Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ichbegrüße Sie alle herzlich.Unser Kollege und Vizepräsident Dr. Hermann OttoSolms feiert heute seinen 70. Geburtstag.
Aus diesem Anlass ist das Präsidium des Bundestagesbereits heute früh zu einer Sondersitzung zusammenge-treten,
in der mir die Anregung vorgetragen wurde, ob ich ausdiesem besonderen Anlass ausnahmsweise die Glück-wünsche in Reimform vortragen könnte. Ich fand dieAnregung plausibel, habe davon aber Abstand genom-men wegen des strikten Prinzips der Gleichbehandlung,auch wenn ich die Fröhlichkeit ahne, die eine solchekünftige Dauervariante im Plenum des Deutschen Bun-destages erzeugen könnte.Lieber Hermann Otto Solms, ganz herzliche Gratula-tion zu diesem Ehrentag, verbunden mit allen gutenRedeWünschen für die nächsten Jahre und dem Dank für einebesonders gute, freundschaftliche Zusammenarbeit inden 30 Jahren, die Sie nun dem Deutschen Bundestagangehören.
Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass die ehemaligeKollegin Monika Griefahn ihr Amt als stellvertretendesMitglied im Stiftungsrat der Kulturstiftung des Bun-des aufgibt. Als Nachfolger wird der Kollege SiegmundEhrmann vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der KollegeEhrmann als stellvertretendes Mitglied in den Stiftungs-rat der Kulturstiftung des Bundes gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden,dene Tagesordnung um die in der Zusatzpugeführten Punkte zu erweitern:zung 24. November 2010.01 UhrZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP VIa) Beratung des Antrags der Abgeordneten AgnesKrumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKulturelle Bildung von Bundesseite nachhaltigfördern – Auflegung eines Förderprogramms„Jugendkultur Jetzt“– Drucksache 17/3066 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENKein Atommüllexport nach Russland– Drucksache 17/3854 –textÜberweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FPDZurückweisung des Einspruchs des Bundesra-tes gegen das Sechste Gesetz zur Änderung desZweiten Buches Sozialgesetzbuch– Drucksachen 17/41, 17/137, 17/143, 17/355 –Die Tagesordnungspunkte VI b und c werden abge- mache ich auf eine nachträgliche Aus-eisung im Anhang zur Zusatzpunktlistedie verbun-nktliste auf-setzt.Außerdemschussüberwaufmerksam:
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Der in der 69. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung zur Mitberatung überwie-sen werden:Beratung des Antrags der Abgeordneten FritzKuhn, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMenschenwürdiges Dasein und Teilhabe füralle gewährleisten– Drucksache 17/3435 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungSind Sie auch damit einverstanden? – Das ist offen-sichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesord-nungspunkt I – fort:a) Zweite Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2011
– Drucksachen 17/2500, 17/2502 –b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haus-haltsausschusses zu der Unterrich-tung durch die BundesregierungFinanzplan des Bundes 2010 bis 2014– Drucksachen 17/2501, 17/2502, 17/3526 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider
Otto FrickeRoland ClausAlexander BondeIch rufe den Tagesordnungspunkt I.8 auf:Einzelplan 04Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt– Drucksachen 17/3504, 17/3523 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleRüdiger KrusePetra Merkel
Dr. h. c. Jürgen KoppelinDr. Gesine LötzschPriska Hinz
Wir werden über den Einzelplan 04 später namentlichabstimmen. Zuerst findet aber die Aussprache statt.Dazu ist zwischen den Fraktionen eine Zeit von dreiein-halb Stunden vereinbart worden. – Auch dazu höre ichkeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenFrank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Kollege Solms, auch von mir einen ganz herzli-chen Glückwunsch. Wenn ich Sie anschaue, dann mussich schließen, dass dieser Bundestag der reinste Jung-brunnen sein muss. Freuen wir uns alle darüber.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Hoffnung macht sich breit in Deutschland,
Hoffnung, dass die Krise überstanden ist, dass der Auf-schwung länger anhält als nur ein paar Monate. Wir allewünschen uns parteiübergreifend und fraktionsübergrei-fend, dass diese Hoffnung in Erfüllung geht. Auch aufder Regierungsbank macht sich Hoffnung breit, abereine andere Hoffnung, die Hoffnung nämlich, dass dieErinnerung verblasst und dass die Menschen vergessen,was diese Koalition seit der Bundestagswahl tagtäglichangerichtet hat und weiter anrichtet.
Aber ich sage Ihnen voraus: Diese Hoffnung wird verge-bens sein, sie wird sich als Kinderglaube erweisen. DieMenschen – das wissen Sie doch am besten –, die Sievor einem Jahr gewählt haben, haben vielleicht von poli-tischer Führung oder von der Einlösung von Wahlver-sprechen geträumt. Was haben sie bekommen? EinenAlbtraum, Regierungschaos ohne Ende.
So viel Durcheinander, so viel Orientierungslosigkeit, soviel Unernst war noch nie.
– Ja, und dagegen haben wir etwas getan, lieber HerrKollege Kauder. –
Der Schreck darüber, wie sich das im Augenblick dar-stellt, sitzt tief bei vielen Menschen. Der Schreck hält an.Gerade in der Krise 2008 und 2009 haben die Menschendoch erfahren, dass man sich in einer solchen Situationauf eine Regierung mit Ernsthaftigkeit, mit Kompetenzund mit Verantwortung verlassen kann. Das ist geradeeinmal anderthalb Jahre her. Da ist wieder Vertrauenentstanden, das vorher verloren gegangen war. Das Dra-matische ist doch, dass diese Koalition innerhalb einesJahres dieses frisch gewachsene Vertrauen restlos ver-schleudert hat.
Die Menschen haben gesehen, dass es darauf ankommt,wer in einer Regierung ist, nicht darauf, dass es einegibt. Sie haben in den letzten Monaten erfahren, dass esauch anders sein kann, dass es Regierungen gibt, die um
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den eigenen Bauchnabel kreisen, statt sich um die wirk-lichen Aufgaben zu kümmern, und die schamlos – dastaten Sie zu Beginn Ihrer Regierungszeit – die eigeneKlientel bedienen, statt sich um das Gemeinwohl zukümmern. Das hat sich tief bei den Menschen einge-brannt.
Sie alle reden ganz gerne von den bürgerlichen Tu-genden. Das haben wir in diesem ersten Jahr gemerkt.Alle, die dort sitzen, hätten viele Gelegenheiten gehabt,jeden Tag des ersten Jahres dieser Regierungszeit dieseTugenden zu leben: Mut, Verlässlichkeit, Gewissenhaf-tigkeit, Pflichtbewusstsein, Fairness und Loyalität unter-einander – ich könnte die Aufzählung fortsetzen. Aberwill jemand in diesem Saale wirklich ernsthaft behaup-ten, das seien die Markenzeichen dieser Regierung?
Die Menschen lachen doch inzwischen, wenn sie das hö-ren. Wenn Sie von bürgerlichen Tugenden reden, ist daseine Karikatur. Das können Sie nicht ernst meinen.
Sie, Frau Merkel, überschätzen Ihre Lage. Vergan-gene Woche haben Sie gesagt: Der Stil war vielleichtverbesserungsfähig, aber die Ergebnisse stimmen.
Sie haben auch noch die Frechheit besessen, diese Platti-tüde in einem Brief millionenfach in allen Zeitungen ab-zudrucken.
Dann haben Sie in diesem Brief geschrieben: „Jetztgeht der Blick nach vorne.“ „Sapperlot!“, habe ich ge-dacht, „So will sie sich also aus der Affäre stehlen.“ Ichfinde, das ist auf der einen Seite dreist, auf der anderenSeite ignorant. Ich spüre doch: Die Menschen wollen imAugenblick keine neuen Versprechungen hören, nichteine, nicht zwei, nicht drei, nicht vier. Was sie vielmehrerwarten, das ist eine Erklärung für das Trauerspiel, daswir in diesem ersten Jahr erlebt haben. Sie wollen wis-sen, wann diese Koalition endlich in der Regierung an-kommt und warum man Ihnen glauben soll, dass es bes-ser wird.Aber es wird doch nicht besser; das haben wir dochletzte Woche gesehen. Vor dem Koalitionsausschuss ha-ben Sie selbst Ankündigungen gemacht. Sie haben dieÖffentlichkeit informiert, was dort angeblich alles aufder Tagesordnung steht. Aber als Sie zusammengesessenhaben, als es ernst wurde, gab es dann wieder einenKomplettausfall. Das, was ich schon gesagt habe, gilt:Aus dem Herbst der Entscheidungen, den Sie angekün-digt haben, ist wieder einmal eine Woche der Vertagunggeworden. Diese Art von Regierungsverweigerung,diese Art von Führungsverweigerung können wir diesemLand nicht noch drei Jahre zumuten.
Wer sich den Brief einmal ein bisschen genauer ange-schaut hat, den Sie da haben abdrucken lassen, der ahntungefähr, warum das alles so weitergeht. Das beginntschon mit dem Zeitpunkt, zu dem dieser Brief abge-druckt worden ist. Ich weiß nicht, ob es das jemals gab.Ich finde es unglaublich, dass hier Steuergeld benutztwird, um einen Parteitag der CDU zu finanzieren und zupromoten.
Das ist leider nicht der einzige Widerspruch, auf denich hier in diesem Hause hinzuweisen habe. Wir redenüber den Haushalt. Der vorgelegte Haushalt sieht eineNeuverschuldung von 48 Milliarden Euro vor. Gleich-zeitig versprechen Sie in diesem Brief, Sie wollten indiesen Tagen solide Finanzen sichern. Ich fordere Sie,meine Damen und Herren von den Regierungsfraktio-nen, auf, erst einmal die Millionenausgaben für dieseteuren Anzeigenkampagnen zu sparen, mit denen SieIhre eigenen parteipolitischen Ziele promoten. Dafür istdas Geld nicht vorgesehen.
Außerdem steht in diesem Brief: „Wir sparen an vie-len Stellen, aber nicht an der Zukunft.“ Hier im Bundes-tag, Frau Merkel, haben Sie in jeder Plenarsitzung dieChance, Politik zu erklären, und das ganz kostenlos. Daoben sitzen Journalisten, die schreiben das sogar auf,auch kostenlos. Ihr Risiko ist nur: Sie werden nachprü-fen, ob das stimmt, was Sie hier sagen.
Sie werden morgen schreiben: Das, was Sie hier alsHaushalt vorlegen, bedeutet die zweithöchste Nettoneu-verschuldung in der Geschichte der Republik; trotz Wirt-schaftsboom mehr Schulden als unter Theo Waigel amEnde der Regierung Kohl, und damals war immerhinnoch die deutsche Einheit zu finanzieren.Wir müssen unseren Blick aber nicht nur auf diesenHaushalt, sondern auch auf die mittelfristige Finanz-planung richten. Milliardenschwere Löcher sind jetztschon abzusehen. Wann drohen wohl die größten Lö-cher? Genau im Jahr nach der nächsten Bundestagswahl2014. Dann sind Luftbuchungen in der Größenordnungvon 11 Milliarden Euro vorgesehen: globale Minderaus-gaben, nicht ausreichende Mittel für die Bundeswehrre-form, und so geht das weiter. Steuereinnahmen aus demWachstum fallen Ihnen allen hier von den Regierungs-fraktionen in den Schoß. Sie nehmen Luftbuchungenvor. Das entspricht weder bürgerlicher Tugend, noch istes ehrlich.
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Das Ganze ist auch kein Geheimnis. Ich sage das, umgleich zu der Erklärung zu kommen, warum dieserHaushalt so aussieht: Ich weiß natürlich, Frau Merkel,dass viele in den Regierungsfraktionen, besonders vonIhrem Koalitionspartner FDP, sich schon wieder anSteuersenkungen orientieren. Wenn ich die Zeitungenrichtig lese, dann tun Sie selbst im Augenblick so, alsseien Sie dagegen. Aber ich wette, heimlich werden Siefür das Wahljahr schon eine Steuersenkung vorbereiten.Herr Schäuble legt – man erkennt es, wenn man genauhinschaut – dafür ja schon Reserven an. Das geht nachdem Motto: die Schuldenbremse ein bisschen aushöhlen,42 Milliarden Euro mehr Spielraum für Schulden schaf-fen, um dann pünktlich im Wahljahr Steuersenkungen zumachen.Nur, das ist erkannt. Die Bundesbank, der Bundes-rechnungshof, der Sachverständigenrat – sie alle mah-nen. Hören Sie auf, an dieser Stelle zu tricksen. WennSpielraum vorhanden ist, dann haben Sie die Neuver-schuldung zu reduzieren. So ist das vorgesehen, so ha-ben wir es gemeinsam in die Verfassung geschrieben.
Aber Fakt ist: Sie halten sich nicht daran, meine Damenund Herren von der Regierung.
Das ist einer der Gründe, weshalb die Menschen Ihnen – dasspüren Sie doch – nicht glauben. Sie glauben Ihnen nichtnach drei kompletten Kurswechseln innerhalb von sie-ben Jahren. Frau Merkel, vor sieben Jahren waren Siemarktradikale Vorkämpferin beim Leipziger Programm.Zu Zeiten der Großen Koalition wären Sie am liebstensozialdemokratischer gewesen als die Sozialdemokraten.Ein Jahr später kommen Sie jetzt als neue Konservativedaher. Deshalb frage ja nicht nur ich mich, sondern fra-gen sich viele in der Öffentlichkeit: Was ist der Kom-pass? Wofür steht diese Regierung? Was ist das Ziel? Wowollen Sie hin? Was ist Ihre Vorstellung von Gesell-schaft? Mal hü, mal hott und jeden Tag neuer Streit: malBrüderle gegen Röttgen, mal Westerwelle gegenGuttenberg und immer Seehofer gegen alle. Dieserkleinkarierte, eitle Profilierungsstreit statt ernsthafterPolitik verleidet den Menschen Politik, und das bringtsie weg von der Politik. Das schadet allen, meine Damenund Herren.
Reden und Handeln, das liegt halt bei dieser Regie-rung ein deutliches Stück auseinander, und diesen Wi-derspruch empfinden die Menschen doch. Herr Brüderleklopft sich öffentlich auf die Schultern und sagt: Das,was wir da haben – wir werden das heute ja noch einpaarmal hören –, ist Aufschwung XXL.
– Dann können Sie gleich nochmal klatschen,
weil ich Ihnen sage: Derjenige, der so redet, hat gegenalles gestimmt, was diesen Aufschwung begründet hat.
Er hat gegen das Konjunkturprogramm, gegen das In-vestitionsprogramm für Gemeinden, gegen die Brückefür die Automobilindustrie und gegen das Kurzarbeiter-geld gestimmt. Das alles hat funktioniert, aber es wäredoch mit der FDP nicht gekommen. Das ist doch dieWahrheit.
Dann kommt noch eines hinzu. Wir werden im Laufedes heutigen Tages noch häufiger über Europa reden.Auch da ein interessanter Blick auf Ihren Koalitionspart-ner, Frau Merkel, und, weil wir über Irland reden, auchein Blick auf Irland: Es war doch Ihr Koalitionspartner,der hier in diesem Hause Irland immer zum Modellpart-ner in der Europäischen Union erklärt hat. Er hat erklärt,daran müssten wir uns alle orientieren. Das war doch fürSie von der FDP das leuchtende Beispiel für ungehinder-ten Wirtschaftsliberalismus. Dort gab es einen Regie-rungschef – nicht mehr lange – aus Ihrer eigenen Partei-enfamilie. Ich bin froh, dass wir uns daran nichtorientiert haben.
Ich bin froh, dass die FDP damals nicht in der Regierungsaß, sonst säßen wir heute in demselben Schlamassel wieIrland.
Wir reden ja nicht nur über die Fraktionen hier imDeutschen Bundestag, sondern auch über die Menschen,für die Politik gemacht wird. Wenn diese Ihren Satz vom„Aufschwung XXL“ hören, dann fragen sie sich doch:Was bedeutet das eigentlich für mich? Wann kommt die-ser Aufschwung XXL bei mir an? Was wird eigentlichaus den Versprechen der Regierungsparteien, dass amEnde mehr Netto vom Brutto übrig sein soll? Die wissendoch inzwischen, dass das eine grandiose Täuschungwar. Sie wissen doch, dass sie zum 1. Januar nächstenJahres mehr Beiträge bezahlen müssen, aber nicht mehrNetto haben werden.Ich sage Ihnen mit Blick auf die Gesundheitsreform:Da hätten wir keine Überhöhung mit bürgerlichen Tu-genden gebraucht. Angebliche Gesundheitsreformen mitBeitragserhöhungen hätten auch andere gekonnt.
Aber das ist ja noch gar nicht der Punkt, wenn es um Ge-sundheit geht. Der eigentliche Punkt ist ja, in welcheRichtung diese Reformschritte, die wir da gegenwärtigerkennen, die aber den Namen „Reform“ nicht verdie-nen, wirklich gehen und welches Ziel damit verfolgtwird. Das, was da gemacht wird, ist doch entgegen allenVersprechungen alles andere als fair. Das ist – lassen Siees mich vorsichtig sagen – nicht mehr, aber auch nichtweniger als die Aufkündigung des Solidarprinzips imGesundheitswesen. Darüber reden wir, und darüber müs-sen wir auch heute reden.
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Ich erinnere mich noch sehr gut an die ersten Wochenund Monate dieser Regierung: Es konnte Ihnen, noch be-vor Sie wussten, wohin Sie wollten, gar nicht schnell ge-nug gehen, das Beitragslimit für die Arbeitgeberseitehier im Hause durchzusetzen. Die Folge davon habendoch alle vor Augen. Sie wissen doch, was Sie tun. AlleLasten, alle künftigen Kostensteigerungen, sei es bei denArzneimitteln, sei es aufgrund einer besseren medizini-schen Versorgung, all die steigenden Kosten lasten Sieeinseitig nur noch den Versicherten auf. Dazu kommenZusatzbeiträge. Dazu kommt das neu eingeführte Prin-zip, in Vorkasse treten zu können. Wir werden dann,wenn Sie Ihre angebliche Arbeit erledigt haben, nichtmehr über dasselbe Gesundheitswesen reden. Was Siemachen, ist die Aufkündigung des Solidarprinzips; dasschafft Patienten erster, zweiter und neuerdings sogardritter Klasse. Sie schwadronieren von Fairness. Ich sageIhnen, das ist verantwortungslos, was Sie da auf denWeg bringen.
Nach dem Parteitag der CDU konnte man sehen, dasssich viele Kommentatoren mit der Frage beschäftigten:Warum kettet sich eigentlich die CDU, warum kettet sichdie Parteivorsitzende der CDU auf diesem Parteitag ei-gentlich an die FDP als Partner? Ich habe die kritischeFrage gar nicht verstanden. Für mich ist das völlig klar:Für diese Politik – ich habe die Folgen eben beschrie-ben – gibt es keinen anderen Partner hier im Hause alsdie FDP. Deshalb ist das doch alternativlos, wie sichzeigt.
Ich finde, angesichts dessen, was wir gerade exempla-risch im Bereich der Gesundheitspolitik erleben – dieFolgen davon werden Sie in den nächsten Jahren nochspüren –, sollten wir etwas nüchterner über bürgerlicheTugenden reden. Wir sollten auch etwas nüchterner hin-schauen, wenn Sie über Gemeinsinn reden, aber inWahrheit das Gegenteil tun.Was nützt es dem Gemeinwohl – ich frage Sie nocheinmal allen Ernstes –, wenn wir nicht vorhandenen Ver-teilungsspielraum nutzen, nein, ausbeuten, um ein paarHotelbesitzern ein paar Millionen Euro zuzuwenden?
Was nützt es dem Gemeinwohl, wenn Sie vier Ener-gieversorgern die Laufzeiten für deren Atomkraftwerkeverlängern?
Wie fördert es den Gemeinsinn, wenn Sie den Min-destlohn flächendeckend verweigern und denjenigenMenschen, die 4 Euro verdienen, sagen: Das ist zwar be-dauerlich, aber holt euch den Rest vom Amt und tretet daals Bittsteller auf?Wie stärkt es den Gemeinsinn, wenn Sie den Lang-zeitarbeitslosen den Rentenversicherungsbeitrag strei-chen?Ich kann doch diese Liste mühelos fortsetzen. Schonnach einem Jahr wird so deutlich: Das ist keine Politikfür mehr Gemeinsinn, sondern in allen Politikfelderngibt es politische Vorschläge und am Ende auch Gesetze,mit denen Sie die Spaltung dieser Gesellschaft vertiefen.Die Folgen davon können Sie beobachten.
Ich rede nicht von Stuttgart, und ich rede auch nichtnur von Gorleben. Aber zumindest da kann man be-obachten, dass die Menschen inzwischen ganz offenbarSchwierigkeiten haben, parlamentarische Beschlüsseund demokratische Verfahren zu akzeptieren.Bezogen auf die Laufzeitverlängerung sage ich Ihnen:Sie wird kein einziges Problem der Energieversorgungder Zukunft lösen. Was Sie auslösen – da bin ich mirvöllig sicher –, ist Planungsunsicherheit in den nächstenJahren in der gesamten Energiewirtschaft. Sie verursa-chen Investitionsruinen bei den kleineren Energieversor-gern, insbesondere bei den Stadtwerken. Frau Merkel,Sie wissen schon jetzt: Sie werden selbst bei den unions-geführten Ländern, spätestens aber beim Bundesverfas-sungsgericht mit diesem Gesetzesvorhaben scheitern.All das ist schon jetzt absehbar.
Das sind aber nur die Konsequenzen im Bereich derEnergiepolitik.Wenn wir über Demokratie und unser Gemeinwesenreden, kommt es auch darauf an, welche Folgen dies ab-seits der Energiepolitik haben wird. Ich sage Ihnen: Sievon den Regierungsfraktionen begreifen einfach nicht,dass der Atomkonsens von 2000 die neue Energiepolitik– Sie alle setzen sich drauf und tun so, als hätten Sie sieerfunden – überhaupt erst möglich gemacht hat.
Sie reißen alte gesellschaftliche Großkonflikte, die die-ses Land in den 80er- und 90er-Jahren fast zerrissen ha-ben, ohne Not wieder auf.Meine Damen und Herren von den Regierungsfrak-tionen, Sie müssen begreifen: Die Menschen wollen eineEnergieversorgung ohne Atommüll; sie wollen jedochnicht den Rückmarsch in die 90er- oder 80er-Jahre. Dabin ich völlig sicher.
Zum Schluss ein Wort zu Europa. Ich glaube, dieLage ist ernst, und zwar nicht allein wegen Griechenlandund Irland. Ich schaue mit einiger Sorge auf das große
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europäische Einigungswerk. Es liegt im Moment in Apa-thie. Die europäischen Führungsmächte sind aus meinerSicht nicht an Bord. Wo sie an Bord sind – in Klammern:Deauville –, da haben die anderen nicht den Eindruck,als ginge es um Europa.Um da nicht missverstanden zu werden: Es ist völligklar, dass eine deutsche Bundeskanzlerin, eine deutscheRegierung deutsche Interessen hat, die sie in Brüsselvertreten darf und muss; das war immer so. Der Unter-schied ist nur: Wir werden zurzeit offenbar nicht verstan-den. Das kann doch nicht nur an den anderen liegen; da-für spricht wenig.
Das hängt offenbar damit zusammen, dass wir es mit dentaktischen Spielchen ein wenig übertrieben haben – ichhabe das schon einmal am Beispiel der Finanzmarkt-steuer durchbuchstabiert –: Wir tun so, als würden wirwollen, aber hintenherum sagen wir, dass es eigentlichgar nicht unsere Absicht ist. Die anderen Länder merken,wenn eine Regierung Nutzen daraus zieht, dass der Bou-levard gegen die südeuropäischen Partner vom Lederzieht. Die kleinen Länder werden vor den Kopf gesto-ßen, wenn man nicht auf Augenhöhe mit ihnen spricht.Mir macht es Sorgen, wenn ich sehe, wie viel Empö-rung und Abneigung uns mittlerweile von vielen euro-päischen Partnern entgegenschlägt.
Frau Merkel, das müssen auch Ihre Sorgen sein. SeienSie einen Augenblick ernsthaft. Sie wissen genau, dasssich da etwas im europäischen Rahmen verändert. Esmuss auch Ihre Sorge sein, wenn uns der Verdacht entge-genschlägt, wir hätten unser Interesse an Europa verlorenoder hätten gar – das wäre vielleicht noch schlimmer –aus einem ökonomischen Kalkül heraus ein Interesse aneiner Renationalisierung. Ich behaupte nicht, dass dasstimmt. Ich behaupte, dass wir auf der europäischenEbene von vielen unserer Partner nicht verstanden wer-den. Wenn das so ist, dann liegt auch das in der Verant-wortung dieser Regierung.
Meine Erfahrung ist jedenfalls: Man kann in EuropaMehrheiten erzwingen und dabei gleichzeitig dochscheitern, wenn man nämlich auf dem Weg zu einer Ent-scheidung allzu viele Verletzte hinterlässt, wenn man zu-lässt, dass die heimischen Medien Ressentiments gegeneinige Partner schüren,
vor allen Dingen, wenn man mit den Partnern zu sehrvon oben herab spricht.Damit Sie es nicht missverstehen: Das sind nichtmeine Worte. Das eher regierungsfreundliche Handels-blatt schreibt:
Merkels Politik … führt zu Unsicherheit und Un-frieden. Angela Merkel ist stark gegen die Schwa-chen. Der Weg, den sie einschlägt, führt nicht nachEuropa.
Natürlich werden Sie sagen – das verstehe ich ja –: Dasist das Handelsblatt; das ist starker Tobak. – Nur, igno-rieren dürfen wir und erst recht Sie das nicht.Die Wege aus der europäischen Krise – das ist meineÜberzeugung – führen nicht über vordergründige Schuld-zuweisungen und nicht über Paternalismus. Sie könnennur über eine neue europäische Politik führen. Wann,wenn nicht in Zeiten der Krise, ist der richtige Zeitpunkt,um daran zu arbeiten, was eine gemeinsame europäischeWirtschafts- und Finanzpolitik sein könnte?
Wann, wenn nicht jetzt, ist der richtige Zeitpunkt für ei-nen ernsthaften Versuch einer Annäherung der Steuer-politiken? Dabei geht es nicht um die Stellen nach demKomma, natürlich nicht, aber über die Arten der Besteu-erung, die Korridore für das Maß der Besteuerung mussman doch jetzt reden. Ich bin sicher, auch Partner wiedie Iren sehen das heute anders als vor zwei Jahren.
Zu all dem höre ich nichts. Stattdessen höre ich Beleh-rungen. Das bringt Europa nicht neu zusammen. Ich weißselbst: Europa und die europäische Integration sind keineSelbstläufer, waren es auch in der Vergangenheit nicht. Eshat sich aber etwas verändert – deshalb müssen wir ge-nauer hinschauen –: Die Fliehkräfte in Europa habenganz ohne Zweifel zugenommen. Dass nationalpopulisti-sche Strömungen in Europa stärker geworden sind, auchdas wird in diesem Hause keiner bestreiten. Ich unter-stelle, dass es keiner gut findet, dass sie in einigen euro-päischen Ländern die Regierungspolitik schon mitbe-stimmen. Ich sage nur: Wenn wir nichts dagegen tun,werden solche nationalpopulistischen Strömungen nichtauf Dauer an uns vorbeiziehen. Es ist Ihre Verantwortung,auch die Verantwortung der Bundesregierung – dabeikönnen Sie mit unserer Unterstützung rechnen –, geradejetzt der europäischen Idee eine neue Kraft zu geben. Ichweiß, dass das nicht im Trend liegt, aber es drängt, wennwir nicht alle Schaden nehmen wollen. Nehmen Sie dieseVerantwortung an!
Frau Merkel, Sie haben sich entschieden, nach mir zureden.
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Ich ahne, was Sie sagen werden: Der Fraktionsvorsit-zende der SPD hat tüchtig geschimpft, aber er hat nichtgesagt, was die SPD anders machen würde.
Um es ganz klar zu sagen – Sie dürfen jetzt bei jedemSatz klatschen –: Mit uns gäbe es diese Gesundheits-reform nicht.
Wir haben Ihnen gezeigt, wie man eine Gesundheits-reform machen und dabei das Solidarprinzip erhaltenkann. Wir haben Ihnen gezeigt – das ärgert Sie doch –,wie man eine Gemeindefinanzreform machen kann,ohne den Gemeinden das Geld wegzunehmen.
Noch mehr ärgert Sie, dass wir die Blockaden, die Sie inden 90er-Jahren im Bereich der Energiepolitik geschaf-fen haben, aufgelöst und eine neue Energiepolitik in die-sem Land überhaupt erst möglich gemacht haben.
Was ich Ihnen auch sagen kann: Mit uns, mit derSPD, gäbe es das Programm „Soziale Stadt“ nicht nurals Überschrift und Symbolik in diesem Haushalt, son-dern es wäre mit Substanz erfüllt, weil es nicht reicht,Beton zu finanzieren, wenn man es mit der Integrationernst meint.
Entscheidend aber ist: Bei uns gäbe es die fixe Ideevon Steuersenkungen als Selbstzweck nicht. Politikheißt Entscheiden, und entscheiden muss man über Prio-ritäten. Ich prophezeie Ihnen: Bildung und Integration,das sind die beiden Themen, die darüber entscheidenwerden, ob uns das nächste Jahrzehnt gelingt. Das mussfinanziert werden, aber Sie tun das nicht. Sie erfüllenIhre eigenen Versprechungen nicht.
Regieren ist mehr, als eine Koalition zu führen. DerHaushalt, den Sie hier vorstellen, mag zum vorläufigenÜberleben des schwarz-gelben Bündnisses beitragen;aber er ist ohne jede eigene Idee von Zukunft. Das stehtfür Weiterwursteln in guten Zeiten; aber für schwereZeiten taugt das nicht, was Sie hier vorstellen.Die jetzige Situation – ich freue mich darüber, dasswir besser durch die Krise gekommen sind als andere –schafft riesige Chancen; aber jede dieser Chancen habenSie im ersten Jahr Ihrer gemeinsamen Regierung verstol-pert. Dieser Haushalt spricht dafür, dass sich das nichtändert. Es bleibt dabei: Dieses Land wird weit unter sei-nen Möglichkeiten regiert. Das liegt in Ihrer Verantwor-tung, und an den Quittungen wird schon geschrieben.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun die Bundeskanzlerin, Frau
Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei derRede von Herrn Steinmeier hat sich Herr Gabriel lieberganz nach hinten gesetzt, damit man sein Gesicht nichtsieht.
Er ist Vorsitzender, sitzt aber ganz hinten – toll.
Lieber Herr Steinmeier, nach Ihrer Rede habe ich nurein einziges Bedürfnis: endlich eine Rede über die Zu-kunft Deutschlands zu halten,
über die Zukunft eines tollen Landes mit wunderbarenMenschen, denen ich nicht nur in meinem Brief gedankthabe, sondern denen ich ausdrücklich auch heute vondieser Stelle aus noch einmal danken möchte dafür, wiesie sich in den Zeiten der Krise verhalten haben, wie sieihren Beitrag für unser Land geleistet haben. HerzlichenDank dafür!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir führen dievierte Haushaltsdebatte in diesem Jahr. Im März, als wirüber den Haushalt 2010 debattiert haben, sah es so aus,als würden wir einigermaßen aus der Krise herauskom-men. 1,4 Prozent Wachstum war die Prognose. Interna-tionale Zeitungen, zum Beispiel der Economist, habenschon damals geschrieben: Deutschland scheint besseraus der Krise herauszukommen, als man ahnen konnte. –Aber heute können wir sagen – das zeigt, welche Verän-derung noch im Gange ist –: Wir werden wahrscheinlichim Jahre 2010 3,4 Prozent Wachstum haben, 2011 wie-der fast 2 Prozent, und auch für die folgenden Jahre kön-nen wir, wenn wir alles richtig machen, auf vernünftigeWachstumspfade hoffen.
Das bringt mit sich, dass – das ist das Wichtigste – dieMenschen Arbeit haben, jedenfalls sehr, sehr viele. DieZahl der Arbeitslosen ist unter 3 Millionen gesunken.Für das nächste Jahr heißt die Prognose: im Durchschnitt
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2,9 Millionen. Das darf uns nicht ruhen lassen. Wenn wirüber Gerechtigkeit in diesem Lande sprechen, dann kön-nen wir sagen: Heute haben mehr Menschen Arbeit alsvor der Krise. In Ostdeutschland haben mehr MenschenArbeit, als das seit 1991 der Fall war. Die Arbeitslosig-keit ist die geringste seit 1991. Vor allen Dingen ist einAbsinken der Langzeitarbeitslosigkeit zu verzeichnen.Nach langer Zeit ist nun endlich ein Effekt eingetreten.Da müssen wir weitermachen; da liegen unsere Aufga-ben für die Zukunft. Da sind wir auf einem guten Weg,auf dem wir aber nicht haltmachen, sondern weitergehenwerden. Das ist unsere Aufgabe.
Wie konnten wir so durch die Krise kommen? Wasmacht unser Land aus?
Das ist einerseits eine innovative Wirtschaft mit einemstarken industriellen Kern; das ist ein dynamischer Mit-telstand; das sind leistungsstarke Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer, und das ist eine verlässliche Sozial-partnerschaft. Das ist genau das, was wir als gelebtesoziale Marktwirtschaft bezeichnen können, eine so-ziale Marktwirtschaft, die im Übrigen auf der Welt oftetwas belächelt wurde. Jetzt, nach der Krise, werden wirvon vielen Ländern auf der Welt genau um diese gelebtesoziale Marktwirtschaft beneidet.
Das haben wir gemeinsam geschafft, das haben wiruns gemeinsam erarbeitet. Ich stehe auch gar nicht an, zusagen: Daran haben natürlich nicht nur die jetzige Regie-rung und die Vorgängerregierung, sondern sogar die Re-gierung, die die Agenda 2010 erfunden hat – genau auchdie –, ihren Anteil. Das Problem des betreffenden Teilsdes Hauses ist nur, dass Sie davon am liebsten gar nichtmehr sprechen möchten, dass Sie sich so schnell davon-stehlen wollen, wie Sie nur können. Das ist Ihr Problem.
Man kann eben nicht Erfolge einheimsen und sichgleichzeitig nicht zu dem, was man gemacht hat, beken-nen. Deshalb müssen wir darüber sprechen.Aber wir müssen auch darüber sprechen, dass sich na-türlich auch im Haushalt 2011 noch deutlich die Spurendieser seit Jahrzehnten größten internationalen Finanz-und Wirtschaftskrise zeigen. Dazu gehört, dass unsereSchuldenquote von 66 Prozent im Jahr 2008 auf über75 Prozent angestiegen ist, dass wir in diesem Jahr einDefizit von etwa 4 Prozent haben werden und dass wir50 Milliarden Euro – plus oder minus; das kann ichheute noch nicht genau sagen – Schulden machen wer-den, also eine unglaubliche Summe von Schulden. Des-halb heißt die Aufgabe natürlich, dass wir da besser wer-den müssen. Wir können uns nicht damit herausreden,dass wir sagen: Im Euro-Bereich, zum Beispiel, gibt eseine mittlere Verschuldung von 6,7 Prozent. Da sind wirbesser. – Okay, das ist schön. Wenn wir nach Großbritan-nien oder in die Vereinigten Staaten von Amerikaschauen, stellen wir fest, dass wir auch besser sind. Auchdas ist schön. Aber wir müssen unsere Maßstäbe an derSchuldenbremse ausrichten; es ist gut, dass wir sie imGrundgesetz haben.
Und es ist gut, dass wir uns genau daran orientieren.
Die Sache wird ja auch nicht besser dadurch, dass Siehier Stunde um Stunde wiederholen, dass wir das nichttäten.
Es ist doch völlig klar: In einem Jahr, in dem sich dieDaten unablässig verändern,
glücklicherweise einmal zum Positiven, müssen Sie ei-nen Punkt nehmen, an dem Sie ansetzen. Wenn es nachIhnen gegangen wäre, hätten wir schon vor der Wahl inNordrhein-Westfalen den Haushalt aufstellen sollen. Sohaben Sie damals doch geredet.
Nein, wir haben ihn dann aufgestellt, wenn man ihn nor-malerweise aufstellt, nämlich im Juni und im Juli. Dasist der Bezugspunkt. Wenigstens diejenigen bei Ihnen,die Finanzpolitik betreiben, wissen, dass man die mittel-fristige Finanzplanung an einem bestimmten Tag festle-gen muss und dass sie nicht mehr Gegenstand der Bera-tungen im Deutschen Bundestag ist.
Das ist die Wahrheit, und deshalb haben wir uns so ent-schieden. Das werden wir auch weiter machen.
Das, was wir an Konsolidierung machen, ist Zukunfts-politik; denn da geht es um Generationengerechtigkeit,um Spielräume.Um das noch einmal vor Augen zu führen: Wir habenheute für Zukunftsausgaben 28 Prozent des Haushaltszur Verfügung, 1991 waren es 43,4 Prozent. In dieseRichtung müssen wir wieder kommen. Da kann es unsnicht allein beruhigen, dass wir sagen: Wir haben für2011 jetzt 10,6 Prozent Investitionen; das ist mehr, alswir seit Jahren hatten. Deshalb sage ich auch: Wir sparennicht an der Zukunft, sondern diesen Haushalt kenn-zeichnet, dass wir für die Zukunft sparen, für den Aus-bau von Kinderbetreuung, für Bildung und Forschung,für die Erhöhung der Investitionsquote. Das ist das Cha-rakteristikum unseres Haushalts.
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Wir haben – auch das noch einmal zur Erinnerung;das hat natürlich auch zu dem Wirtschaftswachstum bei-getragen – zu Beginn des Jahres massive Steuerentlas-tungen gehabt.
Diese wurden teilweise schon in der Großen Koalitionbeschlossen. Hinzugekommen ist das Wachstumsbe-schleunigungsgesetz.Wir werden weiter an den Fragen der Steuern arbei-ten. Wir brauchen eine bessere Ausstattung der Gemein-den. Dafür werden wir Lösungen vorschlagen. Das istein drängendes Problem.
Es ist schon wirklich abenteuerlich,
dass Sie, die Sie damals durch Steuerreformen den Kom-munen Gewerbesteuern en masse gestohlen haben, unsjetzt hier sagen, Sie wüssten, wie man eine Gemeindefi-nanzreform macht. Das ist doch wirklich abenteuerlich.
Wir werden Vorschläge zur Steuervereinfachungmachen.
Diese werden am 1. Januar 2012 in Kraft treten. Die Be-ratungen dazu laufen. Wir können viel im deutschenSteuerrecht vereinfachen. Ein erstes Paket werden wirvorschlagen. Es wäre schön, wenn vielleicht auch IhreLänder die Bereitschaft zeigen würden, sich an der Fi-nanzierung zu beteiligen.
Denn unser Spielraum könnte viel größer sein, wenn dasnicht nur als Aufgabe des Bundes gesehen würde, son-dern wenn sich auch alle Länder dafür mitverantwortlichfühlen würden.
Wir haben eine ganz klare Priorität. Wir sagen: Haus-haltskonsolidierung kommt zuerst. Aber deshalb habenwir das Thema „einfaches, gerechtes und niedriges Steuer-system“
gerade für kleine und mittlere Einkommen nicht verges-sen.
Wenn die Haushalte konsolidiert sind, wenn wir Spiel-räume haben, machen wir das. Aber wir können heutenicht sagen, wann genau. Deshalb werden wir dieseDinge Schritt für Schritt abarbeiten.
Deutschland ist ein Beispiel für das, was wir uns unterStabilitätskultur vorstellen. Nach unserer festen Über-zeugung ist jetzt auch eine Ausstiegsstrategie aus denKonjunkturmaßnahmen, die wir in großem Umfang ge-macht haben, notwendig. Es zeigt sich, dass Deutschlanddiesen Schritt gehen muss, auch und gerade im Blick aufEuropa. Denn wir haben in Europa eine Situation, diedeutlich zeigt, dass Stabilitätskultur überall gelebt wer-den muss. Wir haben schwierige Monate hinter uns.Herr Steinmeier, das, was Sie dazu gesagt haben,kann mich wirklich nicht zufriedenstellen.
In Europa ist man heute noch entsetzt, dass 2004 der Sta-bilitätspakt aufgeweicht wurde, und zwar auf Vorschlagder Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder. Re-den Sie einmal mit dem Präsidenten der EZB!
Dann haben Sie die politische Entscheidung getroffen,dass Griechenland in den Euro-Raum soll.
Es hat sich gezeigt, dass das eine eher komplizierte Ent-scheidung war. Als es im Frühjahr dieses Jahres darumging, dass Verantwortung gezeigt werden muss, habenSie sich unter fadenscheinigen Begründungen enthalten;Sie haben sich in einer zentralen Stunde Europas zwei-mal enthalten. Darüber wird die Geschichte richten; siewird zeigen, was man davon zu halten hat.
Wir haben im Frühjahr dieses Jahres in der Europäi-schen Union einen Euro-Rettungsschirm gespannt. DassIrland jetzt einen Antrag stellt, Teil dieses Schirms zuwerden, ist genau die Verhaltensweise, für die wir vorge-sorgt haben. Wir haben gesagt: Die Stabilität des Euroals Ganzes muss gesichert sein. Deshalb werden wir– das haben die Finanzminister gesagt – den Antrag Ir-lands positiv betrachten, natürlich immer in einer Kondi-tionalität, die deutlich macht, welche Schritte ein Landtun muss, um auf den Pfad einer stabilen Währung zu-rückzukehren.Man sieht doch, welche Anstrengungen die griechi-sche Regierung unternimmt. Man sieht auch – das habendie Kommunalwahlen jetzt gezeigt –, dass die Menschenin Griechenland diese Anstrengungen sogar honorieren.Ich sage das, obwohl unsere Partnerpartei dort dabeinicht der Gewinner ist. Die Menschen wollen, dass dieDinge beim Namen genannt werden, dass man nicht denKopf in den Sand steckt, dass man ihnen nicht nach demMund redet. Sie wollen, dass die Entscheidungen gefällt
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werden, die notwendig sind. Das ist genau das, was auchwir für unser Land machen.
Wir alle wissen – ich finde, darüber sollten wir in al-ler Ruhe und Verantwortung in diesem Hause diskutie-ren –: Wir haben einen Krisenmechanismus bis zumJahre 2013. Wir wissen auch – das sagt uns unsere euro-päische Verantwortung –: Wir brauchen für die Zeit da-nach einen permanenten Krisenmechanismus.Im Augenblick arbeiten wir, auch im Hinblick auf Ir-land, all die Fehler der Vergangenheit ab. Deshalb ist esauch richtig, zu sagen: Die Krise ist noch nicht vorbei.Aber wir müssen jetzt Vorkehrungen treffen, damit dieseFehler nicht wieder passieren. Dabei geht es um die Fi-nanzmarktarchitektur; da haben wir vieles erreicht. Da-bei geht es um die Tatsache, dass wir den Stabilitätspaktgeschärft haben; auch da haben wir vieles erreicht, mehr,als man vielleicht vor einem Jahr hätte denken können.Das vielleicht Wichtigste ist aber nicht, dass jetzt dieDefizite strenger überwacht werden und auch die Ge-samtverschuldung in den Blick des Stabilitäts- undWachstumspaktes kommt. Das Wichtigste ist aus meinerSicht, dass auch makroökonomische Kriterien wie Lohn-stückkosten und das Verhältnis von Sozialausgaben undInvestitionsquote in die Betrachtung der europäischenLänder hineinkommen. Wir sind auf dem Weg, eine ge-meinsame, kohärente Wirtschaftspolitik zu schaffen, diesich nach unseren Vorstellungen – ich hoffe, da stimmenSie uns zu – nicht an den Schlechtesten, sondern an denBesten orientieren sollte, damit unser Kontinent insge-samt stark wird.
Jetzt zum Krisenmechanismus für die Zukunft. Hierstehen wir vor einem Problem, wo die Entscheidungnicht einfach ist. Die christlich-liberale Koalition hatsich aber entschieden. Wir sagen: Im Rahmen eines per-manenten Krisenmechanismus müssen auch die priva-ten Gläubiger, das heißt diejenigen, die an hohen Zin-sen und mit Staatsanleihen Geld verdienen, beteiligtwerden, und zwar in dem Sinne, dass sie Verantwortungübernehmen.
– Ja. Ich bitte Sie nur, dass wir darüber ganz redlich ge-meinsam miteinander sprechen.
– Herr Poß, ich kann es gerne wiederholen, damit auchSie die Richtung mitbekommen.
Die Märkte sind, wie es immer so schön heißt, beun-ruhigt, wenn man so etwas ausspricht.
Wir stehen jetzt vor einer ganz entscheidenden Frage.Wir haben am Anfang der Krise oft gesagt: Es darf nichtsein, dass die Politik nicht das Primat hat. Die Wirtschafthat der Politik und den Menschen zu dienen und nichtumgekehrt.
Jetzt stehen wir an genau dieser Stelle. Jetzt findetganz konkret und jeden Tag ein gewisses Ringen darumstatt: Hat die Politik den Mut, auch diejenigen, die damitGeld verdienen, mit ins Risiko zu nehmen, oder ist derHandel mit Staatsanleihen der einzige Bereich der Wirt-schaft auf der Welt, in dem man kein Risiko eingehenmuss? Wir haben uns entschieden. Ich bitte Sie darum:Unterstützen Sie uns dabei.
Hier geht es um die Frage des Primats der Politik, hiergeht es um die Frage der Grenzen der Märkte, und hiergeht es um eine klassische Frage der sozialen Marktwirt-schaft im 21. Jahrhundert. Genau so ist es.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles spielt sichin einer Welt ab, in der, wie ich es oft gesagt habe, dieKarten nach dieser Krise neu gemischt sind. Zwei Dritteldes Wachstums in diesem Jahr kommen aus China, ausSchwellenländern und Entwicklungsländern, nur einDrittel kommt aus den klassischen Industrieländern.
– Ja, so ist es, Herr Trittin.
– Ja. – Herr Trittin hat der deutschen Öffentlichkeit ge-rade mitgeteilt, dass wir, da zwei Drittel des Wachstumsin Schwellenländern und Entwicklungsländern stattge-funden haben, mit zwei Dritteln nichts zu tun hatten. Dasist richtig, weil wir noch kein Schwellenland und keinEntwicklungsland sind.
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Dafür ist die christlich-liberale Koalition der Garant: Mituns wird Deutschland auch kein Entwicklungsland. BeiIhnen bin ich mir nicht ganz so sicher, meine Damen undHerren.
Als wir beim G-20-Treffen in Südkorea gewesen sind,haben wir festgestellt, mit welcher Dynamik die LänderAsiens an ihrer Zukunft arbeiten, in die sie optimistischblicken. Sie sind innovationsfreudig und bildungshung-rig. Genau daraus ergibt sich der Auftrag der christlich-liberalen Koalition. Wir haben ein starkes Deutschland.Unser Auftrag heißt: Wir wollen, dass Deutschland starkbleibt. Das ist der Auftrag unserer Koalition.
Genau das werden wir in dieser Legislaturperiodemachen; dafür haben wir unseren Auftrag bekommen.Wir werden 2013 Rechenschaft darüber ablegen, waswir auf diesem Weg geschafft haben.Wir sind erstens für eine starke Wirtschaft, zweitensfür einen starken Staat und drittens für ein starkes Ge-meinwesen. Das sind die Pfeiler unserer Politik.
Ja – darüber haben wir in diesem Herbst viele Debat-ten geführt –, wir haben kontroverse Entscheidungen ge-fällt. Aber wir sind der Meinung, dass wir damit dieWeichen in die richtige Richtung gestellt haben.Ja, wir müssen noch weiter Überzeugungsarbeit fürdas leisten, was wir tun, weil es natürlich kontrovers dis-kutiert wird und weil es darüber auch Auseinanderset-zungen gibt. Wir werden zu den Menschen gehen und siedavon überzeugen, dass das, was wir tun, richtig ist.Ja, wir sind bereit, auch ganz neue Wege zu gehen,bei denen man nicht genau weiß, was das Ergebnis ist.Wir sind aber überzeugt: Wer keine neuen Wege geht,wird in die Vergangenheit gehen, und Deutschland wirdzurückfallen. Genau das wollen wir nicht.
Wir wollen ein Land sein, in dem sich Leistung undArbeit lohnen,
damit wir die Kraft für die Solidarität in unserer Gesell-schaft haben. Genau das ist immer das Wechselspiel inder sozialen Marktwirtschaft.
Wir verschließen nicht die Augen vor der Realität.Wir stecken nicht den Kopf in den Sand, sondern wirstellen uns mutig den Herausforderungen, mit denen wires zu tun bekommen. Wir haben den Mut, zu sagen, wo-für wir sind, und erzählen nicht unentwegt, wogegen wirsind.
Schauen wir uns doch die Alternativen an! Über dieLinke will ich nicht weiter sprechen. Sie geben dauerndGeld aus, das Sie nicht haben. Über die SPD habe ichschon etwas gesagt: Sie sind heute hier und morgen dort.Sie verabschieden sich von all den relevanten Entschei-dungen, die zukunftsfähig gewesen sein könnten, undzwar in einem affenartigen Tempo, dass es einem ganzschwindlig wird und man sich fragt, wie das weitergehensoll.
Ich sage nur: Rente mit 67, Agenda 2010.Fragen Sie doch einmal den Ulmer Oberbürgermeis-ter, wie er zu Stuttgart 21 und neuen Bahnstrecken steht.Dann werden Sie Ihre Antwort bekommen.Und die Grünen? Sie sind sozusagen ziemlich fest mitdem Wort „dagegen“ verbandelt. Das wollen Sie ka-schieren. Sie sagen, Sie seien für erneuerbare Energien.Aber wo immer eine Hochspannungsleitung gebaut wer-den muss – das sind viele Kilometer –, wo immer einneuer Bahnhof entsteht, wo immer irgendetwas Neuespassiert, wo Pumpspeicherkraftwerke, zum Beispiel inBayern, entstehen, sagen Sie: Erneuerbare Energien, ja;neue Netzleitungen, nein; Pumpspeicherkraftwerke inBayern, nein. – So geht es nicht! Das ist nicht die rich-tige Antwort.
Sie wollen angeblich für den Zugverkehr sein undmehr Verkehr auf die Schiene verlagern. Aber wo immerein neuer Bahnhof gebaut wird, sind Sie dagegen, egalob es hier in Berlin-Ostkreuz oder bei Stuttgart 21 ist.
Wo immer eine neue ICE-Strecke entsteht, sind Sie auchdagegen. Gucken Sie doch einmal nach Hannover, Ber-lin und Hamburg. Nein, meine Damen und Herren, sogeht es nicht! So werden Sie nicht durchkommen.
Sie sind natürlich für den Sport – wer wollte dasnicht? – und wahrscheinlich auch dafür, Sport in dasGrundgesetz aufzunehmen. Aber wenn es um Olympi-sche Spiele in Deutschland geht, dann sind Sie natürlichdagegen.
Wenn es so weitergeht, werden die Grünen für Weih-nachten sein, aber gegen die davor geschaltete Advents-zeit.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden unsauch damit befassen, was Sie den Menschen sagen undwozu Sie die Menschen ermutigen. Lesen Sie einmalnach, was Ihr Landesvorsitzender Kretschmann in Ba-den-Württemberg sagte,
als er gefragt wurde, ob er garantieren könne, dass dieGrünen aus dem Projekt Stuttgart 21 aussteigen. Ersagte:Das kann ich nicht garantieren. … Wir können jaaussteigen nur zu einem verantwortbaren Preis.Solch ein Versprechen abzugeben, das wäre nichtseriös.
Ich finde es schon ziemlich waghalsig – um es einmalganz vorsichtig auszusprechen –, Menschen zu Demon-strationen gegen etwas zu ermutigen, um dann im Klei-nen zu sagen: Wenn es darauf ankommt, können wireuch gar nicht garantieren, dass wir das verhindern kön-nen. – Ich finde, das müsste er viel lauter sagen.
Um es noch einmal in einer anderen Variante zu sa-gen, weil Sie vielleicht meinen, das sei zu holzschnitt-artig und zu grobschlächtig, zitiere ich Ihnen, was ges-tern im Feuilleton in der Süddeutschen ZeitungInteressantes geschrieben wurde:Die Ökologie ist das größte System der Welt; Tech-nik, Kultur oder Ökonomie sind darin Teilgebiete.Es ist richtig, dass die Fragen der Nachhaltigkeitalle anderen Themen dominieren. Wenn wir ihremgrundsätzlichen Bedenkentum aber alle Kräfte derEuphorie opfern, werden wir kaum in der Lagesein, die Probleme der Zukunft zu lösen. Nicht ein-mal die, die wir selbst im Glauben an die Zukunftverursacht haben.Das ist eine andere Variante, mit der auf das hingewiesenwird, was Sie gerade zerstören.Wir wollen nachhaltige Politik; der Bundestag wirdhier in einer Enquete-Kommission über nachhaltigesWachstum diskutieren. Wir zerstören aber die Fähigkeitzur Zukunft, wenn wir den Bedenkenträgern folgen.
– Ich gebe Ihnen ja nur gute Hinweise. Guten Hinweisenvon Ihnen schließen wir uns immer an; aber die gibt esleider nur sehr selten.
– Nun bleiben Sie einmal ruhig. Beherzigen Sie docheinmal, dass Sie die Probleme der Zukunft nicht lösenwerden, noch nicht einmal die, die Sie in der Vergangen-heit verursacht haben. Das ist doch der Punkt: Sie drü-cken sich angeblich im Geiste der Nachhaltigkeit vor derVerantwortung.
Sie sind gegen die Erkundung von Gorleben und be-klagen, dass es kein Endlager gibt. Das ist diese Zwei-deutigkeit, das sind Schäden aus der Vergangenheit, diebereits angerichtet sind. Darauf müssen Sie eine Antwortgeben. Das haben Sie nicht getan.
Das ist bei Ihnen Thema für Thema gleich.Sie sprechen über nachhaltiges Wirtschaften. Dabeikönnen Sie doch nicht die Augen davor verschließen,dass im Jahre 1950 sechs Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer für einen Rentner gearbeitet haben und erzehn Jahre lang Rente bekommen hat. Heute arbeitendrei Arbeitnehmer für einen Rentner, und er bekommt18 Jahre lang Rente. Im Jahre 2030, also in 20 Jahren,werden zwei Menschen für einen Rentner die Rente erar-beiten müssen, und er bekommt sie über 20 Jahre lang.Wenn man dann sagt, wie die SPD es tut, jetzt setze mandie schrittweise Einführung der Rente mit 67 erst einmalfünf Jahre aus, dann mutet man den zukünftigen Genera-tionen etwas zu, was wir nicht wollen; denn wir wollenGenerationengerechtigkeit. Sie stecken den Kopf in denSand, Sie stellen sich den Realitäten nicht, Sie redendrum herum. So kommen wir nicht voran.
Genauso ist es beim Thema Gesundheit. HerrSteinmeier, ich weiß, dass Sie es eigentlich wissen. Siewissen nur nicht, wie Sie das bei sich rüberbringen kön-nen. Die Gesundheitskosten werden steigen, weil diemedizinischen Möglichkeiten größer sind, weil wirheute Dinge tun können, an die man früher überhauptnicht gedacht hat, und weil unsere Bevölkerung gleich-zeitig älter wird.
Deshalb ist es doch ganz logisch, dass man die aus-schließliche Kopplung an die Arbeitskosten nicht auf-rechterhalten kann.
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Sie wissen auch, dass der Ausgleich für die ansteigendenKosten viel gerechter aus dem Steuersystem als aus densozialversicherungspflichtigen Beiträgen geleistet wer-den kann. Das – und nichts anderes – ist doch das, waswir machen. Wir legen eine Oberbelastungsgrenze von2 Prozent des eigenen Einkommens fest. Diese Grenzehaben Sie in vielen Fällen genauso gewählt.
– Sie haben so eine Angst, dass Sie verstehen könnten,was wir machen, dass Sie immer gleich schreien undeinfach nicht zuhören. Aber das wird sich nicht durch-setzen. Sie müssen Antworten auf die Zukunft finden.
Zu Ihrer Milchmädchenrechnung. Auf dem Grünen-Parteitag ist ja das Allerbeste passiert. Man hat zumSchluss die Kommission „Ehrlich machen“ gegründet.Was war Ihr ganzer Parteitag, wenn Sie hinterher eineKommission „Ehrlich machen“ gründen müssen? Wardas alles die Unwahrheit oder unehrlich, oder was? Dasist doch unglaublich.
Wir werden über die Neuregelung der Hartz-IV-Sätze miteinander sprechen. Wir haben eine verfas-sungsgemäße Berechnung.
Sie haben uns bis heute nicht gesagt, was genau Sie da-ran bezweifeln.
Lieber Herr Steinmeier, ich sage Ihnen eines: Es geht umMenschen und gerade um Kinder und ihr Bildungspaketzum 1. Januar nächsten Jahres. Ich kann nur sagen: Ma-chen Sie keine Spielchen, sondern lassen Sie uns ehrlichdarüber reden.
Wenn Sie es verweigern, mit der zuständigen Ministerindarüber zu sprechen,
weil Sie noch hundert Sachen mit lösen wollen, die garnicht in deren Arbeitsbereich fallen, dann kann ich nursagen: Das ist kein seriöses Herangehen. Es geht hier umdas Schicksal von Hartz-IV-Empfängern und von Kin-dern in Familien mit Hartz IV. Da sind auch Sie in derVerantwortung.
– Sie brauchen gar nicht so zu schreien. Wir sind zu Ge-sprächen bereit; das habe ich Ihnen immer wieder ge-sagt.
Wir brauchen nicht nur eine starke Wirtschaft, wirbrauchen auch einen starken Staat. Wir dürfen nicht ver-gessen, dass die Beratungen heute in einer Umgebungstattfinden, wie wir sie lange nicht hatten. Besucherin-nen und Besucher können den Reichstag im Augenblicknicht besuchen. Ich bedanke mich beim Bundestagsprä-sidenten, dass er gestern ganz deutlich gemacht hat: Wirwerden uns von unserer Arbeit trotz terroristischerBedrohung nicht abbringen lassen.
Aber klar ist auch – das haben uns die Paketbomben imFlugfrachtverkehr gezeigt –: Die Bedrohungen sind lei-der real. Wir müssen uns auf sie einstellen. Ich möchteder Polizei danken, den Sicherheitskräften insgesamt,aber auch den Bürgerinnen und Bürgern, die das allesgefasst und im Wissen um den Wert der Demokratie undunserer Freiheit akzeptieren und einerseits aufmerksam,andererseits aber eben auch nicht ängstlich sind. Ichkann die Worte des Bundesinnenministers nur wiederho-len: Es gibt Grund zur Sorge, aber keinen Grund zurHysterie.Wir werden in diesem Bereich ganz eng – das habenwir jetzt schon gesehen – mit anderen Ländern zusam-menarbeiten müssen. Globalisierung ist nicht nur imWirtschaftsbereich, sondern globale Vernetzung ist auchim Sicherheitsbereich wichtig. Wir werden die für unsnotwendigen Antworten finden müssen, wie wir für Ge-setze, die in der Koalition besprochen und die geregeltwerden müssen – ich nenne das Thema Vorratsdaten-speicherung –, richtige und gute Lösungen finden, undwir werden international mehr Verantwortung überneh-men.Ich möchte mich beim Bundesaußenminister ganzherzlich bedanken. Es ist gelungen – –
– Mein Gott, das ist von Bundeskanzler Schröder einge-leitet worden. Wir haben die Außenpolitik in guter, be-währter Kontinuität fortgeführt und uns um den Sicher-heitsratssitz für die Jahre 2011 und 2012 bemüht. Wirwaren erfolgreich. Ich finde, darüber können wir uns allefreuen; wir sollten das Beste daraus machen.
Wir brauchen natürlich auch in der Sicherheitspolitikder NATO neue Ansätze und neue Vernetzungen. Wirhaben in Lissabon mit dem Bundesaußenminister unddem Bundesverteidigungsminister einen sehr erfolgrei-chen NATO-Gipfel gehabt. Die NATO hat ein neuesStrategisches Konzept aufgelegt. Die NATO hat gezeigt,dass sie ein politisches Bündnis ist. Dazu hat ganz we-sentlich der Schritt Frankreichs im letzten Jahr beigetra-gen, wieder Vollmitglied der NATO zu werden. Nur da-
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durch ist es überhaupt möglich, heute Themen wieAfghanistan, die Frage der Übergabe in Verantwortung,das Thema der vernetzten Sicherheit, der Notwendigkeiteines parallelen, politischen Prozesses zu den militäri-schen Aktionen in der NATO zu besprechen.Meine Damen und Herren, wir stellen uns auch denneuen Herausforderungen. Dazu gehört auch CyberDefense, wie es so schön heißt, also der Schutz unsererDatensysteme. Präsident Obama sagt, dass Amerikaswirtschaftlicher Wohlstand im 21. Jahrhundert von derSicherheit der Datennetze abhängt, und hat ein Cyber-security Office eingerichtet. Die britische Regierung hatCyber-Defense-Programme angekündigt und will in vierJahren 400 Millionen Pfund dafür ausgeben. Wir ma-chen selbstverständlich auch etwas. Wenn der Fraktions-vorsitzende der Grünen zu dem Thema nichts anderessagt als: „Wollen Sie Google bombardieren?“, dann kannich nur sagen: Dümmer geht’s nimmer, lieber HerrTrittin.
Auch wir als christlich-liberale Koalition reagierenauf die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen.Der Bundesverteidigungsminister hat eine Sicherheits-analyse vorgelegt. Wir haben die Entscheidung getroffen– mit „wir“ meine ich vor allem die Unionsfraktion; dieFDP hatte diese Entscheidung schon früher getroffen –,dass wir die Wehrpflicht nicht abschaffen, sondern aus-setzen und in einen freiwilligen Wehrdienst überfüh-ren. Die Kommandeurstagung dieses Jahres in Dresdenzum Thema „20 Jahre Armee der Einheit“ – übrigens eineriesige gemeinsame Erfolgsgeschichte von uns allen –war sicherlich eine ganz wesentliche Weichenstellungdafür, wie sich die Bundeswehr in der Zukunft entwi-ckelt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was auf dieBundeswehr zukommt, ist nicht irgendeine Reform, son-dern das ist das Ankommen im 21. Jahrhundert. Das istdie Antwort auf die neuen Bedrohungen, die nicht mehran den Grenzen des Bündnisses NATO bestehen, son-dern Bedrohungen, die aus Staaten kommen, die ihrerVerantwortung nicht nachkommen können, die vom Ter-rorismus kommen oder die durch die Proliferation vonMassenvernichtungswaffen entstehen: völlig neue Pro-bleme, vor denen wir stehen. Deshalb war ich sehr froh,dass es uns in Lissabon beim Russland-NATO-Rat ge-lungen ist, deutlich zu machen: Russland ist bei der Be-kämpfung all der Bedrohungen, denen wir gegenüberste-hen, nicht mehr unser Gegner, wie es im Kalten Kriegwar, sondern Russland kann und wird Partner sein. Dashat sich ganz massiv dort demonstriert.
Wir mussten gestern wieder erleben, dass diese Bedro-hungen nicht abstrakt sind. Die Raketenangriffe vonNordkorea auf Südkorea haben uns allen gezeigt, wiefragil die Sicherheit in einigen Bereichen unserer Weltist. Wir erwähnen, dass Russland auch bei der Sicher-heitsratsresolution gegen den Iran mit auf unserer Seitewar. Diese Partnerschaft muss ausgebaut werden. Siewird ausgebaut werden, und wir werden dadurch einMehr an Sicherheit haben.Wenn wir jetzt zu einem freiwilligen Wehrdienstübergehen, was auch Folgen für den Zivildienst im Zu-sammenhang mit dem Freiwilligendienst hat, dann brau-chen wir ein Freiwilligengesetz, das die MinisterinKristina Schröder vorgestellt hat. Das bringt mich zudem nächsten Punkt; denn wir wollen damit nicht nur et-was technisch neu regeln, sondern auch einen Impuls ge-ben und einen richtigen Schritt hin zu einem Gemeinwe-sen tun, wie wir es uns vorstellen. Wir wollen, dass dieseGesellschaft dadurch menschlicher wird, dass Menschensich für andere Menschen engagieren.
Ich glaube, viele junge Menschen werden dazu bereitsein, sei es in der Bundeswehr, sei es im Freiwilligen-dienst, sei es im Freiwilligen Sozialen oder im Freiwilli-gen Ökologischen Jahr, das junge Menschen ableisten.Aber wir laden Menschen aller Altersgruppen ein, sichim Ehrenamt und in Freiwilligendiensten zu engagieren.Es gibt sehr viel zu tun, und der Staat wird gerade in ei-ner Gesellschaft, die älter wird, Menschlichkeit nicht sovermitteln können, wie wir uns das wünschen, jedenfallsnicht alleine. Wir brauchen einen starken Staat; aber wirbrauchen auch starke Bürger, die sich für andere Bürge-rinnen und Bürger engagieren. Das ist unsere Vorstel-lung von Gemeinwesen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir sinduns nicht in allen Fragen einig. Aber ich glaube, dass wiruns den Themen gestellt haben. Wir haben Entscheidun-gen gefällt, und wir werden weitere Entscheidungen fäl-len. Was das Thema Arbeitsmarkt angeht, dürfen wiruns mit 2,9 Millionen Arbeitslosen nicht zufrieden ge-ben. Wir haben angesichts des demografischen Wandelsvielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Bundes-republik Deutschland seit den 70er-Jahren wieder dieChance, zu sagen: Vollbeschäftigung kann Realität wer-den.
Deshalb werden wir gerade von den Jüngeren fordern,wenn sie nicht gefördert werden wollen, genau diesenWeg zu gehen; denn der demografische Wandel kannauch als Chance für unser Land genutzt werden.
Wir packen die Probleme also an, zusammen mit un-seren internationalen Partnern. Wir machen eine Politikaus dem Blickwinkel unserer Kinder, weil wir uns derZukunft verpflichtet fühlen. Deshalb darf ich Ihnen sa-gen: Die christlich-liberale Koalition ist auf einem Weg,um Deutschland, das immer stark war, auch stark blei-ben zu lassen. Sie ist auf einem Weg, der deutlich macht:Die Bundesrepublik Deutschland war nicht nur ein Er-folgsmodell. Sie wird auch in Zukunft ein Erfolgsmodellsein. – Diesem Auftrag fühlen wir uns verpflichtet. Da
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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werden wir auch keine Widerstände scheuen. Da werdenwir Entscheidungen treffen. Ich sage Ihnen dazu: Esmacht uns sogar noch gemeinsam Spaß.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch
für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Nach dem Willen der Kanzlerin sollte es der Herbst
der Entscheidungen werden. Es wurde der Herbst der
Fehlentscheidungen.
Die Verlängerung der Laufzeiten für marode Atomkraft-
werke, die Einführung der Kopfpauschale, das Festhal-
ten an der Rente erst ab 67 und jetzt noch ein Bundes-
haushalt, der mit dem größten Kürzungspaket in der
Geschichte der Bundesrepublik die Konjunktur aus-
bremsen und die soziale Spaltung in unserem Land vo-
rantreiben wird – alles Fehlentscheidungen.
Diese Bundesregierung hat es geschafft, ihren eigenen
Weltrekord einzustellen, in kürzester Zeit eine maximale
Zahl an Fehlentscheidungen zu treffen. Das macht Ihnen
keiner so leicht nach, Frau Merkel.
Einen Augenblick bitte, Frau Lötzsch. – Ich darf die
Kolleginnen und Kollegen, die der weiteren Debatte
nicht folgen können oder wollen,
bitten, den Plenarsaal zu verlassen, damit sichergestellt
ist, dass die Rednerin die nötige Aufmerksamkeit erhält.
Vielen Dank, Herr Präsident.Nun hat die Kanzlerin einen offenen Brief geschrie-ben, um das Bild der Bundesregierung aufzupolieren.Portokosten: 2,8 Millionen Euro. Das ist wohl der teu-erste Brief, der jemals verschickt wurde. Ich sage mir:Wer eine 2,8-Millionen-Euro-Briefmarke aufklebt, dermuss doch wohl panisch sein vor Angst.
Wir als Opposition haben nicht das Geld, derartige of-fene Briefe in allen Zeitungen zu veröffentlichen. Ei-gentlich wäre eine Gegenanzeige dringend erforderlichgewesen. Bei der Zigarettenwerbung sind Gegenanzei-gen schon zwingend vorgeschrieben. Ich glaube, das istetwas, was auch in der Politik bitter nötig wäre.
Ich komme zum ersten Versprechen. Das heißt: „Wirsichern die Finanzen“. Sie selber haben gesagt: KeineBundesregierung hat bisher mehr Schulden gemacht alsSie. Der Einwand, dass nicht die Regierung daran schuldsei, sondern die Finanzkrise, ist unredlich. Ich darf dazuden Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz zitieren,der es folgendermaßen auf den Punkt bringt:Stattdessen wird das Geld wahllos den Banken hin-terhergeworfen, und die zahlen sich dafür Milliar-den an Boni und Dividenden aus. Wir Steuerzahlerwerden praktisch ausgeraubt, um die Verluste eini-ger sehr wohlhabender Leute zu verringern. Dasmuss sich dringend ändern.Aber Sie haben das nicht geändert. Das ist ein Fehler,Frau Merkel.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Die Vollkaskomentalitätder Banker stinkt zum Himmel. Sie müssten endlich die-ser Mentalität etwas entgegensetzen, anstatt sie immerwieder zu unterstützen. Sie haben Ihr erstes Versprechengebrochen. Das ist die Wahrheit und die Antwort auf Ih-ren Brief.
Das zweite Versprechen heißt: „Wir schaffen die Bil-dungsrepublik“. Sie wollen also die Bildungsrepublikschaffen. Ich frage Sie: Warum geben Sie dann den Fa-milien nicht genügend Geld? Wäre es nicht sinnvoller,dafür zu sorgen, dass die Familien ein höheres Einkom-men erhalten, damit sie selbst entscheiden können, wiesie ihre Kinder fördern? Nein, Sie wollen diese Selbstbe-stimmung nicht zulassen. Sie wollen lieber einen büro-kratischen Bevormundungsapparat schaffen, der nachGutdünken Bezugsscheine verteilt. Das ist nicht unserMenschenbild. Das ist kein Menschenbild von freien,selbstbestimmten Menschen, sondern das ist ein autori-täres, bürokratisches Menschenbild. Das lehnen wir ab.
Von einer Bildungsrepublik sind wir noch Lichtjahreentfernt, solange Kitaplätze vor allem im Westen Man-gelware sind, solange die soziale Herkunft über denSchulweg entscheidet und solange Studiengebühren ge-zahlt werden müssen. Damit haben Sie auch das zweiteVersprechen gebrochen. Das ist die Wahrheit und dieAntwort auf Ihren Brief, Frau Merkel.
Das dritte Versprechen ist besonders absurd. Sieschreiben:Wir sichern die Energieversorgung. Sie soll zuver-lässig, bezahlbar und umweltfreundlich sein.Darüber werden sich all diejenigen wundern, die geradein diesen Tagen von ihrem Energieversorger eine saftigePreiserhöhung bekommen haben. Also ist auch diesesVersprechen schon gebrochen.
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8064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Dr. Gesine Lötzsch
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Mit dem Atomdeal der Bundesregierung sind weitereExtraprofite für die Konzerne langfristig garantiert. Sie,Frau Merkel, haben auf Kosten der Sicherheit der Men-schen in unserem Land abgeschriebene Atomkraftwerkedem radioaktiven Kartell überlassen. Wenn Sie diese ti-ckenden Zeitbomben als zuverlässig bezeichnen, FrauMerkel, dann ist das mehr als grob fahrlässig. Auch dasdritte Versprechen haben Sie also gebrochen.
Ihr viertes Versprechen lautet: Das Gesundheitswesenbleibt bezahlbar. – Das ist nun wirklich Hohn. Die ge-rade beschlossene Kopfpauschale wird die Zweiklas-senmedizin, die schon existiert, weiter verschärfen. Wirmüssen uns die Zahlen genau anschauen. Steigen dieAusgaben der Krankenkassen um nur 4 Prozent pro Jahr,dann wird ein Versicherter schon im Jahr 2013 21 Europro Monat zusätzlich zahlen müssen. Gehen wir ein paarJahre weiter: Im Jahre 2019 werden es dann bereits104 Euro Kopfpauschale sein. Nun kommen Sie mirnicht mit Ihrem Sozialausgleich! Den werden Sie näm-lich den Kürzungshaushalten opfern, ihn als Sparmasseverwenden. Sie streuen den Menschen Sand in die Au-gen.Sie haben schon jetzt alle vier Versprechen gebro-chen. Das ist eine Schande, Frau Merkel.
Um Ihre Arbeit als Bundeskanzlerin aber umfassendund gerecht bewerten zu können, sollten wir nicht nurauf dieses eine Jahr zurückblicken. Sie sind schließlichschon seit fünf Jahren im Amt. Deshalb ist es Zeit füreine Fünfjahresbilanz. Sie selbst haben sich darum ge-drückt; das wurde in der Presse festgehalten. Bilanz derArbeitsmarktpolitik: Die Bundesregierung feiert ihreArbeitsmarktpolitik als großen Erfolg und plakatiertauf teuren Werbeflächen die Zahl 3 Millionen. Auch hierwäre eine Gegenanzeige angebracht. Dafür braucht mangar nicht viel Platz. Sie könnte einfach heißen: Vorsicht!Bilanzfälschung! – Ich frage Sie: Warum unterschlägtdie Bundesregierung mehr als 1 Million Arbeitslose? Siehat einfach Menschen aus der Statistik gestrichen, weilsie Leiharbeiter sind, weil sie 1 Euro pro Stunde bekom-men, weil sie in Weiterbildung sind oder weil sie unterdie 58er-Regel fallen. Tatsächlich – das sagen nicht nurwir, sondern das hat auch die Bundesagentur für Arbeitberechnet – haben wir in Deutschland nicht nur 3 Millio-nen, sondern mehr als 4,8 Millionen Arbeitslose. Ichfrage Sie: Was ist von einer Regierung zu halten, dieMenschen einfach aus der Statistik verschwinden lässt,um besser auf Plakaten prahlen zu können? Ich sage:nichts.
Ihr Credo, Frau Merkel, war: Sozial ist, was Arbeitschafft. – Ist es wirklich sozial, wenn immer mehr Men-schen in den größten Niedriglohnsektor Europas ge-drängt werden? Ist es wirklich sozial, wenn Menschenvon ihrer Hände Arbeit nicht leben können und wennüber 1 Million Menschen zum Amt gehen müssen, umaufzustocken? Ist es wirklich sozial, wenn immer mehrMenschen nur noch Zeitverträge und keine feste Anstel-lung bekommen? Das hat mit sozialer Marktwirtschaftgar nichts mehr zu tun. Das ist schnöder Kapitalismusund Ausbeutung.
Wir als Linke fordern, dass Löhne zum Leben reichenmüssen. Deshalb brauchen wir endlich den Beschlussüber den gesetzlichen Mindestlohn.
Wir wollen, dass Leiharbeit eingeschränkt wird. Leih-arbeiter müssen mindestens genauso bezahlt werden wiedie Stammbelegschaft.
Wir wollen, dass junge Menschen endlich wieder ihreZukunft planen können, dass sie nicht Spielball von Ar-beitgebern werden und mit befristeten Verträgen undPraktika hingehalten werden. Wir wollen, dass auchMenschen mit über 60 Jahren noch eine Chance auf ei-nen vernünftigen Arbeitsplatz bekommen und nicht vor-zeitig mit hohen Rentenabschlägen in den Ruhestand ab-geschoben werden. Ihre Bilanz ist eindeutig: Noch niewurden so viele gute Arbeitsplätze in schlecht bezahlteund unsichere umgewandelt.
Damit sich möglichst viele Menschen mit solchen un-zumutbaren Arbeitsverhältnissen abfinden, wurde vonder rot-grünen Schröder-Regierung Hartz IV geschaf-fen. Wir sollten nicht vergessen, wer die Tür für allediese Veränderungen und die Dinge, die Sie jetzt durch-setzen können, geöffnet hat. Gegen die Willkür vonHartz IV hat das Bundesverfassungsgericht eindeutigRecht gesprochen. Doch die Bundesregierung – daszeigt die Debatte der letzten Monate – scheint jede Ach-tung vor dem höchsten Gericht der Bundesrepublik ver-loren zu haben. Die Statistiken wurden so lange zurecht-gebogen, bis die Vorgaben des Finanzministers erfülltwaren. Nun wollen Sie die Menschen mit 5 Euro zusätz-lich abspeisen. Diese 5 Euro werden schon durch dieStrompreiserhöhung aufgefressen. Das ist wirklich eineschändliche und verlogene Politik.
Wir als Linke fordern eine deutliche Erhöhung desArbeitslosengeldes II. Wir haben dazu entsprechendeAnträge gestellt. Wenn Sie auf uns nicht hören wollen,dann hören Sie doch wenigstens auf die Wohlfahrtsver-bände. Handeln Sie, und erhöhen Sie in einem erstenSchritt die Regelsätze von Hartz IV mindestens auf dasNiveau, das die Wohlfahrtsverbände fordern, nämlich416 Euro pro Monat. Wir als Linke wollen 500 Euro proMonat; aber gehen Sie doch wenigstens den erstenSchritt.
Zur Bilanz Ihrer Rentenpolitik. Die OECD stellt fest,dass die Bundesrepublik bei den Renten für Niedrigver-diener auf Platz 30 ist. Wir als Linke haben immer davorgewarnt, dass der Niedriglohnsektor die Rente zerstörenwird. Die Grundlage für eine gute Rente sind gute
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Dr. Gesine Lötzsch
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Löhne. Diese Wahrheit kann man nicht oft genug aus-sprechen. Darum brauchen wir endlich einen gesetzli-chen Mindestlohn und eine vernünftige Lohnpolitik indiesem Land.
Das Wort „Altersarmut“ war schon fast aus demSprachgebrauch verschwunden. Sie haben durch ständigeRentenkürzungen dafür gesorgt, dass Altersarmut wiederein zentrales Problem geworden ist.
Ich will Ihnen einige wenige Zahlen nennen. Rentner,die im Jahr 2006 in den Ruhestand gegangen sind, habenim Vergleich zu Rentnern, die im Jahr 2000 in Rente ge-gangen sind, 14,5 Prozent weniger Rente. Was tun Siegegen die wachsende Altersarmut? Überhaupt nichts. ImGegenteil: Sie erhöhen das Renteneintrittsalter auf67 Jahre. Das ist genau die falsche Politik, und der stel-len wir uns entgegen.
Jetzt kommt wieder das Argument der Generationen-gerechtigkeit. Ich sage Ihnen: In diesem Land gibt eszwischen den Generationen tausendmal mehr Gerechtig-keit als zwischen den hundert deutschen Milliardärenund den Leistungsträgern in dieser Gesellschaft, denKrankenschwestern, Verkäuferinnen und Verkäufern, In-genieurinnen und Ingenieuren und Lehrerinnen und Leh-rern.Wir als Linke wollen eine Rentenversicherung, in diealle einzahlen und aus der ein Rentner im Osten nichtweniger bekommt als ein Rentner im Westen. Von ihrerRente sollen alle nach einem langen Arbeitsleben inWürde alt werden können. So sieht eine vernünftigeRentenversicherung aus und nicht so, wie Sie sich dasausgedacht haben.
Nebenbei bemerkt: Die Rentenzahlung beginnt für dieHälfte aller DAX-Vorstände vertragsgemäß bereits mitder Vollendung des 60. Lebensjahres. Das sind genau diegleichen Leute, die allen anderen erzählen, sie müsstenlänger arbeiten. So viel Verlogenheit ist wirklich uner-träglich.
Betrachten wir die Bilanz Ihrer Demokratiepolitik.Ich kann es nur so einschätzen, dass Sie unser Land ineine Vermummungsdemokratie treiben.
Damit meine ich nicht die Erster-Mai-Demonstrantenauf den Straßen Berlins, sondern die Lobbyisten, die mitallen Mitteln versuchen, die Partikularinteressen gegendie Interessen der Mehrheit durchzusetzen. Diese ver-mummten Demokraten, die Lobbyisten, haben bei fastallen wichtigen Entscheidungen der letzten fünf Jahre ih-ren Einfluss durchdrücken können: Die Bankenlobbyhat ihren 480-Milliarden-Euro-Rettungsschirm bekom-men, die Atomlobby hat die Verlängerung der Atom-laufzeit gegen die Interessen der Mehrheit durchgesetzt,und die Pharmaindustrie und die privaten Krankenkas-sen haben ihre Leute in Führungspositionen und die Ge-sundheitsreform nach ihren Vorstellungen dem Ministerins Gesetzblatt diktiert. Natürlich ist auch die Rüstungs-lobby auf ihre Kosten gekommen. Sie schafft es immerwieder – wir haben das beim Einzelplan 14 zu diskutie-ren –, zu Wucherpreisen ihre Produkte der öffentlichenHand aufzudrücken. Noch nie hatten Lobbygruppensolch einen Einfluss auf eine Regierung. Darum fordernwir: Damit muss endlich Schluss sein. In diesem Zusam-menhang fordern wir ein Verbot von Unternehmensspen-den an Parteien. Das wäre ein erster Schritt, um zu einervernünftigen Politik zu kommen.
Ich sage Ihnen auch: Lobbyisten haben weder in denMinisterien noch im Bundestag etwas zu suchen; dennLobbyisten entscheiden niemals im Sinne der Mehrheit.
Unsere Aufgabe als demokratisch gewählte Abgeordneteist, im Sinne der Mehrheit zu entscheiden, und nicht,Einzelinteressen zum Zuge zu verhelfen. Das ist eine Sa-che, mit der wir uns niemals abfinden werden.
Die Kanzlerin hat durch ihren Schulterschluss mit denLobbyisten der Demokratie einen großen Schaden zuge-fügt. Immer mehr Menschen glauben – das ist ein Pro-blem, mit dem sich alle ernsthaft beschäftigen sollten,auch die Zwischenrufer von den Hinterbänken der FDP,deren Namen ich nicht kenne –,
dass Politiker nicht mehr gewählt werden, sondern vonLobbyisten bestellt werden. Das ist eine bedrohlicheEntwicklung, die wir alle gemeinsam stoppen sollten. Je-denfalls wir, die Linke, stellen uns dieser Lobbyisten-politik entschlossen entgegen.
Frau Merkel, Sie sind auch auf die Außen- und Si-cherheitspolitik eingegangen. Augenscheinlich glaubtdie Bundesregierung immer noch, dass die SicherheitDeutschlands von der NATO, von der Bundeswehr odervon einem Raketenschutzschirm abhängt. Das war viel-leicht vor 20 Jahren noch so. Doch heute ist unsere Si-cherheit vielmehr von ökologischen und ökonomischenProzessen abhängig. Umso unverständlicher ist es da-rum, dass die Bundesregierung weiter Geld für diesenKrieg in Afghanistan ausgibt. Wie viele Menschen sol-len dort noch ihr Leben verlieren? Kein einziges Pro-blem wurde gelöst; unzählige neue Probleme wurden er-zeugt. Wir haben immer davor gewarnt: Der Krieg gegenden Terror wird dazu führen, dass der Terror nachDeutschland kommt. Der erste Schritt der Terrorabwehrist für uns, dass wir endlich die Bundeswehr aus Afgha-nistan abziehen.
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Dr. Gesine Lötzsch
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Sie, Frau Merkel, hätten vor fünf Jahren bei Ihrem Amts-antritt den Abzug der Bundeswehr vorbereiten müssen;doch das haben Sie nicht getan. Sie haben den Krieg ein-fach so weiterlaufen lassen. Das ist die schlimmste Un-terlassung Ihrer Amtszeit. Wenn Sie eine wichtige Ent-scheidung treffen wollen, dann beschließen Sie endlichzusammen mit den anderen Regierungsmitgliedern denAbzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Ich glaube, imParlament würde sich eine Mehrheit dafür finden.
Ich sage Ihnen auch: Ich will nicht, dass sich jungeLeute entscheiden, entweder arbeitslos zu werden oderzur Bundeswehr zu gehen und in Afghanistan ihr Lebenzu lassen. Ich will, dass die Soldatinnen und Soldatennach Hause zu ihren Familien zurückkommen. Ichwürde mich freuen, wenn es möglich wäre, dass vielevon ihnen zu Weihnachten hier sind und nicht dort ge-fährdet sind. Das ist nämlich mein Anspruch, und derunterscheidet sich sehr, sehr wesentlich von Ihren An-sprüchen, wie ich an Ihren Zwischenrufen merke.
Ich muss auch das sagen: Mir ist keine einzige erfolgrei-che Abrüstungsinitiative der Bundeskanzlerin in Erinne-rung. Über die anderen Minister will ich jetzt aus Zeit-gründen nicht sprechen.Ich vermisse wirkliches Engagement. Frau Merkel,Sie haben wieder – blumig und wortreich – davon ge-sprochen. Aber Sie sprechen nur, Sie machen nichts, waswirklich zur Regulierung der Finanzmärkte führt. DerBankenrettungsschirm – wir erinnern uns – wurde inner-halb einer Woche durch den Bundestag gepeitscht. DieEinführung einer Finanztransaktionsteuer lässt aller-dings schon seit mehr als zwei Jahren auf sich warten.Immer mehr Menschen stellen sich doch die Frage: Wa-rum konnten eigentlich die Banken von Ihnen, FrauMerkel, in einem nationalen Alleingang gerettet werden,aber warum ist die Bundesrepublik Deutschland nicht inder Lage, wenigstens mit der Regulierung der Bankenzu beginnen? Das ist ein offensichtlicher Widerspruch.Augenscheinlich wollen Sie das nicht.
Es wäre doch viel vernünftiger, wenn man einen Kon-kurrenzvorteil hier in Deutschland dadurch gestaltenwürde, dass wir hier sichere, regulierte Bankenplätze ha-ben und nicht ständig in der Situation sind, dass derSteuerzahler für Großbanken zahlen muss.In dieser Woche ist da etwas ganz Pikantes passiert.Regierungssprecher Seibert hat auf einer Pressekonfe-renz davon gesprochen, wie engagiert deutsche Bankenin Irland sind, und hat insbesondere auf die DeutscheBank verwiesen. Anstatt dass die Deutsche Bank sagt:„Der Mann tut was für uns“, reagierte sie mit Empörungund verlangte, dass er sich entschuldigt. Warum? Weilniemand erfahren sollte, was wir aber inzwischen in vie-len Zeitungen lesen können – darum wird hier auch keinGeheimnis verraten –, dass deutsche Banken mit über100 Milliarden Euro in Irland engagiert sind. Und wer istam meisten engagiert? Über viele Verbindungen dieDeutsche Bank.Also haben Sie sich, Frau Merkel, wieder einmal fürdie Interessen von Herrn Ackermann eingesetzt, und Siewollen jetzt hier den Eindruck erwecken, wir würdenden Menschen in Irland helfen. Ich glaube, das ist genauder falsche Weg. Wir als Linke sind solidarisch mit denMenschen in Irland. Wir können uns nicht damit einver-standen erklären, dass dort ein rigider Sparkurs gefahrenwird, nur um das Geld von Herrn Ackermann und seinenFreunden zu retten. Das ist mit uns nicht zu machen. Ichfinde, viel, viel mehr Menschen sollten öffentlich da-rüber sprechen und diese Wahrheit zum Ausdruck brin-gen.
Dann sage ich Ihnen noch einmal etwas zu Ihren gro-ßen Worten zu Europa: Europa ist mehr als der Euro.Wer das Schicksal Europas nur unter dem Blickwinkeldes Euro sieht, der hat die europäische Idee nicht ver-standen. Wir als Linke wollen ein Europa der Menschen.Wir wollen ein Europa der Sozialunion, und wir wollenein Europa, wo die Menschen nicht gegeneinander aus-gespielt werden, ein Europa, wo sich jeder frei entwi-ckeln kann und wo nicht große Staaten kleinen Staatenetwas diktieren. Es ist schon von Kollegen angesprochenworden: Der Ruf Deutschlands innerhalb der Europäi-schen Union ist durch diese Regierung nicht verbessert,sondern verschlechtert worden. Damit wollen wir nichtszu tun haben.
Wir als Linke müssen nach fünf Jahren KanzlerschaftMerkel feststellen: Unser Land ist nicht sozialer, nichtgerechter und nicht sicherer geworden. Diese Regierungist weder christlich noch liberal, wie sie sich gerne dar-stellt. Sie ist auch nicht sozial gerecht. Wir sagen Ihnen:Es ist endlich Zeit für einen politischen Wechsel.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Birgit
Homburger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir haben mit Erfolg mehr Netto vom Bruttodurchgesetzt, und, verehrter Herr Steinmeier, das giltauch für das Jahr 2011.
Der Steuerzahlertag 2010 lag zehn Tage früher. DerKonjunkturmotor ist angesprungen. Wir machen großeAnstrengungen zur Verschärfung des EU-Stabilitätspak-tes, um eine harte Gemeinschaftswährung zu garantie-ren. Wir haben die Haushaltskonsolidierung zugunstenkünftiger Generationen vorangetrieben. Wir haben zu-
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Birgit Homburger
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sätzlich in Bildung und Forschung investiert. Wir habenbei Hartz IV dafür gesorgt, dass das Schonvermögenverdreifacht wird.
