Rede von
Roland
Vogt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)
Herr Präsident! Meine Damen und Herrn! Der Saal füllt sich wieder ein bißchen, und zwar deswegen — —
— Ach, wissen Sie, da bin ich schon bescheiden genug, um die Ursache richtig auszuloten.
Der Saal füllt sich wieder etwas, weil wir anschließend auch über das Thema Waldsterben, Katalysatoren usw. noch einmal sprechen. Ich würde mir wünschen, das wir zu dem Thema Abrüstung in unserem Volk und in diesem Bundestag allmählich die gleiche Leidenschaft erleben würden, wie wir sie zur Zeit in der Frage des Kampfes gegen das Waldsterben erleben. Ich meine, wir, Parlament und jeweils an der Macht befindliche Regierung, sollten uns das auch gemeinsam vornehmen.
Allerdings muß ich dann sagen, daß ein Bericht, der vielleicht eine Ratlosigkeit ausstrahlt, aber auch eine tödliche Langeweile wie der Bericht der Bundesregierung, den sie Abrüstungsbericht nennt, natürlich in Zukunft so nicht mehr vorkommen sollte.
Wie, meine Damen und Herren, würden Sie das nennen: Jemand tritt auf der Stelle, kommt mit mehreren Projekten über Jahre und Jahrzehnte nicht vorwärts und meint dennoch den Eindruck erwecken zu müssen, es gehe langsam, aber stetig, voran? Abgesehen davon, daß dies eine fürchterliche Quälerei sein muß — und da empfinde ich mit den regierungsamtlichen Abrüstern durchaus Mitgefühlt —, nenne ich das einen erweiterten Selbstbetrug: Der Täter betrügt sich selbst und andere mit. Einzig der Titel des vorliegenden Berichts drückt in angemessener Weise Skepsis und Realismus aus, wenn er sagt, vom Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung 1984 sei die Rede. Nun stammt dieser Titel auch nicht von der Regierung, sondern er stammt vom Parlament, das diesen Titel vor drei Jahren gefunden hat. Erfolge in der Sache können nicht vorgewiesen werden. Daß es die nicht gibt, ist zu einem gerüttelten Maß mit Schuld dieser Regierung, die nun in sehr globaler Weise über ihre Bemühungen berichtet. Das unheilverkündende Vibrieren in den Ost-West-Beziehungen, der neue atomare, chemische und konventionelle Rüstungsschub, der Abbruch der INF- und START-Verhandlungen, die Absagen von Honecker und Schiwkow, die Sterilität der Gesprächsrunden in Wien, Genf und Stockholm — all dies sind Konsequenzen einer Politik — Ihrer Politik —, die vorgab, mit neuartigen Raketen in der Bundesrepublik mehr Sicherheit produzieren zu können.
Wegen der sehr knappen Zeit — ich habe nur sieben Minuten zur Verfügung — beschränke ich mich auf wenige Punkte der Kritik.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984 6507
Vogt
Erstens. In dem Bericht fehlt jede Spur einer kritischen oder selbstkritischen Prüfung, warum Rüstungskontrolle und Abrüstung zur Zeit nicht stattfinden.
Zweitens. Statt dessen wird seitenlang die Stationierung gerechtfertigt, mit der ebenso konsequenten wie paradoxen Folge, daß auch die Gegenmaßnahmen des Warschauer Paktes in ihrer Gefährlichkeit heruntergespielt werden. Herr Kollege Verheugen hat eindrucksvoll darauf hingewiesen, und auch ich sage Ihnen: Wir werden Sie beim Wort nehmen, wenn sie Ihre Gegenmaßnahmen zu den Gegenmaßnahmen einleiten wollen.
Drittens. Dort, wo sie Begründungszusammenhänge herstellt, begibt sich die Bundesregierung auf das Niveau infantiler Schuldzuweisung, das für die Vormächte der beiden Militärbündnisse bisher kennzeichnend war. Nun hat uns aber der Kollege Todenhöfer noch einmal plastisch die Methode vor Augen geführt: Schuld ist immer nur die andere Seite; die selbstkritische Bewertung unterbleibt.
