Rede von
Heinrich
Seesing
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Entwurf der SPD-Fraktion eines Gesetzes zum weiteren Ausbau der Strafaussetzung zur Bewährung — ein etwas schwieriger Titel — bleibt also nicht der einzige Antrag zu die-
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6531
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sem Problem. Ich will mich deswegen auch weniger mit den Einzelheiten des Gesetzentwurfs befassen. Das werden wir in der Ausschußberatung ja wohl tun. Vielmehr möchte ich versuchen, mich diesem Anliegen überhaupt zu öffnen und zu fragen, welche Auffassung von Sinn und Zweck des Strafrechts hierin deutlich wird. Denn die mehrfach von Ihnen jetzt genannte, auch für mich sehr unerfreuliche Tatsache, daß die Haftquote in unserem Land zu hoch ist, ist ja nicht der einzige Grund — das haben Sie auch ausgeführt — für diese Gesetzesvorlage. Ich meine dennoch, man sollte sich in der beginnenden Diskussion auch mit dieser Frage beschäftigen. Denn man muß sich wirklich fragen, warum in den Niederlanden, wie mir gesagt wurde, 31 Personen — Stand vom 1. März 1984 —, bei uns aber 104 Personen auf jeweils 100 000 Einwohner in Justizvollzugsanstalten einsitzen. Dazu wäre es wohl auch gut, zu wissen, wie es sich mit der Zahl der Untersuchungshäftlinge und mit der Dauer der Untersuchungshaft verhält. Das ist kein Leid von heute, das wir seit der Regierungsumbildung haben, sondern das ist eine Sache, die uns jetzt seit Jahren quält.
Bleibt also weiter die Frage nach dem Sinn und Zweck des Strafrechts. Ich will nicht verschweigen, daß ich in jüngeren Jahren andere Vorstellungen über Strafvollzug hatte als heute. Das ist mir beim Nachdenken über den Antrag der SPD-Fraktion deutlich geworden. Ich kann mir aber auch heute noch nicht vorstellen, daß der Staat auf das Instrument der Freiheitsstrafe verzichten kann. In der Antragsbegründung werden grundsätzliche Einwände gegen den Strafvollzug angeführt, die aber dann nicht, um das ganz deutlich zu sagen, in einem Plädoyer für die Abschaffung der Gefängnisse enden, wie ich es fast befürchtet hatte. Ich hatte nämlich kurz vorher — das muß ich hier ergänzend sagen — Auszüge aus dem gemeinsamen Positionspapier der Berliner SPD und der Alternativen Liste zur Strafvollzugsreform gelesen, dazu die Äußerung des AL-Abgeordneten Dieter Kunzelmann, der den offenen Vollzug als Vorstrafe zur Abschaffung der Gefängnisse forderte.
— Ach, Herr Fischer, lassen Sie nur!
Ich will auch nicht verschweigen, daß ich mir bei diesen Überlegungen auch die Frage gestellt habe, ob man bei den Strafzwecken nur die Sozialisierung oder Resozialisierung im Auge haben kann. Ich habe mir die Frage gestellt: Erfordert die Gerechtigkeit nicht, daß der Täter für seine Übeltaten auch sühnen muß? Darf man einen solchen Gedanken auch in die Diskussion über die Strafaussetzung zur Bewährung einführen? Ich weiß darauf jetzt keine abschließende Antwort. Ich will mich also nur noch den Fragen zuwenden, die das Verlangen nach einer Ausweitung der Möglichkeiten der Strafaussetzung zur Bewährung aufwirft. Da wir noch weitere Gesetzentwürfe zu erwarten haben und ich heute noch nicht weiß, wie die entgültig aussehen werden, möchte ich Sie bitten, meine Einlassung wirklich als grundsätzliche Fragestellung zu verstehen. Ich will versuchen, am Schluß noch zu einer kurzen ersten Wertung zu kommen.