Im Sinne von „Leistung muss sich lohnen“ haben wir da-für gesorgt, dass Kinder aus Hartz-IV-Familien das Geld,das sie bei einem Ferienjob verdienen, auch behaltendürfen.
Wir sorgen für mehr Datenschutz für Arbeitnehmer undVerbraucher. Und wir stärken Solidarität, Wettbewerbund Gerechtigkeit im Gesundheitswesen.Das heißt, meine Damen und Herren, wir entlastenFamilien, wir fördern Studierende, wir schaffen Gerech-tigkeit für Hartz-IV-Empfänger, wir unterstützen Sparer,wir stabilisieren die Staatsfinanzen zugunsten zukünfti-ger Generationen,
wir verbessern die Chancen für Arbeitnehmer, wir stär-ken die Patientinnen und Patienten, wir schützen dieVerbraucher. Für diese Menschen machen wir Politik.
Sie nennen es Klientel, wir nennen sie Bürger. Sie sinddagegen, wir sind dafür. Wir sind für Fortschritt, Sie sindfür Stillstand. Wir werden uns von Ihnen nicht abhaltenlassen, die Zukunft dieses Landes weiter zu gestalten.
Was tut die Opposition? Sie stellen falsche Behaup-tungen auf. Sie frönen unverantwortlichem Populismus.Sie beschimpfen und verunglimpfen.
Das, was Frau Roth auf dem Parteitag der Grünen gesagthat, ist, wie ich finde, der Gipfel. Sie, Frau Roth, habengesagt, und es nicht dementieren lassen:Ich rede von der Schande unseres Landes, und dieheißt Schwarz-Gelb.
Wer solche Worte wählt, Frau Roth, über den ist alles ge-sagt.
Nicht diese Bundesregierung spaltet das Land, Ihre Op-positionsarbeit ist eine Gefahr für das Land.
Ich rede hier von der Chance unseres Landes, von derZukunftsfähigkeit unseres Landes, und diese heißt:Schwarz-Gelb.
Deutschland ist das Comeback des Jahres 2010.
Das ist dadurch erreicht worden, dass wir Unternehmenhaben, die innovationsfähig sind, dass wir fleißige Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben. Es ist auchdadurch erreicht worden, dass die Gewerkschaften zu-rückhaltend waren. Wir haben aber auch durch klugeRahmenbedingungen diese Entwicklung unterstützt.
Das bedeutet: Wir haben Subventionen reduziert undauch Wirtschaftshilfen. Wir machen Schluss mit Steuer-geld für Konzerne. Sie, Herr Steinmeier, haben vorhinhier vorgetragen, dass Sie das Ganze gerne so weiterge-führt hätten. Sie hätten Opel gerne zu einem Zeitpunkt,als klar war, dass sie das Geld gar nicht mehr brauchen,dieses persönlich hinterhergetragen. Wir haben mit unse-rem Wirtschaftsminister Rainer Brüderle dafür gesorgt,dass die Milliarden von Opel zurückgeholt werden. Dasist eine Wirtschaftspolitik für Arbeitsplätze und für Zu-kunft in Deutschland.
Frau Lötzsch trauert der Fünfjahresbilanz hinterher.
Frau Künast schwadroniert über den Umbau der Indus-triegesellschaft; den wollen Sie ja inklusive der Schlüs-selbranchen erreichen. Dazu kann man nur sagen: Gottsei Dank, Frau Künast, entscheiden Sie nicht, was indeutschen Unternehmen produziert wird oder nicht. DiePlanwirtschaft ist weltweit gescheitert, zuletzt vor20 Jahren hier in diesem Land. Planwirtschaft ist nichtbesser, nur weil sie von den Grünen kommt und nichtmehr aus dem Politbüro.
Wir machen außerdem eine Gesundheitspolitik, diedieses System zukunftsfähig macht. Sie haben, HerrSteinmeier, den Arbeitgeberanteil in der gesetzlichenKrankenversicherung angesprochen. Ja, wir haben ihnfestgeschrieben, weil wir nicht wollen, dass Arbeits-plätze in Deutschland durch steigende Zusatzkosten ge-fährdet werden.
Darüber hinaus haben wir dafür gesorgt, dass es einenSozialausgleich geben wird, der solidarischer und ge-rechter ist als alles, was es bisher gab. Wir schaffen ei-nen automatischen Sozialausgleich, der über das Steuer-
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system finanziert wird. Das heißt, alle Bürgerinnen undBürger in diesem Land tragen dazu bei.
Sie haben die Vorkasse angesprochen. Sie ist eine Er-findung der Opposition; es gibt keine Vorkasse. Nie-mand in diesem Land muss erst zahlen, bevor er zumArzt gehen kann. Meine Damen und Herren von der Op-position, Sie bauschen da eine Lüge auf.
Im Gegenteil: Wir haben dafür gesorgt, dass es keineLeistungskürzungen gibt. Wir haben dafür gesorgt, dassim Gesundheitssystem Kosten eingespart werden. Wirhaben nun einmal Milliardendefizite von Frau Schmidtgeerbt.
Wir nehmen jetzt Einsparungen bei den Kosten vor undsorgen dafür, dass die Leistungen für die Versicherten er-halten bleiben.Dabei haben wir etwas in einem Bereich geschafft,bei dem Sie sich in all den Jahren Ihrer Regierungstätig-keit nicht getraut haben, ihn anzufassen: Durch einefrühe Nutzenbewertung bei neuen Präparaten wird dasPreismonopol der pharmazeutischen Unternehmen ge-brochen.
Dadurch sinken die Preise. Davon profitieren die Versi-cherten in Deutschland.Ich kann Ihnen nur sagen: Neun Jahre Ulla Schmidtlassen sich nicht in einem Jahr reparieren.
Es verdient Respekt, was Philipp Rösler in diesem einenJahr erreicht hat. Damit ist der Einstieg in ein zukunfts-festes Gesundheitswesen geschafft.
Sie von den Grünen sind dagegen; das haben Sie ge-rade noch einmal dazwischengerufen. Das ist nichtsNeues. Sie sind gegen alles.
Die Grünen sind die neue Dagegen-Partei. Jetzt sind Sieauch noch gegen Olympia. Ich finde es bemerkenswert,welche Stimmung beispielsweise bei der Fußballwelt-meisterschaft hier in Deutschland herrschte: Da war voneinem Sommermärchen die Rede; es war ein Riesener-folg.
Warum wollen Sie diesem Land eigentlich kein Winter-märchen gönnen? Die Universalbegründung der Dage-gen-Partei lautet: Es ist nicht ökologisch, zu teuer, nichtgenügend transparent, mangelnde Einbindung der Bür-ger.
Dieses Begründungsmuster kennen wir von Ihnen,meine sehr verehrten Damen und Herren von den Grü-nen, auch bei Stuttgart 21 und beim Thema Castortrans-porte; jetzt gilt das auch noch für die Olympiade in Mün-chen. Es geht Ihnen nicht um die Sache; es geht Ihnenum Protest. Wir werden das deutlich machen, damit dieMenschen in diesem Land merken, woran sie bei Ihnensind.
Sie sind – das ist nichts Neues – auch gegenStuttgart 21. Sie haben jetzt auf Ihrem Bundesparteitageinen Beschluss dazu gefasst. Wenn man die Vorschläge,die Sie da abliefern, etwas näher verfolgt – ich kommeaus Baden-Württemberg –, hat man zwischenzeitlich denEindruck, dass jeder Keller mit einer Modelleisenbahnein Planungsbüro für Stuttgart 21 ist.Wenn ich mir das betrachte, Frau Künast, dann er-kenne ich, dass es einem bestimmten Muster folgt.Schauen Sie einmal nach Hamburg: Was haben Sie da-mals vor der Wahl alles versprochen? Sie wollten denBau des Kohlekraftwerks Moorburg verhindern. An-schließend hat eine grüne Umweltsenatorin, FrauHajduk, genau dieses Kraftwerk genehmigt. Sie haltenuns permanent moraltriefende Vorträge. Sie spielen sichals Moralinstanz dieser Republik auf.
Die grüne Hochmoral, die Sie ständig vor sich hertragen,ist nichts anderes, Frau Roth, als eine Lebenslüge.Schauen Sie den Tatsachen endlich ins Gesicht und sa-gen Sie deutlich, wofür Sie eigentlich stehen! Das, wasSie versprechen, können Sie nicht halten, und Sie wer-den es auch in Zukunft nicht halten.
Wir versuchen, Deutschland in allen Bereichen zu-kunftsfähig zu machen. Eine der großen Reformen, diewir vor uns haben, ist die Reform von Hartz IV. DieseKoalition steht für eine uneingeschränkte Solidarität mitden Bürgern. Wer Hilfe braucht, kann sich auf die Soli-darität der Gesellschaft verlassen. Für uns gilt aber auch:Diejenigen, die diese Hilfe erwirtschaften, können sichgenauso auf unsere Solidarität verlassen.
Deshalb werden wir sehr genau darauf achten, dass derRegelsatz streng nach den Regeln des Gesetzes und un-ter Ausnutzung des Wertespielraums festgesetzt wird.Das heißt, dass wir darauf achten, dass diejenigen, die
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Hilfe brauchen, diese Hilfe bekommen, aber wir achtengenauso darauf, dass diejenigen, die ihr Geld durch harteArbeit verdienen, am Ende mehr haben als diejenigen,die nichts tun.
Das gilt auch für die Bildungsleistungen für Kinder.Wir haben in diesem Hause oft genug gehört, da müssteman etwas tun. Wir tun es jetzt.
Wir sorgen dafür, dass Bildungsleistungen endlich auchfür Kinder aus Hartz-IV-Familien gewährt werden,
weil wir wissen, dass Bildung die soziale Frage unsererZeit ist, weil wir wollen, dass es eine Möglichkeit zumAufstieg durch Bildung gibt. Wenn wir das wollen, dannmüssen wir die Kinder stärken. Genau das tun wir mitdem, was wir vorgesehen haben, indem wir das Geldtreffsicher so einsetzen, dass es bei den Kindern an-kommt. Wir sind der Meinung, dass in diesem Land keinKind verloren gehen darf und Kinder aus Hartz-IV-Fa-milien endlich die entsprechende Unterstützung bekom-men müssen.
Das ist gelebte Gemeinwohlpolitik.Das gilt auch für die Energiepolitik. Das neue Ener-giekonzept, das erste Gesamtkonzept seit 1973, ist einzentraler Baustein für die Zukunftsfähigkeit dieses Lan-des. Wir bauen eine tragfähige Brücke in das Zeitalterder erneuerbaren Energien. Im Gegensatz dazu machendie Grünen Wohlfühlpolitik.
Sie haben auf Ihrem Parteitag beschlossen, dass Sie er-reichen wollen, dass der Anteil der erneuerbaren Ener-gien im Jahr 2030 bei 100 Prozent liegt.
Man hat ein bisschen den Eindruck, dass die UmfragenSie besoffen machen.
Der grüne Oberbürgermeister von Freiburg, Herr Salomon,hat im Jahr 2004 erklärt, er wolle den Anteil der erneuer-baren Energien bis zum Jahr 2010 auf 10 Prozent erhö-hen. Das Ergebnis ist: Er hat eine Erhöhung von 3,4 Pro-zent auf 3,7 Prozent erreicht. Er ist kläglich gescheitert.
So wie er gescheitert ist, werden auch Sie mit den Uto-pien, die Sie auf Ihrem Parteitag beschlossen haben,scheitern.
Sie sind gegen Kernkraftwerke. Sie sind gegen Koh-lekraftwerke. Sie sind gegen Wasserkraftwerke. Sie sindgegen Hochspannungsleitungen, die wir brauchen, umden Strom, der aus erneuerbaren Energien gewonnenwird, zum Verbraucher zu bringen. Wenn man immernur dagegen ist, dann kann man die Zukunft nicht gestal-ten. Es geht um die Modernisierungsfähigkeit, um dieZukunftsfähigkeit unseres Landes. Deshalb können wirIhnen nur zurufen: Kommen Sie endlich aus Ihrer Ku-schelecke heraus, und stellen Sie sich der Realität, liebeKolleginnen und Kollegen von den Grünen!
Sie stellen auch permanent falsche Behauptungen auf.Sie behaupten, wir würden den Energiekonsens aufkün-digen. Da wird überhaupt nichts aufgekündigt. Wir ma-chen im Übrigen genau das, was wir vor der Wahl ange-kündigt haben. Schon damals haben Sie versucht, uns zudiskreditieren. Es hat aber nichts genützt. Wir haben vonden Wählerinnen und Wählern den klaren Auftrag be-kommen, die Energieversorgung in Deutschland zu-kunftsfähig zu machen. Sie ziehen Ihre Legitimation ausUmfragen und Stimmungen. Wir ziehen unsere Legiti-mation aus einer Wahl.
Unsere Politik gefährdet nicht den Ausbau der erneu-erbaren Energien. Sie vollendet die Energiewende.
Unser Energiekonzept ist nicht der Ausstieg aus demAusstieg, sondern der realistische Einstieg ins Zeitalterder erneuerbaren Energien.
Wir handeln; die Grünen träumen. Mit Träumerei kannman ein Land nicht gestalten.
Bei der Energiepolitik kann man meinetwegen unter-schiedlicher Auffassung sein.
Allerdings erwarte ich dann auch, dass man sich ehrlichverhält. Da ist aber bei den Grünen komplett Fehlan-zeige. Angesichts der Vorkommnisse bei den Castor-transporten ist ein Zitat von Herrn Trittin aus dem Jahr
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Birgit Homburger
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2001 legendär. Er schrieb seinerzeit an die Grünen-Basisin Niedersachsen:Nur weil jemand seinen Hintern auf die Straßesetzt, finden wir das noch nicht richtig. … Genausoverhält es sich mit Aktionen gegen die notwendigeRücknahme von Atommüll aus Frankreich.Heute finden wir Herrn Trittin an vorderster Front beiDemonstrationen gegen die Castortransporte.
Die gesetzlichen Verpflichtungen gelten nicht nur, wennRot-Grün regiert. Sie gelten auch für die jetzige Bundes-regierung. Deshalb sage ich Ihnen: Die Heuchelei inDeutschland hat einen Namen. Sie heißt Trittin.
Wir Liberale setzen uns dafür ein, dass jeder, der eineandere Meinung hat, diese andere Meinung äußern kann.Das ist ein demokratisches Grundrecht. Deswegen sindwir der Meinung, dass auch friedliche Demonstrationengeschützt werden müssen.Liebe Freunde von den Grünen,
der Aufruf zum sogenannten Schottern im Rahmen die-ser Demonstrationen bedeutet, dass es eine Gefährdungnicht nur für Castortransporte gibt, sondern auch eineGefährdung für den normalen Bahnverkehr, der überdiese Schienen fährt. Schottern ist kein Kavaliersdelikt,sondern ein Straftatbestand. Wenn Sie für friedliche De-monstrationen sind, dann hätte ich von Ihnen erwartet,dass Sie dann auch eine klare Linie ziehen und sich deut-lich von denjenigen distanzieren, die zu Straftatbestän-den aufgerufen haben. Dieses Verhalten ist nicht hin-nehmbar. Ich erwarte, dass sich die Grünen klar zurDemokratie erklären.
Frau Künast, Sie reden in diesem Zusammenhang voneiner Sternstunde der Demokratie. Was meinen Sie ei-gentlich damit? Die 131 verletzten Polizisten? Die Mil-lionen Euro, die für die Schutzmaßnahmen ausgegebenwurden? Zum Thema Schottern haben Sie sich nicht ge-äußert und sich nicht klar davon distanziert. Demokratieheißt Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen und dieDurchführung sauberer rechtsstaatlicher Verfahren, undzwar von der politischen Entscheidung bis zur gerichtli-chen Überprüfung.
Einen Augenblick bitte, Frau Homburger. – Die De-
batte, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht noch eine
Weile weiter, sodass viele Möglichkeiten bestehen, Ein-
wände auch noch verständlich vorzutragen, die im Au-
genblick durch die Gleichzeitigkeit der Zwischenrufe
selbst im Protokoll nicht zu erfassen sind.
Herr Präsident, ich werde an dem Punkt noch einmalbeginnen, an dem die Grünen eben nicht mehr zuhörenwollten. Meine sehr verehrten Damen und Herren vonden Grünen, Ihre Philosophie stellt den Protest auf derStraße über die Legitimität parlamentarischer Verfahren.Dieses Handlungsmuster kennen wir an verschiedenenStellen. Ich bin der Meinung, dass Menschen in diesemLand einen Anspruch auf Verlässlichkeit haben. Deshalbwerden wir an der Rechtsstaatlichkeit festhalten undnicht akzeptieren, dass die letzte Instanz in diesem Landdie Sitzblockade ist.
Wir gehen die Erneuerung Deutschlands entschlossenan, und zwar in allen Bereichen.
Das gilt auch für die Bundeswehrreform. Wir haben imKoalitionsvertrag vereinbart, dass eine Strukturkommis-sion eingesetzt wird. Wir haben durchgesetzt, dass zu-nächst einmal die Wehrpflicht auf sechs Monate redu-ziert wird.Das hat zu einem Rutschbahneffekt geführt und auchzu einem neuen Nachdenken im Verteidigungsministe-rium. Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem wir endlichnach vielen Jahren der Diskussion eine neue, zukunftsfä-hige Struktur für die Bundeswehr auf den Weg bringenund vor allen Dingen die Wehrpflicht aussetzen. Das be-deutet, dass es ein Meilenstein für die junge Generationist. Tausende junge Männer werden im nächstenSommer eben nicht mehr zur Kleiderkammer der Bun-deswehr gehen, sondern direkt in die Hörsäle und in dieBerufsschulen gehen können.
Das, meine Damen und Herren, ist ein Erfolg, und es er-öffnet wiederum neue Chancen für die junge Generationin Deutschland.
Der Haushalt, den wir in dieser Woche abschließendberaten, ist ein Wendepunkt in der Haushaltspolitik.
Wir arbeiten mit Ausgabenkürzungen statt mit Ausga-benausweitung. Wir senken die Neuverschuldung imBund um 40 Prozent, während unter gleichen wirtschaft-
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Birgit Homburger
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lichen Rahmenbedingungen Rot-Grün in NRW die Ver-schuldung um 35 Prozent erhöht. Das ist die Realität.Wir werden bis 2014 80 Milliarden Euro gegenüberdem Entwurf von Ihrem Herrn Steinbrück einsparen.Das ist die Realität, und es ist sozialer und gerechter alsalles, was Sie in Ihrer Regierungszeit beschlossen haben.
Wir werden die Neuverschuldung weiter reduzieren.Sie haben hier immer wieder eingewandt, man könntedas schon jetzt tun und man könnte noch viel mehr tun.Ich will Ihnen einmal sagen, meine sehr verehrten Da-men und Herren von der SPD:
Sie haben über Jahre in diesem Land Regierungsverant-wortung getragen. In dieser Zeit gab es viele wirtschaft-lich gute Jahre mit sprudelnden Steuereinnahmen. Inkeinem einzigen dieser Jahre haben Sie es geschafft, dieAusgaben zu reduzieren – in keinem einzigen. TrotzMilliarden Mehreinnahmen haben Sie die Ausgaben al-lein von 2005 bis 2009 um 30 Milliarden Euro gestei-gert.
Der letzte, der dieser Koalition haushaltspolitische Vor-schläge und Ratschläge geben sollte, ist die SPD.
Deshalb hat die Haushaltskonsolidierung für unsoberste Priorität. Wir stehen bei den Staatsausgaben aufder Bremse, und wir werden noch in diesem Jahr eineSteuervereinfachung auf den Weg bringen, die vor allenDingen den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Landnutzt.
Wir werden – auch die Bundeskanzlerin hat das gesagt –alles dafür tun, dass wir in dieser Legislaturperiode dieSpielräume erarbeiten, die wir brauchen, um eine Entlas-tung der unteren und mittleren Einkommensgruppen inDeutschland zu ermöglichen.
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit, Herr Oppermann,und wir werden uns auch von Ihnen davon nicht abhaltenlassen.
Es geht um die Stabilisierung des Euro. Auch des-halb ist die Haushaltskonsolidierung von zentraler Be-deutung. Dabei geht es um Europa, aber es geht ebenauch um das Ersparte der kleinen Leute. Wir haben hiereine Vorbildfunktion, die wir wahrnehmen, ganz andersals Sie seinerzeit im Jahr 2004, als Sie dafür gesorgt ha-ben, dass der Stabilitätspakt in Europa gelockert wurde.Das war einer der Momente, die dazu geführt haben,dass wir heute in dieser Krise sind.
Wir werden dafür werben, dass der Stabilitätspakt ver-schärft wird.
– Verehrter Herr Trittin, ich komme gerade zum BeispielIrland.Was die Frage Irland angeht: Hier zeigt sich, dass wirüber die Entscheidungen, die wir im Frühjahr gefällt ha-ben, für die Krise gewappnet sind.
Ich stelle an dieser Stelle fest, dass wir uns der Verant-wortung gestellt haben, während Sie von der Oppositiondagegen gestimmt oder sich kraftvoll enthalten haben.
Das war alles, was Sie gemacht haben. Sie schlagen sichin die Büsche, wir haben die Verantwortung übernom-men.
Wir brauchen deshalb Krisenmechanismen,
die die Beteiligung privater Gläubiger vorsehen. Wir alsKoalition hier im Deutschen Bundestag wollen – das ha-ben wir deutlich gemacht – einen Zukunftsmechanis-mus, der dafür sorgt, dass es eine Art Umschuldung, eineArt Insolvenzordnung für Staaten gibt. Ich bin der tiefenÜberzeugung, dass wir dafür sorgen müssen, dass mehrVerantwortlichkeit in diesen Bereich zurückkehrt. Des-halb werden wir uns auf europäischer Ebene genau hier-für einsetzen.Was Sie hier tun, ist doppelt unverantwortlich. Bei derRettung tauchen Sie ab, und hinterher gibt beispiels-weise Herr Gabriel Interviews, in denen er den Euro ka-puttredet. Herr Steinmeier schlägt sich in die Büsche,wenn es um die Abstimmung geht, gibt uns aber hier inseiner Rede Belehrungen, wie man es besser machensoll.
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8072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Birgit Homburger
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Ich bin der Auffassung, dass wir einen starken Eurobrauchen. Wir brauchen solide Haushalte, strenge Stabi-litätskriterien und einen dauerhaften Krisenmechanis-mus, um einen harten Euro zu erreichen. Diese Koalitionkämpft für einen harten Euro und gegen eine Transfer-union. Sie sind herzlich eingeladen, sich dieser Verant-wortung zu stellen.
Neue Herausforderungen erfordern kluges und beson-nenes Handeln. Das gilt auch für die aktuelle Sicher-heitslage. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben vollesVertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden und de-ren gute Ermittlungsarbeit, die sie in den letzten Jahrenimmer wieder bewiesen haben. Wir sind der Meinung,dass die vorhandenen Gesetze konsequent genutzt undVollzugsdefizite abgebaut werden müssen. Wir als Ko-alition haben in der letzten Woche nochmals bewiesen:Wenn es notwendig ist, schnell zu handeln, dann tun wirdas. Als sich gezeigt hat, dass bei der FrachtkontrolleProbleme bestehen, haben wir im Haushaltsausschusssofort dafür gesorgt, dass 450 neue Stellen vorgesehenwerden, durch die die Kontrolle und die Sicherheit ge-währleistet werden. Das ist ein Beispiel für das sofortige,entschlossene Handeln, das diese Koalition auszeichnet.
Der reflexartige Ruf nach schärferen Gesetzen sorgtnicht für mehr Sicherheit. Deshalb, denke ich, solltenwir die Lage ruhig analysieren und die nötigen Maßnah-men ergreifen. Denn Angst ist die stärkste Waffe desTerrors. Terroristen zielen auf unsere freiheitliche Ge-sellschaft. Sie wollen Angst, Schrecken und wenigerFreiheit; das ist das Ziel der Terroristen. Ich bin der Auf-fassung, dass wir hier in diesem Hause gemeinsam dafürsorgen sollten, dass sie das nicht erreichen. Ich danke andieser Stelle ganz ausdrücklich dem Bundesinnen-minister de Maizière, aber auch der JustizministerinLeutheusser-Schnarrenberger, die in Ruhe und Beson-nenheit reagiert und die nötigen Maßnahmen auf denWeg gebracht haben.
Schwarz-Gelb trägt Verantwortung für unser Land.Wir handeln entschlossen und treffen Entscheidungen,auch wenn sie unpopulär sind. Das ist der Unterschiedzwischen Rot-Rot-Grün und Schwarz-Gelb: Wir gestal-ten Deutschland, Sie sind für den Stillstand. Wir wollenDeutschland zukunftsfähig machen, Sie wollen denRollback in alte Rezepte von gestern. Wir übernehmenVerantwortung, Herr Kuhn, Sie drücken sich vor Ent-scheidungen und schlagen sich in die Büsche. Wir habenKraft und Mut für Richtungsentscheidungen, Sie ma-chen eine Wohlfühlpolitik, versprechen allen alles undziehen sich in Ihre Kuschelecke zurück.Wachstum, Bildung, Zusammenhalt – dafür stehtdiese Koalition, dafür arbeiten wir. Wir haben den Mutzu Veränderungen und zu Verantwortung. Das ist derUnterschied zur Opposition in diesem Haus.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte erst einmal nach oben schauen.
– Ja. – Dort oben laufen während unserer Sitzungen nor-malerweise Menschen, aus diesem Lande, aus ganzEuropa und aus vielen anderen Ländern, die eines genie-ßen: dass der Deutsche Bundestag das einzige Parlamentist, das so frei ist, dass man sich nicht einmal anmeldenmuss, bevor man sich dort vorne in die Schlange stellt,um wenig später aus dem Reichstag hinaus- und auf unshinabzuschauen.Ich glaube – zumindest mir geht es in den letzten Ta-gen so –, das ist etwas, das wir immer im Kopf habenmüssen: Das ist aufgrund der Erkenntnisse im Zusam-menhang mit dem Terrorismus im Moment nicht mög-lich. Aber ein Gefühl sollte uns heute verbinden. Auchwenn wir hier tagen wie immer und arbeiten wie immer,sollten wir wissen: Dies ist ein freies Parlament in einemfreien Land, das wird es immer bleiben, und das Dachwird wieder geöffnet werden.
Ich möchte an dieser Stelle dem Bundesinnenministerdanken.
Wir sind bei diversen Themen nicht einer Meinung. Ichwill mich aber dafür bedanken, dass Sie die Dinge mitder Ihnen typischen Ernsthaftigkeit und Seriosität ganzruhig angegangen sind, das, was nötig war, erklärt habenund das tun, was notwendig und rechtlich zulässig ist.Ich glaube, das hilft uns auch, um aus dieser Situationherauszukommen. Später werden wir unsere Debatten– wir wissen schon, welche – natürlich weiterführen.Dennoch sage ich Ihnen insofern meinen und unserenherzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8073
Renate Künast
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Nun zum Haushalt und zu Ihrer Rede, Frau Bundes-kanzlerin. Sie sind ans Redepult getreten und haben ge-sagt, Sie möchten jetzt endlich eine Rede für die Zukunfthalten.
Eine solche Rede haben Sie aber nicht gehalten. Dieswar keine Rede für die Zukunft.
Ich will Ihnen auch erklären, warum. Das, was Sie ge-sagt haben, war nicht wirklich der Zukunft verpflichtet.Sie haben in den letzten Monaten im Übrigen eine an-dere These vertreten. Als Sie mit Schwarz-Gelb so rich-tig tief im Sumpf saßen, haben Sie gesagt: Nun kommtder Herbst der Entscheidungen. – Entscheiden allein istaber keine Qualität, Frau Merkel. Es kommt auch aufden Inhalt und die Richtung der Entscheidungen an.
Ja, Sie haben sich entschieden. Sie haben sich ent-schieden – gegen eine zukunftssichere Energiepolitik inDeutschland. Sie haben sich entschieden – gegen Solida-rität in der Gesundheitspolitik. Sie haben sich entschie-den – gegen sozialen Zusammenhalt. Sie spalten dasLand. Das ist nicht der Zukunft, sondern das ist demVergangenen verpflichtet, Frau Merkel.
Sie haben gesagt: starke Wirtschaft, starker Staat,starkes Gemeinwesen. Dass die FDP bei all dem mit-macht – ich wiederhole: „starkes Gemeinwesen“ und„starker Staat“ –, wage ich zu bezweifeln. Aber egal! Siehaben nichts von all dem organisiert. Sie haben im letz-ten Jahr Klientelgeschenke verteilt. Wenn wir „Möven-pick“ hören, zucken wir alle zusammen. Keiner denktmehr an Eis, sondern alle denken nur noch an Steuerpri-vilegien.
Sie machen eine gnadenlose Klientelpolitik: für diePharmaindustrie, für den Profit der Atomkonzerne, fürdie Privilegien einiger weniger in der Gesundheitspoli-tik. Die Folgen dieser Politik haben Sie selbst beschrie-ben, Frau Merkel. Ich möchte zitieren, was Sie auf IhremParteitag gesagt haben:Wir brauchen uns nicht zu wundern, dass sich vieleMenschen angewidert von den politischen Parteienund den Politikern abwenden, wenn die Politik ih-rerseits selbst das Gespür für die Grenzen des An-stands verliert.
Das ganze erste Jahr Schwarz-Gelb zeigte: Sie haben dasGespür für den Anstand, für die Menschen verloren.Frau Merkel, Sie haben vorhin – auch ich bin in derLage, Pirouetten zu drehen, aber man muss erst einmalauf die Idee kommen, so zu denken –
etwas zur globalen Natur und zur Nachhaltigkeit erzählt.Nachdem Sie da oben in den philosophischen Sphärenherumgereist sind, kamen Sie wieder herunter und sag-ten: Deshalb muss Gorleben gebaut werden. – FrauMerkel, nachhaltig ist das nicht, weil man dann nämlichgar nicht erst damit angefangen hätte.
Denn das ist eine Risikotechnologie, gar nicht davon zureden, wenn man dies verlängern würde.Sie machen es immer nach der Methode: Der Regie-rungssprecher erzählt vorher schon einmal, was Sie an-geblich alles erreicht haben, damit möglichst viele esschreiben. Ich nehme das so wahr: Wenn der Regie-rungssprecher angekündigt hat, was Sie tun werden, tre-ten Sie an das Redepult, spitzen den Mund, und herauskommt ein verzagter Pfiff.
– Immerhin, das stimmt. Gar kein Ton wäre nochschlimmer. – Ich sage Ihnen: So kann die Zukunft unse-res Landes nicht organisiert werden.Sie haben sich überlegt, nachdem Sie nicht wussten,wer Sie jeweils sind – es gibt ja nicht wenige, die Pro-bleme haben, zu sagen: „Wer bin ich und wenn ja, wieviele?“, auch als Partei; die Grünen trifft es gerade nicht,aber die CDU weiß es nicht; Sie rufen ständig etwasNeues aus –:
Einmal sind Sie Mitte, liberal, um ihnen das Wasser ab-zugraben. Dann sind Sie wieder konservativ und wollendas Bürgertum in den Großstädten erreichen. Dann istwieder das große C dran. Jetzt ist die große Geschichte:Immer auf die Grünen. Wir nehmen den Handschuhgerne auf, den Sie werfen: Immer auf die Grünen. Ichbin sowieso der Überzeugung, dass dieses Land, wenn essich um seine Zukunft Gedanken macht, im Wesentli-chen zwischen zwei Konzepten zu entscheiden hat: Ih-rem und unserem, schwarz oder grün.
Schauen wir uns einmal an, wohin die Reise geht. Siesprechen immer vom großen C, dem Christlichen. Dannmüssten Sie aber einmal den Haushalt richtig konsolidie-ren und dabei das große C mitnehmen. Ist es christlich,nur bei den Ärmsten zu sparen?
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8074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Renate Künast
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– Ich weiß, jetzt ruft Herr Kauder gleich wieder: Sie den-ken immer nur an die Hartz-IV-Leute. – Nein, nicht im-mer nur, aber auch. Und ich denke an die Zukunft.
Warum streicht man eigentlich diesen Eltern, nicht aberder erwerbslosen Ehefrau das Elterngeld? Auch das istkeine Ersatzleistung, oder, meine Herren? Sie haben dasElterngeld für Hartz-IV-Empfänger sowie die Renten-beiträge gestrichen und die Mittel zur Qualifizierung um16 Milliarden Euro gekürzt. Das soll Zukunft sein? Dasorganisiert die Arbeitslosigkeit der Zukunft. Das organi-siert die tiefe Armut im Rentenalter. Das ist nicht Zu-kunft, sondern ganz blöde alte Denke.
Sie sagen, dieser Haushalt sei angeblich christlichausgewogen. Na toll! Die Brennelementesteuer wirdvollständig absetzbar. Die Ausnahmen bei der Ökosteuerbleiben alle erhalten. Um sie zu finanzieren, sollen dieMenschen mehr Steuern für das Rauchen zahlen. Das istirgendwie schräg. Ich will nicht behaupten, Rauchen seigesund.
Im Gegenteil: Die Nichtraucherregelungen gefallen auchmir. Sie meinen, die einen, die nicht einmal internatio-nale Konkurrenz und Wettbewerb haben, dürften dieÖkosteuerausnahmen nicht verlieren. Bei den anderensagt man: Ihr müsst jetzt einmal einen Solidarbeitragleisten.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Ihr Haushaltsentwurfist der soziale und ökologische Offenbarungseid undkein Zukunftsversprechen.
Sie sprechen von 48 Milliarden Euro neuen Schulden.Aber Sie haben vergessen, was Sie noch alles an Neben-schauplätzen versteckt haben.Dann beglückt uns noch der von Frau Homburger im-mer so gelobte Herr Brüderle. Er schwadroniert schonwieder über Steuersenkungen. Und Ihr Herr Lindner– das ist der Ersatzmann, damit Westerwelle nicht so oftgesehen wird –
profiliert sich immer mit seinen Gewerbesteueralbträu-men.Was in diesem Land sozial ist und wie der Alltag or-ganisiert wird, wird in den Kommunen entschieden.Wir brauchen Kindergärten, Schulen, Horte, Sozialarbei-ter und Stadtteilarbeit, und zwar nicht erst dann, wennder Stadtteil bereits in einem total miserablen Zustandist. Wir brauchen Freibäder. Wir brauchen Kinder, diedas Seepferdchen machen können, damit sie schwimmenlernen. Das ist der soziale Alltag in Deutschland. Dafürbrauchen die Kommunen Geld, und das wollen Sie ihnennehmen. Das ist nicht christlich, und das ist auch nichtZukunft.
Sie haben etwas zu Europa gesagt; auch Frau Merkelhat hier etwas darüber berichtet. Ich habe jetzt nicht dieZeit, die gesamte Europapolitik aufzumachen, undmöchte deshalb an dieser Stelle nur auf Irland eingehen.Ich sage Ihnen eines: Irland zeigt – das negieren Sie auchnicht –, wohin unvernünftige neoliberale Wirtschafts-politik führt. Es ist richtig, das Land zu stützen. Wir alsGrüne haben das hier gerade auch bei der Debatte überGriechenland sehr klar gesagt. Wir haben damals gesagt:Wir diskutieren einmal nicht über Frau Merkel, sondernüber Griechenland, über die Europäische Union undüber den Euro, den wir schützen wollen. Darum ging es,und darum geht es auch bei Irland.Um eines mache ich mir aber Sorgen, Frau Merkel:Es geht ja um die Steuersätze dort. Nach dem Gipfel vonDeauville und Ihrem Alleingang, dem Überraschungs-coup zusammen mit Sarkozy, wird es für Deutschlandnicht einfacher, in Richtung Irland zu sagen, was jetzt zutun ist.
Das wird das sein, was Sie jetzt leisten müssen: Irlandmuss bei der Steuerharmonisierung einen Schritt weiter-gehen und darf nicht sagen, sie bleiben bei den12,5 Prozent. Es muss klar sein, was unter dem Begriff„geeignete Maßnahmen“ zu verstehen ist, die zu ergrei-fen sind, damit sich so etwas nicht wiederholt, und dassdie Iren entsprechende Maßnahmen ergreifen. Das istnicht einfach, weil ich sehe, dass die Grünen im Augen-blick die einzigen sind, die an dieser Stelle agieren.
Sie sollten sich an dieser Stelle auch nicht zu laut äu-ßern. Hans Eichel hat sich damals als Bundesfinanz-minister immer an der, wie ich zugebe, nicht einfachenSteuerharmonisierung in Europa versucht.
Wer hat ihn damals kritisiert? Der rechte Teil des Hau-ses. Auch hier wäre also ein bisschen Demut angebracht.
– Ja, schon.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8075
Renate Künast
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Zurück zum Kern des Haushaltes. Worum geht es inder Debatte? In der Debatte heute muss es darum gehen,eine wirkliche Haushaltskonsolidierung aufzulegenund einen Dreiklang zu praktizieren: durch Einsparun-gen, durch die sozial ausgewogene Steigerung von Ein-nahmen und durch gezielte Investitionen in Bildung,Klima und Soziales. Sie haben aber keinen Haushalt derGestaltung vorgelegt, sondern einen Haushalt alter, ver-gangener Klientelpolitik.
Die Ausnahmen der Ökosteuer habe ich schon er-wähnt. Warum gehen Sie an den Spitzensteuersatz nichtran? Warum führen Sie keine einmalige Vermögensab-gabe ein? Warum besteuern Sie Kapital nicht tatsächlichgenauso wie Arbeitseinkommen? Wie sieht es mit denInvestitionen aus? Welche Leitlinien haben Sie eigent-lich hinsichtlich der Investitionen der Zukunft? Woschaffen Sie eigentlich Arbeitsplätze?Frau Merkel hat hier heute über Bildung und überHartz IV geredet. Bezüglich der Verhandlungen zur Um-setzung des BGH-Urteils zu Hartz IV sind Sie uns mitein paar harten Sätzen angegangen. Ich sage Ihnen abereines: Ein bisschen Demut täte Ihnen hier gut.
Jede Rednerin und jeder Redner tut so, als würde dieCDU/CSU-FDP-Koalition jetzt endlich für die großenStrukturen in der Bildung sorgen. Mal halblang! Auf-grund einer miserablen Bildungspolitik in diesem gan-zen Land und fehlender Chancen für jedes Kind sind Siedurch den BGH dazu verpflichtet.
– Das hat mit Hartz IV gar nichts zu tun. Sie verstehenschon wieder nichts. Sie verstehen von gar nichts etwas,Frau Homburger.
Aufgrund der miserablen Bildungspolitik in diesemLand und der fehlenden Strukturen, wodurch nicht je-dem Kind die gleiche Chance gegeben und nicht jedesKind gefördert wird, wenn es Defizite hat, hat der BGHgesagt: Es gehört zur persönlichen Entfaltung und zumRecht der Kinder, dass sie zum Beispiel gefördert wer-den und Nachhilfe bekommen.
Sie haben jetzt die Sachleistungen angesprochen. Siemüssen das Urteil umsetzen; das ist nicht Ihre eigeneIdee. Mir fehlt dabei aber eine zusätzliche Idee von Ih-nen. Allein die Umsetzung des Urteils hinsichtlich derSachleistungen bedeutet doch keine Bildungspolitik indiesem Land. Sie müssen jetzt gezielt in die Bildungsin-frastruktur investieren und dürfen nicht nur für einenWildwuchs an einzelnen Maßnahmen und mehr Büro-kratie sorgen.
Rein in die regionalen Bildungspartnerschaften, Sozial-arbeiter mit einbeziehen, damit die Probleme der ganzenFamilie bearbeitet werden können und die Kinder Zeit,Raum, Gefühl und Energie haben, sich zu bilden. Dazubieten Sie nichts an, außer dass Sie immer über denWegfall von Gewerbesteuern schwadronieren, statt end-lich einmal für eine verlässliche Finanzierung der Kom-munen zu sorgen.
Frau Merkel, wir haben Ihnen zusammen mit der SPDgeschrieben, wir seien an dieser Stelle bereit, zu reden.Dabei muss es dann aber wirklich um regionale Bil-dungspartnerschaften und um die Fragen gehen, wieinnerhalb des Hartz-IV-Konzeptes eigentlich die Regel-sätze berechnet werden und was Sie für Langzeitarbeits-lose tun, weil Hartz IV nur ein Übergang sein soll. Die-sen Übergang in das andere muss man dann bitte schönauch organisieren.
Frau Merkel, Sie reden hier immer über die Zukunft,aber an keiner Stelle sagen Sie wirklich, wie das Land inZukunft organisiert sein soll.Wie soll es denn in 10, 20, 30 Jahren aussehen? KeineIdee, kein Mut, immer nur so kleine sektorale Felder, dieangegangen werden. Bei dem ganz großen Feld Elektro-mobilität machen Sie einen Elektroauto-Gipfel. Sie zie-hen das also auf den kleinsten und auch unökologischs-ten Teil. Frau Merkel, Deutschland verschläft an dieserStelle seine Zukunft. Wenn man in diesem Bereich dieArbeitsplätze in der Automobilindustrie halten will,wenn man mehr Arbeitsplätze schaffen will, dann mussman jetzt an den systematischen Strukturwandel im Be-reich Verkehr ran. Das heißt Elektromobilität. Dazu ge-hören das Auto, das Fahrrad, der Roller, die Vernetzungder Angebote, die Bahn, der öffentliche Verkehr. Dazuhaben Sie in Wahrheit gar nichts. Wo ist die Forschungs-initiative für das vernetzte Konzept? Wo sind die Prä-mien für entsprechende Autos? Wir haben ein fertigesKonzept dazu. Ich sage Ihnen: Bei der Elektromobilitätstehen sich zwei Konzepte gegenüber, das schwarze unddas grüne. Unseres geht aber in die Zukunft.
Schauen wir uns das Thema Energie an: ihr Konzept,unser Konzept. Frau Merkel, Sie haben gesagt, dieAtomenergie sei eine Brückentechnologie. Das war sieaber schon, bevor Sie die Laufzeitverlängerung gemachthaben – aus lauter Not, um wieder herauszukommen.Wir setzen auf 100 Prozent erneuerbare Energie bis2050. Sie reden mittlerweile immer vom Zeitalter der er-neuerbaren Energie, das übrigens mit dem EEG undnicht mit Ihnen angefangen hat, um es einmal klar zu sa-gen.
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8076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Renate Künast
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Aber bei Ihnen heißt die Antwort: 2050 30 Prozent Strom-import. So wollen wir die Zukunft Deutschlands nichtorganisieren. Wir wollen unabhängig werden.
Wir wollen in der Entwicklung der Technologie vornesein, und es geht. Da muss man aber Mut haben und darfnicht reine Lobbygeschenke verteilen.100 Milliarden Euro Zusatzgewinne an die Atom-energie, an die Atomkonzerne. Davon müssen sie allen-falls, wenn es hoch kommt, 30 Milliarden Euro ausge-ben. Meine Damen und Herren, das ist nicht Zukunft,das ist alte Klientelpolitik, wie sie schon unter HelmutKohl gemacht wurde. Sie setzen sie fort, Frau Merkel.
Das Bundesverfassungsgericht wird das so nicht beste-hen lassen. Es wird auch keinen politischen Bestandüber 2013 hinaus haben, und das ist auch gut so.
Sie reden hier für meine Begriffe verdächtig wenigüber die Frage von Konzepten für Bereiche. Das machenSie im Energiebereich nicht. Ich sage Ihnen: Im Ver-kehrsbereich hängen Sie sich immer an der Frage vonStuttgart 21, diesem Bahnhof, fest. Es freut mich, dassSie dazu etwas sagen. Frau Merkel, es freut mich auch,dass Sie unseren Spitzenkandidaten dort, HerrnKretschmann, erwähnen und ihn zitiert haben. Er hat ge-sagt: Wir versprechen nichts, aber wir werden alles dafürtun, dass Stuttgart 21, dieser Bahnhof, nicht kommt.
Deshalb haben wir ja einen Stopp weiterer Baumaßnah-men gefordert. Wissen Sie, Frau Merkel, das unterschei-det uns von Ihnen: Wir versprechen nur das, was manauch halten kann. So klug sind wir auch geworden.
Ich gebe zu, wir haben in Moorburg etwas versprochenund die Gerichtsentscheidung unterschätzt, die da nochansteht. Deshalb sagen wir bei Stuttgart 21: Klar, wirversuchen alles, was geht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie beiIhren Steuersenkungen Ihren Grips einmal ähnlich an-strengen würden, wäre das Land weiter.
Kollegin Künast, gestatten Sie eine Frage des Kolle-
gen Schlecht?
Ja.
Frau Künast, Sie haben vorhin selbst gesagt, dass Sie
in der Lage sind, Pirouetten zu drehen. Das, was Stutt-
gart 21 betrifft, hört sich jetzt ein bisschen so an.
– Der ist schon seit zehn Jahren bekehrt. Der ist schon
viel früher bekehrt, als die Grünen dazu bekehrt worden
sind. Das ist überhaupt kein Problem.
Ich will eine Frage stellen, Frau Künast. Das ist eine
Frage, die viele Menschen, die ich auf den Demonstra-
tionen in Stuttgart, in Straßenbahnen usw. treffe, bewegt,
nämlich: Was machen die Grünen eigentlich, wenn sie
gemäß den Umfragen am 27. März tatsächlich einen gro-
ßen Wahlerfolg erzielen sollten? Was machen die Grü-
nen tatsächlich? Werden sie dann Stuttgart 21 beerdigen,
ja oder nein? Das ist die Frage, und alles andere sind Pi-
rouetten.
Herr Schlecht, ich habe gedacht, das gerade gesagt zuhaben, will aber auf alle Fälle auf eines verweisen, weilSie von Bekehren gesprochen haben: Grüne müssen Sienicht bekehren. Bekehren Sie lieber Herrn Maurer. Erhat damals, als er noch in der SPD war, für Stuttgart 21gekämpft.
Ich sehe Herrn Maurer übrigens selten in solchen Debat-ten. Wie kommt das?Nachdem wir das Verb abgearbeitet haben, will ichIhnen eines sagen: Wir führen rechtliche Prüfungendurch. Wir nehmen alles in den Blick, und wir habenauch die Schlichtungsgespräche mit angeregt, um klar-zumachen, dass das, was die Bürgerinnen und Bürger alssinnlose Maßnahme ansehen, die sie nicht wollen undfür die sie kein Geld verplempern wollen, nicht Realitätwird. Auch deshalb wollen wir die Wahl gewinnen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8077
Renate Künast
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Ich finde es richtig, wenn jetzt in Stuttgart oder Ba-den-Württemberg diskutiert wird, ob man das Geld nichtbesser für den Güterverkehr ausgeben sollte, als die Gi-galiner über die Straßen fahren zu lassen. Ich finde esrichtig, dass an der Stelle gesagt wird: Was wir tun kön-nen, um eine Weiterentwicklung hinsichtlich der Rechts-lage und Auftragslage zu verhindern, tun wir.
Gerade Sie von der FDP sollten aufgrund vonStuttgart 21 und anderen Projekten eines erkennen, näm-lich dass die Basta-Politik und die Politik für die Besser-verdienenden ein Ende hat. Nach 60 Jahren Grundgesetzlassen sich die Menschen es nicht mehr gefallen – dassehen wir in Stuttgart und anderswo –,
dass man ihnen 15 Jahre alte Entscheidungen überstülpt.Sie haben an 365 Tagen im Jahr eine Meinung, nicht nurdann, wenn Wahlen bevorstehen.
Sie haben einen Haushalt vorgelegt, der an keinerStelle den Fragen Genüge tut: Wo ist das Konzept für dieFachkräftezuwanderung? Wo bleibt die gezielte Ar-beit mit Migrantinnen und Migranten? Wo ist das Punk-tesystem? Damit setzen Sie sich auch nicht durch. Jeden-falls ist für mich nichts erkennbar. Sie reden immer nurlaut darüber. Wo ist das Punktesystem, das FachkräftenZuwanderung ermöglicht?Wo ist eine Gesundheitspolitik, die dem C gerechtwird, Frau Merkel? Das ist doch eine sozial kalte Ge-sundheitspolitik der FDP, mit der Privilegien aufrechter-halten werden. Sie wollen das bei der Pflegeversiche-rung genauso machen. Wir wollen mehr Solidarität stattweniger und deshalb eine Bürgerversicherung.
Das Fazit Ihres Haushaltes ist: Schwarz-Gelb richtetdas Land nicht neu aus. Die entscheidenden Aufgabenwerden nicht angegangen, weder bei den Fachkräftennoch beim Umbau der Wirtschaft, bei der Bildungspoli-tik und den erneuerbaren Energien, nirgendwo.Wahr ist: Sie setzen die Zukunft des Landes aufsSpiel. Sie sind dem Alten verpflichtet. Das macht denUnterschied aus. Sie sind dem Alten verpflichtet. Wirwerden von der Zukunft gezogen. Deutschland hat wahr-lich mehr Zukunft verdient.
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Volker
Kauder.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Gleich zu Anfang das Gemeinsame, Frau Künast:Ja, es ist richtig, dass wir unter den Erkenntnissen desBundesinnenministers unsere Arbeit in diesem Parla-ment so konsequent weitermachen wie bisher. Wir lassenuns von niemandem in unserer Arbeit und in unseremLeben beeinflussen. Das hätten die Terroristen gerne.Genau das machen wir nicht. Darin sind wir einer Mei-nung. Herzlichen Dank für diese Gemeinsamkeit, liebeKolleginnen und Kollegen.
Ich bin auch dem Bundesinnenminister dankbar fürseine kluge, zurückhaltende, aber doch klare Aussage,dass wir alle wachsam sein müssen. Das gilt für uns alle.Ich bin all denjenigen dankbar, die in Sicherheitsdiens-ten hier im Deutschen Bundestag sowie draußen auf un-seren Straßen und Plätzen durch ihre Präsenz zeigen:Dieser Staat tut, was er kann. Wir setzen alles daran, umSicherheit in unserem Land zu gewährleisten.
Aber es wird dann sicher auch Diskussionen darübergeben: Was müssen wir in Konsequenz der Erkenntnistun, dass Sicherheit zu garantieren immer auch ein Pro-zess ist? Da warten wir natürlich auf die Anregungenund Vorschläge, die der Bundesinnenminister diesemParlament auch im Zusammenhang mit der Neustruktu-rierung geben wird. Ich habe heute Morgen in einem In-terview bereits darauf hingewiesen.
Aber das Entscheidende, meine sehr verehrten Damenund Herren, ist doch, dass wir dieses Land auf allen Ebe-nen, in allen Bereichen weiter nach vorne bringen, wiees die Bundeskanzlerin angesprochen hat. Frau Künast,Sie irren ganz gewaltig; denn Sie haben Freude am Al-ten, wir haben Freude am Neuen. Wir bringen unserLand voran.
Wenn es um irgendeine Investition geht, dann sindSie immer dagegen. Sie sind die Dagegen-Partei, die ge-gen alles ist.
Wenn ich mir einmal anschaue, was Sie auf Ihrem Par-teitag alles so beschlossen haben
und was ich in den letzten Tagen auch zum Energiekon-zept von Ihnen gehört habe, dann muss ich sagen: Das
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8078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Volker Kauder
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ist der Markenkern ideologisch geprägter Politik. Dazueinmal ein Beispiel.Sie beschließen auf einem Parteitag Ausgaben in derGrößenordnung von 50 bis 60 Milliarden Euro. Dannkommt der Schwabe Kuhn und stellt den Antrag, sichdas einmal genauer anzuschauen, weil man gar nichtweiß, welche Auswirkungen das hat. Er wird runterge-bügelt nach dem Motto: Sei ruhig, Kuhn, das interessiertgar nicht. Wichtig ist nicht die Frage, was das kostet,sondern wichtig ist, ob es unseren ideologischen An-sprüchen gerecht wird. – Das ist das Thema bei Ihnen,Frau Künast.
Ein Land wird im Wettbewerb mit anderen Ländernauf dieser Erde, insbesondere mit Asien, nur dann einewirkliche Chance haben, wenn es sein Energieproblemlöst. Energiepolitik macht diese Regierung unter Be-rücksichtigung der Realität, der Tatsachen und nicht derIdeologie. Der Oberbürgermeister der Grünen in Frei-burg hat gesagt, sie wollen den Anteil erneuerbarerEnergien im Jahre 2010 auf 10 Prozent erhöht haben.Das ist ein schönes Ziel. Schöne Ziele kann man sichsetzen. Wo ist er angekommen? Bei 3,7 Prozent. Das istdie Wahrheit.
So können wir kein Land – besonders mit Blick auf die18-jährigen Menschen – in eine Zukunft führen, FrauKünast.
Deswegen hat die Bundeskanzlerin völlig recht, wennsie sagt, wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dassdieses Land stark bleibt. Wir wollen die erneuerbarenEnergien ausbauen und sie zum zentralen Energiever-sorger machen. Dafür brauchen wir für eine gewissePhase, für eine Übergangszeit Kohle, und da brauchenwir auch Kernenergie. Aber jetzt kommt es doch aufFolgendes an, liebe Kolleginnen und Kollegen von denGrünen: Voraussetzung dafür, von jetzt 13 oder 14 Pro-zent auf 30, 40 oder 50 Prozent zu kommen – das wissenSie alle ganz genau –, ist, dass wir die Energieerzeugungdurch Wind auf dem Meer ausbauen.Leider Gottes kann diese Energie nicht auf der Straßeoder auf der Schiene durch das Land transportiert wer-den. Deswegen sagen uns heute die Fachleute, wir brau-chen rund 3 000 Kilometer neue Leitungen mit einemInvestitionsvolumen von 10 bis 20 Milliarden Euro. Undwas erleben wir?
Die Grünen stellen sich hier im Bundestag hin undhalten große Reden für erneuerbare Energien. Aber vorOrt, wenn es dann darum geht, die notwendige Infra-struktur dafür zu schaffen, wird blockiert und Nein ge-sagt. Das sind die Grünen in Deutschland.
Deswegen kann ich nur sagen: Es ist gut, dass Sie in derOpposition sitzen und dass Christlich-Liberal diesesLand regiert und es auf eine neue Basis stellt.Dieser Bundeshaushalt bildet dafür eine Grundlage.Jetzt kommt das Thema, das Sie in allen Reden ange-sprochen haben. Sie behaupten, dieser Haushalt sei so-zial nicht ausgewogen.
Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Bonde?
Wenn ich mir diesen Haushalt anschaue, kann ich nursagen: Wer so etwas sagt, verfehlt die Wahrheit haar-scharf. Wir geben über 50 Prozent, also jeden zweitenEuro, für soziale Maßnahmen aus.
Das ist doch nicht sozial unausgewogen. Auch in der So-zialpolitik und insbesondere in der laufenden Diskus-sion über Hartz IV erkenne ich bei den Grünen den Mar-kenkern ideologiegeleiteter Politik.
Sie sagen, den Hartz-IV-Empfängern stehe eine Erhö-hung der Regelsätze zu. Dann sprechen und verhandelnSie mit uns. Aber Ihnen geht es nicht in erster Linie umdie Menschen und um Hartz IV, sondern darum, etwasaus Ihrem ideologischen Sandkasten mitzubringen. Dasdient aber nicht dem Land, sondern Ihrer Ideologie. Dasist nicht in Ordnung, Frau Künast, um das klipp und klarzu sagen.
Helfen Sie mit, dass das Gesetz, das wir im Bundestagverabschiedet haben, umgesetzt werden kann und dieMenschen am 1. Januar nächsten Jahres das Geld be-kommen, das ihnen zusteht!
Es wird auch etwas für die Bildung getan. FrauKünast, Ihre Aussagen zur Bildungspolitik haben michüberhaupt nicht überzeugt. Überall, wo Rot-Grün re-giert, wird man zu Experimenten mit Kindern veranlasst,aber nicht zu einer klugen Politik. Schauen Sie sich an,was gerade in Nordrhein-Westfalen passiert! Sie werdenerleben, dass die Menschen dagegen auf die Straße ge-hen werden, genauso wie in Hamburg, als Sie diese Poli-tik gemacht haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8079
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– Nachdem Frau Merkel Sie versenkt hat, sind Sie offen-bar wieder hochgeschwommen. Ich bemerke, HerrTrittin, dass Sie wieder an der Oberfläche angekommensind.
In allen Zeitungen können Sie in diesen Tagen etwaslesen, das genau die Realität trifft. Die Bildungspolitikist für die Kinder da und nicht für ideologische Experi-mente. Danach handeln wir.
Wir sehen, dass unser Land aus der Wirtschaftskrisebesser herausgekommen ist als andere Länder. Jetzt mussich Ihnen sagen: Die beste Sozialpolitik, die man machenkann, ist diejenige, die dazu führt, dass die Arbeitslosig-keit zurückgeht und die Menschen wieder Chancen ha-ben. Genau das ist hier gemacht worden. Auf dem Weggehen wir weiter. Nicht immer mehr Sozialleistungen,nicht immer mehr Menschen vom Sozialtropf des Staatesabhängig machen, sondern ihnen Chancen geben, das istdie Politik der Regierung Merkel. Diese ist erfolgreich.
Es ist das Modell der sozialen Marktwirtschaft, dassich hier bewährt hat. Aber natürlich ist die sozialeMarktwirtschaft von einigen nicht so wahrgenommenworden, wie es notwendig ist. Deswegen unterstützenwir, die Regierungskoalition, die Bundesregierung aufihrem Weg, der zum Ziel hat, auch private Investoren anden Kosten zu beteiligen. Ludwig Erhard schreibt in sei-nem berühmten Buch Wohlstand für Alle, in dem er dieGrundlagen der sozialen Marktwirtschaft festgelegt hat:Erfolg, Risiko und Haftung gehören zusammen. Es darfnicht sein, dass jemand Risiken eingeht und dann dieSteuerzahler haften müssen. Deswegen müssen allewissen: Wer Chancen sucht – auch riskante –, muss fürsein Verhalten einstehen, wenn es schiefgeht, nicht nurder Steuerzahler.
Deswegen ist es richtig, wenn die Bundesregierung diesumsetzen will.Auch wir wollen natürlich die Finanztransaktion-steuer. Das ist überhaupt kein Thema.
– Die, die jetzt lachen, kann ich gerne einmal nach Sin-gapur mitnehmen. Sie können auch alleine dorthin fah-ren. Wenn Sie mit den Bankern und den Politikern inSingapur reden, sagen diese: Führt doch am besten inDeutschland allein die Finanztransaktionsteuer ein.Dann werden wir in Singapur noch reicher und fetter;denn wir machen auf keinen Fall mit. – Märchen zuglauben, ist das eine, aber in der Realität zu arbeiten, istdas andere. Wenn wir nicht zu einer zumindest europa-weiten Finanztransaktionsteuer kommen – dafür kämpftdoch die Bundesregierung –, dann hat sie keinen Sinn.Es hat daher auch keinen Sinn, den Menschen zu sagen,dass wir sie in Deutschland allein einführen. Wenn Siedas tun, gibt es bald gar keine Börse mehr in unseremLand. So geht es nicht. Das ist wiederum ein Beispielideologiegeleiteter Politik.
Wir sehen auch mit einiger Sorge – die Bundeskanzle-rin hat es angesprochen –, was sich in unserer Welt in Sa-chen Sicherheit tut. Wir hoffen, dass die Krise in Koreanicht größere Weiterungen hat, sondern dass das, wasdort in den letzten Tagen geschehen ist, eingedämmtwerden kann. Auch muss ich zum wiederholten Male sa-gen: Wir sehen mit großer Sorge, wie weltweit und indiesen Tagen insbesondere im Irak wieder Christen ver-folgt werden. Das darf uns nicht ruhen lassen. Wir dür-fen darüber nicht schweigen. Herr Bundesaußenminister,ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das zum Thema gemachthaben. Wir müssen aber auch überlegen, was wir kon-kret tun können. Es kann nicht die Lösung sein, immermehr Christen aus dem Irak nach Deutschland zu holenund damit im Irak eine christenfreie Zone zu schaffen.Wir müssen vielmehr überlegen, wie wir mit dem einenoder anderen Euro den Menschen im Irak helfen können,damit sie sicherer vor Übergriffen sind. Dafür bitte ichum Ihre Unterstützung.
In diesen Tagen ist Asia Bibi in Pakistan mit dem Todbedroht, weil sie sich zum Christentum bekannt hat. Esist völlig klar, dass eine wertorientierte Außenpolitik,wie sie diese Bundesregierung betreibt, das ThemaChristenverfolgung immer als zentrales Thema auf ih-rer Agenda haben wird.
Man kann unterschiedlicher Auffassung sein, wie esin Zukunft weitergeht, aber eines ist klar: Das, was ichheute von der Opposition gehört habe, war nicht einmalim Ansatz ein Zukunftsprogramm. Deswegen bin ich derBundesregierung dafür dankbar – die Bundeskanzlerinhat es heute gesagt –, dass ihre Themen mehr Chancen,Wachstum und weniger Arbeitslosigkeit, mehr Förde-rung des Gemeinsinns und Werbung für Gemeinsinndurch den Aufbau der Freiwilligendienste sind.Eines will ich auch sagen: Wir müssen redlicher mit-einander umgehen. Es ist richtig, Frau Künast, dass dieMenschen das ganze Jahr über denken und nicht nur beiWahlen. Aber es ist nach meiner Auffassung auch rich-tig, dass sich unser System der repräsentativen Demo-kratie grundsätzlich bewährt hat und dass wir allenGrund haben, dieses System zu verteidigen und dafür zuwerben.
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8080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Volker Kauder
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Sie aber diskreditieren ein solches System, wenn Sie sa-gen: Entscheidungen, die in Parlamenten getroffen wor-den sind, muss niemand in diesem Land akzeptieren. –Was die Grünen hier vorgeführt haben, war wirklichnicht komisch, sondern miserabel.
Gerade wenn man Bürgerentscheide will, gilt derGrundsatz: Deine Rede sei ja, ja oder nein, nein. Dasheißt, die Menschen können die zur Abstimmung ste-hende Frage mit Ja oder Nein beantworten. Sie suggerie-ren den Menschen in Baden-Württemberg: Wenn dieGrünen Einfluss auf die Regierungspolitik bekommen,dann wird der Bahnhof Stuttgart 21 nicht kommen. Hierstellen Sie sich allerdings hin und sagen: Wir kämpfendafür; aber wir wissen, dass es Verträge gibt.
Ich möchte Ihnen entgegnen: Sie können jetzt schon sa-gen, dass es nichts wird. Es gibt Verträge und Gerichts-entscheidungen. Der Bauherr wird natürlich dafür sor-gen, dass seine Vorhaben umgesetzt werden. Sietäuschen die Menschen, wenn Sie ihnen sagen: Kämpftfür uns; dann kommt dieser Bahnhof nicht. – Das istnicht in Ordnung.
– Nein, Herr Trittin; Sie nicht.Gerade wenn man für Bürgerentscheide ist, muss manseine Fragen so formulieren, dass sie mit Ja oder Nein zubeantworten sind.
Alles andere ist nicht redlich. Das hat Frau Künast hieran diesem Rednerpult nicht gemacht. Hoffentlich habenviele Menschen gesehen, wie sie hier herumgeeiert istund Pirouetten gedreht hat, um sich vor einer klaren Ant-wort zu drücken.
Wir stehen vor schwierigen Aufgaben. Wir stehennicht nur in Deutschland vor der Aufgabe, eine gute Zu-kunft für alle zu organisieren. Wir stehen in der Welt vorder Aufgabe, dafür zu sorgen, dass so etwas wie dieseFinanzmarktkrise möglichst nicht mehr eintritt. Wir ste-hen in der Welt vor der Aufgabe, Frieden und Sicherheitherzustellen. Wie man sieht, ist dies eine ständige Auf-gabe, die jeden Tag neu bewältigt werden muss. Ich binfroh, dass wir in dieser Phase der großen Herausforde-rungen eine christlich-liberale Koalition in diesem Landhaben.
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Bonde das
Wort.
Herr Kauder, Sie haben sich in dieser Rede bemüßigt
gefühlt, zu behaupten, der Netzausbau scheitere immer
an Grünen. Ich will Sie einmal offen fragen: Reden Sie
eigentlich noch mit CDU-Bürgermeistern? Reden Sie
mit der Horde von CDU-Bürgermeistern in Nordrhein-
Westfalen, die an der Speerspitze von Bewegungen jede
Form von Netzausbau bekämpft?
Was ich sagen will, möchte ich an einem anderen Bei-
spiel verdeutlichen. In der Nähe meines Wohnorts, an
der Murg, ist ein großes Pumpspeicherkraftwerk geplant.
Ich bin dafür. Der grüne Ortsverband ist dafür. Herr
Kauder, Hose runter, legen Sie die Hand für Ihre CDU-
Bürgermeister ins Feuer? Was ist mit Ihren Bürgermeis-
tern? Wo ist da die Union?
Sie haben die Frage „Freiburg/Stromanteil/erneuer-
bare Energien“ angesprochen. Sie haben dezent verges-
sen, zu erwähnen, wer eigentlich den Ausbau der Wind-
kraft in der Region Freiburg durch Landesrecht
verhindert.
Wer ist die Dagegen-Partei, die dafür sorgt, dass eine
Gemeinde, die auf erneuerbare Energien setzen will, es
nicht darf? Wer ist die Partei, die dafür sorgt, dass selbst
an bestehenden Windkraftstandorten – leistungsfähigere
Windkraftwerke ohne irgendeinen Eingriff in die Natur –
nichts ersetzt werden darf? Das ist die CDU. Sie tut dies
aus einer ideologischen Blockade heraus.
Dennoch stellen Sie sich hierhin und behaupten so einen
Unfug. Mit Verlaub, Herr Kauder: Wer die Bibel zitiert,
muss auch das achte Gebot im Sinn haben.
Herzlichen Dank.
Kollege Kauder hat das Wort zur Erwiderung.
Lieber Herr Kollege Bonde, wir alle haben jetzt in al-ler Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen, dass die Grü-nen in Zukunft an unserer Seite stehen, wenn es darumgeht, den Leitungs- und Netzausbau in unserem Landvoranzutreiben.
Ich freue mich auf eine neue Kampfgemeinschaft mit Ih-nen gegen die Verweigerer vor Ort. Herzlich willkom-men bei denen, die die Zukunft gestalten wollen!
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Volker Kauder
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Der Kollege Poß spricht nun für die SPD-Fraktion.
Lieber Kollege Kauder, es kann auch schon einmalstaatsbürgerliche Verantwortung und politische Pflichtsein, Nein zu sagen, und zwar im Interesse der großenMehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Denn für dieseLeute wird nach dem „Herbst der Entscheidungen“ allesschlechter und nicht besser. Da ist es politische Pflicht,Nein zu sagen.
Das von Ihnen angeschlagene Pathos – es erinnert einwenig an einen Flügel der amerikanischen Republikaner –hilft da nicht weiter. Sie wollen doch nicht ernsthaft alle,die Ihre Politik kritisieren, als Zukunftsverweigerer de-nunzieren. Das spricht vielleicht das Gemüt der CDU an,ist aber im Kern antidemokratisch, meine Damen undHerren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Von Redlichkeit sollte man nicht sprechen, wenn dieeigene Aussage mit den Fakten nicht übereinstimmt.Das, was wir bei dem Beispiel der Finanztransaktion-steuer von dieser Koalition ein halbes Jahr lang anTheater – zwischen FDP und CDU/CSU und innerhalbder Parteien – erlebt haben, war nicht mehr zu toppen.
Das war der Grund, Herr Schäuble, warum Ihre Regie-rung auf europäischer Ebene nicht handlungsfähig war,als es um entscheidende Fragen der Finanzmarktregulie-rung ging.
Wenn sich dann die Frau Bundeskanzlerin hier auchmit einem gewissen Pathos hinstellt und den Primat derPolitik gegenüber Wirtschaft und Finanzindustrie unter-streicht, dann ist das doch – um den Begriff der Redlich-keit aufzugreifen – auch unredlich, weil diese Koalition,jedenfalls Teile davon, genau für das Gegenteil steht, dieFDP sich weitgehend verweigert hat und Sie, HerrSchäuble, sich offensichtlich auch gegen Ihren eigenenWillen für die Finanztransaktionsteuer aussprechenmussten. Sie haben ja beim Wirtschaftsrat der CDU ge-sagt, dass das nicht Ihrer eigenen Überzeugung entspre-chen würde. So wurden sie jedenfalls zitiert.Was ist das für eine Politik, wenn sich die Regie-rungskoalition des größten Landes in Europa in zentra-len Fragen, die darüber entscheiden, wie die nächsteKrise, wenn sie denn kommt, zu bewältigen ist – sie sollja durch Prävention verhindert werden –, so aufstellt,wie Sie sich das erlaubt haben? Das geht doch überhauptnicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Deswegen ist mein Eindruck, dass wir es eher mitdem Herbst der Legendenbildungen zu tun haben. In derheutigen Rede von Frau Merkel – die ja auch ein wenigwirkte, als spräche sie vor dem Kongress der JungenUnion – war viel an Legendenbildung zu finden. Für dieBetrachter war, glaube ich, schon interessant, dass FrauMerkel hier mit den billigsten Witzchen die größte Zu-stimmung der Koalition erringen konnte, weil dies of-fenbar das verbindende Band ist, weil in der Substanzsonst nichts da ist.Im Übrigen, Frau Bundeskanzlerin, in keiner Ihrerbisherigen Reden im Plenum des Deutschen Bundestagshaben Sie so oft Reden und Handeln verwechselt – inkeiner Ihrer bisherigen Reden in Ihrer fünfjährigen Re-gierungszeit.
Sie waren und sind sehr geschickt als Fassadenmale-rin, wie es ein Journalist vor kurzem bezeichnet hat, diedie schwarz-gelbe Fassade schön anstreicht. Daruntersieht es noch so fürchterlich aus wie vor der Sommer-pause. Da hat sich nichts geändert. Der Koalitionsaus-schuss in der letzten Woche war noch einmal ein Belegdafür, dass sich bei Ihnen in der Substanz nichts verän-dert hat. Beispiele gibt es genug, sie sind auch schon er-wähnt worden.Sie reden von der notwendigen Entlastung derKommunen und machen das Gegenteil: Streichung beider Städtebauförderung, bei energetischer Gebäudesa-nierung, Schwächung der Gewerbesteuer schon zu Jah-resanfang, Unklarheit über die Zukunft der Gewerbe-steuer.Die Kommunen brauchen aber jetzt Hilfe, und zwarschon im Haushalt 2011.
Vielen Kommunen brennt der Pelz, und Sie erlaubensich Auseinandersetzungen. Die FDP will doch nach wievor etwas anderes bei der Gewerbesteuer, und die CDU/CSU ist zerrissen. Herr Schäuble macht keinen Hehl da-raus, dass er sowieso immer gegen die Gewerbesteuerwar, sich jetzt allerdings der Regierungsräson oder denVersprechungen an die kommunalen Spitzenverbändefolgend anders verhält. Was ist das für eine Aufstellunggegenüber den Kommunen, den Städten und Gemein-den, in denen über die Lebensqualität der Menschen inunserem Lande entschieden wird?
Zu dem Einwand von Frau Merkel, zu bedenken, wasin den Jahren 2003 und 2004 gewesen ist, kann ich alsVerhandlungsführer der SPD im VermittlungsausschussIhnen sagen, was da war. Einige von Ihnen in der Unionsind damals mit dem Ziel in die Verhandlungen gegan-gen, die Gewerbesteuer ganz abzuschaffen. Das ist dieWahrheit über die Situation damals.
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Joachim Poß
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Das nächste Beispiel: Investitionen. Die Frau Bun-deskanzlerin hat behauptet, die Investitionen würden ge-steigert. Ja, aber die Investitionen im hier zu verabschie-denden Haushalt sind um 1 Milliarde Euro geringer alszum Zeitpunkt der Aufstellung dieses Haushaltes. Werschreibt Ihnen denn so etwas in die Reden hinein? Nichteinmal Faktensicherheit ist bei der Bundeskanzlerin unddieser Regierung gegeben.
Billige Polemik zum wiederholten Male – auch das istwieder ein Beispiel für Legendenbildung – hinsichtlichder Veränderungen 2005 beim europäischen Stabilitäts-und Wachstumspakt! Ich empfehle Ihnen die Lektüre derwissenschaftlichen Äußerungen, die es dazu gibt. Ichkann Ihnen sogar einen Buchtipp mit Seitenangabe ge-ben; diesen habe ich gestern Abend auch schon demKollegen Barthle bei einer Diskussionsveranstaltung ge-geben.Ohne die damals vorgenommenen Veränderungenbeim Stabilitäts- und Wachstumspakt hätten wir in derGroßen Koalition nicht gemeinsam, Frau Merkel, dieKonjunkturpakete zur Abwehr der Krise schnüren kön-nen, wären wir nicht so erfolgreich gewesen. Das ist dieWahrheit.
Im Zuge der damaligen Veränderungen haben wir einensogenannten präventiven Arm einbauen können. Dasheißt, es gab damit in Europa genau den Mechanismus,auf den wir uns hier bei der Schuldenbremse gemeinsamverständigt haben. Was gibt es denn daran zu kritisieren?Nichts gibt es daran zu kritisieren!Ihre Kritik ist nichts anderes als billige parteipoliti-sche Argumentation, weil man sich in der Sachpolitiknicht vorwärts bewegen kann. Das ist der wahre Grund.
Der sogenannte Herbst der Entscheidungen ist nunschon fast vorüber. Da ist die Frage erlaubt: Haben wir tat-sächlich eine neue Frau Merkel erlebt? Die Frage lautet janicht, ob wir eine forschere Kanzlerin erleben – heuteMorgen haben wir eine forschere Kanzlerin erlebt –; dieFrage lautet vielmehr, ob wir eine bessere Kanzlerin alsim ersten Dreivierteljahr der schwarz-gelben Regie-rungskoalition erleben.Wir haben nach der Bundestagswahl eine Kanzlerinerlebt, die sich mit erkennbarem Desinteresse durch dieKoalitionsverhandlungen gequält hat.
Dementsprechend sieht der Koalitionsvertrag vonSchwarz-Gelb auch aus. In ihm wird kaum eine Frage,kaum ein Konflikt gelöst. Das sieht man auch am Ergeb-nis des Koalitionsausschusses von letzter Woche. FrauMerkel hatte sich schon zu Beginn in eine strategischeFalle begeben. Am Anfang stand die Lüge des Wahl-kampfs: Nettoentlastung. Diese Lüge lastet heute nochauf Ihnen, und zwar zu Recht, meine Damen und Herren.
Bis in den Mai hinein war Frau Merkel weder für ir-gendetwas, noch war sie gegen irgendetwas. Sie brachtestattdessen immer ganz schicke Formulierungen; Bei-spiele dafür gibt es genug. Sie war genau betrachtet ei-gentlich bis in den Sommer hinein als Regierungschefingar nicht vorhanden. Das heißt, sie hat ihre Funktion alsRegierungschefin faktisch nicht ausgeübt. In der Tat, einverlorenes Jahr für Deutschland, aber noch mehr: Dasgrößte europäische Land fast ein Jahr ohne wirklicheFührung! Was sind das für Zustände, meine Damen undHerren?
Das ist Fakt. Auch das war ein Grund für das Wahldesas-ter von CDU und FDP in NRW.Höchstgefährlich war dieses Verhalten im Frühjahrim Fall der Griechenland- und Euro-Krise. Hier hätteEuropa eine starke und geradlinige Bundeskanzlerin ge-braucht, um die immer dramatischer werdenden Ereig-nisse zu kanalisieren und die Dinge mit zu ordnen. Aberüber Wochen wurde im Kanzleramt geschwankt, ge-schwiegen und blockiert. Hinter den Kulissen tobte derKampf mit dem Bundesfinanzministerium, weil HerrSchäuble im Gegensatz zu Frau Merkel erkannt hatte,dass Griechenland zügig zu helfen war, weil ansonstenalles noch schlimmer würde.Wir kennen den weiteren Verlauf: Es gab Äußerungenin der Bild-Zeitung, dass man Griechenland aus der EUrausschmeißen sollte; eine Einladung an die Spekulan-ten, wie alle Sachkundigen wissen.Als die Dinge dann Anfang Mai in Brüssel Spitz aufKnopf standen, war Frau Merkel unvorbereitet und ohnePlan. Ihr Auftritt in Brüssel war peinlich und hatDeutschlands Ansehen in Europa und der Welt nachhal-tig geschädigt. Das sind die Wahrheiten, über die zu re-den ist.
Da hilft es auch nicht, dass Sie und Ihre Hilfstruppenseitdem mit großem Einsatz versuchen, Ihr Versagen– das Versagen der Bundeskanzlerin und der Bundes-regierung – in einer entscheidenden Phase für Europa zueiner wohlüberlegten und zielführenden Strategie umzu-deuten. Es ist eine Legende, wenn Ihre Meinungsmacherbehaupten, es sei vor allem die deutsche Kanzlerin, dieseit Jahresbeginn beständig für Stabilität in der Euro-Zone kämpfe.
Es ist fraglich, ob Ihr Kurs, die Stabilität des Eurosund der Euro-Zone nahezu ausschließlich über stärkereund automatisierte Sanktionen sichern zu wollen, in die-ser Form richtig ist. Die größer werdenden ökonomi-schen Unterschiede und Ungleichgewichte in Europawerden von Ihnen nur am Rande behandelt. Kolleginnenund Kollegen, wir müssen endlich zu einer stärkerenwirtschaftspolitischen Koordinierung in Europa kom-
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Joachim Poß
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men. Hierzu erwarten wir und vor allem die Partner inEuropa endlich weiterführende Vorschläge der deut-schen Kanzlerin; diese kommen aber nicht. Wir brau-chen diese Vorschläge aber dringend, um die Euro-Krise– Irland ist ein aktuelles Beispiel – auf Dauer in denGriff zu bekommen.Frau Merkel als Kanzlerin der Euro-Stabilität zu ins-zenieren, das ist ein Versuch der Geschichtsklitterungund Legendenbildung. In Wahrheit haben Sie, FrauMerkel, mit Ihrer speziellen Art, die Dinge zu behan-deln, mit dem Feuer gespielt. Jetzt geht es im gleichenStil weiter. Meine Damen und Herren, das ist immernoch die Frau Merkel, wie wir sie kennen; sie hat sichnicht geändert; sie hat nur ihren Stil ein wenig verändert.Ein Wort zu Irland. Ich habe Zitate von HerrnWesterwelle und anderen dabei, die Irland wegen seineswirtschaftspolitischen Weges und des Steuerdumpingsals ein leuchtendes Beispiel für gelungene Wirtschafts-und Finanzpolitik gelobt haben. Ich sage ohne Genug-tuung: Der keltische Tiger ist sehr schnell zum bedürfti-gen Kätzchen mutiert, und zwar wegen der falschenIdeologie, zum Beispiel in Steuerfragen. Insofern bin ichfroh, dass die FDP bis zum letzten Jahr hier in Deutsch-land nicht mitregieren konnte; sonst wären wir vielleichtdort, wo Irland heute ist.
Jetzt noch ein Wort zum Inland und zur Innenpolitik.Da gab es in der Tat Entscheidungen. Aber allein des-halb, weil endlich etwas entschieden wird, wird dieSituation für die große Mehrheit der Bürgerinnen undBürger noch nicht besser; es kommt darauf an, was ent-schieden und wie gehandelt wird. Das merken die Men-schen in Deutschland. Auch die sogenannte Mitte willzum Beispiel eine sozialverträgliche Konsolidierung.Auch wir Sozialdemokraten stehen für eine Konsolidie-rung; wir haben dazu konkrete Konsolidierungsvor-schläge gemacht. Aber wenn es in unserer Gesellschaftnicht sozialverträglich zugeht, dann drohen auf Dauergesellschaftliche Unruhe und Spaltung. Das ist Ihre Poli-tik dieses Herbstes; sie muss gestoppt werden.
Hans-Peter Friedrich hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Auch diese Haushaltswoche stehtunter dem Eindruck der Folgen und Nachwirkungender Finanzkrise. Wir schauen nach Griechenland, wodie Menschen in allen Bereichen – im privaten und imöffentlichen Sektor – Einschnitte hinnehmen müssen.Wir schauen nach Portugal und Spanien, wo Sparpro-gramme – auch von den europäischen Partnern verordnet –umgesetzt werden müssen. Wir schauen nach Irland, wozum Teil verzweifelte junge Leute nach ihrer Perspek-tive in ihrem Heimatland fragen.Sosehr uns das erschreckt und sosehr wir gemeinsaman einer Verbesserung der Situation in ganz Europa ar-beiten, haben wir doch Grund, froh darüber zu sein, dassDeutschland besser aus dieser Krise gekommen ist undwir den Menschen dramatische Einschnitte ersparenkönnen. 41 Millionen Erwerbstätige, das ist Beschäfti-gungsrekord in diesem Land und ein Hinweis darauf,dass dieses Land und die Wirtschaft in Deutschlandwettbewerbsfähig sind.
Nur, wenn man wettbewerbsfähig bleiben will, mussman etwas dafür tun. In der Politik, also im staatlichenBereich, und in der Wirtschaft muss man modernisieren,verbessern, reformieren, flexibler werden und neue Im-pulse geben. Genau darüber reden wir in diesem Haus.Vonseiten der Opposition kommt aber nichts dazu, keinkonstruktiver Vorschlag. Sie sind die destruktivste Op-position seit Jahrzehnten in diesem Haus.
Deutschland ist auch deswegen spitze, weil die Lin-ken, die Roten und die Grünen in Deutschland nicht re-gieren.
2002 ging Spott durch Europa. Deutschland, so hieß es,ist der kranke Mann Europas. Zur Hochzeit Ihrer Regie-rung hatten wir 5 Millionen Arbeitslose.
Zur Hochzeit Ihrer Regierung gab es ein Aufweichen desStabilitätspaktes. Herr Poß, zu dem, was Sie hier erzäh-len: Damals, vor sechs Jahren, war von Konjunkturpake-ten noch nicht die Rede.
Wahr ist, dass Sie damals nicht die politische Kraft hat-ten, Einsparungen vorzunehmen und die richtige Politikzu machen. Das war der Grund, warum Sie den Stabili-tätspakt aufgeweicht haben.
Sozialisten neigen dazu, Verträge aufzuweichen, stattkonsequente Politik umzusetzen. Das war der wahreGrund dafür.
Während Ihrer Regierungszeit wurde Griechenland indie Währungsunion aufgenommen.
– Nein, die SPD ist nicht schuld.
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8084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Dr. Hans-Peter Friedrich
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Ich weiß, dass Sie damals nichts dagegen machen konn-ten. Wenn ein Land auf dem Abstiegsplatz steht, hat esin Europa nichts mehr zu melden. So war das damals.Deswegen ärgert es Sie auch, dass die Sache heute ganzanders ist, dass Europa heute von Deutschland und einerdeutschen Regierungschefin geführt wird. Das ist dieWahrheit, und darauf sind wir stolz.
Die Bundesbank und die OECD bescheinigen, dasswir in Deutschland das Fundament für einen langen Auf-schwung gelegt haben. Der Export läuft gut, und auchdarauf können wir als Deutsche stolz sein. Unsere Pro-dukte werden in der Welt gebraucht, und sie werden inder Welt gekauft. Deswegen werden Arbeitsplätze ge-schaffen. Dann kommt der Vorsitzende der Linkspartei,der glorreiche Herr Ernst, der heute wahrscheinlich ir-gendwo im Land mit dem Porsche unterwegs ist,
und sagt im Tagesspiegel am 11.11. allen Ernstes, in denStabilitätspakt müsse eine Exportüberschussbremse auf-genommen werden.
Eine Exportüberschussbremse bedeutet den Abbau vonArbeitsplätzen in Deutschland.
Liebe Freunde von den Linken, von welchem Planetenkommen Sie eigentlich? Gehen Sie dahin bitte wiederzurück!
Exporte und die Schaffung von Arbeitsplätzen sindvielen Tausenden von Langzeitarbeitslosen in diesemLand in den letzten Monaten zugutegekommen. Sie ha-ben wieder einen Arbeitsplatz gefunden. Dazu hat auchdie Funktionsfähigkeit der Institutionen beigetragen. DieJobcenterreform von Frau von der Leyen hat sich auch indieser Frage positiv ausgewirkt.Ihr Gerede von einem unsozialen Haushalt könnenSie sich wirklich sparen. Ich sage Ihnen, was unsozialwäre: Unsozial wäre es, eine Massenzuwanderung nachDeutschland zu organisieren und den Menschen, dieSchwierigkeiten haben, hier Arbeit zu finden, das Lebennoch schwerer zu machen.
Unsozial gegenüber den Menschen, die jeden Tag zurArbeit gehen, wäre es, die Hartz-IV-Sätze immer weiteranzuheben, bis sich jeder Geringverdiener in diesemLand fragt, ob er eigentlich der Dumme ist, weil er arbei-tet.
Unsozial, lieber Herr Steinmeier und lieber Herr Poß,wäre es, wenn man Ihrer Steuerpolitik folgen würde undwenn man das Erreichen des Spitzensteuersatzes immerweiter in Richtung der Einkommen von Normalverdie-nern verschieben würde.
Helmut Schmidt hat in seiner letzten Rede als Kanzler– mehr oder weniger mit bitterer Selbsterkenntnis – ge-sagt: Geholt haben wir das Geld bei den Arbeitnehmern.
Das ist die einzige Konstante der SPD-Finanzpolitik, dieich in den letzten Jahrzehnten erkennen konnte: Sie ha-ben das Geld immer bei den Arbeitnehmern geholt.Voraussetzung dafür, dass Deutschland in Europa ander Spitze bleibt, ist gesundes Wirtschaften. Dazu ge-hört eine solide und gute Haushaltspolitik. Wir haben dieSchuldenbremse im Grundgesetz verankert. Ich bin derSPD- und der FDP-Fraktion sehr dankbar dafür, dassdies möglich war. Es ist europaweit, vielleicht sogarweltweit ein Paradigmenwechsel in der Parlamentsge-schichte, dass ein Parlament sein Budgetrecht ein-schränkt und nach dem Prinzip handelt „Es soll nur soviel ausgegeben werden, wie eingenommen wird“.Aber, liebe Freunde, die Schuldenbremse, die wir ge-meinsam vereinbart haben, muss auch eingehalten wer-den.
Dass die Grünen sie nicht einhalten wollen, war mirschon klar, als sie damals gegen die Schuldenbremse
und damit gegen die Zukunft des Haushaltes in Deutsch-land gestimmt haben.
Sie haben nicht das Kreuz, Politik für die nächste Ge-neration zu machen und den Menschen auch einmal un-angenehme Wahrheiten zu sagen. Das war auf dem Par-teitag, den die Grünen hinter sich haben, wieder spürbar:Weichspül- und Wohlfühlparolen, wo immer man hinge-schaut hat, aber keine Substanz an den Stellen, wo es umdie Wahrheit geht. Zur Wahrheit gehört eben auch, dassman nicht jedes Jahr Konjunkturpakete verabschiedenkann, sondern dass irgendwann diese Pakete gegenfinan-ziert werden müssen. An dieser Stelle sind wir.
Wir müssen aus den Konjunkturpaketen aussteigen undzur Normalität in der Finanzpolitik zurückfinden. Das istgesundes Wirtschaften.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8085
Dr. Hans-Peter Friedrich
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Für ein gesundes Wirtschaften braucht man eine sta-bile Währung. Für die Wirtschaft, aber auch für den pri-vaten Sparer ist dies ein zentrales Thema. Rot-Grün hatnicht nur den Stabilitätspakt, den Theo Waigel damalsgeschmiedet hat, aufgeweicht und Griechenland in dieEuro-Zone gelassen, sondern Rot-Grün hat auch mit gro-ßem Brimborium die Finanzmärkte in Deutschland dere-guliert. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie die Hedge-fonds zugelassen haben.
Jetzt geht es darum, dass wieder Vertrauen in unsereWährung aufgebaut wird. Wie baut man dieses Ver-trauen auf? Man baut es erstens dadurch auf, dass manstrukturschwächeren Ländern Sanierungsprogrammeverordnet und ihnen sagt: Ihr müsst auf das Stabilitäts-niveau aller anderen Länder in Europa kommen. – Da-durch baut man Vertrauen in eine Währung auf, die vondiesen Volkswirtschaften abhängt.Zweitens baut man Vertrauen dadurch auf, dass maneinen Euro-Rettungsschirm zur Verfügung stellt, der denMenschen zeigt: Wir geben euch Hilfe, und zwar Hilfezur Selbsthilfe. Wir haben nicht vor, eure Ausgaben zufinanzieren, aber wir ermöglichen Stabilität in euremLand, damit ihr euch selber helfen könnt.Wir schaffen Vertrauen schließlich dadurch, dass wirKontrollmechanismen einrichten, die dafür sorgen, dassdie Stabilitätskriterien eingehalten werden.Unser Ja zum Euro ist klar, aber auch unser Nein zurTransferunion. Jedes Land in der Europäischen Unionmuss seine Hausaufgaben machen.