Viertens. Auf das Entwickeln von Erfolgskriterien wird völlig verzichtet. Konsequenterweise unterbleibt die Prüfung, inwieweit neu eingeführte oder geplante Waffensysteme beziehungsweise Strategien mit rüstungskontrollpolitischen Absichten vereinbar sind. Zwar ist in ideologischer Weise von Stabilität die Rede. Es unterbleibt aber die Untersuchung, von welchen neuen Waffensystemen und Strategien des eigenen Bündnisses möglicherweise destabilisierende Wirkungen ausgehen.
Fünftens. Das Erwartungsniveau ist soweit gesunken, daß das bloße Zustandekommen einer Konferenz als Erfolg bejubelt wird. Beispiel: KVAE in Stockholm. Es versteht sich von selbst, daß eine Analyse der Erfolgsbedingungen gar nicht versucht wird. Nach unserer Einschätzung leidet die KVAE in Stockholm am gleichen Gebrechen wie die INF-Verhandlungen. Der Verhandlungstisch befindet sich sozusagen in einer Schieflage. In Genf war die nukleare Seemacht nur bereit über Landstationierungen zu sprechen. In Stockholm will die nukleartechnologisch überlegene Macht USA mit der vermeintlich konventionell überlegenen Macht UdSSR nur über vertrauensbildende Maßnahmen im konventionellen Bereich verhandeln.
Hinzu kommt noch erschwerend, daß die Bundesregierung von vornherein blockpolitisch, nämlich als Teil der NATO aufgetreten ist. Statt die Möglichkeiten auszuloten, die im Zusammentreffen von 35 Staaten, darunter 33 europäische, liegen, hat die Bundesregierung dazu beigetragen, daß auch in Stockholm ein blockpolitisches Pingpong gespielt wird. Bereits am siebten Tag knallten die NATO-Länder das Paket ihrer Vorschläge auf den Tisch und provozierten damit geradezu das Njet der Warschauer-Pakt-Länder. Meine Damen und Herren, nichts gegen Stockholm; diese Ebene muß genutzt werden. Aber wir wenden und gegen den blockpolitischen Mißbrauch und die Phantasielosigkeit, die darin liegt, dort sozusagen nur als Teil des Blocks aufzutreten.
Sechstens. Im Hinblick auf die in der Bundesrepublik hochkonsensfähige Frage der Eliminierung chemischer Waffen folgt die Bundesregierung der Formel: Das Bessere ist der Feind des Guten. Unter Hinweis auf einen angeblich bevorstehenden Durchbruch auf Weltebene bekämpft sie das Konzept einer chemiewaffenfreien Zone Europa bzw. einer einvernehmlichen Lösung zwischen den beiden deutschen Staaten.
Siebentens. Der tiefe Grund für all diese Fehlleistungen, meine Damen und Herren, ist pure Ideologie. Höchster Wert ist für diese Bundesregierung nicht der Frieden, sondern Frieden in Freiheit. Der Frieden wird damit einer Bedingung unterstellt, nämlich der der Freiheit in ihrem ideologischen Sinne.
Freiheit wird damit zu einem höheren Wert als Frieden. Vertreten wird also das Ziel einer Freiheit, die auch bereit ist, den Frieden aufzuheben im Krieg, ohne daß diese Leute merken, daß sie damit auch Freiheit negieren. Sie negieren durch diese Kriegsbereitschaft, die nur von wenigen laut ausgedrückt wird, ihr eigenes Freiheitspostulat, das die Freiheit des einzelnen dort enden läßt, wo die Freiheit des anderen beginnt. „Frieden in Freiheit" heißt also nichts weniger als „Wir tun nicht alles für den Frieden".
Dagegen, meine Damen und Herren, begehren wir auf, weil die voratomare Verblendung dieser Bundesregierung noch zu etwas Schlimmerem führen kann als dem erweiterten Selbstbetrug: zum Selbstmord, der sich, wenn er verübt wird, zum globalen Suizid ausweitet.
Danke schön.