. Besonders im kosmetischen Bereich wird sich die FDP für ein Verbot von Tierversuchen einsetzen.
Im Ernährungsausschuß sollten wir den vorliegenden Antrag im Rahmen der Diskussion über die Novellierung des Tierschutzgesetzes behandeln,
aber dann bitte mit Sachverstand und ohne Gefühlsduselei.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Herr Würzbach.
Herr Präsident! Verehrte
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Parl. Staatssekretär WürzbachKollegen und Kolleginnen! Es gibt im Bereich der Bundeswehr keine einzige Forschungseinrichtung, in der Tierversuche zur Entwicklung oder Erprobung von Waffen oder Waffenwirkungen durchgeführt werden.
Alle bei uns durchgeführten Versuche dienen ausschließlich der Entwicklung von Früherkennungsmöglichkeiten, von Arzneimitteln und Heilverfahren gegen Waffenwirkungen.Bei allen Versuchen ist durch äußerste Restriktion im Antragsverfahren, im Genehmigungsverfahren und im Überwachungsverfahren geregelt, daß Versuche nur im tatsächlich unerläßlichen Maß durchgeführt werden, und dies erst dann, wenn geprüft wurde, ob ähnliche Versuche aus gleichem Anlaß möglicherweise an Universitäten bei uns, an Versuchsanstalten in Ländern der NATO oder in neutralen Ländern, beispielsweise in Schweden, oder sonstwo durchgeführt werden.
Ich wende mich mal Ihrem Antrag und den Formulierungen zu. Da schreiben Sie in der Begründung im 1. Satz: „Auf der ganzen Welt töten und verletzen Menschen Menschen mit modernen Waffentechniken." Das ist ein Satz, bei dem auch wir wollen, daß dies verhindert wird. Ich glaube, es gibt niemanden, der sich hier von Ihnen unterscheidet. Glücklicherweise haben wir in Europa den Zustand, daß dieser Satz auf unsere Region hier in den letzten Jahrzehnten seit 1945 nicht zutrifft.
Ich lese den nächsten Satz Ihrer Begründung: „Die Wirkung dieser Waffen ist erschreckend deutlich und bedarf keines weiteren Beweises ..." Auch hier stimmen wir Ihnen Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe zu. Wer zum Beweis der Wirkung dieser Waffen Tiere tötete — hier benutze ich Ihre Formulierung —, handelte nicht nach ethischen Grundsätzen. Um dies festzustellen, müssen keine Tiere getötet werden.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, darf ich Sie unterbrechen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Klejdzinski?
Ich möchte gerade bei diesem Thema, Herr Präsident, in Ruhe vortragen können, Herr Kollege, und keine Zwischenfragen genehmigen.Weil es aber Waffen gibt — und wir haben gerade im Rahmen des Petitionsausschusses über eine ganz besonders grausame gesprochen —, brauchen wir Arzneimittel, brauchen wir Schutzmittel zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit der Bevölkerung.
der Soldaten und der Bevölkerung. Und dafür führen wir Versuche, soweit es irgend geht, im chemischen Bereich, im physikalischen Bereich durch. Und erst dann, wenn diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind und es unumgänglich ist, werden — unter den eingangs genannten Restriktionen — auch Versuche am Tier durchgeführt, bevor diese Arzneimittel Menschen gegeben werden.Forschungsarbeiten für eine wirksame Therapie, so wie Sie es hier in manchen Worten haben kennzeichnen wollen, als gefährlich, als unnötig zu bezeichnen, würde nach meiner Auffassung heißen, ethische Motive ins Gegenteil zu verkehren. Unser Sanitätsdienst hat den Auftrag, die Gesundheit der Soldaten zu erhalten oder, wenn dies nötig ist — ich wiederhole — wiederherzustellen. Ich will Sie nur fragen: Wollen Sie — ich bin sicher —, daß Sie in der Konsequenz dies gar nicht wollen können, etwa erst dann, wenn Sie einen verletzten, einen verwundeten Menschen dort liegen haben, beginnen, an ihm ohne Kenntnis, ohne Vorarbeiten, ohne entsprechende Mittel herumzuexperimentieren?
Es gibt einen Weg — und ich wähle dieses Beispiel, weil es hier lebendig durch die Debatte im Petitionsausschuß im Raum steht —: Würde die Sowjetunion die chemischen Waffen mit uns abschaffen — wir haben ihr dies x-mal angeboten; wir produzieren im Westen seit 1969 keine mehr —, könnten wir beispielsweise alle Versuche einstellen, um, wenn chemische Waffen eingesetzt sind, die Menschen in ihrer Gesundheit, soweit irgend möglich, wiederherzustellen. Das ist ein Weg. Unterstützen Sie die Bemühungen der Regierungen, die chemischen Waffen in Ost und West wegzubekommen. Damit entfällt automatisch eine große, nicht unerhebliche Kategorie von solchen Versuchen, über die wir sprechen.