Gesundes Wirtschaften heißt aber auch, für eine guteund sichere Energieversorgung zu sorgen. Im Mittel-punkt unserer Energiepolitik steht der Ausbau der erneu-erbaren Energien. Die erneuerbaren Energien stehen des-wegen im Mittelpunkt, weil wir wollen, dass in diesemBereich die Wertschöpfung dezentral, also auch in derFläche, erfolgt, sodass wir eine dezentrale Stromproduk-tion und Stromversorgung haben.Wenn man eine dezentrale Stromproduktion betreibt,dann gehört dazu, dass man Leitungen baut, um denStrom dorthin zu bringen, wo man ihn braucht.
Vor dieser Realität drücken Sie sich. Sie von den Grünenglauben, dass es ausreicht, ein Einspeisegesetz, das Er-neuerbare-Energien-Gesetz, zulasten der Stromverbrau-cher zu machen. Aber das reicht nicht aus, sondern Siemüssen auch die entsprechende politische Umsetzung alldieser Vorschläge auf den Weg bringen. Dazu haben Sieund hatten Sie nicht die Kraft.Jetzt sage ich Ihnen etwas zu dem Theater, das Siehier und an anderer Stelle zur Verlängerung der Laufzei-ten der Kernkraftwerke aufführen. Ich verwahre michgegen die Unterstellung, dass ich, wenn ich dieser Ver-längerung zugestimmt habe und sie für richtig halte, dieInteressen der Stromkonzerne vertreten würde.
Ich weise diese Unterstellung zurück. Wann immer Sienicht recht bekommen, wann immer Menschen andereAuffassungen haben, fangen Sie an, sie zu diskreditierenund zu diskriminieren.
Ich sage Ihnen: Die Interessen der Stromkonzernesind mir scheißegal.
Was mir nicht egal ist, sind die Arbeitsplätze in der In-dustrie im energieintensiven Bereich, da, wo die Men-schen für dieses Land Werte schaffen. Die Arbeitsplätzesind mir nicht egal.
Aber offensichtlich sind Ihnen von den Grünen dieseArbeitsplätze völlig egal. Denn Ihnen ist Ideologie wich-tiger als eine gesunde Grundlage der Wirtschaft in die-sem Land. Schämen Sie sich dafür!
– Frau Künast, ich will Ihnen mal sagen, wie Sie hierIdeologie betreiben. Sie haben an die lieben Freundinnenund Freunde auf dem Parteitag einen Aufruf geschrie-ben, die Atompolitik mit allen Mitteln zu bekämpfen.Was meinen Sie denn damit, „mit allen Mitteln“? Könn-ten Sie endlich mal zur Kenntnis nehmen, dass dieMehrheit in diesem Haus, gewählt von der Mehrheit derdeutschen Bevölkerung, eine Entscheidung getroffenhat? Sie können in diesem Haus mit Mitteln, die Sie alsParlamentarier haben, selbstverständlich dagegen sein.
Aber erklären Sie mir mal, was „mit allen Mitteln“ be-deuten soll!
: Rechtsbruch?)
Da schaue ich nach Gorleben, und es graut mir, FrauKünast, vor Ihren Mitteln.
Man braucht bei Ihrem Parteitag nur das Kleinge-druckte zu lesen, alles das, was da so wolkig daher-kommt in tollen Beschlüssen, nicht wahr? Da ist die
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Dr. Hans-Peter Friedrich
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Rede von Gebäudesanierung. Ja, wir sind auch für Ge-bäudesanierung. Wir unterstützen sie aktiv und massiv.
Aber bei den Grünen heißt das Nutzungspflicht für er-neuerbare Energien in Bestandsgebäuden. Das heißt, je-der muss zu einem bestimmten Anteil erneuerbare Ener-gien für sein Häuschen nutzen.
Außerdem sagen Sie, dass Sie Obergrenzen für denEnergieverbrauch einführen wollen.Ich sage Ihnen mal, was das im Klartext heißt, damitdie Menschen im Land verstehen, was beide Forderun-gen – Nutzungspflicht für erneuerbare Energien in Be-standsgebäuden und Obergrenzen – bedeuten.
Das bedeutet im Klartext Zwangssanierung von Gebäu-den zulasten der Häuschenbesitzer, Zwangssanierungauf deren Kosten. Das bedeutet das, was Sie beschlossenhaben.
Ich nenne das Enteignung. Wenn Sie einen Menschenzwingen, sein Häuschen auf seine Kosten für 150 000 Eurozur Wärmedämmung zu sanieren, obwohl es nur100 000 Euro wert ist, dann kann er es nur abreißen. WasSie auf Ihrem Parteitag beschlossen haben, ist Enteig-nung.
Die Grünen sind auf dem Weg zur Barrikadenrepu-blik, ohne Frage.
Die grüne Botschaft lautet: dagegen sein. Die grüne Zu-kunft ist Stillstand. Sie haben auf Ihrem Parteitag denAusbau von Stromleitungen beschlossen. Wenn ich nachThüringen schaue, dann sehe ich die Fraktionsvorsit-zende der Grünen an der Spitze der Bewegung gegenden Bau einer 380-kV-Leitung in Thüringen. Das ist dieWahrheit. Wenn es konkret wird, sind Sie dagegen.
In Datteln in Nordrhein-Westfalen soll ein neues Koh-lekraftwerk gebaut werden, sauberer als die anderen, dieda bisher stehen, und Sie hintertreiben in der Minder-heitsregierung, der Sie angehören, den Bau dieses Kraft-werks mit allen Mitteln.In Niederbayern soll ein Pumpspeicherwerk für dieSpeicherung regenerativer Energie gebaut werden, damitman sie dann abrufen kann, wenn man sie braucht. Werist dagegen und selbstverständlich wie immer an derSpitze der Bewegung? Die Grünen!
Wenn Sie heute in Niederbayern in die Zeitungschauen, dann lesen Sie dort, dass es eine Initiative ge-gen den Digitalfunk der Feuerwehr gibt. Wer ist an derSpitze der Bewegung?
Natürlich die Grünen!
Sie bekennen sich zur Schiene; sie wollen eine Verla-gerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene.Aber das ist wieder eines dieser Bekenntnisse, denenkeine politischen Taten folgen. Denn sie sagen Nein zurFehmarnbelt-Querung nach Dänemark, und Sie sagenNein zur Y-Trasse von Hannover nach Bremen undHamburg.Sie sagen überall da, wo sie gefragt sind, Nein. Sie sa-gen Nein zu Olympia 2018. Sie sagen Nein; sie sind da-gegen. Sie organisieren den Abstieg dieses Landes. Da-gegen allerdings haben wir etwas. Deutschland kannfroh sein, dass eine christlich-liberale Regierung in die-sem Lande regiert.Ich danke Ihnen.
Petra Merkel hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte heute zweiBereiche des Einzelplans 04 erwähnen, nicht nur denKulturteil – dazu komme ich gleich –, sondern auch denBereich Integration; denn auch dieser findet sich imEinzelplan 04. Das ist ein kleiner Etat. Integration ist si-cherlich – da sind wir uns alle einig – eine der zentralenHerausforderungen in unserer Gesellschaft, und zwarnicht nur bei den Reden am Sonntag. Bei jeder Gelegen-heit, ob im nationalen Integrationsplan oder im Migra-tionsbericht der Bundesregierung, werden kulturelleBildung und Vermittlung, Kulturaustausch, bürger-schaftliches Engagement und soziale Teilhabe alsSchlüsselfaktoren für Integration hervorgehoben. Dazugehört natürlich auch der Erwerb der deutschen Sprache.Die Ernsthaftigkeit der Integrationspolitik ist inHaushaltsplänen abzulesen. Abgesehen von der Tatsa-che, dass viele im nationalen Integrationsplan angekün-digte Maßnahmen bis heute nicht umgesetzt, geschweigedenn finanziell ausreichend ausgestattet sind, werdenwichtige Programme und Förderungen des Bundes deut-lich gekürzt. Beim Beauftragten der Bundesregierungfür Kultur und Medien gibt es zum Beispiel den Titel
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8087
Petra Merkel
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„Kulturelle Vermittlung“, für den statt 2 Millionen Eurowie in diesem Jahr nur noch 1,2 Millionen Euro einge-stellt werden. Dazu sage ich: Na gut, da kann man wohl-wollend sein. Das ist ein frisches Programm, das in die-sem Jahr gestartet ist. Es befindet sich also noch in denStartlöchern. Aber die Mittel wurden abgesenkt.Beim Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-entwicklung wurde – darüber haben wir bereits disku-tiert; das wird auch Thema bleiben – das Programm „So-ziale Stadt“ gestutzt. Die Mittel wurden von immerhin95 Millionen Euro auf 28,5 Millionen Euro gekürzt.Künftig wird die Verwendung der Mittel auch noch aufinvestive Maßnahmen begrenzt. Viele Projekte zur Inte-gration und im Quartiersmanagement in den Ballungs-räumen sind nun wirklich gefährdet.
Sehen wir im Haushalt des Bundesministeriums fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend nach! Die Ju-gendfreiwilligendienste sind massiv von Kürzungen be-troffen. Im Haushalt des Bundesministeriums des Innernkönnten die Integrationskurse durchaus erheblich mehrMittel vertragen, damit Wartezeiten auf Deutschkursevon mehreren Monaten vermieden werden.
Integrationspolitik, die ernst gemeint ist, sieht andersaus.Gerade durch die Förderung konkreter, auf Integra-tion und Teilhabe ausgerichteter Angebote werden Men-schen aller Altersgruppen und Herkunft häufig erst in dieLage versetzt, an unserer Gesellschaft teilzuhaben undsich einzubringen. Frau Staatsministerin Böhmer, ichschätze Sie als engagierte Politikerin. Was sagen Sie ei-gentlich zu dem, was in den Haushalten der anderenMinisterien passiert? Integrationspläne und Integrations-gipfel reichen nicht aus, wenn notwendige aktive Inte-grationsprogramme so gekürzt werden, wie dieseschwarz-gelbe Regierung es tut. Sie sind eher eine Frauder leisen Töne. Aber eines ist jetzt dringend erforder-lich: Mischen Sie sich bitte hörbarer ein! Unsere Unter-stützung haben Sie.
Ich komme zur Kultur. Waren Sie es, Herr Staats-minister Neumann, oder waren es Ihre Kolleginnen undKollegen aus den Fraktionen, die in der Bereinigungssit-zung des Haushaltsausschusses noch eine Schippe drauf-gelegt haben? Wie dem auch sei, ich freue mich darüber,auch über die Fraktionsgrenzen hinweg. Dass insgesamt27 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestelltwurden, ist ein feiner Erfolg für die Kultur.Besonders freut mich, dass offensichtlich auch unsereAnregungen aufgenommen worden sind. Es wurden Pro-jekte und Titel verstärkt, die der SPD sehr am Herzenliegen. So war zum Beispiel die Aufstockung der Mittelfür die Bundeskulturstiftung eine zentrale Forderungmeiner Fraktion. Die Kulturstiftung des Bundes fördertauf der einen Seite viele wichtige, national bedeutsameProjekte in der Fläche. Dies entlastet auf der anderenSeite viele Kommunen, die sich in einer schwierigenfinanziellen Situation befinden. Wir begrüßen, dass hier-für 2 Millionen Euro mehr in den Haushalt eingestelltworden sind. Ich finde, das ist gut gelaufen.Meine Fraktion hat in der Bereinigungssitzung desHaushaltsausschusses sowohl der Erhöhung der Mittelfür die Bundeskulturstiftung als auch der Aufstockungder Mittel für den Denkmalschutz zugestimmt. 15 Mil-lionen Euro mehr für den Denkmalschutz ist gut ange-legtes Geld. Die geplanten massiven Kürzungen im Be-reich des Denkmalschutzes wären ein gravierenderFehler gewesen. Dadurch wäre nicht nur die Erhaltungder kulturellen Substanz gefährdet, sondern dadurch wä-ren auch Arbeitsplätze und Investitionen riskiert worden.In der Großen Koalition haben wir ein Sonderpro-gramm aufgelegt, das sehr erfolgreich war, den kleinennational bedeutsamen Denkmälern zugutekam und aufunglaublich große Resonanz stieß. Die Investitionen desBundes wurden durch die Beteiligung der Länder undKommunen sowie Dritter multipliziert. Wie gut, dassdieses Programm – seine Bedingungen werden nochfestgelegt – fortgesetzt wird! Es freut mich, dass es ge-lungen ist, den Denkmalschutz mit 15 Millionen Eurozusätzlich zu stärken. Auch dem haben wir zugestimmt.Ausdrücklich zu begrüßen sind außerdem die vomHaushaltsausschuss bewilligten Mittel zur Bewältigungder Hochwasserschäden vom August dieses Jahres, so-wohl für den Fürst-Pückler-Park Bad Muskau als auchfür das Kloster St. Marienthal in Ostritz. Darin warensich alle Fraktionen einig, nachdem wir dieses Thema inden Berichterstattergesprächen erwähnt haben. 5 Millio-nen Euro als Soforthilfe sind super.
Ich komme zu Tarabya. Viele Kolleginnen und Kol-legen aus dem Unterausschuss Auswärtige Kultur- undBildungspolitik, dem Auswärtigen Ausschuss und demAusschuss für Kultur und Medien haben sich dafür ein-gesetzt. Tarabya ist ein wunderschönes Projekt, das vonallen Seiten große Unterstützung erfahren hat,
wenn auch von dem einen oder anderen Kollegen – ichsehe gerade Herrn Koppelin an – vielleicht nicht so sehr.Immerhin gibt es einen gültigen Beschluss des Deut-schen Bundestages. Daran muss sich das Ministeriumhalten.
Alle Fraktionen haben diesem Vorschlag zugestimmt.Die Mittel für die bauliche Sanierung der zur Nutzungder Künstlerakademie festgelegten Häuser sind bereitge-stellt worden. Wir werden darauf achten, dass diese Mit-tel wirklich für die festgelegten Häuser verwendet undfür die Umsetzung des Konzepts der Künstlerakademiegenutzt werden.
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8088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Petra Merkel
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Anfang September dieses Jahres hatte das AuswärtigeAmt ein verändertes Nutzungskonzept für das GeländeTarabya in Istanbul vorgelegt, das allerdings nicht getra-gen wurde. Es ist erstaunlich, welch ein Kraftakt für einegute Idee aufgewandt werden muss. Manchmal habe ichden Eindruck, dass Verwaltungsgerangel stärker ist alsein Beschluss des Deutschen Bundestages. Aber wir ge-ben nicht auf.Im kommenden Haushaltsjahr muss nachgelegt wer-den. Für den Betrieb der Künstlerakademie Tarabya ste-hen nicht ausreichend Mittel zur Verfügung, für die Sti-pendien ebenfalls nicht. Insofern sage ich Ihnen, HerrAußenminister, auch wenn Sie im Augenblick nicht indiesem Raum sind: Hier können wir Ihre Unterstützunggebrauchen. Es wäre angebracht, dass auch Sie sich fürdieses Projekt starkmachen.Ich danke den Staatsministern, die für diesen Etat zu-ständig sind, den Mitarbeitern der Verwaltung für ihreUnterstützung, den Kolleginnen und Kollegen für dieDiskussion und Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.Schönen Dank.
Wolfgang Börnsen hat das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Petra Merkel,ich schätze Kollegen, auch und gerade aus der Opposi-tion, die fairerweise auch kulturpolitische Erfolge öffent-lich anerkennen. Das ist nicht selbstverständlich. Siesind eine rühmliche Ausnahme.
Gestern vor zehn Jahren berichtete die Berliner Zei-tung:Kultur-Staatsminister Naumann verlässt das rot-grüne Kabinett.Er geht lieber zur Wochenzeitung Die Zeit.Fast auf den Tag genau heute vor fünf Jahren hat Kul-turstaatsminister Neumann sein Amt angetreten. Vonihm ist nicht bekannt, dass er aussteigen will. Im Gegen-teil, ihm macht diese Arbeit Freude: weil er Erfolg hat,weil er sich der Unterstützung der Bundeskanzlerin si-cher sein kann und weil er eine breite gesellschaftlicheZustimmung erfährt.Die Süddeutsche Zeitung zog vor sechs Tagen fol-gende Bilanz:Bernd Neumann, der Kulturstaatsminister des Bun-des, ist im Kabinett Merkel ein fester Erfolg …Keiner der Vorgänger hat mit solchem Erfolg dieInteressen seiner Klientel gewahrt.Herzliche Gratulation zu diesem medialen Ritterschlag,Herr Staatsminister!
Kulturpolitik in Deutschland ist Kernkompetenz imBundeskanzleramt. Sie ist ein zentrales Regierungsanlie-gen. Sie dokumentiert die ideellen Werte, die es in unse-rer Gesellschaft zu fördern gilt: Toleranz, Verständnis,Kritikfähigkeit und Mitverantwortung. Sie ist sinnerfül-lend, identitätsstiftend und trägt zur Lebensfreude bei.Deshalb ist ihre Förderung und Finanzierung gerechtfer-tigt.Die Kulturpolitik des Bundes geht mit gutem Beispielvoran. In den fünf Neumann-Jahren ist der Kulturetatvon 915 Millionen Euro auf 1,16 Milliarden Euro ange-stiegen. Ich finde, das ist ein großartiger Erfolg.
Das Filmland Deutschland hat etwas davon gehabt:Mit dem Filmförderfonds und hochklassigen Filmschaf-fenden befinden wir uns jetzt in der europäischen Spit-zenklasse.Das Musikland Deutschland hat etwas davon gehabt:Mit der Initiative Musik wurden unabhängig von derKlassik Hunderte neue Projekte im Bereich der50 000 Pop- und Jazzgruppen angestoßen.Das Medienland Deutschland hat etwas davon ge-habt: Mit der klugen Initiative „Ein Netz für Kinder“wird erstmalig in dieser Form bei Heranwachsenden dasDemokratieverständnis gefördert.Auch im sechsten Neumann-Jahr wird an der Kulturnicht gekürzt. Damit kann die Digitalisierung der Kinosverwirklicht werden. Das bedeutet nicht nur erstklassigeKinos in den Metropolen, sondern auch in der Fläche.Die mittelständische Kinowirtschaft wird gestärkt. Da-mit können die Veranstalter des 500-jährigen Reforma-tionsjubiläums 2017 sicher sein: Das Martin-Luther-Jahr kann als Ereignis von Weltrang gewürdigt werden.Experten gehen davon aus, dass 5 Prozent der weltweit400 Millionen Protestanten 2017 das Mutterland derProtestanten besuchen werden. Das ist eine kulturpoliti-sche und kulturhistorische Herausforderung.Bereits jetzt ist unser Land nach Frankreich auch we-gen seines Kulturreichtums das zweitbeliebteste Reise-land in Europa. Gut 90 Milliarden Euro werden durchden Kulturtourismus eingenommen, und fast 2 MillionenMenschen sichert er den Arbeitsplatz. Folgerichtig wirdim Kulturetat 2011 auch der Denkmalschutz weiter ge-stärkt. 550 Kulturdenkmäler von nationaler Bedeutungwurden allein durch diese staatliche Förderung für unsalle gesichert. Tausende weitere kommen hinzu, ange-stoßen und finanziert durch großartige Bürger und Pri-vatinitiativen. Ihnen und den vielen Millionen Men-schen, die unserer Gesellschaft im kulturellen Ehrenamtverantwortungsbewusst Wissen und Wärme geben, giltunser Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8089
Wolfgang Börnsen
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Durch die Neumann-Jahre wurde rückblickend auchder Kultur- und Kreativwirtschaft bei uns zum Durch-bruch verholfen. Diese Boombranche stellt bei 63 Mil-liarden Euro Wertschöpfung bereits jetzt über 1 MillionArbeitsplätze. Die Neumann-Jahre haben den großenMuseen, gerade auch hier in Berlin, den Gedenkstättenund den Diktaturmahnmalen Profil und Perspektive ge-geben.
Auch ein Beweis für ernsthafte Kulturförderung istdie Beibehaltung des reduzierten Mehrwertsteuersatzesfür Kulturgüter. Dafür treten wir auch weiterhin ein.
Was Bernd Neumann für 2011 vorausblickend ange-kündigt hat, findet die Unterstützung der gesamtenUnion: die bundesweite Einrichtung von Zeitzeugenbü-ros, die Beibehaltung der Stasiüberprüfung bis 2019, dieSchaffung eines Denkmals für Freiheit und Einheit, umauch an die glücklichen Epochen unserer Geschichte zuerinnern, und die Verwirklichung der Stiftung „Flucht,Vertreibung, Versöhnung“, die durch die anerkennens-werte polnische Beteiligung ihre Arbeit jetzt endlich auf-nehmen kann. Auch die Fortentwicklung der Künstlerso-zialkasse gehört dazu. Deren Stabilisierung war der ersteSchritt, weitere müssen folgen.Schließen möchte ich mit einem Appell und einemDank.Mein Appell gilt der Opposition. Sagen Sie nicht, wieangekündigt, Nein zu mehr Geld für die Kultur, und ge-ben Sie nicht die parlamentarische Gemeinsamkeit in derKulturpolitik auf. Damit würden Sie der Kulturpolitikund den Kulturschaffenden unseres Landes schaden.Mein Dank gilt den Initiatoren und Machern derEuropäischen Kulturhauptstadt 2010, der Stadt Essenund der gesamten Ruhrregion. Sie haben unser Kultur-land würdig, vital, locker und wunderbar ideenreich re-präsentiert.
Herzlichen Dank von uns allen.
Das Wort hat Dr. Lukrezia Jochimsen für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Natürlich kann die Opposition auch loben, lieber HerrKollege Börnsen.
Das ist auch gar nicht so ungewöhnlich. Auch wir tundas immer dann, wenn es angebracht ist.
Der Kulturhaushalt 2011, der uns heute ungekürztund sogar um 27 Millionen Euro erhöht vorgelegt wird,verdient unseren Respekt, auch wenn wir dabei in Rech-nung stellen, dass von den zusätzlich bewilligten 27 Mil-lionen Euro über 15 Millionen Euro für den Denkmal-schutz vorgesehen sind, die wiederum im Haushalt desBauministeriums gestrichen wurden.
Das ist schon ein kleiner Etikettenschwindel. Es bleibtaber verdienstvoll, dass auf diese Weise der Schutz derKultur in den verarmten Kommunen betrieben wird, denein anderes Ministerium kalt zur Disposition gestellt hat.
Die massiven Kürzungen in der Städtebauförderungund beim Denkmalschutz sind schwerwiegende Fehlent-scheidungen. Darauf haben wir immer wieder hingewie-sen. Diese Fehlentscheidungen werden durch die 15 Mil-lionen Euro im Kulturhaushalt natürlich nur zu einemTeil revidiert, womit wir beim eigentlichen Problem die-ser Debatte sind: Der Abstand zwischen dem, was derBund kulturell ermöglicht, und dem, was die Kommunenfür die Kultur leisten können, wird immer größer. DieLinksfraktion ist nach wie vor der Auffassung, dass derBund finanzpolitisch umsteuern und die kulturelle Infra-struktur in unseren großen und kleinen Städten, auf demLand und in den Armutsvierteln retten muss,
und zwar aus nationaler Verantwortung und auch ausVerantwortung als Verursacher; denn die Misere derKommunen ist eine Folge der absoluten Misswirtschaftder Regierung, und das wissen Sie hier auch.
In diesem Zusammenhang begrüßen wir, dass dieKulturstiftung des Bundes zusätzliche 2 MillionenEuro erhält. Wir setzen uns seit Jahren für diese Einrich-tung ein, weil sie nach unserer Ansicht eine Schlüssel-rolle im Verhältnis zwischen Bund, Ländern und Kom-munen spielen sollte. Mit der Förderung von nationalbedeutsamen Projekten überall im Land werden dieKommunen entlastet. Wichtig dabei ist aber, dass dieLänder diese Modellprogramme dann auch übernehmenund fortsetzen.Wir brauchen einen kooperativen Kulturföderalis-mus. Ohne ihn wird die Kulturkrise, die Bedrohung derTheater, der Bibliotheken, der Museen und der soziokul-turellen Zentren, in den nächsten Jahren in den Ländernund den Kommunen nicht zu bewältigen sein.
Wir brauchen mehr nationale Verantwortung für dieseKultur. Diese kulturelle Vielfalt kann nur von Bund,
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8090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Dr. Lukrezia Jochimsen
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Ländern und Kommunen gemeinsam erhalten werden.Dafür müssen wir endlich auch die gesetzlichen Grund-lagen schaffen. Wir fordern seit Jahren beharrlich dieVerankerung des Staatsziels Kultur und eine Gemein-schaftsaufgabe Kultur im Grundgesetz.
Das muss jetzt endlich geschehen – in diesen Zeiten derNot.Und noch etwas muss geschehen in diesen Zeiten derNot: Wir müssen genau hinsehen, wofür die hart um-kämpften Mittel ausgegeben werden. Da kann ich Ihnen,Herr Staatsminister, den Vorwurf einfach nicht ersparen,dass Sie Millionen für die Bundesstiftung „Flucht, Ver-treibung, Versöhnung“ ausgeben. Mit einem Stiftungsratohne Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland,mit einem Wissenschaftlichen Beirat ohne Vertreter derRoma und Sinti widerspricht diese Institution eindeutigihrem Stiftungszweck,
den wir hier in diesem Haus verabschiedet haben. Ichfrage: Wie lange wollen Sie dieses Gebilde – als Bun-desstiftung wohlgemerkt – der Öffentlichkeit gegenübervertreten und finanzieren? 2,5 Millionen Euro im Jahr2011 – spätestens da endet das Lob für den Kulturhaus-halt; denn mit diesen Millionen ließe sich wahrlich Bes-seres für die Kultur unseres Landes bewirken.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Reiner Deutschmann für die FDP-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen!
Der Haushalt 2011 steht ganz im Zeichen der Haushalts-konsolidierung. Das erfordert auch vom Bund, dass erMaßnahmen ergreift, um die Staatsfinanzen endlich wie-der auf solide Füße zu stellen. Dies erfüllt die christlich-liberale Koalition und setzt dabei klare Prioritäten.Deshalb ist es besonders zu begrüßen, dass sich dieKoalition deutlich dazu bekennt, die Bereiche Bildung,Forschung und eben auch Kultur aus dem Sparkorridorherauszunehmen; denn in diesen Bereichen entstehen dieIdeen, die unser Land so erfolgreich machen. Auch des-halb begreift sich Deutschland zu Recht als Kulturna-tion.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Be-reinigungssitzung des Haushaltsausschusses ist es gelun-gen, der Kultur einen Aufwuchs von 27 Millionen Eurozu sichern. Dafür ein herzlicher Dank an die Haushalts-politiker.
Als sächsischer Abgeordneter bin ich natürlich beson-ders stolz darauf, dass wir den hochwassergeschädigtenKultureinrichtungen in Sachsen auch 2011 unter dieArme greifen können. So erhalten der Fürst-Pückler-Park in Bad Muskau und das Kloster St. Marienthal inOstritz 5 Millionen Euro zur Beseitigung gravierenderFlutschäden.
Auch die Finanzausstattung der Kulturstiftung desBundes ist durch die Bereinigungssitzung um 2 Millio-nen Euro auf 37 Millionen Euro gestiegen. Dies ermög-licht, zahlreiche laufende Projekte weiter zu fördern undneue, innovative Projekte in die Förderung aufzuneh-men. So werden gerade Kommunen in die Lage versetzt,ambitionierte Projekte umzusetzen, die für sie allein sonicht durchführbar wären.Auch die zusätzlichen 15 Millionen Euro, die derSubstanzerhaltung und Restaurierung von unbewegli-chen Kulturdenkmälern dienen, kommen Kommunenund vor allem den Ländern zugute.Weitere 5 Millionen stehen für die Förderung kultu-reller Einrichtungen zur Verfügung, wie beispielsweisefür den Bundesverband Freier Theater, worauf wir Libe-rale besonders stolz sind.
Auch mit dem Kulturetat des Bundeswirtschaftsminis-teriums sind wir auf einem guten Weg. Die Kultur- undKreativwirtschaft wird trotz des Auslaufens der Sonder-mittel aus dem Konjunkturprogramm mit 3,5 MillionenEuro gefördert. Erst vorgestern wurde das achte Regio-nalbüro der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft inStuttgart eröffnet. Somit steht inzwischen ein bundeswei-tes Angebot zur Verfügung.
Zu guter Letzt möchte ich noch einmal die Haushälterpositiv nennen; denn durch sie ist es gelungen, auch imBereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik ei-nen Aufwuchs zu erzielen. Somit kann die hervorra-gende Arbeit des Goethe-Instituts im Bildungs- und Kul-turbereich im Ausland weiter fortgesetzt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir setzenum, was wir versprochen haben. Dieser Haushalt ist ein
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8091
Reiner Deutschmann
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klares positives Signal für die Kultur. Trotz generellerEinsparungen räumt die christlich-liberale Koalition derKultur höchste Priorität ein.Danke.
Die nächste Rednerin ist Agnes Krumwiede für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Bereinigungssitzung hat dem Kulturetatfür 2011 einige Überraschungseier beschert: 5 MillionenEuro mehr zur Verstärkung kultureller Förderung,2 Millionen Euro zusätzlich für die Bundeskulturstif-tung. Überraschungseier haben nur leider einen Nach-teil: Man weiß nicht genau, was drin ist. Mittel für dieKultur zu organisieren, ist das eine. Genauso wichtigwäre aber, Transparenz darüber zu schaffen, was mit die-sen Geldern passieren soll.
Der Kulturhaushalt bleibt nebulös, was die gezielteUnterstützung von Künstlern und die kulturelle Förde-rung betrifft. Konkret dagegen sind die Geschenke anHerrn Neumanns Klientel, an die deutschen Vertriebe-nenverbände oder an seinen Wahlkreis Bremen. Mit derBegründung „gesamtstaatliche Bedeutung“ bekommt dieBremer Kunsthalle 5 Millionen Euro für einen Anbau.Das Kabinett darf auch 2011 wieder als Finanzierungs-partner über den roten Teppich der Bayreuther Festspieleschreiten. Im nächsten Jahr erhält Bayreuth 2,3 Millio-nen Euro vom Bund.
Wir Grüne sind keine Antiopernpartei; aber es tut unsleid um all die Festspiele, Bühnen und Museen, die vonKürzungen bedroht sind und leider nicht das Privileg ge-samtstaatlicher Bedeutung zugesprochen bekommen.
Warum werden eigentlich immer die Kulturevents mitBundesmitteln vergoldet, die sowieso schon glänzen?Zwei Drittel der Theater- und Tanzschaffenden inDeutschland sind arm. Sie leben unterhalb der Armuts-grenze.
Auf unsere Anregung hin hat sich der Kulturausschusszum ersten Mal in seiner Geschichte ausführlich mit demThema Tanz beschäftigt. Wegen der enormen körperli-chen Belastung ist die Karriere für die meisten Tänzermit 35 beendet. Umschulungsmaßnahmen in einem demTanz verwandten Beruf bekommen sie in der Regel vomArbeitsamt nicht finanziert. Die Stiftung TANZ-Transi-tion unterstützt Tänzer beim Übergang in einen neuenBeruf. Ab April 2011 ist die Weiterführung der Stiftungnicht mehr gesichert. Unseren Haushaltsantrag zur För-derung von TANZ-Transition hat die Regierung abge-lehnt.
Ich bin fassungslos, dass Sie bei einem Etat von1 Milliarde Euro keine 50 000 Euro für den Tanz übrighaben.
Unsere Tanzkultur ist von genauso großer gesamtstaatli-cher Bedeutung wie der Wagner-Kult. Rein aus Prinzipund ohne Empathie für die Kreativen Vorschläge der Op-position abzuschmettern, dient nicht den Künstlerinnenund Künstlern in Deutschland und auch nicht unserer de-mokratischen Kultur.
Immerhin wollen Sie unseren Antrag umsetzen, denBundesverband Freier Theater mit 100 000 Euro zu un-terstützen. Auch die FDP ist stolz auf diesen Antrag derGrünen.
Vielleicht steckt hinter den 2 Millionen Euro für die Bun-deskulturstiftung auch unser Vorschlag, ein Förderpro-gramm für Jugendkultur aufzulegen. Unser Konzeptmöchte Workshops mit pädagogisch erfahrenen Künst-lern an Bildungseinrichtungen fördern. Denn Bildungs-gutscheine ohne Anreize sind sinnlos. Ein Kind, das denWert von Musik nie vermittelt bekommen hat, wird sichwohl kaum für Musikschulgutscheine begeistern können.Deshalb sind mehr kostenlose und kreative Angebote anden Schulen und Jugendzentren notwendig.
Im Rahmen des Streichkonzerts der Bundesregierunginnerhalb der Städtebauförderung wurde das Programm„Soziale Stadt“ zusammengeschrumpft. Die Projektför-derung wurde gestrichen. Unser Konzept zur Stärkungvon Jugendkultur wäre eine geeignete Lösung, trotz-dem kulturelle und integrative Projektförderung in be-nachteiligten Stadtbezirken zu ermöglichen.Kultur hat ihren eigenen Wert, unabhängig vom wirt-schaftlichen oder gesellschaftlichen Nutzen. Die aktiveTeilnahme an Kunst kann helfen, Defizite unserer Leis-tungs- und Stressgesellschaft zu kompensieren. Fantasie,Selbstvertrauen, mehr Respekt und Toleranz: All daskann vielseitig verstandene Kulturförderung positiv be-einflussen. Mehr Raum, Zeit und Mittel für Jugendkulturbedeuten weniger seelische Obdachlosigkeit bei Kindernund Jugendlichen.
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Frau Kollegin!
Ich komme gleich zum Schluss. – Die Mittel zur Auf-
legung unseres Förderprogramms sind jetzt dank Ihnen,
Herr Neumann, vorhanden. Bitte setzen Sie sich dafür
ein, dass unser Förderprogramm „Jugendkultur Jetzt“
durch die Bundeskulturstiftung aufgelegt wird.
Danke schön.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Jürgen Koppelin das Wort.
Frau Kollegin, ich bin als Haushälter für den Etat des
Staatsministers für Kultur zuständig. Ich will auf Ihre Kri-
tik zu den Wagner-Festspielen eingehen. Man kann es so
sehen, wie Sie es dargestellt haben. Aber ich bekenne
mich dazu, dass ich diese Mittel mit freigegeben habe.
Grund war – ich war selber noch nie bei den Wagner-Fest-
spielen –, dass ich jedes Jahr sehe, wie Claudia Roth mit
strahlendem Gesicht zu den Wagner-Festspielen geht,
und ich dachte, ich täte etwas Gutes.
Ich dachte, ich setze mich dafür ein, dass nicht nur Frau
Claudia Roth, sondern auch andere Grüne zu den
Wagner-Festspielen gehen können. Ich habe mich jetzt
durch Sie belehren lassen. Schade; das nächste Mal muss
ich das dann entsprechend berücksichtigen.
Zur Antwort Frau Krumwiede.
Ich muss betonen, dass auch ich Wagner sehr gerne
mag. Ich war noch nie bei den Festspielen, weil ich noch
nie eine Karte bekommen habe. Das ist bei den Wagner-
Festspielen immer sehr problematisch. Darüber müssen
wir uns vielleicht an anderer Stelle noch einmal unter-
halten.
Das wollte ich auch gar nicht ins Verhältnis setzen.
Ich frage mich, warum zum Beispiel in die Wagner-Fest-
spiele 2,3 Millionen Euro fließen. Warum fließen die
Gelder des Bundes immer dorthin, wo sowieso schon al-
les schillert, und nicht dorthin, wo man eigentlich mehr
kulturelle kreative Teilhabe bräuchte, zum Beispiel in
die Jugendkultur? Das wollte ich damit sagen.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur na-
mentlichen Abstimmung über den Einzelplan 04 in der
Ausschussfassung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen be-
setzt? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann eröffne ich
die Abstimmung.
Ist eine Kollegin oder ein Kollege im Saal, die ihre
bzw. der seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das
ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Darf ich Sie bitten, wenn Sie die Debatte nicht weiter-
verfolgen wollen, Ihre Gespräche vor dem Saal zu füh-
ren, damit wir uns auf die weitere Diskussion konzen-
trieren können?
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.9 auf:
Einzelplan 05
Auswärtiges Amt
– Drucksachen 17/3505, 17/3523 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber zwei Stun-
den zu diskutieren. – Ich sehe, damit sind Sie einverstan-
den. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bevor ich zum Haushalt des Auswärtigen Amtes komme,möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern desHaushaltsreferats im Auswärtigen Amt mit Dr. Morhardan der Spitze ganz herzlich danken. Ich möchte mich da-für bedanken, dass sie uns mit Informationen zum Haus-halt des Auswärtigen Amtes zuverlässig, schnell und um-fangreich nicht nur während der Haushaltsberatungen,sondern über das ganze Jahr versorgt haben. Ich möchtemich auch bei den Mitberichterstattern bedanken – ichglaube, es war ein faires Miteinander, das wir vorgelebthaben. Insbesondere möchte ich unserem Hauptberichter-statter, dem Kollegen Frankenhauser, der erkrankt ist,herzliche Genesungswünsche von dieser Stelle aus schi-cken.
1) Ergebnis Seite 8094 D
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8093
Klaus Brandner
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Mein Dank gilt aber auch Ihnen, Herr Minister, fürdie Gesprächsbereitschaft und den guten Kontakt. Da ichgerade das Positive anspreche: Wir haben uns sehr da-rüber gefreut, dass Deutschland in den Sicherheitsrat derVereinten Nationen gewählt wurde und dass Sie die Ar-beit der von Ihren Vorgängern eingesetzten und unter-stützten unabhängigen Historikerkommission – Das Amtund die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im DrittenReich und in der Bundesrepublik – zum Abschluss ge-bracht haben und darüber sehr offensiv berichtet haben.
Ich finde, das ist eine späte, aber beispielhafte Aufarbei-tung der Geschichte. Andere Ministerien sollten sich da-ran durchaus messen lassen und dieses Thema aufgrei-fen.
Für den Haushaltsplan 2011 des Auswärtigen Amteskann ich eine solche Anerkennung leider nicht ausspre-chen. Das können Sie von uns nicht erwarten. Vorab: Ichfinde, der Haushalt des Auswärtigen Amtes ist deutlichunterfinanziert. Um es klar zu sagen: Das ist kein Spar-haushalt, sondern ein Kürzungshaushalt, der unserenAnforderungen nicht gerecht wird.
Er ist ungerecht, teilweise unsolide und widersprüchlich.Er ist ungerecht, weil Kürzungen zulasten der Ärmstender Welt gehen, während innenpolitisch unsinnige Steuer-geschenke gemacht wurden und weitere geplant sind. Erist ungerecht, weil die Mittel für die humanitäre Hilfe,die Flüchtlingshilfe im Ausland und für Maßnahmen deshumanitären Minenräumens um fast 15 Prozent gekürztwerden. Er ist ungerecht, weil Mittel für Demokratisie-rungs- und Ausstattungshilfe und für Maßnahmen zurFörderung der Menschenrechte um fast 43 Prozent ge-kürzt werden. Er ist ungerecht, weil die Mittel für Kri-senprävention, Friedenserhaltung und Konfliktbewälti-gung um fast 30 Prozent gekürzt werden.Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass die Unter-stützung einzelner Länder immer dann unterbleiben oderreduziert werden kann, wenn sich die Situation verbes-sert hat, wenn Fortschritte oder Veränderungen eingetre-ten sind. Aber solche Fortschritte oder Veränderungensind eben nicht in großem Maße eingetreten. Im Gegen-teil: Es gibt in vielen Bereichen noch größere Bedarfe alszuvor. Ich denke dabei insbesondere an Pakistan und dieärmsten Länder Afrikas, zum Beispiel Simbabwe unddie Länder in der Region der Großen Seen. Die Mittelfür diese Länder werden gekürzt, wofür wir kein Ver-ständnis haben. Wir empfinden das als ungerecht, unddas sollte so deutlich angesprochen werden.
Das hat mit sinnvoller Haushaltskonsolidierungnichts zu tun; vielmehr hat es Signalwirkung, wenn derHaushalt insgesamt um circa 3 Prozent, aber die Mittelfür Krisenprävention, für Demokratisierungshilfe undfür Friedenserhaltung um bis zu 43 Prozent gekürzt wer-den. Das ist schlichtweg unangemessen.
Der Haushalt ist nicht nur ungerecht, er ist auch inTeilen unsolide; denn die Sondermittel aus dem Bundes-ministerium für Bildung und Forschung, die in Höhevon 50 Millionen Euro an das Auswärtige Amt gehensollten, werden zum Stopfen von Haushaltslöchern ge-nutzt, und das, obwohl sie zusätzlich, zweckgebundenausgegeben werden sollten. Sie sollten nicht einfach um-geleitet werden, sondern im Bereich der AuswärtigenBildungs- und Forschungspolitik dem Ziel dienen, zumBeispiel Aktivitäten der deutschen Auslandsschulen, diezusätzliche Investitionen zum Nutzen der proklamierten„Bildungsrepublik Deutschland“ dringend benötigen, zufinanzieren. Hier ist zu Unrecht fast gar nichts angekom-men. So machen wir aus der Bildungsrepublik Deutsch-land eine Kürzungsrepublik. Ich glaube nicht, dass wirdas sein wollen.
Viele Auslandsschulen fürchten um ihre Existenz.Uns haben viele Briefe von Schulen in Europa, Süd-afrika und Südamerika erreicht. Sie alle mussten odermüssen die Schulbeiträge deutlich erhöhen oder Krediteaufnehmen, um die Existenz ihrer Schule zu sichern. Dasalles geschieht, weil von dem Anteil des AuswärtigenAmtes am Sonderprogramm für Bildung und Forschunggar nichts dort ankommt, wo es eigentlich hinfließensollte. Deshalb ist es zynisch, zu behaupten, dass dieseBundesregierung zusätzlich in Bildung und Forschunginvestiert. Im Auswärtigen Amt ist jedenfalls nichts da-von zu sehen. Wer unter „zusätzlich“ versteht, dass ge-kürzt wird, der hat die Grundrechenarten nicht gelernt.
In Afghanistan leisten wir einen notwendigen Bei-trag. Es ist jedoch kein Zeichen für eine solide und zu-verlässige Haushaltspolitik, wenn die zusätzlichen Mit-tel für die Befriedung und Stabilisierung Afghanistansnicht mehr zusätzlich zur Verfügung gestellt werden,sondern zulasten anderer Maßnahmen, zum Beispiel derKrisenprävention, gehen.Von Ihnen, Herr Minister, und den Kolleginnen undKollegen der Koalitionsfraktionen hätte ich im Haus-haltsausschuss mehr Engagement erwartet. Man hättediesen zusätzlichen Aufgaben Rechnung tragen müssen.Eine der Vorrednerinnen hat ausgeführt, wie das Engage-ment von Herrn Staatsminister Neumann dazu geführthat, dass während der Beratungen im Haushaltsaus-schuss zusätzlich 27 Millionen Euro für Kultur im Etatdes Kanzleramts bewilligt wurden. Ich hätte mir ein sol-ches Engagement auch im Bereich des Auswärtigen ge-wünscht, damit für die notwendigen Ausgaben die erfor-derlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden können.
Geärgert hat mich der Umgang mit der Kulturakade-mie Tarabya. Ursprünglich sind 6 Millionen Euro vomParlament bewilligt worden. 14 Stipendiaten sollten dort
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8094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Klaus Brandner
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dert, obwohl sie gar nicht mit dem Projekt befasst waren. Ich könnte noch weitere Beispiele nennen. Bevor ichnur: Hier wurde konsequent der Wille des Parlamentsmissachtet. Unabhängig davon, was jeder Einzelne vonder Kulturakademie Tarabya denkt: So kann man mitdem Parlament nicht umgehen.
Letztlich können doch Sie selbst, Herr Bundesminis-ter, mit dem Haushalt nicht zufrieden sein; denn er istwidersprüchlich in zentralen Fragen Ihres eigenen An-spruchs. Sie haben in Ihrer Grundsatzrede auf einer Ver-anstaltung der Deutschen Gesellschaft für AuswärtigePolitik am 21. Oktober 2010, also im letzten Monat, ge-sagt:Abrüstung ist endlich wieder als Zukunftsthema derinternationalen Politik anerkannt.
Ich freue mich, wie viel Dynamik die vergangenenMonate über in die Diskussion über Abrüstung,Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung gekom-men ist.Weiter haben Sie, Herr Westerwelle, gesagt: „… deut-sche Außenpolitik ist Abrüstungspolitik.“ Im Haushalts-plan erkenne ich jedoch nur eine Dynamik nach unten.Genau hier wird um 32 Prozent gekürzt, obwohl sich derBedarf des Handelns deutlich vergrößert hat. Hier be-steht ein eklatanter Widerspruch zwischen dem, was ge-sagt, und dem, was in der Praxis materiell hinterlegtwird.
Der Haushalt widerspricht Ihnen, auch beim Thema
Rede von: Unbekanntinfo_outline
In unserer globalisierten Welt können zerfallende
und gescheiterte Staaten und regionale Konflikte
unsere Sicherheit unmittelbar beeinträchtigen. Kri-
senbewältigung fernab unserer Grenzen ist heute
ein fast alltäglich gewordener Beitrag zur Sicher-
heit innerhalb unserer Grenzen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 588;
davon
ja: 314
nein: 274
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
tive Dinge ansprechen.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
In den Beratungen des Haushaltsausschusses hat es
Veränderungen zum Besseren gegeben: Im Hinblick auf
die humanitären Hilfen, die deutschen Auslandsschulen,
die deutschen Auslandsdienstlehrkräfte und das ZIF
wurden deutliche Verbesserungen erzielt; ich will das
hier ausdrücklich anerkennen.
Das alles ist aber bei weitem nicht genug. Gerade in
der Außenpolitik kann man mit wenig Geld vieles bewir-
ken. Kontinuität und Zuverlässigkeit müssen zu unserer
Außenpolitik gehören. Ich bleibe dabei: Der Haushalts-
entwurf ist, insgesamt gesehen, ungerecht, weil bei den
Ärmsten gekürzt wird, er ist unsolide, weil Gelder für
Bildung und Forschung zweckentfremdet werden, und er
ist widersprüchlich, weil entgegen der Ankündigung von
einer Schwerpunktsetzung bei der Abrüstungspolitik bei
der zivilen Krisenprävention und bei Schwerpunktregio-
nen gekürzt wird. Aus diesem Grunde können wir dem
Haushalt nicht zustimmen.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebeich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung über die Beschlussempfehlung des Haushaltsaus-schusses zum Einzelplan 04, dem Geschäftsbereich derBundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes, bekannt:abgegebene Stimmen 588. Mit Ja haben gestimmt 314,
mit Nein haben gestimmt 274. Enthaltungen gab eskeine. Damit ist der Einzelplan 04 angenommen.Dorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Dr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserÜberhaupt erfuhr man vieles nur über Dritte. Klar war zum Schluss komme, will ich aber zwei oder drei posi-tätig werden. Dann gab es eStaatsministerin, wonach nuumgebaut werden sollten. Midie Botschaft renoviert werdeund Her und eine diffuse Infoausschuss Auswärtige Kulwurde gesagt, die Haushälterin erweitertes Konzept derr noch vier Appartementst dem restlichen Geld sollten. Es gab ein ständiges Hinrmationspolitik. Im Unter-tur- und Bildungspolitik hätten das Projekt verhin-Die Erkenntnis ist gut. IchAber vor diesem Hintergrundnahe fahrlässig zu nennen; dnahmen zur KrisenpräventiKonfliktbewältigung werdenDas ist ein Widerspruch, densen, die letztlich für diese Poteile sie uneingeschränkt. ist der Haushaltsplan bei-enn die Mittel für die Maß-on, Friedenserhaltung undum fast 30 Prozent gekürzt. diejenigen aufklären müs-litik stehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8095
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Dr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Norbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausGitta ConnemannLeo DautzenbergAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersDr. Karl-Theodor Freiherrzu GuttenbergOlav GuttingFlorian HahnHolger HaibachDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenDr. Kristina SchröderManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Nadine Schön
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsDaniela RaabThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzLena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannChristian Lindner
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8096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Dr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
NeinSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathySiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagPeter FriedrichMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Carsten Schneider
Olaf ScholzSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulWaltraud Wolff
Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothee MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAlexander Bonde
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8097
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Kolleginnen und Kollegen, beim Haushalt an sich ist Lassen Sie mich dazu sagen: Ich halte es für einenmuss sein, Herr Brandner. Hazert, und gute Politik mussGeld kosten.
Sparziele gelten auch für dasAuswärtige Amt erbringt eineDas begrüßen wir. Mein Kollausführlicher auf die eigentligehen.Ich will ein paar Dinge zudie uns sehr wahrscheinlichushalt ist kein Wunschkon-auch nicht unbedingt vielr [BÜNDNIS 90/DIEoch mal ein Sparbuch, Auswärtige Amt. Auch dasn Anteil an den Sparzielen.ege Djir-Sarai wird nachherchen Haushaltsaspekte ein- den großen Themen sagen,im nächsten Jahr vor allenaber auch offene Sprache Ruhaben. Wir haben es jetzt gStück Verhandlungserfolg dein Zukunft zusammen mit Ruhungsanalysen erstellt werdeauf Russland zu. Deswegen edass sich Russland bewegtreitschaft bei Frozen Conflicda einige Beispiele ein.Der OSZE-Gipfel in Astauns hier im Hause gemeinsammit diesem Gipfel umgehenRussland hat das Potenzial,überraschen. Beim Transnistrssland gegenüber gefundeneschafft – das ist auch einr Bundesregierung –, dassssland gemeinsame Bedro-n. Das ist also ein Schrittrwarten wir jetzt aber auch,und seine Kooperationsbe-ts zeigt. Konkret fielen mirna steht bevor. Wir haben darüber gestritten, wie wirsollen. Aber eines ist klar: uns in Astana positiv zuienkonflikt wäre viel Raumdie Einigkeit allerdings schon wieder weg, denn Sparen großen Erfolg, dass wir eine ausgewogene, fordernde,Viola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusWinfried HermannPriska Hinz
Ulrike HöfkenDr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Nun hat das Wort der Kollege Michael Link für dieFDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich fandes von Ihnen sehr fair, Herr Brandner, dass Sie eingangsdas Thema Vergangenheitsbewältigung angesprochenhaben. In der Tat ist die Frage, wie sich eine Institutionwie das Auswärtige Amt an diese schwierige, an dieseschlimmste Zeit in der deutschen Geschichte erinnert,sehr wichtig. Genauso wie Sie begrüßen wir, dass derBundesaußenminister dieses Thema in der Reihe mit sei-nen Vorgängern – das will ich ganz bewusst sagen; dennes ist etwas, was uns über die Parteigrenzen hinwegeint – offensiv angegangen ist. Wir müssen uns mit die-sem Thema noch weiter befassen. Er hat an die von ihmeingesetzte Kommission die Frage formuliert, wie in Zu-kunft mit Nachrufen auf und Bildern von in nationalso-zialistische Verbrechen verwickelten Angehörigen desAuswärtigen Amtes umgegangen werden soll. Wir be-grüßen das sehr und freuen uns, dass die Arbeit an die-sem Thema weitergeht.
Monika LazarNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeIngrid NestleDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinDr. Gerhard SchickDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkleranderen ganz besonders im Bereich der auswärtigenPolitik, aber auch der Europapolitik beschäftigen wer-den. Das ist zum einen die Wahl Deutschlands in denSicherheitsrat der Vereinten Nationen. Es ist ein wirk-licher Verhandlungserfolg der Bundesregierung, derBundeskanzlerin und des Bundesaußenministers, dass esgelungen ist, für die nächsten zwei Jahre im Sicherheits-rat Politik mitzugestalten.Wir als christlich-liberale Koalition haben immer ge-sagt: Wir stehen auch und gerade im internationalen Be-reich für Verantwortungsübernahme. Wo täte man dasbesser als im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen?
Daran anschließend komme ich – das ist zwar einkleiner Rückblick, aber lassen Sie es mich dennoch an-sprechen – auf das Strategische Konzept der NATO. Dasist ein ganz wichtiger Punkt. Auch hier sind wichtigeDurchbrüche gelungen. Natürlich hätte man sich mehrwünschen können. Aber positiv ist, dass wir all die Be-drohungen durch das Internet – Cyberattack, Cyberwar –in Zukunft nicht nach Art. 5, sondern nach Art. 4 hand-haben werden. Damit ist auch klargestellt, dass es nichtzunächst eine Sache des Militärs, sondern der zivilenEinrichtungen ist, das zu bekämpfen. Das ist ein ganzwichtiger Punkt dieses neuen Strategischen Konzeptesder NATO, durchgesetzt vom Außenminister.
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8098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Michael Link
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dafür. Wir möchten wirklich gemeinsam mit der russi-schen Seite zu einer Lösung dieser Frozen Conflictskommen, und mit Transnistrien sollten wir anfangen.
Ein anderer Bereich – da fehlt mir die Zeit, ihn aus-führlich zu erwähnen – ist das Thema Menschenrechte.Das Urteil oder auch Nicht-Urteil – jedenfalls möchteich es nicht als solches bezeichnen, wo auch immer esgeschrieben wird – im Chodorkowski-Prozess steht kurzbevor. Die Menschenrechtslage in Russland ist einThema, wo wir auch weiterhin sehr genau hinschauenmüssen.
Lassen Sie mich in der verbleibenden Zeit noch kurzzum Thema Europäische Union kommen. Mir macht esgroße Sorgen, wie wir mit dem Thema EU umgehen. An-gesichts der immer kritischer werdenden Stellungnahmenzu Europa – nicht nur in Deutschland, sondern in der gan-zen Europäischen Union –, angesichts der Anti-EU-Tira-den, die immer mehr werden, stelle ich mir die Frage:Werben wir eigentlich genug für die europäische Idee?Erklären wir sie richtig? Vermitteln wir ihre Bedeutungausreichend?Schon gibt es einige, die der Renationalisierung dasWort reden. Lassen Sie mich das ganz deutlich sagen:Zunächst geht es bei denen, die das wollen, um die Re-nationalisierung des Euro. Der nächste Schritt wäre eineAuflösung bzw. Desintegration der Europäischen Union.Das kann auf keinen Fall im deutschen Interesse sein –im europäischen ohnehin nicht. Lassen Sie uns jetzt– ganz besonders in der Griechenland- und Irlandkrise –ganz klar gemeinsam dagegen Stellung nehmen unddeutlich sagen: Wir haben die Instrumente; wir haben siefür drei Jahre geschaffen, um auch einen Fall wie Irlandbewältigen zu können. Aber bitte, machen wir uns nichtsvor: Wir dürfen diesen Rettungsschirm nicht einfachverlängern. Wir müssen im Gegenteil intensiv daran ar-beiten, wie wir diesen Rettungsschirm durch etwasNeues ersetzen, und zwar durch etwas, was eben nichtauf Dauer das Risiko der Marktteilnehmer sozialisiertund auf die Steuerzahler abschiebt, sondern das die Be-teiligung der Gläubiger, insbesondere der privaten, si-cherstellt. Denn als Liberaler ist für mich eines klar:Kein Markt ohne Risiko. Dieses Risiko muss wieder aufden Finanzmärkten eingepreist werden; denn ansonstenwerden wir mit der sozialen Marktwirtschaft der Euro-päischen Union und insbesondere mit dem Euro tatsäch-lich in noch viel ernsthaftere Probleme kommen.Deshalb steht für meine Fraktion ganz vorne – das istfür sie ganz wichtig – der Punkt: Wir müssen unbedingtdiesen Rettungsschirm durch etwas Neues, durch einenrobusten Mechanismus ersetzen, bei dem nicht einfachwieder Rettung vor Eigenverantwortung steht. In Zu-kunft muss ganz klar Eigenverantwortung vorne stehen.Das wird eines der Megathemen des nächsten Jahressein.Mein letzter Satz, Frau Präsidentin: Ich möchte denDiplomatinnen und Diplomaten des Auswärtigen Amtesauch im Namen der FDP-Fraktion ganz herzlich danken.Sie verrichten einen Dienst, der oft auch sehr gefährlichist. Wir danken zu Recht den Soldatinnen und Soldaten.Aber wir sollten auch unseren Diplomatinnen und Diplo-maten für den Dienst danken, den sie für uns in der gan-zen Welt auf ihren Posten leisten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Unser Außenminister sagt, dass deutsche AußenpolitikFriedenspolitik und Abrüstungspolitik ist und dassunser Land seine Politik der militärischen Zurückhaltungfortsetzen will.
Das ist der Anspruch, an dem er sich auch messen lassenmuss.
Die Zahlen in diesem Haushalt sprechen leider eine ganzandere Sprache.Mehr als 7 000 Soldatinnen und Soldaten befindensich im Ausland, die meisten im Krieg in Afghanistan.Bei der zivilen Konfliktprävention, also der Vermeidungvon Kriegen, bevor sie ausbrechen, für die wichtige Ar-beit der Vereinten Nationen, bei der Auswärtigen Kultur-und Bildungspolitik wird hingegen weniger Geld ausge-geben als in der Vergangenheit. Das beim Millenniums-gipfel abgegebene Versprechen Deutschlands, 0,7 Prozentseines Bruttosozialprodukts für Entwicklungszusam-menarbeit zu investieren, ist gebrochen worden. Daklingt die Forderung an andere Länder schon seltsam,dass sie ihre Wirtschaft öffnen sollen. Die Menschen inden Entwicklungsländern fragen sich: Was tut ihr imWesten für mehr Handelsgerechtigkeit? WirtschaftlicheÖffnung ist keine Einbahnstraße.
Nun gibt es ja eine Standardantwort auf die Opposi-tionskritik; der Kollege Link hat sie auch gerade gege-ben, indem er gesagt hat: Sparen muss sein. Nun ist derSparzwang, dem auch das Außenministerium unterliegt,nicht gottgegeben. Die Schuldenbremse, die hier be-schlossen wurde, ist selbst gewähltes Elend. Die Bun-deskanzlerin sagt ja immer wieder, so ein Instrumentgibt es nur in einem Land auf der Erde, und es wird auchnur in einem Land auf der Erde genutzt. Da kann man jaeinmal fragen: Warum eigentlich?Keine Schuldenbremse zu haben, heißt nicht automa-tisch, dass der Haushalt aus dem Ruder laufen muss. Dievon Rot-Rot regierten Bundesländer Berlin und Meck-lenburg-Vorpommern haben gezeigt, wie man die Aus-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8099
Stefan Liebich
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gaben auf das Niveau der Einnahmen reduzieren kann,ganz ohne Verfassungsklimbim, mit reinem politischenWillen. Das gelang dort nämlich bis zum Beginn derFinanz- und Wirtschaftskrise.
Diese Länder hatten übrigens eine Option nicht, dieSie haben: Sie können die großen Vermögen, die Erb-schaften, die Einkommen auf vernünftige Art und Weisebesteuern, statt Hoteliers zu entlasten. Statt einer Schul-denbremse wäre eine Steuersenkungsbremse im Grund-gesetz sinnvoll gewesen. Dann müsste sich HerrSchäuble in dieser Frage auch nicht mit der FDP herum-ärgern, und es wäre genug Geld da, Gutes zu tun.
Was haben Sie also in Ihrem Haushalt angestellt? Esgibt einen Abbau bei der Auswärtigen Kultur- und Bil-dungspolitik. Dabei ist das doch ein wichtiges Potenzialfür die Arbeit Deutschlands im Ausland. Im Regierungs-entwurf, Herr Westerwelle, waren Streichungen beimGoethe-Institut und Eingriffe in dessen Budget gegenjede wirtschaftliche Logik vorgesehen. Das war Kürzungbei der Bildungspolitik, obwohl sie angeblich nicht statt-finden sollte.Obwohl es ungewöhnlich ist, möchte ich hier meinemKollegen, dem CSU-Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler,recht herzlich danken.
Er hat als Vorsitzender des Unterausschusses für Aus-wärtige Kultur- und Bildungspolitik nicht einfach nurfeurige Reden gegen den Regierungsentwurf gehalten,sondern er hat parteiübergreifende Beschlüsse zur Ver-besserung erwirkt. Das ist selbstbewusste Parlaments-arbeit eines Koalitionsabgeordneten im besten Sinne.Schade, dass Sie nicht von selbst auf die Idee gekommensind.
Trotzdem sind viele Kürzungen übrig geblieben. DieKünstlerakademie Tarabya ist hier mehrfach erwähntworden; ich kann mich dem nur anschließen. Bei derDeutschen Welle droht Jobabbau. Als Berliner Abgeord-neten schmerzt mich natürlich, dass 20 Prozent der Regel-förderung für das Haus der Kulturen der Welt gestrichenwerden sollen. Dem Kommentar von Rüdiger Schaperaus dem Tagesspiegel ist nichts hinzuzufügen.… allmählich zeigt sich doch eine Linie. Die Libe-ralen haben keine rechte Freude an auswärtigerKulturpolitik,
jedenfalls haben sie … in einem Jahr fast so viel an-gesägt, wie Westerwelles sozialdemokratischerVorgänger Steinmeier aufgebaut hat.Herr Westerwelle, sehr geehrte Damen und Herren,nur eine Organisation legitimiert Völkerrecht. Das istnicht das Treffen der G 8; das sind die Vereinten Natio-nen, die UNO, in deren Sicherheitsrat unser Land ab Ja-nuar Stimmrecht haben wird. Der Kollege Link hat ebengesagt, die Wahl sei ein Erfolg. Ich denke, ein Erfolgwird sich daran messen lassen müssen, was Sie dort imSicherheitsrat tun.
Was bedeutet für Sie die Stärkung der Vereinten Na-tionen, wenn Sie ausgerechnet dort kürzen? Bei den Bei-trägen für das Flüchtlingskommissariat UNHCR, beimKinderhilfswerk UNICEF, bei humanitären UN-Pro-grammen und bei der Unterstützung von palästinensi-schen Flüchtlingen kürzen Sie in diesem Haushalt. Siefahren in den Gazastreifen – dabei geht es um eine guteInitiative –, aber bei der Finanzierung der UN-Missionfür die palästinensischen Flüchtlinge vor Ort istDeutschland nur dreizehntgrößter Geldgeber und kürztdie Mittel im vorliegenden Haushalt zusätzlich um20 Prozent. Was wollen Sie eigentlich im UN-Sicher-heitsrat? Geht es nur um den ständigen Sitz für Deutsch-land?
Man muss es fast glauben; denn all unsere Anträge zudiesen Fragen wurden abgelehnt. Dabei ist dort jeder in-vestierte Euro besser angelegt als für Eurofighter, Leo-pard und neue U-Boote.
Herr Westerwelle, forcieren Sie Ihre Anstrengungen– ich weiß, dass Sie einige unternommen haben –, damitIndien, Lateinamerika und Afrika endlich einen ständi-gen Sitz im Sicherheitsrat bekommen, anstatt auf einendritten ständigen Sitz für die Europäische Union zu hof-fen.Der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konflikt-lösung und Friedenskonsolidierung“ – er ist hier bereitsangesprochen worden – ist ein wichtiges Instrumentdeutscher Außenpolitik. Er wird maßgeblich von der Zi-vilgesellschaft bestimmt. Es ist unvorstellbar: Ausge-rechnet dort wollen Sie die Mittel um ein Drittel kürzen.Solche gravierenden Fehlentscheidungen lehnen wir na-türlich entschieden ab.
Ein Punkt ist bereits vom Kollegen Brandner ange-sprochen worden: Die eingesparten Mittel werden in denAfghanistan-Pakt verschoben. Auch wir sind dafür, dasssich Deutschland in Afghanistan engagiert, nicht militä-risch, aber finanziell. Man wird aber hinterfragen dürfen,was Sie mit dem Geld finanzieren: Aufbau einer Gendar-merie zum Zwecke der Aufstandsbekämpfung, undefi-nierte Umfeldstabilisierung im Norden und faktischmilitärisch relevante Infrastrukturmaßnahmen an Flug-häfen. All das ist nicht im Sinne der Erfinder der zivilenKonfliktprävention. In Afghanistan wäre eine tatsächli-che „Übergabe in Verantwortung“ – nicht das, was Sieso nennen – statt einer Strategie des fortgesetzten Krie-ges der richtige Weg.
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8100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Stefan Liebich
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Einige unserer Kolleginnen und Kollegen hatten ges-tern die Gelegenheit, den ISAF-Kommandeur GeneralPetraeus zu treffen. Er hat die Strategie als Anakonda-strategie bezeichnet: Es geht also darum, die Aufständi-gen zu zerquetschen. Ich glaube, so wird man keinenFrieden gewinnen.
Politische Lösungen sind erforderlich; das wäre ein ech-ter Strategiewechsel.Die Schauspielerin Jutta Wachowiak hat zutreffendgesagt, dass Frauen zwar nicht die besseren Menschensind, aber genauso viele. Deswegen wollen und müssensie selbstverständlich genauso an Entscheidungen betei-ligt werden. Es wird also Zeit, dass mit der Umsetzungder UN-Resolution 1325 zu Frauenrechten Ernst ge-macht wird. Herr Westerwelle, es wäre gut, wenn Siehier einen eigenen konkreten Aktionsplan vorlegten, fürden entsprechende Mittel bereitgestellt werden. Ich willdurchaus anerkennen, dass es in Ihrem Haus, im Aus-wärtigen Amt, durchaus Lob für die Förderung vonFrauen gibt; es wäre aber schön, wenn Sie Ihr Engage-ment auf diesem Feld ausweiten würden.Ich möchte etwas zum Thema Menschenrechte sa-gen. Ich teile Ihre Kritik an den Menschenrechtsverstö-ßen im Iran. Wir alle sind mit unseren Gedanken beiSakine Aschtiani, die zum Tod durch Steinigung verur-teilt wurde, und appellieren an die Machthaber in Tehe-ran, dieses Urteil nicht zu vollstrecken.
Auch an anderen Orten der Erde sind deutliche Wortegefragt. Deutschland darf nicht schweigen, wenn in dervon Marokko besetzten Westsahara Protestcamps ge-räumt, mindestens ein Dutzend Menschen getötet undHunderte verletzt werden. Ich schlage vor, dass sich derMenschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, MarkusLöning, vor Ort ein Bild macht. Wirtschaftliche Interes-sen wie bei den Planungen für das Solarthermiekraft-werk Desertec dürfen uns nicht die Augen vor einerMenschenrechtsverletzung wie dieser verschließen las-sen.
Abrüstung ist das wichtigste Thema. Hier geht es umein gutes Ziel, das wir unterstützen. Nach einem Viertelder Legislaturperiode wird man aber fragen dürfen, wasden Ankündigungen folgt. Herr Kollege Link hat auf denNATO-Gipfel in Lissabon Bezug genommen. Sie, HerrWesterwelle, haben hohe Erwartungen geweckt. Sie undBarack Obama finden eine nuklearwaffenfreie Welt gut;ich auch. Wer nicht? Ich dachte aber an etwas mehr ent-sprechendes Handeln. Die Antwort der NATO ist einmilliardenschwerer Raketenschutzschirm. Keiner weiß,gegen wen er gerichtet ist. Erfahrungsgemäß wird so et-was meist teurer und unnützer als geplant. Das ist dasGegenteil von Abrüstung.
Das sieht man auch im Kleinen und Konkreten: DieAusgaben für Abrüstung in Ihrem Haushalt sind abge-senkt worden. Ich weiß – wir hatten darüber schon dis-kutiert –, dass die Atom-U-Boote der Sowjetunion inMurmansk bald fertig zerlegt sein werden. Aber statt dieentsprechenden Mittel zu streichen, könnte man gleichmit den amerikanischen Atomwaffen in Büchel inRheinland-Pfalz weitermachen. Das wäre echte Abrüs-tung.
Vorgestern hat der UN-Generalsekretär Ban Ki-moondie Herausforderungen beschrieben, er hat sie „die gro-ßen Drei“ genannt: Klimawandel, Kampf gegen Armut,Hilfe bei Naturkatastrophen. Das sind die eigentlichenHerausforderungen. Hier hat die Bundesregierung bisherversagt.Wir werden weiter sinnvolle Ansätze bei der Kon-fliktprävention und der Abrüstung unterstützen, wennSie handeln. Die Grundlinie einer aktiven und nachhaltigfriedlichen Außenpolitik fehlt aber leider. Deshalb kön-nen wir Ihrem Haushaltsentwurf nicht zustimmen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Ruprecht Polenz für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieseHaushaltsplanberatungen finden in einer besonderen At-mosphäre in Deutschland statt. Wir bemerken überalleine starke Polizeipräsenz auf den Straßen. Das sind Vor-kehrungen gegen den internationalen Terrorismus,und das macht einmal mehr deutlich, dass auch wir inDeutschland von dieser Geißel der Menschheit, somöchte ich es einmal nennen, betroffen sind. Von denersten Anschlägen Ende der 90er-Jahre auf amerikani-sche Botschaften in Ländern Afrikas über den schreckli-chen Anschlag am 11. September 2001 auf das WorldTrade Center und das Pentagon und die Anschläge inLondon und Madrid bis zur Gegenwart hat uns der inter-nationale Terrorismus immer wieder vor neue Heraus-forderungen gestellt. Zum Glück haben wir es dank un-serer Sicherheitsdienste bisher vermeiden können, dasssolche Anschläge in Deutschland verübt wurden. Ichmöchte mich an dieser Stelle bei allen, die bei den Si-cherheitsbehörden, aber auch in der präventiven Außen-und Sicherheitspolitik dazu beigetragen haben, dass wirdas bisher so hinbekommen haben, bedanken.
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Ruprecht Polenz
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Nun gibt es Stimmen in Deutschland, auch bei uns imParlament, die sagen: Wenn wir uns nicht einmischenwürden, wenn wir nicht in Afghanistan wären, wenn wiruns im Nahen Osten nicht engagierten, dann hätten wirRuhe vor dem internationalen Terrorismus; nach demMotto: Wenn wir niemandem etwas tun, dann tut unsauch niemand etwas.
– Herr Gehrcke, es gibt keine groteskere Verkennung derWirklichkeit und keine größere Verkehrung von Ursacheund Wirkung als die, die diesem Argument, das gele-gentlich leider auch von der Linksfraktion verwandtwird, zugrunde liegt.
Der Terrorismus lebt von der Unschuld der Opfer.Deshalb gibt es nur die Antwort, ihm gemeinsam, ge-schlossen, fest und gelassen entgegenzutreten, wie wirdas bisher gemacht haben. Deutschland übernimmt Mit-verantwortung für die internationale Sicherheit, weil ineiner globalisierten Welt ein Wagenburgdenken – wirkapseln uns ab und schließen uns ein – nicht zu mehr Si-cherheit führt. Das ist ein völlig unrealistischer Ansatz.Die deutsche Außenpolitik hat eine große Kontinuitätaufzuweisen, über mehrere Regierungen hinweg. Neh-men Sie das Beispiel Afghanistan: Das ist ein Beleg da-für, wie wir internationale Verantwortung mit überneh-men, wie wir mit für internationale Sicherheit sorgen,damit Afghanistan, so hat es General Petraeus gesternals Ziel unserer Aufgabe beschrieben, nicht wiederRückzugsraum für den internationalen Terrorismus wer-den kann.
Die Übergabe in Verantwortung, auf die wir in Afgha-nistan jetzt gemeinsam zusteuern, ist natürlich abhängigvon den Fähigkeiten Afghanistans einerseits und derEntwicklung der Sicherheitslage im Land andererseits.Wir werden darüber im Zusammenhang mit den Fort-schrittsberichten der Regierung – der erste wird in neuerForm im Dezember vorgelegt – im Parlament zu disku-tieren haben.Mir kommt es darauf an, zu betonen, dass wir einegroße Kontinuität in der Außenpolitik haben, ausgehendvon dem Beschluss der damaligen rot-grünen Bundes-regierung, dass wir uns in Afghanistan engagieren, überdie jeweiligen Mandatsverlängerungen bis heute. Wennich diese Kontinuität erwähne, ist das gleichzeitig einAppell an diejenigen, die diese Politik seinerzeit einge-leitet haben und sich jetzt in der Opposition möglicher-weise einen schlanken Fuß machen wollen, weil sienicht bereit sind, die Verantwortung für die internatio-nale Sicherheit zu tragen. Das werden wir bei den weite-ren Diskussionen über die Mandatsverlängerungen, ins-besondere im Zusammenhang mit Afghanistan, sehen.Heute werden wir noch über Atalanta diskutieren. Da-bei geht es um die Pirateriebekämpfung vor Somalia,weil Somalia nicht in der Lage ist, die eigenen Küsten-gewässer zu schützen.Wir werden heute auch die Diskussion über die Mis-sion Althea in Bosnien führen. Auch hier zeigt sich, ge-nauso wie im Fall des Kosovo, die große Kontinuitätdeutscher Außenpolitik. Die damalige Interventionsent-scheidung, mit der NATO die Albaner im Kosovo vorden Serben zu schützen, war eine Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung, die von der Opposition unter-stützt worden ist. Wir sind heute noch dabei, mit denFolgen dieser richtigen Entscheidung so umzugehen,dass der Balkan in die Lage versetzt wird, sich selbsttra-gend zu stabilisieren. Eine Folge ist letztendlich auch– das ist das Versprechen aus dem Stabilitätspakt für denBalkan, das die Europäische Union gegeben hat –, dasseinmal alle Länder dieser Region der EuropäischenUnion beitreten können.Wir haben einen wichtigen Zwischenerfolg dahin ge-hend erreicht – da möchte ich dem Außenminister gratu-lieren –, dass Serbien – diesem Land fällt die Anerken-nung des Kosovo und die Kenntnisnahme der damitverbundenen Fakten nach wie vor sehr schwer – bei derVollversammlung der Vereinten Nationen auf einen Kursdes Dialogs mit der Europäischen Union über dieseFrage eingeschwenkt ist. Auch hier gibt es also einegroße Kontinuität deutscher Außenpolitik.Wer heute Morgen die Zeitung gelesen hat, der wirdfestgestellt haben, dass sich das Weltgeschehen nicht nurbei uns abspielt. Die Menschen in Asien machen sichSorgen vor einem neuen Korea-Krieg. Da haben wir alsDeutsche und als Europäer relativ wenige Möglichkei-ten, Einfluss zu nehmen. Einmal wieder schauen alleAugen auf Washington und in diesem Falle auch auf Pe-king.Wir haben darüber nachgedacht, was der Ausgang deramerikanischen Kongresswahlen für die Fähigkeit derAmerikaner bedeutet, sich außenpolitisch zu engagieren.Egal welche Schlussfolgerungen man da im Einzelnenziehen möchte, ist für mich eines klar: Die Europäerwerden im Zweifel eher mehr als weniger Verantwor-tung übernehmen müssen. Wir werden nicht alles auf dieAmerikaner abladen können, die jetzt auch bei der Lö-sung der Korea-Krise in starkem Maße gefordert sind.Eher mehr Verantwortung für Europa heißt natürlichauch: eher mehr Verantwortung für Deutschland.Das gilt auch mit Blick auf den Nahen Osten, wo dieEuropäer sicherlich nicht diejenigen sein können, die esden Palästinensern und Israelis leichter machen können,Frieden zu schließen. Aber wir können an dieser Stellehilfreich sein. Ich hoffe, dass die Verhandlungen in dennächsten drei Monaten zu einer Einigung über denGrenzverlauf führen; denn eine solche Einigung zwi-schen Israel und einem palästinensischen Staat würdeendlich die Abwärtsspirale stoppen, in der sich der Frie-densprozess spätestens seit Beginn der zweiten Intifadaim Jahre 2000 befindet.Lassen Sie mich noch etwas zum Iran sagen. Der Iranlegt – das wissen alle, die mit iranischen Politikern spre-chen – größten Wert darauf, dass er mit Würde und Res-
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pekt behandelt wird und dass man ihm auf Augenhöhebegegnet. Aber er muss sich dann auch entsprechendverhalten und zunächst die Menschenwürde der eigenenBürgerinnen und Bürger respektieren.
Dazu gehört, dass Wahlen so durchgeführt werden, dassdieser Respekt vor den eigenen Bürgerinnen und Bür-gern und ihrer Entscheidung zum Ausdruck kommt.Dazu gehört auch, dass die barbarischste Form der To-desstrafe, die Steinigung, ohne Wenn und Aber abge-schafft wird.
Natürlich darf die Steinigung von Frau Aschtiani nichtvollzogen werden. Wir fordern, dass sie einen fairenProzess bekommt.Was die beiden deutschen Journalisten angeht, willich an dieser Stelle Folgendes sagen: Es ist eigentlich einAkt der Selbstverständlichkeit, dass für sie die Möglich-keit besteht, sich zu Weihnachten mit ihren Familien zutreffen. Wenn sie eine Ordnungswidrigkeit begangen ha-ben sollten, dann muss dies in einem schnellen, geordne-ten und fairen Verfahren festgestellt und zu einem Ab-schluss gebracht werden, damit die beiden Journalistenmöglichst bald zurück in Deutschland sein werden.Zur Nuklearpolitik. Auch hier besteht eine großeKontinuität in der deutschen Außenpolitik. Die „EU-3plus 3“-Verhandlungen kommen jetzt wieder in Gang.Es wird darum gehen, vom Iran Garantien für eine dau-erhaft friedliche Ausrichtung seines Atomprogramms zubekommen.Als Erstes wird es um Transparenz gehen. DieseTransparenz liegt im eigenen iranischen Interesse. Dennmangelnde Transparenz birgt schon jetzt das Risiko,dass ein nukleares Wettrüsten in der Region einsetzt,weil die umliegenden Länder nicht genau wissen, wasder Iran tatsächlich im Schilde führt. Deshalb hoffe ichsehr, dass die Verhandlungen zu einem Erfolg führen.Der amerikanische Verteidigungsminister Gates hatgesagt: Die einzige langfristige Lösung, iranische Nu-klearwaffen zu vermeiden, ist die Einsicht des Iransselbst, dass Atomwaffen nicht in seinem Interesse lie-gen. – Die Sanktionspolitik soll diese Einsicht befördern,indem sie deutlich macht: Erstens. Iran isoliert sich.Zweitens. Die Weltgemeinschaft steht gegen dieses Pro-gramm. Drittens. Die politischen und moralischen Kos-ten werden durch die Sanktionen erhöht. Viertens. Wirmachen gleichzeitig ein Kooperationsangebot für denFall, dass der Iran seine Politik ändert.Letzter Satz. Als Parlamentarier – daran möchte ichausdrücklich festhalten – dürfen wir den Gesprächsfadenzum Iran auch weiterhin nicht abreißen lassen, trotz allerProbleme, die es im Augenblick gibt. Ich sage das des-halb, weil mich, wie wahrscheinlich viele andere Kolle-gen, viele Briefe und E-Mails erreicht haben, in denendie Reisen unserer Kollegen kritisiert wurden. Ich weisedas zurück. Die Reisen waren sinnvoll, und wir müssenauf diesem Weg weiterarbeiten, sonst werden wir im Irankeine Änderung der Politik mit diplomatischen bzw.politischen Mitteln erreichen. Denn dazu gehört auch derdirekte Kontakt zwischen Parlamentariern und ihrenCounterparts in Teheran.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-legin Marieluise Beck das Wort.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Polenz hat eben von einer Geißel der Mensch-heit gesprochen, dem totalitären Fundamentalismus. Esgibt eine zweite Geißel, mit der wir auch in diesen Tagenkonfrontiert werden; das ist die der atomaren Bewaff-nung und der Proliferation. Wenn uns die Nachrichtenvom neu aufbrechenden Konflikt zwischen Nordkoreaund Südkorea so beunruhigen, dann auch deshalb, weilwir wissen, dass wir es bei Nordkorea mit einem diktato-rischen Regime zu tun haben, das die Atomwaffe zurVerfügung hat.Wenn wir etwas weiter schauen und an die Debattevon heute Morgen denken und die Debatte über dieEnergieversorgung wirklich ernst nehmen, dann müssenwir uns klarmachen, dass Energiepolitik nicht nur Innen-politik, sondern auch Außenpolitik ist und dass es sogareine Steigerung der Geißel der atomaren Bewaffnunggibt. Dies hat mit der Energiepolitik zu tun. Denn wennweltweit der Weg in den Ausbau atomarer Energieeingeschlagen werden würde, würde das zweifellos alsnächste Etappe die Wiederaufbereitung bedeuten unddamit – das ist noch eine Spirale höher – das Zur-Verfü-gung-Stehen von Plutonium, und das in einer Welt, inder wir es mit Failed States und diktatorischen Regimenzu tun haben, bei denen wir nicht wissen, ob sie überihre destruktive Kraft nach außen hinaus sogar zurSelbstdestruktion bereit sind, sodass jeglicher Schutz fürein internationales Zusammenleben entfallen würde.Insofern sind die Atomenergie und – daran gekoppelt –die Plutoniumwirtschaft ein zentraler Punkt, wenn wirinternational und in Strategien denken, mit denen wiruns von den Geißeln der Menschheit befreien können.
Dass im Fall von Nordkorea und Südkorea die USA,Russland und China – hoffentlich gemeinsam – agierenund die USA und Russland China dabei überzeugen– wir wissen, dass es den Haupteinfluss auf Nordkoreahat –, ist gut.Ich bin damit noch einmal beim Gipfel von Lissabon.Es ist in der Tat ein gutes Signal, wenn das Ende desKalten Krieges ausgerufen wird, obwohl ich meine, wirsollten Präsident Gorbatschow gegenüber etwas fairersein. Wir würden nicht hier in diesem Haus sitzen, wenn
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Marieluise Beck
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es das Ende des Kalten Krieges nicht schon gegebenhätte, ein Ende, das viel mit der wunderbaren Politik vonPräsident Gorbatschow zu tun gehabt hat. Nichtsdesto-trotz begrüßen wir uneingeschränkt jeden Schritt in derKooperation mit Russland. Ich sage das als jemand, diesehr viel in Russland ist, die eine kritische Begleiterindieses Landes ist, die sehr viele enge Verbindungen indieses Land hat.Die Jubelschlagzeilen aus Lissabon bedürfen einergenaueren Betrachtung. Denn sowohl in den USA alsauch in Russland ist nicht klar, ob es weiterhin eine in-nenpolitische Deckung für einen Entspannungskursgeben wird. Ich nenne die gruselige Tea-Party-Bewe-gung in den USA, die Obamas Spielräume einengt. Auchbei Russland wissen wir nicht, ob Medwedew Präsidentbleiben wird und ob Ministerpräsident Putin seinen Ent-spannungskurs wirklich deckt.Wie sieht das Ost-West-Verhältnis derzeit aus? Tat-sächlich gibt es in Teilen der russischen Bevölkerungnach wie vor ein Gefühl der Bedrohung durch dieNATO. Teile der Militärs und auch der Politik denkennoch in Bedrohungskategorien. Es gibt den Begriff derEinkreisung durch die NATO, wobei manchmal nichtganz klar ist, wo dieser Begriff instrumentalisiert und wosolch eine Einkreisung ernsthaft empfunden wird. DieÜberwindung dieser Gräben kann man jedenfalls nurdurch ständige Kommunikation und Transparenz schaf-fen.
Wir als Deutschland müssen die kleinen Länder zwi-schen den ehemaligen Blöcken im Blick behalten, dieleidvolle historische Erfahrungen gemacht haben, auchdurch das niederträchtige Zusammenwirken von Hitlerund Stalin. Wir müssen ihnen zugestehen, dass sie unterdas Dach der NATO gestrebt sind. Hier gibt es einen ers-ten wichtigen Punkt in der Auseinandersetzung mitRussland: Wir müssen Russland unmissverständlichklarmachen, dass es ein souveränes Recht auf Entschei-dung gibt und dass die Kategorie des „nahen Auslands“,wie sie von Russland verwandt wird, zu diesem Rechtvon souveränen Staaten nicht passt.Ich füge hinzu: Es ist auch keine vertrauensbildendeMaßnahme, dass die konsentierte OSZE-Mission nachwie vor nicht in Südossetien auftreten darf. Das ist nichtin Ordnung. Hier wäre ein erster Schritt, mit dem Russ-land zeigen kann und muss, wie ernst man es dort mitder Entspannungspolitik und der Politik der Gemeinsam-keiten meint.
Die NATO ist mehr als ein Militärbündnis. Sie ist eineGemeinschaft demokratischer Staaten. Das führt zuschmerzhaften Prozessen im Westen. Wir haben politischdie Verantwortung, dass dieser schmerzhafte Blick ge-wagt wird. Ich nenne Verfehlungen innerhalb der NATOwie CIA-Geheimgefängnisse, Foltervorwürfe und denSchandfleck Guantánamo. Aber dieser kritische Blick aufdie demokratischen Grundsätze des eigenen Militärsmuss auch für den zukünftigen Partner Russland gelten.Präsident Kadyrow hat in unglaublicher Offenheit ineinem Interview, das die taz vor zwei Tagen dankens-werterweise abgedruckt hat, ganz unmissverständlichgezeigt, womit wir es in Russland auch zu tun haben,nämlich mit einem Präsidenten, der, angesprochen aufdie Überfälle in Tschetschenien, sagt:Mein Heimatdorf Zentoroi ist ein sehr sicherer Ort.Wer reingeht, kommt nicht mehr raus.Weiter:So war es auch beim Überfall auf das Parlament.Ein paar Dutzend sind übrig, die werden wir auchausschalten. Das können wir gut.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist kein Partnerfür unsere Politik. Es muss sich noch unendlich viel be-wegen, damit wir auch im Bereich der Militärs tatsäch-lich eine Partnerschaft mit Russland haben.
Es gibt auch in Bezug auf die innere Verfasstheit desrussischen Militärs viel zu tun. Das sieht man, wenn mansich mit den Müttern der Soldaten in Sankt Petersburgtrifft. Diese haben sich zusammengetan, weil es einegroße Zahl von Selbstmorden von jungen Menschen imrussischen Militär als Folge der ritualisierten Gewalttä-tigkeit gibt. Das alles muss angegangen werden. Diesdarf es beim Militär in demokratischen Staaten nicht ge-ben. Darauf muss die NATO achten. Ich sage noch ein-mal: Auch wenn die NATO und ihre Mitgliedsländer vondem Weg abweichen, haben wir die Verpflichtung, sieimmer wieder zurückzuholen. Das muss eine unmissver-ständliche Basis sein: Willkür passt nicht zu demokrati-schen Staaten.
Ich möchte zum Schluss noch ganz kurz auf dasThema Terrorismus eingehen. Hier gibt es tatsächlicheine schicksalhafte Verbindung zwischen Russland unddem Westen. Keiner von uns ist davon unberührt. Das ha-ben die Festnahmen gestern gezeigt. Wenn Belgier, Nie-derländer, Marokkaner, russische Staatsangehörige undtschetschenische Kämpfer zusammen festgenommenwerden, wissen wir, dass wir in einem Boot sitzen.Es geht um den Kampf eines totalitären Denkens ge-gen die Grundwerte von Aufklärung und Humanität,Werte des Westens, die aber auch für Russland gelten.Wenn wir diesem totalitären Denken gemeinsam aufGrundlage der wundervollen Werte, die die Würde desMenschen bewahren, gemeinsam entgegenwirken, dannhaben wir einen guten roten Faden für die nächstenJahre.Schönen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Karl-Georg
Wellmann für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-finden uns gegenwärtig in einer Phase großer internatio-naler Konferenzen: des G-20-Gipfeltreffens in Korea,des NATO-Gipfels in Lissabon und des OSZE-Gipfels inAstana, der in der nächsten Woche stattfindet. Bei alldiesen Gipfeltreffen spielen die Amerikaner eine we-sentliche Rolle. Deshalb ist die enge Zusammenarbeitzwischen uns und den Amerikanern so wichtig. Sie istfür uns von existenziellem Interesse. Das hat mit unsererSicherheit und mit der Tatsache zu tun, dass wir poten-ziellen Bedrohungen ausgesetzt sind, gegen die wir unsalleine nicht verteidigen könnten. Das hat aber auch vielmit gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Ge-schichte zu tun. Ich sage das ausdrücklich als jemand,der in Westberlin aufgewachsen ist und nicht vergessenwird, dass es die Amerikaner waren, die gewährleistethaben, dass wir in einer freien Welt leben und aufwach-sen konnten und nicht Teil von Ulbrichts oder HoneckersSpießerdiktatur wurden.
Wir wissen, dass wir diese Freundschaft pflegen müs-sen. Europa ist nicht mehr der zentrale Bezugspunkt derAmerikaner. Das ist inzwischen eher der pazifischeRaum, sind eher Indien und China. Wer die Wahlen inAmerika vor zwei Jahren erlebt hat, konnte geradezukörperlich spüren: Außenpolitik spielte überhaupt keineRolle; alles drehte sich um Wirtschaft und Arbeitsplätze.Vor diesem Hintergrund war die Botschaft, die PräsidentObama nach dem NATO-Gipfel ausgesandt hat, einegute Botschaft. Sie machte deutlich, dass er von einerengen Zusammenarbeit zwischen Europa und den USAausgeht. Er sagte, dass die Partnerschaft mit den europäi-schen Verbündeten ein Eckpfeiler des amerikanischenEngagements ist.Durch den Sieg der Republikaner bei den MidtermElections vor drei Wochen wurde die Rolle des amerika-nischen Parlaments gestärkt. Ob uns das Wahlergebnisgefällt oder nicht, es wird für Präsident Obama jeden-falls nicht einfacher. Wir, die wir hier sitzen, müssen ge-rade auf parlamentarischer Ebene den Austausch mit denAmerikanern suchen:
weil viele neue Abgeordnete in den Kongress eingezo-gen sind, weil es unter den Wahlsiegern auch populisti-sche Tendenzen gibt und dies nicht zu isolationistischenReflexen führen darf, weil die Ratifikation des START-Vertrages gefährdet ist und weil unser Standpunkt, dassder Iran-Konflikt nur mit friedlichen Mitteln gelöst wer-den kann, richtig bleibt.