Erstens: Geben die Erfahrungen, die bisher mit dem Institut der Strafaussetzung zur Bewährung gemacht wurden, Anlaß für eine eher behutsame — auch jetzt zitiert — Erweiterung des Anwendungsbereichs der Strafaussetzung nach § 56 des Strafgesetzbuchs oder für weitergehende Möglichkeiten? Das heißt, erweitere ich die Möglichkeit der Strafaussetzung auf Verurteilte, die eine zwei- oder gar eine dreijährige Haftstrafe zu verbüßen haben? Beim ersten Lesen des SPD-Gesetzentwurfes sind mir da bei den Vorstellungen über den § 56 Abs. 2 des Strafgesetzbuches doch noch einige Bedenken gekommen.
Zweitens. Welche Täter sollen denn nun betroffen sein? Sollen es nur Erstverurteilte sein, oder kann man sich oder darf man sich hier auch anderen Vorstellungen öffnen? Sollen Regelungen der Strafaussetzung auch bei Gewaltkriminalität gelten, um einmal harte Elemente der Kriminalität anzusprechen?
Drittens. Es geht bei der Strafaussetzung auf Bewährung nicht nur um die Frage, ob ein Verurteilter von der Vollstreckung einer Strafe verschont bleibt, es geht auch um die Frage, ob ein Gefangener im Strafvollzug vorzeitig aus der Freiheitsstrafe zur Bewährung entlassen werden darf. Wenn ja: Wer kommt für eine solche Regelung in Frage, und welche Bedingungen sind zu erfüllen? Welche Freiheitsstrafe darf nur verhängt sein, um zu einer Strafaussetzung zu kommen? Wieviel der Freiheitsstrafe muß verbüßt sein, um entlassen werden zu können?
Ich habe den Eindruck, daß wir uns zu hüten haben, diese Fragen vordergründig mit Kosteneinsparungen zu begründen; das sind natürlich wichtige Gründe, aber, meine ich, doch nicht die wichtigsten für den Ausbau dieser Möglichkeiten.
Ich halte den Hinweis auf die guten Erfahrungen, die bei Strafaussetzung im Gnadenwege bei Gefangenen mit guter Prognose gemacht wurden, für entscheidend wichtiger. Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß eine Strafaussetzung zur Bewährung nach Vollstreckung der Hälfte der Freiheitsstrafe bei sonst angemessenen Bedingungen erreicht werden kann. Auf jeden Fall muß aber an ein konkretes Strafmaß angeknüpft werden. Ich meine auch, daß wir uns darauf einigen können, wenn wir festhalten, daß mindestens sechs Monate einer Freiheitsstrafe verbüßt sein sollten, bevor einem Gefangenen die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt wird.
Ich möchte nun einen weiteren Punkt zum Bedenken hier ansprechen. In den Gesprächen, die ich im Vorfeld führte, wurden mir mehrmals die Sorgen von an diesen Fragen interessierten Bürgern — meistens also aus dem Bereich des Rechtswesens — mitgeteilt. Es wird befürchtet, daß Richter in vielen Fällen zu höheren Strafen kommen könnten, um eine Strafaussetzung zu umgehen. Ich weiß
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nicht, ob solche Befürchtungen einen realen Hintergrund haben, aber ich meine, wir sollten sie in unseren anstehenden Gesprächen auch ausräumen.
Noch eine letzte Bemerkung, die Entwicklung der Bewährungshilfe. Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir uns im Laufe der kommenden Beratungen intensiv mit diesem Instrument der Hilfe beschäftigen. Nicht ohne Grund klagen viele Bewährungshelfer über die fast unerträgliche Belastung, der sie unterliegen. Es muß nach einem vernünftigen Weg gesucht werden, hier die Dinge zu verbessern. Ich persönlich weiß noch keine Antwort, die zufriedenstellt.
Meine Damen und Herren, wir werden mit großem Ernst, Herr de With, Ihre Vorschläge und auch die anderen Vorschläge prüfen und wünschen uns, daß diese weiter vorliegenden Gesetzentwürfe möglichst schnell in die Beratungen des Deutschen Bundestages eingebracht werden.