— Genau von Ihnen habe ich die Vokabeln aufgeschrieben: Quälerei, Schande, Grausamkeit. In Verbindung mit den Tieren haben Sie dies gesprochen. Wie finden Sie es denn, wenn ich Ihnen Bilder zeige— Sie führen dies sonst so oft vor — von Menschen aus dem Iran, aus dem Irak, wo chemische Waffen eingesetzt wurden,
wenn Sie keine Mittel haben, um diesen Menschen zu helfen?
Warum müssen Sie das nur an der Ratte festmachen, daß Sie sich in eine Ratte versetzen wollen, um mal in sich zu prüfen, wie schlecht es einem geht? Wie geht es denn diesen Menschen, wenn man keine Heilmittel hat, um ihnen zu helfen?
Darum geht es, in Ruhe und Sachlichkeit restriktivda, wo nötig, nicht parallel nebeneinander her, Mittel zu entwickeln um diesen betroffenen, hilfsbe-
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6556 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Parl. Staatssekretär Würzbachdürftigen, verletzten, verwundeten, ums Leben ringende Menschen erfahren helfen zu können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, im Bereich der Bundeswehr handeln wir nach dem Gebot des § 1 des Tierschutzgesetzes: Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen. Hieran hält sich die Bundeswehr in einer sehr strengen, ich sage, in der strengstmöglichen Form.
Frau Dr. Bard hat sich noch einmal gemeldet. Entsprechend unserer Geschäftsordnung ist dies möglich. Ich erteile ihr das Wort zu einem kurzen Beitrag.
Ja, das ist ein bißchen ein alter Hut, wenn jemand von Tierquälerei redet, sofort mit dem Hinweis auf dahinter vermutete mangelnde Menschenliebe zu kontern.
Sie betonen, es geht um Diagnose, Therapie und Schutz. Wir sagen: was passiert, ist, daß die Erprobung — und das ist besonders bei biologischen und chemischen Waffen das Problem — damit gemacht wird. Wie sollen eigentlich Diagnose und Schutz entwickelt werden, wenn Sie nicht vorher die Tiere mit diesen biologischen, chemischen Mitteln infizieren, wenn Sie ihnen nicht vorher die chemischen Kampfstoffe eingeben? Dann erst doch können Sie diese Therapie überhaupt in Angriff nehmen. Sie erproben sie, Sie setzen sie ein, und damit haben Sie die Möglichkeit, zu gucken, welche Auswirkungen das auf ein Lebewesen hat. Damit haben Sie das technische und das wissenschaftliche Knowhow, um diese Waffen auch zu produzieren. Nichts anderes habe ich gesagt.
Bei der Entwicklung dieser Stoffe und der Geheimhaltung in Ost und West, bei diesem Wettlauf haben wir sehr stark die Befürchtung, daß es kein Ende in diesem Wettlauf geben wird. Deshalb sollten wir uns einfach aus dieser Sache ausklinken. Ich kann nicht sehen, daß wir uns vor diesen Waffen anders wirksam schützen können als dadurch, auf internationaler Ebene auf die Ächtung und das Verbot dieser Waffen hinzuwirken.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt. Ich bitte sie ebenso um Kürze.
Herr Statssekretär, Sie sind auf das, was wir gesagt haben, zu einem Teil überhaupt nicht eingegangen.
Erstens besteht keinerlei Notwendigkeit zur Geheimhaltung, wenn es um Versuche geht, die Menschen helfen sollen. Zweitens. Wenn es darum geht, Menschen zu helfen — egal, ob es Soldaten oder Zivilisten sind —, können diese Versuche überall und müssen nicht in der Zuständigkeit der Bundeswehr durchgeführt werden.
Es wäre drittens sogar sinnvoll, Versuche, die Menschen helfen sollen, woanders durchzuführen, weil dann nicht nur die Bundeswehr, sondern auch zivile Ärzte davon profitieren würden.
Insoweit haben Sie unsere Argumente in keiner Weise entkräftet. Es ist weiterhin nicht einzusehen, warum Sie das Genehmigungsverfahren nicht dem üblichen Tierschutz zuordnen und in einer Novellierung, die hoffentlich bald kommt, die Bundeswehr nicht als eine ganz normale Organisation gelten lassen wollen, die in zivilen Einrichtungen notwendige, den Menschen helfende Versuche durchführen lassen kann.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag auf Drucksache 10/1307 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß und an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen.
Ich habe von der Fraktion der SPD einen weiteren Vorschlag gehört, nämlich den, den Antrag auch an den Ausschuß für Forschung und Technologie zur Mitberatung zu überweisen. Schließen sich andere diesem Vorschlag an, so daß ich diesen Wunsch in die Abstimmung mit einbeziehen kann? — Das ist der Fall. — Dann sind der Überweisungsvorschlag des Ältestenrates und der Ergänzungsvorschlag der SPD-Fraktion beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 5. Oktober 1984, 8 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.