Es ist unser aller Anstrengung wert, dass unser Stand-punkt im Hinblick auf die Bedeutung des Bündnissesauch dem neu gewählten Senator aus Illinois oder demCongressman aus dem mittleren Westen vermittelt wird.Das transatlantische Bündnis hat uns Deutschen Si-cherheit, Stabilität und Wohlstand garantiert und wirddies auch zukünftig tun. Deshalb dürfen wir nicht nurseine Vorteile in Anspruch nehmen, sondern müssenauch Verantwortung übernehmen; Ruprecht Polenz hatdarauf hingewiesen. Das gilt auch mit Blick auf Afgha-nistan. Die aktuelle Sicherheitslage in unserem Landzeigt, wie wichtig es ist, den Terrorismus, wo es möglichist, an seinem Ursprung und nicht bei uns zu Hause zubekämpfen.Das gilt auch für unsere Verantwortung im Rahmeninternationaler Missionen, etwa der Operation Atalantaam Horn von Afrika. Dieser Mission haben auch dieGrünen zugestimmt. Deshalb finde ich die Diskussionenüber Handelskriege, die hier angeblich geführt werden,völlig absurd. Der Kollege Trittin regt sich immer beson-ders schön künstlich auf und behauptet, irgendjemandsei darauf aus, Kriege zur Durchsetzung von Handelsin-teressen zu führen.
– Herr Ströbele, mit dieser Behauptung hat der KollegeTrittin schon dem Ansehen des früheren Bundespräsi-denten schweren Schaden zugefügt.
Unsere Aktion am Horn von Afrika ist keine sozialpoliti-sche Aktion, sondern wir schützen unsere Handelsrou-ten. Was denn sonst?
Darf ich daran erinnern, dass unser Wohlstand und vorallem 9 Millionen Arbeitsplätze in der Exportwirtschaftvon unserem Außenhandel abhängen?
Als Gewerkschaft würde ich gegen den Unsinn, denTrittin da erzählt hat, mobil machen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8105
Karl-Georg Wellmann
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Ich habe mir heute früh einmal etwas angetan und re-cherchiert, wie die Linkspartei zum westlichen Bündnissteht, Herr Gehrcke.
Da liest man: Linkspartei will die Auflösung der NATO.– Ein Mitglied Ihres Bundesvorstands fordert – wörtlich –die Auflösung des Kriegsbündnisses NATO. Es meint,sie sei ein kriegerisches Bündnis und für den Terror ver-antwortlich.
Jeder weiß – Sie bestätigen das –: Würde die NATO auf-gelöst, wäre das das Ende der nordatlantischen Partner-schaft; denn die NATO ist das Herzstück dieser Partner-schaft.
Erst vor 14 Tagen hat die Vorsitzende der Linkspartei,Frau Lötzsch, hier an dieser Stelle eine Rede gehalten, inder sie diesen ganzen lebensgefährlichen Unsinn wieder-holt hat. Das Gegenteil ist richtig: Die NATO ist das er-folgreichste Bündnis der Geschichte. Das hat Obamaletzte Woche in der New York Times geschrieben, und erhat recht.
Im Internet wird man zu den Positionen der Linkenrichtig fündig. Einer der DDR-Mullahs war lange Ehren-vorsitzender Ihrer Partei und ist heute Vorsitzender IhresÄltestenrats, Herr Modrow. Im Internet finden Sie wun-derbare Zitate von ihm. Er spricht von den Kriegsplänendes NATO-Staates Bundesrepublik damals gegen seinefriedliebende DDR. Wohlgemerkt, das hat er nicht nurdamals behauptet – damals sowieso –, sondern er hat esheute wiederholt. Ihr Ehrenvorsitzender der Linksparteiwar es, der unser Engagement in Jugoslawien, das, mitVerlaub, von einem Grünen-Außenminister verantwortetwurde, mit dem Einmarsch Hitlers in die Tschechoslo-wakei gleichgesetzt hat. Dieses Gerede werden wir nichtvergessen. Das verspreche ich Ihnen.
Ich kann mich noch gut an die Begeisterung der DKP-ler erinnern, die jetzt bei Ihnen, Herr Gehrcke, in derFraktion sitzen, als die Sowjetunion in Afghanistan ein-marschiert ist. Ich kann mich auch noch gut an dieSpruchtafeln erinnern, die damals in der DDR auftauch-ten:
Waffenbrüderschaft, Klassenbrüderschaft. – Das habenwir gelesen. Solange Sie diesen politischen Giftmüll imKeller haben, fehlt Ihnen jede Regierungsfähigkeit,meine Damen und Herren von den Linken.
Herr Kollege Wellmann, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Gehrcke?
Nein, jetzt nicht.
– Ich weiß, dass Ihnen das unangenehm ist, aber ich sagees trotzdem.
Ich wundere mich ein bisschen darüber, dass die Grü-nen dazu nicht klatschen, kann Ihnen aber gerne erklä-ren, warum. Auch ihre Jugendorganisation, die GrüneJugend, ist für die Auflösung der NATO.
In Berlin ist die Grüne Jugend für eine Koalition mit derLinkspartei: grün-dunkelrot. Da muss Frau Künast ein-mal erklären, mit wem sie in Berlin zukünftig regierenwill.
Von Lissabon sind wichtige Signale der Entspannungund Abrüstung ausgegangen. Vor allem ist die richtigeBotschaft nach Moskau gegangen, nämlich dass Sicher-heit nicht gegen Russland zu erreichen ist, sondern nurmit Russland. Auch die Bundeskanzlerin hat es heutefrüh gesagt: Wir sehen die Russen nicht mehr als Feinde,sondern als Partner.Übrigens, Herr Gehrcke: In russischen Regierungs-zeitungen ist im Moment sehr viel Nachdenkliches überdie NATO zu lesen. Darin steht wörtlich, sie habe ihrenMitgliedern Frieden, Wohlstand und Stabilität gebracht.Das müsste doch Ihr Weltbild durcheinanderbringen.Sie, der Sie auf der Parteihochschule Moskau gewesensind, haben früher auf die Genossen gehört. Dann hörenSie doch auch heute auf die Genossen in Moskau!
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8106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
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Herr Kollege Wellmann, auch Herr Kollege Nouripour
würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich will zum Ende kommen.
– Dass Sie so toben und schreien, ist ein Beispiel dafür,
dass ich Sie getroffen habe. Das ist doch eine wunder-
bare Bestätigung.
Lissabon war ein Schritt vorwärts in Richtung mehr
Sicherheit. Dass die Russen in Person ihres Präsidenten
teilgenommen haben, war vor allem auch ein Verdienst
der Bundeskanzlerin. Sie vor allem hat Vertrauen aufge-
baut und Medwedew überzeugt, dass es sich lohnen
würde, an dem Gipfel teilzunehmen.
Wir haben ein nachhaltiges Interesse an der Einbin-
dung Russlands. Wir haben kein Interesse an einem
schwachen Russland. Wir brauchen Russland bei der
Rüstungskontrolle, der Nichtverbreitung und Bekämp-
fung des Terrorismus, bei der Klimapolitik und vielem
anderen mehr. Das Vertrauen, das jetzt in Lissabon auf-
gebaut worden ist, darf nicht dadurch beschädigt wer-
den, dass der START-Vertrag im Kongress scheitert.
Lassen Sie mich auf den Ausgangspunkt meiner Rede
zurückkommen: Lassen Sie uns alle im Dialog mit unse-
ren amerikanischen Kollegen daran mitwirken, dass die
von Obama und der Bundeskanzlerin betriebene Ent-
spannungs- und Abrüstungspolitik fortgesetzt wird.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Gehrcke.
Herr Wellmann, Sie sind selber schuld, dass ich jetzt
alles erklären muss. Sie hätten es anders haben können.
Ich fand das schon ein bisschen paradox. Ich gebe zu,
dass ich lange gebraucht habe, um mich davon zu lösen,
alles gut zu finden, was Russland macht bzw. die
Sowjetunion gemacht hat. Dass Sie mir jetzt empfehlen,
dass ich alles gut finden soll, was Russland heute zur
NATO sagt, finde ich ein bisschen unhistorisch.
Akzeptieren Sie: Es gibt hier Bewegung. Da Sie jetzt al-
les begrüßen, was die NATO macht, kann ich Ihnen Fol-
gendes empfehlen: Fangen Sie einmal an, ein bisschen
kritisch nachzudenken. Dann lösen auch Sie sich davon
und werden auch Sie nicht alles gut finden, was Russ-
land macht. Hier kann man sich ja bewegen.
Ähnliches gilt in Bezug auf Afghanistan. Ich finde es
immer bemerkenswert, wenn die falschen Argumente,
die ich gebraucht habe, heute von anderen Seiten wie-
derholt werden. Man kann geschichtlich nicht alles
gleichsetzen; das ist völlig klar. Ich kenne die Argu-
mente von früher, als auch ich leider argumentiert habe:
Die Sowjetunion ist in Afghanistan einmarschiert, um
das Mittelalter zu überwinden. – Völlig falsch! Die So-
wjetunion ist einmarschiert, um die Menschen dort zu
befreien. – Völlig falsch! Die Sowjetunion ist einmar-
schiert, um die Frauen in Afghanistan zu befreien. –
Völlig falsch! Es waren imperiale Gründe. Ich finde,
man sollte heute nicht den gleichen Unsinn seitenver-
kehrt wiederholen. Wenn man das tut, dann hat man aus
der Geschichte nun wirklich überhaupt nichts gelernt.
Wir alle sollten so couragiert sein, etwas aus der Ge-
schichte – auch aus der eigenen – zu lernen.
Letzter Punkt: Man kann an Herrn Modrow, der
Ministerpräsident der DDR war, gewiss viel Kritik üben.
Er weiß, dass das auch in unserer Partei der Fall ist. Er
hat aber seinen Beitrag dazu geleistet, dass die Vereini-
gung Deutschlands friedfertig und nicht mit viel Gewalt
verlaufen ist. Ich finde, auch Ihre Partei müsste sich ein-
mal einen Ruck geben, das auch hier im Parlament zu
würdigen und zu sagen, dass sie das bei allen Differen-
zen anerkennt. Der Kalte Krieg ist vorbei, die DDR gibt
es nicht mehr – man kann zu einem anderen Umgang
miteinander kommen.
Sie haben das nicht geschafft; aber es war ein bisschen
erheiternd und ermunternd, hier wieder einmal Antikom-
munismus pur zu erleben. Ich habe das, ehrlich gesagt,
schon vermisst, weil es dazu so lange nicht gekommen
ist.
Schönen Dank für Ihren Beitrag.
Zu einer weiteren Kurzintervention hat die KolleginMarieluise Beck das Wort.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Kollege Gehrcke, Sie reklamieren hier, dass Siesich bewegt haben und dass Sie gelernt haben. Dass mandas kann, ist richtig und muss jedem von uns zugestan-den werden.Weil Sie aber beim Thema Afghanistan ein zweitesMal diese Figur bemühen, wobei Sie Äpfel und Birnenmiteinander vergleichen – das wäre ja noch ein harmlo-ser Vergleich; Ihr Vergleich ist nicht so harmlos –, habenSie anscheinend doch nichts gelernt. Ich will Ihnen auchsagen, warum. Da Sie die Intervention bzw. den Ein-marsch der russischen Armee, die das afghanische Land
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8107
Marieluise Beck
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bis in den letzten Winkel vermint hat und unendlichviele Tote und Millionen von Flüchtlingen zu verantwor-ten hat, von denen viele bis heute nicht zurückgekehrtsind, mit einem UN-mandatierten Einsatz vergleichen,an dem sich 43 Nationen quer durch alle Lager dieserWelt beteiligen, haben Sie nichts gelernt. Das möchte ichhier doch noch einmal festhalten.
Herr Kollege Wellmann, bitte.
Herr Kollege Gehrcke, zu Afghanistan hat die Kolle-
gin Beck schon das Richtige gesagt. Sie haben immer
noch Mühe, einen Einmarsch der Sowjetunion und ein
Engagement der internationalen Staatengemeinschaft
auseinanderzuhalten. Das finde ich sehr bedauerlich.
Zu Herrn Modrow ließe sich viel sagen. Er war
16 Jahre einer der führenden Funktionäre des DDR-Sys-
tems, Parteichef in Dresden und damit einer der wich-
tigsten Männer, der auch gesagt hat, der Bau der Mauer
habe zum Frieden beigetragen.
Solche Leute sind bei Ihnen nach wie vor Ehrenvorsit-
zende, 16 Jahre.
Deshalb sage ich: Sie haben Giftmüll im Keller, und Sie
sind nicht regierungsfähig.
Ein Letztes. Ich sage es gern noch einmal: Das Nord-
atlantische Bündnis – das haben wir aus dem furchtba-
ren 20. Jahrhundert gelernt – ist Teil der deutschen
Staatsräson. Es gewährleistet uns Sicherheit, Sicherheit
in Gemeinschaft mit der atlantischen Staatengemein-
schaft. Diejenigen, die dieses Bündnis auflösen wollen,
gefährden die Sicherheit. Damit werden wir nie überein-
stimmen.
Nun hat die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul für
die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eine Haushaltsdebatte ist auch Anlass, sich über die Per-spektiven und die operativen Schritte deutscher Außen-politik zu vergewissern. Wir meinen, angesichts derKonflikte weltweit müssen diese Perspektiven und dieoperativen Schritte bei Vorrang für Abrüstung, Vorrangfür politische Lösungen für die schweren Konflikte aufder Welt und bei der Verringerung der Gewaltpotenzialeund Gewaltinstrumente liegen. Deshalb möchte ich michin meinen Ausführungen auf vier Punkte konzentrieren:auf die Notwendigkeit atomarer Abrüstung, auf die Ver-hinderung des Transfers von Kleinwaffen, auf dasVerbot von Streumunition und auf eine notwendige par-lamentarische Transparenz bei Waffenexportentschei-dungen.Nimmt man die Haushaltszahlen – der KollegeBrandner hat das sehr deutlich dargestellt – als konkre-ten Maßstab, muss man übrigens feststellen, dass die-selbe Bundesregierung, die am 12. Oktober große Ver-antwortung in Form des Sitzes im UN-Sicherheitsratübernommen hat, massive Einsparungen auf den wich-tigsten Feldern der internationalen Friedens- und Sicher-heitspolitik plant. Das ist ein eklatanter Widerspruch zuder eingegangenen Verpflichtung.
Zu den angesprochenen Punkten. Erstens: atomareAbrüstung. Außenminister Westerwelle hat vor demNATO-Gipfel den Mund vollgenommen, und er hat sichnicht durchgesetzt. Das muss er hier auch offen einräu-men. Sein Kollege Jean Asselborn aus Luxemburg hatgesagt: Westerwelles Abrüstungsinitiative war ein Miss-erfolg. Die NATO hat auf dem Gipfel keine klare Festle-gung getroffen, ob und wie sie die Atomwaffen inEuropa abbauen will.Wir sagen: Die NATO braucht nach unserer Überzeu-gung keine Atomwaffen. Dieses Abschreckungskonzeptdes Kalten Krieges gehört seit 20 Jahren der Vergangen-heit an. Deshalb müssen auch die taktischen Atomwaf-fen vom Boden Europas zurückgezogen werden.
Das wäre auch ein Impuls für den weltweiten nuklearenAbrüstungsprozess. Wir erinnern uns: Die UN hat für dieZeit der UN-Sicherheitsratspräsidentschaft gefordert, imNahen Osten eine Zone frei von Massenvernichtungs-waffen zu verwirklichen.
Es gilt zweitens, den illegalen und legalen Transfersogenannter Kleinwaffen, zumal nach Afrika, zu ver-hindern. In den Händen von Gewaltgruppen werden siegenutzt, um Kinder als Soldaten zum Töten zu missbrau-chen. Kinder sollen aber lernen, Stift und Computer zunutzen, um für das Leben und nicht für das Töten zu ler-nen. Im Jahr 2012 findet die UN-Überprüfungskon-ferenz zum Kleinwaffen-Aktionsprogramm statt. Ab
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8108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Januar 2011 ist Deutschland Mitglied im UN-Sicher-heitsrat. Ich möchte gerne hier und heute wissen: Waswill die Bundesregierung? Was wollen Sie tun und ini-tiieren, damit diese Konferenz ein Erfolg wird und ille-galen Waffenhändlern endlich das Handwerk gelegtwird?
Drittens. Am 1. August 2010 ist das völkerrechtlicheVerbot von Streumunition in Kraft getreten. Das ist derwunderbare Erfolg einer Initiative von Regierungen,aber auch der Zivilgesellschaft. Die Konvention wurdefür Deutschland noch von Außenminister Frank-WalterSteinmeier unterzeichnet. Jetzt geht es um die praktischeUmsetzung. Es geht um ein konkretes Aktionspro-gramm. Es geht darum, dass diese Konvention die Re-gierungen verpflichtet, Opferfürsorge zu leisten. HerrWesterwelle, Sie haben in Ihrem Haushalt die Mittel fürdie Opferfürsorge gekürzt, statt sie auszubauen, was not-wendig gewesen wäre. Streubomben töten und verstüm-meln noch lange nach ihrem Einsatz. Man kann davonausgehen, dass die tatsächliche Anzahl von Opfern welt-weit bei etwa 85 000 liegt. Dabei sind vor allem Kinderbetroffen. Deshalb fordern wir, dass die notwendigenVerpflichtungen tatsächlich umgesetzt werden.
Ich komme zum letzten Punkt. Als langjähriges Mit-glied des Bundessicherheitsrates und aus langjährigerund in dem Fall leidvoller Erfahrung dieser Zeit plädiereich dafür: Schluss mit der Geheimwirtschaft bei Waffen-exporten.
Die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklungder evangelischen und katholischen Kirche hat gefor-dert, dass der deutsche und der internationale Rüstungs-export endlich in öffentliche kontroverse DebattenEingang finden. Die Rüstungsexportpolitik muss der tat-sächlichen parlamentarischen Kontrolle unterliegen; dienachträgliche Information des Deutschen Bundestagesreicht nicht aus. Das ist meine Erfahrung aus der Arbeitdort.
Das ist umso wichtiger, als die Koalition von Schwarz-Gelb in ihren Koalitionsvereinbarungen festgelegt hat,dass sie die restriktive Rüstungsexportpolitik, die Rot-Grün in den Grundsätzen verankert hatte, zugunsten ei-ner angeblich verantwortungsvollen Rüstungsexport-politik aufgeben will. Die Gemeinsame Konferenz Kir-che und Entwicklung sieht die Konsequenz daraus in dervorrangigen Ausrichtung der skizzierten Rüstungs-exportpolitik der neuen Bundesregierung an außenwirt-schaftlichen und industriepolitischen Gesichtspunktenund in der Vernachlässigung friedens- und entwicklungs-politischer Dimensionen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Außenminis-ter, wenn Sie, weil Sie bei der Bundeswehr in unseremLand Umstrukturierungen und Einsparungen vorneh-men, den Finanzausgleich durch mehr Waffenexporte indie Welt herstellen wollen, dann exportieren Sie neueKonflikte und Gefahren in die Welt, statt Gefahren zumindern. Das ist unverantwortlich und hochgefährlich.Wir warnen ausdrücklich davor.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen,Dr. Guido Westerwelle.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich möchte vorab zwei Bemerkungen machen.Zunächst einmal möchte ich mich sehr herzlich bei denBerichterstattern bedanken. Sehen Sie es mir bitte nach,dass ich mich, ohne die anderen Kollegen zurücksetzenzu wollen, besonders bei dem Hauptberichterstatter,Herrn Frankenhauser, bedanke. Ich bitte Sie, ihm auchmeine persönlichen Genesungswünsche zu übermitteln.Ich weiß, dass er gerne an dieser Debatte teilnehmenwürde. Herzlichen Dank für diese Arbeit!
Meine zweite Vorbemerkung richte ich an FrauWieczorek-Zeul. Es hat schon etwas Satirisches, wennman elf Jahre lang Verantwortung für die Angelegenhei-ten des Bundessicherheitsrates gehabt hat
und dann nach wenigen Monaten in der Opposition die-jenigen, die jetzt regieren, auf die Anklagebank setzt,obwohl man selber nichts zustande gebracht hat.
Ich muss Ihnen sagen, Frau Wieczorek-Zeul: Elf Jahrelang saßen Sie da. Wenn Sie sagen, diese Regierungschraube die Waffenexporte nach oben, und das hier alsKulisse aufbauen, dann darf ich einmal auf Folgendesaufmerksam machen: Jede Waffe, die derzeit ins Aus-land exportiert wird, wurde nicht von dieser Regierungprojektiert, sondern im Schnitt in den sieben Jahren vonRot-Grün. Das geht nämlich nicht von jetzt auf gleich.Das, was Sie hier heute beklagen, liegt also in Ihrer Ver-antwortung. Das ist abenteuerlich.
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Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
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Meine Damen und Herren, Deutschland ist vor weni-gen Monaten in den Sicherheitsrat der Vereinten Na-tionen gewählt worden. Das ist ein Erfolg der deutschenAußenpolitik; aber es ist noch viel mehr ein ErfolgDeutschlands in der Welt. Es ist ein Vertrauensbeweis.Es zeigt, welches hohe Ansehen wir haben. Noch nie-mals musste sich Deutschland einer solchen Abstim-mung stellen, in der es mehr Kandidaten als Plätze gab.Wir haben uns im ersten Wahlgang in einer geheimenAbstimmung mit einer Zweidrittelmehrheit gegen sehrrespektable Kandidaten durchgesetzt. Das zeigt, dass dasAnsehen Deutschlands in der Welt hoch ist. Daran habensehr viele Anteil, aber auch die Regierung. Ich denke,bei allem, was eine Opposition immer mäkeln muss,könnten Sie dies auch anerkennen. Wir können stolz seinauf das Ansehen, das Deutschland in der Welt genießt.
Natürlich geht es im Sicherheitsrat der Vereinten Na-tionen besonders um die Frage der Konfliktpräventionund der Konfliktlösungen. Die Welt ist alles andere alsfriedlich. Deswegen will ich an dieser Stelle klar zumAusdruck bringen: Wir sind sehr besorgt über die gestri-gen Vorfälle auf der koreanischen Halbinsel. Den nord-koreanischen Artillerieangriff auf die Insel Yeonpyeongverurteilen wir scharf. Eine solche Aggression ist durchnichts zu rechtfertigen. Die internationale Staatenge-meinschaft lässt sich nicht erpressen. Wir fordern Nord-korea auf, das Waffenstillstandsabkommen zu beachtenund zu völkerrechtsmäßigem Handeln zurückzukehren.Deshalb hat das Auswärtige Amt heute den nordkoreani-schen Botschafter einbestellt. Die besonnene Reaktiondes südkoreanischen Präsidenten Lee begrüßen wir aus-drücklich. Ich darf darauf setzen, dass das die Haltungnicht nur der Regierung, sondern des ganzen Hauses ist.
Es gibt viele regionale Konflikte, und wir werden inden nächsten beiden Jahren im Weltsicherheitsrat eineMenge Arbeit haben. Wir werden uns in Kürze mit demSudan befassen. Wir haben im Auswärtigen Ausschussausführlich darüber gesprochen. Heute Abend werdenwir uns mit den Mandaten auseinandersetzen. Wir wis-sen, dass das auch in einem Zusammenhang mit regiona-ler Instabilität steht. Somalia, die Probleme im Jemen,das ist uns allen hier bekannt. Wir können auf die De-batte am heutigen Abend verweisen.Zwei Bereiche möchte ich aber besonders herausgrei-fen. Das ist zum einen der Nahe Osten. Wir befindenuns in einer sehr wichtigen und sehr schwierigen Ent-scheidungsphase, was die wiederaufgenommenen direk-ten Friedensgespräche angeht. Die Bundesregierung ap-pelliert an alle Beteiligten, alles zu unterlassen, wasdiese ohnehin schwierigen Friedensgespräche gefährdenkönnte. Wir setzen darauf, dass eine Zweistaatenlösungvon allen Beteiligten forciert wird und dass in dieseRichtung verhandelt wird. Israels Sicherheit ist für unsnicht verhandelbar. Aber auch die Palästinenser habenein Recht darauf, in einem eigenen Staat selbstbewusstleben zu können. Ich habe den Gazastreifen besucht;denn Gaza ist Teil einer Zweistaatenlösung. Wir appel-lieren an alle, die es angeht, erstens auf Gewalt zu ver-zichten, aber zweitens auch zuzulassen, dass die Bürge-rinnen und Bürger in Gaza in vollem Umfange wieder inden Handelsaustausch mit ihrer Umgebung eintretenkönnen. Import und Export müssen wieder zugelassenwerden.
Der zweite Bereich, den ich in diesem Zusammenhangansprechen möchte, ist Iran. Wenn man hier vor einemJahr über Iran gesprochen hat, dann ist die Frage gestelltworden: Schafft es die internationale Politik, eine ge-meinsame Haltung der Völkergemeinschaft zustande zubringen? Genau das ist uns gelungen. Das ist nicht alleinder Erfolg der deutschen Bundesregierung und deutscherAußenpolitik. Es ist auch dem umsichtigen und vor allenDingen auch klugen und abgewogenen Verhalten vielerBeteiligter in der Welt geschuldet. Wir haben auf vielenKonferenzen Russland und China überzeugen können, imSicherheitsrat mit uns gemeinsam zu stimmen.Wir haben in Europa im Kreis der 27 Mitgliedstaatendafür gesorgt, dass die Sanktionen gemeinsam getragenwerden. Das hat vor wenigen Monaten niemand fürmöglich gehalten. Das zeigt: Die Welt ist in Bewegung,und die Welt will nicht zusehen, dass sich der Iran ato-mar bewaffnet. Eine atomare Bewaffnung des Irans istfür die internationale Völkergemeinschaft nicht akzepta-bel; das können wir nicht akzeptieren. Deswegen brau-chen wir eine geschlossene Haltung der internationalenVölkergemeinschaft in diesem Zusammenhang. Ich be-grüße, dass es zu dieser geschlossenen Haltung gekom-men ist.Wir wollen nicht, dass sich immer mehr Staaten ato-mar bewaffnen. Dabei geht es nicht um irgendwelchefernen Regionen, sondern um unsere Sicherheit hier inDeutschland. Je mehr Staaten sich atomar bewaffnen,desto instabiler wird die Welt und desto größer ist dieGefahr, dass Terroristen Zugriff auf Nuklearwaffen be-kommen. Man mag sich gar nicht ausmalen, welch eineGefährdung das für die Menschheit darstellte. Deswegensetzt die Bundesregierung auf nukleare Nichtverbreitungund auf Abrüstungspolitik. Es sind zwei Seiten dersel-ben Medaille.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Malczak?
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Bitte schön.
Herr Minister, Sie haben meine vollste Unterstützungfür diesen Satz, den Sie schon häufiger gesagt haben.Auch die Kanzlerin hat heute in der Debatte betont, dass
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8110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Agnes Malczak
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die Proliferation von Massenvernichtungswaffen eine dergrößten Gefahren auf der Welt darstellt. Deshalb möchteich Ihnen die Frage stellen, warum dann die Haushalts-mittel für Abrüstung von 61 Millionen auf 41,8 Millio-nen, also um rund ein Drittel, gekürzt werden. Als wir Siedas in den Ausschüssen gefragt haben, haben Sie daraufhingewiesen, dass zum Beispiel die mit Russland verein-barten Projekte zur Vernichtung von Chemiewaffen aus-laufen. Aber gerade weil die Proliferation von Massen-vernichtungswaffen ein so großes Problem ist, reicht derHinweis auf auslaufende Projekte zur Begründung nichtaus. Es gibt mehr als genug andere mögliche Projekte zurVernichtung von Waffen, ob es sich dabei um Streumuni-tion, Chemiewaffen oder andere Waffentypen handelt. Auchim nuklearen Bereich gibt es zahlreiche unterstützens-werte Initiativen und Konferenzen, die für den Beitritt zubestimmten, für die Abrüstungspolitik wichtigen Verträ-gen werben. Deshalb frage ich Sie, ob die Kürzungen zuIhrer Aussage passen, dass Abrüstung ein SchwerpunktIhrer Politik ist und dass die Proliferation von Massenver-nichtungswaffen eine der größten Gefahren darstellt.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich möchte zuerst da-rauf aufmerksam machen, dass es aus meiner Sicht un-zulässig ist, den Haushalt dieses Jahres ausschließlichmit dem Haushalt letzten Jahres zu vergleichen; dennman muss schon den Schnitt der letzten fünf Jahre sehen,wenn man ein Kapitel des Haushaltes fair bewertenmöchte. Wir liegen ziemlich genau im Schnitt der letztenfünf Jahre bzw. sogar noch etwas darüber. Es ist richtig,dass diese Politik fortgesetzt wird. Das gilt übrigens aus-drücklich für den Bereich der Auswärtigen Kulturpoli-tik, auf den bereits eingegangen wurde. Dieser Ansatzsteigt im nächsten Jahr sogar im Vergleich zu dem fürdieses Jahr. Das wird gerne vergessen, wenn man nur aufdie absoluten Zahlen schaut.Auf Ihre Frage nach der Abrüstung möchte ich Ihnengenau antworten. Was steckt dahinter? Das Kapitel, dasSie ansprechen, beinhaltet zum Beispiel das Ausgaben-programm für die Vernichtung von Massenvernichtungs-waffen in Russland. Es geht hier um gemeinsame Part-nerschaften, die vor zehn Jahren mit Russland begründetworden sind. Wir haben Geld dafür gegeben, dass Russ-land Massenvernichtungswaffen abrüstet und vernichtet.Nun stellen wir aber fest, dass diese Programme nachzehn Jahren auslaufen werden. Wir sind der Überzeu-gung: Mittlerweile ist Russland wirtschaftlich in derLage, die Vernichtung der eigenen Massenvernichtungs-waffen selbst zu finanzieren. Auch Russland muss hierseinen Beitrag leisten. Deswegen wird dieser Ansatz zu-rückgeführt.
Was den Iran angeht: Aus unserer Sicht ist es von gro-ßer Bedeutung, an den Iran zu appellieren, dass die beidendeutschen Staatsbürger, die dort derzeit in Haft sitzen,möglichst umfassend – auch konsularisch – betreut wer-den und dass Anwälte Zugang haben. Ich möchte Ihnenversichern, dass wir alles daransetzen, dass diese beidendeutschen Staatsbürger so schnell wie möglich wieder inunser Land zurückkehren. Dies ist die klare Erwartungs-haltung der Bundesregierung und – darin bin ich sicher –nicht nur der Fraktionen, die sie tragen.
Wir haben aber auch in Europa verschiedene Fragenzu besprechen. Ich werde an dieser Stelle das ThemaAfghanistan nicht weiter ausführen. Es ist oft angespro-chen worden. Nur ein kleiner Hinweis sei mir erlaubt.Wir haben oft grundsätzlich über Wahlen gesprochen.Heute sind die Wahlergebnisse bekannt geworden. Wennman in Rechnung stellt, dass zum ersten Mal Wahlen inafghanischer Verantwortung stattfinden, dann ist es be-merkenswert, dass die afghanischen Stellen selbst denVorwürfen des Wahlbetrugs konkret nachgehen. Das hatauch Konsequenzen, und es wird nichts vertuscht. Viel-mehr decken afghanische Stellen selbst Wahlbetrug auf.So wurden zum Beispiel 27 Abgeordneten die Mandateaberkannt, weil sie nicht rechtmäßig zustande gekom-men sind. All das muss man, wenn man die Lage diffe-renziert bewertet, anerkennend feststellen.
Das sind Fortschritte, die gesehen werden müssen, nebenall den Rückschlägen, die es natürlich auch gibt.Es gibt aber auch Konflikte in Europa. Ich nenneTransnistrien und Georgien. Die Rede des Präsidentenvor dem Europäischen Parlament ist angesprochen wor-den. Es war eine wichtige, bemerkenswerte Rede. Imwestlichen Balkan – Herr Kollege Polenz war so freund-lich, darauf hinzuweisen – haben wir große Fortschrittemachen können. Es ist uns gelungen, Serbien zu einemPolitikwechsel in Sachen Kosovo zu bewegen. Das istein gemeinsamer Erfolg Europas.Entscheidend ist natürlich auch – damit will ichschließen –, was aus Europa wird. Ich will dazu ganzklar eine Erklärung für die Bundesregierung, aber auchfür mich ganz persönlich abgeben. Man hat es im Au-genblick nicht leicht, wenn man nach Europa schaut.Trotzdem kann ich uns nur raten, Europa zu keinerStunde in der Substanz infrage zu stellen. Wenn wir hierüber regionale Konflikte sprechen, über die des westli-chen Balkans beispielsweise, dann kann ich nur dazuaufrufen, nicht nur zu fragen, welche Schwierigkeitenwir mit Europa haben, sondern auch daran zu denken,welches Glück wir mit Europa haben. Dass wir hierfriedlich leben können, von Freunden umgeben sind, hatvor allen Dingen etwas mit Europa zu tun. Auch dass wirwieder als Mitglied der europäischen Gemeinschaft undder Völkergemeinschaft anerkannt sind, hat etwas mitEuropa zu tun. Wenn die deutsche Bundesregierung da-für sorgen will, dass auch private Gläubiger an den Kos-ten der Krise beteiligt werden, also nicht jedes Investi-tionsrisiko auf den Steuerzahler abgewälzt werden kann,
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Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
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dann ist das die beste Wahrnehmung europäischer Inte-ressen. Nicht nur die Interessen deutscher Steuerzahlerwerden wahrgenommen, sondern es werden die Interes-sen aller europäischen Steuerzahler wahrgenommen.Deswegen weise ich die Kritik von Präsident Barroso inaller Form hier im Deutschen Bundestag zurück.
Abrüstungspolitik ist eine wichtige Frage. Ob es Ih-nen gefällt oder nicht, wir müssen feststellen, dass wir inder Abrüstungspolitik Fortschritte gemacht haben. Esmag Ihnen nicht genug sein, was jetzt bei dem NATO-Gipfel herausgekommen ist. Sie finden für jede Positionimmer einen Kronzeugen. Aber eines stelle ich fest: Dieletzte strategische Schrift der NATO wurde 1999 verab-schiedet. Damals, als Sie Verantwortung trugen, hat dieAbrüstung keine Rolle gespielt. Dieses Mal ist sie einzentrales Anliegen der NATO. So viel Abrüstung gab esin der NATO noch nie.
Wir werden diesen Weg fortsetzen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Alexander Ulrich das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf Europa len-ken. Das Thema passt gut in die Haushaltswoche hinein.Nach dem Griechenland-Paket folgte in diesem Jahr dasEuro-Rettungspaket. Damals hieß es, die 750 Milliar-den Euro – davon allein fast 150 Milliarden Euro vondeutscher Seite – würden bereitgestellt, damit sie nie-mals in Anspruch genommen werden müssten. Kein hal-bes Jahr später leisten die Bundeskanzlerin und die Bun-desregierung den Offenbarungseid. Jetzt soll Irland mitdeutschen Steuergeldern in Höhe von über 25 Milliar-den Euro geholfen werden.Aber wollen Sie wirklich Irland helfen? Nein. Ihnengeht es wie bei Griechenland allein darum, die deutschenBanken und die Spekulanten zu retten. Man möchte Ih-nen dazu in Anlehnung an Bertolt Brecht zurufen: Wasist schon ein Überfall auf eine Bank im Vergleich zurRettung einer Bank? Nach diesem Motto verfährt dieseBundesregierung.Wieder soll der Steuerzahler den Schaden bezahlen,den er nicht angerichtet hat, und wieder versucht dieBundesregierung, die Menschen zu täuschen. Da geistertHerr Brüderle durch die Talkshows und spricht davon,dass es nur Bürgschaften wären. Wieder soll den Leutendamit Sand in die Augen gestreut werden. Sie, Herr Au-ßenminister, wissen, dass ein Großteil dieses Geldes ver-loren sein wird. Bereits jetzt sprechen Börsenanalystendavon, dass die Umschuldung kommen wird, auch imFall Irland. Dann werden auch die Bürgschaften fällig.Tatsache ist: Sie lassen den deutschen Steuerzahler fürdie verbrecherischen Geschäfte der Finanzinvestorenund Banken bezahlen.
Ich habe heute Morgen gelesen, dass Frau Merkel be-reits 2011, also bereits nachdem Sie Milliarden Steuer-gelder an die Banken herausgereicht haben, die privatenGläubiger beteiligen will. Ich kann das nur noch als Zy-nismus bezeichnen. Für wie dumm hält die Bundesregie-rung die Bevölkerung eigentlich? Sie wissen es, also sa-gen Sie es hier auch.
Eine wirkliche Gläubigerhaftung ist selbstverständlichnicht vorgesehen. Diese unverantwortliche Politik mussendlich beendet werden. Die Profiteure müssen endlichzur Kasse gebeten werden.
Die Banken müssen zahlen und nicht die Bürgerinnenund Bürger.Aber bei Frau Merkel und Herrn Westerwelle habeich da wenig Hoffnung. Sie wollen ihrem Freund HerrnAckermann von der Deutschen Bank schlicht nicht dasGeschäftsmodell zerstören. Dieses Geschäftsmodell istsimpel: Verluste werden sozialisiert, sprich: die Verlusteder Banken bezahlen in Deutschland die Beschäftigten,die Rentnerinnen und Rentner, die Studierenden und dieHartz-IV-Empfänger. Genau nach diesem Prinzip wollenSie auch in Irland verfahren.
Mit dem EU/IWF-Paket soll der Mindestlohn in Irlandgekürzt werden. Gespart werden soll ganz unten in derGesellschaft, gerade bei den Kindern. Frau Merkel, HerrWesterwelle, Sie werden sich damit sicher einen Namenin der europäischen Geschichte machen: als Robin Hoodder Reichen. Das ist Ihr Prinzip, das Ihre gesamte Politikdurchzieht: Ich gebe den Reichen und nehme den Ar-men. Für dieses Prinzip steht auch das Kürzungspaket inDeutschland.
Diese unverantwortliche Politik führt Europa in den Ab-grund. Ob in Griechenland, Spanien, Portugal, Deutsch-land, jetzt Irland: überall massive Umverteilung von un-ten nach oben. Die breiten Schultern werden geschont.Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam habenSie von CDU/CSU über FDP, SPD bis zu den Grünender Öffentlichkeit immer erzählt, mit dem Vertrag vonLissabon würde Europa auch sozialer. Jetzt ist dieserVertrag fast ein Jahr in Kraft. Ist Europa sozialer gewor-den? Viele Menschen in Europa empfinden die Frage
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8112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Alexander Ulrich
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nach einem sozialen Europa angesichts der anhaltendenKrise und angesichts dessen, dass für sie vom bescheide-nen Aufschwung nichts im Geldbeutel übrig bleibt, dassdie Wirtschafts- und Finanzkrise europaweit zum weite-ren Sozialabbau genutzt wird, dass die Verursacher derKrise genauso spekulieren wie vorher, nur noch als Zy-nismus.
Die EU verkommt immer mehr zu einem Bankenret-tungsverein. Es geht nur noch und ausschließlich umwirtschaftliche Interessen. Der Vertrag von Lissabonfunktioniert geradezu als Brandbeschleuniger in derKrise. Allein dass es ein Verbot von Kapitalverkehrskon-trollen im Vertrag von Lissabon gibt, heizt die Krise ge-radezu an.Was haben Sie in den letzten zwei Jahren an Finanz-marktregulierungen in Europa auf den Weg gebracht? Soviel wurde uns auch hier im Bundestag versprochen, undnichts davon haben Sie gehalten. Alles waren nur Sonn-tagsreden; alles war Wischiwaschi. Ein paar schwacheAufsichtsbehörden mehr in Brüssel werden den nächstenCrash nicht aufhalten können. Wieder sind Sie vor denFinanzinvestoren eingeknickt.Angesichts dieses Desasters brauchen wir nicht weni-ger als eine demokratische Neugründung der Europäi-schen Union.
Wir brauchen ein Europa, in dem die sozialen Rechteendlich Vorrang vor dem Kapital erhalten. Wir brauchenein Europa, bei dem nicht weiter die Bürgerinnen undBürger mit massivem Sozialabbau die Zeche für dieKrise zu bezahlen haben. Wir brauchen endlich die Fi-nanztransaktionsteuer anstatt Kürzungen im Sozialbe-reich. In Irland muss die Einnahmeseite verbessert wer-den. Dort muss endlich das ruinöse Steuerdumping,insbesondere bei den Unternehmensteuern, beendet wer-den.
Ich komme zum Ende. Ich möchte mit einer Aussagevon Hans-Werner Sinn enden, der wahrlich kein Linkerist. Er – Hans-Werner Sinn! – sagte gestern im Früh-stücksfernsehen, dass es nicht sein kann, dass die Deut-sche Bank Geld aus Deutschland abzieht, sich in Irlandverspekuliert und dann der deutsche Steuerzahler das be-zahlen muss. Recht hat er. Aber genau das hat die deut-sche Bundesregierung vor.Vielen Dank.
Die Kollegin Ute Granold ist nun die nächste Redne-
rin für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Die Haushaltsmittel für die Menschenrechtsbil-dung, Demokratieunterstützung, Rechtsstaatlichkeit undhumanitäre Soforthilfe ressortieren im Haushalt desAuswärtigen Amtes. Deshalb freue ich mich, dass ichdie Möglichkeit habe, als Mitglied des Ausschusses fürMenschenrechte und Humanitäre Hilfe für die Union ei-nige Worte zu sagen.Demokratie, Menschenrechtsbildung, Menschen-rechte und Rechtsstaatlichkeit sind ein zentrales Themaunserer wertegebundenen Außenpolitik. Das ist imKoalitionsvertrag vereinbart, und daran lassen wir unsmessen. Für die Repräsentanten unseres Staates gilt diesebenso. Die Bundeskanzlerin sprach zum Beispiel inChina die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und dieLaogai-Lager an. Der Außenminister spricht die Pro-zesse in Russland – oder auch andere Fragen – an. Icherinnere hier auch – das habe ich schon einmal gesagt –an Ihre Einführungsrede, Herr Minister Westerwelle,beim Menschenrechtsrat in Genf. Dieser ist eine wich-tige Einrichtung als Institution der UN, die sich weltweitum die Menschenrechte kümmert. All das ist ein wichti-ger Baustein unserer Politik.Wir Parlamentarier sind – über alle Fraktionen hin-weg – weltweit unterwegs, um den Finger in die Wundezu legen, wenn es um massive Menschenrechtsverlet-zungen, fehlende Rechtsstaatlichkeit oder Demokratiegeht. So haben wir in den vergangenen Wochen und Mo-naten einige Brennpunkte besucht, über die ich kurzsprechen möchte.Zunächst aber, Herr Bundesaußenminister, einen Satzzum Menschenrechtsrat in Genf. Da steht ja nun imnächsten Jahr ein Review an, das heißt die Überprüfungder Arbeit des Menschenrechtsrates. Sie ist – wie bei derMenschenrechtskommission zuvor – unbefriedigend.Durch die Blockbildung und das Nord-Süd-Gefälle ist esschwierig, die wirklichen Menschenrechtsverletzungenaktuell bzw. zeitnah im Menschenrechtsrat zu diskutie-ren. Teilweise ist es – wenn ich an die Diskussion überSri Lanka denke – so absurd, dass unser Anliegen insVerkehrte gedreht wird.Hier geht es darum, mit anderen behutsam dafür zuwerben, dass die Arbeit im Menschenrechtsrat effektiverwird, dass die Brennpunkte diskutiert werden und dassdie Sonderberichterstatter unabhängig bleiben undnicht gegängelt werden. Wir bitten Sie – der Ausschusswird im Februar 2011 wieder zum Menschenrechtsratfahren –, die Position der Deutschen, vielleicht auch zu-sammen mit unserem MenschenrechtsbeauftragtenMarkus Löning – wir finanzieren das ja auch mit –, nocheinmal deutlich zu machen. Das wäre uns ein großes An-liegen.Ich möchte hier einige wenige Staaten erwähnen, diefür uns im Blickpunkt standen. Das war und ist der Irak,der hier schon mehrfach angesprochen wurde. Sie haben,Herr Außenminister, zugesagt, die neue irakische Regie-rung zu unterstützen, was die Situation der Minderheiten– hier insbesondere die der Christen, um die wir uns sehrgekümmert haben, aber auch die der muslimischen Min-derheiten – im Staat angeht. Hier geht es darum, den
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8113
Ute Granold
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Menschen, die im Irak bleiben, trotz der schweren Men-schenrechtsverletzungen eine Perspektive zu geben. Diedeutsche Unterstützung ist zugesagt. Es geht aber auchdarum, dass die Menschen, die Binnenflüchtlinge sind– es sind mehr als 1 Million, die in den Norden des Irakgeflüchtet sind –, eine wirtschaftliche Grundlage erhal-ten, ihre Kinder Bildung erfahren und sie zu einem ruhi-geren Leben kommen.Es gibt auch viele, viele Flüchtlinge aus dem Irak, diein die Nachbarländer – nach Syrien, Jordanien, in dieTürkei und den Libanon – geflohen sind, unter schwie-rigsten Bedingungen dort leben und keine Perspektivehaben, in die Heimat zurückzukehren. Auch diesen Men-schen muss geholfen werden. Ich danke dem ehemaligenInnenminister Wolfgang Schäuble sehr – Deutschlandwar da führend –, dass wir die Möglichkeit hatten, aufEU-Ebene 10 000 irakische Flüchtlinge zu uns zu holenund ihnen zu helfen. In Deutschland sind 2 500 ange-kommen, die sehr gut integriert sind.Die Situation ist sehr schwierig, wir lesen jeden Tagvon neuem über Ermordungen insbesondere von Chris-ten. Die Perspektive ist erschütternd und schwierig. Wirwerben dafür, dass wir diesen Menschen ein weiteresMal helfen. Das ist ein Teil unseres christlichen Glau-bens und unserer Kultur. Diese Menschen bedürfen un-serer Unterstützung.Ein anderes Thema: Indien. Wir waren in Indien. DerKollege Kober von der FDP ist jetzt nicht mehr da. Wirwollten nach Indien einreisen und dort auch auf dieschwierige Situation bezüglich der Menschenrechte – ins-besondere die Religionsfreiheit betreffend – hinweisen.Es ist schwierig, hierzu als Abgeordneter nach Indien zureisen. Wir sind mit kirchlicher Unterstützung in dasLand gekommen. Indien ist die größte Demokratie derWelt. Die Menschenrechte, auch die Religionsfreiheit,sind in der Verfassung verankert; trotzdem gab esschwierige Situationen für die Muslime im Westen vonIndien. 2 000 Muslime wurden umgebracht. Die örtlicheRegierung war in dieses Massaker involviert. Aufgrundunserer Intervention kam es letztlich dazu – so wurde esuns dieser Tage aus Indien berichtet –, dass der Innen-minister in Haft genommen wurde. Die Regierung waralso aktiv involviert in Menschenrechtsverletzungen.In Ostindien dagegen werden Christen schikaniertund umgebracht. Es handelt sich um einige Tausend. Dawurden 300 Kirchen zerstört. Die Menschen sind auf derFlucht. Darüber muss diskutiert werden, weil die meis-ten gar nicht wissen, dass Indien auch diese zweite Seitehat. Die Zentralregierung hat Probleme, da durchzugrei-fen.Unsere Aufgabe ist es, den Finger in die Wunde zu le-gen und Öffentlichkeit zu schaffen. Es war dank derkirchlichen Nachrichten in Asien, aber auch hier bei unsmöglich geworden, dass in den Medien diese massivenMenschenrechtsverletzungen thematisiert wurden. Wennwir sehen, dass Schritt für Schritt Erfolge erzielt werden,sind wir auf einem guten Weg.
Wir sind dieser Tage in Ägypten gewesen. Dort ste-hen Ende des Monats Wahlen an. Dort gibt es Problememit dem freien Zugang der Opposition zu den Wahlenund mit durchgängig vorkommender Folter. Das gehtquer durch die Polizei und die Sicherheitskräfte. DieMenschen sind nicht sicher vor Folter und Misshand-lung. Blogger werden inhaftiert. Auch hier konnte durchdas Herstellen von Öffentlichkeit und Gespräche, aller-dings nicht mit der Regierung – von dieser Seite wurdenGespräche mit uns abgesagt –, sondern mit vielen ande-ren wie zum Beispiel NGOs, dafür gesorgt werden, dassder eine oder andere im Nachhinein freigelassen wurde.Wenn ich an den Iran denke, ist auch hier vieles an-zusprechen; zum Teil wurde dies hier schon getan. Ichbin sehr dankbar, dass wir in der nächsten Woche hier imBundestag eine große Debatte über den Iran führen wer-den. Es liegen Anträge von der Koalition und auch vonder Opposition vor, die sich mit der Situation zum Bei-spiel der Bahai und der Vollstreckung von Todesstrafenbeschäftigen. Wir hatten eben gerade von einem Fall ge-hört: Hier ist die Steinigung einer Frau vom Tisch; derTod durch den Strang ist offenbar auch vom Tisch, wieheute im Fernsehen gemeldet wurde. Das heißt abernoch lange nicht, dass die Frau aus dem Gefängnis ent-lassen wird. Das heißt auch noch lange nicht, dass ihrSohn und der Anwalt, die beide auch inhaftiert sind, frei-kommen. Hier gilt es, wie auch im Fall der beiden Bun-desbürger, die inhaftiert sind, dafür zu sorgen – die Bun-desregierung kümmert sich bereits intensiv darum –,dass die Menschen freigelassen werden.Wir als Menschenrechtler – in dieser Position sprecheich gerade zu Ihnen – können dadurch, dass wir Öffent-lichkeit schaffen, sehr viel erreichen. Viele Staaten derWelt schauen nämlich auf Deutschland. Deutschland hateinen guten Ruf in der Welt, gerade auch hinsichtlichseiner Menschenrechtspolitik. Dieses Pfand sollten wirnutzen und immer wieder darauf hinweisen, dass für unsEinhaltung der Menschenrechte, Demokratie und dieRechtsstaatlichkeit ganz wichtig sind; denn ohne Rechts-staatlichkeit gibt es keine Menschenrechte und damitkeinen Schutz für Menschen. Das betrifft Afghanistanebenso wie China. Bezüglich des Rechtsstaatsdialogsmit China wurde ja dieser Tage ein weiteres Dreijahres-programm aufgelegt, was ich für sehr wichtig halte. Eswurde gerade schon angesprochen, wie wichtig die Rollevon China in der Auseinandersetzung in Korea ist.All das sind für uns wichtige Aufgaben und Anliegen.Wir möchten auch in Zukunft, natürlich zusammen mitdem Auswärtigen Amt, das für uns eine maßgeblicheStelle darstellt, dafür sorgen, dass Menschenrechte undRechtsstaatlichkeit in der Welt verankert und verteidigtwerden. Für die Unterstützung des ganzen Hauses überdie Ressorts hinweg wären wir Ihnen – ich denke, ichdarf das auch für meine Kollegen im Ausschuss sagen –sehr dankbar.Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Viola von Cramon-Taubadel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Verehrte Damen und Herren! Ich möchte jetzt wiederden Bogen zurück zur Europapolitik schlagen. Wir ha-ben gestern vom Kollegen Altmaier unter anderem denVorwurf gehört, die vereinigte Opposition habe in derHaushaltsdebatte zur Irland-Frage geschwiegen, obwohldie Medien derzeit über nichts anderes schreiben. Das istallerdings nur eine Seite der Medaille. Offensichtlichnimmt der Kollege Altmaier die aktuelle Europadebattenur sehr selektiv wahr; denn in der europäischen Öffent-lichkeit wird nicht nur über Irland diskutiert, sondernseit Wochen wird in Europa auch darüber geredet undvor allen Dingen auch geschrieben, wie viel Schadenund auch Kollateralschaden Frau Merkel bei ihren letz-ten Auftritten in Brüssel angerichtet hat.
Die private Beteiligung ist, wie wir gehört haben, einhehrer Anspruch. Dem stimmen wir zu. Die Durchfüh-rung dieses Vorhabens war allerdings mangelhaft. Es istschon ein diplomatisches Kunststück, alle anderen Mit-gliedstaaten, die Kommission und die Europäische Zen-tralbank gegen sich aufzubringen.Vielleicht haben Sie in der Regierung lange überdiese Aufgabenverteilung nachgedacht und dem Außen-minister bei dieser Frage bewusst die Kompetenzen fürEuropa abgenommen. Das Ergebnis der Kanzlerinnen-diplomatie ist aber in jedem Fall verheerend.
Ich habe mich gefreut, dass Herr Westerwelle ebengeraten hat, „Europa zu keiner Stunde in der Substanzinfrage zu stellen“. Kollege Link hat davon gesprochen,dass Renationalisierungstendenzen eine Gefahr für dasgesamte Projekt darstellen. Ich möchte aber kurz auf denVorwurf des Kollegen Altmaier zurückkommen, wir hät-ten seinerzeit bei der Abstimmung über den Euro-Ret-tungsschirm mit fadenscheinigen Argumenten nicht fürden Rettungsschirm gestimmt. Das mag beim erstenHinhören so klingen, als wären die wirklichen Europäerbei den Christdemokraten oder vielleicht noch bei denLiberalen zu finden.
Allerdings hat uns das monatelange Zögern zu Jahresbe-ginn, ob man Griechenland nun helfen wolle oder nicht,in Europa viel politisches Kapital gekostet, und es hatdie Kosten für die Rettung nach Aussagen aller Expertenunnötig erhöht.
Tatsache ist leider auch, dass sich die Bundesregie-rung bei dem neuen Rettungsmechanismus immer nochgegen eine europäische Lösung stemmt, und zwar vehe-ment. Jetzt muss ich Sie fragen: Welches Modell vonEuropa schwebt Ihnen vor, wenn Sie weiterhin auf inter-gouvernementale Lösungen setzen, damit wir am Endehier in Deutschland in die Wirtschafts- und Finanzpolitikder anderen Mitgliedstaaten hineinregieren? Das ist füruns auf Dauer definitiv keine Lösung. Wir wollen, dassnicht das deutsche Finanzministerium die Steuersätze inIrland oder in Griechenland bestimmt. Vielmehr sind dasFragen, die in Brüssel unter der Federführung der Kom-mission konzipiert und anschließend vom Rat verhandeltwerden müssen.
– Nein, dazu kommt es nicht.Wir brauchen eine einheitliche Bemessungsgrund-lage für die Körperschaftsteuer sowie Mindeststeuer-sätze für die Europäische Union; das wurde fraktionsüber-greifend in das EP eingebracht und heute so beschlossen.
Das Europäische Parlament ist der richtige Ort für diedemokratische Kontrolle der Wirtschafts- und Finanz-politik. Das wäre ernst gemeinte Europapolitik.Eine Anekdote dazu: In Brüssel wurde jetzt von ei-nem Institut, dem Bruegel-Institut, ein Vorschlag zu ei-nem europäischen Krisenmechanismus vorgelegt. ZurErläuterung: Das Bruegel-Institut wird im Rahmen einesStaatsvertrags zu gleichen Teilen vom französischen undvom deutschen Finanzministerium unterstützt. Genaudiesem Institut wurde in der letzten Bereinigungssitzungmit der Mehrheit der Regierungsfraktionen der Zuschussgestrichen. Insofern ist nicht nachzuvollziehen, dass Siesich noch immer ein proeuropäisches Fähnchen anste-cken; denn bei keinem anderen Institut wird die europäi-sche Perspektive besser widergespiegelt als beim Brüs-seler Bruegel-Institut. Jetzt fragt man sich natürlich inEuropa: Welche Symbolpolitik mag dahinterstehen? Wirwissen es nicht: War es nur Dummheit oder Unwissen-heit oder haben die Mitgliedstaaten recht, die darin einenweiteren Beleg für eine antieuropäische Verschwörungder Deutschen vermuten? Alle drei Varianten ehren unsnicht. In jedem Fall ist es ein Politikum, das einmal mehrzeigt, wie wenig Verständnis insbesondere bei der FDPfür die Verlässlichkeit der deutsch-französischen Zusam-menarbeit vorhanden ist. Eine Kürzung der Mittel fürsolch ein Institut ist das eine; aber das Streichen der Mit-tel und eine komplette Demontage ist nicht zu akzeptie-ren.
Deutschland wird bereits ausreichend der europäi-schen Demontage bezichtigt. Es kommen schon die ers-ten Stimmen auf, dass Deutschland auch beim EU-Haus-halt ab 2014 mit einer Schaufensterpolitik tricksen will.
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Viola von Cramon-Taubadel
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Anstatt den Haushalt sukzessive zu erhöhen, sucht manhier in Berlin nach Möglichkeiten, um das 1-Prozent-Ziel offiziell zu erreichen, aber aufgrund der zusätzli-chen Verwaltungskosten für den Rettungsschirm die tat-sächliche Summe im Haushalt, die für EU-Politik zurVerfügung steht, jährlich abzuschmelzen. Das geht ausunserer Sicht nicht.Wer sich in Europa umschaut und umhört, der wirdallerdings nicht weniger, sondern immer mehr Projektesehen, die für die Zukunftsfähigkeit der EuropäischenUnion unersetzlich sind. Konkret geht es um grenzüber-schreitende Kommunikationsnetze, den Ausbau dereuropäischen Energieinfrastruktur und vor allem umProjekte für den Klimaschutz. Dafür ist aber mehr undnicht weniger Geld notwendig. Weil diese InfrastrukturGeld kostet, sollten wir uns an dieser Stelle endlich ein-mal eine ehrliche Debatte erlauben. Hier geht es um einehistorische Aufgabe. Die Bürgerinnen und Bürger wol-len sich nicht weiter für dumm verkaufen lassen. Dennes geht nicht um eine unbegrenzte Transferunion – HerrSilberhorn, damit komme ich auf Ihre Äußerungen zu-rück –, sondern um ein Bekenntnis zu einer klar definier-ten europäischen Solidarität.
Die Probleme sind vorhanden. Wir wollen eine ehrli-che Debatte. Es geht um fiskalischen Föderalismus. Esgeht um ernst gemeinte europäische Wirtschafts- undFinanzpolitik. Das möchte ich kurz erläutern.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Sofort. Letzter Absatz.
Nein, letzter Satz.
Der Finanzminister unterliegt einem echten Denkfeh-
ler, wenn er behauptet, Deutschland könne man nicht als
maßgeblichen Exporteur an den Pranger stellen, wenn
die Handelsbilanz der EU in Gänze ausgeglichen sei.
Aus seiner Sicht heißt das, man schaue sich ja auch nicht
die Exportbilanz von Kalifornien an, wenn man über die
USA rede. Aber genau das ist der entscheidende Unter-
schied. Man kann Kalifornien nicht mit Deutschland
vergleichen, weil es in den USA den fiskalischen Föde-
ralismus längst gibt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. – Dort sorgt ein Finanztransfer zwischen den Ein-
zelstaaten genau für den Ausgleich, den wir in der EU
dringend benötigen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Ich rede hier über die Auswärtige Kul-tur- und Bildungspolitik, die zu Unrecht als Nebenthemader auswärtigen Politik abgehandelt wird. Wenn dieDeutschen im Ausland gut dastehen wollen, dann nen-nen sie sich das Volk der Dichter und Denker. KeinThema ist besser geeignet als dieses, um zu prüfen, obwir diesem Ruf gerecht werden.Ich traue mich kaum, es zu sagen: Vielen Dank, HerrLiebich, für die freundlichen Worte. Ich kann sie anmeine Kolleginnen und Kollegen von den auswärtigenArbeitskreisen der Koalition und an die Haushaltspoliti-ker weitergeben. Sie gehören zu der Oppositionsfrak-tion, die die Regierung zuordnungsgemäß am schärfstenkritisiert. Als berufener Zeuge sagen Sie damit, dass wiraus den Haushaltsberatungen besser herauskommen, alswir hineingegangen sind. Das ist doch ein großer parla-mentarischer Erfolg.
Dass es dabei auch Kontroversen gab, spricht doch eherdafür. Mein Kollege Harald Leibrecht, mein Stellvertre-ter als Unterausschussvorsitzender, ist heute leider nichtda. Ich bitte, ihm das auszurichten. Die Kollegin FrauStaatsministerin Cornelia Pieper ist aber anwesend. Siekönnen beiden den Orden für Tapferkeit vor demFreunde verleihen; denn sie haben in den letzten Wochenin dieser Richtung wirklich sehr gut mitgehalten. Ichhoffe, dass ihnen das jetzt nicht schadet.
Die vorgesehenen gravierenden Einschnitte warennicht verhältnismäßig. Wären sie bei meinen Kollegenso durchgegangen, hätte die Auswärtige Kulturpolitikals Zukunfts- und Bildungsaufgabe an Bedeutung verlo-ren. Die CDU/CSU-Fraktion hat aus der Zeit der GroßenKoalition in diesem Bereich eine gute Bilanz mitgenom-men; das will ich ausdrücklich sagen. Diese Arbeit setz-ten wir mit der FDP fort. Angesichts geringerer Mittel,die zur Verfügung stehen, war das nicht einfach, aber es
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Dr. Peter Gauweiler
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ist uns gelungen. Das ist ein Erfolg der ganzen Regie-rung.
Insbesondere ist es gelungen, die Kürzungen beimDeutschen Akademischen Austauschdienst zu vermei-den. Es ist auch gelungen, die Mittel für das Auslands-schulwesen zu erhöhen. Dass wir zusätzlich 8 MillionenEuro für die Förderung der deutschen Sprache im Aus-land durch das Goethe-Institut bekommen haben, warein ganz großer Schritt nach vorne.
Ich finde es auch richtig, dass die bei der Auslandskul-turarbeit der Kirchen zunächst vorgesehenen Kürzungenzurückgenommen worden sind. Wir wissen inzwischenlagerübergreifend, welche Bedeutung diese Arbeit hat.Ich freue mich, dass die beiden Kirchen mit ungekürztenHaushalten ihre Arbeit in diesem Bereich im nächstenJahr fortsetzen können.Lassen Sie mich noch kurze Anmerkungen zu einigenweiteren Themen machen. Wir müssen der Förderungder deutschen Sprache besondere Beachtung schenken.Es hat überhaupt keinen Sinn, uns deklaratorisch anUnterschriftensammlungen, in denen die Aufnahme derdeutschen Sprache ins Grundgesetz gefordert wird, zubeteiligen, wenn wir gleichzeitig die Mittel für die För-derung der deutschen Sprache im Ausland kürzen wür-den. Das wäre völlig unverantwortlich. Deswegen ist esrichtig, dass das Gegenteil getan worden ist.
Ich bin auch froh, dass die Verbindungen des Goethe-Instituts mit dem Deutschen Akademischen Austausch-dienst wieder gestärkt worden sind. Es ist auch groß-artig, dass in der Zwischenzeit in Osteuropa, in der soge-nannten GUS, der Anteil der deutschsprechendenMenschen auf 38 Prozent gestiegen ist. Ich denke, dasswir unsere diesbezüglichen Anstrengungen eher aus-bauen sollten.Das Geld ist vorhanden. Es war ein Erfolg des Bun-destages und seines Kulturausschusses, dass der Etat desStaatsministers bei der Bundeskanzlerin erhöht wordenist. Heute ist in einem anderen Zusammenhang auf dieDebatte hinsichtlich der vom Grundgesetz festgelegtenKompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern inSachen Kultur schon hingewiesen worden. In einemPunkt ist das Grundgesetz ganz eindeutig: Die Auswär-tige Kultur- und Bildungspolitik liegt in der ausschließli-chen Zuständigkeit des Bundes. Es kann doch nicht sein,dass in dem umstrittenen Bereich die Ansätze verdoppeltwerden, während in dem Bereich, für den der Bundzweifelsohne zuständig ist, Kürzungen als selbstver-ständlich angesehen werden. Ich bin froh, dass dies ab-gewehrt worden ist.
Ich möchte Sie auf eine Anregung des entsprechen-den Arbeitskreises meiner Fraktion hinweisen: Einedeutsche Schule im Ausland kann beispielsweise För-dermittel in Höhe von 8 000 bis 10 000 Euro erhalten.Für eine solche Schule wäre es eine Katastrophe, wennsie aufgrund der plötzlich gekürzten Förderung ihre Sa-nitäranlagen nicht hätte reparieren können. Wir sehen esdaher als Ziel einer zukunftsorientierten Haushaltspolitikder stärksten Wirtschaftsmacht Europas an, dass in die-sem wirtschaftlich ohnehin extrem schmalen Bereich– ich als erfahrener Polemiker muss mich zurückneh-men, Vergleiche anzustellen, wenn in anderen Zusam-menhängen über Milliardenbeträge gesprochen wird –Kürzungen ausgenommen bzw. die „Ultissima Ratio“sein sollten.
Ich möchte auch daran erinnern, dass die Leistung derAuswärtigen Kultur- und Bildungspolitik im Bereich derKrisenprävention nicht hoch genug eingeschätzt werdenkann.Als ich 1968 in die Politik eingestiegen bin, hätte ichmir nicht gedacht, als alter Antikommunist einmal voneinem Vertreter der Linkspartei gelobt zu werden.
Im Jahr 1968 hätte ich mir auch nicht vorstellen können,mich im Jahre 2010 einmal darüber freuen zu können,dass bei der Tausendjahrfeier der Stadt Hanoi, die vorwenigen Tagen stattfand, Beethovens Ode an die Freudein deutscher Sprache aufgeführt werden würde.Vielen herzlichen Dank.
Nun hat der Kollege Christoph Strässer das Wort für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich fand das von Herrn Dr. Gauweiler zum Schluss Ge-sagte bemerkenswert. Ich kann nur sagen: Die Nachwir-kungen der 68er erreichen sogar Sie und Hanoi. Das istdoch eine gute Entwicklung, das ist doch wunderbar.
Ich möchte gern zu zwei Dingen Stellung nehmen, diezum Teil schon eine Rolle gespielt haben. Ich meine dasThema Menschenrechte, das aus meiner Tätigkeit herausbei mir im Vordergrund steht, und den Bereich, der lei-der Gottes nur am Rande, wenn überhaupt, mit zwei Be-merkungen eine Rolle gespielt hat, nämlich das ThemaAfrika.Das kann natürlich zwei Gründe haben. Der eineGrund ist – ich hoffe nicht, dass das der Fall ist –, dassAfrika für die deutsche Bundesregierung, für den Deut-schen Bundestag keine Rolle spielt. Der Kollege Fischer
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Christoph Strässer
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ist gestern Abend zum Vorsitzenden der DeutschenAfrika-Stiftung gewählt worden. Noch einmal herzli-chen Glückwunsch dazu!
Ich denke, dass wir uns darüber klar werden müssen,dass die Entwicklung auf unserem Nachbarkontinent denFrieden in Europa und den Frieden auf der ganzen Weltmassiv beeinflussen wird. Deshalb hätte ich es mir ge-wünscht, etwas mehr darüber zu hören, was diese Bun-desregierung in den nächsten Wochen und Monatenplant. Wir haben ja Ende des Monats den EU-Afrika-Gipfel in Libyen.
– Nächste Woche geht er los, am 27. November.Wir warten im Parlament und in den Fraktionen aufdas schon im April zugesagte Afrika-Konzept, das unsvor der Sommerpause zur Verfügung stehen sollte.Nichts ist auf dem Tisch. Ich würde mir wünschen, HerrAußenminister, dass Sie uns einmal über das unterrich-ten, was Sie dort im Kontext der EU erreichen wollen.Es gibt eine Fortsetzung der EU-Strategie, die zum ers-ten Mal – das ist gut, und das ist richtig – Afrika als ei-nen Partner auf Augenhöhe angesehen hat. Es wäre si-cherlich angemessen, wenn wir in diesem Hohen Hausauch einmal über diese Themen diskutieren würden.Denn Afrika ist unser Nachbarkontinent, und er brauchteine Zukunft mit unserer Unterstützung auf Augenhöhe.In vielen Bereichen sind wir da aus meiner Sicht nochnicht auf dem Stand der Dinge.
Eine weitere Bemerkung betrifft den zweiten Bereich,der natürlich auch etwas mit Afrika zu tun hat. Das istdie Frage: Wie arbeitet diese Bundesregierung eigentlichim Bereich der Menschenrechte? Frau Granold, IhrenAusführungen bin ich sehr aufmerksam gefolgt, hatte al-lerdings den Eindruck, dass das mehr eine Regierungs-erklärung war als eine Stellungnahme aus dem Parla-ment heraus. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dassSie all das, was diese Bundesregierung macht – auch ausIhrer Erfahrung aus den vergangenen Beratungen imMenschenrechtsausschuss –, so uneingeschränkt gut fin-den, wie Sie es hier dargestellt haben.Ich will Ihnen ein paar Beispiele nennen. Sie haben be-gonnen – da habe ich gedacht, jetzt wird es spannend –mit den Schwerpunkten der Menschenrechtspolitik: Kri-senprävention, Demokratieförderung, Institutionenauf-bau und all diesen wunderbaren Dingen, die wir gemein-sam im Ausschuss diskutieren und für die wir immerwieder einstehen. Aber was ist denn die Realität? Sie sa-gen: Die Bundeskanzlerin und der Außenminister fahrendurch die Welt und erklären überall, wie wichtig es sei,die Menschenrechte einzuhalten. Auch das ist richtig;niemand wird dem widersprechen.Es ist für die Menschenrechtspolitik auch gut undrichtig, dass die Bundesrepublik Deutschland – das istjedenfalls meine Meinung – einen Sitz im Weltsicher-heitsrat hat. Aber jetzt kommt die Kehrseite der Me-daille. Ich möchte einmal fragen, ob dieser Erfolg, zudem ich Sie übrigens beglückwünsche – ohne jedenZweifel –, erzielt worden wäre, errungen worden wäre,wenn die Menschen, die uns dort in der Versammlung imersten Wahlgang gewählt haben, gewusst hätten, was wirmit diesem Haushalt beschließen sollen, meine Damenund Herren. Denn eines ist doch klar: Die erste Amts-handlung der Bundesregierung und des Deutschen Bun-destags nach Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat istKürzung in allen Bereichen, die die Vereinten Nationenbetreffen.
Ob das nun bei den denjenigen auf Zustimmung stößt,die uns da gewählt haben, wage ich sehr zu bezweifeln.
Ich hätte mir gewünscht, meine Damen und Herren,dass das in den parlamentarischen Beratungen passiertwäre, was wir in den vergangenen Jahren gerade imMenschenrechtsausschuss immer hinbekommen haben,nämlich zumindest an der einen oder anderen Stellenachzubessern, an der einen oder anderen Stelle aufzu-satteln, auch in Zeiten, wo gekürzt werden muss.Aber das ist schon angekündigt worden: Bei der rela-tiv geringen prozentualen Absenkung des Haushalts ins-gesamt sind Absenkungen zwischen 30 Prozent und50 Prozent in Bereichen der wesentlichen menschen-rechtlichen Fragen das Gegenteil von glaubwürdigerMenschenrechtspolitik. Das beschädigt die Menschen-rechtspolitik und die Außenpolitik der BundesrepublikDeutschland in der Sicht des Auslandes ganz massiv.Dass das mit Ihrer Zustimmung, ohne Widerstand in die-sem Parlament durchgeht, finde ich beschämend. Dasmuss ich einmal ganz deutlich sagen.
Ich will Ihnen auch zwei konkrete Beispiele nennen,in denen wir gerade in den letzten Jahren gemeinsam ge-arbeitet haben. Das eine ist das Beispiel humanitäresMinenräumen mit den Bereichen Konfliktpräventionund Nachsorge von Konflikten. Ich will Ihnen sagen,dass wir in den letzten Jahren bei jedem Haushalt aufge-sattelt haben, mit Diskussionsergebnis und Votum desMenschenrechtsausschusses. In diesem Jahr wird in die-sen Bereichen gekürzt.Was heißt das denn? Frau Wieczorek-Zeul hat daraufhingewiesen: Wir haben Erfolge erzielt bei der Ächtungvon Landminen, bei der Ächtung von Streumunition.Das kann doch aber, bitte schön, nicht bedeuten, dass wiruns jetzt um die Altlasten zumindest nicht mehr in demMaße kümmern, wie wir das in den letzten Jahren getanhaben.
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8118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Christoph Strässer
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Ich glaube, auch hier machen wir einen Fehler in derhumanitären Arbeit, der uns noch schwer zu schaffenmachen wird.Ich will einmal ein Beispiel nennen, das mich jetztganz konkret betrifft. Daran kann ich das sehr deutlichmachen. Ich werde auf Einladung des Ministers für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung AnfangDezember unter anderem nach Sambia fahren. Wir be-kommen Sicherheitshinweise aus dem AuswärtigenAmt. In diesen Sicherheitshinweisen steht, man sollebitte schön vorsichtig sein, im Grenzbereich zwischenSambia und der Demokratischen Republik Kongo seiennicht gekennzeichnete Minenfelder. Diese Hinweise be-kommen wir als Abgeordnete, die dorthin fahren. Jetztüberlegen Sie sich einmal bitte, was mit den Kindern,mit den Menschen passiert, die keine Hinweise bekom-men, die in diesem Bereich arbeiten oder spielen und indiese Minenfelder rennen. Sie verlieren Gliedmaßen undwerden für ihr Leben verstümmelt. Dennoch sagen wir,dass wir die Mittel für diesen Bereich kürzen. Ich findedas zynisch. Das kann der Bundestag eigentlich nicht zu-lassen.
Ein letzter Punkt: Förderung von UN-Institutionen.Einige Beispiele sind schon genannt worden. KollegeLeutert von der Linkspartei und Kollege Haibach vonder Union waren 2007 unter anderem im Gazastreifen.Im Jahre 2007 war die humanitäre Situation dort schondesaströs. Ich finde es ausgesprochen gut, dass Sie dort-hin gefahren sind, aber Sie müssten sich doch Gedankendarüber machen, was dort passiert, und zwar nicht nurbezogen auf den Zugang und ein Ende der Blockade,sondern auch konkret bezüglich der Kinder, die aufgrundder Kürzungen bei UNRWA nicht mehr zur Schule ge-hen können.Unverdächtige Menschenrechtsorganisationen, mitdenen wir gesprochen haben, haben uns gesagt: Im Mo-ment habt ihr hier Hamas – das war 2007 –; wenn das soweitergeht mit der Rückführung der humanitären Hilfe,mit der Einschränkung des Zugangs und insbesonderemit der Benachteiligung von Kindern, haben wir hier inzehn Jahren nicht mehr Hamas, sondern al-Qaida.Meine Damen und Herren, wenn das die Konsequenzaus einer wirklich nicht stark den Haushalt belastendenAusgabenpolitik ist, bin ich wieder bei Ruprecht Polenz,der zu Recht gesagt hat: Krisenprävention ist das besteMittel zur Verhinderung von Terrorismus. Wenn dieserHaushaltsetat um ein Drittel gekürzt wird, dann kann ichnur darauf hinweisen, dass die Bekämpfung des Terro-rismus mit krisenpräventiven Mitteln nicht erfolgreichsein wird. Wir müssen hier umkehren, sonst müssen wirspäter mit militärischen Mitteln Schäden beseitigen; daswollen wir alle nicht. Deshalb ist dieser Haushalt in die-sem Punkt aus meiner Sicht absolut unzureichend.
Das Wort hat nun Kollege Bijan Djir-Sarai für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir allewissen, dass die Debatten zur Verabschiedung des Haus-haltes viel mehr beinhalten als nur das Vortragen einesZahlenwerkes.
Diese Debatte ist auch mehr als eine lieblose Aufzählungvon angeblich verantwortungslosen Kürzungen. DieseAufzählung haben wir heute von Ihnen ausreichend ge-hört. Ich nehme die Forderungen sehr ernst – das könnenSie mir glauben – und mache mir meine Gedanken da-rüber.
Aber bei Ihren Forderungen fehlt leider eine realistischeBetrachtung der aktuellen Lage.
Ich werde Ihnen sagen, warum, Herr Kollege. Schul-denbremse und Haushaltskonsolidierung sind große He-rausforderungen für unser Land und natürlich auch fürdie Außenpolitik unseres Landes. Wir brauchen heutekonstruktive Vorschläge zur Haushaltskonsolidierungauf der einen Seite und zukunftsweisenden Außenpolitikauf der anderen Seite.
– Herr Kollege, nicht so aggressiv, Sie sind doch Pazi-fist. Bleiben Sie doch locker.
Bei der Aufstellung des Haushaltes 2011 haben wirsehr genau darauf geachtet, dass wir diesen Prinzipientreu bleiben. Deutsche Außenpolitik ist wertegebundenund interessengeleitet. Deutsche Außenpolitik ist ziel-orientiert und nachhaltig. Der im Haushalt 2011 zu leis-tende Einsparbetrag fällt uns nicht leicht; das möchte ichbetonen. Wir sparen aber nicht mit dem Rasenmäher.Zur Realisierung der Sparbeschlüsse war eine starkePriorisierung nötig. Das galt insbesondere für den Be-reich der politischen Ausgaben.Eine haushaltspolitische Realität ist ganz klar die Si-tuation in Afghanistan. Der Ansatz von 180 Millionen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8119
Dr. Bijan Djir-Sarai
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Euro wird jetzt vollständig aus dem Haushalt des Aus-wärtigen Amtes getragen; das hat für uns Priorität.90 Millionen Euro mussten daher in anderen Bereichenerwirtschaftet werden. Wir haben Verantwortung inAfghanistan übernommen. Vordringliches Ziel ist jetzt,dass wir diese möglichst bald an die Afghanen überge-ben können.
Unsere Prioritäten sind eindeutig. Sie liegen nebender Region Afghanistan/Pakistan im zukunftsträchtigenBereich der Bildung und Forschung. Die Einsparungenin diesem Bereich sind im Vergleich zu den Gesamtein-sparungen von 2,8 Prozent im Gesamthaushalt des Aus-wärtigen Amtes unterproportional ausgefallen. Das seheich als ein klares Bekenntnis. Wir wollen, dass auch inZukunft deutsche Bildungs- und Kulturarbeit im Aus-land erhalten bleiben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Nouripour?
Nein.
Dieses Budget hat in den vergangenen Jahren eineüberproportionale Mittelaufstockung erfahren. Wir lie-gen mit dem Ansatz für 2011 immer noch über dem Ni-veau der Jahre vor 2008 und sind voll handlungsfähig.
Einschränkungen können wir teilweise durch Sondermit-tel für Bildung und Forschung abfedern.
Dieses Geld setzen wir im Auslandsschulwesen, fürAuslandslehrer, für Schulbeihilfen, für Stipendien undfür Wissenschaftsbeziehungen ein.
Außerdem stellen wir sicher, dass bei allen Bildungs-titeln im Bereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungs-politik uneingeschränkt das Niveau des Haushaltes von2010 erhalten werden kann. In Zeiten der Haushaltskon-solidierung geht leider nicht alles, was wünschenswertist. Das ist realistisch und weitsichtig.
Unsere Außenpolitik ist auch in multilaterale Strate-gien eingebunden. So zahlen wir – das ist im Haushaltdes Auswärtigen Amtes kein kleiner Posten – Pflichtbei-träge an internationale Organisationen wie die VereintenNationen und die EU; auch dies gehört zur deutschenAußenpolitik. Als großer Beitragszahler hat Deutschlandeinen maßgeblichen Anteil an den humanitären Hilfs-maßnahmen von EU-Kommission und Vereinten Natio-nen.
Diese Hilfsgelder, die von Deutschland multilateral ge-zahlt werden, dürfen wir nicht außen vor lassen.
Ich möchte ein Beispiel, das noch nicht allzu langeher ist, nennen. Die jüngsten Entwicklungen in Pakistanzeigen die Bedeutung der humanitären Hilfe für dasAuswärtige Amt. Neben den eigenen Hilfsausgaben hatdie Bundesrepublik Deutschland über EU und VereinteNationen weitere mehr als 15 Millionen Euro bereitge-stellt. So federn wir notwendige Einsparungen im Haus-haltsansatz für humanitäre Hilfe ab. Mit diesem Ansatzfür 2011 bleiben wir aber reaktionsfähig und flexibel.
Das ist ein Erfolg, meine Damen und Herren. Zum Ver-gleich: Noch bis 2007 betrugen die Mittel des Auswärti-gen Amtes für diesen Bereich nur circa 50 000 Euro.
Der vorliegende Haushaltsentwurf des AuswärtigenAmtes für 2011 sieht insgesamt Einsparungen in Höhevon 2,8 Prozent vor;
das ist vorbildlich. Einsparungen liegen im Budget vor-rangig bei den politischen Ausgaben. Denn die Pflicht-beiträge für die Mitgliedschaft in internationalen Organi-sation steigen von Jahr zu Jahr.
Auch die Betriebsausgaben sind nur sehr moderat gestie-gen.Unsere Auslandsvertretungen sind wichtig. Sie sindeine der Kernaufgaben des Auswärtigen Amtes im Aus-land. Diesen Service für Deutsche im Ausland wollenund werden wir nicht einschränken.
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8120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
(C)
(B)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Strässer?
Nein.
Dennoch werden wir ab dem kommenden Jahr auch in
diesem Bereich Sparpotenziale ausschöpfen können.
Meine Damen und Herren, wir sind froh, unter den
gegebenen Rahmenbedingungen eine verantwortungs-
volle Haushaltspolitik betreiben zu können. Das genau
ist und bleibt unsere Pflicht.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Rüdiger Kruse für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Hätte ich diese Rede nach der Bereinigungssitzungdes Haushaltsausschusses vor etwa 14 Tagen gehalten,hätte ich vermutlich hauptsächlich darüber gesprochen,wo wir als Parlamentarier zu Recht unsere Akzente ge-setzt haben. Wir haben zum Beispiel gesagt: Wir wollenfür die Förderung der deutschen Sprache im Ausland8 Millionen Euro mehr ausgeben. – Das ist nach wie vorein wichtiger Punkt.Aber in der Zwischenzeit hat sich etwas verändert– auch Sie haben es wahrscheinlich gemerkt, als Sie indieser Woche nach Berlin gekommen sind –: Das Er-scheinungsbild des Regierungsviertels hat sich verän-dert. Als ich heute Morgen mit einem Mitarbeiter diekurze Strecke vom Reichstag zum Paul-Löbe-Haus ge-gangen bin, wurde ich kontrolliert, und alles war nettund freundlich. Es hat aber etwas gefehlt: Da standenkeine Menschen. Die Transparenz, die auch in diesemGebäude sichtbare Kultur der Transparenz, ist plötzlichweg. Das gilt sowohl für das Paul-Löbe-Haus als auchfür die Reichstagskuppel, die momentan für Besuchergeschlossen ist. Das alles hat sich verändert.Mit Blick auf die Zukunft – denn nach der Haushalts-aufstellung ist vor der Haushaltsaufstellung – müssenwir uns fragen: Was müssen wir im Kulturbereich zu-künftig tun? Welche Debatte müssen wir gemeinsamführen und in welchen Dialog eintreten, um neue Ak-zente zu setzen? Wie gehen wir mit der Erkenntnis, dassdie Freiheit auch bei uns elementar bedroht ist, um?
– Lassen Sie uns doch debattieren und gemeinsam nachLösungen suchen. Ich glaube, Sie hätten vor diesem Hin-tergrund keinen anderen Haushalt aufgestellt, als wir esgetan haben.
Das ist durchaus normal. Das ist Regierungsverantwor-tung.Hier sind auch Sie von den Grünen gefordert. Ihrfreundliches, weltoffenes Modell nach dem Motto:„Wenn ich nett bin und freundlich auf die Menschen zu-gehe, dann werden auch alle anderen lächelnd auf michzugehen“ funktioniert in dieser Welt leider nicht. Das ha-ben wir erfahren.
Wir haben auch erfahren müssen, dass es nicht mehrder Konflikt zwischen zwei Systemen ist, die beide ge-danklich aus Europa stammen. Auch der Marxismus-Le-ninismus – sosehr man ihn ablehnen mag – ist ein euro-päischer Gedanke.Jetzt sind wir aber mit Dingen konfrontiert, die nichteuropäisches Gedankengut sind und die nicht in einemlangen Dialog und nicht in parlamentarischer Diskussionentstanden sind.
– Richtig, die Menschenrechte sind universell. Sie sindplötzlich universell bedroht.Sie erinnern sich vielleicht: In den 90er-Jahren gab eseinmal das Thema „Ende der Geschichte“. Das war dieIllusion, dass wir in eine überaus friedliche und ruhigePhase entlassen werden würden, in der es zwar noch einpaar Kleckerstaaten gibt, die undemokratisch sind, aberdas würde man mit der Zeit aufräumen. Und das istplötzlich nicht mehr so, sondern wir müssen uns vertei-digen.Worum geht es? Es geht immer um den Konflikt: In-dividuum als Erstes oder Staat als Erstes?Der chinesische Kapitalismus, für den man noch einneues Wort erfinden muss, weil das kein normaler Kapi-talismus ist, ist ein System, das grundsätzlich anders istals unser System und das auch ohne Freiheitsrechte wirt-schaftlich erfolgreich ist. Sie wissen, was mit Ihrenfreien Reden passieren würde, wenn Sie sie in China hal-ten würden. Das ist etwas, was wir beide nicht wollen;
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Rüdiger Kruse
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denn wir beide wollen, dass Sie Ihre freien Reden hierhalten können und dass das auch zukünftig möglich ist.Es gibt noch andere Ismen, die uns bedrohen und mitdenen wir umgehen müssen. Dabei muss die Kultur eineRolle finden und auch zugewiesen bekommen. Diese istsicherlich anders, als es früher einmal war, als man ge-sagt hat: Kultur im Auswärtigen zeigen ist, man bringtden Franzosen einmal bei, dass Deutschland nicht nurWagner ist. – Das ist eine nette Geschichte. Das Gleichegilt für Amerika oder Japan. Das Ganze ist nämlich auchein bisschen wirtschaftsfördernd. Dementsprechendkann man das einmal stärker und einmal weniger starkmachen.Wir müssen uns jetzt überlegen: Wie überzeugen wirandere Kulturen davon, dass dieses freiheitliche Mo-dell ein Gewinn für alle ist, und zwar unabhängig davon,welcher Religion sie angehören, weil dieses freiheitlicheModell ein Vorteil ist?
– Ich rede nicht vom Kampf der Kulturen. Ich rede da-von, dass es entweder Freiheit oder Unfreiheit gibt.Ich glaube, dass das, was wir an Kultur in Deutsch-land und auch in Europa haben, gerade in der Auseinan-dersetzung besteht. Kultur ist in Deutschland nichtstaatstragend. Kultur ist oftmals ein Ärgernis, und auchKunst ist oftmals ein Ärgernis. Das bedeutet aber auch,etwas über die Gesellschaft zu erfahren. Viele Leute är-gern sich darüber, und auch Politiker sind sauer, wennim Schauspielhaus in Hamburg nackte Menschen andert-halb Stunden auf der Bühne frieren und sie nicht sehen,welchen Sinn das haben soll. Das gibt es in totalitärenSystemen nicht.
Wir haben das große Privileg mit der Kultur, dass sieuns wehtut, dass sie uns ärgert und dass wir sie vielleichtnicht verstehen. Was man jetzt exportieren muss, ist die-ses Bild von einer Gesellschaft, in der die Menschenzum Beispiel solche Äußerungen über Theater, über bil-dende Künste oder auch über Musik machen können, da-mit ihre Individualität leben und sich in einem kollekti-ven System nicht zurückstellen müssen. Ich glaube, dasist die große Auseinandersetzung.Darum wäre es wertvoll, wenn wir darüber redeten,welchen Beitrag Kultur leisten kann und wie wir siedann ausstatten müssten. Dafür haben wir jetzt ein Jahrlang Zeit. Das ist eine Aufforderung an uns alle.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Eva Högl für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichlenke zum Schluss unserer Haushaltsdebatte noch ein-mal den Blick auf Europa. Vor allen Dingen stelle ich alsAllererstes die Frage: Wo ist eigentlich das AuswärtigeAmt in der Europadebatte?
Herr Bundesminister, Sie sind für Europa zuständig;das wissen wir. Aber das, Herr BundesministerWesterwelle, was Sie an das Ende Ihrer Rede gepressthaben, die drei Sätze, die Sie sich zum Thema Europaabgerungen haben, ist weit davon entfernt, auch nur an-satzweise eine Perspektive für Europa zu formulieren.
Ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, neige überhauptnicht zu Dramatik. Aber die Situation, in der wir uns inEuropa befinden, ist dramatisch. Bei unseren Debattenüber die Europapolitik geht es nämlich nicht mehr nurum Details der europäischen Integration. Es geht in derEuro-Krise nicht nur um die Bankenrettung und die Ret-tung von Staatsfinanzen, sondern es geht um Europa alssolches. Es geht um das, was Europa ausmacht, nämlichSolidarität und Zusammenhalt.In der Europadebatte haben wir unsere Identifikationmit diesem genialen Zukunftsprojekt verloren. Ich darfhier an das erinnern, was der Kollege Manfred Link zuBeginn unserer Debatte und was auch KollegeWellmann gesagt hat, dass Europa nämlich nicht mehrBezugspunkt der USA ist. Dafür, dass wir in solch einerSituation sind und dass wir das beklagen müssen, istaber die Bundesregierung verantwortlich.
