Es gilt für alle.
Die Aufforderung der Berichterstatter an die Schulen — ich zitiere —, „den Sinn des Wehrdienstes und den friedenssichernden Auftrag der Bundeswehr zu vermitteln", ist deshalb abwegig. Hier wird Lehrern etwas zugemutet, was Politiker selber nicht mehr leisten können,
nicht etwa, weil sie zu dumm wären, sondern weil die objektive Lage dies nicht mehr zuläßt.
Wenn die militärische Sicherheitspolitik zunehmend in Frage gestellt wird, dann ist das nicht Indiz für einen unzureichenden Schulunterricht,
sondern dafür, daß eine rationale Begründung der Sicherheitspolitik und des Wehrdienstes als deren Teil unter den heutigen Bedingungen nicht mehr zu leisten ist.
Aufgabe von Parlament und Wehrbeauftragtem ist es,
diese Debatte nicht unter den Tisch fallen zu lassen, sondern aufzugreifen und ihre Folgen für das Verhältnis von Militär und Gesellschaft und die innere Ordnung der Bundeswehr zu debattieren und bewußt zu machen.
Zu den veränderten Aufgaben von Parlament und Wehrbeauftragtem gehört daher erstens:
Den wachsenden Gewissenskonflikten von Soldaten ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dies bedeutet zum einen, Sorge zu tragen für den Schutz derjenigen, die sich während ihrer Dienstzeit in der Bundeswehr auf Grund der Konfrontation mit der militärischen Realität dafür entscheiden, den Wehrdienst zu verweigern. Dies bedeutet auch, eine Schutzfunktion für die sogenannten Totalverweigerer zu übernehmen, die unter Inkaufnahme von persönlichen Nachteilen durchsetzen wollen, daß in der Bundesrepublik ein wirklicher, und das heißt, ein gewaltfreier Friedensdienst geleistet werden kann.
Dieses bedeutet schließlich, dafür Sorge zu tragen, daß alle Soldaten die Möglichkeit haben, in der Friedensbewegung aktiv zu werden,
6482 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Oktober 1984
Vogt
über ihre Gewissensprobleme und über Alternativen zur aktuellen militärischen Sicherheitspolitik zu diskutieren. Die GRÜNEN begrüßen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts, daß auch Bundeswehrsoldaten sich in ihrer Freizeit in der Friedensbewegung ohne Nachteile engagieren dürfen, selbst wenn dies dem Kurs der Bonner Regierung zuwiderläuft. Wir begrüßen auch den Westerland-Appell der Christen für Frieden und Abrüstung.
Zweitens. Es ist die Pflicht von Parlament und Wehrbeauftragtem, dafür Sorge zu tragen, daß Soldaten als Menschen in Verantwortung und nicht als Befehlsempfänger behandelt werden. Die GRÜNEN tun dies, wie auch heute die Kollegin Kelly ausgeführt hat, indem sie die Soldaten nicht zu ihren Gegnern machen, sondern vielmehr immer wieder durch gewaltfreie Aktionen, Protestformen und Diskussionen appellieren, zu prüfen, ob die Soldaten die Folgen der militärischen Sicherheitspolitik, in die sie eingebunden sind und die sie tragen, mit ihrem Gewissen noch verantworten können.
Drittens. Schließlich betrachten wir es als Aufgabe des Parlaments und des Wehrbeauftragten, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen, daß immer mehr junge Menschen Soldat werden, nicht etwa weil sie für diese militärische Sicherheitspolitik sind, sondern aus sozialer Not, die nicht zuletzt durch die gigantischen Aufrüstungsprogramme und die damit verbundene Umverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen auf den Rüstungsbereich zu Lasten des sozialen Bereichs entsteht.
Was bedeutet es für diese Gesellschaft, meine Damen und Herren, wenn es sich junge Menschen nicht mehr leisten können, ihr Gewissen zu prüfen und ihm zu folgen?
Viertens wird es zu einer dringenden Aufgabe des Parlaments und des Wehrbeauftragten, der Frage nachzugehen, ob der Wehrdienst jungen Menschen heute überhaupt noch zumutbar ist.
Die vielzitierte Auffassung von Theodor Heuss, der Wehrdienst sei das legitime Kind der Demokratie, reicht angesichts der Bedrohung, die Rüstung und Militär heute für die gesamte Schöpfung darstellen, nicht mehr aus.
Wir brauchen darüber eine ausführliche gesellschaftliche Auseinandersetzung in der Bevölkerung, in der Friedensbewegung, aber auch im Parlament.
Die Antwort der GRÜNEN geht in Richtung Nein: Der Wehrdienst ist unter den heutigen Bedingungen nicht mehr zumutbar.
Daher unterstützen wir alle Versuche, den Kriegsdienst zu verweigern, und bemühen uns um eine Ausweitung dieser Möglichkeiten. Wir unterstützen die vielfältigen Aktionen der Friedensbewegung zur Verweigerung aller Kriegsdienste, die an diesem Wochenende mit dem Kongreß „Verweigert jetzt!" beginnen und ihren Höhepunkt zum Jahrestag der Stationierungsentscheidung mit den „Tagen der Verweigerung" vom 20. bis 24. November finden.
Wir fragen uns gemeinsam mit einigen Kräften in der Friedensbewegung, inwieweit ein Wehrbeauftragter von der gesetzlichen Ausstattung her den geschilderten Gewissenskonflikten noch gerecht werden kann.
Wir haben diese Frage bereits in der ersten Lesung angesichts des Befundes aufgeworfen, daß der Bericht, abweichend vom vergangenen Jahr, diesmal, ausgerechnet im Jahr der Nachrüstung, den Totalverweigerern, die er damals Dienstleistungsverweigerer nannte, keine gesteigerte Aufmerksamkeit mehr widmet. Dies hat mit dazu beigetragen, daß in einigen Organisationen der Friedensbewegung die Schaffung eines Ombud für Friedensarbeit diskutiert wird, also einer Institution oder Person, die Totalverweigerern und Friedensarbeitern Ermutigung und Schutz geben könnte. Der Ombud für Friedensarbeit soll auch den Gedanken fördern helfen, der Vollzeitkriegsstruktur eine Vollzeitfriedensstruktur entgegenzusetzen.
Danke schön.