Die Bundesregierung ist dafür verantwortlich, dassDeutschland nicht mehr Motor, sondern Bremse in Eu-ropa ist. Die Bundesregierung ist auch dafür verantwort-lich, dass wir die kleinen Länder aus dem Blick verlie-ren. Es ist gut, wenn Deutschland und Frankreich sichverständigen, aber es ist schlecht, wenn wir die kleinenLänder außer Acht lassen. Es hat die deutsche Europa-politik immer ausgezeichnet, dass wir versuchen, sie un-abhängig von dem Motor Deutschland/Frankreich auchin Übereinstimmung mit den kleinen Ländern und ihrenInteressen zu bringen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen ge-meinsam beklagen, dass es in der Europapolitik fast aus-schließlich nur noch um nationale Interessen geht. Über-all und insbesondere in Deutschland werden dienationalen Interessen vor die europäischen Interessengestellt. Dadurch wird Europa in Gänze infrage gestellt.Das ist eine ganz dramatische Kehrtwende der deutschenEuropapolitik, die sich immer gerade dadurch ausge-
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Dr. Eva Högl
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zeichnet hat, dass ganz anders dort herangegangenwurde.Angesichts der Krise will ich kurz auch noch einmalhervorheben, worum es in der Krise nicht gehen kann.Es ist jetzt in der Krise nicht hilfreich, mit Empfehlun-gen an einzelne Mitgliedstaaten zu reagieren, zum Bei-spiel den Griechen vorzuschreiben, das Renteneintritts-alter zu erhöhen, oder den Iren vorzuschreiben, dieSteuern zu erhöhen.
Es ist auch nicht hilfreich, mit Stimmrechtsentzug zudrohen.
Gerade wir als föderales Land sollten uns noch einmalvor Augen führen, was es heißen würde, wenn wir etwaden Bundesländern vorschreiben würden, im Bundesratnicht mehr mitstimmen zu dürfen, wenn sie in der Bil-dungspolitik oder in der Kulturpolitik etwas täten, wasuns auf der Bundesebene nicht passte.Das sind keine Lösungen. Wir brauchen mehr undnicht weniger Europa – auch und gerade zur Bewälti-gung der Krise.
Wir haben entscheidende Fehler gemacht. Auch da-ran möchte ich kurz erinnern: Wir haben es bisher nichtgeschafft, eine Koordination der Wirtschafts-, der Fi-nanz- und vor allem auch der Sozialpolitik zu erreichen.Das ist ein riesengroßes Manko, das uns jetzt in der Eu-ropapolitik auf die Füße fällt.Wir haben auch die Chance vertan – ich habe das hierim Haus schon mehrfach gesagt –, mit dem ProgrammEuropa 2020 ein wirkliches Zukunftsprogramm zu for-mulieren, mit dem wir Europa fit für den Wettbewerbmit anderen Regionen machen. Die Chance war da, unddiese Bundesregierung hat genau diese Chance vertan.
Mir ist noch ein Punkt wichtig, weil wir hier ja in derHaushaltsdebatte sind. Sparen durch Sozialabbau istkein Rezept. Das, was wir hier erlebt haben, der Sozial-abbau – gerade gestern wurde das bei dem Haushalt fürArbeit und Soziales wieder deutlich –, ist weder ein Re-zept für uns hier in Deutschland noch ein Rezept für dieanderen Mitgliedstaaten noch ein Rezept für Europa ge-nerell. Wir müssen sparen – das wissen wir –, und auchin Europa muss gespart werden, aber wir müssen intelli-gent sparen.Wenn uns daran gelegen ist, für Europa und für einengemeinsamen Weg zu werben und die Bürgerinnen undBürger auf diesem Weg mitzunehmen, dann brauchenwir klare Signale in Richtung eines sozialen Europa undnicht nur Sonntagsreden. Wir brauchen dann eine prakti-sche Politik. Diese zeigt sich auch in der Bewältigungder Krise, indem wir einen Akzent auf die soziale Si-cherheit setzen.
Meine letzte Bemerkung. Wir müssen die Zivilgesell-schaft stärken – auch das ist notwendig – und eine euro-päische Öffentlichkeit schaffen. Ein wichtiger Beitragdazu ist – insofern will ich versöhnlich schließen –, dasses im Haushalt gelungen ist, Akzente auf eine stärkerezivilgesellschaftliche Beteiligung und die europäischeÖffentlichkeit zu setzen. Wir haben damit einen Beitragzur Stärkung der europäischen Arbeit geleistet. HerrBundesminister, das ist ein kleiner, wichtiger Beitrag,aber ich hätte mir in diesem Sinne viel mehr Akzente imBundeshaushalt gewünscht.Vor allen Dingen wünsche ich mir, dass Sie Europasehr viel offensiver gestalten und für Europa werben, an-statt immer nur zu sagen, was Sie nicht wollen und wasSie verhindern wollen.Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen
Michael Link das Wort.
Frau Kollegin Högl, unsere gute Zusammenarbeit imAusschuss, wo wir uns übrigens auch mit Vornamenkennen,
wird sicherlich nicht dadurch getrübt, dass ich Sie an ei-nige Fakten erinnere.Zu der von Ihnen angemahnten guten Zusammenar-beit mit den kleinen Ländern der EU. Wenn es eine Par-tei gibt, die dazu überhaupt keinen Nachholbedarf hat,dann ist es die Freie Demokratische Partei.
Der Bundesaußenminister hat in seinem ersten Amts-jahr alle 27 Mitglieder der Europäischen Union besucht.Der Außenminister der Sozialdemokratischen Partei hatdas innerhalb eines Jahres nicht hinbekommen.Bundeskanzler Schröder hat damals, insbesondere inder Situation nach 2004, die neuen Mitglieder der Unionauf eine Art und Weise behandelt, die man nur als undi-plomatisch und brüsk bezeichnen kann. Das sogenannteDirektorium hat Schröder gemeinsam mit den großenMitgliedstaaten vorgelebt. Deshalb hat die SPD selbererst einmal enorme Hausaufgaben aufzuarbeiten. Wirräumen bei den Nachbarn der Europäischen Union teil-
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Michael Link
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weise heute noch das an Misstrauen auf, was damals un-ter anderem Bundeskanzler Schröder angerichtet hat.
Frau Kollegin Högl, Sie haben Gelegenheit zur Ant-
wort.
Lieber Michael – ich sage es so, obwohl wir uns hier
als Kollegin und Kollegen nicht duzen –, ich entschul-
dige mich, dass ich einen falschen Vornamen genannt
habe. Das ist vielleicht dem Engagement in der europa-
politischen Debatte geschuldet. Das tut der gemeinsa-
men guten Zusammenarbeit keinen Abbruch, hoffe ich.
Ich hoffe, dass ich mich bei einer Tasse Kaffee oder ei-
nem Glas Wein entsprechend entschuldigen kann.
Ich weise allerdings zurück – jetzt komme ich zur Sa-
che –, dass die SPD-Europapolitik die kleinen Länder in
Europa nicht genügend berücksichtigt hat. Ich habe es
extra noch einmal so deutlich gemacht: Es ist eine Konti-
nuität der gesamten deutschen Europapolitik gewesen,
dass wir die kleinen Länder entsprechend würdigen, ins
Boot holen, obwohl wir nie nachgelassen haben, deutlich
zu machen, dass natürlich die großen Länder – etwa
Frankreich oder Deutschland – eine Motorfunktion in
Europa haben.
Ich beklage – ich spiele insbesondere auf das an, was
heute schon angesprochen worden ist –, dass das, was
insbesondere zwischen Präsident Sarkozy und Kanzlerin
Merkel vereinbart wurde, völlig außer Acht lässt, welche
Interessen die kleinen Länder haben. Da hätte man viel
mehr ins Boot holen können. Man hätte nicht nur viel
sensibler agieren können, sondern müssen. Das war die
Aussage, die ich in meiner Rede getroffen habe.
Wenn wir uns gemeinsam darauf verständigen, dass
wir zu dieser Kontinuität der Europapolitik zurückkeh-
ren, die meines Erachtens ein Erfolgsrezept der deut-
schen Europapolitik war und wieder sein sollte, dann ha-
ben wir in diesem Punkt eine Verständigung erreicht. In
diesem Sinne wäre es gut, wenn wir da auch die FDP an
der Seite hätten
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Bettina Kudla für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Wir sind nun am Schluss der Debatte zurBeratung des Einzelplans 05 des Auswärtigen Amtes.Der Außenminister hat es zwar bereits erwähnt, aber las-sen Sie mich noch einmal darauf hinweisen, was zu Be-ginn des Einzelplanes aufgezählt ist.Danach dient der Auswärtige Dienst … einer dauer-haften, friedlichen und gerechten Ordnung in Eu-ropa und zwischen den Völkern der Welt, …Der Aufbau eines vereinten Europa ist Kernaufgabe.Wesentlicher Faktor eines vereinten Europa ist die ge-meinsame Währung innerhalb der 16 Euro-Staaten unddie Wechselbeziehungen zu den an den Euro-Kurs ge-bundenen Staaten der EU.Lassen Sie mich kurz auf die Funktionsweise derEuro-Zone im Hinblick auf die aktuelle Situation inIrland eingehen. Meine Damen und Herren, der Bun-deshaushalt enthält keine Ausgaben für den sogenanntenEuro-Rettungsschirm. Diese Tatsache möchte ich deut-lich hervorheben. In dem im Mai dieses Jahres beschlos-senen Rettungsschirm garantieren die Euro-Staaten ge-meinsam mit dem IWF und auf Basis des EU-Haushaltesbestimmte Hilfsmaßnahmen.Ich möchte unterstreichen, dass es aktuell nicht umdie Bereitstellung von Geldern durch die Euro-Staatengeht; es geht vielmehr um die Anwendung von Hilfs-mechanismen, die im Mai beschlossen worden sind. Zieldes Rettungsschirms ist, vorübergehend mit Garantienzu helfen, um schwierige Situationen in einzelnen Euro-Staaten zu überwinden und damit Vermögensverluste fürdie Bevölkerung Europas zu vermeiden.Ich möchte auch auf die Ausführungen der Linkeneingehen, weil in den Raum gestellt wurde, dass dieBundesregierung leichtfertig mit Steuergeldern umgehenwürde. Sie wissen genau, dass sich im Jahr 2008 dieStaaten weltweit verständigt haben, keine systemrele-vanten Banken mehr in die Insolvenz gehen zu lassen,um das Vermögen der Bevölkerung zu schützen. Ichdenke, daran sollten wir uns auch weiter halten. Natio-nale Alleingänge sind nicht angebracht. Man muss ausvergangenen Wirtschaftskrisen wie der von 1929 dieLehren ziehen.Man muss jetzt unaufgeregt an die Problemlösungenherangehen. Es gilt, die einheitliche Wirtschafts- undWährungsunion weiterzuentwickeln. Die Probleme inIrland kommen unter anderem daher, dass man in Irlandviel zu schnell eine wirtschaftliche Angleichung an an-dere Staaten erreichen wollte, teils mit sehr niedrigenSteuersätzen, teils mit einer unverantwortlichen Kredit-vergabe.Jedes Extrem ist schlecht. Wichtig ist jetzt, dass wir inEuropa eine Annäherung der Steuersätze erreichen. Ichbetone: eine Annäherung, nicht zwangsläufig eine An-passung. Wettbewerb zwischen den Regionen muss nachwie vor möglich sein. Der von der Bundesregierung ein-geschlagene Weg ist daher richtig.
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Bettina Kudla
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Wir müssen auch langfristig die Schwächen derEuro-Zone beseitigen, und zwar insbesondere durch fol-gende Maßnahmen: Erstens sind Mechanismen und Auf-lagen des bestehenden Rettungsschirms konsequentanzuwenden, sofern ein Staat entsprechende Hilfen benö-tigt. Zweitens muss eine bessere Bankenaufsicht einge-richtet werden. Die zum 1. Januar 2011 auf europäischerEbene geschaffene Finanzaufsicht ist dabei genauso ge-fordert, wie es die nationalen Aufsichten sind. Das hoheStaatsdefizit in Irland ist vor allem dadurch entstanden,dass der Staat die Banken entsprechend stützt.Wirtschaftliche Fehlentwicklungen – sprich: die Bil-dung von Blasen – müssen rechtzeitig transparent ge-macht werden. Des Weiteren – das ist ein ganz wesentli-cher Punkt – muss nach dem Auslaufen des bisherigenRettungsschirms 2013 ein neuer, wirksamer Sanktions-mechanismus in Kraft treten.
Die genannten Ziele werden wir nur dann erreichen,wenn wir weiterhin konsequent konsolidieren. Die Bun-desregierung wird den erreichten Paradigmenwechselbei der Staatsverschuldung weiter konsequent umsetzen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ulrich von der Linksfraktion?
Bitte schön.
Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, was die Steuer-
sätze in Europa angehe, solle es keine Anpassung, son-
dern eine Annäherung geben. Sie haben das mit der Aus-
sage begründet, es müsse auch weiterhin Wettbewerb
möglich sein. Finden Sie es verantwortbar, dass der
Unternehmensteuersatz in Irland bei 12,5 Prozent
liegt? Insofern bedeutet Wettbewerb auch, dass in der
Vergangenheit Arbeitsplätze aus Deutschland nach Ir-
land oder in andere Regionen abwandern konnten. Der
deutsche Steuerzahler soll das jetzt über den Euro-Ret-
tungsfonds ausgleichen. Halten Sie nicht auch eine An-
passung nach oben für notwendig? Denn es kann nicht
sein, dass der Steuerzahler in Deutschland zunächst die
durch den ruinösen Steuerwettbewerb wegfallenden Ar-
beitsplätze zu finanzieren hat und dann auch noch die
Lücken ausgleichen muss, die zum Beispiel dadurch ent-
standen sind, dass Irland seine Einnahmeseite zu
schwach hält?
Herr Kollege, ich glaube, ich habe es klar und deut-
lich gesagt: Selbstverständlich müssen die Steuersätze
in den Ländern erhöht werden, in denen extreme Unter-
schiede zum EU-Durchschnitt zu verzeichnen sind. Das
heißt aber nicht, dass alle EU-Staaten denselben Steuer-
satz haben müssen. Das wäre kontraproduktiv.
Man muss doch auch regionale Unterschiede berück-
sichtigen.
Irland ist kein Industrieland. In Irland gab es nicht die in-
dustrielle Revolution. Aber Irland hat sich in den letzten
Jahren zu einem Hightechland entwickelt. Also müssen
hier gewisse geringe Unterschiede weiterhin möglich
sein. Aber ich gebe Ihnen recht, es kann nicht sein, dass
der eine Staat auf Kosten des anderen lebt.
Auch die Verschuldung der Kommunen und der Län-
der fließt in die Maastricht-Kriterien ein. Aufgrund der
guten Konjunktur sind hier positive Effekte zu erwarten.
Wirtschaftswachstum ist immer noch die beste Form der
Haushaltskonsolidierung. Unverantwortlich ist es daher,
wenn die Neuverschuldung unter der rot-grünen Landes-
regierung in NRW etwaige positive Effekte hinsichtlich
der Maastricht-Kriterien bei den Kommunen gleich wie-
der zerstört.
Zentrale Bedeutung in diesem Zusammenhang hat na-
türlich auch die Entwicklung des EU-Haushalts. Beim
EU-Haushalt gilt es, die notwendigen Aufgaben mit ei-
nem effizienten Mitteleinsatz zu finanzieren.
Zum Schluss noch einige Worte zum künftigen
Sanktionsmechanismus, der ab Mitte 2013 in der EU
gelten soll. Es ist geplant, die Haushalte der europäi-
schen Staaten bis 2013 so weit zu konsolidieren, dass die
Maastricht-Kriterien eingehalten werden. Das kann man
nur erreichen, wenn die Schuldenbremse auch in ande-
ren EU-Staaten umgesetzt wird. Wenn ein Staat diese
Kriterien dann immer noch nicht einhält, müssen ent-
sprechende neue Mechanismen greifen. Dazu gehören
sowohl die Beteiligung privater Gläubiger als auch wir-
kungsvolle Sanktionen.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel-plan 05, Auswärtiges Amt, in der Ausschussfassung.Wer stimmt für den Einzelplan 05 in der Ausschussfas-sung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerEinzelplan 05 ist mit den Stimmen der beiden Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositions-fraktionen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.10 auf:Einzelplan 14Bundesministerium der Verteidigung– Drucksachen 17/3513, 17/3523 –
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Berichterstattung:Abgeordnete Bartholomäus KalbKlaus-Peter WillschBernhard Brinkmann
Dr. h. c. Jürgen KoppelinDr. Gesine LötzschAlexander BondeZum Einzelplan 14 liegt ein Entschließungsantrag derFraktion Die Linke vor, über den wir am Freitag nachder Schlussabstimmung abstimmen werden.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenBernhard Brinkmann für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Bun-deswehr steht mit dem angekündigten Reformvorhabenvor der größten Herausforderung ihrer Geschichte. DieEmpfehlungen der Weise-Kommission machen sehrdeutlich, wo die Probleme liegen, und zeigen darüber hi-naus auch den haushalts- und finanzpolitischen Spiel-raum der nächsten Jahre auf.Die Kommission kommt unter anderem zu dem Er-gebnis, dass die Bundeswehr künftig nicht mehr Geldbrauche als bisher, aber auch keine wesentlichen Ein-sparungen leisten könne. Es ist daher Ihre vordringlicheAufgabe, Herr Minister zu Guttenberg, dem Parlamentzügig aufzuzeigen, wo Sie die avisierten 8,3 MilliardenEuro einsparen wollen. Bisher liegen jedenfalls keinebelastbaren Konzepte vor. Bisher gibt es Zahlen aus demBundeskanzleramt und dem Bundesfinanzministerium,die eine Größenordnung von 1,5 Milliarden Euro haben.Es wird eine Herkulesaufgabe sein, allein diese Lücke inden Haushalten für 2012 und die Folgejahre zu schlie-ßen. Das ist meines Erachtens fast unmöglich. Allein dieglobalen Minderausgaben haben schon dazu geführt,dass in weiten Teilen der Truppe bestimmte Aufgabennicht mehr erfüllt werden können. Hier gibt es noch eini-ges zu tun.Wer sich die großen Ausgabenblöcke des Verteidi-gungshaushalts vor Augen führt, muss zu der Überzeu-gung gelangen, dass selbst bei der vorgesehenen Redu-zierung des Personals, also der Zahl der Soldatinnenund Soldaten sowie der zivilen Mitarbeiterinnen undMitarbeiter – auch diese Größenordnung steht noch nichtfest –, die Personalkosten von derzeit rund 12 MilliardenEuro zwar sinken, aber gleichzeitig ein enormer Anstiegan Leistungen für Pensionen und Altersversorgung zuverzeichnen sein wird. Auch hier müssen wir in dennächsten Monaten zu belastbaren Zahlen kommen. Auchhier sind Sie, Herr Minister, ausdrücklich gefordert.Die Weise-Kommission zeigt zudem klar auf, dassdas vom Verteidigungsminister favorisierte Modell mit163 500 Soldatinnen und Soldaten weder finanziell un-terlegt ist noch den sicherheitspolitischen Erfordernissenunseres Landes entspricht. Es ist also ganz sicher keineAntwort auf die von Frau Merkel heute Morgen erwähn-ten neuen Bedrohungen und Aufgaben.Dass die Einsparungen an Personal nicht mit entspre-chenden Einsparungen im Haushalt gleichzusetzen sind,zeigt sich bereits an folgender Rechnung: Die Ausgabenfür Personal und Versorgung belaufen sich auf circa52 Prozent des Gesamthaushalts, nämlich 37,9 Prozentfür Personal und 14,3 Prozent für Versorgung. Bei einer1-prozentigen Besoldungs- und Tarifanpassung ein-schließlich der Pensionen ergeben sich jährliche Mehr-ausgaben in Höhe von 130 Millionen Euro. Bei 3 Pro-zent werden es 400 Millionen Euro sein, die in dennächsten Jahren im Einzelplan 14 unterlegt werden müs-sen. Wie gesagt, weniger Soldatinnen und Soldaten so-wie weniger ziviles Personal reduzieren zwar punktuelldie Personalausgaben. Gleichzeitig steigen allerdings dieVersorgungskosten überproportional.Jede Reform benötigt – das wissen wir aus der Ver-gangenheit – eine Anschubfinanzierung, diese Reformganz besonders; denn eine Umsetzung der Kommis-sionsvorschläge ist mit den in der mittelfristigen Finanz-planung vorgesehenen Haushaltsmitteln nicht möglich.Wie erwähnt, gehen selbst das Finanzministerium unddas Kanzleramt davon aus, dass die beabsichtigten Ein-sparungen in Höhe von 8,3 Milliarden Euro bis 2014nicht zu erzielen sind.Landauf, landab wird über die dringend erforderlicheSteigerung der Attraktivität der Bundeswehr gespro-chen. Auch hierzu sind Mehrausgaben in Millionenhöheerforderlich. Wie die Weise-Kommission festgestellt hat,ist es nämlich ein zwingendes Erfordernis, künftig dieWettbewerbsfähigkeit der Bundeswehr als Arbeitgeberzu stärken. Das bedeutet unter anderem die Planung undUmsetzung von Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Fa-milie und Dienst, für neue Laufbahnen, zur Verstärkungder Aus- und Weiterbildung sowie für einen erleichtertenÜbergang in Zivilberufe. Auch das wird künftige Haus-halte mehr als bisher belasten.Bei den militärischen Beschaffungen verhält es sichähnlich. Ich wäre Ihnen, Herr Minister zu Guttenberg,sehr dankbar, wenn Sie auch hier unter Berücksichtigungder künftigen Strukturen unserer Streitkräfte belastbaresZahlenmaterial vorlegten, das selbstverständlich auch– diese Erfahrung haben wir in der Vergangenheit ge-macht – eine Preissteigerungsvariante enthalten muss.Äußerste Priorität hat hierbei ohne Wenn und Aber diebestmögliche Ausstattung der im Einsatz befindlichenSoldatinnen und Soldaten. Es kann künftig nicht mehrangehen, dass teilweise mehr als zwei Jahre ins Land ge-hen, bevor entsprechende Ausrüstungsgegenstände zurVerfügung stehen.
Für die Sicherheit der Truppe und die SicherheitDeutschlands darf nicht entscheidend sein, was wir unsnoch leisten können, sondern was auch künftig zwin-gend notwendig ist. Das muss finanziert werden.
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8126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Bernhard Brinkmann
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Das Papier der Weise-Kommission ist auch für andereMinisterien empfehlenswert. Man sollte Herrn Weisevielleicht einmal beim BMZ einsetzen. Das sollte nachden Vorstellungen des heutigen Ministers geschlossenwerden. In dem Papier wird angeregt, im Ministeriumdie Dienstpostenzahl auf circa 1 500 zu reduzieren.Gleichzeitig soll der alleinige Dienstsitz künftig hier inBerlin sein. Auch das wird eine Herausforderung sein,und das sollte von Ihnen, Herr Minister, so zeitnah wiemöglich vorbereitet werden.Bei einem künftigen jährlichen strukturellen Ergän-zungsbedarf von voraussichtlich 15 000 Soldatinnen undSoldaten bei gleichzeitig ausgesetzter Wehrpflicht wer-den circa 50 000 bis 60 000 Bewerberinnen und Bewer-ber benötigt, um eine entsprechende Auswahl treffen zukönnen. Das ist ebenfalls eine Herkulesaufgabe, dienicht ohne weitere Ausgaben zu meistern sein wird.Wer durch das Land fährt und die Streitkräfte besucht,wird vor Ort erfahren, dass die Verunsicherung in derTruppe groß ist. Es ist daher unsere gemeinsame Auf-gabe, alle Betroffenen im Reformprozess mitzunehmen.Eine auch künftig hochmotivierte Bundeswehr, zu derauch die vielen zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterund auch die Reservisten gehören, benötigt so schnellwie möglich Planungssicherheit.
Also, Herr Minister zu Guttenberg, ran an die Arbeit!Jetzt ist Kärrnerarbeit gefragt. Das passt zu der Jahres-zeit und dem Wetter heute. Die Schönwetterzeit ist vor-bei. Wir sind gespannt, inwieweit Sie Ihren Zeitplan,was die Vorlage im Kabinett und die weiteren Beratun-gen angeht, werden einhalten können. Vielleicht hörenwir anschließend noch etwas dazu.Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um Dank auszu-sprechen. Dieser geht in erster Linie an die Soldatinnenund Soldaten, an die zivilen Helfer sowie insbesonderean deren Angehörige. Seien Sie versichert: Es wird ge-würdigt, was Sie für unser Land tun.
Die Auslandseinsätze werden von der Linkspartei ineiner Art und Weise kritisiert, die – das füge ich ganzselbstbewusst und sehr deutlich hinzu – nicht hinnehm-bar ist.
Denken Sie einmal daran zurück, was Sie bis 1989 allesangerichtet haben. Dafür tragen Sie teilweise die Verant-wortung. Sie haben versucht, das bei der heutigen außen-politischen Debatte schönzureden.Ihnen, Herr Minister, und Ihrem Haus herzlichenDank für die stets zur Verfügung gestellten Informatio-nen. Wir gehen davon aus, dass das auch in Zukunft imSinne einer konstruktiven Zusammenarbeit so bleibt.Den Einzelplan lehnen wir ab, nicht nur wegen der vonmir angesprochenen Punkte, sondern auch wegen derProbleme, die wegen der Verzögerungen und der Un-wägbarkeiten des Reformvorhabens mit Sicherheit inden nächsten Monaten noch auf uns zukommen werden.Eine konstruktive Mitarbeit kündige ich hiermit an. Zuder sind wir sehr gerne bereit.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Klaus-Peter Willsch für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber KollegeBrinkmann, in Ihrer Rede waren durchaus viele Gemein-samkeiten mit uns zu erkennen. Das Kleinteilige undMäkelige ist natürlich typisch für die Opposition. Schö-ner wäre es gewesen, wenn Sie die zentralen Punkte, indenen wir als Deutscher Bundestag übereinstimmen– wir schicken gemeinsam die Parlamentsarmee in denEinsatz –, aufgezählt und damit mehr Gemeinsamkeitdemonstriert hätten. Wir mit unserem Minister Karl-Theodor zu Guttenberg an der Spitze haben jedenfallsgezeigt, dass diese christlich-liberale Koalition die Kraftzum großen Wurf hat, dass wir in der Lage sind, die tief-gehendste Reform unserer Streitkräfte der letzten20 Jahre zu schultern und mutig anzugehen.
Wir haben uns bereits bei der ersten Lesung damitauseinandergesetzt. Zu Zweifeln an den vorgegebenenTerminen gibt es überhaupt keinen Anlass.
Wenn Sie meinen Beitrag zur ersten Lesung nachlesenoder wenn Sie sich ihn in Erinnerung rufen, dann werdenSie feststellen, dass ich angesichts des vorgegebenenZeittableaus – Parteitag CSU, Parteitag CDU, Berichtder Weise-Kommission – immer wieder betont habe:Wir haben es mit einer Haushaltsaufstellung unter derBedingung extremer Unsicherheit zu tun, weil wir nochnicht genau wissen, wie die Zielstruktur aussieht. Dasgilt zum Teil auch noch heute; das haben Sie angespro-chen. Ich bin dankbar dafür, dass wir durch die Kom-mandeurtagung in Dresden in dieser Woche etwas mehrAufschluss bekommen haben. Nunmehr können wirmunter und mutig auf dem Weg voranschreiten, dieStreitkräfte so umzubauen, wie es für diese Zeit und fürdie Einsatzszenarien, die wir heute haben, notwendig ist.Zunächst will ich – da schließe ich mich Ihnen aus-drücklich an, Herr Kollege Brinkmann – dem Haus ganzherzlich danken. Die Zusammenarbeit war vertrauens-voll. Unsere Informationswünsche wurden umfassenderfüllt. Auch im Namen der ganzen Fraktion richte ichmeinen Dank an die Soldaten. Wir wissen, was im Ein-satz geleistet wird. Wir müssen bekümmert zur Kenntnis
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8127
Klaus-Peter Willsch
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nehmen, dass es in diesem Jahr auch Opfer gab; Kame-raden sind gefallen. Wir gehen mit unserer Verantwor-tung, unsere Armee in Einsätze zu schicken, nicht leicht-fertig um. Wir wissen es wirklich wertzuschätzen, wasdort – im Einsatz, aber auch bei der Unterstützung in derHeimat – geleistet wird.
„Vom Einsatz her denken“, so lautet die Überschriftdes Abschlussberichts der Weise-Kommission. Das istin der Tat das, was wir in der Organisation der Bundes-wehr brauchen. Wir haben hervorragende Soldaten, dieAusgezeichnetes in vielfältigen Einsatzszenarien leisten.Wann immer man mit Alliierten spricht, wann immerman selbst mit der Truppe im Einsatz spricht oder mitVertretern der Länder, zu deren Schutz sie unterwegssind, bekommt man das bestätigt: Auf die Bundeswehrkann man sich verlassen.Darüber hinaus müssen wir für einsatzfähige Struk-turen sorgen. Wenn wir schauen, wie die Einsätze ausse-hen, stellen wir fest: Das ist die Zukunft der deutschenStreitkräfte: in internationalen Einsätzen rund um denGlobus Frieden und Freiheit unseres Vaterlandes schüt-zen. Dazu gehört auch der Schutz des freien Welthandelsals wesentliche Quelle unseres Wohlstands; schließlichsind wir eine große Außenhandelsnation.Wenn wir heute noch nicht mit letzter Klarheit sagenkönnen, wie sich das alles haushaltsmäßig abbildet, dannliegt das daran, dass wir mitten in diesem Transforma-tionsprozess sind. Wir müssen zunächst folgende Fra-gen beantworten: Welche Fähigkeiten wollen wir erhal-ten? Welche Fähigkeiten wollen wir hinzufügen? Beiwelchen Fähigkeiten wollen wir uns darauf verlassen, iminternationalen Verbund mit den Partnern zu wirken,diese Fähigkeiten also unter den Bündnispartnern aufzu-teilen? Sie alle wissen: Die NATO hat auf dem Lissabon-Gipfel in der letzten Woche entschieden, sich auf einengemeinsamen Raketenabwehrschirm zu verlassen undRussland anzubieten, hierbei zu kooperieren, was einqualitativ neuer Schritt ist.Die endgültige Festlegung des Streitkräfteumfangskann nun zügig angegangen werden, nachdem CDU wieCSU die Aussetzung der Wehrpflicht eindeutig be-schlossen haben. Das entspricht unserem festen Willen,die Truppe, die Streitkräfte, konsequent auf Einsätzeauszurichten. Wir konnten den Vorteil eines sechsmona-tigen Grundwehrdienstes nämlich nicht mehr erkennen.Das hat jetzt Auswirkungen positiver Art auf denHaushalt 2011. Je schneller wir zu den Entscheidungenkommen, desto besser. Ein Wunschtermin ist bereits ge-nannt worden: 1. Juli 2011. Ich hoffe, dass wir diesenTermin einhalten. Wenn es nur noch ein gutes halbesJahr Wehrpflichtige gibt, dann heißt das weniger Sold,weniger Ausrüstung, weniger persönliche Ausstattung,weniger Unterkunft. Jetzt muss also alles Möglichemöglichst schnell realisiert werden. Aber wir müssenuns für die Folgejahre – das haben Sie, Herr KollegeBrinkmann, angesprochen; dafür bin ich Ihnen dankbar;lassen sie uns gemeinsam daran arbeiten – darüber Ge-danken machen, was wir zusätzlich brauchen; denn wirwerden für andere Aufgaben Mehraufwendungen haben.Wir werden in die Kasernen bzw. die Unterkünfte et-was hineinstecken müssen. Wir müssen um Freiwilligesowie um Zeit- und Berufssoldaten werben und dazu denDienst attraktiver machen. Zivilberufliche Qualifika-tionsmöglichkeiten innerhalb des Dienstes werden wirstärken müssen. All das steht vor uns. Dass wir all dieseFragen heute noch nicht vollständig beantworten kön-nen, liegt am Wesen des Prozesses, den wir geradedurchlaufen. Insofern bitte ich da um Verständnis undkonstruktive Zusammenarbeit.Wir haben in den aktuellen Haushaltsberatungen vorallen Dingen in einem Bereich finanziellen Nachbesse-rungsbedarf gesehen. Das ist der Sanitätsdienst derBundeswehr, der ja für den Soldaten im Einsatz von ex-trem hoher Bedeutung ist. Die Sicherheit zu haben, dassder Sani kommt und er optimal versorgt wird, ist für denSoldaten, den wir in den Einsatz schicken, wichtig. Des-halb haben wir gesagt: Hier geben wir mehr aus. Wir ha-ben umfangreiche Aufstockungen um insgesamt 22 Mil-lionen Euro vorgenommen. Das ist im Übrigen eineTeileinheit, die bei unseren Bündnispartnern sehr hohesAnsehen genießt. Wir sind der Auffassung: Hier müssenwir mehr tun.Zur Erhaltung und Verbesserung der Einsatzfähigkeithaben wir auch die einsatznahen Bereiche Materialerhal-tung Schiffe/Boote, Materialerhaltung Luftfahrzeugeund Munitionsbeschaffung mit Aufwüchsen versehen.Auch hier steht wieder der Gedanke im Vordergrund, dieSoldaten im Einsatz bestmöglich zu versorgen.Eine Frage, die ich auch beim letzten Mal angespro-chen habe, müssen wir im Zuge der Reform mit in denBlick nehmen und versuchen, richtig zu beantworten. DerEinzelplan 14 beinhaltet auch eine industriepolitischeLast für Deutschland. Wir haben eine sehr hochwertige,hervorragende Wehrindustrie mit Hochtechnologieberei-chen. Es sind auch viele kleine und mittelständischeUnternehmen dabei. Hierzu müssen wir sagen: Der Ein-zelplan 14 muss von industriepolitischen Aufgaben ent-lastet werden. Wir müssen Wege finden, diese hervorra-genden Ingenieure und ihre Firmen unabhängiger zumachen, indem sie Möglichkeiten finden, ihre Produktein der ganzen Welt abzusetzen.Es gibt – das kann man als Haushälter nicht ver-schweigen – natürlich beim Thema Beschaffungen aus-geprägte Sorgenkinder. Aber einige Nachrichten derletzten Tage zeigen, dass auch Sorgenkinder noch dasLaufen lernen, wenn man ihnen lange genug Zeit gibtund sich mit genügender Hinwendung den Dingen wid-met.
In Bezug auf den A400M wurde eine Einigung er-zielt.
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Klaus-Peter Willsch
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Wir versuchen, die Verträge, die wir von Vorgängerre-gierungen übernommen haben, wieder einigermaßen insLot zu bekommen, und zwar hinsichtlich des kontrahier-ten Leistungsspektrums und des Preises. Ich glaube, hin-sichtlich des A400M können wir dem Haus danken, dasshier eine strikte Linie gefahren wurde. Manche Partner-länder wollten schon von Anfang an sehr viel mehr Geldauf den Tisch legen. Ich glaube, das erzielte Ergebnis istnoch einigermaßen erträglich.Der erste NH-90 wurde im Oktober an das Hub-schraubergeschwader in Holzdorf ausgeliefert, und zehnweitere werden bereits an der HeeresfliegerwaffenschuleBückeburg im Rahmen der Ausbildung der Piloten ge-flogen. Die Korvette 130 steht zur Abnahme bereit; diemuss dann eben auch erfolgen.Kollege Brinkmann, ich wende mich auch an die grü-nen Kollegen: Wir haben ja durchaus verschiedene Dis-kussionen im Haushaltsausschuss geführt, in denen dieVerantwortung, die sich aus dem Verhältnis zu unsererBundeswehr ergibt, in einem sachgemäßen Umgang mitdem Thema zum Ausdruck kam. Das, was wir anstrebenund auf dessen Verwirklichung wir hinarbeiten, ist eingroßes Reformwerk. Es wäre schön und auch ein wichti-ges Signal an unsere Soldaten, wenn wir diese Reform,die wir uns fest vorgenommen haben, hier mit konstruk-tiver Begleitung durch die Opposition über die Bühnekriegen könnten.
– Nein, Herr Kollege Brinkmann, ich habe die rote ein-fach nicht gefunden, sonst hätte ich heute mal eine roteangezogen. So ist es heute eine grüne Krawatte.
– Okay, ich verspreche Ihnen für die nächste Woche dierote.Lassen Sie mich mit Johann Wolfgang von Goetheschließen. Der hat gesagt:Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch an-wenden; es ist nicht genug, zu wollen, man mussauch tun.Auf diesem Wege befinden wir uns.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat nun Kollegin Inge Höger für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 80 Pro-zent der Bevölkerung sagen, die Bundesregierung sollebei der Bundeswehr, bei der Rüstung sparen und nichtbeim Sozialen. Verteidigungsminister zu Guttenberg ließnoch im Sommer durch die Bild-Zeitung verkünden, erwürde nun auch bei der Bundeswehr und der Rüstungsparen.
Aber weder im vorgelegten Haushalt noch im Plan zurReform der Bundeswehr geht es ums Sparen beim Mili-tär.
Die Bundeswehrreform dient der weiteren Militari-sierung der Außenpolitik und einer weltweiten Inter-ventionspolitik.
Das erklärte Ziel ist – Herr von und zu Guttenberg hat eshäufiger gesagt –, mehr Soldatinnen und Soldaten inAuslandseinsätze schicken zu können. So steigen dieMilitärausgaben 2011 um 440 Millionen auf 31,5 Mil-liarden Euro. Damit handelt es sich hier um den dritt-größten Einzelhaushalt. Dazu kommen in anderenHaushalten versteckte Ausgaben. Nach NATO-Kriterienbetragen die Ausgaben dann schon 34 Milliarden Euro.Bei der Bundeswehr wird eindeutig nicht gespart,
ganz anders als im Sozialbereich. Hier müssen die Bür-gerinnen und Bürger mit tiefen Einschnitten rechnen.Anscheinend ist das Sparargument ohnehin nur einpolitischer Hebel, mit dem die Strukturreform derBundeswehr der Öffentlichkeit und besonders derschwarz-gelben Basis verkauft werden soll. Minister zuGuttenberg hat ja immer wieder klargemacht, dass esnicht wirklich darum geht, bei der Rüstung zu sparen. Soerklärten Sie, Herr Minister, bereits am 11. Oktober vorder Hanns-Seidel-Stiftung:Die Frage kann nicht sein, was können wir uns leis-ten, sondern was ist uns die Sicherheit wert.
Nur, welche Sicherheit ist gemeint? Soziale Sicher-heit sollte allen hier im Parlament viel wert sein.
Sozialpolitik oder Gesundheitspolitik nach Kassenlagezu betreiben, das ist falsch.
Sozialpolitik nach Kassenlage ist unsozial.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8129
Inge Höger
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Es geht ganz offensichtlich auch nicht um die Sicher-heit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande; denndurch Ihre Kriegspolitik schaffen Sie neue Gefahren fürdie Menschen hierzulande und in den Einsatzgebietender Bundeswehr.
Herr Guttenberg, Sie haben Ihre Vorstellung von Si-cherheit in den letzten Tagen und Wochen sehr deutlichgemacht. Ihnen geht es vor allem um die Sicherheit derInteressen von Unternehmen, um den sicheren Zugangzu Ressourcen, um die Sicherheit der Handelsrouten.
Sie fordern etwas, was unser Grundgesetz verbietet: Siefordern Wirtschaftskriege zur Durchsetzung und Absi-cherung der Interessen deutscher Konzerne.
Dazu sagt die Linke klar und deutlich Nein.
Bei der Berliner Sicherheitskonferenz haben Sie, HerrGuttenberg, jüngst ganz bewusst ein außenpolitischesTabu in unserem Lande gebrochen. Sie haben betont,dass Sie die Position des früheren BundespräsidentenKöhler zur militärischen Interessendurchsetzung teilen.
Herr Köhler hatte wenigstens noch den Anstand, an-schließend zurückzutreten. Sie erklärten – Zitat –:Der Bedarf der aufstrebenden Mächte an Rohstof-fen steigt ständig und tritt damit mit unseren Be-dürfnissen in Konkurrenz … Da stellen sich Fragenauch für unsere Sicherheit, die für uns von strategi-scher Bedeutung sind.Mit Herrn Niebel haben Sie einen Entwicklungshilfe-minister an Ihrer Seite, der Organisationen, die in Kri-senregionen neutral und unabhängig von der Bundes-wehr arbeiten wollen, gern den Geldhahn zudrehen will.Herrn Niebels Ressort wird gleich im Anschluss behan-delt. Aber die sogenannte vernetzte Sicherheit ist ja lei-der auch ein Thema der Verteidigungspolitik geworden.Die Bundeswehr versucht genauso wie die NATO, dieenge Verzahnung von Entwicklungs-, Außen- und Ver-teidigungspolitik als großen Fortschritt zu verkaufen.Die NATO hat am Wochenende sogar beschlossen, eineeigene zivil-militärische Planungszelle einzurichten.Arme Länder brauchen Entwicklungshilfe, die sich anden Bedürfnissen der Menschen orientiert. Notwendigist eine Außenpolitik, die sich auf Diplomatie stützt undan einem gerechten Ausgleich zwischen Arm und Reichinteressiert ist.
Eine Vermischung von zivilen und militärischen Instru-menten führt zu Unklarheit und Unsicherheit. Eine Un-terordnung der verschiedenen zivilen Bereiche untermachtpolitische und militärische Prioritäten ist nach un-serer Ansicht falsch.
In Afghanistan ist drastisch zu beobachten, welche fa-talen Auswirkungen die Kriegspolitik von Bundeswehrund NATO hat. Das haben nicht erst die Bombardierungund die bewusste Inkaufnahme von toten Zivilisten amKunduz-Fluss gezeigt. Immer mehr Soldatinnen undSoldaten bringen immer mehr Unsicherheit, und immermehr Kampfhandlungen führen zu einer Eskalation desKrieges und zu immer mehr toten Soldatinnen und Sol-daten sowie toten Zivilisten.Auch bei den eingesetzten Soldaten zeigt sich eineVerrohung, die dieser Kriegseinsatz hervorruft.
Ich zitiere, was ein Soldat in einem von der Nachrichten-agentur dapd jüngst veröffentlichten Interview gesagthat:Man baut einfach einen Hass gegen die Bevölke-rung auf. … Man möchte am liebsten auch alle nor-malen Afghanen ins Jenseits befördern.Allein die Erkenntnis, dass der Einsatz in Afghanistanbei deutschen Soldaten solche Vorstellungen hervorruft,
sollte Grund genug für einen sofortigen Abzug sein.
Bitte erzählen Sie nun nicht, die NATO habe ja in Lis-sabon den Rückzug aus Afghanistan bis Ende 2014 be-schlossen. Es wurde nur der Abzug von Kampftruppenangekündigt, keineswegs der Abzug aller Soldaten. DasVorbild für diesen Plan ist der Irak: Dort sind trotz Ab-zugs der USA immer noch 50 000 US-amerikanische Sol-daten. Sie übernehmen die Gefechte in der Regel nichtmehr selbst; dies überlassen sie den irakischen Truppen.Die internationalen Truppen unterstützen und beratendie irakischen Truppen bei deren Kampf gegen andereIraker. Wie im Irak soll die Kriegsführung auch inAfghanistan Stück für Stück auf die einheimische Bevöl-kerung übertragen werden. Das ist kein Friedensplan;das ist ein Plan zur Ausweitung eines Bürgerkrieges.Das ist keine Afghanisierung der Sicherheit; das ist eineAfghanisierung des Krieges.
Die einzige Antwort kann nur sein: Bundeswehr undNATO raus aus Afghanistan!
Mit dem Rüstungshaushalt werden allein für Waffen-systeme über 5,2 Milliarden Euro ausgegeben. Darüberhinaus hat die Bundeswehr Rüstungsverträge abge-
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8130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Inge Höger
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schlossen, durch die bereits heute Verpflichtungen fürAusgaben in Höhe von mehr als 46 Milliarden Euro be-stehen. Das ist unverantwortlich.Das Verteidigungsministerium selbst gibt zu, dass na-hezu keines der Aufrüstungsprojekte zeitlich und finan-ziell im Rahmen bleibt. Auch die Qualität lässt häufig zuwünschen übrig. Durch eine absolut schlampige undhäufig verspätete Produktion bietet die Rüstungsindus-trie aber die Chance eines Ausstiegs. Diese Chance einesAusstiegs aus den Beschaffungsprojekten sollten Sienutzen.Die Regierung beharrt aber auf dem Kauf des Schüt-zenpanzers Puma oder des Kampfhubschraubers Tiger,obwohl die Industrie bis heute keine fehlerfreien Geräteliefern kann. Es gäbe die Möglichkeit einer außerordent-lichen Kündigung. Ähnliches gilt für die neuen Fregat-ten oder den Transporthubschrauber NH-90.
Die Beschaffung des Militärtransporters A400M istder teuerste Fall von Pleiten, Pech und Pannen bei derAufrüstung, an dem die Bundesregierung festhält. EADShat bereits Anfang des Jahres finanzielle und zeitlicheZugeständnisse erbettelt. Nun will der Rüstungskonzerndas einmalige Angebot machen, nur noch 170 Flugzeugezum Preis der ehemals ausgehandelten 180 Flugzeuge zuliefern. Neben anderen Zugeständnissen erhält EADS imZuge des vorliegenden Haushalts einen Kredit, der nurdann zurückgezahlt werden muss, wenn ausreichendhohe Einnahmen aus dem Export erzielt werden. Dafürwerden 500 Millionen Euro aus Steuermitteln zur Verfü-gung gestellt. Damit wird ein privates Risiko öffentlichabgesichert. Im Ergebnis wird die Aufrüstung der Bun-deswehr über die Ausweitung von Rüstungsexportenfinanziert.Das ist wohl kein Zufall. Parallel zum Umbau derBundeswehr zur Einsatzarmee sind die Rüstungs-exporte kontinuierlich angestiegen. Ich denke, ohne eineAbkehr von der globalen Interventionspolitik wird eskaum möglich sein, Rüstungsexporte zu verringern undzu kontrollieren.
Wenn man über die Bundeswehr redet, muss manauch das Bündnis betrachten, in dessen Rahmen diemeisten deutschen Soldaten im Ausland eingesetzt sind:die NATO. Am letzten Wochenende hat die NATO inLissabon ihr neues Strategisches Konzept beschlossen.Die Bilanz dieses Gipfels bei den Themen „Abrüstung“und „Frieden“ ist äußerst mager. Es ist besonders dreist,die bloße Erwähnung der atomaren Abrüstung als Erfolgzu verkaufen. Dabei wird betont – ich zitiere –:Solange es Nuklearwaffen auf dieser Welt gibt,wird die Nato eine nukleare Allianz bleiben.So schafft die NATO keine Bedingungen für die nu-kleare Abrüstung, sondern das genaue Gegenteil.
Lassen Sie mich abschließend kurz noch etwas zuraktuellen Terrorhysterie sagen. Der Vorsitzende desBundes der Kriminalbeamten, Klaus Jansen, fordertegestern:Für den Schutz besonders gefährdeter Einrichtun-gen, Infrastruktur oder Veranstaltungen muss unter-stützend die Bundeswehr eingesetzt werden.Nur durch Amtshilfe der Bundeswehr lasse sich derSchutz der Bevölkerung angeblich gewährleisten. Soverhindern Sie keinen einzigen Terrorangriff, aber Sieverändern unser Land in eine gefährliche Richtung.
Die Linke steht für eine Politik, die nicht vom Einsatzher denkt, weder im Inland noch im Ausland.
Die Linke steht für eine Friedenspolitik, die von der Ab-rüstung her denkt. Unser Ziel ist eine gerechte und fried-liche Welt ohne Atomwaffen, ohne Rüstung und ohneMilitärinterventionen.
Das Wort hat nun Jürgen Koppelin für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bald beginnt die Weihnachtszeit. Da darf man sich etwaswünschen: Ich wünsche mir von den Sozialdemokratenund den Grünen, dass sie dafür sorgen, dass solche Poli-tiker wie Frau Höger unser Land nie regieren. Das wäremein Wunsch nach dieser Rede.
Bevor ich zum Haushalt komme, gestatten Sie mirbitte eine Bemerkung – ich glaube, das gehört zur heuti-gen Debatte dazu; ich sehe die Kollegen Gernot Erler,Werner Hoyer und andere, die damals mit im Verteidi-gungsausschuss saßen –: Vor 20 Jahren wurden zweigroße Armeen, die Bundeswehr und die NVA, die sichbis dahin feindlich gegenüberstanden, zusammenge-führt. Die Tagung der Bundeswehr „20 Jahre Armee derEinheit“, die in diesen Tagen in Dresden stattfand, warbeeindruckend. Das gilt auch für die Reden der Bundes-kanzlerin und des Bundesministers Guttenberg. Damals,vor 20 Jahren, sagten viele: Das ist kaum zu bewältigen.Das dachten auch in meiner Fraktion viele; das gebe ichehrlich zu. Dennoch ist es gelungen. Viele waren an demErfolg beteiligt. Stellvertretend möchte ich, weil er wieich aus dem Bundesland Schleswig-Holstein kommt, den
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8131
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
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damaligen Verteidigungsminister Gerhard Stoltenbergnennen.
Man darf auch daran erinnern: Die Zusammenfüh-rung der beiden Armeen sorgte dafür, dass das größteAbrüstungsprogramm stattfand, das es in Europa je ge-geben hat. Beide Seiten waren hochgerüstet. Wir habenabgerüstet noch und noch; das kann man wirklich sagen.Diese Reform und diese Zusammenlegung waren ein Er-folg. Das war eine Erfolgsgeschichte.Man sollte noch etwas nicht vergessen: Es warenHelmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, denen es inVerhandlungen gelang, dass das gesamte wiederverei-nigte Deutschland Mitglied in der NATO bleiben konnte.Alle in Europa und der Welt hatten Vertrauen zu uns.
Nur die Linkspartei hat kein Vertrauen. Da haben Siewirklich ein Alleinstellungsmerkmal.
Nun stehen wir bei der Bundeswehr erneut vor großenAufgaben. Die Bundeswehr wird eine Freiwilligen-armee. Das ist seit vielen Jahren das politische Ziel derFDP. Dafür sind wir eingetreten.
Ich habe großen Respekt vor den Entscheidungen vonCDU und CSU. Das war sicher keine leichte Entschei-dung auf Ihren Parteitagen. Als Freie Demokraten, alsIhr Koalitionspartner erkennen wir an, dass Ihnen dasnicht leichtgefallen ist. Alle Achtung für diese Entschei-dung! So sind wir zu einem guten Ergebnis gekommen.
Ich darf daran erinnern, dass unter Rot-Grün dieWeizsäcker-Kommission eingesetzt wurde. Das war imJahr 2000. Was damals aufgeschrieben wurde, ist sehrinteressant. Ich will nur einen Satz zitieren. Schon imJahr 2000 schrieb die Weizsäcker-Kommission:In ihrer heutigen Struktur hat die Bundeswehr keineZukunft.Ich frage mich, warum Rot-Grün das damals nichtentsprechend umgesetzt hat.
Natürlich habe ich eine Vermutung – das sage ich nichteinmal in Richtung der Grünen, sondern in Richtung derSozialdemokraten –:
Sie haben die Augen verschlossen und nicht anerkannt,dass die Wehrpflicht bereits im Jahr 2000 ausgedienthatte. Unser Koalitionspartner hat das anerkannt. Sie ha-ben sich damit sehr schwer getan.Wir als FDP haben in den Koalitionsverhandlungendurchgesetzt, dass eine Strukturkommission eingesetztwurde. Das Ergebnis liegt nun vor. Ich möchte besondersdem Vorsitzenden, Frank-Jürgen Weise, unseren ganzherzlichen Dank aussprechen. Ich denke, ich kann dasim Namen der Koalition und im Namen des Hauses tun.
Anders als frühere Regierungen werden wir diese Ergeb-nisse nicht zu den Akten legen. Wir werden umsetzen,was immer umsetzbar ist, und zwar zügig. Das kann manwohl ausdrücklich zusagen.Wenn die Bundeswehr, wie angekündigt, zum 1. Juli2011 eine Freiwilligenarmee wird, müssen wir – das ent-spricht unserer Auffassung – aus Fürsorgepflicht zuerstan die Angehörigen der Bundeswehr denken, seien sie inUniform oder seien sie zivil beschäftigt. Die Bundes-wehr hat als Arbeitgeber eine besondere Fürsorgepflicht.Deswegen sage ich: zuerst die Menschen und dann dasMaterial.So haben wir es bei den Haushaltsberatungen zumEinzelplan 14 gehalten. Teilweise hat es erhebliche Um-schichtungen zugunsten des Personals gegeben. DieFreien Demokraten und ich persönlich als Hauptbericht-erstatter haben das sehr ernst genommen, was der frü-here Wehrbeauftragte Reinhold Robbe in seinem Berichtüber den katastrophalen Zustand des Sanitätswesens ge-schrieben hat. Wir haben daher erheblich zugunsten desSanitätswesens umgeschichtet. Ich muss den KollegenBonde schon fragen, warum die Grünen so viele Streich-anträge – ich habe diese Anträge bei mir; ich kann sie Ih-nen zeigen – im Bereich des Sanitätswesens gestellt ha-ben. Dies ist ein Fehler, der nicht zu akzeptieren ist;denn gerade beim Sanitätswesen muss draufgepackt unddarf nicht gekürzt werden. Wir haben das gemacht.
Ich sage noch einmal: zuerst die Menschen und dann dasMaterial.Ich denke besonders an unsere Bundeswehrangehöri-gen im Auslandseinsatz. Wir danken ihnen sehr. Sie sol-len wissen, dass wir mit dem Bundeswehretat 2011 fi-nanzielle Schwerpunkte gesetzt haben, um ihren Einsatzzu unterstützen.Bei der Gelegenheit möchte ich ausdrücklich den Fa-milienangehörigen unserer Soldaten danken. Wir könnenmanchmal nur erahnen, welche Ängste sie bedrücken.Sie sollen wissen, dass wir auch an sie denken und dasswir – damit schließe ich alle Fraktionen außer der derLinkspartei ein – alles für die Sicherheit unserer Solda-ten tun. Ich halte es auch für wichtig, dass die Angehöri-gen wissen, dass wir die Soldaten bei ihrem Auslands-einsatz und anschließend, wenn sie zurückkommen,
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8132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
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nicht im Stich lassen. Das sage ich in aller Deutlichkeit.Ich denke dabei vor allem an diejenigen, die krank an ih-rer Seele sind, wenn sie zurückkommen. Wir werden al-les für ihre Heilung tun. Denjenigen, die sich bishernicht offenbart haben, sage ich, dass sie sich nicht zuverstecken brauchen. Wir sind bei ihnen.
Herr Bundesminister, weil wir uns in dieser Frage ei-nig sind, bitte ich Sie, dafür zu sorgen, dass bürokrati-sche Hürden abgebaut werden, die Angehörige der Bun-deswehr überwinden müssen, wenn es um das Stellenvon Anträgen bei Versorgungsämtern geht. Es kannnicht angehen, dass manchmal länger als 18 Monate aufden Bewilligungsbescheid eines Versorgungsamtes ge-wartet werden muss. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.Hier ist ganz dringend Abhilfe geboten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach wie vor leidetdie Bundeswehr unter zu viel Bürokratie. Mit der Um-stellung auf die Freiwilligenarmee muss auch der Kampfgegen die Bürokratie in der Bundeswehr aufgenommenwerden, Herr Minister. Das ist wichtig, um die Bundes-wehr attraktiver zu machen. Arbeitsabläufe müssen drin-gend modernisiert werden.Ich sage noch einmal: zuerst die Menschen und danndas Material. Das gilt auch für die Materialbeschaf-fung. Nur das Material, das der Sicherheit unserer Sol-daten dient und das für die Erfüllung des Auftrages not-wendig ist, sollte beschafft werden. Kollege Brinkmannhat sehr zu Recht darauf hingewiesen: Wenn es Anforde-rungen der Soldaten im Auslandseinsatz in Bezug aufMaterialbeschaffung gibt, dann kann es nicht angehen,dass die Entscheidung darüber zwei Jahre und länger aufsich warten lässt. Ich teile die Einschätzung des Kolle-gen Brinkmann.
Alles muss auf den Prüfstand. Das gilt für dasJahr 2011 besonders. Auf den Prüfstand gehören auchdie vielen Auslagerungen, die in der Zeit des MinistersScharping erfolgt sind. Ich nenne beispielsweise Bun-deswehrfuhrpark und Bekleidungswesen. Es muss ge-prüft werden, ob sich diese Entscheidungen für den Bun-deshaushalt gerechnet haben. Wir als Freie Demokraten– auch da sind wir uns einig, Herr Kollege Brinkmann –haben uns deshalb dazu entschieden, dass die Logistikder Bundeswehr nicht privatisiert wird, obwohl wir an-sonsten Befürworter von Privatisierungen sind.
Als Hauptberichterstatter für den Einzelplan 14 möchteich meinen Kollegen von der Opposition – Frau Lötzschvon den Linken ist heute nicht anwesend – und meinenKollegen von der Koalition für die gute Zusammenarbeitdanken. Ich glaube, wir sind trotz unterschiedlicher Auf-fassungen ein gutes Team.Zum Abschluss ein Wort an die Sozialdemokraten.Der Kollege Brinkmann, aber auch andere Kollegen vonden Sozialdemokraten im Haushaltsausschuss habensich bei den Beratungen zum Etat des Verteidigungsmi-nisters durchaus positiv eingebracht. Das war gut undrichtig; denn es gibt ja auch viele Gemeinsamkeiten.Auch manche Idee von den Grünen war okay; das willich gar nicht abstreiten. Aber ich will an dieser Stelle be-wusst die Sozialdemokraten ansprechen: Ich bitte Sie,noch einmal darüber nachzudenken, ob Sie den Etat, wieder Kollege Brinkmann sagte, ablehnen. Es geht hiernicht um die Bundesregierung oder um die Koalition. Esgeht um unsere Bundeswehr, die eine Parlamentsarmeeist.
Ringen Sie sich zumindest zu einer Enthaltung durch,am besten zu einem Ja! Das wäre für unsere Soldatenund für unsere Bundeswehr insgesamt ein tolles Zei-chen. Ich werbe ganz herzlich dafür.Herr Bundesminister, wir haben wie vor 20 Jahrengroße Reformen vor uns. Damals hat die Koalition ausCDU/CSU und FDP die Zusammenlegung von NVA undBundeswehr, über die ich schon gesprochen habe, ge-schafft. Wir werden auch die kommende Reform schaf-fen. Unser Ziel ist eine moderne Bundeswehr.Über den Etat wurde gut beraten; es ist ein guter Etat.Die Freien Demokraten werden dem Einzelplan 14 zu-stimmen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Alexander Bonde für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will im Diensteder konstruktiven Stimmung, die gerade beschworenwurde, sagen: Wir sind froh, dass endlich wieder Bewe-gung in der Reform der Bundeswehr ist. Wir sind froh,dass endlich Dynamik in der Frage aufgekommen ist:Passt die Struktur, passen die Ausgaben in diesem Be-reich?Die Ansage des Ministers ist: Die Reform kommt, dieWehrpflicht geht. Aber schon bei der Frage, wann, wirdes spannend. Herr Minister, Sie sagen uns: 1. Juli, Endeder Wehrpflicht. Jetzt höre ich, dass die Kanzlerin er-klärt, das stimme nicht, es gebe keinen Termin. Ichwürde Sie bitten, uns nachher, wenn Sie nach vorn kom-men, zu sagen, ab wann die Reform gilt. Das ist für denHaushalt keine unerhebliche Frage.Es liegen mutige und auch tiefgreifende Reformvor-schläge auf dem Tisch. Auch wir bedanken uns aus-drücklich bei Frank-Jürgen Weise und seiner Kommis-sion für vielversprechende Handlungsvorschläge. Ichwill mich auch dafür bedanken, dass mit dem Kommis-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8133
Alexander Bonde
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sionsbericht eine harte und schonungslose Analyse aufdem Tisch liegt, die aufzeigt, dass es zum Teil Dysfunk-tionen gibt. Es ist eine Analyse, die, was die Aufstellungdes Ministeriums angeht, massiv Fragezeichen bezüg-lich der Führungsfähigkeit setzt. Es ist gut, dass das alleseinmal so deutlich auf dem Tisch liegt. Das unterstütztnatürlich auch uns, die wir seit Jahren an dieser Frage ar-beiten und Vorschläge machen.
Das ist nun kein Vorwurf an die handelnden Personenin den Strukturen, sondern ausdrücklich eine Frage derStrukturen und eine Aufforderung an die Politik, Hand-lungsfähigkeit zu schaffen.Jetzt, wo die Reformvorschläge auf dem Tisch liegen,geht es natürlich an die Umsetzung. Die Kanzlerin hatbei dem Treffen mit der Generalität in Bezug auf dieBundeswehrreform viel Spaß an der Veränderung ge-wünscht. Ich habe da eine Menge Spaß. Aber wenn ichdie Debatte in der Koalition über die Frage verfolge, wieviel mehr Soldaten es im Rahmen der Reform denn nochwerden, Herr Minister, dann muss ich Ihnen sagen: Siewerden auf dem Weg, der da vor Ihnen liegt, noch eineReihe von Spaßbremsen überzeugen müssen.
Sie sind mit einer Mindeststärke von 163 500 militäri-schen Angehörigen der Bundeswehr gestartet. Sie sindjetzt, nach dem Wasserstand der koalitionsinternen Bera-tungen, schon bei 20 000 mehr. Das heißt, wenn Sie die55 000 Wehrpflichtigen zum jetzigen Stand herausneh-men, sind Sie bei einer Verkleinerung um 10 000 Kräfte.Wir sind gespannt, ob Sie die zum Schluss noch haltenkönnen und wie mutig der Schritt wird.Vor der Reformanalyse waren Sie ja mutig in der An-kündigung der Einsparvolumina und der Reformdivi-dende. Da ist aber unklar, was Sie eigentlich liefern kön-nen. Schon bei Ihrer Mindeststärke von 163 500 war esja mehr als wackelig, ob Sie die Einsparungen laut Fi-nanzplan, der ja hier zur Debatte steht, der am Freitagverabschiedet werden wird, mit Ihrer Bundeswehrreformtatsächlich erreichen können.Ich will in Erinnerung rufen: Sie haben zugesagt – imKabinett mit beschlossen und dem Bundestag als Vor-schlag vorgelegt –, dass Sie im Jahr 2014 durch IhreBundeswehrreform 4,334 Milliarden Euro an Einsparun-gen im Einzelplan 14 erbracht haben werden. Mit dem,was jetzt auf dem Tisch liegt, fehlen Ihnen noch3,5 Milliarden Euro. Hierzu wünsche ich eine klare An-sage von Ihnen; das können Sie von diesem Pult aus ma-chen. Wir diskutieren hier ja über den Finanzplan; dersoll mit dem Haushalt verabschiedet werden. Ich willvon Ihnen wissen: Woher kommen diese 3,5 MilliardenEuro? Ihr bisheriger Reformvorschlag deckt sie nicht ab.
Wir alle haben ein Interesse daran, dass wir am Ende– um in Ihrem Sprachgebrauch zu bleiben – eine richtigeReform bekommen, nicht einen reformähnlichen Zu-stand.Die Beratungen zum Haushalt 2011 waren ein Stückunheimlich. Der Haushalt, der hier verabschiedet werdensoll, bildet die gesamten Reformüberlegungen, die dieKoalition jetzt vorgetragen hat, die Sie überall vortragen,nicht ab. Hier wird ein Haushalt verabschiedet, der diealte Bundeswehr, so wie sie vor der Reform organisiertist, titelscharf weiter durchfinanzieren soll. Zum Teilwird eine ganze Reihe von Ausgaben ermöglicht, vondenen wir wissen, dass sie nach der Reform nicht mehrgebraucht werden.Deshalb frage ich mich schon, weshalb Sie unseremVorschlag, ein Moratorium im Beschaffungsbereichzu machen, nicht gefolgt sind, weshalb Sie darauf beste-hen, vor der Reform weiter in Beschaffung und militäri-sche Strukturen zu investieren – und dies, obwohl Sie sa-gen, dass Sie heute noch nicht wissen, wie die Strukturder Bundeswehr nach der Reform sein wird. Das haltenwir für nicht überzeugend. Wir haben die Sorge, dasshier Strukturen zementiert werden, bevor klar ist, woraufes hinausläuft. Ich könnte jetzt noch viel sagen, zum Bei-spiel zum A400M und zu anderen Beschaffungsprojek-ten.Herr Minister, Sie haben die konstruktive Mitarbeitder Opposition, wenn es darum geht, den Reformprozessauf den Weg zu bringen. Aber wir warten noch auf denReformprozess; bisher gab es nur eine Ankündigung.Der Haushalt, wie er hier vorliegt, ignoriert die Reform.Insofern ist er dazu kein Beitrag.
Das Wort hat nun Bundesminister Karl-Theodor zuGuttenberg.
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-desminister der Verteidigung:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüßeauf der Tribüne Soldatinnen und Soldaten des Fachsani-tätszentrums in Kiel. Ich begrüße sie gerne, und ich fragemich ein wenig, was diese Soldatinnen und Soldatenvorhin dachten, als Sie, Frau Höger, hier Ihren Redebei-trag geleistet haben.
Unabhängig vom grundsätzlichen Niveau dieser Rede,auf das ich gar nicht eingehen möchte, ist es schon er-staunlich, wie man sich die Freiheit nehmen kann, Men-schen, die sich grundsätzlich bereit erklären, für denDienst an dieser Gesellschaft Leib und Leben zu riskie-ren, so pauschal zu beleidigen. Das ist unglaublich.
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8134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
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Man kann ja einen harten Streit über viele Punkte füh-ren, über die wir zu Recht diskutieren und diskutierenmüssen, aber ein Restmaß an Anstand im Umgang darf,glaube ich, schon noch gepflegt werden. Deswegen warmir dieser Hinweis wichtig.Herr Kollege Koppelin, zunächst einmal danke für dieErwähnung: 20 Jahre Armee der Einheit. Ich glaube,dass dieser Aspekt gar nicht stark genug hervorgehobenwerden kann. Ich würde in diesen Kontext gerne nochjene einbeziehen, die damals neben den großen, von derÖffentlichkeit so beachteten und zu Recht gelobten Köp-fen, die das gewährleistet haben, dabei mitgeholfen haben– im zivilen Bereich und auf allen Ebenen der Dienst-grade –, dass diese Armee der Einheit so entstehenkonnte. Hier ist ein großartiges, ein wunderbares Werkgelungen. Ich glaube, wir können hier allgemein dafürdanken.
Von nahezu allen wurde auf die Verpflichtung hinge-wiesen, die wir gegenüber den Soldatinnen und Solda-ten haben. Ein Aspekt, der eine zunehmend wichtigeRolle spielt, ist: Wie können wir Grundvoraussetzungenschaffen, um nicht nur den sichtbaren körperlichen Ver-wundungen unserer Soldatinnen und Soldaten, die ausden Einsätzen heimkehren – solche sind ebenso wie Ge-fallene leider immer wieder zu beklagen –, sondern auchden seelischen Verwundungen, die zunehmend eineRolle spielen, gerecht zu werden? Hier ist der Hinweiswichtig, dass wir in dieser Frage nicht nachlassen dürfenund können.Herr Koppelin, Sie haben erwähnt, dass man teilweisedurch einen unsäglichen Wust von Bürokratie muss, biseinem überhaupt eine Anerkennung zuteil wird. DiesenPunkt haben wir aufgegriffen. Wir haben jetzt – wohlwissend, dass wir in der Strukturreform noch besser wer-den müssen – unter der Federführung von StaatssekretärKoppelin eine Anlaufstelle geschaffen, die helfen soll.
– Ich meinte Staatssekretär Kossendey. Habe ichKoppelin gesagt?
Das war ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk, HerrKoppelin.
– Wenn wir die Federführung so aufteilen könnten, wäredas natürlich gut; aber da müsste man auch die Finanzenbeachten. Herr Kossendey macht das jedenfalls in Feder-führung.Ich glaube, es ist gut, dass eine Anlaufstelle geschaf-fen wurde, die gerade jenen helfen soll. Aber, wie ge-sagt, wir müssen hier besser werden; wir müssen hier si-cherlich noch einiges nachlegen.
Ich habe in Dresden deutlich gemacht, was die Bun-deswehr der Zukunft und in Zukunft leisten soll. Ichhabe auch noch einmal deutlich gemacht, welche nächs-ten Schritte anstehen, welche Entscheidungen der Bun-desregierung anstehen. Die Frage wurde hier ja gestellt– Herr Brinkmann, Sie haben auch noch einmal daraufhingewiesen –: Wann werden die nächsten Schritte alsAusgangspunkt für die Umsetzung gemacht?Das Bundeskabinett wird sich noch im Dezember die-ses Jahres mit diesem Thema beschäftigen. Mit den ers-ten Grundfragen werden wir uns auch im Koalitionsaus-schuss befassen, und zwar, wie Sie gefordert haben, sozeitnah wie möglich. Anderen geht es manchmal etwaszu schnell, nicht wahr, Herr Arnold? Dazu werden Siegleich wahrscheinlich noch etwas sagen. Dann werdenwir sehen, ob das zusammenpasst: Dem einen geht es zuschnell, der andere möchte, dass man sich so zeitnah wiemöglich damit beschäftigt. Ich glaube, wir müssen, umzu einer möglichst sinnvollen Lösung zu kommen, ver-antwortungsvoll handeln und dabei das Momentum nut-zen.
In diesem Jahr haben wir eine Debatte geführt – eswar gottlob eine öffentliche Diskussion, die mit und inder Gesellschaft stattfand –, in der es um folgende Fra-gen ging: Was ist die Bundeswehr? Wie hat sie zukünftigauszusehen? Wie können wir die so wichtige Brückezwischen Bundeswehr und Gesellschaft aufrechterhal-ten?Es ist hocherfreulich, dass der Ausfluss dieser De-batte über die Parteigrenzen hinweg spürbar wurde. Da-durch dass ich in einer zugegebenermaßen sehr provo-zierenden Rede in Hamburg in diesem Jahr einen Bezugzum Budget hergestellt habe, wurde diese Debatte mitausgelöst. Mittlerweile besteht nahezu Einigkeit darin,dass wir künftig keine Bundeswehr nach Kassenlage ha-ben wollen, sondern eine Bundeswehr, die sich über diesicherheitspolitischen Herausforderungen und Erforder-nisse definiert. Deswegen ist das, was vorhin zitiertwurde, völlig richtig. Die Grundfrage lautet: Was ist unsdie Sicherheit in diesem Lande eigentlich wert? Daraufkommt es an. Dem wollen wir gerecht werden.
Was muss eine neu ausgerichtete Bundeswehr leistenkönnen? Sie muss ihren Auftrag vollumfänglich erfüllenkönnen. Sie muss einen verlässlichen Beitrag in der Eu-ropäischen Union, im Bündnis und in den Vereinten Na-tionen leisten können. Sie muss ein leistungsfähiges In-strument deutscher Sicherheitsvorsorge sein, dasattraktiv ist. Der Gesichtspunkt der Attraktivität ist vongroßer Bedeutung. Hier müssen wir bedeutend besserwerden, gerade vor dem Hintergrund der Entscheidun-gen, die wir getroffen haben. Aber auch unabhängig da-von muss die Bundeswehr im Wettbewerb mit anderenArbeitgebern in diesem Lande so attraktiv sein, dass sie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8135
Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
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die besten Köpfe für sich gewinnt. Das muss der An-spruch sein. Dafür werden wir uns einsetzen.Wenn ich sage, dass wir besser werden müssen, heißtdas, auch kreative Ansätze, die vielleicht nicht so vielkosten, zu verfolgen; dass auch dies natürlich Geld kos-ten wird, steht völlig außer Frage. In Dresden habe ichbereits erste Vorschläge gemacht, die wir mit dem Haus-halt, den wir im nächsten Jahr verabschieden werden,unmittelbar realisieren können. Ich glaube, es ist einwichtiges Signal, nicht nur an die Soldatinnen und Sol-daten, sondern auch und gerade an die zivilen Mitarbei-ter der Bundeswehr, dass es uns mit dieser Reform ernstist und wir diese Reform nicht als Selbstzweck betrach-ten, sondern sie durchführen, um den Soldaten und denzivilen Mitarbeitern der Bundeswehr eine Perspektive zugeben. Eine Perspektive haben sie nämlich verdient.
Neben einer Erhöhung der Attraktivität der Bundes-wehr muss ihr inneres Gefüge intakt und lebendig gehal-ten werden. Natürlich besteht an Tagen und Monatenwie diesen Verunsicherung. Natürlich machen sich dieMenschen Sorgen; das ist nachvollziehbar und verständ-lich. Gerade deswegen ist es wichtig, dass wir diesenProzess stringent durchführen. Wir dürfen aber, wie vondem einen oder anderen befürchtet, nichts überstürzen.Herr Arnold, es wird nichts überstürzt. Vielmehr werdendie einzelnen Schritte verantwortungsvoll geplant undsinnvoll durchgeführt und die entsprechenden Gesetzegemeinsam mit dem Parlament auf den Weg gebracht.Wir müssen entsprechende Vorschläge vorlegen. Darausresultierende Verordnungen und die Novellierung beste-hender Gesetze, etwa im Hinblick auf die Wehrform,werden wir rasch erarbeiten. Einen ersten Vorschlagwerden wir im Dezember dieses Jahres vorlegen. Dieentsprechenden Eckpunkte werden folgen.In Dresden habe ich auch meine Vorstellungen bezüg-lich des Gesamtumfangs der Streitkräfte zum Ausdruckgebracht; zu diesem Thema gab es auch sehr viele Im-pulse aus dem parlamentarischen Bereich. Ich habe eineZielgröße von 180 000 bis 185 000 Soldatinnen und Sol-daten genannt. Diesen Umfang kann die Bundeswehr derZukunft haben, wenn eine substanzielle und nachhaltigefinanzielle Unterfütterung gewährleistet ist. Das istwichtig und muss in diesem Zusammenhang immer wie-der betont werden.
– Im Rahmen des Haushalts 2011 nehmen wir die erstenStrukturänderungen vor, Herr Kollege Bonde. Das wei-tere Vorgehen werden wir schrittweise an den entspre-chenden Zahlen festmachen müssen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bartels?
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
desminister der Verteidigung:
Kollege Bartels, bitte sehr. – Er darf heute ja nicht re-
den.
Doch, jetzt. – Herr Minister, Sie haben die Ankündi-
gung der Reform damals mit dem Spardiktat der Kabi-
nettsklausur begründet.
Kollege Bonde hat es angesprochen: Das war mit einer
konkreten Zahl verbunden; insgesamt 8,3 Milliarden
Euro sollten in den nächsten Haushalten eingespart wer-
den. Das wird schwierig, wenn Sie, wie angekündigt, die
Attraktivität der Bundeswehr verbessern wollen, was an-
gesichts des Wegfalls von Grundwehrdienstleistenden
und auch aus anderen Gründen unbedingt notwendig ist,
wenn Sie das Ausscheiden von Zeitsoldaten befördern
wollen, damit Sie auf die genannten kleineren Zahlen
kommen, und wenn Sie den Umzug und Stationierungs-
fragen mit Geld unterlegen wollen. Durch all das wird es
nicht billiger. Stehen Sie noch zu der Zahl von
8,3 Milliarden Euro, oder ist das die Ankündigung von
gestern, und morgen gibt es eine neue?
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
desminister der Verteidigung:
Herr Kollege Bartels, herzlichen Dank. – Es wird
schwierig, gerade vor dem Hintergrund, dass wir im
Zuge dieser Kabinettsentscheidung den Auftrag hatten
– wir haben den Auftrag auch ausgeführt –, zu zeigen,
welche Folgen ein Abbau von bis zu 40 000 Berufs- und
Zeitsoldaten hat und wie wir zu der Ihnen bekannten Mi-
nimalzahl von 163 500 kamen. Bei der Zahl 163 500, für
die man viel beschimpft und auch verkloppt wurde, wäre
ein Zahlenrahmen, den man mit etwa 150 000 Soldaten
erreicht hätte, kaum mehr erreichbar gewesen wäre.
An der Zahl von 180 000 bis 185 000 Soldaten, von
der wir jetzt in der Diskussion ausgehen, sind die künfti-
gen Zahlen zu messen. Darüber wird allerdings jetzt erst
zu entscheiden sein. Das geschieht zunächst in der Ab-
stimmung zwischen den Ressorts und im Kabinett und
anschließend in den Verhandlungen mit dem Parlament.
Wenn man diese Zahl für sinnvoll hält, dann wird man
ihr gerecht werden müssen.
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischen-frage, und zwar des Kollegen Bonde?Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-desminister der Verteidigung:Nein, vielen Dank. Das können wir nachher noch be-sprechen, Herr Kollege Bonde.
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Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
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In Bezug auf die Zahl von 180 000 bzw. 185 000 istFolgendes wichtig: Ein Mehr über diese 185 000 hinausmüssten wir schlicht an den Realitäten messen und auchdaran, was mit Blick auf die demografische Entwicklungin diesem Lande machbar, verantwortbar und leistbar ist.Das ist eine Einschätzung, die wir nach intensiver Befas-sung in diesem Hause gewonnen haben. Hinsichtlich derMinimalzahl, die für mich – das möchte ich noch einmalbetonen – immer das absolute Minimum war, muss mansagen: Wir wollen im Grunde genommen keine Bundes-wehr, die sich auf Minimallinien begründet, sonderneine Bundeswehr, die tatsächlich ein breites und klugesFähigkeitsspektrum vorhalten und den Ansprüchen, dieich vorhin genannt habe, gerecht werden kann.All das erfordert insbesondere einen erheblichen Per-sonalumbau und schließt auch Reduzierungen nicht aus– das wurde genannt –, und zwar sowohl bei den Zeit-und Berufssoldaten als auch bei den Zivilbediensteten,bei einer bestimmten zu erreichenden Gesamtgröße. Daskann im Grunde nur bei einer ausgewogenen Alters- undDienstgradstruktur gelingen. Nur so lässt sich auch dieEinsatzbereitschaft aufrechterhalten. Um beide Zielset-zungen auf sozialverträgliche Weise zu gewährleisten,untersuchen wir neue gesetzliche, dienstrechtliche undauch tarifrechtliche Instrumente. Dazu werde ich dem-nächst Vorschläge einbringen.Zur Attraktivität habe ich mich bereits geäußert.Wichtig erscheint mir noch Folgendes: Veränderungenmüssen dort beginnen, wo wir es früher zum Teil ver-säumt haben. Es kann nicht sein, dass wir die Verände-rungen nur dort ansetzen, wo es möglicherweise amleichtesten erscheint; vielmehr müssen wir im Ministe-rium, an der Spitze, oben beginnen, die Veränderungenangemessen zu gestalten, und dürfen uns nicht mit demEnde der Stufenleiter begnügen, wo dann möglicher-weise das Aussitzen als das Richtige erscheint. Wenn wiran der Spitze, im Ministerium beginnen, können wir da-mit ein Zeichen setzen, dass es uns mit dieser Reformernst ist.
Ich bin dankbar für das Niveau der Debatte. Ich bindankbar für vieles, was an Impulsen eingebracht wordenist. Wichtig ist, dass wir das, was wir jetzt gestalten, anden Soldatinnen und Soldaten und an den zivilen Mitar-beitern ausrichten, denen noch einmal mein herzlicherDank gilt. Kritik an den Strukturen ist nicht Kritik an derLeistungsbereitschaft und an der Leistungsfähigkeit derSoldaten und der Mitarbeiter dieser Bundeswehr. DiesenDank und auch Applaus haben sie verdient.Herzlichen Dank.
Das Wort zu Kurzinterventionen haben jetzt nachei-
nander Kollegin Höger und Kollege Ströbele.
Herr Minister zu Guttenberg, ich verwahre mich da-
gegen, ich hätte alle Soldaten pauschal beleidigt.
Ich habe das getan, weil wir als Linke nur eine Möglich-
keit zur Gewährleistung des Schutzes unserer Soldatin-
nen und Soldaten sehen, nämlich wenn Sie die Soldatin-
nen und Soldaten ganz schnell aus diesem Einsatz nach
Hause holen. Deshalb stimmen wir auch grundsätzlich
gegen diese Auslandseinsätze, damit wir sie nicht in Ge-
fahr bringen.
Kollege Ströbele.
Herr Minister, ich habe mich zu Wort gemeldet, weilich zu zwei Punkten eine Einlassung von Ihnen ver-misse.Erster Punkt. Ich gehöre diesem Parlament ja schonlänger an – schon mehrere Legislaturperioden – undkomme mir manchmal ein bisschen wie in einer Geister-debatte vor. Deshalb erwarte ich von Ihnen, dass Sie ein-mal eine Erklärung dazu abgeben und sich auch bedan-kend dazu äußern, dass die grüne Bundestagsfraktion dieAbschaffung der Wehrpflicht in den letzten Legislatur-perioden immer wieder gefordert hat,
während von allen möglichen Mitgliedern dieses Hauses– gerade aus der Union und auch von Ihnen selbst – hef-tigste polemische Kritik daran geäußert worden ist. Jetzttun Sie so, als sei das schon immer das Gelbe vom Ei ge-wesen,
ohne einmal einen Augenblick zu verharren und zu sa-gen, warum Sie das damals ganz anders gesehen und denGrünen Unrecht getan haben.
Den zweiten Punkt mahne ich immer wieder an. Siehaben auch in dieser Ihrer grundsätzlichen Rede zumHaushalt – der Verteidigungsminister spricht zum Haus-halt – mit keinem Satz etwas dazu gesagt – in der Öffent-lichkeit tun Sie das sonst durchaus –, was nach IhrerAuffassung und nach dem Grundgesetz der Bundesrepu-blik Deutschland in Zukunft die Aufgaben der Bundes-wehr überall auf der Welt sind. Gehört dazu beispiels-weise die Sicherung der Handelswege?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8137
Hans-Christian Ströbele
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Gehört dazu beispielsweise die Sicherung der Rohstoff-zufuhr? Gehört dazu beispielsweise die Sicherung vonArbeitsplätzen in Deutschland, wie Sie das als Verteidi-gungsminister bei der Tagung, über die Sie berichtet ha-ben, angedeutet haben?Bitte sagen Sie mir doch, zu welcher Tagung ich hin-gehen und welche Zeitung ich lesen muss, damit ich da-rüber informiert werde, was der Bundesverteidigungsmi-nister zu diesen Fragen zu sagen hat.
Herr Minister, Sie haben die Gelegenheit zur Ant-
wort.
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
desminister der Verteidigung:
Herr Kollege Ströbele, ich bedanke mich dafür, dass
Sie den Begriff „Geisterdebatte“ mit Leben füllen.
Ich darf nur noch einmal darauf hinweisen, dass es
sich lohnt, beispielsweise das Papier des Generalinspek-
teurs zu lesen, auf das ich oft Bezug genommen habe.
Darin wird genau dieses Spektrum offengelegt.
Sie sagen, Sie lesen und bekommen in der Öffentlich-
keit mit, was ich tatsächlich damit gemeint habe. Gleich-
zeitig fragen Sie mich, in welche Veranstaltungen Sie
kommen und welche Zeitung Sie lesen müssen, um zu
erfahren, was ich gemeint habe. Das ist zumindest ein
kleiner Widerspruch.
Ich habe Ihnen nach Ihrer letzten Kurzintervention
auf diese Frage geantwortet.
Ich hoffe, dass Ihr Gedächtnis zumindest für diese drei
Wochen ausreicht.
Meine Antwort war relativ ausführlich, Herr Ströbele,
und auf die will ich noch einmal Bezug nehmen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Rainer Arnold für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister, die Antwort, die Sie gerade gegeben ha-ben, zeigt ein bisschen das Problem auf. Sie machen sichnicht die Mühe, Politik wirklich zu erklären. Sie sorgenfür eine schnelle Überschrift, statt den Menschen zu sa-gen, was gemeint ist. Das fehlt.
Sie haben Herrn Ströbele weder heute noch in der letztenDebatte präzise geantwortet. Ich möchte das einfach ein-mal festhalten.Ich glaube, dass Sie mit Ihren auch heute wiederwohlgesetzten schönen Worten weit von der augenblick-lichen Wirklichkeit der Bundeswehr entfernt sind. DieSchere geht sehr weit auseinander. Wer heute die Truppebesucht und den Bericht des Wehrbeauftragten liest, indem auf 55 Seiten gravierende Mängel aufgezeigt sind,der muss doch wirklich feststellen, dass wir aktuell sehrernste Probleme haben.Es gibt Soldaten, die im Einsatz auf Material warten,und es werden Übungen abgesagt, weil das Geld nichtzur Verfügung gestellt wird und ein Omnibus nicht be-zahlt werden kann. Überall, wo wir hinkommen, gibt esernsthafte Sorgen.Herr Minister, es sind Ihre Probleme. Es ist Ihre Ver-antwortung. Das haben wir Ihnen schon zu Beginn desJahres gesagt, als der jetzige Haushalt verabschiedetwurde. Die fehlenden 500 Millionen Euro schlagen jetztim Truppenalltag durch. Herr Koppelin, es ist schon in-teressant, wie weihevoll Sie sagen: erst der Mensch unddann das Material. – Sie waren Auslöser dieses ernsthaf-ten Problems. Sie haben es zu verantworten, und derMinister hat es akzeptiert.
Im nächsten Jahr wird es nicht besser. Der KollegeBrinkmann hat die ernste Situation im Haushalt des Ein-zelplans 14 eindrucksvoll dargestellt. Herr Koppelin hatsich bei ihm für die gute Zusammenarbeit bedankt. Diesmöchte auch ich tun, weil ich gesehen habe, dass sozial-demokratische Haushälter verantwortungsvoll mit denMenschen bei der Bundeswehr umgehen. Herr Koppelin,noch besser wäre es gewesen, wenn Sie, statt meinemKollegen zu danken, seinen Vorschlägen gefolgt wären.Die waren nämlich immer seriös gegenfinanziert.
Die entscheidende Frage ist aber: Wie geht es lang-fristig mit der Bundeswehr weiter? Jeder Fachpolitikerwusste, dass das Jahr 2010 einen weiteren Schritt bedeu-ten muss, was Transformation und neue Antworten ver-langt. Angesichts der Entwicklung dieser Debatte in denletzten Monaten könnten Sozialdemokraten eigentlichzufrieden sein, weil Sie, Herr Minister, und die Koalitionsich in vielen wichtigen Punkten exakt auf das zubewegthaben, was sozialdemokratische Fachpolitiker seit meh-reren Jahren formuliert haben. Wir könnten zufriedensein
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8138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Rainer Arnold
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– langsam; die wissen ja, dass noch etwas kommt, HerrKollege –, wenn sich der Herr Minister nicht allzu sehrin der Rolle des Durchmarschierers gefallen würde nachdem Motto: schnell, stramm und dann am Ende leiderauch schlecht und falsch.Sie haben von einem Zwiespalt in Bezug auf dasTempo gesprochen: Wie schnell soll es gehen? Ist es zuhektisch oder zu langsam? – Zunächst sollte man nach-denken, sich mit den Ressorts und dem Parlament ab-stimmen und konzeptionelle Vorarbeiten im Haus leis-ten;
dann kann man ankündigen und umsetzen. Sie, HerrMinister, kündigen zuerst an. Ihr Stil, vorzupreschen unddann hektisch wichtige Details nachzubessern und imNachhinein Gesetzesarbeit zu leisten, führt nun einmalzu Fehlern.Einen haben wir doch alle in diesem Sommer erlebt.Die kurzfristige Einführung der W 6, der sechsmonati-gen Grundwehrzeit, war ein gravierender Fehler mit fa-talen Folgen für die Bundeswehr und die jungen Men-schen.
Wenn Sie jetzt über die Aussetzung der Wehrpflichtreden, ist das auch so ein Fall. Sozialdemokraten habendas so ähnlich schon vor drei Jahren gefordert. Aber Sieverspielen die Chance, einen gesellschaftlichen Konsenshinzubekommen, indem Sie eine Insellösung für dasVerteidigungsministerium anstreben, das gesellschaft-liche Projekt der Jugendfreiwilligkeit nicht stützen undam Ende möglicherweise nur einen preiswerten Zeitsol-daten suchen. Das entspricht nicht unseren Vorstellun-gen.Ich habe die große Sorge, dass auch auf der anderenSeite, beim Zivildienst, nicht genügend an Vernetzunggedacht wird und dass etwas Neues, Eigenständiges ent-steht, statt dass eine Verknüpfung mit den guten vorhan-denen Jugendfreiwilligendiensten geschaffen wird. Somachen Sie die richtige und gute Idee am Ende kaputt.Lassen Sie mich auf den Zeitpunkt zu sprechen kom-men. Sie haben es angesprochen. Die Träger des Zivil-dienstes, die Soldaten in der Truppe und viele andere,auch im Parlament, wüssten nun wirklich schon gern,wann es losgehen soll. Es hat gravierende Folgen, wenndie jungen Menschen ab dem 1. Juli nächsten Jahresnicht mehr zur Verfügung stehen. Schließlich haben siein der Vergangenheit etwas geleistet. Das Datum 1. Juliwurde immer wieder genannt. Damit sind Sie wiedervorgeprescht. Die Kanzlerin hat Bedenken in Bezug aufStudienplätze, auf anständige Vorbereitung und Alterna-tiven geäußert, die zu Recht bestehen.Herr Minister, Sie sollten sich wirklich die Zeit neh-men, solche Fragen abzuklären, bevor Sie an die Öffent-lichkeit gehen. Sonst werden die Reformen schlecht, unddie gesellschaftliche Chance, Sozialdemokraten imGrundkonsens hinsichtlich der Sicherheitspolitik zu hal-ten, zerstören Sie am Ende auch.Ähnliches gilt für den Umfang der Streitkräfte. Auchhier bewegen Sie sich auf die Vorschläge der Sozialde-mokraten zu. Die Zahl von 185 000 Soldaten liegt nahebei dem, was wir für notwendig halten. Wir sollten abernicht vergessen: Begonnen hat es in der Tat anders. Siesagen manchmal, der Generalinspekteur habe diesenVorschlag gemacht. Nein, Sie haben ihm den Auftragdazu erteilt. Das ganze Kabinett hat gesagt, er solle8,3 Milliarden Euro einsparen und 40 000 Stellen beiden Zeit- und Berufssoldaten streichen.Nun haben Sie eine Korrektur vorgenommen, obwohles ursprünglich durchaus ein Modell war, das Sie mit ei-ner Präferenz versehen hatten. Ich finde es spannend,dass der Inhaber der Befehls- und Kommandogewaltüber die Streitkräfte keinen eigenständigen seriösen Vor-schlag zum Umfang macht, sondern ihm durch Partei-tage und das Parlament gesagt werden muss, wie verant-wortungsvoll mit der Bundeswehr zu verfahren ist. Diesist doch nicht das Vorgehen eines Ministers, der es mitder Sicherheitspolitik ernst meint.
Die sicherheitspolitische Begründung fehlt nach wievor, vor allen Dingen in einem Bereich: Es wird nichtgenügend darüber gesprochen und reflektiert, welcheChancen zurzeit in der europäischen Debatte liegen. Esgibt ein offenes Zeitfenster. Alle Europäer müssen spa-ren. Wer, wenn nicht das große Land Deutschland mitseinen Vorstellungen, soll die europäische Idee einerstärkeren Verzahnung der Streitkräfte voranbringen?Weder der Außenminister noch der Verteidigungsminis-ter bringen entsprechende Impulse in die europäischePolitik ein. Das ist schade. Damit wird eine großeChance verspielt.
Wenn wir gerade über europäische Fähigkeiten reden,Herr Minister: Wir werden gegen alles andiskutieren,was bei der zukünftigen Reform die europäischen Fähig-keiten beschneidet. Dazu gehört, dass das Heer auch imSinn eines Großverbandes Bündnisverteidigung leistenmuss, damit die osteuropäischen Staaten Vertrauen in dieeuropäische Sicherheitspolitik finden. Dazu gehört eineMarine, die eben nicht auf Kante genäht werden darf,wie es gelegentlich zu hören ist. Dazu gehört, dass dieZahl der Transporthubschrauber eben nicht so stark re-duziert wird, wie es derzeit manche von Ihnen planen.Dazu gehört, dass das Operation Headquarter bzw. dasKommando Operative Führung auch europaweit zurVerfügung stehen kann und vieles andere mehr.Deshalb fordere ich Sie auf, Herr Minister: StoppenSie diese Planungen! Stoppen Sie den gesamten Prozess,und machen Sie endlich verlässliche Vorgaben, die denPlanern auf der militärischen Seite eine solide Basis fürdie zukünftige Gestaltung der Bundeswehr bieten.Weiter liegen Vorschläge der Weise-Kommissionvor. Sie enthalten viel Sinnvolles, was die Straffung desMinisteriums betrifft. Manches darin ist aber auchfalsch, vor allen Dingen das grundlegende ökonomi-sierte Denken. Streitkräfte sind etwas anderes als einWirtschaftsbetrieb. Sie brauchen Vorsorge, Redundan-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8139
Rainer Arnold
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zen und Reserven. Sie haben vorhin die Sanitätssoldatenangesprochen. Sie brauchen keine Vorschläge, die nurScheinlösungen sind. Wir bekommen nicht dadurchmehr Ärzte, dass wir den Sanitätsdienst der Streitkräfte-basis zuordnen. All diese Punkte sind im Vorschlag derWeise-Kommission nicht sehr gut geregelt.Herr Minister, unser Wunsch lautet: Sortieren Sie sehrsorgfältig, und teilen Sie der Truppe mit, dass das Kon-zept nicht vorsieht, alles zu verändern. Sie sollten derTruppe auch einmal sagen: Vieles, was ihr leistet, leistetihr gut. Das gilt es zu bewahren und weiterzuentwickeln.
Dann erst reden wir darüber, was verändert werdenmuss.Letzten Endes bleibt es dabei: Der Umbau der Bun-deswehr ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seiteist die Finanzierung. Sie sind der Frage vorhin ausgewi-chen. Die Kanzlerin hat in Dresden auf die Frage vonJournalisten gesagt: Es bleibt bei der finanziellen Vor-gabe. Das ist eindeutig. Sie, Herr Minister, haben imSeptember dieses Jahres in Ihrer Hauspostille gesagt: Esgibt keine Armee nach Kassenlage. Im Mai dieses Jahreshaben Sie sich selbst dafür gelobt, dass man bei denStreitkräften endlich nach der Kassenlage vorgeht.Wissen Sie, was das Schlimmste ist? Im Augenblickmachen Sie Reformen ohne Kassenlage, freischwebendohne Bezug zum aktuellen Haushalt, ohne Bezug auchzur mittelfristigen Finanzplanung. Den Soldaten derStreitkräfte und den Zivilbeschäftigten haben wir in denletzten acht Jahren bei Reformen schon sehr viel abver-langt. Vertrauen in weitere Reformschritte werden dieSoldaten nur behalten, wenn sie sehen, dass die Reformmateriell unterfüttert ist.Angesichts der mangelnden finanziellen Untermaue-rung der Reform empfinde ich es als hämisch, wennnicht gar zynisch, wenn Frau Merkel vorgestern bei derKommandeurstagung den Soldaten entgegenruft, siewünsche ihnen viel Spaß bei der weiteren Veränderung.So darf man mit den Menschen bei der Bundeswehrnicht umgehen.
Die größte Herausforderung bleibt aber die Attrakti-vität des Dienstes. Auch hier gilt: Wenn wir das ernstnehmen, dann reicht es nicht, wenn man es in Sonntags-reden erwähnt. Wir sind sehr dafür, dass das Parlamentin Zukunft mit einem Unterausschuss die Attraktivitäts-steigerungen begleitet, die Regierung auch drängt.Herr Minister, die Menschen bei der Bundeswehrleisten verantwortungsvoll ihren ernsten, manchmalauch gefährlichen Dienst. Deshalb verdienen sie einenDienstherrn, der nicht ständig über Wahrheit und Klar-heit redet, sondern danach handelt und jetzt sagt, waskommen wird. Sie verdienen allerdings auch mehr alswohlfeile Versprechungen. Es kann nicht sein, HerrMinister, dass ihnen im selben Atemzug das verspro-chene Weihnachtsgeld wieder gestrichen wird. Das istTeil der Politik dieser Koalition. Dies zerstört Vertrauenbei den Menschen, die für uns alle diesen schwerenDienst leisten.
Die Bundeswehr braucht einen Minister, der sich fürihre Belange einsetzt, sich um sie kümmert. Am Ende,Herr Minister, wird deutsche Sicherheitspolitik nur ge-lingen, wenn der zuständige Ressortchef auch streitbarfür eine angemessene finanzielle Ausstattung eintritt undetwas erreicht. Herr Minister, am Ende wird die Reformnur gelingen, wenn sie finanziell unterlegt ist. Ihr Erfolgoder auch Misserfolg wird auch daran gemessen, wasSie diesbezüglich in den nächsten Jahren erreichen. Un-sere Unterstützung, Positives für die Bundeswehr zu be-wegen, werden Sie haben. Dort, wo dies nicht gelingtund wo es nicht seriös untermauert ist, werden wir es sokritisieren, wie es notwendig ist.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die Kollegin Elke Hoff für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Die Einschätzung, die Herr KollegeArnold hier gerade in bester Oppositionsmanier vorge-tragen hat, kann ich überhaupt nicht teilen. Ganz im Ge-genteil, Herr Arnold, ich finde, dass der Minister genaudas gemacht hat, was wir als Parlament von ihm erwar-ten können. Er hat uns gesagt, was angesichts der demo-grafischen Verhältnisse in Zukunft auf die Bundeswehrzukommt, was möglich ist und was nicht möglich ist. Erhat uns auch, wie es sich für einen verantwortungsvollenMinister gehört, dargelegt, was in diesem Zusammen-hang machbar ist.Ich darf Sie an dieser Stelle daran erinnern, dass dieVäter und Mütter unserer Verfassung uns die Verantwor-tung übertragen haben. In Art. 87 a des Grundgesetzessteht eindeutig, dass für Umfang und Struktur der Bun-deswehr der Haushalt entscheidend ist. Das heißt, dassdas Parlament darüber entscheidet. Ich finde, das ist einPunkt, den man an dieser Stelle sehr deutlich zum Aus-druck bringen muss.
Sie haben eben für die Sozialdemokratische Partei re-klamiert, dass sich der Minister, was den Umfang an-geht, auf die Vorstellungen Ihrer Partei zubewegt. Ichdarf daran erinnern, dass sowohl die CDU/CSU-Fraktionals auch meine Fraktion, die FDP, einen Umfang festle-gen möchten, der in Zukunft den Anforderungen an dieStreitkräfte vor dem Hintergrund des demografischMöglichen gerecht wird. Ich glaube, das ist ein Punkt,den wir heute viel zu wenig beleuchtet haben. Was nütztes, wenn wir mit Zahlen operieren, die wir nachher nichtunterlegen können?
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8140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Elke Hoff
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Die Truppe hat Klarheit verdient, und in dieser Klar-heit müssen wir ihr sagen, dass sich Fähigkeiten zukünf-tig daran orientieren müssen, was machbar ist, aber auchdaran, was sicherheitspolitisch verantwortbar ist. Auchdiesbezüglich hat diese Bundesregierung ganz deutlichgesagt, wie sie sich die Zukunft der Bundeswehr vor-stellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Reform stehtaus verschiedenen Gründen an. Ich bin sehr froh, dasswir – durch eine sehr gute Debatte übrigens – davonweggekommen sind, Sicherheitspolitik nach Kassenlagezu machen. Das haben auch Sie gefordert. Dann müssenwir jetzt aber auch dazu stehen und dürfen es dem Minis-ter nicht vorwerfen, wenn er Einsparziele, die die Bun-desregierung uns als Vorschlag unterbreitet, letztendlichnicht erfüllt. Es ist und bleibt unsere Verantwortung, da-rüber zu entscheiden, in welcher Größenordnung dieStreitkräfte ihre Aufgabe wahrnehmen.
Bei einer Reform sozusagen bei laufendem Motor – dasitzen wir alle in einem Boot, weil wir gemeinsam dieStreitkräfte in die Auslandseinsätze geschickt haben –müssen wir besonders Rücksicht darauf nehmen, die An-sprüche zu erfüllen.Das, was heute insbesondere im Bereich der Fürsorgefür unsere verwundeten Soldaten dargestellt wurde,wurde gemeinsam von der Bundesregierung und denOppositionsfraktionen mit Ausnahme der Linken aufden Weg gebracht. Deswegen verdienen diese Bundesre-gierung und insbesondere der Minister unsere Unterstüt-zung.Es gibt eine saubere Definition der zukünftigen Auf-gaben der Bundeswehr. Es ist klar und deutlich, dassKrisenverhütung und Krisenprävention nach wie vordie vorrangige Aufgabe der Bundeswehr sind. Sie mussauch in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe wahr-zunehmen. Natürlich gibt es Defizite, die zu beseitigensind. Aber eine solche Geschwindigkeit, mit der Minis-ter zu Guttenberg gemeinsam mit uns in diesem Jahr andie Aufgaben herangegangen ist, habe ich in den letztenvier Jahren, als wir in der Opposition waren, nicht erlebt.Dabei war die damalige Lage ähnlich schwierig. Ichbitte daher darum, die Kirche im Dorf zu lassen. Ichglaube, dass wir Ende bzw. Mitte nächsten Jahres unse-ren Soldatinnen und Soldaten Klarheit darüber verschaf-fen können, wie es weitergeht. Das war eine Forderung.Diese werden wir erfüllen. Ich bin sehr froh, dass derKollege von der SPD – mir hat sehr gut gefallen, was Sieheute vorgetragen haben – deutlich gemacht hat, dassauch die Sozialdemokraten bereit sind, die notwendigeVerantwortung in diesem wichtigen Prozess zu überneh-men.Ich möchte an dieser Stelle im Namen meiner Frak-tion den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundes-ministeriums der Verteidigung, den Soldatinnen und Sol-daten sowie dem Minister sehr herzlich dafür danken,dass endlich begonnen wird, den Reformstau, der das Er-gebnis von vielen Jahrzehnten Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik ist, zu beseitigen. Am Ende der Reise wer-den wir genauso wie heute stolz auf unsere Streitkräftesein.Vielen Dank.
Omid Nouripour hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als dieBundeskanzlerin am Montag davon sprach, dass dieTruppe endlich Spaß an der Veränderung empfindenmüsse, musste ich an Helmut Kohl denken. Helmut Kohlhat 1993 ein Unwort, ein Wortungetüm geprägt, nämlichdas vom kollektiven Freizeitpark. Ich glaube, dassdiese Auffassung von unserer Bundeswehr das falscheVerständnis ist. Ich finde, dass man mit unserer Bundes-wehr so nicht umgehen kann. Im Übrigen bin ich derMeinung, dass man das Unwort „kollektiver Freizeit-park“ assoziiert, wenn man den Bericht der Weise-Kom-mission liest und sich die dort beschriebenen Zuständeim Verteidigungsministerium vor Augen führt. Natürlichbrauchen wir Veränderungen; das steht außer Frage. Ent-scheidend ist aber die Herangehensweise.Herr Minister, Sie haben in Dresden mit großem Pa-thos Veränderungen eingefordert. Sie wollen „die selbstauferlegten bürokratischen Fesseln“ sprengen. Sie wol-len sich „auf die gemeinsame Führungsphilosophie be-sinnen“. Sie sind nicht angetreten, „um auf halber Weg-strecke stehen zu bleiben“. Sie fordern eine „Kultur derTransparenz, des Vertrauens und der Offenheit“. Abge-sehen von dem Pathos und der Ergriffenheit, die dieseWorte zum Ausdruck bringen, frage ich mich, was da-nach kommt. Ich sehe erst einmal nicht so viel. Die Rei-henfolge Ihrer Strukturveränderungen macht keinenSinn. Zuerst müsste über die Aufgaben geredet und eineAufgabenkritik vorgenommen werden. Dann müssteüber die Strukturen geredet werden. Daraus ergibt sichim Übrigen von selbst die Gesamtgröße. Schließlichkann man über die Standorte reden. Aber Sie machendas anders. Sie reden zuerst über die Wehrpflicht undnehmen einen ganz tiefen Einschnitt mit W 6 vor. Dannsoll nach Ihrer Vorstellung irgendwann einmal – keinMensch weiß, wann genau – die Wehrpflicht ausgesetztwerden. Dann reden Sie über die Gesamtgröße und dieStandorte. Am Ende des gesamten Prozesses soll nochein Weißbuch kommen. Das alles macht überhaupt kei-nen Sinn.
Sie haben die gesamte Reform auf den Kopf gestelltund haben sich vor allem um eine Aufgabenkritik he-rumgedrückt. Sie haben sehr viele große Überschriftenproduziert. Manche waren sehr fragwürdig. Sie haben
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8141
Omid Nouripour
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beispielsweise im Dezember letzten Jahres davon ge-sprochen, Auslandseinsätze müssten eine Selbstver-ständlichkeit für unsere Gesellschaft werden. Lassen Siesich von mir, von jemandem, der seine Kindheit in ei-nem Kriegsgebiet verbracht hat, sagen: Militärische Ein-sätze dürfen und sind zu keiner Zeit und in keinem Landder Welt eine Selbstverständlichkeit. Das sollten sie nie-mals sein.
Das Problem ist, dass Sie das Kleingedruckte außerAcht lassen. Kollegin Hoff hat gerade davon gespro-chen. Wir müssen doch jetzt alle über diesen Etat befin-den. In diesem Etat finde ich die Reform nicht wieder.Gerade auf den letzten Drücker wurde W 6 erwähnt. Ichfinde aber keinen Ansatz für eine Reform der Bundes-wehr. Herr Minister, Sie haben in Dresden einige Verän-derungen genannt, die zum 1. Januar in Kraft treten sol-len. Alle anderen Bereiche, die zu etatisieren sind unddie man finanzieren muss, finde ich in diesem Haushaltnicht. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie Sie dasfinanzieren wollen. Ich weiß nicht, wie Sie das unter Be-rücksichtigung der Grundsätze der Haushaltswahrheitund Haushaltsklarheit in Zahlen gießen wollen. Als ichim Ausschuss nachgefragt habe, war die Antwort sinn-gemäß: Unmöglich ist es nicht, dies mit diesem Einzel-plan hinzubekommen. – Eine solche Antwort trägt nichtunbedingt zu einer Kultur des Vertrauens bei. Es wäretransparenter, wenn Sie sagen würden, dass Sie einegroße Reform machen wollen. Das aber tun Sie nicht.Sie fangen im Übrigen erst im Jahr 2012 an; denn dieEntscheidungen, die zentral für die Strukturreform derBundeswehr sind, werden frühestens zwei bis drei Mo-nate gefällt, nachdem der Haushalt vom Hohen Haus be-schlossen worden ist.Sie legen eine Zahlenlotterie vor, die nicht nur ich,sondern auch viele andere nicht verstehen. Sie bedenkennicht, dass hinter all den Zahlen, die genannt werden,Menschen und ihre Familien stehen. Erst haben Sie eineZahl von 163 500 Soldaten genannt, dann haben Sie zwi-schenzeitlich auf einer Wahlkampfveranstaltung inRheinland-Pfalz die Zahl von 190 000 für sympathischerklärt, jetzt sind wir bei 185 000. Der einzige Grund,warum die Menschen nicht erkennen, dass aus diesemWirrwarr am Ende möglicherweise nur ein Reförmchenherauskommt – dabei könnte das wirklich eine große Re-form werden –, ist, wenn Sie mich fragen, die Tatsache,dass die Sozialdemokraten weiterhin so unglaublichstrukturkonservativ argumentieren. Sie wollen auch jedenoch so kleine Veränderung nicht mittragen. Das führtdazu, dass Sie hier den großen Reformator spielen kön-nen. Das hat aber mit einer Bundeswehrreform nicht vielzu tun.Ich frage mich, ob der Anspruch, den Sie formulierthaben, nämlich dass jetzt eine tiefe Zäsur gemacht wer-den muss, mit der Himmeroder Denkschrift, die Sieselbst in Dresden zitiert haben, vereinbar ist. Sie habenaus dem wichtigen Grundsatzdokument einen Satz zi-tiert, nämlich die Frage: Wofür Streitkräfte? – In demAugenblick, in dem Sie die Strukturen der Bundeswehrvon den großen Veränderungen, die es in der NATO undin der EU gibt, abkoppeln und die Bundeswehr komplettneu aufstellen, stellt sich diese Frage am Ende nichtmehr. Das Weißbuch, das Sie uns letztlich vorlegenwerden, ist ausschließlich eine Abbildung der Fakten,die Sie vorher geschaffen haben, und hat deshalb – daskann ich schon jetzt sagen – seinen Namen nicht mehrverdient.
Deshalb vergeht mir der Spaß. Der Kollege Arnoldhat völlig zu Recht gesagt, dass der Spaß aufhört, wennein Versprechen gebrochen wird. So wird zum Beispieldas Weihnachtsgeld gestrichen, obwohl es versprochenworden ist. Stattdessen wird das Geld für den A400Mverpulvert.
Das muss man leider so sagen. Das ist Ihr A400M; dennSie hätten im März dieses Jahres die Möglichkeit gehabt,aus dem Projekt auszusteigen. Ich erkenne keinen Frei-zeitpark, sondern ich erkenne viele bunte Luftballons.Vor allen Dingen liegt hier ein Haushalt vor, der mitWahrheit und Klarheit nichts zu tun hat. Darüber täuschtauch Ihre Rhetorik nicht hinweg. Deshalb können wirgar nicht anders, als ihn abzulehnen.
Robert Hochbaum hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Seit der ersten Lesung zum Haushalt 2011 imSeptember hat sich in der verteidigungspolitischen De-batte bekanntlich einiges getan. Die Ergebnisse derStrukturkommission liegen vor, die Aussetzung derWehrpflicht ist in greifbare Nähe gerückt, und die Zah-len zum Umfang der Bundeswehr nehmen immer deutli-chere Konturen an. An dieser Stelle möchte ich es nichtversäumen, unserem Minister recht herzlich für seineklare, zielorientierte wie auch zügige Vorgehensweise zudanken.
Jetzt ist es wichtig, die Vorschläge der Kommissionklug zu bewerten, sie reibungslos umzusetzen und ge-genüber allen Missmutigen und Nörglern den Beweisanzutreten, dass die Reform der Bundeswehr nicht aus-gesessen wird, sondern dass die begonnene Aufgabe er-folgreich zu Ende gebracht wird.
– Warten wir es ab, Sie werden es sehen. –Das Ziel ist klar – der Minister hat es zur Komman-deurtagung in Dresden auf den Punkt gebracht –:
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8142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Robert Hochbaum
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Unsere Bundeswehr muss noch professioneller,noch schlagkräftiger, noch moderner und attraktiverwerden …Damit komme ich zu einem Punkt, der sich seit derersten Lesung leider nicht geändert hat: Wieder sinddeutsche Soldaten in Afghanistan schwer verwundetworden. Ich meine, man kann gar nicht oft genug daraufhinweisen, dass unsere Soldatinnen und Soldaten tagtäg-lich unter Einsatz ihres Lebens für unsere Sicherheit sor-gen, für die Sicherheit aller Menschen in unserem Land.Ich glaube, wir alle – Frau Höger, ich nehme Sie gerneaus – sind ihnen dafür zu tiefstem Dank verpflichtet.
Gerade vor diesem Hintergrund ist es gut und richtig,ihre Ausrüstung einer ständigen Prüfung zu unterziehen.Sie müssen optimal geschützt sein, und wir müssen ih-nen diejenige Ausrüstung und diejenigen Waffen zurVerfügung stellen, die sie dringend benötigen.Da wir uns in der Haushaltsdebatte befinden, möchteich auf das Verhältnis zwischen Sicherheitspolitik undKassenlage eingehen. Richtig ist – Herr Minister hat esausgeführt –: Wir machen keine Sicherheitspolitik nachKassenlage. Aber richtig ist auch: Wir werden die Kassedabei auf jeden Fall fest im Blick behalten. Denn geradewenn wir auch in anderen Ressorts Einsparungen vor-nehmen müssen – der Sozialbereich wurde schon ange-sprochen –, darf der Verteidigungsbereich nicht außenvor bleiben. An der Einhaltung der gesetzlich veranker-ten Schuldenbremse, der Verantwortung für unsere zu-künftigen Generationen und der damit verbundenenHaushaltsdisziplin müssen nämlich auch wir mitarbei-ten.Was meine ich aber genau mit Sparen? Es geht unsnicht um Sparen um des Sparens willen, vor allem, wennes um unsere Soldaten im Einsatz geht, sondern um ei-nen effizienten Einsatz der zur Verfügung stehendenfinanziellen Mittel. Die Schlüsselwörter dabei sind Effi-zienz, Effektivität und Einsatzorientierung. Dass da nochein wenig Nachholbedarf besteht, das müssen wir jetztleider bei manchen großen Beschaffungsvorhabenschmerzlich erkennen. Sie wurden schon vor vielen Jah-ren mit Verträgen auf den Weg gebracht – ich will hiernicht anmerken, von wem –
– ich bin ja fair –, die, vorsichtig ausgedrückt, schon einegewisse Verwunderung auslösen können. Diese Vorha-ben binden nicht nur viel Geld, nein, dringend im Ein-satz benötigt, stehen sie immer noch nicht zur Verfü-gung, was noch viel schlimmer ist.An uns ist es jetzt – ich sage es noch einmal –, mitFingerspitzengefühl die vor vielen Jahren getroffenenEntscheidungen und geschlossenen Verträge, wennrechtlich überhaupt noch möglich, an unsere Kriterienvon Effizienz, Effektivität und Einsatzorientierung anzu-passen. Was zukünftige Vertragswerke anbelangt, so ha-ben wir mit diesen Verträgen Beispiele, wie man es ebennicht machen sollte. Ich bin mir sicher, dass wir in Zu-kunft mit diesem Verteidigungsminister, mit der Politikeiner nachhaltigen Preis-Leistungs-Maxime und einemnachhaltigen und realistischen Projektmanagement der-artige Miseren verhindern werden.Abschließend ein weiterer Blick in die Zukunft. Ichhabe eben von Beschaffungsprozessen, Reformbemü-hungen und Einsatzorientierung gesprochen. Dies allesist jedoch nur Schall und Rauch, wenn wir es paralleldazu nicht schaffen, den Dienst in der Bundeswehr at-traktiv zu gestalten; das wissen wir alle. Dies gilt im Be-sonderen für einen zukünftigen freiwilligen Dienst. Umes auf den Punkt zu bringen: Attraktivität ist der Schlüs-sel zum Erfolg der Bundeswehr der Zukunft. Dabei musssie – das ist besonders wichtig – für alle Bereiche derGesellschaft interessant bleiben. Viele Vorschläge wur-den bereits gemacht. Sie sind zu prüfen und gegebenen-falls umzusetzen. Wir sollten in diesem Zusammenhangdie bereits seit längerer Zeit im Raum stehende eigeneBesoldungs- und Versorgungsordnung für Soldatinnenund Soldaten erneut debattieren. Ich glaube, dass sie ge-rade unter den Aspekten „besondere Situation in denEinsätzen“ und „Attraktivität der Truppe“ eine entschei-dende Antwort auf die Herausforderungen der Zukunftwäre.Sehr geehrte Damen und Herren, „Verantwortung ver-pflichtet!“, hat der Minister in Dresden gesagt. Scheuenwir uns nicht davor, sondern haben wir Mut – nichtSpaß, Herr Arnold – und Freude an der Gestaltung.Herzlichen Dank.
Ernst-Reinhard Beck hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Lieber Herr Kollege Arnold, Sie haben der Bun-deskanzlerin Zynismus vorgeworfen. Leider waren Siein Dresden nicht dabei. Ich glaube, dass dies das Letzteist, was man einer Kanzlerin vorwerfen kann, die zu ei-ner Bundeswehrtagung geht und dort ein Signal setzt,dass die Regierungschefin zu ihren Soldaten, zu ihremmilitärischen Führungspersonal steht. Es war im Grundegenau das Gegenteil von dem, was Sie jetzt gesagt ha-ben. Wenn Sie mit den Leuten – Sie waren leider nichtda – gesprochen hätten, hätten Sie als Reaktion mitbe-kommen, dass sie es genauso empfunden haben, wie iches gerade dargestellt habe.
Die Ausführungen des Kollegen Nouripour sind indieselbe Richtung gegangen. Sie haben nur den Stil desMinisters kritisiert. Etwas anderes war es ja nicht, als Siesagten, wir könnten eigentlich zufrieden sein. Dazuwürde ich sagen: Seien Sie zufrieden. Inhaltlich habe ichhier sehr wenig Differenzen in Bezug auf das festge-stellt, was in der Zukunft an neuen Konzepten für dieBundeswehr da ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8143
Ernst-Reinhard Beck
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Herr Kollege Nouripour, Sie haben versucht, hier dar-zustellen, dass der Minister keine Aufgabenkritik vor-genommen hat. Das ist einfach nicht richtig. Was istdenn im Ministerium passiert? Es gab ein Analysedefi-zit. Jede der Teilstreitkräfte hat gesagt, wo die entspre-chenden Mängel sind. Wir haben eine sicherheitspoliti-sche Analyse des Generalinspekteurs. Und wir habeneine Strukturkommission eingesetzt, die Vorschläge aufden Tisch gelegt hat. Was wollen Sie eigentlich noch anVorarbeiten machen?Ich sage Ihnen noch eines: Der Minister hat den gan-zen Sommer über – in jedem Landesvorstand, in jederZeitung bzw. in jedem Presseorgan – für seine Reformargumentiert und gekämpft. Im Grunde ist das also wirk-lich nachträgliche Miesmacherei, was Sie hier machen.Das tut mir außerordentlich leid.
Meine Kolleginnen und Kollegen, der Einzelplan 14ist aus gutem Grund aus der Spargeschichte herausgehal-ten worden; denn es ist doch klar: Wir erleben in diesenTagen, dass die Bedrohung für unser Land keineswegsabstrakt oder unwahrscheinlich, sondern sehr konkret undspürbar ist. Ich darf darauf hinweisen, dass es die vorran-gige Pflicht des Staates ist und bleibt, seine Bürgerinnenund Bürger möglichst vor den anstehenden Gefahren zuschützen. Die finanzielle Ausstattung von Sicherheits-strukturen ist – darüber besteht ja auch Konsens – dieVoraussetzung für eine effiziente Gefahrenabwehr. Ausdiesem Grunde ist eine solide Finanzierung in diesem Be-reich unabdingbar. Da sind wir ja beieinander. Ich meineim Gegensatz zu den Rednern der Opposition, dass dieserHaushalt – auch vor dem Hintergrund, dass natürlich dasSchlüsseljahr 2011 für die Zukunft der Reform wichtigist – dem weitgehend Rechnung trägt.Es war, meine ich, im Hinblick auf die finanzielleSeite – sie ist auf fünf bis sieben, vielleicht auch auf achtJahre angelegt – ein Fehler, zu sagen: Es wird auf das re-duziert, was im nächsten Jahr ansteht. Das ist nicht se-riös, vielmehr müssen wir den gesamten Reformzeit-raum im Auge behalten.Verteidigungsminister zu Guttenberg ist die Aufgabeder Reform mutig und engagiert angegangen. Er hat – dassage ich für unsere Fraktion und auch für die andere Ko-alitionsfraktion – dabei unsere volle Unterstützung. Ichwürde es außerordentlich begrüßen, wenn bei dieserschwierigen und wichtigen Aufgabe auch ein breiterKonsens im Parlament vorhanden wäre. Bei elementarensicherheitspolitischen Fragen ist dies, glaube ich, keinSchaden. Ich meine, wir müssen jetzt nach vorne schauenund die Entscheidungen auch zügig umsetzen.Herr Kollege Arnold, wenn Sie die Dresdener Rededes Ministers zur Hand nehmen, können Sie nicht sagen,es sei nichts gesagt worden. Er hat Rahmen und Eck-punkte gesetzt, die jetzt für die weitere parlamentarischeArbeit natürlich auch wichtige Zielpunkte sind.
Bezüglich der Gesamtstärke der Bundeswehr habeich – wie auch Sie, Herr Kollege Arnold – immer für ei-nen angemessenen militärischen Beitrag plädiert, um da-mit unsere nationale Sicherheitsvorsorge und internatio-nalen Verpflichtungen abdecken zu können. Der Ministerhat in Dresden einen Zielkorridor von 185 000 bis190 000 Soldatinnen und Soldaten genannt. Dies ist ak-zeptabel und angesichts der Demografie und der Finan-zierbarkeit auch realistisch.Herr Kollege Arnold, ich gebe Ihnen recht, es gehtnicht um erfundene Zahlen, sondern 180 000 bzw.190 000 sind im Grunde eine sicherheitspolitisch gefor-derte Größe, wenn man vom „Level of Ambition“spricht.Ihren Ausführungen zum Thema „Fähigkeiten Heerund Marine“ können wir uns ausdrücklich anschließen.Das ist überhaupt keine Frage. Auch die europäische Di-mension sollten wir gerade zu einer Zeit, da auch anderereformieren, nicht aus den Augen verlieren. Auch hiersehe ich Gemeinsamkeiten zwischen uns.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Reformwird kurzfristig keine Ersparnisse bringen – ich sage dasnoch einmal in aller Klarheit –, sondern erst auf längereSicht im Zuge der Verwirklichung der Gesamtreform.Um die Reform entsprechend abzusichern, müssen wirim nächsten Haushalt deshalb die erforderlichen Finanz-mittel einstellen. Ich sage aber noch einmal: Maßstab fürden Umfang der Bundeswehr muss immer die Bedro-hungssituation unseres Landes sein. Dafür steht unserePolitik. Es geht nicht um ein Wünsch-dir-was, sondernum notwendige Fähigkeiten, die von uns als verlässli-chem und leistungsfähigem Partner in der Allianz auchin Zukunft erwartet werden.Wir stehen nicht allein mit unseren Überlegungen zurReform der Sicherheitsstrukturen. Die NATO hat in Lis-sabon ein neues Strategisches Konzept vorgelegt; daraufwurde hingewiesen. Wir als Teil dieser Allianz sind da-bei, uns ebenfalls sicherheitspolitisch zukunftsfest auf-zustellen.Die Reform der Bundeswehr wird sehr bald konkreteZüge annehmen. Der Minister hat dazu in Dresden seineVorstellungen dargestellt. Die Vorschläge der Struktur-kommission liegen auf dem Tisch, ebenso die neueNATO-Strategie. Der Entschluss, die Wehrpflicht auszu-setzen, ist gefallen. Die notwendigen Voraussetzungenzum Handeln sind geschaffen. Zentrale Herausforderun-gen für die Bundeswehr zeichnen sich bereits jetzt ab.Mit dem Wegfall der Wehrpflicht muss die Bundes-wehr mehr als bisher um junge Menschen werben undals attraktiver Arbeitgeber im Kampf um die klügstenKöpfe auftreten. Dabei tritt die Bundeswehr in Konkur-renz zu Unternehmen auf dem Markt. Eine wichtigeAufgabe ist – darauf wurde von allen Rednern hingewie-sen –, dass die Maßnahmen zur Attraktivitätssteige-rung zügig in Angriff genommen werden. Sie sind – da-rüber sind wir uns auch im Klaren – nicht zum Nulltarifzu haben.
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8144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Ernst-Reinhard Beck
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Die Bundeswehr muss entschlussfreudige, flexibleund belastbare Mitarbeiter gewinnen. Junge Menschenwollen gute Arbeitsbedingungen, fairen Lohn und dieMöglichkeit, Familie und Beruf unter einen Hut zu brin-gen. Der demografische Wandel und der bereits erkenn-bare Fachkräftemangel vergrößern die Herausforderun-gen. Wir müssen die Bundeswehr so aufstellen, dass siedieser Anstrengung gewachsen ist – von den Kompeten-zen her, aber auch finanziell.Der Verankerung der Bundeswehr in der Gesell-schaft muss auch künftig, meine sehr geehrten Damenund Herren, unser Augenmerk gelten. Der Soldat wirdseltener im Straßenbild auftreten. Damit dies nicht zuwachsender Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüberder Bundeswehr führt, ist ein Bündel von Maßnahmendenkbar. Dazu müssen die Themen Sicherheit und Vertei-digung offensiv kommuniziert und prominent in den Me-dien positioniert werden. Die Menschen müssen wissenund auch erklärt bekommen, was die Bundeswehr leistet.Sie darf nicht nur in den Medien vorkommen, wenn Sol-daten fallen.Wir müssen aber auch ein Stationierungskonzept er-arbeiten, das die Präsenz der Bundeswehr in der Flächesichert. Die Bevölkerung muss wissen, dass in ihrerNähe Soldaten stationiert sind. Die Gesellschaft soll teil-haben am Alltagsleben der Soldaten. Die Bundeswehrmuss in der Mitte der Gesellschaft sichtbar bleiben.
Nicht zuletzt, meine sehr geehrten Damen und Her-ren, muss das Reservistenwesen neu organisiert werden.Reservisten sind wichtige Multiplikatoren für die Bun-deswehr und üben verantwortungsvolle Tätigkeiten inden Streitkräften aus. Ihre zivilen Qualifikationen sindnoch besser nutzbar zu machen. Wenn das gelingt, kön-nen die Reservisten Botschafter für die Bundeswehr seinund zum positiven Bild der Streitkräfte beitragen.Wir wollen, dass unsere Bundeswehr weiterhin zuden besten Armeen dieser Welt zählt. Wichtigstes Gutder Bundeswehr sind die Menschen. Die Einsatzrealitätbringt es mit sich, dass Soldaten fallen und verwundetwerden. Das ist schrecklich, kann aber trotz bester Aus-rüstung nie völlig verhindert werden. Umso wichtiger istder Umgang mit diesen Situationen: Bestmögliche Ver-sorgung und Absicherung, auch von Hinterbliebenenund Angehörigen, verlangen Fingerspitzengefühl undGroßzügigkeit.Viele Veteranen kommen gezeichnet aus dem Einsatzzurück. Die sanitätsdienstliche Versorgung von körperli-chen wie seelischen Verwundungen steht ganz oben aufunserer Agenda; dies ist, glaube ich, unsere gemeinsameAuffassung.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Meine Gedanken gehen in der nahenden Weihnachts-
zeit zu unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz.
Auch dieses Jahr werden Tausende von ihnen das Weih-
nachtsfest und den Jahreswechsel nicht im Kreise ihrer
Familie und Freunde feiern können. Sie tun dies in dem
Bewusstsein, unser aller Sicherheit zu dienen. Dabei ver-
trauen sie auf die politische Führung und auf uns, den
Deutschen Bundestag.
Herr Kollege.
Wir haben daher eine besondere Verpflichtung gegen-
über den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und
ihren Angehörigen. Lassen Sie uns dieser Verpflichtung
gerecht werden.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel-plan 14 des Bundesministeriums der Verteidigung in derAusschussfassung. Wer stimmt für diesen Einzelplan? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Einzel-plan 14 bei Zustimmung von CDU/CSU und FDP ange-nommen;
SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegengestimmt.Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt VI a sowie die Zu-satzpunkte 1 a und b auf:VI a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen des Europarats vom 16. Mai2005 zur Verhütung des Terrorismus– Drucksache 17/3801 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeZP 1a) Beratung des Antrags der Abgeordneten AgnesKrumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKulturelle Bildung von Bundesseite nachhaltigfördern – Auflegung eines Förderprogramms„Jugendkultur Jetzt“– Drucksache 17/3066 –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8145
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENKein Atommüllexport nach Russland– Drucksache 17/3854 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte VII a bis j auf.Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt VII a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die Feststellung des Wirtschaftsplans desERP-Sondervermögens für das Jahr 2011
– Drucksache 17/3119 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/3835 –Berichterstattung:Abgeordneter Dieter JasperDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/3835, den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufDrucksache 17/3119 anzunehmen. Diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, mögen das bitte mitHandzeichen signalisieren. – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera-tung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte die Zustimmenden,sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung wie-derum einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt VII b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe zu dem Antragder Abgeordneten Volker Beck , TomKoenigs, Marieluise Beck , weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEinigkeit über die Definition des Tatbestandesdes Aggressionsverbrechens im IStGH-Statuterzielen– Drucksachen 17/1767, 17/3889 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael FrieserChristoph SträsserMarina SchusterAnnette GrothIngrid HönlingerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/3889, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1767 abzu-lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP undSPD angenommen; Bündnis 90/Die Grünen und DieLinke haben dagegen gestimmt, Enthaltungen gab eskeine.Tagesordnungspunkt VII c:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENPakistan nach der Flut langfristig unterstüt-zen und Schulden umwandeln– Drucksachen 17/3206, 17/3779 –Berichterstattung:Abgeordnete Holger HaibachBurkhard LischkaHelga DaubHeike HänselUte KoczyDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/3779, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3206 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSUund FDP, dagegen gestimmt haben die Linke und Bünd-nis 90/Die Grünen; die SPD-Fraktion hat sich enthalten.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt VII d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 164 zu Petitionen– Drucksache 17/3664 –
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8146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt VII e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 165 zu Petitionen– Drucksache 17/3665 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung derKoalitionsfraktionen und der SPD angenommen. Dage-gen hat die Linke gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen ha-ben sich enthalten.Tagesordnungspunkt VII f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 166 zu Petitionen– Drucksache 17/3666 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt VII g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 167 zu Petitionen– Drucksache 17/3667 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. DieFraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dagegen gestimmt,alle anderen dafür.Tagesordnungspunkt VII h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 168 zu Petitionen– Drucksache 17/3668 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. DieFraktion Die Linke hat dagegen gestimmt, alle anderendafür.Tagesordnungspunkt VII i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 169 zu Petitionen– Drucksache 17/3669 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmungdurch CDU/CSU, FDP und SPD angenommen. Linkeund Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt.Tagesordnungspunkt VII j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 170 zu Petitionen– Drucksache 17/3670 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmungdurch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegenhaben die Oppositionsfraktionen gestimmt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.11 auf:Einzelplan 23Bundesministerium für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung– Drucksachen 17/3519, 17/3523 –Berichterstattung:Abgeordnete Volkmar KleinLothar Binding
Dr. h. c. Jürgen KoppelinDr. Dietmar BartschPriska Hinz
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der FraktionDie Linke vor. Außerdem liegen zwei Entschließungsan-träge der Fraktion Die Linke und ein Entschließungsan-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über diewir am Freitag nach der Schlussabstimmung abstimmenwerden.Verabredet ist, zu diesem Einzelplan eineinhalb Stun-den zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Wi-derspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und rufe Dr. Bärbel Koflerfür die SPD-Fraktion auf.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Wir debattieren heute über den Einzelplan 23,über den Einzelplan des Bundesministeriums für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ichmöchte betonen: Das ist zwar – leider – nicht einer dergrößten Einzelpläne unseres Haushalts, aber es ist einEinzelplan mit ganz herausragender Bedeutung, weil erdas Ziel der internationalen Armutsbekämpfung in denMittelpunkt stellt und ein Gradmesser dafür ist, wie sichdie internationalen Vereinbarungen, die wir als Bundes-republik Deutschland in den vergangenen Jahren getrof-fen haben, in unserer Haushaltspolitik widerspiegeln,wie wir unsere Versprechen umsetzen.Wenn man sich den Einzelplan 23 ansieht, kann manangesichts der Einzelpläne, über die heute Morgen dis-kutiert worden ist, fast etwas zynisch feststellen: DieMittel sinken nicht. Das ist aber auch das einzig Gute,was man dazu sagen kann. Wenn man sich den Regie-rungsentwurf anschaut, stellt man fest, dass 3 MillionenEuro mehr geplant waren. In den letzten Tagen habenwir erfahren – das ist in Ordnung –, dass infolge derGoldverkäufe des IWF bzw. des deutschen Anteils an
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8147
Dr. Bärbel Kofler
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diesen Erlösen mehr Geld – um genau zu sein: 146 Mil-lionen Euro – in diesen Einzelplan fließt. Ich habe über-haupt nichts dagegen. Mein Problem ist – schon in derletzten Sitzungswoche habe ich eine entsprechendeFrage an die Regierung gestellt –: Was ist die strategi-sche Ausrichtung? Was ist mit der Einhaltung der inter-nationale Zusagen, dass es bei den Mitteln für die Ar-mutsbekämpfung einen Aufwuchs gibt? Wie wird dieEinhaltung dieser Zusage in diesem Haushaltsentwurfund in der mittelfristigen Finanzplanung dargestellt?
Leider gibt es dazu vonseiten des zuständigen Minis-teriums, des BMZ, keine Antwort bzw. nur eine ganzschwammige; darauf werde ich gleich noch eingehen.Es gibt aber ein Schreiben des Bundesfinanzministe-riums, in dem ganz deutlich gemacht wird, dass dieHaushaltsmittel, die im kommenden Jahr zur Verfügungstehen – gerade habe ich mich noch darüber gefreut,dass sie nicht sinken –, in den Jahren 2012 bis 2014kompensiert werden müssen. Das heißt auf gut Deutsch:In den nächsten Jahren wird der Etat sinken und nichtentsprechend den Zusagen, die wir auf internationalerEbene gemacht haben, steigen. Es bedarf einer Strategiedes Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung, wie wir trotzdem die zugesagten Mit-tel bereitstellen und unsere Versprechen einhalten kön-nen.
Wir als Opposition haben Vorschläge gemacht. Ichnenne als Beispiel die Finanztransaktionsteuer. Wenn Siesich diesem Instrument verschließen und ihm nicht zu-stimmen können, dann erwarte ich von der Regierungwenigstens klare Aussagen darüber, was Sie stattdessenwollen. Wie wollen Sie den Aufwuchs der notwendigenMittel für die Armutsbekämpfung erreichen? HerrLeibrecht, weil ich ahne – es ist ja nicht die erste Debatteüber dieses Thema –, dass Sie sagen werden: „Die Wirk-samkeit ist am größten, wenn es die Wirtschaft macht“,will ich ein paar Punkte zum Thema Wirksamkeit nen-nen.Dieses Thema haben Sie, Herr Minister Niebel, undSie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, nichterfunden. Über das Thema Wirksamkeit in der Entwick-lungszusammenarbeit wird seit Jahren, spätestens seitBeginn dieses Jahrtausends auf internationaler Ebene de-battiert. Es geht um internationale Abstimmung und Ge-berharmonisierung. Es geht auch darum – das ist das,was man immer so schön „Ownership“ nennt –, Ent-wicklungsstrategien gemeinsam mit den Ländern aufzu-stellen. Das führt dazu, dass sich die Länder die Projektezu eigen machen können. Das hat sehr viel mit Wirksam-keit zu tun; denn nur wenn sich die Länder die Projektezu eigen machen und wenn wir als Geber gut abge-stimmt auftreten, kann eine wirksame und nachhaltigeEntwicklungspolitik vorangebracht werden.
Ich habe meine Zweifel, ob Sie in der Debatte das-selbe unter Wirksamkeit verstehen wie alle anderen.Wirksamkeit würde bedeuten, dass man Mittel für dieStrukturpolitik einsetzen müsste, um also in den Län-dern Strukturen zu schaffen, die für die Erhöhung derSteuereinnahmen und für den Aufbau der Verwaltungsorgen und die die Länder befähigen, nachhaltig in Ge-sundheit und Bildung zu investieren. Dazu gehört auchder Aufbau von selbsttragenden Mechanismen. WennSie das alles wollen, dann müssen Sie zunächst die not-wendigen Mittel zur Verfügung stellen.Herr Minister, Sie haben im Zusammenhang mit derPersonaldebatte das Beispiel eines Niedrigenergiehausesverwendet, in das man zuerst investieren müsse, um bes-sere Wirkungsgrade zu erreichen. Warum versuchen Sienicht, das auf die Entwicklungspolitik anzuwenden? Wirmüssen jetzt investieren, um selbsttragende Strukturenin den Ländern aufbauen zu können.
Das ist etwas anderes, als PPP-Projekte – gegen die habeich gar nicht so viel, wie Sie vielleicht vermuten – zu fi-nanzieren oder Direktinvestitionen der deutschen Wirt-schaft zu fördern.Wenn man effiziente und wirksame Projekte voran-bringen möchte, dann verstehe ich nicht, warum Sie einnachweislich gutes und wirtschaftliches Instrument, dasden Menschen nützt, das hilft, ihre Sorgen und Problemezu lindern, und das auch volkswirtschaftlich sinnvoll ist– nämlich den Globalen Fonds zur Bekämpfung vonHIV/Aids, Tuberkulose und Malaria –, so im Regen ste-hen lassen, wie Sie es mit diesem Haushaltsentwurf tun.
– Selbstverständlich stimmt das. Die Fachpolitiker die-ser Regierungskoalition müssten sich einmal mit denHaushaltspolitikern dieser Koalition ins Benehmen set-zen. Die Entwicklungspolitiker aller Fraktionen hattenden richtigen Ansatz gewählt, nämlich Verpflichtungser-mächtigungen für den Globalen Fonds einzustellen, da-mit Planungssicherheit über das Jahr 2011 hinaus be-steht. Das ist die Grundvoraussetzung. Wenn genau dasvon den Haushaltspolitikern der Koalition gestrichenwird, dann untergraben Sie die Planungsfähigkeit eineswirksamen Instrumentes, das dafür sorgt, dass weltweitauftretende Seuchen wie Aids, Tuberkulose und Malarianachhaltig bekämpft werden.
Wenn Sie mir nicht glauben, dass es sich um ein wirk-sames Instrument handelt, möchte ich einmal die Kanz-lerin zitieren, die Ende September Folgendes gesagt hat:Die Lösung globaler Aufgaben erfordert globaleAnstrengungen. Ein Beispiel ist der Globale Fondszur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Ma-laria, ein multilaterales Instrument, das sich be-währt hat. Die Hilfe des Fonds kommt direkt beiden Menschen an. Deutschland ist drittgrößter Ge-ber, und ich werde mich dafür einsetzen, dass
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8148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Dr. Bärbel Kofler
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Deutschland den Fonds und die Bemühungen umeine Verbesserung der Gesundheitssituation auchweiterhin auf hohem Niveau unterstützt.Richtig. Das sind schöne Worte, aber allein die Tatenfehlen.Wie heißt es so schön in der Bibel? An ihren Tatensollt ihr sie erkennen. Ich denke, dieses Zitat kann manbei jeder Haushaltsdebatte und auch in dieser in den Mit-telpunkt stellen.
Wenn wir schon bei dem Punkt sind und uns diesenHaushalt genauer anschauen, dann fällt ja eines auchnoch auf – aber vielleicht haben Sie da auch einen flapsi-gen, schnellen Spruch parat, wie man dieses wirklichernsthafte Problem aus der Welt schafft –: Sie fahren inder Welt spazieren und sagen international Gelder zu.Sie werden jetzt sicherlich schon sagen: Jetzt kommt dieKofler wieder mit Kopenhagen. – Ja, ich komme wiedermit Kopenhagen. Das hat nämlich etwas mit Wirksam-keit und Transparenz zu tun und auch mit: „An ihren Ta-ten sollt ihr sie erkennen“. Damit habe ich das Zitat nocheinmal richtig gebracht.
Was machen Sie in dem Bereich? – Sie sagen in Ko-penhagen Mittel zu, gleichzeitig findet man imEinzelplan 23 einen schönen Titel, der sich mit demWaldschutz beschäftigt.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende?
Ja, ich komme zum Schluss. – In diesem Titel sind für
diesen Haushalt und bis zum Haushalt 2012 330 Millio-
nen Euro eingeplant. Leider werden diese 330 Millionen
Euro mit den Zusagen von Kopenhagen, die ja für dieses
Jahr 420 Millionen Euro ausgemacht hätten, verrechnet.
Frau Kollegin.
Das ist intransparent und führt dazu – ich bin schon
am Ende –, dass wir Glaubwürdigkeit verlieren und dass
wir ein denkbar schlechtes Beispiel für andere Länder
abgeben, von denen wir immer Transparenz einfordern.
Der Kollege Harald Leibrecht hat jetzt für die FDP-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich freue mich natürlich darüber, dass der Etatdes Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung trotz angespannter Haushalts-lage im nächsten Jahr noch einmal auf eine Gesamt-summe von über 6,2 Milliarden Euro ansteigen wird.
Das sind im Vergleich zum letzten vollen Kalenderjahrder sozialdemokratischen Leitung des Ministeriums im-merhin 370 Millionen Euro mehr – das muss man hiermal betonen –,
und das ist vor dem Hintergrund der Schuldenbremseund der Haushaltskonsolidierung ein beachtlicher Er-folg.
Was den Global Fund anbetrifft: Er ist ja für das kom-mende Jahr abgesichert. In der Vergangenheit, auch un-ter anderen Regierungen, wurde er nie über Verpflich-tungsermächtigungen abgesichert. Das wissen Sie selberganz genau.
Deshalb finde ich es nicht gut und nicht ehrlich, das hierpolemisch so aufzublasen.Auch wenn es bis zur Erreichung des ODA-Ziels von0,7 Prozent sicherlich noch ein gutes Stück Weges ist, sosind wir diesem Ziel heute näher als je zuvor.Deutschland ist eines der ganz großen Geberländer inder Welt, und mit deutschen Steuergeldern wird viel Gu-tes in den ärmsten Ländern getan. Ich denke, hieraufkann man auch etwas stolz sein.ODA ist ohne Frage wichtig, aber wir dürfen die De-batte nicht darauf beschränken. Wichtig ist – FrauKofler, Sie haben da recht –, auch auf die Wirksamkeitder Maßnahmen zu achten. Nur dann, wenn das Geldbzw. die Maßnahmen bei den Menschen, die sie benöti-gen, auch ankommen, nur wenn sie ihre Lebenssituationwirklich verbessern und ihnen eine Perspektive auf einbesseres Leben geben, ist das Geld richtig und wirksameingesetzt.Nur wenn sich die Regierungen der Entwicklungslän-der zum Rechtsstaat und zu den Menschenrechten be-kennen, wenn sie Meinungsfreiheit zulassen und Kor-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8149
Harald Leibrecht
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ruption bekämpfen, sind sie für uns die richtigen Partnerfür eine langfristige Zusammenarbeit.
Ich habe es sehr begrüßt, dass Minister Niebel der Re-gierung von Uganda mit deutlichen Worten klargemachthat, dass Entwicklungszusammenarbeit mit uns nichtmöglich ist, wenn dort ein Gesetz verabschiedet wird,das zum Beispiel Homosexualität unter Todesstrafestellt, oder dass er der kongolesischen Regierung klarge-macht hat – da ging es um die gesperrten GTZ-Konten –,dass sie endlich die Korruption in ihrem Land bekämp-fen soll. Wirksamkeit betrifft alle Bereiche der Entwick-lungszusammenarbeit.So erhöhen wir durch die Vorfeldreform wesentlichdie Effektivität und die Qualität der deutschen Entwick-lungszusammenarbeit. Gleichzeitig setzen wir mit dieserReform eine seit Jahren von der OECD geforderte Maß-nahme um. Im DAC Peer Review wurde diese Maß-nahme ja auch lobend erwähnt. Allen Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern der jetzt neu entstandenen GIZ wün-sche ich von dieser Stelle aus sehr viel Erfolg.Ein weiterer Schwerpunkt der deutschen Entwick-lungspolitik ist die verstärkte Zusammenarbeit mit derPrivatwirtschaft. Nicht ohne Grund heißt das BMZ„Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung“. Das Engagement der Privatwirtschaft isteine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Ent-wicklung eines Landes. Eine prosperierende Wirtschaftist wichtig für ein Entwicklungsland, um sich vonAbhängigkeit zu befreien und aus eigener Kraft in einebessere Zukunft zu gehen. Grenzübergreifende Investi-tionen, die sowohl Arbeitsplätze als auch Ausbildungs-plätze schaffen, sorgen mit dafür, dass eine Wertschöp-fung in den Entwicklungsländern stattfindet.Ich bewundere immer wieder die große Spendenbe-reitschaft der Menschen hier im Land. Nach dem verhee-renden Erdbeben in Haiti spendeten die Deutschen über200 Millionen Euro. Das war das höchste Spendenvolu-men in ganz Europa. Dies zeigt, dass den Menschen inDeutschland das Leid und das Elend in der Welt nichtegal sind. Darum ist es wichtig, dass die deutsche Ent-wicklungszusammenarbeit sichtbarer wird. Hier tut sichja jetzt, Gott sei Dank, im BMZ einiges.Ich treffe – das tun auch Sie – immer wieder Schul-klassen, Vereine, Vertreter von Kommunen und vieleEinzelpersonen, die sehr viel Zeit, Engagement und Geldin Entwicklungsprojekte investieren. Ich freue mich,dass das BMZ mit diesem Haushalt im Bereich des bür-gerlichen Engagements in der Entwicklungspolitik mitInformations- und Bildungsarbeit einen neuen Akzentsetzt. Leider zeigt die SPD mit ihrem eingebrachten Kür-zungsantrag, dass ihr hieran nichts liegt.Wir alle, die wir in der Entwicklungspolitik tätig sind,werden immer wieder von Menschen hier im Land ge-fragt, warum wir so viel Geld in den Entwicklungslän-dern ausgeben, wo wir doch genug Probleme im eigenenLand haben. Wenn wir diesen Menschen erklären, dasssich Deutschland als bedeutende Industrie- und Wirt-schaftsnation durchaus auch für die Ärmsten der Weltverantwortlich fühlt und wir darum einen Beitrag zurVerbesserung ihrer Situation leisten müssen, verstehensie es. Es geht also um Aufklärung, es geht aber auch umTransparenz und darum, den Menschen im Land zu er-klären, was wir in der Entwicklungspolitik mit ihrenSteuergeldern leisten. Auf internationaler Ebene habenwir gesehen, dass zum Beispiel mit den Jahrtausendent-wicklungszielen, mit den MDGs, etwas geschaffenwurde, das die Entwicklungszusammenarbeit für dieMenschen in den Geberländern greifbarer macht und dasBewusstsein für entwicklungspolitische Herausforderun-gen stärkt.Nochmals: Ich freue mich, dass es im kommendenJahr mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeitgibt und dass dieses Geld in Zukunft wirksamer einge-setzt wird.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Heike Hänsel für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Heute wurde mehrmals auf die Sicherheitssituation, aufdie Terrorwarnungen hingewiesen. Ich denke, das gehtauch uns Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungs-politiker etwas an. Nach den Anschlägen des 11. Sep-tember 2001 gab es nicht nur diese Hau-drauf-Parolen,sondern auch viel Nachdenkliches: In welcher Welt le-ben wir? Wie groß ist die Kluft zwischen Arm undReich? Kann es überhaupt so weitergehen?Wenn wir uns anschauen, was in den Jahren seit 2001passiert ist, dann müssen wir feststellen, dass wir jetzt denHöchststand an hungernden Menschen weltweit haben.Das ist eine tagtägliche Tragödie für über 1 MilliardeMenschen. Seit neun Jahren führen die NATO-Staaten inAfghanistan Krieg unter dem Stichwort „Kampf gegenden Terror“, viele Tausende Zivilisten werden getötet. Esgibt gezielte Tötungen. Die CIA hat Geheimgefängnissein Europa. Viele Entführungen von „Terrorverdächtigen“wurden durchgeführt. Guantánamo und Abu Ghureib –auch das sind Orte des Terrors. Das zeigt, dass die NATO-Staaten in den letzten Jahren sehr viel Armut, Elend undHass produziert haben,
vor allem Hass, den Nährboden, auf dem der Terrorblüht. Ich möchte für unsere Fraktion festhalten: AuchKrieg ist Terror, und wir müssen dieses Mittel der Politikbekämpfen.
Dazu gehören eine zivile Außenpolitik und eine zivileEntwicklungspolitik. Herr Niebel, dazu tragen Sie über-
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Heike Hänsel
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haupt nichts bei. Sie stärken nach wie vor das Konzeptder zivil-militärischen Zusammenarbeit,
trotz des Protests zahlreicher Hilfsorganisationen. DieCDU/CSU-Fraktion will dieses Instrument, wie ich gele-sen habe, ebenfalls ausbauen. Sie führen zu diesemThema sogar eine Konferenz durch.
Wie zivile Aufbauhilfe, Entwicklungsprojekte undMilitär miteinander verknüpft sind, haben wir währendeiner Delegationsreise in Afghanistan erfahren müssen.Dort konnten wir beobachten, wie schlecht diese Zusam-menarbeit funktioniert und wie gefährlich sie ist. DieSchule, die wir dort besuchen wollten, mussten wir unsnämlich in einem ISAF-Konvoi, schwer bewacht vonISAF-Soldaten, anschauen. Ich kann nur sagen: Es istabsurd, in welch martialischem Aufmarsch wir zu dieserSchule kamen. Die Aufbauhelfer haben uns danach ge-sagt, dass solche militarisierten Besuche ihre Projektegefährden, weil sie dadurch in der Region zu Anschlags-zielen werden. Genau deswegen kritisieren wir die zivil-militärische Zusammenarbeit und lehnen sie grundsätz-lich ab.
Herr Niebel, ich halte es für eine fatale Entscheidung,dass Sie zivil-militärische Projekte trotz der Informatio-nen, die Ihnen vorliegen, unterstützen wollen. Ein kon-kretes Projekt ist „La Macarena“ in Kolumbien. Es istbekannt, welche negativen Wirkungen dieses Projekt, indas die Armee eingebunden ist, hat. Es wird von vielenHilfsorganisationen und von der Zivilbevölkerung vorOrt kritisiert. Die Menschen haben vor der kolumbiani-schen Armee, die für sehr viele Menschenrechtsverlet-zungen verantwortlich ist, Angst. Dennoch haben Sie zudiesem Projekt Ja gesagt. Das halten wir für eine fataleEntscheidung. Deshalb haben wir den Antrag einge-bracht, im nächsten Haushalt kein Geld für das Projekt„La Macarena“ in Kolumbien zur Verfügung zu stellen.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wird vonIhnen weiterhin in vielerlei Hinsicht instrumentalisiert.Militäreinsätze sollen zivil flankiert werden; das habenSie selbst gesagt. Laut der neuen Rohstoffstrategie derBundesregierung soll durch die Entwicklungszusam-menarbeit in Entwicklungsländern aber auch ein investi-tionsfreundliches Klima geschaffen werden. Was „inves-titionsfreundliches Klima“ konkret heißt, konnten wirvor kurzem in Bolivien erleben: Wer nicht Ihren Vorstel-lungen von Marktwirtschaft, Privateigentum und Inves-titionsschutz entspricht, wer also, wie die bolivianischeRegierung, einen eigenständigen Weg der Entwicklunggehen will, der wird abgestraft.
Die Entwicklungszusammenarbeit wird gekürzt. Das istfür mich keine Entwicklungszusammenarbeit auf Au-genhöhe, Herr Niebel. Das ist für mich neokolonialesGehabe.
Statt sich immer nur um das Investitionsklima fürdeutsche Unternehmen zu sorgen, sollten Sie sich liebermehr Sorgen um das Klima generell machen und guteKlimaschutzprojekte konkret unterstützen.
Sie reagieren viel zu wenig auf gute Ideen, die vorgetra-gen werden. Wir diskutieren schon seit langem ganzkonkret über ein sehr gutes Projekt in Ecuador, nämlichüber die ITT-Initiative; sie ist Ihnen ja wohl bekannt. Esgeht darum, dass die ecuadorianische Regierung dasErdöl im Boden lassen möchte und dafür Kompensa-tionszahlungen braucht.Was machen Sie? Sie haben diese Initiative ständigkritisiert und tun das nach wie vor. Sie finden immerwieder neue Argumente, weswegen Sie dieses Projektablehnen. Das hat sogar dazu geführt, dass der ecuado-rianische Präsident Correa einen bereits geplanten Be-such abgesagt hat.
Da kann ich nur sagen: Was für ein Affront, Herr Niebel!In den Entwicklungsländern gibt es gute Ideen. Ich kannnur an Sie appellieren: Bitte unterstützen Sie diese Initia-tive! Das ist ein zukunftsweisendes und wichtiges Pro-jekt, auch für den Klimaschutz.
Abschließend möchte ich sagen: Wir sind der Auffas-sung, dass Sie auf große Katastrophen wie die in Haitiund Pakistan völlig unzureichend reagieren. Sie leistenlediglich Einmalzahlungen. Wir hingegen fordern Son-dertitel über mehrere Jahre hinweg, um diesen Katastro-phen nachhaltig zu begegnen. Diese Initiativen sindwichtig. Wir dürfen nicht nach dem Motto verfahren: Inden Medien wird über diese Katastrophen nicht mehr be-richtet, also sind diese Probleme für uns nicht mehr vor-handen. – Wir müssen anders reagieren. Deswegen ha-ben wir Sondertitel gefordert.Ich kann nur sagen: Mit diesem Haushalt haben Siesich faktisch – darauf ist schon eingegangen worden –von dem 0,7-Prozent-Ziel für 2015 verabschiedet. IhreAusrichtung der Entwicklungszusammenarbeit freut si-cherlich den BDI, den Bundesverband der Deutschen In-dustrie, aber nicht die Menschen in den Ländern des Sü-dens.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8151
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Das Wort hat Volkmar Klein für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich habe, ehrlich gesagt, schon geahnt, was dieOpposition alles sagen wird. Das muss sie ja, und dasverstehe ich; denn dafür gibt es schließlich eine Opposi-tion.An sich kann niemand dagegen sein, einfach mehrGeld für Dinge zu verlangen, die uns gemeinsam wichtigsind.
Das kann niemand schlecht finden. Insofern ist das na-türlich ein billiges Erreichen von schnellem Applaus.Aber leider ist es so, dass wir das Geld, das wir vielleichtgerne für diese guten Dinge ausgeben würden, gar nichthaben.
48,4 Milliarden Euro Defizit stehen noch immer in unse-rem Haushaltsplan.Ich erinnere mich an heute Vormittag. Da hat derSPD-Fraktionsvorsitzende Steinmeier dem Finanzminis-ter vorgeworfen, er würde inzwischen sogar Vorräte an-legen.
Diese sehe ich nicht, weil ich alle Ansätze für sehr rea-listisch halte. Aber darauf will ich jetzt gar nicht hinaus.Steinmeier hat dann gesagt: Wenn ein Spielraum vorhan-den ist, dann ist die Neuverschuldung zu reduzieren. –Steinmeier hat nicht gesagt: Wenn ein Spielraum vor-handen ist, dann sind die Ausgaben im Einzelplan 23 zuerhöhen. – Insofern würde ich Frau Dr. Kofler bitten, dieDinge vielleicht einmal in der Fraktion anzusprechen;denn offenbar gibt es dort ein Koordinierungsproblem,
weil jetzt vorgeschlagen wird, man müsse das Geld zu-sätzlich ausgeben. Der Fraktionsvorsitzende hingegen– den habe ich bisher als relevant für die SPD angesehen –hat vorgeschlagen: Wenn Spielräume vorhanden sind,dann – das ist vernünftig – ist die Nettoneuverschuldungzu reduzieren. – Jedenfalls geht es schon gar nicht, mor-gens zu verlangen, die Schulden müssten weiter herun-tergefahren werden, und abends zu verlangen, es sollemehr Geld ausgegeben werden. Das jeweils zu sagen,nur um von jeweils anderen Beifall zu erheischen, istnicht in Ordnung. Das lassen wir Ihnen natürlich nichtdurchgehen.
Auch ich sage selbstkritisch: Mehr Geld für Entwick-lungshilfe, für gute Projekte in der Entwicklungshilfewäre sicherlich noch besser. Aber ich bitte die Kritiker,ihre Kritik ein bisschen zu dosieren und auch ihr eigenesHandeln an diesen Maßstäben zu messen.Ich bin erst seit einem Jahr hier im Bundestag, aberich habe mir die alten Zahlen einmal angeschaut. Dass esüberhaupt deutliche Aufwüchse in diesem Einzelplangegeben hat, ist nicht schon mit der früheren MinisterinWieczorek-Zeul, sondern erst mit Angela Merkel alsBundeskanzlerin eingetreten, weil sich offensichtlich dieMaßstäbe verschoben haben.
Schauen wir uns einmal an, welche Zahl die frühereMinisterin Wieczorek-Zeul in der damaligen Finanzpla-nung im Einzelplan 23 für das Jahr 2011 vorgesehenhatte, schauen wir uns also ihre alten Pläne an. Darinsteht – das kann man noch heute nachlesen; das ist dasSchöne bei Papier –, dass sie geplant hatte,5,84 Milliarden Euro für Entwicklungshilfe auszuge-ben. Wir wollen heute 6,22 Milliarden Euro beschließen.
Das ist deutlich mehr. Dafür könnte es ein bisschen Lobgeben.
Angesichts der Restriktionen ist das ein ziemlich großerErfolg für den Bereich, der uns zu Recht wichtig ist.Wir haben aber nicht nur weltweit Verantwortung,sondern auch gegenüber künftigen Generationen. Des-wegen sage ich: Wir dürfen nicht alles noch viel schlech-ter reden, sondern sollten das Erreichte vielleicht einfacheinmal anerkennen. Ich habe gerade schon die Relationzu Ihren früheren Plänen genannt. Durch die heutigeHaushaltsrelation wird die steigende Bedeutung desMinisteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung unterstrichen. Das Volumen des Gesamt-haushalts, den wir in dieser Woche zu beschließen ha-ben, sinkt deutlich um 4,3 Prozent auf 305,8 MilliardenEuro. Das Volumen des Einzelplans 23 steigt dagegendeutlich auf 6,22 Milliarden Euro. Das heißt, das kompa-rative Gewicht wird deutlich größer. Wenn Sie ein biss-chen ehrlich sind, sollten Sie das entsprechend anerken-nen können.
Beim Verteilen von Kritik sind Sie ein bisschen pau-schal. Gerade haben wir gehört, dass wir den GlobalenFonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Ma-
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Volkmar Klein
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laria ganz schlecht ausstatten. Schlechte Behandlung?Nein. Für den Globalen Fonds sind im Haushaltsplan fürdas Jahr 2011 200 Millionen Euro an Steuergeldern aus-gewiesen – wie auch in den Jahren 2008, 2009 und 2010.Jetzt beklagen Sie, es gebe keine Verpflichtungsermäch-tigungen für die Folgejahre.
Auch für die Jahre 2008, 2009 und 2010 gab es keineVerpflichtungsermächtigungen.
Also hat sich gegenüber dem Verfahren von vor drei Jah-ren überhaupt nichts geändert. Deshalb brauchen Siesich jetzt auch nicht so aufzuregen. Glauben Sie mir:Wenn unsere Bundeskanzlerin international etwas zu-sagt, dann findet das auch die angemessene Beachtungin diesem Hause.
Lassen Sie mich noch ergänzen – Sie werden das jetztnicht gerne hören –: Wahrscheinlich ist es sogar sehrwichtig, dass wir uns einmal mit Rückfragen an den Glo-balen Fonds wenden; denn er hat bisher Ausgaben inHöhe von rund 1 Milliarde Dollar in der VolksrepublikChina zugesagt. Die Hälfte davon ist schon abgeflossen;der Rest wird noch abfließen. Das heißt doch aufDeutsch, dass mit unseren Geldern auch Entwicklungs-hilfe in China bezahlt wird, mit Geldern, die dann in denärmeren Ländern, an die wir denken, wenn wir über denGlobalen Fonds reden, nicht mehr zur Verfügung stehen.Wahrscheinlich haben wir mit unseren kritischen Rück-fragen mit dazu beigetragen, dass China künftig garkeine Anträge beim Globalen Fonds mehr stellen wirdund dass in Zukunft sichergestellt ist, dass diese Gelderdort ankommen, wo sie richtig und gut aufgehoben sind.
Bei allen berechtigten Reden über Geld: GesternAbend war ich gemeinsam mit seiner Exzellenz demBotschafter von Tansania bei einer Veranstaltung. Er hatdort gesagt: Durch Hilfe allein ist noch kein Land ausder Armut herausgekommen. – Da hat er recht. Wirbrauchen eine sich selbst tragende Entwicklung; das istdann auch nachhaltig. Wir brauchen eine wie auch im-mer ausgestaltete soziale Marktwirtschaft in den Län-dern. Wir brauchen Anstöße für die Privatwirtschaft, so-wohl hier als auch dort, Arbeitsplätze zu schaffen. Dasist die Philosophie des Ministers, und das ist auch gut so.Wir haben in der Vergangenheit an vielen Stellenschon dazu beitragen können. Ich stelle mir hier nochVerstärkungen vor. Deswegen erfolgt auch die kleineUmschichtung der Mittel aus dem Titel „Bilaterale Fi-nanzielle Zusammenarbeit“ in den Titel „Finanzielle Zu-sammenarbeit mit Regionen“. Dadurch erhalten wir dieMöglichkeit, mehr Initiativen für Mikrokredite auchjenseits von staatlichen Strukturen in den Regionen zustärken. Das ist notwendig, weil wir an vielen Stellen inden Ländern des Südens darauf achten müssen, die Bür-gergesellschaften zu stärken und nicht immer alles nurauf den Staat zu fokussieren. Es mag bei meiner Vorred-nerin vielleicht großen Anklang finden; aber Staatskapi-talismus hat auch schon andere Staaten, inklusive inDeutschland, zugrunde gerichtet. So etwas brauchen wirbei der Entwicklungshilfe nicht.Herzlichen Dank.
Priska Hinz spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKlein, es war ja ganz nett, als Sie eben gemeint haben,die Opposition fordere nur und hole sich billig Beifallab. Aber wissen Sie: Es geht nicht nur darum, zu fordern– und uns schon einmal gar nicht –, sondern wir habenauch Fantasie und Ideen – anscheinend im Gegensatz zuIhnen –, wie man das 0,7-Prozent-Ziel erreichen kann.
Ihnen reicht schon, wenn der Haushalt stagniert. Dasverkaufen Sie hier als großen Erfolg.
Herr Leibrecht sagt auch noch: Der Etat ist gewach-sen. – Das stimmt, er ist um 148 Millionen gewachsen,nämlich um das Geld, das aus dem Einzelplan 60 herü-bergeschoben wurde, durch die Erlöse aus den Goldver-käufen, die dem Internationalen Währungsfonds wiedererstattet werden müssen.
Von daher ist es ein Nullsummenspiel. Es ist völlig egal,ob das im Einzelplan 60 oder im Einzelplan 23 steht. FürHerrn Niebel bleibt kein Geld übrig, das er mehr für dieEntwicklungszusammenarbeit ausgeben kann. Das willich hier doch einmal festhalten.
Die Lücke, um Ihre Zusagen und Ihre Koalitionsver-einbarungen einzuhalten, beträgt in diesem Jahr3,2 Milliarden Euro. So viel bräuchten wir im Einzelplan23 und insgesamt im Bundeshaushalt mehr, um das Zielvon 0,55 Prozent zu erreichen. Nur so könnte man denPfad beschreiten, um im Jahr 2015 das 0,7-Prozent-Zielzu erreichen.
Das wäre ein Pfad nach oben. Der Pfad, den Sie be-schreiten, ist der Pfad nach unten. Sie wollen nämlich
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Priska Hinz
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nach dem Finanzplan im Entwicklungsbereich im Jahr2012 5 Prozent und im Jahr 2013 noch einmal 1,5 Pro-zent einsparen. Angefangen haben Sie damit, dass Siedie Verpflichtungsermächtigungen um 200 MillionenEuro gekürzt haben. Das spricht doch Bände.
Herr Klein, Sie sagen, wenn die Kanzlerin etwas ver-spricht, sei klar, dass sie das einhalte. In Kopenhagenwurden – ohne Verrechnung mit Klimaschutzmitteln –420 Millionen Euro mehr zugesagt. Nichts davon ist imEinzelplan 23 eingestellt. Sie haben selbst die35 Millionen Euro, die für 2010 vorhanden waren, er-satzlos gestrichen. – So viel zu Ihrer Kanzlerin und de-ren Zusagen.
Nein, meine Damen und Herren, Sie müssten sich ei-gentlich auf den grünen ODA-Pfad begeben. Wir habennämlich einen Plan vorgelegt, wie man die Lücke von3,2 Milliarden Euro in diesem Jahr mit mehr Barmitteln,mit zusätzlichen Förderkrediten der KfW und mit zins-subventionierten Krediten schließen könnte. Manbraucht nicht alle Haushaltsmittel als Barmittel. Wir wa-ren kreativ. Natürlich kann man zinsverbilligte Kreditegewähren; man kann über die KfW Förderkredite verge-ben. Das würde auch die selbsttragenden Strukturen inden Entwicklungsländern stärken. Ich wundere mich,dass die FDP nicht mit uns auf diesem Pfad geht. Siesind doch der Meinung, die Privatwirtschaft müsse ge-stärkt werden. Über solche Wege könnte man die Privat-wirtschaft in den Entwicklungsländern stärken, und dannkönnten wir uns mit den Barmitteln darauf konzentrie-ren, die Armutsbekämpfung in den Ländern voranzutrei-ben, die wirklich auf diese Zuschüsse angewiesen sind.
Frau Hinz, Herr Schirmbeck würde Ihnen gern eine
Zwischenfrage stellen. Wollen Sie sie zulassen?
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Bitte schön, gerne.
Verehrte Frau Kollegin, Sie betreiben das Spiel allerOppositionsabgeordneten – vielleicht muss das so sein,auch wenn ich anderer Meinung bin –, indem Sie denEindruck erwecken, wir könnten mit immer mehr Geldirgendwo tätig werden. Sind Sie nicht mit mir einer Mei-nung, dass wir uns fragen müssen, wie wir die vorhande-nen Mittel effizienter einsetzen können und dass man inTeilen mit weniger Geld mehr machen kann?Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Eine Delegation desHaushaltsausschusses hat in Brasilien Vertreter von KfWund GTZ getroffen. Wir haben uns beiläufig erkundigt,was aus den 300 Millionen Euro geworden ist, die Bun-deskanzler Kohl seinerzeit zur Verfügung gestellt hat.Daraufhin hat uns der junge Vertreter der GTZ wörtlichgesagt, wenn sie Bock hätten, würden sie dem dem-nächst nachgehen. Es gab dann erhebliche Unruhe beider GTZ. Ich habe mir dann im Haushaltsausschuss er-laubt, die damals zuständige Ministerin danach zu fra-gen. Als Antwort habe ich einen Besinnungsaufsatz be-kommen, aber zu der Frage, was konkret mit den300 Millionen Euro bewirkt worden ist, kam gar nichts.Die Aufgabe gerade von Haushältern – dazu gehörenauch Sie seit einiger Zeit – ist es, darauf zu dringen, dassmit den zur Verfügung gestellten Mitteln effektiv etwasbewegt wird. Wenn Minister Niebel jetzt seine Institutio-nen umbaut, um dieses Ziel zu erreichen, dann ist dasauch im Sinne von uns Haushältern eine gute Haushalts-politik.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Schirmbeck, es ist gut, dass Sie diese Frage ge-stellt haben. Selbstverständlich wollen wir, dass die Mit-tel wirksam ausgegeben werden. Das ist völlig klar. Wirwollen auch nicht, dass irgendwo Bauruinen in dieLandschaft gepflanzt werden und man sich nach zehnoder 20 Jahren fragt, wofür das Geld eigentlich ausgege-ben wurde. Darin sind wir uns völlig einig.Aber wir wissen: Wir brauchen Geld für die Armuts-bekämpfung. Die 1,9 Milliarden Euro an Förderkreditenund zinssubventionierten Krediten, wie ich es eben vor-geschlagen habe, hätten zur Folge, dass die Gelder inden Entwicklungsländern sehr effizient eingesetzt wer-den müssen, weil die Kredite zurückzuzahlen sind. Es istsinnvoll, auch das Eigeninteresse von Entwicklungslän-dern zu wecken, die schon eine bestimmte wirtschaftli-che Schwelle erreicht haben, damit sie selbsttragendeStrukturen mit entwickeln, und dabei durch Beratungund Anschubfinanzierung Hilfestellung zu leisten. Ge-rade deshalb hätten Sie unserem Antrag zustimmen kön-nen. Das hätte mehr Geld für die Entwicklungszusam-menarbeit bedeutet, und das Geld wäre effizienteingesetzt. Aber nicht einmal das wollten Sie machen,Herr Kollege Schirmbeck.
Ein anderer Punkt, den ich noch ansprechen möchte,sorgt ebenfalls immer wieder für Erregung. Ich hattemich eigentlich gefreut, Herr Minister Niebel, dass Siesich so stark für den Global Fund eingesetzt und sozu-sagen ordentlich gebrüllt haben, nach dem Motto: Ichkann das Geld nicht allein aus meinem eigenen Etat auf-bringen und brauche über den Plafond, den mir der Fi-nanzminister zugesteht, hinaus auch für die nächsten
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8154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Priska Hinz
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Jahre einen entsprechenden Aufwuchs. – Daraus ist aberleider nichts geworden. Die 200 Millionen, die für 2011zur Verfügung stehen, waren nämlich schon im Entwurfenthalten.
– Die standen im Entwurf, Herr Kollege Leibrecht. Es istnichts hinzugekommen.Es geht jetzt um die zusätzlichen Mittel für die Jahre2012 und 2013, die zugesagt worden sind. Diese Zusa-gen müssen eingehalten werden. Insofern wäre es not-wendig gewesen, die Verpflichtungsermächtigungen inden Haushalt aufzunehmen,
damit der Haushaltsausschuss dem Finanzminister ge-genüber deutlich sagt: Diese Gelder wollen wir schon imHaushaltsplanentwurf für 2012 sehen. – Wir unterstüt-zen den Entwicklungsminister. Aber leider hat die Koali-tion gekniffen. Sie hätten unserem Antrag gerne zustim-men können.
Ich möchte noch einen allerletzten Punkt ansprechen.Herr Schirmbeck, Sie haben recht: Die Durchführungs-organisationen müssen fusionieren. Wir brauchen mehrSteuerung im Ministerium, und die Durchführung mussbei den Vorfeldorganisationen liegen. Man kann abernicht 500 Stellen streichen und gleichzeitig die Lei-tungsebene auf sieben Stellen verbreitern, für die nurMänner qualifiziert sind. Das wird mit uns nicht funktio-nieren. Ich sage Ihnen ganz klar: Das machen wir nichtmit.Danke schön.
Johannes Selle hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In den letzten Wochen, aber ganz besonders in dieserWoche haben wir über die Bedeutung des Sparens ge-sprochen. Konsolidierung bleibt eine Verpflichtung derjeweiligen Regierungsparteien; aber es ist ein Marken-zeichen der CDU/CSU und der FDP.Am vorliegenden Einzelplan 23 kann man erkennen,dass wir die Nöte dieser Welt sehen, dass sie uns nichtgleichgültig sind und wir eben nicht an unserer Verant-wortung sparen. Mit dem Bundeshaushalt 2011 werdengegenüber 2010 circa 13 Milliarden Euro eingespart,aber der Einzelplan legt zu. So gesehen ist die Bedeu-tung der internationalen wirtschaftlichen Zusammenar-beit als Anteil am Bundeshaushalt gestiegen. Darübersollten wir uns alle freuen.
Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass nichtalle Wünsche der Entwicklungspolitiker der christlich-liberalen Koalition in Erfüllung gegangen sind. Aberdiese Leistung verdient unseren Dank an die Haushalts-kollegen, an den Bundesminister Niebel und auch an denBundesminister der Finanzen.
Wir sind bereit, Verantwortung mitzutragen, Verant-wortung für diesen Haushalt und dafür, dass Deutsch-land stark bleibt. So werden wir nämlich von den Län-dern gesehen, die mit uns zusammenarbeiten und die esvielleicht noch viel mehr möchten.Mit einer Schulklasse hatte ich eine interessante Dis-kussion. Die Schüler sehen ihre Probleme, die Problemeihrer Eltern und fragen, warum wir so viel Geld in ande-ren Ländern ausgeben. Es ist wichtig, dass wir den Schü-lern eine verständliche Antwort geben und auch der Öf-fentlichkeit gegenüber die guten Argumente äußern.Wir geben in erster Linie Hilfe, weil es unsere Mit-menschlichkeit gebietet, wir eine funktionierendeVolkswirtschaft haben und weil wir zu den wenigen Län-dern gehören, die Hilfe geben können. Tausende vonDeutschen engagieren sich in dieser Hilfe und nehmendabei auch Risiko auf sich. Wir wollen sie bei dieser Ar-beit unterstützen.Bittere Armut kann sich ökologische Überlegungennicht leisten. Ob Bäume fallen oder Tiere sterben müs-sen, wird nicht nach den Gesichtspunkten der Biodiver-sität entschieden, sondern danach, wie die nächsten Tageüberstanden werden können. Entwicklungszusammenar-beit und Umweltschutz bilden für uns Schwerpunkte.
Bittere Armut kann sich auch Heimatliebe nicht mehrleisten. Die Menschen verlassen ohne Perspektive ihreLänder und suchen ihr Glück in der Ferne. Perspektivenin der Heimat stabilisieren und schaffen mehr Sicherheit.Wir unterstützen eine wirtschaftliche Entwicklung, dieauf eigenen Füßen stehen kann. Das bedeutet, dass unsjedes entstehende Pflänzchen freier und selbstständigerwirtschaftlicher Betätigung wichtig ist.Wir begehen in diesen Tagen viele Feiern der Unab-hängigkeit. Zur politischen Unabhängigkeit muss mehrund mehr auch die wirtschaftliche Unabhängigkeitkommen. Im Übrigen würden die Unternehmen in pros-perierenden Staaten auch zunehmend Kunden der deut-schen Wirtschaft werden.Das sind nicht nur für Schüler überzeugende Argu-mente für eine konsequente, effiziente, ökologisch undwirtschaftlich ausgerichtete Unterstützung.
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Johannes Selle
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Gerade die selbstständig wachsende Wirtschaft in un-seren Partnerländern erreichen wir nicht ohne Experten.Diese Experten finden sich in deutschen Unternehmen.Es gibt so viele gute Ideen des Mittelstandes, die in denPartnerländern dringend gebraucht werden. Hier setztder Bundesminister Niebel einen richtigen Akzent indiesem Haushalt; denn wirtschaftliche Zusammenarbeitschließt sinnvollerweise die Wirtschaft ein und nicht aus.Der Antrag der Grünen enthält Vorschläge dazu, wieeinzelne Titel im Einzelplan 23 erhöht werden sollen. DaSie das innerhalb der Struktur des von uns vorgelegtenHaushalts tun, erlaube ich mir die Folgerung, dass dieGrünen die von uns gesetzten Schwerpunkte für richtighalten. Es ist das Recht der Opposition, immer ein biss-chen mehr zu fordern. Nur bei einem einzigen Titelschlagen die Grünen eine Verringerung vor, nämlich beiEntwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft. Allesscheint gut zu sein, wenn es nicht wirtschaftlich ist.
Das würde noch nicht einmal auf Schüler überzeugendwirken.Gestern hatten die GTZ und PlaNet Finance eingela-den, um über Kundenschutz und soziale Verantwortungzu diskutieren. In den Mittelpunkt der Diskussion geriet,dass sich Mikrokredite so erfolgreich entwickeln, dassplötzlich reichlich privates Kapital zur Verfügung steht,nicht mehr sorgfältig gearbeitet wird und der Kredit zurKatastrophe für den Kleinkunden werden kann. Dabei istganz offenkundig: Jemanden bei einer guten geschäft-lichen Idee mit einem Kleinkredit zu unterstützen, so-dass er für sich und andere Arbeitsplätze schaffen kann,ist Kern der Entwicklungszusammenarbeit. So etwas istsogar in Deutschland notwendig. Hier bedarf es einereingehenden Analyse des Kunden und des geplanten Ge-schäftes. Das ist personalintensiv und damit auch kos-tenintensiv. Genau an dieser Stelle muss Förderung ein-setzen. Der Einzelplan 23 tut dies mit einer deutlichenErhöhung. Das ist der richtige Weg.
Entwicklungszusammenarbeit darf eigentlich keinFeld ideologischer Auseinandersetzung sein; so ist esdankenswerterweise oft. Ich halte nichts davon, bei derODA-Quote anders zu verfahren. Alle Fraktionen wol-len es. Die Kanzlerin bekennt sich dazu, erneut am21. September in New York. Damit haben wir ein ge-meinsames Ziel. Von einem Ziel kann man noch entferntsein. Aber wichtig ist, dass es unser Ziel bleibt. In dieserfinanziell belasteten Zeit ist das nicht mit einem Ruck zuschaffen. Die fehlenden 4,5 Milliarden Euro sind nichteinfach durch Barmittel darstellbar. Es müssen auchnicht Barmittel des Bundeshaushaltes allein sein. Auchin diesem Zusammenhang dürfen innovative Finanzie-rungsinstrumente eine stärkere Rolle spielen.
Die KfW macht dazu sehr interessante Vorschläge; diekennen alle Fraktionen.
– Es kommt auf die ODA-Quote an, Frau Dr. Kofler. –Wie gesagt, die KfW macht dazu sehr interessante Vor-schläge; die kennen Sie. Auf ein solches Know-howkönnen und sollten wir nicht verzichten. Ich werbe je-denfalls dafür. Ich vermute – das erlebe ich schon jetzt –,dass die Opposition bei den innovativen Finanzierungs-instrumenten eine Menge Diskussionsstoff entdeckenwird.Multilaterale Ansätze in der Entwicklungszusammen-arbeit sind nicht immer effizient. Sie entkoppeln von derdirekt kontrollierbaren Effizienz und Verantwortung.Deshalb unterstützen wir den Bundesminister darin, diebilaterale Zusammenarbeit zu stärken. In der bilatera-len Zusammenarbeit können eigene Schwerpunkte ge-setzt werden. Dass wir dies verstärkt tun, hoffen vieleLänder. Sie halten uns für fair sowie ökologisch undtechnologisch für beispielhaft. In der Tat sollten wirnoch viel mehr Mut zu enger Partnerschaft haben undvielleicht ein eigenes, unverwechselbares Modell wirt-schaftlichen Aufschwungs schaffen. Das könnte zusätz-liche Kräfte und Investitionsbereitschaft in unserer Ge-sellschaft freisetzen, eine Aufbruchstimmung imEmpfängerland erzeugen und einen Wettbewerb derIdeen auf internationaler Ebene auslösen.Ein erfolgreiches Modell multilateraler Zusammenar-beit ist der Global Fund zur Bekämpfung von Aids, Tu-berkulose und Malaria. Er hat sich bewährt. Seine Hilfekommt bei den Menschen an. Deutschland hat seine Ver-pflichtungen erfüllt. Im Haushalt sind wieder 200 Mil-lionen Euro für das nächste Jahr eingestellt. Wir wollendiese bewährte Zusammenarbeit weiter auf hohem Ni-veau unterstützen. Verpflichtungsermächtigungen fürFolgejahre können das unterstreichen. Fehlende Ver-pflichtungsermächtigungen berechtigen nicht zur Folge-rung, dass wir das nicht tun. Eine langfristige Investi-tionssicherheit an dieser Stelle ist nicht erforderlich. Ichweiß, dass die Damen und Herren der Opposition eszwar nicht wollen, aber ich fordere sie trotzdem auf, demWort der Bundeskanzlerin zu trauen.Der Einzelplan 23 weist einen der höchsten Beträgeaus, die es je gab. Deutschland bleibt einer der größtenGeber weltweit. Diesen Ansatz können wir alle mit gu-ten Argumenten vertreten. CDU/CSU und FDP stehenfür ein wirtschaftlich starkes Deutschland. Deshalb kannsich die Welt weiterhin auf unsere Hilfsbereitschaft ver-lassen.
Der Kollege Dr. Sascha Raabe hat jetzt das Wort fürdie SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich habe seit 2002 im Deutschen Bundes-tag schon viele kuriose Sätze gehört. Aber der Satz vonVolkmar Klein toppt vieles. Er sagte: Wenn die Kanzlerininternational etwas zusagt, dann hält sie es auch. – Ichwar erst vor wenigen Wochen mit der Bundeskanzlerinauf der Millenniumskonferenz in New York, wo es da-rum ging, zu überprüfen, wie die Staaten dieser Erde ihreVersprechen einhalten. Die Kanzlerin hatte die Chuzpe,dort in die Bütt zu steigen und zu sagen: Wir stehen zum0,7-Prozent-Ziel. – Gleichzeitig legt der Entwicklungs-minister, gedeckt von der Bundeskanzlerin, einen Haus-halt vor, mit dem sie dieses Versprechen eiskalt bricht,weil sie die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeitbis 2014 reduzieren will. Das ist ein Skandal. Wer dieWeltöffentlichkeit so belügt, sollte nicht glauben, dass erdamit hier im deutschen Parlament durchkommt.
Sehr geehrter Herr Kollege Klein, Sie haben in IhrerRede gesagt, die damalige Entwicklungsministerin HeidiWieczorek-Zeul von der Sozialdemokratischen Parteihabe die Mittel nicht erhöht. Ihnen ist wohl entgangen,dass die Ministerin 2008 und 2009 auch in der GroßenKoalition den Etat um 641 Millionen Euro bzw. 680 Mil-lionen Euro – also jeweils um 13 bzw. 14 Prozent – ge-steigert hat,
während Sie in diesem Jahr faktisch einen Nullaufwuchszu verantworten haben. Als wir in Verantwortung waren,haben wir zum ODA-Stufenplan gestanden; Sie aberbrechen die Zusage. Wir lassen nicht zu, dass das durcheine solche Geschichtsklitterung, wie Sie sie betreiben,verdeckt wird.
Sehr geehrter Herr Kollege Klein, Sie haben die Zah-len angesprochen, die die SPD und die jetzige Opposi-tion damals in den Haushaltsplänen gehabt haben. Ichhabe mir angeschaut, was die FDP zum Haushalt 2009beantragt hat. Sie wollten das Entwicklungsministe-rium komplett abschaffen. Das ist bekannt. Der, der esabschaffen wollte, ist jetzt Entwicklungsminister. Ichverweise auf Ihre Anträge zum Haushalt 2009, die in Ih-rem glorreichen sogenannten Sparbuch niedergelegtsind. Sie wollten im Haushaltstitel 421 01 die Bezügeder Parlamentarischen Staatssekretärin mit der Begrün-dung streichen, der geringere Ansatz ergebe sich aus derEinsparung einer Staatssekretärin. Diese Einsparungdiene der Entlastung der Bürger. Was haben Sie ge-macht, als Sie das Ministerium übernommen haben? Siehaben die Staatssekretärsposten behalten, sie mit Partei-soldaten besetzt und die Stellen für Abteilungsleiter vondrei auf vier erhöht. Bei der neuen Durchführungsorga-nisation GIZ haben Sie die Zahl der Geschäftsführer vondrei auf sieben erhöht. Einer kostet etwa 500 000 Euroim Jahr.
Sie blähen den Verwaltungsapparat auf, indem Sie Spit-zenposten schaffen. Der Fisch stinkt vom Kopf her. Daswerden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Dann kommt hinzu, dass Sie, Herr Minister Niebel,elf Spitzenkräfte ausgewählt haben, die eine reine Män-nerfußballmannschaft bilden. Alle vier Abteilungsleiterin Ihrem Haus sind männlich, und alle sieben neuen Ge-schäftsführer sind männlich. Dass Sie keine Frau sind,kann man Ihnen nicht vorwerfen,
aber wenn Sie glaubwürdig in den Entwicklungsländernfür Gender-Mainstreaming und Gleichstellung der Frauwerben wollen, dann müssen Sie mit gutem Beispiel vo-rangehen. Wir können unseren Partnerländern nicht sa-gen, sie müssten mehr Frauen beteiligen, aber in der ei-genen Verwaltung alle Spitzenpositionen nur mitMännern besetzen.
Es ist nicht nur die Quantität, die in diesem Haushaltnicht stimmt, sondern es ist auch die Qualität. Der PeerReview des DAC, des Entwicklungsausschusses derOECD, hat klar festgestellt, dass die Verteilung der Ent-wicklungshilfe, die Sie im Koalitionsvertrag festge-schrieben haben – zwei Drittel bilateral, nur ein Drittelmultilateral –, falsch ist.Übersetzt heißt das: Sie wollen künftig nicht mehreine im Hinblick auf internationale Töpfe wie den Glo-bal Fund – davon war schon die Rede – abgestimmteEntwicklungspolitik betreiben, sondern Sie wollen aufviele kleinteilige Projekte deutsche Fahnen setzen. Siebrechen damit den internationalen Konsens, für mehr Ef-fizienz und Effektivität zu sorgen. Klar ist doch: Wirüberfordern unsere Partnerländer, wenn wir deren Minis-terien jedes Mal mit hundert ausländischen Missionenaufsuchen, anstatt gemeinsam zu handeln. Auch dortstimmt die Qualität nicht. Auch deswegen lehnen wir Ih-ren Haushalt ab, Herr Minister.
Im DAC Peer Review wird auch kritisiert, dass mitIhrer neuen inhaltlichen Ausrichtung die große Gefahrverbunden ist, dass die Außenwirtschaftsförderung ent-wicklungspolitischen Fragestellungen und Zielsetzungenübergeordnet ist. Dazu passt in der Tat das von Ihnen er-arbeitete neue Rohstoffkonzept. Darin bringen die Bun-desregierung und der Entwicklungsminister zum Aus-druck, dass bei der Auswahl der Partnerländer, also
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8157
Dr. Sascha Raabe
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derjenigen Länder, mit denen wir Entwicklungszusam-menarbeit betreiben, ein ganz entscheidendes Kriteriumdie Rohstoffsicherung Deutschlands sein soll. Ich sage:Wir müssen bei der Auswahl der Partnerländer in ersterLinie darauf schauen: Wo ist der Hunger am größten?Wo ist die Armut am größten? Wo ist die Not am größ-ten? Da müssen wir helfen. Wir dürfen nicht danach ge-hen, wie wir der deutschen Industrie am besten Roh-stoffe sichern können. Dieses Ziel müssen wir aufanderen Politikfeldern verfolgen. Die Ärmsten der Ar-men dürfen nicht in diese Richtung instrumentalisiertwerden.
Dazu passt, dass Verteidigungsminister Guttenbergauf einmal ebenfalls sagt – das ist sehr bedenklich –,dass er die Verteidigungspolitik in Zukunft auch danachausrichten möchte, wie und wo deutsche Rohstoffe gesi-chert werden können. Ein ganz gefährliches Zusammen-spiel in der neuen Regierung ist, dass Entwicklungszu-sammenarbeit militarisiert wird. In Afghanistan habenSie auch den NGOs gesagt: Es gibt nur noch dann Geld,wenn ihr mit der Bundeswehr kooperiert. Herr Niebel,Ihre Militärmütze, die Sie in Entwicklungsländern auf-ziehen, ist einfach nur peinlich – darüber kann man nochlachen –; aber dass Sie die Entwicklungszusammenar-beit jetzt an Rohstoffinteressen und an militärischen In-teressen ausrichten, das ist gefährlich. Dem werden wirEinhalt gebieten, und wir werden diesen Haushalt ableh-nen.
Herr Raabe, ich werde Sie jetzt nicht fragen, ob Sie
eine Zwischenfrage zulassen, weil Sie Ihre Redezeit
schon deutlich überschritten haben.
Ich hätte sie sehr gerne zugelassen, weil ich eine Zwi-
schenfrage von Herrn Koppelin immer gerne beant-
worte.
Das kann ich mir vorstellen. Nichtsdestotrotz ist Ihre
Redezeit zu Ende.
Gut. Dann ersparen wir uns die Zwischenfrage von
Herrn Koppelin. Damit bin ich einverstanden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Koppelin.
Herr Kollege, zu Ihren Bemerkungen, was den Vertei-
digungsminister angeht und was die Konzepte zum
Thema Rohstoffe und die Weißbücher angeht: Sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen – notfalls stelle ich Ihnen
die entsprechenden Materialien zur Verfügung –, dass
unter sozialdemokratischen Verteidigungsministern und
zu Zeiten einer Koalition, der Sie angehört haben, in den
Weißbüchern genau die gleichen Formulierungen ge-
standen haben?
Herr Raabe zur Erwiderung.
Ich stelle nur fest, dass Bundespräsident Köhler Aus-
sagen gemacht hat,
in denen er Rohstoffsicherung in einen Zusammenhang
mit militärischer Absicherung gestellt hat. Er hat das
aber bedauert, weil das missverständlich war; er habe es
nicht so gemeint. Herr Guttenberg hat seine Aussagen,
dass er das Militär einsetzen möchte, um unsere Roh-
stoffe zu sichern, ausdrücklich betont und immer wieder
bekräftigt. Ich frage mich, warum ein Bundespräsident
zurücktritt, nachdem er sich falsch verstanden gefühlt
hat, weil er etwas so nicht gemeint hat, während ein Ver-
teidigungsminister hier in Deutschland in der Öffent-
lichkeit damit durchkommt, dass er das, was im Grund-
gesetz überhaupt nicht vorgesehen ist, nämlich den
Einsatz deutscher Soldaten zur Rohstoffsicherung, nun
zur Maxime dieser Regierung erhebt. Ich finde, der
Bundesverteidigungsminister hätte genauso konsequent
sein müssen und die gleichen Konsequenzen wie der
Bundespräsident ziehen müssen. Das wäre richtig gewe-
sen. Andernfalls hätte er seine Aussage zurücknehmen
müssen. Beides hat er nicht getan.
Das Wort hat der Bundesminister Dirk Niebel.
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mich ganzherzlich bei den Berichterstattern, insbesondere bei derHauptberichterstatterin, Frau Hinz, für den Einzelplan 23für die kollegiale Zusammenarbeit bedanken, was janicht immer selbstverständlich ist, wenn die Hauptbe-richterstattung bei der Opposition angesiedelt ist. Ichmöchte mich auch ausdrücklich beim gesamten Haus-haltsausschuss und bei den Kollegen des Fachausschus-ses für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken, die
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Bundesminister Dirk Niebel
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natürlich den einen oder anderen inhaltlichen Dissensmit sich bringt.Ich erlaube mir, bei allem, was ich hier schon gehörthabe, noch einmal festzustellen: Es ist mit 6,22 Milliar-den Euro der größte Etat dieses Einzelplans, den es je-mals gab. In Zeiten der Schuldenbremse gab es einenZuwachs von 148 Millionen Euro.
Das zeigt ganz deutlich, dass dieser Bundesregierung dieZusammenarbeit mit der internationalen Staatengemein-schaft wichtig ist. Sie macht damit deutlich, dass dieserInvestitionsetat auch tatsächlich genutzt wird, um denMenschen in dieser Welt zu helfen.
Herr Minister, möchten Sie eine Frage des Kollege
Raabe zulassen?
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung:
Ich wundere mich, dass sie so früh kommt, aber ich
freue mich darüber.
Herr Minister Niebel, Sie sprechen von 148 MillionenEuro Zuwachs in diesem Etat. Ist Ihnen bekannt – daswissen Sie bestimmt –, dass die Gesellschaft für Techni-sche Zusammenarbeit selbst schreibt, dass diese148 Millionen Euro im Prinzip eine reine Verschiebungaus einem anderen Einzelplan, eine Luftbuchung dahingehend sind, dass es keine Programmfinanzierung ist?Und sind Sie bereit, hier zuzugeben, dass mit diesen148 Millionen Euro, die Sie jetzt stolz anführen, nichtein einziges Entwicklungsprojekt konkret vor Ort finan-ziert wird, sondern dass es allein eine Sache ist, denHaushalt optisch gut aussehen zu lassen? Ich kann Ihnendas auch gerne aus der entsprechenden GTZ-Stellung-nahme vorlesen. Darin heißt es:Rein optisch wächst der Etat sogar um knapp150 Millionen Euro Barmittel auf 6,2 MilliardenEuro. Hier handelt es sich allerdings nur um eineÜbernahme von Ausgaben, die bisher direkt ausdem Etat der allgemeinen Finanzverwaltung,Einzelplan 60, übernommen wurden. Es handeltsich nicht um Programmtitel.Das sagt nicht die SPD, das sagt die GTZ. Vielleichtglauben Sie es der wenigstens.Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung:Herr Kollege Raabe, ich bin nicht bereit, das zuzuge-stehen, aber das, was Sie sagen, zeigt zweierlei: erstensIhre Quotengläubigkeit und zweitens Ihre GTZ-Hörig-keit.
– Ich würde Ihre Frage gern beantworten, Herr Raabe,falls es Sie denn überhaupt interessiert. – 1 Million Eurosind zusätzliche Mittel für Bildung, und das andere sindtatsächlich Erlöse aus Goldverkäufen, die dem Interna-tionalen Währungsfonds für Entwicklungskredite zurVerfügung gestellt werden, durch die wichtige Projektein den Partnerländern finanziert werden und die denMenschen tatsächlich helfen. Ich gehe davon aus, dassIhre Frage dadurch hinreichend beantwortet worden ist.Unabhängig davon ist dieser Etat aber auch ein ganzbesonderer, nicht nur wegen der Höhe, sondern er giltfür das 50. Jahr des Bestehens des Bundesministeriumsfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,das wir im nächsten Jahr feiern können.
– Sie können mir eine Zwischenfrage stellen, dann be-antworte ich Ihnen die sofort; aber so lange läuft die Uhrnoch. – Wir werden das im nächsten Jahr nicht nur fei-ern, sondern wir haben mit diesem Etat das erste Malvom deutschen Parlament die Chance bekommen, abdem nächsten Jahr auch eine qualitativ deutlich hoch-wertigere Entwicklungspolitik gestalten zu können. Dasist übrigens auch der Grund, meine lieben Kollegen vonder linken Seite des Hauses, weshalb Sie mich in allerRegel – außer bei vergangenheitsbezogenen Diskussio-nen – nicht von Entwicklungshilfe sprechen hören. Ent-wicklungshilfe der Vergangenheit hat Abhängigkeitengefördert. Wir reden von Entwicklungskooperation, Ent-wicklungspartnerschaften und Entwicklungspolitik.
Die finanziellen Voraussetzungen für die neue Struk-tur der staatlichen Entwicklungskooperation sind mitdiesem Haushalt geschaffen worden. Das bedeutet: DieAbstimmung über diesen Einzelplan 23 ist auch eineAbstimmung über die Reform der deutschen Entwick-lungspolitik. Da bin ich ganz gespannt auf Ihr Abstim-mungsverhalten.Der Haushaltsausschuss hat mit seinem Grundsatzbe-schluss auch das Fundament für die notwendige Perso-nalausstattung gelegt, um die Steuerungsfähigkeit derPolitik gegenüber den Durchführungsorganisationen zu-rückzugewinnen. Das ist überhaupt die Kernaufgabe desKoalitionsvertrages und des Kabinettsbeschlusses vom7. Juli dieses Jahres; die Rückgewinnung der Steue-rungsfähigkeit der Politik der Bundesregierung gegen-über den Durchführungsorganisationen. Das ist eineAufgabe, die jedem hier im Haus wichtig sein muss.
Es ist natürlich leicht, das alte Schema zu benutzen:erst einmal skandalisieren und dann hinterher sehen, wasdaraus wird. Ich hatte schon gedacht, dass die Rede vonFrau Hänsel bemerkenswert wäre; aber da ist wenigstensnoch ein Kern von Ideologie festzustellen gewesen. Einso hohes Maß an Schlichtheit der Einlassungen des Kol-legen Raabe hätte ich in diesem Hause aber nicht erwartet.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8159
Bundesminister Dirk Niebel
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Fakt ist, dass mit dieser Reform, mit all den Vorschlä-gen, die wir gemacht haben, nicht nur die Steuerungsfä-higkeit der Bundesregierung wiederhergestellt wird, son-dern, obwohl das nur Nebenziele sind, auch die Effizienzder Entwicklungskooperation gestärkt und zusätzlichnoch Geld gespart wird.Man kann sich große Buchstaben anschauen und dannaus den Überschriften herauslesen, wie viel Furchtbaresvon diesem Minister gemacht wird. Wenn man dann daszweite Mal hinschaut, stellt man fest: Im Haushaltsplandes Bundes für das BMZ werden 700 Stellen am 31. De-zember dieses Jahres entfallen. 200 werden im Laufe derFusion umgewidmet – dafür hat der Haushaltsausschussdie Voraussetzungen geschaffen –, um die Steuerungsfä-higkeit zu erhöhen. 500 Stellen netto werden somit imHaushalt des Bundes entfallen sein.
Darüber hinaus kann man, wie Frau Kollegin Hinzund Sie, Herr Raabe, es gemacht haben, kritisieren, dasswir die Steuerung auch bei der neuen Durchführungsor-ganisation, der Deutschen Gesellschaft für InternationaleZusammenarbeit, implementieren wollen. Man mussaber auch hier bitte die Fakten zur Kenntnis nehmen. Diedrei zu fusionierenden Gesellschaften, GTZ, DED undInWEnt, haben heute sieben Geschäftsführer, drei beider GTZ, einer beim DED und drei bei InWEnt.Wir haben dem Haushaltsausschuss gegenüber klar-gemacht, dass wir Geld sparen wollen. Der Haushalts-ausschuss hat völlig zu Recht die Sorge gehabt, dass esdann, wenn wir aus fünf wahrnehmbaren Geschäftsfüh-rern sieben machen würden – zwei Geschäftsführer beiInWEnt werden nämlich immer wieder vergessen; weilsie nicht Hauptgeschäftsführer sind, sind sie nicht sopräsent, aber sie sind da; schauen Sie einmal auf die In-ternetseite –, zu einer Vermehrung der Ausgaben kom-men würde. Das wäre auch richtig, wenn man die Ge-haltsstruktur der GTZ mit ungefähr 250 000 Euro Gehaltfür die Geschäftsführer zugrunde legen würde. Wir kom-men der Vorgabe des Haushaltsausschusses nach, indemwir überhaupt keine Geschäftsführung mehr einsetzen.Wir werden eine komplett neue Führungsstruktur einset-zen mit einem Vorstandssprecher und sechs Bereichsvor-ständen,
die auch fachliche Zuständigkeit für ihren Bereich ha-ben. Gleichzeitig wird die gesamte Gehaltsstruktur aufdie Ebene der bisherigen Bereichsleiter abgesenkt,
außer natürlich bei denjenigen, die aufgrund bestehenderVerträge Rechtsschutz genießen.Wir sorgen auch dafür, dass die Steuerungsfähigkeitbei Wahrung der Interessen aller Einzelorganisationengewahrt bleibt. Die Alt-GTZ kann nicht über den Tischgezogen werden, weil der Vorstandssprecher ein Veto-recht bekommt, also nichts gegen ihn entschieden wer-den kann. Er muss sich aber aktiv um mindestens einenweiteren Bereichsvorstand bemühen, wenn er etwasdurchsetzen möchte. Das sichert die Rechte von DEDund InWEnt, dass sie nicht von der Alt-GTZ dann dochwomöglich feindlich übernommen werden. Die Steue-rungsfähigkeit der Bundesregierung wird für einenÜbergangszeitraum von 2011 bis 2012 durch zwei vomBund zu entsendende Bereichsvorstände gestärkt. Esbleibt also bei der Gesamtzahl sieben bei deutlich abge-senkter Einkommenshöhe.Von Einsparungen in Höhe von 2,146 Millionen Euroim Jahr spricht das Wirtschaftlichkeitsgutachten, das Ih-nen lange vor den Haushaltsberatungen vorgelegen hat
und von BMF und Bundesrechnungshof in diesem Punktnicht angegriffen wurde.
Ich unterbreche Sie ja immer erst, wenn Sie einen
Punkt machen. Deswegen jetzt die Frage: Möchten Sie
eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Kollegen
Koppelin zulassen?
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung:
Wenn Sie stoppen, sehr gerne.
Herr Minister, könnten Sie noch einmal für Klarstel-lung sorgen?Erstens. Kollege Raabe hat ja gesagt, jeder der Ge-schäftsführer hätte ein Gehalt von 500 000 Euro.
Können Sie das bestätigen, oder können Sie noch einmalkonkret sagen, was vorgesehen ist?Zweitens hat Kollege Raabe Ihnen vorgeworfen, Siewürden – ich sage es jetzt einmal vereinfacht – nur FDP-Soldaten dort in den Gremien haben. Werden auch So-zialdemokraten bei diesem Personaltableau dabei sein?
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung:Ich will die Fragen gerne beantworten. Im Moment istes so, dass sich die Gehaltsstruktur für einen Ge-schäftsführer bei der GTZ auf ein Fixum von 190 000Euro plus 60 000 Euro variablem Einkommen beläuft.Bei den zukünftigen Bereichsvorständen wird sich dasGehalt in einer Größenordnung von 110 000 Euro plus30 000 Euro variablen Bestandteilen bewegen. Das heißtalso, eine deutliche Verringerung, außer aufgrund der ge-wachsenen Rechtsansprüche bei denen, die jetzt schonim Amt sind und im Amt bleiben.
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8160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Bundesminister Dirk Niebel
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Ich will hier, weil sich das Kabinett und die Auf-sichtsgremien erst noch damit befassen müssen, nichtsüber Namen sagen, aber die Struktur, die mir vor-schwebt, berücksichtigt auch Sozialdemokraten. Das istrichtig.
Nachdem Sie, Herr Raabe, nur von Parteisoldaten ge-sprochen haben, erlauben Sie mir auch das andere imRahmen Ihrer Frage aufgeworfene Kriterium anzuspre-chen: Von den sieben Mitgliedern des neu zu schaffen-den Vorstandes sind allein fünf, männlich, Überbleibselder Vorgängerregierung; denn unter der Vorgängerregie-rung konnte keine Frau irgendwo in eine gehobene Posi-tion kommen, weder bei der GTZ noch beim DED, nichtbei InWEnt, nicht bei der KfW, nicht bei der DEG, nichtbei der Weltbank und nicht beim DAC.
Allerdings, um das, Herr Koppelin, abschließend zuerläutern, habe ich schon eine Dame zur Exekutivdirek-torin bei der Weltbank gemacht. Durch die Initiative vonGudrun Kopp wird zum 1. Januar eine zusätzliche Auf-sichtsrätin in der DEG installiert werden, übrigens FrauProfessor Dr. Weder di Mauro, deren Kompetenz Sie jawohl kaum anzweifeln werden.Das zeigt, dass wir von null Frauen in Führungsposi-tionen in Ihrer Verantwortung auf zwei Frauen in Füh-rungspositionen gekommen sind. Lothar Binding, dernachher noch spricht, ist gelernter Mathematiker. Erwird Ihnen bestätigen, dass man diese Steigerung nichteinmal prozentual beschreiben kann.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Siesehen: Der Haushalt, den wir heute beschließen, bildetdie entscheidende Grundlage für die wichtigen Maßnah-men im Rahmen der Strukturreform. Ich weiß, dass zu-mindest die Grünen dem Haushalt nicht zustimmen wer-den; sie werden ihn ablehnen. Mittlerweile lehnen Sieauch Bahnhöfe und Olympische Spiele ab. Insofern kannich Ihnen nur sagen: Immer nur dagegen zu sein, bringtDeutschland nicht voran, schon gar nicht, wenn es umdie Sicherung der Rechte der ärmsten Menschen auf die-ser Welt geht.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Sascha Raabe.
Ich muss schon die Äußerung von Herrn Koppelin zu-
rückweisen. Er hat behauptet, ich hätte gesagt, jeder der
Geschäftsführer hat ein Gehalt von 500 000 Euro. Ich
habe aber gesagt: Er „kostet etwa 500 000 im Jahr“.
Diese Zahl ergibt sich, wenn man die ganzen indirekten
Kosten und Leistungen hinzurechnet.
Zweitens. Meine Äußerung zur Besetzung bezog sich
nicht auf die neue Geschäftsführung. Diejenigen, mit de-
nen ich bis jetzt gesprochen habe, haben gesagt, dass sie
Geschäftsführer werden, und haben sich darüber gefreut.
Auf einmal hören wir, dass sie sich irgendwie anders
nennen. Ich glaube, die sieben, die benannt wurden, ha-
ben sich eher im Range eines Geschäftsführers gefühlt;
Ich glaube, das ist auch so. Ich habe aber nicht gesagt,
dass dort nur FDP-Parteisoldaten untergebracht sind,
sondern habe gesagt, in der bisherigen Personalpolitik ist
das so.
Herr Minister Niebel, Sie haben schon hundertfach
die Kritik des Personalrats gehört, dass Sie im Prinzip
kompetente Leute herausschmeißen und sie durch FDP-
Parteisoldaten ersetzen. Das haben wir auch bei Eckhard
Deutscher, dem früheren Exekutivdirektor bei der Welt-
bank, erlebt.
Herr Minister, ich war einmal Bürgermeister einer
kleinen Gemeinde. Als ich dort Bürgermeister war, habe
ich, als ich Stellen besetzt habe, immer darauf geachtet,
dass keiner sagen kann: Die Stelle ist nach deinem Par-
teibuch besetzt worden. Mir wäre nie in den Sinn ge-
kommen,
den Leiter meiner Personalabteilung – ausgerechnet den,
der für die Einstellungen in meinem Rathaus zuständig
ist – nach SPD-Parteibuch zu besetzen. Selbst wenn da
einer sehr qualifiziert gewesen wäre, hätte ich gesagt:
Ich möchte mich nicht dem Vorwurf aussetzen, nach
Parteibuch entschieden zu haben.
Sie haben jetzt selbst die Stelle des Personalleiters – des-
jenigen, der für die Stellenvergabe zuständig ist – mit ei-
nem FDP-Kreisvorsitzenden besetzt. Ebenso steigt Herr
Paetz in die Geschäftsführung auf. Da kann ich nur sa-
gen: Hören Sie einmal auf Ihren Personalrat! Verschaf-
fen Sie sich dadurch Respekt, dass Sie Menschen nach
Leistungsfähigkeit und Kompetenz einstellen und nicht
nach dem Parteibuch.
Herr Bundesminister zur Antwort.Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung:Kollege Raabe, zunächst möchte ich sagen: Es ist fastso, als wenn Opa vom Krieg erzählt; diese Rede habenwir schon mehrfach gehört. Sie unterstreichen mit be-merkenswerter Klarheit meine Aussage über dieSchlichtheit der Äußerung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8161
Bundesminister Dirk Niebel
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Nichtsdestotrotz möchte ich einen Punkt klarstellen.Nachdem Sie schon mehrfach in diesem Hause versuchthaben, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Res-sorts zu beleidigen, dürfen Sie bitte zur Kenntnis neh-men, dass der von Ihnen angesprochene Referatsleiterim Personalbereich ein qualifizierter Beamter in einemanderen Bundesministerium war. Er ist von Bundes-ministerium zu Bundesministerium versetzt worden; eswar also nicht einmal eine der von Ihnen als widerlichangeprangerten externen Besetzungen. Diese hervorra-gende, kompetente Persönlichkeit ist im Übrigen zu100 Prozent schwerbehindert.
Er ist wie Sie oder ich keine Frau; das ist richtig. Er istaber wirklich kompetent und schließt eine große Lückeim Bereich der Beschäftigung von Schwerbehinderten,die in einem Ressort, das für das Gute in der Welt zu-ständig ist, durchaus im eigenen Hause geschlossen wer-den sollte.
Ich will gern darauf hinweisen, dass es keine Kurz-
intervention zur Kurzintervention gibt.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Niema Movassat für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Bezüglich des Entwicklungsbudgets stecken wir seitJahrzehnten in einer Endlosschleife. Wieder wird einneuer Haushalt verabschiedet; wieder ist er meilenweitvom internationalen Versprechen Deutschlands entfernt,die Quote der Entwicklungshilfe bis 2015 auf 0,7 Pro-zent des Bruttonationalprodukts zu steigern. LautEuropäischer Kommission beträgt die Lücke zwischenzugesagten und tatsächlich gezahlten Entwicklungshilfe-geldern in Deutschland im Jahr 2010 mittlerweile ganze2,7 Milliarden Euro. Dabei bräuchten wir jedes Jahrknapp 2 Milliarden Euro mehr, um das 0,7-Prozent-Zielzu erreichen. Laut Regierungsplanung werden aber bis2014 fast 400 Millionen Euro weniger in den Entwick-lungsetat fließen. Das ist eine völlig falsche Weichen-stellung.
Ich bin zwar erst zum zweiten Mal bei den Haushalts-beratungen dabei, aber eine Frage an meine Kolleginnenund Kollegen, die schon länger dabei sind: Kommen Siesich nicht langsam lächerlich vor? Sie schieben sich je-des Jahr aufs Neue gegenseitig die Schuld in die Schuhe– auch heute wieder – und erfinden immer wieder neueAusreden.
Sie alle waren oder sind aber in der Regierung und habenalle zu wenig dafür getan, dass wir das Ziel erreichen.
Von den für die Entwicklungsarbeit ausgewiesenenGeldern fließen nur circa 40 Prozent in die Partnerlän-der. Der Rest sind Kosten, unter anderem für Abschie-bung, Verwaltung und Unterkünfte der Bundeswehr inAfghanistan. Was sich irgendwie mit Entwicklungslän-dern in Verbindung bringen lässt, rechnen Sie in die Ent-wicklungsquote mit ein. Sie sollten einmal überdenken,was Sinn und Zweck des 0,7-Prozent-Ziels ist.
Es soll Geld zur Verfügung gestellt werden, um nachhal-tige Entwicklung zu ermöglichen, damit grundlegendeMenschenrechte wie Bildung und Gesundheit endlichauf der ganzen Welt gewährleistet sind. Ganz sicher istes nicht Sinn und Zweck, durch Buchungstricks irgend-wann formal die 0,7-Prozent-Marke zu erreichen, damitSie sich dann auf die Schulter klopfen können.
In einem Punkt bleiben Sie, Herr Niebel, sich treu:Die Mittel für Ihr Lieblingsprojekt „Entwicklungspart-nerschaft mit der Wirtschaft“ erhöhen Sie um satte25 Prozent. Schauen wir uns doch einmal diese öffent-lich-privaten Partnerschaften, kurz PPP genannt, ge-nauer an. Das erste Problem ist, dass sich die Interessender Unternehmen häufig nicht mit den Anforderungen andie Entwicklungszusammenarbeit decken.
Unternehmen gehen nun einmal ungern in Staaten miteiner instabilen Wirtschaft oder einer schlechten Infra-struktur. Viele Staaten Afrikas, insbesondere ländlicheRegionen, bleiben damit außen vor. Auch die Bereiche,die für nachhaltige Entwicklung eine große Rolle spie-len, also kostenloser Zugang zu Bildung, Gesundheitund Wasser, kommen bei PPPs viel zu kurz. Hierfür wer-den nur 15 Prozent der Gelder ausgegeben; denn für diePrivatwirtschaft sind hier kaum Profite zu machen.
Die PPPs binden also Mittel, die in anderen Bereichendringend benötigt werden. Da die Unternehmen nur inlukrative Bereiche investieren, ist völlig unklar, ob siedie Projekte nicht ohnehin durchgeführt hätten. Deshalbhandelt es sich bei PPPs oft schlichtweg um verdeckteSubventionen. Das ist Außenwirtschaftsförderung, nichtEntwicklungszusammenarbeit.
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8162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Niema Movassat
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Das zweite Problem: Im PPP-Programm des Entwick-lungsministeriums sind nur deutsche bzw. europäischeUnternehmen antragsberechtigt, Firmen aus Partnerlän-dern nicht. Das führt das ganze Konzept der PPPs end-gültig ad absurdum. Es trägt nicht zur Stärkung der loka-len Wirtschaft bei. Sie betreiben ganz antiliberal – dasstellt auch die Deutsche Welthungerhilfe fest – Wettbe-werbsverzerrung zugunsten deutscher Unternehmen.
Drittens. Die letzte Evaluation des gesamten PPP-Konzepts gab es vor acht Jahren. Niemand käme in derWirtschaft damit durch, nur alle zehn Jahre Bilanz zuziehen. Wenn Sie schon mit der Wirtschaft kooperieren,dann legen Sie wenigstens in diesem Punkt dieselbenStandards an.
Ich sage Ihnen: Das Geld wäre in den Bereichen „ländli-che Entwicklung“ oder „Hungerbekämpfung“ angesichtsfast 1 Milliarde Hungernder wesentlich besser aufgeho-ben.Ungenügend sind auch die Bemühungen der Bundes-regierung zur Abschaffung der Agrarexportsubventio-nen. So subventioniert die Europäische Union Milchund macht sie dadurch künstlich billiger. Das Milchpul-ver landet dann in afrikanischen Staaten. Die Kleinbau-ern vor Ort können mit diesen Dumpingpreisen nichtkonkurrieren. Lokale Milchmärkte wie in Sambia wur-den dadurch zerstört und Bauern in Armut und Elend ge-trieben. Dasselbe Spiel kennen wir in Ghana mit den To-maten und in Ägypten mit dem Getreide. Aber statt dieAgrarexportsubventionen bis 2013 wie versprochen ab-zuschaffen, will die Europäische Kommission bei derNeugestaltung der europäischen Agrarpolitik bis 2020an den Subventionen festhalten. Die Bundesregierungmuss ihren Einfluss geltend machen, damit diese Plänenicht Wirklichkeit werden.
Also: Zu wenige Mittel und zu viel Wirtschaftsorien-tierung, das sind Kernpunkte Ihrer Entwicklungspolitik.Die Linke wird diesem Haushaltsentwurf daher natürlichnicht zustimmen.Danke für die Aufmerksamkeit.
Jetzt hat Thilo Hoppe das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben heute in den Reden schon mehrfach vomDAC Peer Review gehört. Einige werden sich fragen,was das ist. Dahinter verbirgt sich nicht Donald Duckoder eine lahme Ente, sondern der Entwicklungsaus-schuss der OECD-Staaten. Das ist der Verbund derIndustrienationen, die Entwicklungszusammenarbeit be-treiben. Der Peer Review ist eine Art Überprüfungs-mechanismus. Delegationen reisen in ein bestimmtesGeberland und nehmen die Entwicklungszusammen-arbeit unter die Luppe. Dann listen sie in einem langenBericht das Positive und Negative auf und bringen kon-struktive Kritik an.Vor kurzem war Deutschland an der Reihe. Auch da-rüber haben die Inspektoren einen langen Bericht ge-schrieben, in dem sie Positives und Negatives aufgelistethaben. Sie haben – das muss man fairerweise sagen – dieEntwicklungspolitik der letzten vier bis fünf Jahre unterdie Luppe genommen, also nicht nur die Entwicklungs-politik dieser Regierung, sondern auch die der Vorgän-gerregierung.Da wir uns in der Haushaltsdebatte befinden, greifeich eine Passage zum Thema Entwicklungsfinanzierungheraus. Da heißt es: „Germany is far off-track …“Deutschland ist also weit davon entfernt, seine Zusageneinzuhalten. Der Bericht fordert – ebenso wie die evan-gelische und die katholische Kirche, wie VENRO, alsoder Verband der Nichtregierungsorganisationen, und wieauch die Oppositionsparteien – von der Bundesregierungeinen Plan, aus dem glaubhaft und nachvollziehbar her-vorgeht, wie denn das 0,7-Prozent-Ziel bis 2015 tatsäch-lich erreicht werden kann. Das ist wohl nichts Neues.Aber es gibt auch eine Passage, die mir zunächst ent-gangen war und die sich mit der Rolle der Parlamentarierund ganz speziell des Entwicklungsausschusses beschäf-tigt. Der DAC Peer Review schlägt vor, dass wir unsfraktionsübergreifend zusammensetzen und dass wir ge-meinsam eine Initiative nach dem Motto „Keep the pro-mise!“ – haltet das Versprechen – starten. Das könntedazu führen, dass sich zum Schluss die Parlamentari-schen Geschäftsführer und die Fraktionsvorsitzenden zu-sammensetzen und sich darauf verständigen: Ja, es gibtzwar große Sparzwänge, aber wenn wir das gemeinsamstemmen und uns später gegenseitig keine Vorwürfe ma-chen, dann vereinbaren wir, dass wir jetzt die Lückeschließen. – Es geht um 2 bis 3 Milliarden Euro, diejährlich hinzukommen müssen.
Jetzt sagen einige, das sei utopisch und unrealistisch.In Großbritannien hat es aber auf diesem Wege ge-klappt. Man hat die Debatte aus dem parteipolitischenHickhack mit den gegenseitigen Schuldzuweisungen,wie wir sie heute wieder hier erlebt haben, herausge-nommen. Das hat dazu geführt, dass die dortige konser-vativ-liberale Regierung in Großbritannien trotz drama-tischerer Sparzwänge einen Etat vorgelegt hat, derAbsenkungen in fast allen Ressorts, aber Zuwächse beider Entwicklungszusammenarbeit vorsieht. Es wird alsonicht bei den Ärmsten der Armen gespart. Die Opposi-tion, also die Labour Party, hat versprochen, dass sie dasnicht populistisch ausnutzen wird nach dem Motto „Sehtmal, hier in England wird gespart, aber in Afrika wirddas Geld zum Fenster herausgeworfen“.Den Bedenken, wie diese Politik bei der Bevölkerungankommt, ist man durch eine gemeinsame Vereinbarungder Fraktionsvorsitzenden begegnet. Genau das schlägt
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Thilo Hoppe
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der DAC Peer Review vor. Ich finde, das ist eine sehrspannende gemeinsame Initiative, für die ich Sie gernegewinnen möchte. Warum sollten wir das, angesporntvon VENRO, von den Kirchen und von der Micha-Initiative, die sich gebildet hat, nicht tun? Es ist finan-zierbar. Das Geld ist vorhanden. Angesichts der Notwen-digkeit der Haushaltskonsolidierung und anderer Spar-zwänge ist dies für manche nur schwer zu vertreten.Aber wenn wir das gemeinsam machen, dann könnenwir es schaffen. Dann können wir sagen: Keep the pro-mise! Yes, we can!
Dagmar Wöhrl hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber KollegeHoppe, ich kann sagen – ich glaube, da spreche ich imNamen aller, die im Ausschuss sind –, dass wir an demZiel festhalten und es erreichen wollen. Aber wir habenauf einer sehr niedrigen Ausgangsbasis angefangen.Sie wissen ganz genau, wie bei den Vorgängerregie-rungen die ODA-Quote erfüllt worden ist, nämlich größ-tenteils durch Schuldenerlasse. Das ist das Problem. Eswurde nicht mehr Geld ausgegeben, sondern es gabSchuldenerlasse, was die Entwicklung in diesen Ländernnatürlich nicht vorangebracht hat.Wir wissen, die Zeiten sind inzwischen schwierigergeworden, als sie es damals waren. Wir haben immensviele Krisen hinter uns. Ich will jetzt nicht näher auf dieFinanzmarktkrise, die Wirtschaftskrise, die Nahrungs-mittelpreiskrise, Ernährungskrise und auf die Naturkata-strophen eingehen. Trotzdem haben wir es geschafft, ei-nen Sparhaushalt auf den Weg zu bringen – ich erinnerean die 80 Milliarden Euro –, weil wir sehen, dass wir un-seren Kindern die Chance geben müssen, dass sie auchkünftig ein steuerbares Sozialsystem haben. Deswegen,glaube ich, ist es wichtig, hier zu sagen, dass wir für die-sen Etat mit 6,22 Milliarden Euro, den wir jetzt haben,wirklich dankbar sein müssen,
dass wir dankbar sein müssen, dass wir in dieser Situa-tion, in der wir jetzt und heute stehen, keine Federn las-sen mussten. Das ist nicht selbstverständlich, wenn Siesich die Einzelpläne anderer Ministerien ansehen. Des-halb ein herzliches Dankeschön an alle, die dabei mitge-wirkt haben, an die Finanzpolitiker und auch an dieHaushälter in diesem Haus.
Wir sind immer noch einer der größten Geber bei deninternationalen Institutionen. Ich glaube, ein Kapitalan-teil von 4,6 Prozent bei der Weltbank kann sich sehenlassen.Wir haben diese Regierung jetzt seit etwas über einemJahr, und ich sehe, was inzwischen alles auf den Weggebracht worden ist. Wenn ich nur an die Reform der In-stitutionen, an die Zusammenlegung im Rahmen dertechnischen Zusammenarbeit, denke, dann muss ich fest-stellen, dass das ein Werk ist, das Vorgängerregierungennicht einmal angedacht haben, geschweige denn auf denWeg gebracht haben.
Heute sind wir auf einem positiven Weg. Es ist noch im-mens viel zu tun, es muss hier noch ein neues Geschäfts-modell entwickelt werden. Das wissen wir. Die GIZ wirdein großer Goliath, der steuerbar sein muss. Ich wünschedem Minister wirklich alles Gute dabei, diese Steuerungauf den Weg zu bringen.Wir erhoffen uns eines – ich glaube, wir alle erhoffenuns das –: Wir wollen mehr Übersichtlichkeit haben, wirwollen auch mehr Wirtschaftlichkeit haben. Das sind indiesem Zusammenhang die Schüsselwörter.Ich erinnere mich daran, dass es in allen Reden heißt:Mehr Geld, mehr Geld, mehr Geld. Aber ist das wirklichso, dass wir dann, wenn wir mehr Geld in die Hand neh-men würden,
in den Ländern noch mehr bewirken würden? Sollten wiruns nicht eher fragen: Wie sehen wir zukünftig über-haupt eine effizientere Entwicklungspolitik? Wie wollenwir die Entwicklungspolitik zukünftig gestalten? Wollenwir die alten Wege, die oft nicht sehr vielversprechendgewesen sind, weiter beschreiten, oder wollen wir neueWege und auch effizientere Wege einschlagen?
Ich bin der Auffassung, dass überhaupt nicht zur Dis-kussion steht, dass Gelder eingesetzt werden. Das siehtauch unsere Koalition so. Ich glaube, das ist unstrittig.Aber man muss auch eines sehen: Wir brauchenstarke Geberländer. Wir brauchen Geberländer, die einensoliden Haushalt haben; denn wir wollen ja, dass dieseGeberländer auch in Zukunft Entwicklungshilfe leistenkönnen,
und das nicht nur mit den Mitteln des nächsten Etats,sondern über Jahrzehnte hinweg. Deswegen ist dieHaushaltskonsolidierung in diesem Bereich so wichtig.Wir werben für mehr gegenseitiges Verständnis beiden Entwicklungsländern, bei den Schwellenländern, beiden Geberländern. Wir alle sitzen in einem Boot. Wirmüssen die Erkenntnis gewinnen – ob das die Entwick-lung im Süden ist, ob das die Lebenschancen, die Poten-ziale der vielen Menschen in den Entwicklungsländernsind –, dass uns das alles auch hier in Deutschland etwasangeht. Das müssen wir in der Öffentlichkeit noch vielmehr herüberbringen, als wir es in der Vergangenheit ge-macht haben. Das heißt, um die Armut zu bekämpfen,
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8164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Dagmar Wöhrl
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brauchen wir ein weltweites Netzwerk aller, die daranteilhaben.Außerdem brauchen wir dringend einen Perspektiv-wechsel. Ich bin noch nicht so lange in der Entwick-lungspolitik aktiv, aber ich habe gemerkt, dass wir die-sen Perspektivwechsel brauchen: weg von dem – inAnführungszeichen – „betreuten Opfer“ hin zum eigen-verantwortlichen Akteur in den einzelnen Ländern.
Das ist der Weg, den wir einschlagen müssen, um das zuerreichen.Frau Hänsel, in diesem Zusammenhang sind die Ge-berländer in der Pflicht; ich glaube, das ist auch IhreMeinung. Wir müssen sie viel stärker in die Verantwor-tung nehmen, als wir es in der Vergangenheit gemachthaben. Das Ownership-Prinzip, wie es in der Pariser Er-klärung steht, ist der richtige Weg zu mehr Wirksamkeit.Sie müssen sehen: Es gibt die internationale Ebene.Die Staatengemeinschaften haben große Ziele. An derErreichung dieser Ziele müssen auch die Entwicklungs-und Schwellenländer mitarbeiten. Ich erwähne nur dasKlimaschutzabkommen. Es gibt daneben die nationaleEbene. Auf der nationalen Ebene haben diese Länder na-türlich eine Verantwortung ihren Bürgern gegenüber. Siemüssen dafür sorgen, dass es eine Gesundheitsvorsorge,Bildungseinrichtungen und vieles andere mehr gibt. Dasheißt, sie müssen mitentscheiden, aber vor allem eines:Sie müssen mitverantworten. Sie müssen die Verantwor-tung für ihr eigenes Volk tragen.Präsident Obama hat in seiner Rede vor dem ghanai-schen Parlament gesagt – ich zitiere –:Die Geschichte liefert ein klares Urteil: Regierun-gen, die den Willen ihrer Bevölkerung respektieren,sind wohlhabender, stabiler und erfolgreicher alsRegierungen, die dies nicht tun.
Was folgt daraus? Ich glaube, man sieht, dass esfalsch ist, Regierungen, denen die eigene Bevölkerungegal ist, zu päppeln, Geld zuzuschießen. Deren Machtendet am Rand ihrer Hauptstadt. Dort ist der Misserfolgfür das Land, für das Volk vorprogrammiert. Deswegenist es wichtig, dass wir dort, wo wir merken, dass Regie-rungen nicht verantwortungsvoll mit ihrer Bevölkerungumgehen,
versuchen, an die Bevölkerung selbst heranzukommen,ohne den Umweg über schlechte Regierungen zu gehen.Ich möchte jetzt nicht länger auf Budgethilfe und ande-res in diesem Zusammenhang eingehen. Das ist einwichtiger Punkt. Wir sind dankbar, dass uns die Zivilge-sellschaften hier sehr stark unterstützen.Wir müssen mehr Sensibilität wecken. Wir müssendie immensen Potenziale, die es gibt, stärken, damitdiese Länder unabhängig werden. Denn eines ist klar:Impulse setzen können wir, aber die schöpferische Kraft,um etwas aus den Impulsen zu machen, müssen die Ent-wicklungsländer selbst aufbringen. Man kann kein Landvon außen entwickeln.Ich bedanke mich vielmals für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Hoppe erhält die Möglichkeit für eine
Kurzintervention.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Kol-
legin, ich stimme Ihren Analysen und alldem, was Sie
gesagt haben, zu. Aber es führt kein Weg daran vorbei,
dass wir zur Erreichung der Millenniumsziele bessere
und mehr Entwicklungszusammenarbeit und auch mehr
Geld brauchen. Das ist auch im Koalitionsvertrag so
festgelegt.
Mich würde interessieren, wie Sie den Vorschlag aus
dem DAC Peer Review, dass wir versuchen sollten, hier
im Parlament fraktionsübergreifend Konsens herzustellen,
finden. Den Kolleginnen und Kollegen in Großbritannien
ist dies geglückt. Dort haben alle Fraktionen gesagt:
0,7 Prozent werden beiseitegelegt, über den Restkuchen
kann man sich in den Etatverhandlungen unterhalten.
Man hat es in Großbritannien geschafft, das 0,7-Prozent-
Ziel als sakrosankt und unantastbar zu erklären. Dies ge-
schah aus einer Initiative des dortigen Entwicklungsaus-
schusses heraus. Das hat die Sache weit vorangebracht.
Sollten wir bei uns im AWZ nicht auch versuchen, solch
eine Initiative auf den Weg zu bringen?
Bitte schön, Frau Kollegin Wöhrl.
Lieber Kollege Hoppe, ich glaube, wir alle würden
nichts lieber tun, als einen Konsens zu finden, um das
0,7-Prozent-Ziel sehr kurzfristig zu erreichen. Aber, ich
glaube, uns allen ist auch klar, dass wir gegenüber den
Generationen in unserem eigenen Land Verantwortung
hinsichtlich der Haushaltskonsolidierung haben. Für uns
ist es primäres Ziel, den Haushalt schnell zu konsolidie-
ren. Wir haben eine Schuldenbremse im Grundgesetz
verankert. Wir alle sind uns einig: Sobald erreicht ist,
dass wir wieder agieren können, können wir viel mehr
Geld in all den Bereichen einsetzen, wo wir es uns wün-
schen.
Das Wort erhält nun der Kollege Lothar Binding fürdie SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-
nächst zu dem Streit über die Wirksamkeit. Ich glaube,
wir sind uns einig, dass viel Geld, das effizient einge-
setzt wird, besser ist als wenig Geld, das ineffizient ein-
gesetzt wird. Ich glaube, darum ging es in dem Streit,
den wir vorhin geführt haben.
Irritiert hat mich, wie über Mitarbeiter von Durchfüh-
rungsorganisationen gesprochen wurde. Ich glaube,
wenn man auf die Kompetenz der GTZ vertraut, ist man
nicht „hörig“.
Wenn man auf die Kompetenz des BMZ vertraut, ist
man auch nicht hörig. Wir sollten uns klarmachen, was
der Evangelische Entwicklungsdienst, ONE, GAVI, Mi-
sereor, VENRO und andere leisten. Auf deren Expertise
können wir uns verlassen – man muss immer wieder et-
was nachprüfen; das ist völlig klar –, deshalb ist man
aber nicht hörig. Ich glaube, so wie vorhin geschehen,
sollten wir nicht über die Durchführungsorganisationen
reden. Denn dann stellt man etwas gegeneinander, das
man nicht gegeneinander stellen sollte. Ich glaube, es tut
dem Minister nicht gut, wenn er in dieser Weise verfährt.
Das passt auch gar nicht zu der wirklich guten Atmo-
sphäre, in der die Berichterstatterrunden stattfanden. Mit
unserer Chefin Priska Hinz und den Kollegen Volkmar
Klein, Jürgen Koppelin und Dietmar Bartsch waren wir
ein recht gutes Team, das die verschiedenen Themen er-
arbeitet hat. Bärbel Kofler und Sascha Raabe haben
mich im AWZ sehr stark unterstützt; das gilt allerdings
auch für Herrn Schmidt, Herrn Beerfeltz und Dirk
Niebel. Es war insgesamt eine gute Kooperation. Uns
wurden alle Fragen beantwortet. Das ist eine gute Ar-
beitsbasis. Im Parlament darf es ruhig ein bisschen hoch
hergehen; aber die Arbeitsbasis sollte man nicht zerstö-
ren. Die Ministerien haben eine extrem hohe fachliche
Kompetenz. Ich glaube, wenn man diese Kompetenz mit
der Kompetenz des Parlaments zusammentut – als wei-
tere Beispiele nenne ich GTZ, KfW, DED und InWEnt –,
dann haben wir einen Fundus, aus dem wir schöpfen
sollten.
Bei der Einbringung des Haushalts hat Dirk Niebel
voller Stolz gesagt: Mein Haushalt wächst um
3 Millionen Euro. – Interessanterweise hat die Anzeige,
die die Kanzlerin vor kurzem geschaltet hat, Kosten in
genau dieser Größenordnung verursacht. Diese Anzeige
wurde übrigens rein zufällig einen Tag nach dem CDU-
Parteitag geschaltet. Solche Zufälle gibt es; das kann
schon einmal passieren.
– Nicht in dieser Weise; aber darüber können wir gleich
vielleicht noch reden.
– Jetzt freue ich mich; denn man will mir hoffentlich
eine Zwischenfrage stellen.
Diese Überraschung ist außerordentlich gut gelungen.
Ja.
Insofern erteile ich vereinbarungsgemäß der Kollegin
Hendricks das Wort zu einer Zwischenfrage.
Genau, Herr Präsident. Sie konnten nicht dabei sein,
als Herr Koppelin sowohl seinem Minister Zwischenfra-
gen stellte als auch Kurzinterventionen anschloss. Inso-
fern kann ich nachvollziehen, dass Sie meine Hand-
lungsweise überrascht.
Herr Kollege, es hat auch mich ein bisschen über-
rascht, dass die großformatigen Anzeigen der Bundes-
kanzlerin ausgerechnet einen Tag nach dem CDU-Partei-
tag geschaltet worden sind. Können Sie mir erläutern,
wie das mit diesen Kosten zusammenhängt?
Das kann ich tun. Zumindest kann ich die Anzeigeeinmal hochhalten.Dirk, du hast damit nichts zu tun. Ich möchte dich ineiner wichtigen Angelegenheit unterstützen. Denn deinStolz hätte sich verdoppelt. Mit dieser Anzeige hättenwir den im Entwurf vorgesehenen Aufwuchs verdoppelnkönnen. Das heißt, nur diese eine Anzeige hätte zu100 Prozent mehr Leistungsfähigkeit des BMZ geführt.Das ist doch eine erkleckliche Zahl.Worum geht es wirklich? Es geht in dieser Anzeigeessenziell um das Thema Sparen. Wir haben heute schondes Öfteren gehört, dass wir überall sparen müssen.Diese Anzeige fängt mit „Sie“ an – gemeint sind also Siealle, die Sie diesen Text lesen –:
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8166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Lothar Binding
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Sie haben Deutschland zu dem Land gemacht, dasdie weltweite Wirtschaftskrise am besten gemeisterthat.Das ist das Lob für das Volk. Ein solches Lob nimmt je-der gern an.
Dem Psychologen, der sich das ausgedacht hat, kannman nur sagen: Sauber, wunderbar. Er hat recht.Dann kommt es zu einem interessanten Schwenk:Ohne die gemeinsame Anstrengung aller wäreuns …Plötzlich heißt es „uns“. Gemeint sind also wir alle, dieKanzlerin inklusive. Das allein ist nicht so schlimm; dasist nur nicht gelungen.
Herr Kollege, ich möchte Sie nur darauf aufmerksam
machen, dass ich nicht die Absicht habe, –
Ja. Ich muss das aber noch vortragen.
– ja; ich habe das wohl begriffen, unter jedem Ge-
sichtspunkt –, Ihre Redezeit aufgrund Ihrer kunstvollen
Dauerbezugnahme auf eine heute bereits mehrfach ge-
würdigte Anzeige ins Unermessliche zu verlängern.
Das brauchen Sie nicht zu tun. Ich beeile mich.
Ich finde, die Frage der Kollegin Hendricks ist über-
zeugend beantwortet worden. Sie können jetzt in Ihrer
Redezeit fortfahren.
Ich fahre in meiner Redezeit fort:Auch wir in der Bundesregierung haben dafürgearbeitet …Jetzt heißt es „auch wir“, nicht mehr „wir alle“, sondernauch die Bundesregierung. Das ist eine deutliche Redu-zierung.Jetzt kommt etwas ganz Schönes:So hat die Kurzarbeiterregelung geholfen …Wer bei Kurzarbeiterregelung nicht an Olaf Scholz, PeerSteinbrück und Frank-Walter Steinmeier denkt, der hatein Problem mit sich.
Es geht dann weiter, dass Arbeitsplätze gesichert wor-den seien und dass auch die finanziellen Entlastungender Unternehmen geholfen hätten. Und jetzt kommt et-was ganz Interessantes:
– Nein, es ist ganz gut, wenn Sie das aufnehmen.Erstes Versprechen: Wir sichern die Finanzen. Wirsparen …
Wir! Jetzt ist die Regierung gemeint. Und wo wird wirk-lich gespart? Das sage ich mit Blick auf die Reden, diebisher gehalten worden sind: beim Elterngeld, beimHeizkostenzuschuss, beim Übergangsgeld und bei denRenten für Arbeitslosengeld-II-Empfänger.Außerdem wird bei einer weiteren interessantenKomponente gespart, nämlich in der Entwicklungspoli-tik. Das möchte ich mit einem Beispiel deutlich machen– Dirk Niebel hat das im Ausschuss etwa so erklärt –:Wenn er 1 Euro hat und damit seine Kinder ernährt, dannermöglicht das den Kindern, weil sie sich um die Ernäh-rung nicht mehr kümmern müssen, eine Schule zu besu-chen, sich zu bilden. Dann freut sich seine Frau, undseine Frau ist im Wesentlichen zufrieden. Dirk Niebelhat einen Stammhalter, und er hat damit die Alterssiche-rung gerettet.
Was bedeutet das? Mit 1 Euro hat er fünf Funktionenerfüllt: Kinder, Bildung, Ernährung usw. Das heißt, wirkönnten, wenn wir in diesem Einzelplan so rechnen, wieDirk Niebel mir das vorgerechnet hat, sein Gehalt aufein Fünftel kürzen, und es hat noch immer den gleichenEffekt. Die Erklärung in der Entwicklungspolitik war,dass es, wenn man 1 Euro für etwas ausgibt, das auchwoanders hilft, in Wahrheit 2 Euro sind. Das ist eine su-pergute Erklärung.
Sie ist aber leider, wenn man sich das etwas genauer an-schaut, ein Problem.In Wahrheit müssen wir sagen: Es geht vielmehr umeine sozialethische Dimension in der Entwicklungszu-sammenarbeit. In einer sozialethischen Dimension lässtes sich legitimieren, eigene Interessen zu verfolgen; dasstimmt. Idealtypischerweise – so sagt das jedenfalls dasInstitut für christliche Ethik und Politik – ist es sogar le-gitim, eine nachhaltige Win-win-Situation anzustreben.Ich glaube, darauf könnte man sich verständigen.Wenn aber der Bundesminister seine Politik auf Ab-satzmärkte für deutsche Unternehmen orientiert – nurdarauf –, dann ist das ein Rückfall in eine Zeit, in der dieModernisierungstheorie galt, der jedenfalls wir nicht fol-gen wollen. Das ist eine Zeit, die in die Nachkriegsge-schichte gehört. Diese Theorie hat sich nicht bewährtund ist in den armen Ländern kontraproduktiv. Wir wol-len den Süden nicht dazu missbrauchen, Rohstoffliefe-rant zu sein, sondern wir wollen mit ihm auf andereWeise kooperieren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8167
Lothar Binding
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Niebel irritiert meines Erachtens, wenn er als deut-scher Wirtschaftsminister oder vielleicht als Minister fürmilitärische Aufgaben auftritt. Das ist der deutschen EZeinfach nicht angemessen. Niebel irritiert, so meine ich,wenn die Leute sehen, dass es in Deutschland keine Bil-der von Niebel mit Mütze gibt. Das heißt, diese Mützeist im Grunde eine Verkleidung, ein Zeichen der Re-spektlosigkeit gegenüber den Ländern, die er besucht.
Dafür müssen wir uns bei diesen Ländern entschuldigen.Das ist nicht anständig. Ich bitte um Entschuldigung fürdieses Auftreten unseres Ministers. Zumindest diejeni-gen, die meiner Meinung sind, vertritt er dort nicht.
Kommen wir noch kurz zu der Fusion. Die Fusion inder Technischen Zusammenarbeit zwischen GZT, DEDund InWEnt läuft nach anfänglichem Zögern in vielenBereichen ganz ordentlich. Überleitungsvertrag, Tarif-vertrag, Gesellschaftsvertrag – vieles liegt vor und findetZustimmung.Problematisch ist es natürlich, wenn es um das Perso-nal geht. Es gibt jemanden, der auf eine lange Lebenser-fahrung zurückblicken kann und verantwortlich damitumgeht, nämlich Generalsekretär Lindner. Er sagt, dass1 500 Stellen abgebaut werden. Was das für die Men-schen bedeutet, kann man sich überhaupt nicht vorstellen.Jetzt sehen wir einmal, was passiert: Auch der Minis-ter beantragt Stellen, nämlich 210 Stellen für das BMZ,ohne dies aber – da stütze ich mich auf den Bundesrech-nungshof – seriös zu begründen. Der Haushaltsaus-schuss hat erst einmal 65 Stellen genehmigt. Aber manmuss sagen, dass der Rest nicht begründet ist.
Herr Kollege.
Ich sehe, dass es hier fürchterlich blinkt, und muss
deshalb zum Ende kommen. Sie merken, es ist noch sehr
viel zu tun. Ich bräuchte noch 15 Minuten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Alles Gute!
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Riegert für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKollegen! Ich möchte zum Einzelplan 23 zurückkom-men
und gerne etwas über den Schwerpunkt „Entwicklungder ländlichen Räume“ sagen.Auf dem letzten G-8-Gipfel hat die Bundesregierungfür die Jahre 2010 bis 2012 insgesamt 200 MillionenEuro für die Entwicklung ländlicher Räume verspro-chen. Für nächstes Jahr stehen dafür 70 Millionen Eurozur Verfügung. Unter dem Leitgedanken der Hilfe zurSelbsthilfe bauen wir so die jahrzehntelang vernachläs-sigte Entwicklung der ländlichen Räume zu einemSchlüsselbereich der deutschen Entwicklungspolitik aus.Durch das breit angelegte Konzept wird der Blick fürdie vielschichtigen Voraussetzungen ländlicher Entwick-lungen und für das Ineinandergreifen verschiedener Sek-toren und Erfolgsfaktoren geschärft. Jenseits der reinenEntwicklung des Agrarsektors geht es um umfassendeReformprozesse: die Entwicklung der ländlichen Wirt-schaft, ein nachhaltiges Management der natürlichenRessourcen, die Bereitstellung sozialer Dienste undtechnischer Infrastruktur im ländlichen Raum sowie dieVerbesserung der politisch-institutionellen Rahmenbe-dingungen.Die Kollegin Christiane Ratjen-Damerau, der KollegeThilo Hoppe und ich haben in einem gemeinsamenSchreiben an Minister Dirk Niebel festgehalten, dass wirals Entwicklungspolitiker den Konzeptentwurf begrüßenund unterstützen. Wir haben aber auch deutlich gemacht,dass ländliche Räume nicht zu einseitig als potenzielleProduktionsstätten für den Weltmarkt gesehen werdensollten, dass sich Ernährungssicherheit in ländlichen Re-gionen nur dann adäquat erfassen lässt, wenn nebenagrarökologischen und wirtschaftspolitischen auch ge-sellschaftliche Faktoren wie die Gleichstellung der Ge-schlechter berücksichtigt werden, dass sich nachhaltigeErnährungssicherung insbesondere durch die Förderunggemeinschaftlicher Projekte wie der Bildung von Erzeu-ger- und Nutzerorganisationen oder Kooperativen errei-chen lässt und dass rein protektionistische Handels-hemmnisse überwunden werden müssen.Meine Damen und Herren, für ländliche Räume istein langfristiges Engagement erforderlich, um Erfolgeund nachhaltige Entwicklung erzielen zu können. Des-halb sollte die ländliche Entwicklung als ein zusätzlicherFörderschwerpunkt in die regionalen Konzepte des BMZaufgenommen werden und im Afrika-Konzept eine be-sondere Schlüsselfunktion einnehmen.
Wir würden es ebenfalls begrüßen, wenn in dem über-sektoralen Konzept die Problematik des sogenanntenLand Grabbing behandelt werden würde.
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8168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Klaus Riegert
(C)
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Etwa 300 Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissen-schaft und Zivilgesellschaft haben das Konzept AnfangNovember auf einem Kongress hier in Berlin konstruktivdiskutiert und dem BMZ zusätzliche Vorschläge unter-breitet. Das Konzept sowie die enge Abstimmung zwi-schen dem Entwicklungs- und dem Landwirtschaftsmi-nisterium wurden insgesamt positiv aufgenommen. Tenordes Kongresses war die Forderung, das Konzept zügig zukonkretisieren und Schwerpunkte bei der Umsetzung zusetzen.Die Entwicklung hin zu einer rentablen, sozial undökologisch nachhaltigen bäuerlichen Landwirtschaftstellt in Entwicklungsländern einen Schwerpunkt, ja diezentrale Herausforderung dar. Wachstum im Agrarsektorträgt sowohl zum Wirtschaftswachstum als auch zur Ar-mutsreduktion bei. Nachhaltige Landwirtschaft reduziertsich dabei nicht auf den ökologischen Landbau.Das Prinzip 9 der Rio-Deklaration von 1992 betrach-tet die Entwicklung und Verbreitung umweltfreundlicherTechnologien – inklusive neuer und innovativer Techno-logien – als integralen Bestandteil einer nachhaltigenEntwicklung.Am Horizont erkennt man durchaus auch neue Dinge,
zum Beispiel die vertikale Landwirtschaft. Der KollegeHaibach hat erkannt, auf was ich hinaus will. Mit High-techgewächshäusern kann man auf einer innerstädti-schen Fläche von 2 Hektar etwa 1 000 Hektar Ackerlandersetzen und trotzdem entsprechende Erfolge zum Bei-spiel beim Wassersparen, bei der Energierückgewinnungund Ähnlichem erzielen.
Meine Damen und Herren, wir reden über den Haus-halt. Das ist hinlänglich bekannt. Wenn wir über denHaushalt sprechen, geht es natürlich – das war nicht an-ders zu erwarten – auch ums Geld. Auch mich überzeugtnicht, dass wir für die Entwicklungshilfe immer nurmehr Geld – –
– Entwicklungszusammenarbeit. Richtig, Sie haben recht.Der Herr Minister hat auch von Entwicklungszusammen-arbeit gesprochen.
Deswegen ist nicht nur die Höhe der zur Verfügung ste-henden Gelder entscheidend, sondern auch wofür undwie sie eingesetzt werden.Frau Hinz, die Süddeutsche von heute, also vom24. November 2010, schreibt aus meiner Sicht sehr zu-treffend über die Reden von Carsten Schneider undAlexander Bonde – ich zitiere –:So richtig aber will der Funke bei deren Redennicht überspringen. Das liegt auch daran, dass dieHaushaltsexperten den Finanzminister für seinenangeblich mangelnden Sparwillen kritisieren,
in ihren eigenen Reihen aber viele Abgeordnete sit-zen, die in Wahrheit statt weniger gern mehr Geldausgeben würden als Schäuble. Entsprechend leichtfällt es diesem zu spotten: „Sie müssten sich schonentscheiden, ob Sie nun mehr sparen oder mehrausgeben wollen.“
Ich möchte Ihnen aber noch gern ein paar Gedanken-anstöße mitteilen, die ich sehr interessant fand. Am20. November 2010 stand in der Frankfurter Rundschauein Interview mit Muhammad Yunus und Paulo Coelho,also einem Friedensnobelpreisträger und einem Bestsel-lerautor. Darin stehen einige interessante Beispiele, überdie man sich durchaus Gedanken machen kann.Zuerst erzählt Yunus, dass er Bettlern grundsätzlichkein Geld gibt, weil er sonst das eigentliche Problemnicht anpackt und weil er, wenn er in Bangladesch, sei-nem Heimatland, einem Bettler Geld gibt, sofort 20, 30und mehr Bettler um sich hat. Dann muss er begründen,warum er dem einen Geld gibt und dem anderen nicht.Daher hat er Mikrokredite auch an Bettler ausgegeben.Er hat gesagt: Wenn ihr von Tür zu Tür geht, dann nehmtdoch ein paar Handelswaren mit. So hat er es geschafft,rund 20 000 Bettler von der Bettelei wegzubringen undzu kleinen Handelsvertretern zu machen.Er hat insgesamt 150 000 Bettlern Kleinkredite mitden Auflagen gegeben: keine Zinsen, keinen Rückzah-lungstermin, und es gibt einen neuen Kredit, wenn deralte abbezahlt ist. Auf die Frage von Coelho sagt Yunus,fast jeder Einzelne hat diesen Kredit zurückbezahlt. Siemussten schon zweite, dritte und vierte Kredite ausge-ben, weil das System so gut funktioniert hat.Er schildert dann auf die Frage: „Was machen wir mitKranken und Behinderten?“ sehr eindrücklich das Bei-spiel eines Bettlers, den er an einer Bushaltestelle traf, derkeine Beine mehr hatte. Den fragte er, was er denn könne.Der sagte: Ich kann kochen. Ich koche doch nicht mitmeinen Beinen. – Dieser Satz ist Yunus immer in Erinne-rung. Er hat diesem Mann tatsächlich einen Job und dieMöglichkeit verschafft, für sich selber aufzukommen.Ich kann dieses Interview nur empfehlen. Darin stehteine Menge an Hinweisen, wie wir diesen Leitgedankender Hilfe zur Selbsthilfe, wie es auch das Konzept desBMZ vorsieht, das die Regierungskoalition in den Haus-halt eingebracht haben, verwirklichen können. Wir wol-len die kreativen Ressourcen der Menschen vor allem inden ärmsten Entwicklungsländern ansprechen, um sie zuihrem eigenen Vorteil zu nutzen.
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Klaus Riegert
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Der vorliegende Haushalt stellt hierfür die erforderli-chen Mittel bereit und findet deshalb unsere Zustim-mung.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel-plan 23, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung, in der Ausschussfassung.Zu dieser Ausschussfassung liegen zwei Änderungsan-träge der Fraktion Die Linke vor, über die wir zunächstabstimmen.Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag aufder Drucksache 17/3836 ab. Wer stimmt für diesen An-trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da-mit ist der Antrag mehrheitlich abgelehnt.Wir stimmen jetzt über den Antrag auf derDrucksache 17/3837 ab. Wer stimmt dafür? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag istmit gleicher Mehrheit abgelehnt.Wir kommen nur zur Abstimmung über den Einzel-plan 23 in der Ausschussfassung. Wer stimmt für diesenEtatansatz? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Einzelplan mit den Stimmen der Koalitiongegen die Stimmen der Opposition angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt II auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-tion Atalanta zur Bekämpfung der Piraterievor der Küste Somalias auf Grundlage desSeerechtsübereinkommens der Vereinten Na-tionen von 1982 und der Resolutionen 1814
vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom
2. Juni 2008, 1838 vom 7. Oktober 2008,1846 vom 2. Dezember 2008, 1897
vom 30. November 2009 und nachfol-
gender Resolutionen des Sicherheitsrates derVereinten Nationen in Verbindung mit der Ge-meinsamen Aktion 2008/851/GASP des Ratesder Europäischen Union vom 10. November2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Ratesder Europäischen Union vom 8. Dezember2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Ratesder Europäischen Union vom 30. Juli 2010und dem erwarteten Beschluss des Rates derEuropäischen Union vom 13. Dezember 2010– Drucksache 17/3691 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung ist fürdiese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-ren.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle.Bitte schön.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Seit diesem Montag stehen in Ham-burg zehn somalische Staatsbürger vor Gericht. Ihnenwird vorgeworfen, vor der somalischen Küste ein deut-sches Schiff entführt zu haben. Dies zeigt in großer Klar-heit, wie sehr uns die Probleme in Somalia in Deutsch-land angehen.Geografisch mag das Horn von Afrika vielen weitweg und entfernt erscheinen, aber wir erkennen an denregelmäßigen Meldungen, dass es in Wahrheit auch unsbetrifft. Mit der EU-geführten Operation Atalanta si-chern wir die Lieferung von humanitären Hilfsgütern andie notleidenden Menschen in Somalia, und wir sichernden zivilen Schiffsverkehr.Insoweit will ich, was die Interessenwahrnehmungangeht, noch einmal unterstreichen: Das Ganze hatte sei-nen Ausgang darin, zu gewährleisten, dass Lieferungenhumanitärer Hilfsgüter die Häfen von Afrika erreichenkonnten.
Dass in den letzten Jahren eine erneute humanitäre Kata-strophe in Somalia verhindert werden konnte, ist auchein Erfolg dieser Operation.Atalanta kommt Millionen Menschen zugute, diediese Hilfe bitter nötig haben. Noch immer sind über3,5 Millionen Somalier auf humanitäre Hilfe angewie-sen. Allein im laufenden Jahr hat Atalanta über30 Schiffe des Welternährungsprogramms sicher in diesomalischen Häfen eskortiert. Wer also diese Operationablehnt, muss dann auch erklären, wie er sicherstellenwill, dass diese Hilfslieferungen die hungernden Men-schen tatsächlich erreichen. Da Sie das nicht können,werden Sie alle in diesem Hause, denke ich, Ihrer Ver-antwortung gerecht werden.
Mehr als 90 000 Tonnen Lebensmittel erreichten1,8 Millionen Menschen.
Das ist es, worum es in entscheidendem Umfang geht.Auf diese humanitären Leistungen der EuropäischenUnion, an den auch die deutsche Marine einen erhebli-chen Anteil hat, können wir stolz sein. Ich möchte allenFraktionen, die das Engagement der Bundeswehr unter-stützen, herzlich danken. Aber ich danke insbesondere
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Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
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auch den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr fürihren Einsatz. Es ist ein schwieriger und entbehrungsrei-cher Einsatz. Ich bitte Sie, Herr ParlamentarischerStaatssekretär, dies der Truppe noch einmal zu übermit-teln. Ich bin sicher, dass wir alle in diesem DeutschenBundestag wissen, was für eine wichtige Arbeit unsereFrauen und Männer der Bundeswehr dort leisten.
Das zweite Ziel der Mission ist es, den internationalenSchiffsverkehr zu schützen. Eine Außenpolitik, die hu-manitären Werten verpflichtet ist, muss auch die Interes-sen im Blick behalten.
Bewegungsfreiheit im offenen Meer ist ein gemeinsamesInteresse der internationalen Gemeinschaft. Wir handelndabei unter dem Mandat des Sicherheitsrates der Verein-ten Nationen. Auch das ist von großer Bedeutung: Eshandelt sich hierbei um ein Mandat des Sicherheitsratesder Vereinten Nationen.Wenn Sie, Herr Kollege, durch Zwischenrufe oderauch durch öffentliche Wortmeldungen den Eindruck er-wecken, das sei gewissermaßen eine kriegerische Mis-sion, dann disqualifizieren Sie sich in einem wirklich be-merkenswerten Umfang.
Meine Damen und Herren, die Reeder können zurVerbesserung der Sicherheit der Schiffe und vor allemauch der Besatzungen beitragen. Ich bin zuversichtlich,dass die Schiffseigner ihre Verantwortung ernst nehmenund entsprechend vorsorgen. Aufgrund der Zusammen-arbeit zwischen Reedereien und Sicherheitskräften istdie Zahl der Überfälle und Entführungsversuche im Golfvon Aden zurückgegangen. Aber wir müssen feststellen:Noch immer befinden sich Hunderte von Menschen inder Gewalt der Piraten.Zugleich hat die Bedrohung eine neue Qualität, weildiese Piraten ihr Tätigkeitsfeld mittlerweile sogar bis vorder indischen Küste und bis vor der Küste von Mosam-bik ausgeweitet haben. Das ursprüngliche Operationsge-biet reicht nicht mehr aus. Es ist daher erweitert worden,zum Teil mit einer bemerkenswerten Logistik. Die Euro-päische Union hat auf die veränderte Lage reagiert unddas Operationsgebiet von Atalanta ausgeweitet. Deshalbist es notwendig, dass auch das Bundeswehrmandat andiese neue Realität angepasst wird. Darum bitten wir alsBundesregierung dieses Hohe Haus.Internationale Einsätze können die Folgen einesStaatsverfalls nicht im Alleingang lösen. Wir müssen dieLösung da suchen, wo auch das Problem seine Wurzelnhat, und das ist in Somalia selbst. Der Einsatz gegen diePiraterie wird nicht auf der Hohen See gewonnen, son-dern nur an Land. Deswegen ist es richtig, dass wir diehumanitäre Hilfe für Somalia um die Hilfe zum politi-schen Wiederaufbau ergänzen. Es ist eben falsch, die Be-hauptung aufzustellen, dass wir lediglich militärischesEngagement zeigen und nicht auch wüssten, dass wiruns bei der Ursachenbekämpfung an Land kräftig zu en-gagieren haben.
Das tun wir.
Am Dienstag der kommenden Woche werden wir inTripolis beim Gipfeltreffen der Europäischen Union mitden Staaten Afrikas weiter an einer gemeinsamen Ord-nung, an einer gemeinsamen entsprechenden Perspek-tive arbeiten. Aber natürlich reicht das allein nicht aus.Es geht um die EU-Trainingsmissionen zur Ausbildungsomalischer Sicherheitskräfte. Auch dies tun wir. Es gehtum internationale Projekte zur Unterstützung beim Auf-bau der Justizsysteme. Das ist unser Anliegen. Es gehtaber auch darum, dass wir erkennen: In rechtsfreienRäumen entstehen Instabilität und Gewalt. Deswegenmüssen wir diesen vernetzten Ansatz weiterverfolgen.Wir bitten um Zustimmung für dieses wichtige Mandat.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich vermute, dass der Kollege Ströbele nun gern eineKurzintervention vortragen möchte. – Bitte schön.
Herr Minister, ich will jetzt nicht mit Ihnen die Frageerörtern – das tun wir vielleicht an anderer Stelle –, wodenn im Grundgesetz steht, dass die Bundeswehr zur Si-cherung des zivilen Passagier- und Handelsverkehrs ein-gesetzt werden kann; denn das Grundgesetz sagt aus-drücklich, dass die Bundeswehr grundsätzlich nureingesetzt werden kann, wenn das Grundgesetz es er-laubt. Ich wollte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Aberda haben Sie weitergeredet, und ich bin nicht mehr dazugekommen.Sie haben gesagt, richtig sei – und das würde die Bun-desregierung auch tun –, dass man sich um die Ursachender Piraterie vor der Küste von Somalia kümmert. Ichhabe in mehreren Anfragen an Ihr Haus, die vom Aus-wärtigen Amt auch beantwortet worden sind, die Fragegestellt, ob es zutreffend ist, dass die heutigen Piratendort nicht zumindest am Anfang Fischer gewesen sindund dass man diesen Fischern und ihren Familien dieExistenzgrundlage genommen hat, indem von einer gan-zen Reihe von europäischen Staaten – darunter Spanien,Frankreich und andere Staaten – dort große Fischfabri-
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Hans-Christian Ströbele
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ken errichtet worden sind und die Fischgründe, die be-sonders attraktiv und besonders fischreich gewesen seinsollen, leergefischt worden sind, sodass die Fischer dortkeinerlei Möglichkeit mehr haben, selber zu fischen. Siehaben in den Antworten, die ich vom Auswärtigen Amtbekommen habe, bestätigt, dass das mindestens eine Ur-sache ist, warum viele seeerfahrene Fischer sich in diePiraterie begeben haben und heute noch unter den Pira-ten eine Rolle spielen.Was hat die Bundesregierung getan, um erstens diefabrikmäßig betriebene Fischerei vor der Küste Somaliaszu beenden – mit der Gegenwart der deutschen Marinedort gäbe es viele Möglichkeiten – und zweitens den Fi-schern, die zu Piraten geworden sind, eine Existenz-grundlage zu verschaffen? Wenn Sie den Fischern eineExistenzgrundlage verschafften, wäre das ein wirklicherBeitrag zur Beseitigung der Ursachen der Piraterie. Wasist in dieser Hinsicht geschehen? Sehen Sie es nicht alsAufgabe der Bundesrepublik Deutschland und der Ko-alition aus Ländern an, die dorthin die größte Armada anKriegsschiffen nach dem Zweiten Weltkrieg geschickthaben, auf diese Weise die Piraterie dort zu bekämpfen?
Herr Minister.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Herr Kollege, ich will zuerst etwas zum Grundgesetz
sagen. Sie sind genauso Rechtsanwalt wie ich. Wir beide
haben Jura studiert. Ich sage Ihnen daher: Nicht Sie ent-
scheiden, was mit der Verfassung vereinbar ist, sondern
das Bundesverfassungsgericht.
Dieses hat seit der Adria-Entscheidung in den 90er-Jah-
ren den Kompass glasklar ausgerichtet. Sie können doch
nicht behaupten, etwas sei von der Verfassung nicht ge-
deckt, nur weil Sie selbst dieser originellen Auffassung
sind. Das ist absurd. Was Sie erzählen, ist völliger Hum-
bug.
Es handelt sich nur um Ihre persönlichen Interpretatio-
nen. Ich bewundere Ihre Hochseilakrobatik in Jura. Aber
ehrlich gesagt, so könnten Sie als Jurist nicht davon le-
ben.
Zu den Ursachen. Es ist richtig – das habe ich bereits
gesagt –, dass man die Ursachen sehen muss. Das habe
ich Ihnen in meinen Antworten auf Ihre vielen Fragen
bestätigt. Aber bei allem Respekt bitte ich Sie, auch mit
Amtsträgern zu Zeiten Ihrer Regierungsverantwortung
zu erörtern, welche Versäumnisse es in früheren Jahren
bei der Regierung möglicherweise gegeben hat. Die
Lage ist für die jetzige Bundesregierung so, wie sie ist.
Wir haben mit dieser Lage umzugehen. Deswegen sor-
gen wir erstens für die Sicherheit unserer Staatsbürgerin-
nen und Staatsbürger. Es ist nicht nur das Recht, sondern
nach unserer Auffassung auch die Pflicht der Bundesre-
gierung, deutsche Staatsangehörige auf den Schiffen zu
schützen.
Sie sind anderer Auffassung; das muss ich zur Kenntnis
nehmen. Aber wir werden es anders machen.
Das Zweite ist: Wir leisten humanitäre Hilfe in Soma-
lia; das habe ich deutlich gemacht.
Das Dritte ist: Wir arbeiten am Wiederaufbau in So-
malia und halten dies für unbedingt notwendig.
Das Vierte ist: Den Eindruck zu erwecken, dass diese
Piraterie ausschließlich aus der Not geboren ist
– das ist der Eindruck, den Sie hier erwecken –, weil die
armen Fischer keine Fischgründe mehr haben und sich
deshalb als Piraten organisieren, ist, ehrlich gesagt,
ziemlich naiv. Es handelt sich zum Teil um organisiertes
Verbrechen und um Menschen mit hoher krimineller
Energie und von größter Gefährlichkeit,
Menschen, die nicht davor zurückschrecken, andere zu
foltern, mit dem Tode zu bedrohen und sie gegebenen-
falls umzubringen. Das hat nichts mit Ihrer naiven Auf-
fassung zu tun. Es ist unsere Verpflichtung, gegen diese
organisierte Kriminalität vorzugehen. Sie wollen das
nicht. Wir werden es trotzdem machen. Ich glaube, dass
wir unserer Verantwortung gerecht werden. Sie tun es
leider nicht.
Die Kollegin Edelgard Bulmahn ist die nächste Red-
nerin für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Mit der EU-geführten OperationAtalanta unterstützt die internationale Staatengemein-schaft den Kampf gegen die kriminellen Piraten vor derKüste Somalias.Die Operation – das ist für meine Fraktion und, wieich glaube, für den ganzen Bundestag wichtig – beruhtauf den Entscheidungen der internationalen Gemein-schaft, auf dem Seerechtsübereinkommen der VereintenNationen und auf den Resolutionen 1814, 1816 sowieden darauf aufbauenden Resolutionen. Die europäischenMarineverbände sollen die zivile Schifffahrt schützenund dabei insbesondere den Schiffen des Welternäh-rungsprogramms Geleitschutz geben. Die Lieferungenmit humanitären Hilfsgütern für die somalische Be-völkerung erfolgen fast ausschließlich über den Seeweg.
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Edelgard Bulmahn
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Die an Atalanta beteiligten Kriegsschiffe haben seit Be-ginn des Einsatzes sichergestellt, dass alle 86 im Auftragdes Welternährungsprogramms durchgeführten Schiffs-transporte ihre somalischen Zielhäfen sicher erreichenkonnten. Damit konnten fast 470 000 Tonnen Nahrungs-mittel und weitere wichtige Hilfsgüter nach Somalia ge-bracht werden, wo bis zu 1,8 Millionen Menschen ver-sorgt werden. Atalanta hat in den vergangenen Monatensehr viel zur Sicherung der Seewege in dieser Regionbeigetragen, aber die Piraterie und die damit verbunde-nen Gefahren für die Seeleute sind keineswegs überwun-den. Deshalb wird die SPD-Bundestagsfraktion der Ver-längerung des Mandats zustimmen.
Die Zahl der Seeräuberattacken – das muss man hierim Deutschen Bundestag ausdrücklich festhalten – hatleider nicht abgenommen, sondern sie hat im letzten Jahrdramatisch zugenommen. Allein im vergangenen Jahrwurden weltweit über 406 Angriffe von Seeräubern aufzivile Schiffe verzeichnet. Die stärkste Zunahme hat esdabei im Übrigen im Golf von Aden und im Roten Meergegeben. Gerade diese Region passieren jährlich unge-fähr 20 000 zivile Schiffe. Allein im ersten Halbjahr2010 ist es dabei zu 51 Angriffen durch Piraten gekom-men, bei denen Schiffe unvermittelt mit Waffengewaltbedroht und gekapert wurden, Mannschaften monate-lang als Geiseln genommen wurden und Reedereien umMillionenbeträge für Lösegelder erpresst wurden.Betroffen ist deshalb von diesen Angriffen die zivileSchifffahrt insgesamt, einschließlich der Schiffe, dieNahrungsmittel und Hilfsgüter für die notleidende soma-lische Bevölkerung transportieren. Um die Angriffe aufdie zivilen Schiffe und die Schiffe, die die Hilfsgütertransportieren, zu verhindern, gibt es die OperationAtalanta. Deshalb möchte ich an dieser Stelle den Bun-deswehrsoldaten für diese schwierige Aufgabe, die sietagtäglich meistern müssen, ebenfalls meinen ausdrück-lichen Dank auch im Namen der Kolleginnen und Kolle-gen aussprechen.
Wir sind uns durchaus der Tatsache bewusst, dass wirdie Piraterie nicht besiegen werden, wenn wir uns aufdie militärischen Mittel allein konzentrieren. Wir müs-sen viel stärker die Bekämpfung der Ursachen in denBlick nehmen. Der Kampf gegen Piraterie wird nurerfolgreich sein, wenn er Hand in Hand mit der Bekämp-fung der Armut in Somalia, der Sicherung von Men-schenrechten und dem Aufbau funktionsfähiger staatli-cher Strukturen einschließlich der Sicherheitsstrukturengeht. Militärisches Engagement – das gilt insbesonderefür meine Fraktion – kann kein Ersatz für Staatlichkeitund für eine friedliche Entwicklung Somalias sein und istes auch nicht. Deshalb sind die Beteiligung Deutschlandsan dem Programm der internationalen Gemeinschaft zumWiederaufbau staatlicher Strukturen und an der Finan-zierung von AMISOM zur Ausbildung von Ausbildernund Mentoren für die somalische Polizei ebenso wie dieFortsetzung der humanitären Hilfe unverzichtbar.Seit mehr als 20 Jahren ist Somalia ein Staat ohnehandlungsfähige Zentralregierung. Während inzwi-schen in Somaliland stabile Verhältnisse herrschen, füh-ren im Süden Konflikte zwischen den verschiedenenKlans immer wieder zu Gewalt, zu bürgerkriegsähnli-chen Zuständen, zu Verfolgung und zu massiven Flücht-lingsströmen. Millionen von Menschen leiden unterHunger und sind auf die Hilfe aus dem Ausland ange-wiesen.Die Transitional Federal Government, die internatio-nal anerkannte Übergangsregierung – sie ist der einzigeAnsprechpartner der Staatengemeinschaft –, ist politischund militärisch nicht in der Lage, mehr als wenige Stra-ßenzüge in Mogadischu zu kontrollieren. Auch das ge-lingt im Übrigen nur mit Unterstützung der Afrikani-schen Union in Somalia, AMISOM.Deutschland, der Europäischen Union, ja, der interna-tionalen Staatengemeinschaft insgesamt fehlt es an einemkohärenten Gesamtkonzept für Somalia – ich glaube,das müssen wir selbstkritisch festhalten –, an einemKonzept, das erreichbare Ziele beschreibt. Es geht umeine kohärente Strategie, die eine Perspektive für eine ei-genständige Entwicklung Somalias aufzeigt. Ich bin da-von überzeugt, dass nur ein solch umfassender Ansatzdazu führen kann, dass die Menschen in diesem Landendlich wieder eine Perspektive erhalten. Deshalb müs-sen wir Atalanta auch als eine Mission verstehen, die diehumanitäre Hilfe absichert und die Aufmerksamkeit im-mer wieder auf Somalia lenkt. Es ist eine Mission fürumfassendere und langfristige Programme zur Entwick-lung und zum Staatsaufbau dieses Landes.Damit das gelingen kann, müssen die EuropäischeUnion und ihre Mitgliedstaaten Somalia vor allem durchhumanitäre Hilfe und bei der Schaffung und Durchset-zung von Rechtsstaatlichkeit stärker unterstützen. Nurdurch den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und dieUnterstützung dabei können die Verantwortlichen in So-malia selbst in die Lage versetzt werden, stärker gegendie Piraterie sowie gegen die Instabilitäten und gegen dieGewalt in ihrem Lande vorzugehen.Herr Minister, wenn Sie in Ihrer Rede die Bedeutungeines vernetzten Ansatzes und die Bedeutung der zivilenUnterstützung, der zivilen Aufbaumaßnahmen, die wirin diesem Land durchführen müssen, herausstellen, dannstimme ich Ihnen zu. Ich sage Ihnen aber ausdrücklich,dass Ihre Aussage nicht glaubwürdig ist, wenn Sie amgleichen Tag, heute, in diesem Parlament gemeinsam mitden Regierungsfraktionen eine Kürzung der Ansätzefür zivile Krisenprävention und für humanitäreMaßnahmen in einem derartigen Umfang durchführen.
Das ist keine glaubwürdige Politik. Das gilt auch für Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfrak-tionen.Wenn wir hier eine glaubwürdige Politik vertretenwollen – das muss der Anspruch des gesamten Parla-mentes sein –, dann müssen Sie diese Kürzungen zu-rücknehmen. Denn es ist nicht vereinbar, auf der einen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8173
Edelgard Bulmahn
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Seite die Bedeutung dieser Maßnahmen zu unterstrei-chen und auf der anderen Seite die Grundlage für dieUmsetzung dieser Maßnahmen zu zerstören. Ich sage Ih-nen ausdrücklich: Dafür hat niemand Verständnis. DieDebatte darüber wird mit dem heutigen Tag nicht been-det sein. Wir müssen in Deutschland die Voraussetzun-gen dafür schaffen, dass wir unsere wichtigen Aufgabenweiterhin erfüllen können. Das ist eine ganz wichtige Er-rungenschaft hier in Deutschland, zu der viele Parlamen-tarier einen Beitrag geleistet haben. Wir haben kein Ver-ständnis dafür, wenn zu verhindern versucht wird, dasshier die Grundlage für politisches Handeln, für zivileKrisenprävention, für die wichtigen zivilen Aufbaumaß-nahmen, die ergriffen werden müssen, geschaffen wird.
Frau Kollegin!
Ich sage zum Schluss noch einmal: Ja, wir brauchen
eine Verlängerung dieser Operation. Aber wir brauchen
eben auch die Grundlagen dafür, dass die zivilen Maß-
nahmen nicht nur in Sonntagsreden unterstrichen, son-
dern auch konkret durchgeführt werden.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Parlamentarische Staatsse-
kretär Thomas Kossendey.
T
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch wir vom Verteidigungsministerium bitten Sieheute um Ihre Zustimmung zur Fortsetzung der EU-Ope-ration Atalanta. Seit Beginn dieser Operation Ende 2008kann Atalanta durchaus auf bemerkenswerte Erfolge zu-rückblicken. Alle beteiligten Nationen – das geht weitüber die Länder der Europäischen Union hinaus – kön-nen mit Fug und Recht auf diese Erfolge stolz sein. Wirkönnen auch auf das stolz sein, was die Seestreitkräfteder beteiligten Länder bewirkt haben. Wir sollten ganzkonkret den über 300 deutschen Soldatinnen und Solda-ten, die auf unseren Marineschiffen an dieser Operationbeteiligt sind, für ihren Einsatz danken. Sie leisten einehervorragende Arbeit, und sie erfahren dafür im interna-tionalen Rahmen – das steht hier zu Hause häufig etwasim Schatten – eine sehr hohe Anerkennung.
Ich will Ihnen anhand einiger Zahlen deutlich ma-chen, wie erfolgreich Atalanta war. Allein 2010 wurden90 000 Tonnen Hilfsgüter nach Somalia gebracht. Dassind 2 500 Lastwagenladungen. Frau Bulmahn undMinister Westerwelle, Sie haben es ja angesprochen:1,8 Millionen Menschen konnten durch das World FoodProgramme – die Lieferungen gehen im Wesentlichenüber See in die bedrohten Gebiete – Nahrung erhalten.Diese Lebensmittellieferungen erfolgten unter unseremSchutz.Ich glaube auch, dass wir in Atalanta auch insofern ei-nen Erfolg sehen können, als wir weit über die Europäi-sche Union, weit über die NATO hinaus Länder animierthaben, sich an der Sicherung dieser Seeverbindungs-wege zu beteiligen. Denken Sie an China, Indien, Pakis-tan oder Indonesien – all das sind Länder, die die Sicher-heit dieser Seeverbindungslinien auch im Hinblick aufihre eigenen Interessenslagen für wichtig halten und diedort mit Atalanta zusammenarbeiten.Frau Bulmahn hat darauf hingewiesen, dass dieAnzahl der Angriffe der Piraten gerade im letzten Jahrzugenommen hat. Ja, das ist richtig, Frau KolleginBulmahn; aber die Anzahl der dabei erfolgreichen Kape-rungen mit Geiselnahme nahm im Verhältnis ab. Ichglaube, das ist auch ein wichtiger Punkt, wenn wir überAtalanta sprechen. Unsere Präsenz dort zeigt also Wir-kung. Nicht nur, weil wir dort militärisch vertreten sind,sondern auch weil die Reeder zunehmend in der Lagesind, selber für ihre Schiffe Vorsorge zu treffen, sind wirinsgesamt erfolgreich. Wir führen mit den Reedern stän-dig Gespräche, und wir sind gemeinsam erfolgreich. DieVorsorge der Reeder und das Eingreifen von Atalantahaben dazu beigetragen, dass das Problem der Piraterieeingedämmt werden konnte. Das hat auch dazu geführt,dass wir knapp 80 Piraten vor Gericht gestellt haben. InHamburg läuft der erste Prozess.Wir müssen dennoch, glaube ich, angesichts derGröße des Territoriums, das zu schützen wäre, eingeste-hen, dass eine lückenlose Abdeckung schlichtweg nichtmöglich sein wird. Allerdings können wir – das wollenwir auch weiter tun – den Schwerpunkt darauf legen, dieSchiffe des Welternährungsprogramms zu sichern. DieSchiffe, die sich bei Atalanta anmelden und dann unterden sogenannten Konvoischutz gestellt werden, sind imRegelfall sicher durch das gefährdete Gebiet gekommen.Natürlich kann man monieren, dass Atalanta alleindas Problem der Piraterie nicht eindämmen wird. Minis-ter Westerwelle hat einiges zu den Aktivitäten an Landgesagt. Ich denke, das ist wichtig. Denn wenn wir dieUrsachen an Land nicht bekämpfen, werden die Solda-ten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf See arbeitenmüssen. Das wollen wir nicht.Atalanta ist aber für diese Übergangszeit unverzicht-bar. Denn wenn wir Atalanta heute einstellen würden,würden die Menschen in Somalia wieder hungern. Daswürde bedeuten, dass sich Piraterie weiter ungehindertausbreiten könnte. Wir müssen in dieser Region die Kul-tur der Gewalt und die Kriegsökonomie durchbrechen.Und wir müssen darauf achten, dass wir durch ein politi-sches Rahmenprogramm, sage ich einmal, in Somaliafunktionierende Strukturen und Regulierungsmechanis-men wiederbeleben.Lieber Herr Kollege Ströbele, wenn Sie einmal vorOrt gewesen wären und mit den politisch Verantwortli-chen – vielleicht auch mit Fischern – gesprochen hätten,
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8174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Parl. Staatssekretär Thomas Kossendey
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dann wüssten Sie, dass die romantische Vorstellung, dassFischer zu Piraten werden, falsch ist.
Ich glaube, es ist eher sogar eine Beleidigung für ei-nen ganz normalen Somali-Fischer, wenn wir ihm unter-stellen, er würde dadurch, dass ihm Fische weggefischtwürden, zum Mörder, Geiselnehmer, Piraten und Terro-risten. Ich glaube, wer so über die somalischen Fischerredet, hat mit ihnen relativ wenig zu tun gehabt.
Wir werden, Herr Ströbele – lesen Sie das Mandateinmal in Ruhe –, auch das Thema der illegalen Fische-rei dort ansprechen. Ich empfehle Ihnen – möglicher-weise haben Sie es ja da liegen – mal die Ziffer 3 g desMandats zu lesen. Darin ist das Thema Fischerei in au-ßerordentlich deutlicher Weise erwähnt.
Wir wollen natürlich mit dem, was wir an Land ma-chen, langfristig eine Perspektive für Somalia erreichen.Allerdings muss man – wenn man Somalia kennt, undich kenne es seit den 90er-Jahren, als wir zum ersten Malmit der Bundeswehr dort waren – auch sehr deutlich sa-gen: Das sind Ziele, für die wir Geduld und einen langenAtem brauchen.Atalanta hilft den Menschen in der Region. Atalantaschützt aber auch uns; denn Atalanta hilft eben mit, dassdie Seewege in der Region passierbar bleiben, dass derinternationale Handel als eine wesentliche Stütze unse-res Wohlstandes und auch unserer Sicherheit nicht inGefahr gerät. Auch dafür schulden wir unseren Soldatin-nen und Soldaten Dank. Das sind Soldatinnen und Sol-daten, die manchmal 200 Tage im Jahr von zu Hause wegsind und unter durchaus fordernden Bedingungen – kli-matisch wie unterbringungsmäßig – einen sehr schwieri-gen und fordernden Dienst leisten.Ich bitte Sie um Zustimmung, dass wir dieses, imÜbrigen auf klaren völkerrechtlichen Grundlagen beru-hende Mandat mit einer Obergrenze von 1 400 Soldatin-nen und Soldaten um ein Jahr verlängern. Dieses Mandatenthält eine Ausweitung des Operationsgebietes. Da diePiraten – Sie haben es gehört – ihre Einsatzgebiete aus-geweitet haben, muss dem auch Atalanta folgen. Wir ha-ben das in diesem Mandat vorgesehen und werden uns indiesen erweiterten Rahmen von Atalanta einpassen.Wir brauchen heute ein klares, ein deutliches Signalfür eine fortgesetzte deutsche Beteiligung an dieser er-folgreichen EU-Mission. Ein solches Mandat gibt übri-gens auch unseren Soldatinnen und Soldaten den Rück-halt, den sie brauchen, um motiviert diese Arbeit zu tun.Es ist gleichzeitig, wie ich finde, ein Zeichen der Aner-kennung für das, was die Soldatinnen und Soldaten imAuftrag des Bundestages für unser Land dort leisten. Ichbitte Sie um Zustimmung.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Buchholz
für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! StellenSie sich für eine Minute vor, Sie wären in Somalia, Siewären einer von 3,2 Millionen Menschen, die ohne dieHilfslieferungen der UNO nicht überleben können, Siemüssten sich und ihre Familie ernähren. Vielleicht wäreIhr einziger Ausweg aus dem tagtäglichen Kampf umsÜberleben, sich einer Piratenorganisation anzuschließen.
– Hören Sie sich an, was die Angeklagten in Hamburgzu sagen haben! – Dann verwundert es Sie nicht, dassdie Zahl der Piratenüberfälle nicht zurückgegangen ist.Das ist schon mehrfach gesagt worden; ich möchte nocheinmal Zahlen hinterherschicken: Von Januar bis Sep-tember 2010 gab es 126 Piratenüberfälle. Im gleichenZeitraum des Jahres 2008, also im letzten Jahr vor Ata-lanta, waren es 87. Piraterie wurde nicht bekämpft. Dereinzige Effekt der Mission ist, dass die Piraten ihr Ein-satzgebiet ausgeweitet haben.Es gehört auch dazu, wenn man ehrlich Bilanz ziehenwill, zur Kenntnis zu nehmen, dass es im Jahr 2006 dieniedrigste Zahl von Überfällen gab. Das lag daran, dasses damals in weiten Teilen Somalias politische Struktu-ren mit Unterstützung der Bevölkerung gab: die Unionder Islamischen Gerichtshöfe. Aber diese Struktur loka-ler Autoritäten hat den Regierungen in Europa und inden USA nicht gepasst. Sie gerieten ins Visier des soge-nannten Kriegs gegen den Terror. Im Sommer 2006 un-terstützte die Bush-Administration eine äthiopische In-vasion, in deren Folge 16 000 Somalier getötet wurdenund der somalische Staat endgültig zusammengebrochenist. Der Zusammenbruch des somalischen Staates ist alsonicht vom Himmel gefallen, sondern ein Ergebnis derwestlichen Intervention.
Westliche Regierungen haben sich ein paar somali-sche Warlords ausgeguckt und zur neuen somalischenRegierung erklärt. Mittlerweile sind 8 000 Soldaten derAfrikanischen Union, teilweise finanziert mit Entwick-lungshilfegeldern aus der EU, in Mogadischu, um dieseWarlords zu stützen. Die Bundesregierung und die EUfinanzieren einen Krieg mit, der allein in diesem Jahr2 000 Zivilisten das Leben gekostet hat. Reden Sie alsonicht von der humanitären Politik der Bundesregierungin Somalia!
Voraussetzung für ein Ende der Piraterie sowie für dieVerbesserung der Lebensbedingungen der Menschen inSomalia sind das Ende des Krieges und eine somalischeRegierung, die von den Somaliern akzeptiert wird.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8175
Christine Buchholz
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Das kann offensichtlich keine Regierung sein, die sichdie westlichen Regierungen handverlesen herausgepicktund militärisch unterstützt haben.
Die Bundesregierung besteht aber darauf, mit darüber zuentscheiden, wer in Somalia regiert. Damit hat sie Mitver-antwortung für das Leid sowohl der Somalier als auch dervon der Piraterie betroffenen Seeleute.
Die Bundesregierung scheint fest entschlossen, mitAtalanta ihr erstes Experiment in Sachen Seeraumüber-wachung in aller Welt nicht aufzugeben.
Worum es dabei wirklich geht, macht nun nach HorstKöhler auch Minister Guttenberg deutlich, indem er sagt,es gehe darum, den Zusammenhang von regionaler Si-cherheit und Wirtschaftsinteressen offen und ohne Ver-klemmung anzusprechen. Guttenberg wörtlich:Der Bedarf der aufstrebenden Mächte an Rohstof-fen steigt ständig und tritt damit mit unseren Be-dürfnissen in Konkurrenz …Damit ist die Katze aus dem Sack: Die Bundeswehrsoll für Einsätze fit gemacht werden, deren Ziele nicht inerster Linie Terroristen oder Kriminelle sind, sondernkonkurrierende Staaten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Spatz?
Ich bin gleich am Ende meiner Rede. Danach darf der
Kollege gerne fragen. – Es geht hier weder um das Wohl
der Somalier noch um das Wohl der Seeleute. Im Gegen-
teil: Sie zahlen den Preis für die weltpolitischen Ambi-
tionen der Bundesregierung.
Deswegen wird die Linke die Operation Atalanta weiter-
hin ablehnen.
Zu einer Kurzintervention hat das Wort der Kollege
Spatz.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin
Buchholz, ich will jetzt nicht auf Ihre ideologiebelastete
Schlussfolgerung eingehen. Es ist sattsam bekannt, was
Sie da für abstruse Meinungen vertreten.
Ich finde es aber schon mutig, zu unterstellen, bei der
Übergangsregierung in Somalia handele es sich um
Leute, die vom Westen herausgepickt worden seien.
Könnten Sie mir einmal verraten, woran wir uns halten
sollen, wenn nicht an eine von der Afrikanischen Union
vorgeschlagene Lösung? Die Afrikanische Union ist
eine Institution, die sich seit ihrer Gründung vor acht
Jahren darum bemüht – dazu gibt es ein klares Bekennt-
nis –, am Ende der Reise möglichst viel Demokratie,
Teilhabe der Bevölkerung und Einhaltung der Men-
schenrechte in Afrika zu erreichen. Sie bemüht sich,
auch in Somalia, bei schwierigster Ausgangssituation,
eine entsprechende Lösung herbeizuführen. Das unter-
stützen wir. Nennen Sie mir eine Alternative, die wir
verfolgen könnten und die völkerrechtlich ähnlich rele-
vant wäre wie die von der Afrikanischen Union vorge-
schlagene Lösung!
Zur Antwort, Frau Kollegin, bitte.
Lieber Kollege Spatz, das Grundproblem Ihrer Außen-
politik – und der Außenpolitik früherer Regierungen – ist,
dass Sie in Ländern Afrikas oder in Afghanistan mit west-
lichen Maßstäben Regierungen aufbauen wollen.
Das Ganze bekommt dann noch die Tünche des UN-Si-
cherheitsrates.
Das Problem ist – schauen Sie sich die Situation in
Somalia an! –: Die Reichweite der Übergangsregierung
in Somalia ist nicht viel größer als die Reichweite der
Regierung in Kabul. Das heißt, die Unterstützung der
Bevölkerung ist überhaupt nicht gegeben. Es geht einzig
und allein darum, Leute aus dem Ausland einzufliegen,
die dort die Interessen der westlichen Staaten vertreten.
Sie können das gerne „ideologiebelastet“ nennen. Sie
verfolgen dort die alte neokoloniale Ideologie. Das leh-
nen wir ab.
– Es freut mich, Sie ein weiteres Mal zu amüsieren. Sie
können mir aber nicht erzählen, dass Ihr Vorgehen ideo-
logiefrei ist.
Ansonsten war dies meine ganz ideologiefreie Antwort
auf Ihre ideologiefreie Frage, Herr Spatz.
Das Wort hat nun die Kollegin Katja Keul für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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8176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Atalanta ist eine der wenigen militärischen
Operationen der Europäischen Union, über die wir hier
im Bundestag zu entscheiden haben. Die erste Frage, die
sich dabei immer stellt, ist die nach der völkerrechtli-
chen Grundlage. Die hohe See steht nach dem UN-See-
rechtsübereinkommen allen gleichermaßen zur friedli-
chen Nutzung zu. Auf hoher See darf sich nicht nur jeder
selbst verteidigen, sondern auch Nothilfe zugunsten an-
derer leisten. Freie Seehandelswege liegen nicht nur im
Interesse einzelner Nationalstaaten, sondern im Interesse
aller. Herr Kossendey, richten Sie das bitte Herrn Minis-
ter zu Guttenberg aus: Keinesfalls dürfen sich rohstoff-
hungrige Staaten mit militärischen Mitteln Vorteile zu-
lasten anderer verschaffen.
auch keiner!)
Darum geht es bei Atalanta gerade nicht. Die freie
Schifffahrt auf hoher See ist eine völkerrechtliche Errun-
genschaft, nachdem die Weltmächte jahrhundertelang
bestimmt haben, wer die Meere befahren darf.
Bei allen berechtigten Vorbehalten gegenüber militäri-
schen Mitteln müssen wir in diesem Fall konstatieren,
dass die Marine hier als eine Art Weltpolizei im Auftrag
der UNO unterwegs ist.
Frau Kollegin Buchholz, immerhin befinden sich immer
noch 438 Menschen in der Gewalt somalischer Piraten.
Eine Geiselnahme ist nicht so etwas wie ziviler Unge-
horsam.
Bei diesem Einsatz werden weder Zivilisten gefährdet
noch nationale Souveränitätsrechte verletzt. Soweit im
Rahmen von Atalanta die Küstengewässer Somalias ein-
bezogen sind, liegen das Einverständnis der Übergangs-
regierung und ein entsprechendes Mandat des UN-Si-
cherheitsrates vor.
Die Küstengewässer sind gerade für die Schiffe des
Welternährungsprogramms wichtig, da die Lebensmittel
schließlich in den Häfen ankommen müssen. Der Ein-
satz dient damit sowohl der Durchsetzung des geltenden
Völkerrechts als auch der Versorgung der notleidenden
Menschen in Somalia. Meine Fraktion wird der Verlän-
gerung des Einsatzes daher überwiegend zustimmen.
Das darf aber keinesfalls jährliche Routine werden;
denn es reicht nicht aus, Jahr für Jahr Fregatten an das
Horn von Afrika zu schicken.
Wir alle wissen, dass die Piraterie nur ein Symptom der
schwachen Staatlichkeit Somalias und der Perspektivlo-
sigkeit seiner Bevölkerung ist. Somalia ist nach einem
jahrzehntelangen Bürgerkrieg in Armut und Chaos ver-
sunken. Weder die Übergangsregierung noch die rund
7 000 Soldaten der Afrikanischen Union können die Si-
cherheit im Land gewährleisten. Im Ergebnis ist Somalia
mit über 2 Millionen Flüchtlingen eines der größten hu-
manitären Krisengebiete weltweit. 3,2 Millionen Men-
schen sind von der UN-Lebensmittelhilfe abhängig, und
es gibt kaum legale Erwerbsmöglichkeiten.
Wo also bleibt das Gesamtkonzept? Im Vergleich zu
den Aufwendungen für Atalanta können die zivilen Mit-
tel für den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen in Soma-
lia und die Verbesserung der Lebensbedingungen als
eher symbolisch bezeichnet werden. Stattdessen schickt
die Bundesregierung deutsche Offiziere nach Uganda,
damit sie dort Soldaten für die somalische Übergangsre-
gierung ausbilden. Diese deutschen Offiziere sind ge-
meinsam mit ihren europäischen Kollegen in einer soge-
nannten einsatzgleichen Mission im Ausland tätig, ohne
dass der Bundestag damit befasst war. Mir hat bislang
noch keiner überzeugend erklären können, warum der
Parlamentsvorbehalt für diese problematische Mission
nicht gelten soll. Keiner weiß genau, wo diese ausgebil-
deten Kämpfer nachher in Somalia bleiben und wer sie
langfristig bezahlen soll. Nicht einmal das Alter dieser
Rekruten und ihre Volljährigkeit stehen zweifelsfrei fest.
Ich erwarte von der Bundesregierung, dass uns als Parla-
mentariern auch dieses Mandat zur Prüfung und Ent-
scheidung vorgelegt wird.
Außerdem fordern wir Grüne schon lange, dass uns
nicht nur isolierte militärische Mandate vorgelegt wer-
den, sondern dass uns ein integriertes, das heißt auch ein
ziviles Konzept vorgelegt wird. Die Bundesregierung
sollte ihren Sitz im UN-Sicherheitsrat ab Januar 2011
nutzen und sich für die Entwicklung einer kohärenten
politischen Strategie für Somalia einsetzen, für ein Kon-
zept, das sich durch langfristig wirkende zivile Instru-
mente auszeichnet, damit wir nicht auf Dauer Symptome
bekämpfen müssen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der KollegePhilipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8177
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Kollegin Buchholz, auch ich möchte das,was Sie gesagt haben, nicht unkommentiert stehen las-sen. Das war wieder ein Stück – so ist es bei einer Viel-zahl der Reden, die Sie hier halten –, das vor allem aufeiner Aneinanderreihung von Verschwörungstheorienbasierte.
Ich weiß nicht, wo im Internet Sie das gefunden ha-ben. Wir wissen ja, dass manche Schüler Hausarbeiteneinfach aus dem Internet kopieren und als ihr Werk ab-geben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie als ge-wählte Bundestagsabgeordnete sich so etwas selbst aus-gedacht haben;
zumindest hoffe ich, dass Sie sich das nicht selbst ausge-dacht haben.
Vielleicht nutzen Sie diese Homepage mit Verschwö-rungstheorien in Zukunft nicht mehr und kümmern sichstattdessen um die Politik, die hier hingehört. DieserBeitrag war so wenig ernsthaft, dass er in eine solcheDebatte einfach nicht gehört, Frau Kollegin. Das mussich Ihnen von dieser Stelle aus einmal zurufen.
Das glatte Gegenteil war Ihre Rede, Frau KolleginKeul. Ihren kritischen Anmerkungen müssen wir unsselbstverständlich stellen. In der Tat ist es so, dass dieVerlängerung von Auslandseinsätzen der Bundeswehrhier zum Teil zu einer Routineaufgabe verkommt. Dasliegt an der Uhrzeit, zu der diese Debatten teilweise statt-finden. Das liegt aber auch an der öffentlichen Wahrneh-mung. Schließlich ist weder das Fernsehen bereit, die De-batte zu einer solchen Uhrzeit zu übertragen, noch wollenJournalisten sich in größerer Zahl damit auseinanderset-zen.Ich finde, bei diesem Einsatz müssen wir uns kritischfragen: Haben wir in unserer Afrika-Politik genug ge-tan? Ich muss sagen: Wir haben in der Vergangenheit zuwenig getan, was Afrika angeht. Ich möchte die Bundes-regierung ausdrücklich ermutigen, den Weg, den wir seiteinem Jahr beschreiten, zu verstetigen. Dieser Außen-minister hat den afrikanischen Kontinent in seiner nochrelativ kurzen Amtszeit häufig besucht. Auch in dernächsten Woche wird er versuchen, dort Impulse zu set-zen.
Das ist der Weg, zu dem ich Sie alle ermutigenmöchte. Hier müssen wir mehr tun.Eines ist klar: Eine Mandatsverlängerung, um die wirden Bundestag ersuchen, ist zweifellos notwendig. Wirwerben daher dafür, dieses Mandat politisch zu unter-stützen. Es befindet sich auf einem völkerrechtlich si-cheren und auf einem wertegebundenen Fundament,weil wir uns für den Schutz der Freiheit, der Menschen-rechte und letztendlich für den Schutz der somalischenBevölkerung einsetzen.
Ich lasse auch nicht den romantisierenden Einwurfgelten, es handele sich bei diesen Piraten um arme Fi-schersleute, denen gar nichts anderes übrig bleibt, als sozu handeln. Hier geht es um ein Verbrechen und umMörderbanden. Es ist nicht entscheidend, was dieseLeute nachher vor Gericht aussagen. Ich frage mich, werihnen eigentlich vorher gesagt hat, was sie vor Gerichtaussagen sollen. Was sie sagen, kann man nicht ernstnehmen. Wir sollten sie an den Straftaten und nicht anden Rechtfertigungen, die hier politisch ins Feld geführtwerden, messen.
– Dass die Linke den Rechtsstaat reklamiert, ist ihr gutesRecht. Deutschland ist ein Rechtsstaat. Aber hören Sieauf mit diesen romantisierenden Einwürfen in Bezug aufPiraterie!
Kein Mensch auf der Welt, dem es schlecht geht, hat dasRecht, andere Menschen zu entführen und zu töten. Einsolches Verhalten ist inhuman. Wir setzen das Völker-recht an dieser Stelle durch. Wir sind grundsätzlich an-derer Auffassung als Sie darüber, wie das Völkerrechtwehrhaft zu verteidigen ist.
Der freie Zugang zu Handelswegen ist die Grundlageunseres Wohlstandes und auch die Grundlage einer funk-tionierenden globalisierten Weltwirtschaft. Wenn dieserFreihandel weltweit nicht durchführbar ist, wenn Reederaus Deutschland und Europa Angst haben müssen, ihreSchiffe in diese Regionen zu schicken, dann wird eskeine Lösung für die Schwellenländer und für die Ent-wicklungsländer auf der Welt geben, die an diesemWohlstand dauerhaft partizipieren wollen.Es ist natürlich richtig, dass die erste Welt am meistenvom Freihandel profitiert. Aber unser Ansatz für nach-haltige Lösungen hinsichtlich Afrika muss sein, mög-lichst viele Länder in den Welthandel einzubeziehen.Das kann nur funktionieren, wenn es Investitionssicher-heit, Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer sowie freie und sichere Handelswege gibt. Dasist ein Grund, warum man dieses Piraterieproblem – esist ja ein Phänomen der letzten Jahre – nicht auf dieleichte Schulter nehmen darf, sondern sehr ernst nehmenmuss. Deshalb bitten wir Sie um Unterstützung für die-ses Mandat.Herzlichen Dank.
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8178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3691 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt III auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-
tion „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisierung
des Friedensprozesses in Bosnien und Herze-
gowina im Rahmen der Implementierung der
Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensverein-
barung sowie an dem NATO-Hauptquartier
Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage
der Resolution des Sicherheitsrates der Ver-
einten Nationen 1575 und Folgeresolu-
tionen
– Drucksache 17/3692 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe
Stunde zu debattieren. – Ich sehe, Sie sind damit einver-
standen. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort Herr Staatsminister Dr. Werner Hoyer.
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Namens der Bundesregierung bitte ich Sie um Zustim-mung für das Mandat zur Fortsetzung der Beteiligungbewaffneter deutscher Streitkräfte an der im Rahmen derGemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik derEuropäischen Union durchgeführten Operation EUFOR/Althea in Bosnien-Herzegowina und am NATO-Haupt-quartier in Sarajevo.Die weitere Stabilisierung Bosnien-Herzegowinasliegt im besonderen außenpolitischen Interesse der Bun-desrepublik Deutschland und der Europäischen Union.Wir wollen Bosnien-Herzegowina in seiner Entwicklungals demokratischer Rechtsstaat und auf dem Weg in dieeuropäischen und euro-atlantischen Integrationsformenweiter unterstützend begleiten.Deutschland hat sich seit 1995 am Friedensprozess inBosnien und Herzegowina beteiligt, zuerst an denNATO-Operationen IFOR und SFOR und ab 2004 an derEU-geführten Operation EUFOR/Althea. Die Bundesre-gierung unterstützt zudem die politischen und zivilenBemühungen der internationalen Gemeinschaft, die ei-nen Beitrag zur nachhaltigen Stärkung der Demokratieund des Rechtsstaats in Bosnien und Herzegowina leis-tet. Unser Ziel ist ein stabiler Staat, in dem alle Ethnienfriedlich miteinander leben können. Außerdem mussBosnien-Herzegowina in der Lage sein, aus eigenerKraft auf seinem Weg in Richtung EU und NATO voran-zuschreiten.Die militärische Sicherheitslage in Bosnien-Herzego-wina ist stabil. Erfreulicherweise sind auch die diesjähri-gen Parlamentswahlen, wie bereits die Wahlen in denvergangenen Jahren, friedlich und im Wesentlichen imEinklang mit internationalen Standards verlaufen. Diemoderaten Kräfte, die sich die Modernisierung und wei-tere Stabilisierung des Landes zum Ziel gemacht haben,sind aus diesen Wahlen gestärkt hervorgegangen. Das istein großer Erfolg für Bosnien und Herzegowina.Die innenpolitische Lage bleibt indessen kompliziert.Das Verhältnis zwischen den drei wichtigsten Volks-gruppen – Bosniaken, Serben und Kroaten – bleibt leiderwenig konstruktiv. Die Entscheidungswege sind langund überaus kompliziert. Aus diesem Grund werdenviele wichtige Reformen verhindert, die für eine erfolg-reiche Annäherung Bosniens und Herzegowinas an dieEU und die NATO nötig wären. Eine Reform der Verfas-sung, die Bosnien-Herzegowina zu einem effizienterfunktionierenden Staat machen würde, ist bisher nichtgelungen. Zuletzt hat der Sicherheitsrat der VereintenNationen am 18. November dieses Jahres festgestellt,dass die Bedingungen zur Schließung des Büros des Ho-hen Repräsentanten noch nicht vollständig erfüllt sind.Nicht alles, was im Friedensabkommen von Dayton1995 für Bosnien-Herzegowina festgelegt wurde, ist um-gesetzt. In seiner Resolution 1948 hat der Weltsicher-heitsrat in diesem Jahr deshalb die Mitgliedstaaten derVereinten Nationen zur Fortführung der multinationalenStabilisierungstruppe Althea ermächtigt und damit dasvölkerrechtliche Mandat um ein weiteres Jahr verlän-gert.Althea hat nach wie vor die Aufgabe, die bosnisch-herzegowinische Regierung bei der Aufrechterhaltungeines sicheren und geschützten Umfeldes zu unterstüt-zen. Darüber hinaus unterstützt Althea weiterhin denHohen Repräsentanten bei der Wahrnehmung undDurchsetzung seiner exekutiven Sondervollmachten inBosnien und Herzegowina. Althea leistet außerdem ei-nen wichtigen Beitrag zur Ausbildung und zum Aufbauder bosnisch-herzegowinischen Streitkräfte.Im Laufe der kommenden Monate und im Lichte derEntwicklung in Bosnien-Herzegowina wird über die Zu-kunft des OHR und auch über das exekutive Mandat vonEUFOR/Althea zu entscheiden sein. Denkbar ist eineÜberführung in eine reine Ausbildungsmission.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, zurzeit be-teiligt sich Deutschland mit gut 120 Soldatinnen undSoldaten – von insgesamt circa 1 650 Soldatinnen undSoldaten – an der Operation Althea. Diese deutschen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8179
Staatsminister Dr. Werner Hoyer
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Soldatinnen und Soldaten tragen und trugen dazu bei,dass die Menschen in Bosnien-Herzegowina seit vielenJahren in Frieden leben können. Dafür gebührt ihnen un-ser aufrichtiger Dank.
Sollte die Sicherheitslage in Bosnien-Herzegowina wei-terhin stabil bleiben, so könnte die Präsenz von EUFORim Frühjahr 2011 reduziert werden. Für diesen Fall be-absichtigt die Bundesregierung, in Abstimmung mit denEU-Partnern das deutsche Kontingent bis auf das Perso-nal im Hauptquartier in Sarajevo und ein zusammen mitÖsterreich vorgehaltenes Reservebataillon zu reduzie-ren.
Den Bundestag werden wir in dieser Angelegenheitselbstverständlich in geeigneter Form auf dem Laufen-den halten.Bei allem vorsichtigen Optimismus über die Entwick-lung in Bosnien-Herzegowina müssen wir dennochSorge dafür tragen, dass das Erreichte nicht durch einenverfrühten Abzug in Gefahr gerät. Die Beibehaltung deraktuellen Personalobergrenze bleibt daher aus Sicht derBundesregierung gegenwärtig bis auf Weiteres notwen-dig. Die mögliche weitere Entwicklung im Falle einerpositiven Situation Anfang des nächsten Jahres habe ichIhnen erläutert. Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie umIhre Zustimmung zur Fortsetzung von EUFOR/Altheamit einem inhaltlich unveränderten Mandat.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dietmar Nietan für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In vielen Diskussionen, die wir mit Bürgerinnen und
Bürgern und auch hier unter uns führen, kommen wir,
wenn wir erklären wollen, warum die Europäische
Union trotz aller Missstände und Rückschläge ein so
wichtiges Projekt ist, immer an den Punkt, an dem wir
sagen, dass die Europäische Union in der Nachkriegszeit
zumindest für Westeuropa das zentrale Friedensprojekt
war. Für uns stellt sich natürlich die entscheidende
Frage: Kann die Europäische Union, die in Westeuropa
nach dem Zweiten Weltkrieg der entscheidende Frie-
densfaktor war, auch den europäischen Kontinent insge-
samt befrieden und allen Menschen in Europa eine Per-
spektive bieten, ihr Leben in Freiheit zu gestalten, in
einer Art und Weise zu gestalten, dass sie Perspektiven
für sich und ihre Kinder haben, nicht nur in Fragen der
Sicherheit, sondern auch in Fragen der sozialen Gerech-
tigkeit und des materiellen Wohlstandes?
Wir blicken, wenn wir uns das fragen, auf den Balkan
und insbesondere nach Bosnien-Herzegowina. Wir müs-
sen feststellen, dass der Frieden von Dayton in vielerlei
Hinsicht immer noch ein kalter Frieden ist. Wir müssen
feststellen, dass es insbesondere in Bosnien-Herzego-
wina in den letzten Jahren Stagnation und nicht Fort-
s
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Verlängerung des Mandatsfür die Operation Althea ist ein wichtiges Signal, dasswir weiterhin Verantwortung in dieser Region überneh-men wollen, aber – das sage ich sehr deutlich – sie istnur ein Signal. Wenn wir Fortschritte in dieser Region inEuropa sehen wollen, muss sich die Europäische Union– das ist der entscheidende Punkt – dort stärker, konkre-ter und nachhaltiger engagieren, jedenfalls mehr als bis-her.
Nach all den Rückschlägen, die wir erlebt haben,stellt sich die Frage: Ist das möglich? Ich sage: Ja, das istmöglich. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir zur-zeit erleben, dass in Bosnien-Herzegowina vielleichtdoch wieder Bewegung im positiven Sinne entstehenkann. Aus welchen Gründen?Der erste Grund ist – auch das hat der Staatsministerschon angesprochen –, dass die Wahlen am 3. Oktoberdieses Jahres die moderaten Kräfte gestärkt haben. Siehaben bei diesen Wahlen einen Stimmenzuwachs be-kommen, ausdrücklich nicht mit nationalistischen The-men, sondern mit Themen, die sich um die Zukunft desLandes, um konkrete berufliche und soziale Chancen derMenschen gedreht haben.Der zweite Grund ist, dass die nun anstehende Regie-rungsbildung eine große Chance ist, in den völlig blo-ckierten Diskussionen über die Verfassungsreform viel-leicht wieder etwas zu bewegen.Der dritte Grund ist – das ist aus meiner Sicht für dieMenschen dort ein wichtiges Signal –, dass mit der nunbevorstehenden Visaliberalisierung auch die Bosniakenin den Genuss der Rechte kommen, die viele Kroatenund Serben auf dem Gebiet von Bosnien-Herzegowinaschon haben.Der vierte Grund ist, dass wir beobachten können,dass die beiden großen Nachbarstaaten Kroatien undSerbien in ihren bilateralen Beziehungen, aber auch inihrer Entwicklung insgesamt auf einem guten Weg sind.Ich möchte ausdrücklich herausheben, dass wir mit denbeiden Präsidenten Josipovic und Tadic dort im Momentzwei politische Führer erleben, die sich im Aussöh-nungsprozess wirklich engagieren. Das kann auch eineChance für die Entwicklung in Bosnien-Herzegowinabedeuten.Damit diese Bewegung entstehen kann, muss die Eu-ropäische Union klare Signale senden. Aus meiner Sichtmuss das erste Signal sein, dass nach der Erweiterungum Kroatien mit der Erweiterungsperspektive nichtSchluss ist, dass wir unser Versprechen vom Europäi-schen Rat 2003 in Thessaloniki ernsthaft und glaubwür-
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8180 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Dietmar Nietan
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dig erneuern – und das nicht nur mit Lippenbekenntnis-sen.Es gilt auch, über die Frage zu diskutieren, ob es nichtso etwas wie eine Roadmap für Bosnien-Herzegowinaim Erweiterungsprozess geben könnte, nicht etwa – da-mit wir uns nicht missverstehen – im Sinne eines Short-cuts, einer Abkürzung, oder gar eines Rabatts, sondernim Sinne einer neuen Initiative vonseiten der EU, denBeitrittsprozess stärker zu strukturieren und – man sollteüberlegen, welche Möglichkeiten es hier gibt – Meilen-steine, erste Erfolgserlebnisse unterhalb der Schwelle ei-nes Beitritts zu generieren, damit die Menschen in dieserRegion erkennen können, dass die Beitrittsperspektiveernst gemeint ist.Ein weiterer Punkt ist, dass sich die EuropäischeUnion überlegen muss, ob sie in der Frage der Ablösungdes Hohen Repräsentanten bisher glücklich agiert hat.Denn wir erleben, dass er immer mehr zu einer lahmenEnte wird. Auf der einen Seite sagen fast alle europäi-schen Staaten: Diese Institution soll abgelöst werden. –Aber konkretes Engagement, um die fünf Ziele zu errei-chen und die zwei Bedingungen zu erfüllen, um also denDeadlock, den es dort gibt, zu durchbrechen, ist nicht er-kennbar. Das stärkt die destruktiven Kräfte. Sie reibensich die Hände, dass es einen Hohen Repräsentantengibt, der nicht mehr so agieren kann, wie er es vielleichtmöchte, und die EU bisher nicht in der Lage ist, Bedin-gungen zu schaffen, die es ihr ermöglichen, selbst grö-ßere Verantwortung zu übernehmen.Der nächste Punkt, den ich für wichtig halte, ist dieFrage, ob wir die konstruktiven Kräfte unterstützen kön-nen. Ich finde, es ist ein hervorragendes Signal, dass derChef der SDP, Zlatko Lagumdzija, erklärt hat, dass ersich eine Regierungsbildung unter Beteiligung der SDPnur dann vorstellen kann, wenn die neue Regierungs-mehrheit mit konkreten Verfassungsänderungen startet.Er macht also Fortschritte im Hinblick auf die Verfas-sung zu einer Bedingung für die Regierungsbildung. Indieser Hinsicht sollten wir von deutscher Seite die kon-struktiven Kräfte unterstützen, gerade aufgrund unsererErfahrungen mit dem Föderalismus.Wir müssen den Druck auf diejenigen, die sich bishervöllig kontraproduktiv und nationalistisch verhalten, er-höhen, zum Beispiel auf Milorad Dodik. Ich möchte al-lerdings nicht jede Hoffnung aufgeben, weil ich glaube,dass der eine oder andere im Lager von Dodik erkennt,dass ein prosperierendes, sich auf dem Weg zur EU be-findliches Bosnien-Herzegowina am Ende auch im Inte-resse der Menschen in der Republika Srpska ist.Bei aller Wertschätzung für Präsident Tadic würde ichmir wünschen, dass auch er den Druck auf Dodik undandere erhöht. Es ist nicht unbedingt ein hilfreiches Si-gnal, wenn der Präsident zum Beispiel bei Wahlkampf-auftritten von Dodik anwesend ist. Ich finde, den Be-kenntnissen Serbiens, dass es eine konstruktive Rollespielen will, muss jetzt auch ein stärkerer Druck aufHerrn Dodik folgen.
Für die Bundesrepublik Deutschland und uns Parla-mentarier, aber auch für die Regierung gilt es, klare Si-gnale zu senden. Ich will wiederholen: Parlament undRegierung sollten deutlich machen, dass diejenigen, dieinsgeheim oder offen sagen: „Nach der Erweiterung derEuropäischen Union um Kroatien ist mit der Erweiterungerst einmal Schluss“, bei uns keine Mehrheit haben. DieBeitrittsperspektive aufzugeben, wäre das Schlimmste,was wir tun könnten. Dadurch würden wir die Lage vorOrt destabilisieren.Die Bundesregierung muss, wie ich finde, auch LadyAshton unterstützen. Ich habe den Eindruck, dass LadyAshton großes Engagement auf dem Westbalkan zeigt,nicht nur im Hinblick auf den Kompromiss, den sie mitPräsident Tadic bezüglich der Kosovo-Resolution gefun-den hat. Dies könnte das erste Feld sein, auf dem sie be-weist, dass der Europäische Auswärtige Dienst und siein Person durchaus in der Lage sind, etwas zu leisten.Dabei sollte die Bundesrepublik Deutschland sie unter-stützen.Wir sollten die guten Beziehungen, die Deutschlandzur Russischen Föderation und zur Türkei hat, nutzen, umauch diese beiden Staaten stärker in diesen Prozess einzu-binden. In einem ersten Schritt sollten wir eine intensiveStrategieabstimmung mit unseren amerikanischen Freun-den vornehmen. Dann sollten wir mit unseren türkischenund russischen Freunden eine gemeinsame Strategie ent-wickeln und sie einbinden. Auch das könnte den Druckauf diejenigen, die sich nicht konstruktiv verhalten, er-höhen.Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen: Ich bin der fes-ten Überzeugung, dass das, was dort geschieht, für unsDeutsche, aber auch für die Europäische Union einegroße Bewährungsprobe ist. Europa bzw. die Europäi-sche Union hat in den 90er-Jahren versagt, als es darumging, einen Beitrag zu einem friedlichen Prozess beimZerfall Jugoslawiens zu leisten. Ein zweites Scheiternder EU, wenn es darum geht, den Balkan endgültig zubefrieden und ihn an die Europäische Union heranzufüh-ren, wäre vielleicht das Ende der EU als anerkannter undhandlungsfähiger außenpolitischer Akteur. In jedem Fallwäre es das Ende der EU als glaubwürdiges Friedenspro-jekt für ganz Europa. Ich glaube, das können und wollengerade wir als Deutsche uns nicht leisten. In diesemSinne unterstützen wir diese Operation. Sie kann abernur ein Schritt sein. Am Ende müssen wir uns politischstärker engagieren.Vielen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Christian Schmidt.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!15 Jahre ist es nun her, dass mit dem Massaker von Sreb-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8181
Parl. Staatssekretär Christian Schmidt
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renica das „Nie wieder“, das wir uns für Europa und dieWelt zum Ziel gesetzt haben, durchbrochen wurde. Inder Tat war es leider so – Kollege Nietan, da haben Sievöllig recht –, dass dieses Massaker aufgrund der Macht-losigkeit und des zu kurz greifenden Engagements Euro-pas in Bosnien-Herzegowina nicht hat verhindert werdenkönnen.15 Jahre später – nicht nur nach Dayton, sondern auchnach all den Irrungen, Wirrungen und schwierigen Situa-tionen – können wir sagen, dass sich doch ein nachhalti-ger – soll ich sagen: hoffentlich nachhaltiger? – Erfolg inder Befriedung Bosnien-Herzegowinas zeigt.Die militärische Seite, die den Frieden nicht bringen,sondern nur die Voraussetzungen dafür schaffen kann,dass Frieden und Aussöhnung möglich sind, hat ihrenBeitrag nach den bitteren Erfahrungen von Srebrenicageleistet. Sie ist jetzt in einer Situation, in der militäri-sche Stabilität – dies wurde bereits gesagt – vorhandenist. Wir möchten die Aufgabe des militärischen Teils derMission sehr gerne in einen nichtexekutiven Teil über-führen; das heißt, wir müssen uns in der Tat mit den poli-tischen Rahmenbedingungen beschäftigen.Ich darf mich der Aufforderung an Serbien anschlie-ßen, sich unmissverständlich in den Dienst einer Europäi-sierung des Westbalkans insgesamt zu stellen. Es gibtviele guten Anzeichen dafür, dass dies der Fall ist. Dassollten wir, gerade im Hinblick auf die Erfahrungen vor15 Jahren, überhaupt nicht leugnen. Die Signale, die ausBelgrad kommen, sind alles in allem eher ermutigend.Aber man muss Herrn Dodik und all denen, die meinen,Separatismus, das Umgehen von Dayton und die Nicht-perspektive Europa könnten als versteckte Agenda ge-führt werden, ein klares Nein auch der EuropäischenUnion und der europäischen Staatengemeinschaft zu sol-chen Entwicklungen entgegenhalten.
Wir sind über den Weg von IFOR über SFOR undEUFOR heute in der Situation, dass in Bezug auf Bos-nien-Herzegowina die ersten Ansätze und Überlegungenhinsichtlich Mitgliedschaften in internationalen Organi-sationen, der NATO und – Sie haben es angedeutet – derEuropäischen Union im Raum stehen. Das ist ein Erfolg.Wir sollten diesen Erfolg nicht dadurch aufs Spiel set-zen, dass wir die Sicherheitslage vorzeitig, wie KollegeHoyer das beschrieben hat, durch Nachlässigkeit mehroder weniger gefährden.Ein klein wenig nachdenklich stimmt uns schon, dasswir eine Reihe von Partnerstaaten haben, die sich in mi-litärischen Komponenten offensichtlich nicht mehr sointensiv um die Situation in Bosnien-Herzegowina küm-mern. Sie haben die fünf Aufgaben und die zwei Bedin-gungen angesprochen. Sie haben das nach wie vor nichtzu einer Entscheidung kommende PIK im Hinblick aufden Hohen Repräsentanten und die Bonn Powers ange-schnitten, die letztendlich dahinterstehen. Solange dieseFragen nicht endgültig im Sinne eines Konsenses gelöstsind, wird es wohl, wenn es zu schwierigen Situationenkommt, zumindest einer Präsenz mit militärischen Kräf-ten bedürfen, um wieder Ruhe und Frieden zu schaffenund die Grundlagen zu erhalten, die für eine positiveEntwicklung des Staates Bosnien-Herzegowina stehen.Deswegen wird die Bundeswehr mit einer Obergrenzevon 900 Soldaten nach wie vor um das Mandat werben.Mit dem Mandat, wenn es vom Bundestag beschlossenwird, wird sie dann auch die Möglichkeiten haben, so-wohl exekutiv als auch nichtexekutiv tätig zu sein, wo-bei das Schwergewicht zwischenzeitlich auf dem ge-meinsamen Bataillon mit Österreich liegt, das sich hinterdem Horizont befindet und nur im Notfall eingreifenwürde.Die Hoffnung, dass wir im Laufe des Jahres 2010,noch bevor wir dieses Mandat noch einmal verlängernmüssen, dazu kommen, dass wir nichtexekutiv tätig wer-den und dies gemeinsam gestalten können, gebe ich undgibt die Bundesregierung nicht auf. Bis dahin wollen wirin aller Seriosität unseren Beitrag dazu leisten, dass derÜbergang Bosnien-Herzegowinas auch wirklich sicher-gestellt wird und das Land Teil der europäischen Staa-tengemeinschaft wird.Wir bitten deshalb um Unterstützung für den Antragder Bundesregierung.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen
für die Fraktion Die Linke.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Die Bundesregierung lässt in ihremAntrag an den Absichten, die hinter dem Einsatz vonBundeswehrsoldaten in Bosnien-Herzegowina stehen,keinerlei Zweifel aufkommen. In dem Antrag heißt es– ich zitiere –: „Das Land muss … den Weg der Integra-tion in euro-atlantische Strukturen aus eigener Kraft“ ge-hen. Die EU-Mission Althea soll also die NATO-Anbin-dung Bosnien-Herzegowinas militärisch absichern. Wasist das eigentlich, wenn nicht imperiale Politik?
Seit der Ära Guttenberg bekennt sich die Bundes-regierung ja offen zu Einsätzen der Bundeswehr fürRohstoffe, für freie Märkte – wir haben das eben in derDebatte zu Atalanta gehört – und für freie Handelsrou-ten. Das sind Zitate von Herrn Guttenberg selbst. LieberHerr Stinner, nehmen Sie zur Kenntnis, dass Ihr Ministerdiese Worte gesagt hat, und zwar nicht erst kürzlich imNovember; vielmehr hat er sich bereits im Juni darübergewundert, dass Bundespräsident Köhler, der zurückge-treten ist, nicht genügend Unterstützung von Ihnen be-kommen hat. Das sind die Worte Ihres Ministers. Ich zi-tiere diese Worte nur.
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8182 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Sevim Daðdelen
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Sevim DağdelenDeshalb sage ich: Diese neue Ehrlichkeit hat nur denVorteil, dass Sie damit ehrlicher sind, als es die Grünenund die SPD sind.
Mit diesem Einsatz wird auch die neoliberale EU-Er-weiterungsstrategie begleitet. Hinsichtlich Bosnien-Her-zegowina wird in der Strategie kritisiert – ich zitiere –:Die Privatisierung, die Umstrukturierung öffentli-cher Unternehmen und die Liberalisierung desMarktes der netzgebundenen Industrien sind nichtweiter vorangeschritten.Weiter heißt es in dieser Strategie, das Sozialsystemsei zu gut und müsse deshalb dringend reformiert wer-den. Finden Sie das eigentlich nicht zynisch gegenüberBosnien-Herzegowina, wo ein Fünftel der Menschen mitweniger als 2 US-Dollar pro Tag auskommen muss?Sind 2 US-Dollar für Sie einfach zu viel?Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich dieLage in Bosnien-Herzegowina weiter verschlechtert.Der Gesamtstaat musste Kredite vom IWF aufnehmenund sich im Gegenzug Kürzungspakete diktieren lassen.Gegen diese Kürzungen gab es massive Streiks und De-monstrationen. Unter den Protestierenden waren auchviele Behinderte, deren Zuschüsse und kostenloserZugang zum Gesundheitssystem vom IWF gestrichenwurden. Am 21. April dieses Jahres wurden bei einersolchen Demonstration 70 Menschen zum Teil schwerverletzt.Die Bundeswehr kam dabei noch nicht zum Einsatz,aber sie ist an der Ausbildung der bosnischen Polizei be-teiligt. Deutsche Außenpolitik ist hier wahrlich keineFriedenspolitik. Deshalb ist hier eine Umkehr erforder-lich. Ich würde mir wünschen, Sie würden auch nur ein-mal genauer hinsehen, was die Folgen Ihres Handelnsvor Ort sind.
Auch die International Crisis Group – wahrlich keinelinke Institution – räumt ein, dass durch diese neolibera-len Diktate der Ethno-Nationalismus dort befeuert wird.
– Ja, das sagt die International Crisis Group. Das passtIhnen natürlich nicht. – Jüngst haben diese Diktate auchzu einem neuerlichen Anstieg ethnisch motivierter Ge-walttaten in Bosnien-Herzegowina geführt. Jetzt drohteben auch noch die Föderation Bosnien-Herzegowinaauseinanderzubrechen. Die EU-Mission Althea soll fort-gesetzt werden und der Hohe Repräsentant soll mit sei-nen Sonderbefugnissen weiter im Land verbleiben, umdiese neoliberalen Diktate abzusichern.
Dabei sind Sie Teil des Problems. Durch Ihre Politik inBosnien-Herzegowina wird der Nationalismus dort wei-ter geschürt. Das muss meiner Meinung nach umgehendein Ende haben.
Zum Schluss: Die militärische Absicherung neolibe-raler Reformen und der Einbindung Kosovos in dieNATO muss beendet werden. Das Büro des EU-Protek-torats, des Hohen Repräsentanten, muss aufgelöst wer-den. Nur so und durch die finanzielle Unterstützung derhiesigen bosnischen Bevölkerung kann sich Bosnien ei-genständig entwickeln. Ihre Politik wird dagegen nichtden Frieden sichern helfen. Ziehen Sie also die Bundes-wehr aus Bosnien-Herzegowina ab. Verschlimmern Sienicht noch das soziale Elend in Bosnien, wie Sie es inden letzten Jahren gemacht haben. Achten Sie endlichein Minimum – das ist wirklich nicht zu viel verlangt –an Rechtsstaatlichkeit auch auf dem Balkan.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Dr. Rainer Stinner das Wort.
Sehr geehrte Frau Kollegin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist ja entlarvend, wenn man mehrere sol-cher Debatten nacheinander hat. Es ist entlarvend,
wenn man die Einlassungen von Ihnen und Ihren Kolle-gen hört. Ich bin mittlerweile zu der Überzeugung ge-kommen, dass Sie eine fraktionsinterne Wette laufen ha-ben, bei der es darum geht, dass jeder Redner von Ihnen– ganz egal, zu welchem Thema Sie sprechen – einigeVokabeln verwenden muss. Dazu gehört natürlich auch„neoliberal“.
Frau Kollegin Dağdelen, Sie werden bedauerlicher-weise – das meine ich jetzt sehr ernst – mit Ihrer Rede,mit Ihrem Vokabular und mit Ihrer Argumentation demErnst der Lage in Bosnien-Herzegowina in keinsterWeise gerecht.
Wir haben eine furchtbare Situation gehabt. Es gibt die-sen, wie wir alle heute wissen, schlechten, problemati-schen Vertrag von Dayton, unter dem wir alle leiden, un-ter dem auch das Land leidet. Wir versuchen, aus dieserSituation herauszukommen, Frau Dağdelen, indem wirversuchen, das Land zu entwickeln.Wenn Sie diese Rede in Sarajevo halten würden, wür-den die Leute Sie auslachen – wenn nicht Schlimmeres.Zu glauben, dass wir gegen den Willen von Bosnien-
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Dr. Rainer Stinner
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Herzegowina dabei sind, das Land imperial-kapitalis-tisch-neoliberal auszubeuten, um es dazu zu knechten,endlich zu uns zu kommen, damit wir es aussaugen kön-nen, ist ein solch blödsinniges Bild, dass Sie damit ei-gentlich nur Verachtung erreichen können.
Ich kann Ihnen nur sagen: Mit solch einer Politik sindSie weit davon entfernt, ernsthafte Gesprächspartner imDeutschen Bundestag zu werden.Vielen Dank.
Frau Dağdelen zur Erwiderung.
Lieber Herr Stinner, erstens sind Sie nicht befugt, so-
zusagen im Namen der ganzen Bevölkerung in Deutsch-
land zu sagen, wer in den Debatten um Außen- und Si-
cherheitspolitik ernst genommen werden kann und wer
nicht.
Das Zweite ist: Sie nehmen einfach nicht zur Kennt-
nis, dass nicht nur die Linksfraktion im Deutschen Bun-
destag Kritik an den Militäreinsätzen auf dem Balkan
zum Ausdruck bringt, sondern zum Beispiel eben auch
die International Crisis Group.
Sie werden mir zustimmen, dass das keine linke Institu-
tion ist. Auch die Stiftung Wissenschaft und Politik sagt,
dass die Situation in Bosnien-Herzegowina
noch nie so verfahren, noch nie so schlecht war
wie im letzten Jahr und in diesem Jahr.
Das äußert die Stiftung Wissenschaft und Politik, nicht
die Linksfraktion im Deutschen Bundestag. Die SWP
sagt, dass diese Konflikte weder durch politischen noch
durch wirtschaftlichen oder durch militärischen Druck,
wie ihn die Bundesregierung und die Europäische Union
im Moment ausüben, gelöst werden können.
Sie glauben, am Reißbrett auf dem Balkan Staaten
aufbauen zu können
in Ihrem Interesse und nach Ihrer Logik, und dann wun-
dern Sie sich, dass die Bevölkerungen vor Ort mit einer
Kolonialvertretung, wie es sie im Moment mit dem Ho-
hen Repräsentanten gibt, nicht einverstanden sind. Sie
als Vertreter einer Fraktion, die sich eine liberale Frak-
tion nennt, können doch nicht im Ernst davon sprechen,
dass dieser Hohe Repräsentant irgendetwas mit deut-
scher Rechtsstaatlichkeit oder unserem Verständnis von
Rechtsstaatlichkeit zu tun hat. Was daran ist in Ihren Au-
gen noch Liberalismus?
Das Wort hat nun die Kollegin Katja Keul für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Dağdelen, zunächst noch eine Bemer-kung zu Guttenberg und dem Imperialismus: Ich wäreganz bei Ihnen, wenn es darum ginge, den Minister dafürzu kritisieren, dass er nicht sorgfältig differenziert. Ichmuss aber leider sagen: Auch Sie differenzieren bei IhrerPosition nicht sorgfältig.
Zur Sache: Der Krieg in Bosnien-Herzegowina ist seitnunmehr 15 Jahren beendet. Doch obwohl die Waffenseit 1995 schweigen, müssen wir im Bundestag erneutüber die Verlängerung eines Bundeswehrmandats ent-scheiden. Das zeigt uns wieder einmal, dass Frieden weitmehr ist als die Abwesenheit von Krieg.
Der Beitrag der Bundeswehr besteht derzeit noch aus120 Soldaten. Im kommenden Frühjahr werden auchdiese voraussichtlich abgezogen. Die militärische Prä-senz wird sich dann auf eine Handvoll Verbindungsoffi-ziere im Hauptquartier beschränken. Das ist ein gutesZeichen. Denn militärische Einsätze zur Konfliktbewäl-tigung müssen auch irgendwann zu Ende gehen. Unterdieser Prämisse werden auch wir Grünen dem Mandatnoch einmal zustimmen.Die verbliebenen Risiken in Bosnien-Herzegowinasind inzwischen weniger militärischer als politischer,ökonomischer und polizeilicher Natur. Die in Daytonentworfene Verfassung war letztlich nur eine Hilfskon-struktion, um den Krieg in Europa endlich zu beenden.Das 1995 entworfene Staatsgefüge ist viel zu komplexund fragmentiert, als dass sich darauf eine gemeinsameZukunft der drei Volksgruppen begründen ließe. Aktuellexistieren mit den Kantonen, der Föderation und der Re-
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8184 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Katja Keul
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publik Srpska praktisch 13 verschiedene Ebenen statt ei-nes einheitlichen Staates. Die gesamtstaatlichen Organesind seit Jahren quasi funktionsunfähig.Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatim Dezember letzten Jahres entschieden, dass der ethni-sche Proporz in Exekutive und Legislative gegen die Eu-ropäische Menschenrechtskonvention verstößt.
Der Europarat hat daher eine Änderung des Wahlrechtsverlangt. Das ethnische Proporz- und Vetosystem mussendlich durch eine demokratische Verfassung ersetztwerden.
Solange dies nicht gelingt, sind der Hohe Vertreter mitseinen exekutiven Befugnissen und die Unterstützungdurch Althea als Rückversicherung unverzichtbar.
Der Bürgermeister des bosnisch-serbischen Focasagte kürzlich auf einer Veranstaltung in Berlin, die in-ternationale Gemeinschaft müsse die bosnische Bevöl-kerung endlich laufen lernen lassen. Die positive Kraft,so der Bürgermeister, gehe von der kommunalen Ebeneaus. Die lokale Selbstverwaltung stärke das Vertrauender Bevölkerung in eine friedliche Zukunft. Die Dezen-tralisierung ermögliche es, die territorialen Zuordnungennach ethnischen Kriterien zu überwinden. Das machtHoffnung.Auf der anderen Seite bremsen Korruption und krimi-nelle Strukturen den demokratischen Fortschritt. Diemeisten Machthaber der Föderation und der RepublikSrpska wollen mit allen Mitteln ihre Macht erhalten.Eine Teilung Bosnien-Herzegowinas ist aber mit Europanicht zu machen. Das muss auch der deutsche Außen-minister unmissverständlich klarmachen.
Die EU steht den 4,3 Millionen Bürgerinnen und Bür-gern Bosnien-Herzegowinas gegenüber in der Pflicht.Am 2. Juni wurde auf dem EU-Westbalkan-Gipfel in Sa-rajevo die Beitrittsperspektive noch einmal bekräftigt.Ein wichtiges und längst überfälliges Zeichen in dieseRichtung ist die kürzlich beschlossene Visaerleichte-rung.Aber nur ein Staat, der seinen Bürgerinnen und Bür-gern die gleichen Rechte und Pflichten unabhängig vonethnischen Kriterien gewährt, kann die Beitrittsvoraus-setzungen erfüllen. Nach den Parlamentswahlen am3. Oktober richten sich unsere Hoffnungen auf neue Ini-tiativen aus der bosnischen Politik und auf Menschenwie den Bürgermeister von Foca, damit Bosnien-Herze-gowina als Staat endlich laufen lernen kann und wir baldnicht mehr über die Verlängerung dieses Mandats ent-scheiden müssen.Ich danke Ihnen.
Philipp Mißfelder ist nun der letzte Redner in dieser
Debatte. Er spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Keul, auch in dieser Debatte war nach demAussetzer von Frau Dağdelen Ihre ordnende Hand leidernotwendig.
Ich finde es beruhigend, dass auch im größten Teil desAuswärtigen Ausschusses das Thema Westbalkan mitgroßer Ernsthaftigkeit, aber immer auch mit großerSorge diskutiert wird.Wir dürfen eines nicht außer Acht lassen: Vor15 Jahren war Europa nicht kurz davor, zu scheitern,sondern es ist fundamental gescheitert, weil wir zugelas-sen haben, dass direkt vor unserer Haustür Gewalt undVölkermord stattgefunden haben,
und weil wir mit den vorhandenen Strukturen leidernicht in der Lage waren, dieser Aufgabenstellung ge-recht zu werden.Die grüne Partei hat ja lange mit sich gerungen, wel-chen Weg man dort am besten einschlagen sollte. Wirsollten nie vergessen, wie Joschka Fischer damals inBielefeld – kurz vor oder nach dem Farbbeutelwurf; ichweiß es nicht – die Linie ausgegeben hat: nie wiederAuschwitz, nie wieder Völkermord! – Das finde ich indieser Debatte durchaus bemerkenswert. Deshalb musssie auch sehr ernst geführt werden. Hier geht es nicht umKolonialismus. Hier geht es nicht um enge Interessen;vielmehr geht es hier nur um ein einziges Interesse, daswir als Europäische Union und als BundesrepublikDeutschland haben, nämlich Frieden zu schaffen direktvor unserer Haustür und ihn dauerhaft zu erhalten. Umnichts anderes geht es an dieser Stelle.
Ich möchte auf den Beitrag von Herrn Nietan zurück-kommen. In Dayton ist etwas auf den Weg gebracht wor-den, was zunächst einmal den Frieden geschaffen hat.Seitdem ist viel passiert: Slowenien ist Mitglied der Eu-ropäischen Union geworden. Kroatien hat große Fort-schritte erreicht. Insgesamt muss man sagen, dass die Er-wartungshaltung der Länder des Westbalkans Richtung
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Philipp Mißfelder
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Europa wesentlich größer geworden ist. Das gilt auch fürdie Hoffnung, die viele Menschen dort in Europa setzen.Formale Regelungen – auch des Daytoner Abkom-mens – sind im Einzelnen immer kritikwürdig; denn mankann nicht die politische Devise herausgeben, an einemRegelwerk festzuhalten, nur weil man das Regelwerkselbst aufgestellt hat. Was anfangs ein Erfolg war, mussimmer kritisch überprüft werden, zweifellos. Deshalbdarf unser Anspruch, auch in der heutigen Debatte, wennes um die Entsendung deutscher Soldaten geht, nicht nursein, dort mit Soldaten aktiv zu sein, sondern unser An-spruch muss auch eine politische Perspektive umfassen.
Deshalb ist mein Plädoyer eindeutig – ich nehme denBall von Dietmar Nietan gerne auf –, dass im Mittel-punkt unserer politischen Debatte stehen muss, einenWeg für diese Länder in Richtung Europa und zur Euro-päischen Union zu gewährleisten und die Hoffnung nichtzu enttäuschen.In Thessaloniki gab es beim Gipfeltreffen im Jahr2003 ein klares Bekenntnis zu den Werten der Europäi-schen Union. Das sollten wir gemeinsam weiterverfol-gen und gemeinsam engagiert vorantreiben, selbst wenndies im Einzelfall ein sehr steiniger Weg sein wird, mitdem wir uns auch noch lange Zeit beschäftigen werden.
Die militärische Aktion ist und bleibt notwendig. Ichmöchte deshalb Franz Josef Jung, unserem früheren Ver-teidigungsminister, ausdrücklich danken; denn es gabviele Stimmen innerhalb der Europäischen Union, die ei-nen schnelleren Abzug gefordert haben. Man stelle sichvor, das politische Druckmittel, gerade das Druckmittel,an der Integrität der Grenzen festzuhalten, wäre dortnicht militärisch untermauert – manche würden das viel-leicht als Freifahrtschein für ihr Großmachtstreben undihren puren Nationalismus empfinden. Insofern ist esrichtig, dass unser politisches Engagement – MinisterWesterwelle hat dies in Belgrad sehr deutlich gemacht;er hat auch viel erreicht, was das Kosovo angeht – mili-tärisch unterstrichen werden muss – leider.Ganz praktisch hat das auch die Auswirkung, dassalle diejenigen, die sich um den Aufbau von politischenStrukturen in der Region bemühen, die sich um eineNachhaltigkeit im politischen System bemühen, alle in-ternationalen NGOs, im Grunde nur dadurch frei arbei-ten können, dass man ein militärisches Drohpotenzial inder politischen Hinterhand hat. Wäre es nicht vorhanden,hätte die eine oder andere Organisation sich vermutlichnicht so frei entfalten können, wie es besonders in Bos-nien-Herzegowina momentan der Fall ist. Auch deshalbist dieser Einsatz notwendig.Trotzdem sage ich auch hier: Wir streben keine Man-datsverlängerung nur der Mandatsverlängerung wegenan, sondern unser Angebot muss ein politisches sein.Trotz der großen Schwierigkeiten, die wir innerhalb derEuropäischen Union heute sehen, muss die Vision eineszusammenwachsenden Europas eben auch sein, nichtnur einen wirtschaftlichen Integrationsrahmen darzustel-len; vielmehr muss ganz klar auch Friedenspolitik in denMittelpunkt gerückt werden. Dazu gehört, Frieden mitdiplomatischen Mitteln zu schaffen. Das ist möglich, in-dem man einen politischen Weg in die EuropäischeUnion offen lässt und damit auch die konstruktivenKräfte ermutigt.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3692 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt IV auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut-
scher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische An-
griffe gegen die USA auf Grundlage des Arti-
kels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
sowie der Resolutionen 1368 und 1373
des Sicherheitsrats der Vereinten Natio-
nen
– Drucksache 17/3690 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sind
Sie einverstanden. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort Herr Staatsminister Dr. Werner Hoyer.
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bei ihrem Gipfel in Lissabon am vergangenen Wochen-ende hat die NATO erneut gezeigt, dass sie 20 Jahre nachdem Ende des Kalten Krieges ein lebendiges Bündnis ist,ein Bündnis, das sich den neuen Herausforderungenstellt. Das ist eine bemerkenswerte Feststellung, nachdemman so viele Jahre darüber gesprochen hat, dass dieNATO am Ende sei und ihr in Zukunft die Aufgaben nachBeendigung des Kalten Krieges fehlten. Sie ist nichtsdes-
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8186 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Staatsminister Dr. Werner Hoyer
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totrotz ein sehr lebendiges Bündnis. Mit dem neuen Stra-tegischen Konzept, auf das sich die 28 Staats- und Re-gierungschefs geeinigt haben, ist die NATO auf demrichtigen Weg. Deutschland hat in Solidarität mit seinenPartnern im Bündnis immer seinen Beitrag geleistet, ge-rade in Krisenzeiten und auch angesichts der andauern-den Bedrohung durch den internationalen Terrorismus.Unter dem unmittelbaren Eindruck der Anschlägevom 11. September 2001 erteilte der Bundestag erstmalsdas Mandat, das es ermöglicht, dass deutsche Soldatin-nen und Soldaten an Einsätzen bewaffneter Streitkräftegegen den internationalen Terrorismus teilnehmen. DasMandat zur Beteiligung an der NATO-Operation ActiveEndeavour im Mittelmeer war seit 2003 stets mit demMandat zur Beteiligung an der US-geführten OperationEnduring Freedom verbunden. Vor einem Jahr, bei derVerabschiedung des jetzt laufenden Mandats, hat dieBundesregierung zugesagt, die deutsche Beteiligung anOEF einer kritischen Bestandsaufnahme und Überprü-fung zu unterziehen. Wir sind dabei zu dem Ergebnis ge-kommen, dass aufgrund der sich wandelnden Aktions-formen des internationalen Terrorismus unsere weitereTeilnahme an Operation Enduring Freedom nicht vonnö-ten ist. Vom 2. Juli 2010 an sind die letzten Einheitenvom Horn von Afrika, wo wir im Rahmen von OEF zu-letzt ausschließlich aktiv waren, zurückgekehrt.
Das heißt, wir haben unsere Zusage eingehalten.Gleichwohl zeigen die aktuellen Warnungen zur Ter-rorgefahr hier in Deutschland gerade in diesen Tagen: DerKampf gegen den internationalen Terrorismus dauert an.Der Angriff der Terroristen auf den Westen insgesamtfand nicht nur am 11. September 2001 in Washington,New York und in der Nähe von Philadelphia statt. Ersetzte sich fort am 11. März 2004 in Madrid und am7. Juli 2005 in London. Die gescheiterten Versuche imAnflug auf Detroit Weihnachten letzten Jahres und amTimes Square in New York in diesem Jahr sowie nicht zu-letzt die aktuellen Drohungen gegen Deutschland zeigen:Der Angriff und die Bedrohung dauern an. Deswegendauert auch die Selbstverteidigung dagegen an.Dabei wundere ich mich sehr, heute zu lesen, HerrKollege Erler, dass Sie gerade zum jetzigen ZeitpunktUnbehagen zur völkerrechtlichen Grundlage äußern;denn über die Argumente, die bereits vorgetragen wor-den sind, wurde in der Sache, insbesondere in Bezug aufden Hauptteil unseres früheren Engagements im Rahmender Operation Enduring Freedom, diskutiert. Diese Ar-gumente wurden von Ihnen in Ihrer damaligen Funktionvehement zurückgewiesen. Ich bin durchaus der Auffas-sung, dass man das sehr differenziert sehen muss. Dasgilt auch im Hinblick auf die zukünftige Ausgestaltungder Aufgaben, die hier zu bewältigen sind – mit einembreiten Ansatz aus zivilen und militärischen Mitteln. Wirhaben stets die Vernetzung vielfältiger Instrumente undHandlungsmöglichkeiten gerade im Zusammenhang mitder damaligen Operation Enduring Freedom gewährleis-tet. Das tun wir jetzt auch hier bei der gemeinsamen Ak-tion des Bündnisses Active Endeavour; denn wir müssendoch auf die Veränderung der Bedrohungs- und Opera-tionsmuster der Akteure des Terrorismus eingehen. Sieverändern sich ständig. Dementsprechend bedarf auchder Kampf gegen den Terrorismus einer stetigen Anpas-sung, um präventiv wirksam zu sein.Die jüngst offenbar gewordene Bedrohung aus demJemen hat erneut gezeigt, wie wichtig ein klarer Infor-mationsvorsprung des Staates im Kampf gegen den Ter-ror ist. Bei der Operation Active Endeavour werden fürdie NATO neue Arten der Informationsgewinnung undInformationsverarbeitung mit dem Ziel entwickelt, um-fassende Lagebilder zu erstellen. Eine entscheidendeRolle kommt dabei der Vernetzung der NATO-Struktu-ren mit anderen Akteuren in der Region sowie mit Part-nerstaaten der NATO zu. So waren zum Beispiel Länderwie Russland, Marokko und die Ukraine an Active En-deavour beteiligt. Solche Beteiligungen wird es auch inZukunft geben. Alle verbindet das gemeinsame Ziel derBekämpfung des Terrorismus. Hier erweist sich ActiveEndeavour als ein innovatives Zentrum in einem sichausbreitenden Sicherheitsnetzwerk.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ströbele?
D
Das Vergnügen werde ich mir jetzt nicht machen.
Ich freue mich aber auf die engagierte Diskussion diesesAntrages der Bundesregierung in den Ausschüssen desDeutschen Bundestages. Gegenwärtig sind wir in derEinbringung.
– In der Tat, es ist auch erst das zweite Mal, dass ich einMandat einbringe. Bei einer Debatte im Deutschen Bun-destag werden Sie mich als aktiven Debattenredner wie-derfinden. Aber jetzt werde ich das für die Bundesregie-rung vortragen, was hier gesagt werden muss.Wir alle haben in den letzten Tagen erneut erfahren,dass die Bedrohung durch den internationalen Terroris-mus real ist und auch uns betrifft. Wir werden uns dieserHerausforderung auch in Zukunft stellen müssen.Im Bündnis werben wir dafür, die aktive Verteidi-gungsoperation Active Endeavour auf Grundlage vonArt. 5 des NATO-Vertrages – da sind wir bei der Rechts-grundlage, Herr Kollege Erler; vielleicht können wir unsaufeinander zubewegen – mittelfristig zu einem ständigenVerteidigungsplan weiterzuentwickeln, in dessen RahmenAlliierte und NATO-Partner ständig zur Aufklärung undVorwarnung beitragen. Diese Umwandlung, bei der wir,wie gesagt, wahrscheinlich wieder zusammenkommen,wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Auf dem Weg dort-hin werden wir weiterhin im Rahmen der Bündnissolida-rität zu unseren Verpflichtungen aus der Operation ste-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8187
Staatsminister Dr. Werner Hoyer
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hen. Den deutschen Soldatinnen und Soldaten, die hierzutäglich ihren Beitrag leisten, gebührt unser aufrichtigerDank. Aus diesen Gründen bittet die BundesregierungSie um eine breite Unterstützung dieses durch den Weg-fall der Beteiligung an Operation Enduring Freedom nunneu zu bestimmenden Mandats zum Einsatz bewaffneterStreitkräfte im Rahmen der NATO-Operation Active En-deavour.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Michael Groschek
für die SPD-Fraktion.
Ganz leise und ganz ruhig, weil ich konsterniert bin. –Sehr geehrter Herr Staatsminister, als Abgeordneter wa-ren Sie ein prägnanter verteidigungs- und sicherheits-politischer Akteur, der auf Abrüstung und Rüstungskon-trolle gesetzt und frühzeitig darauf hingewiesen hat, dassman OEF nicht verlängern sollte, weil es ein vorüberge-hendes Mandat sei.
Als Staatsminister haben Sie beim letzten Mal schoneine Legitimation für OEF herbeigezaubert, von der Sieselbst im Grunde nicht überzeugt waren. Sie haben unsein Mandat mit einer Laufzeit von zwölf Monaten vorge-legt, obwohl Sie wussten, dass Sie selbst als Person undauch Ihre Fraktion von diesem Mandat nicht überzeugtsind; denn vor Ihrer Regierungsbeteiligung haben Siegegen die Verlängerung von OEF argumentiert. Nach ei-nem halben Jahr haben Sie den Cut gemacht und gesagt:Wir lassen OEF auslaufen.
Wir haben schon zum letzten Zeitpunkt der Mandats-verlängerung darum gebeten, OEF in Atalanta aufgehenzu lassen. Das haben Sie von sich gewiesen. Das, wasSie gerade gemacht haben, ist schon wieder eine Stufeweiter. Es ist eine Verschlimmbesserung und ein Verwi-schen Ihres parlamentarischen Rufes, lieber Herr Staats-minister.
Warum? Was haben Sie gesagt? Sie haben als Be-gründung für die Operation Active Endeavour gesagt:Die NATO lebt noch. Wir waren immer bündnissolida-risch. Die OEF-Absage war plausibel, und deshalb brau-chen wir keine entsprechende Mandatierung vorzuneh-men.Die völkerrechtliche Plausibilität des Art. 5 des Nord-atlantikvertrags bzw. des Art. 51 der Satzung der Verein-ten Nationen ist, jedenfalls im Moment, unstrittig. Waswir Ihnen heute hier als Mandatsverlängerung anbieten,ist ein innovatives Zentrum. – Unter dem Strich, lieberHerr Staatsminister, war das ein Herumeiern und Nebel-kerzenwerfen. Sie wissen nämlich, auf welch tönernenFüßen Ihr Antrag steht.
Jetzt kommen wir zum Kern. Wir hatten eine sehr inte-ressante, aufschlussreiche Anhörung mit General Petraeus.Folgender Satz von ihm hat mich nachhaltig beeindruckt:Ich als Soldat will vor allen Dingen eines, politische Klar-heit und eine präzise Beauftragung. – An Klarheit undPräzision mangelt es in Ihrem Antrag. Warum? Weil Sieden Antragstext mit nachlässiger Routine und nicht mitKlarheit und Präzision geschrieben haben, was nicht nurder Bundestag, sondern auch die zu mandatierenden Sol-datinnen und Soldaten erwarten können.Ich will das deutlich machen. Sie haben bei der erst-mals alleinigen Verlängerung der Operation Active En-deavour eben nicht auf eine präzise originale Begrün-dung dieses Anliegens Bezug genommen, sondern Siehaben weitestgehend aus der in der Vergangenheit ge-meinsamen Mandatierung von Active Endeavour undEnduring Freedom abgeschrieben.
Beides ist aber nicht so zu vereinbaren. OEF, das war einzu Recht robustes Mandat, das mit hohen militärischenFähigkeiten ausgestattet war. Dazu gehörten zum TeilSpezialkräfte, Unterstützungskräfte, ABC-Abwehrkräfte.Das Ganze war eine gezielte Reaktion, um Kampfein-sätze gegen Terrorcamps und Terroristen möglich zu ma-chen. Das, was heute zur Abstimmung steht, die Fortset-zung der Operation Active Endeavour, hat einen ganzanderen Charakter: den einer Seeaufklärung. Die Funk-tion besteht nur darin, Präsenz zu zeigen.Das wird in dem Antrag der Bundesregierung aberüberhaupt nicht deutlich. Sie haben uns im Grunde imRahmen einer Wiedervorlage die Begründung aus demAntrag auf Fortsetzung der Operation Enduring Freedomvorgelegt, was die Aufgaben der Bundeswehr angeht,was die Gesamtmission angeht, beispielsweise die angeb-liche Bekämpfung und Gefangennahme von Terroristenund das Ausschalten von Terrorcamps. Das entsprichtaber nicht dem Geist der Operation Active Endeavour.Denn das ist eher eine Gelegenheitsmandatierung, sozu-sagen eine Durchreisemandatierung, von am Horn vonAfrika seefahrenden Einheiten auf dem Weg in die Hei-mathäfen. Das bedeutet zum Teil die Präsenz von NATO-Einheiten und Stippvisiten von Seefernaufklärern.All das hat wenig mit dem zu tun, was Sie in Ihrem An-trag verlangen, nämlich das Aufsuchen und Gefangen-nehmen von Terroristen und das Zerstören von Terror-camps. Das ist mit dem eigentlichen Anliegen überhauptnicht deckungsgleich. Das gilt auch für die Mandatsober-grenze. Sie haben festgelegt, dass die Mandatsobergrenzebei 700 liegt, ohne präzise zu begründen, wie Sie zu die-ser Zahl kommen. In der ersten Hälfte dieses Monats wa-ren null Soldatinnen und Soldaten in diesem Einsatz. Wa-rum wollen Sie jetzt eine Mandatierung in Höhe von 700?
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8188 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Michael Groschek
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(B)
Kommen wir auf Art. 5 des Nordatlantikvertrags undauf Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen zu spre-chen. Sie selbst haben gerade in einem Nebensatz daraufhingewiesen, dass die Legitimationskraft schwindet. Siehaben gesagt: Mittelfristig müssen wir zu einem neuenKonzept und einer neuen Legitimation kommen. Nein,jetzt ist die Zeit reif, anzuerkennen, dass eine präziseNeulegitimation für diese Mandatierung notwendig istund dass neun Jahre nach den Anschlägen in New Yorkeben nicht argumentiert werden kann, Art. 5 des Nord-atlantikvertrags und Art. 51 der Satzung der VereintenNationen seien die Grundlage für eine Pauschalermäch-tigung.
Die fehlende Sorgfalt bei der Begründung zieht sich wieein roter Faden durch diesen Antrag.Schauen wir uns das Einsatzgebiet an. Das Einsatzge-biet ist das Mittelmeer. Im Mittelmeer selbst ist auch nachAuskunft der Bundesregierung keine aktuelle Terrorge-fahr und keine terroristische Aktivität dokumentiert. ImGegenteil: Dort kann man allenfalls Boatpeople, alsoElendsflüchtlinge, antreffen. Es geht somit um das ge-naue Gegenteil von Terrorbekämpfung. Wir haben dorteine herausragende soziale und zivilisatorische Aufgabezu erfüllen.Im Mittelmeer selbst gibt es keine terroristische Be-drohung, die über dieses Mandat zu bekämpfen wäre,und erst recht keine terroristischen Camps, die aufzuspü-ren und zu vernichten wären. Deshalb ist unser Anlie-gen, Sie darum zu bitten, im Rahmen der Beratung mituns gemeinsam zu sagen: Wir können bei diesem Man-dat in die Zeit von vor 2003 zurückkehren, als nämlichdie NATO-Verbände ohne ein robustes KampfmandatSeefernaufklärung und Präsenz gewährleistet haben undeben nicht die Legitimation über Art. 5 brauchten. Daswäre eine sinnvolle Perspektive, bei der wir mitgehenwürden.Deshalb sagen wir Ja zur Klarheit und präzisen Man-datserteilung. Die Soldatinnen und Soldaten müssenwissen, woran sie sind – und zwar präzise und nicht ne-bulös. Und deshalb sagen wir Nein zum vorliegendenAntrag. Sie werden uns nicht an Ihrer Seite finden, weilein robustes Mandat in diesem Fall überflüssig ist undweil wir Ihnen auch keinen Vorratsbeschluss – siehe700 Mann – erteilen würden; denn das wäre nicht ver-einbar mit dem parlamentarischen Beteiligungsgesetz.An die FDP kann ich doch bitte nur appellieren, nichtden gleichen Fehler wie bei der letzten Mandatsdiskus-sion um OEF zu machen. Damals haben Sie gesagt: Wirwerden das überprüfen und darüber nachdenken. Dashalbe Jahr Nachdenken war ja gut; denn das Mandat istausgelaufen. Das hätten wir aber gemeinsam schon einhalbes Jahr früher beschließen können. Deshalb meineherzliche Bitte und Einladung: Folgen Sie uns heute,springen Sie über Ihren Koalitionsschatten, geben SieIhrer liberalen Vernunft Platz. Dann werden Sie mit unsstimmen und Nein sagen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Thomas Kossendey.
T
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich bitte im Namen der Bundesregierung um die
Zustimmung zu diesem Mandat. Active Endavour ist ein
wichtiger Beitrag. Der Kollege Hoyer hat das hier ge-
rade vorgetragen. Ich glaube, Herr Kollege Groschek,
ein Blick in das Mandat hätte Ihnen manche Ihrer Be-
merkungen hier erspart.
Wenn Sie im Mandat unter Punkt 4 nachlesen, werden
Sie feststellen, dass die Operation Active Endavour ein
Ziel hat. Es soll ein Beitrag zu den Aktivitäten geleistet
werden, die Sie genannt haben. Zur Bundesmarine bzw.
zur Bundeswehr steht genau das darin, was Sie erwartet
haben:
– Danke schön, Herr Stinner: Deutsche Marine. –
In diesem Rahmen ergeben sich für die Bundes-
wehr insbesondere folgende Aufgaben: militärische
Präsenz auf See, Aufklärung, Überwachung, Lage-
bilderstellung auf und über See, Austausch und Ab-
gleich gewonnener Lagebildinformationen.
All das steht sehr präzise im Mandat.
Ich glaube, an der grundsätzlichen Aufgabenstellung
hat sich eigentlich gar nichts geändert. Sie haben sich
geändert, weil Sie vielleicht einem fragwürdigen Zeit-
geist nachlaufen, der Ihnen aufgrund des Hinweises von
Herrn Gabriel vielleicht die Chance gibt, in trüben Ge-
wässern – da, wo die Linken normalerweise die Ober-
hand haben – zu fischen.
Sie sagen, dass eigentlich niemand so genau weiß,
wer da ist. Es hätte nur eines kurzen Anrufes bedurft,
dann hätten wir Ihnen gesagt, welche Marineeinheiten
zum Beispiel in diesem Jahr bei Active Endavour dabei
waren. Es war „U 31“ als U-Boot dabei. Zwei Fregatten
und der Einsatzgruppenversorger waren dabei, und es
war auch – genau wie es im Mandat steht – auf Transit
die eine oder andere Marineeinheit am Horn von Afrika
dabei. Da haben wir weder etwas falsch gemacht, noch
falsch geschildert. Wir haben es sehr präzise in dem
Mandat gesagt.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfragedes Kollegen Erler?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8189
(C)
(B)
T
Das macht jetzt bei der kurzen Redezeit keinen Sinn. –
Ich glaube, die angespannte Situation, die wir in diesen
Tagen hier in Berlin erleben, zeigt uns, dass der interna-
tionale Terrorismus nichts von seiner Bedrohung und
seiner Unberechenbarkeit eingebüßt hat. Wir als Deut-
sche, als Mitglied in der Staatengemeinschaft, müssen,
glaube ich, deutlich machen, dass wir in unserer Ent-
schlossenheit, diesen Kräften etwas entgegenzusetzen,
nicht nachlassen. Gemeinsam müssen wir klare Signale
setzen: Wir lassen uns nicht einschüchtern, wir schützen
entschlossen Frieden und Freiheit, und wir treten auch
mit Überzeugung für unsere Werte ein.
Wenn Sie das UN-Mandat vielleicht nicht ganz so ju-
ristisch sicher sehen, möchte ich Sie darauf hinweisen,
dass der Sicherheitsrat am 13. Oktober in der Resolu-
tion 1943 noch einmal ausdrücklich eine fortdauernde
Unterstützung für die verschiedenen internationalen Be-
mühungen im Hinblick auf die Bekämpfung des interna-
tionalen Terrorismus beschlossen hat. Auch das sollte
Ihnen eigentlich zu denken geben.
Active Endeavour ist und bleibt ein wesentlicher Bei-
trag im Kampf gegen diesen internationalen Terrorismus
durch Präsenz auf See und durch gezielte Überwa-
chungsmaßnahmen. Damit erschweren wir die Nutzung
der traditionellen Transportwege durch terroristische
Kräfte, und wir schränken den Zugang zu potenziellen
Aktions-, aber auch zu potenziellen Rückzugsgebieten
ein.
Ich glaube, ein ganz wichtiger weiterer Aspekt ist,
dass sich mittlerweile viele Länder, die nicht NATO-
Staaten sind – Russland, die Ukraine oder Marokko –, an
diesen Aktivitäten beteiligen. Das stärkt diese Operation
nicht nur operativ; das stellt, wie ich glaube, auch einen
sehr wichtigen Beitrag zur einer längerfristigen und
nachhaltig vertrauensbildenden Kooperation mit wichti-
gen Partnerländern dar.
Auch unter diesem Aspekt ist Active Endeavour als ein
wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der gesamten Re-
gion zu werten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit 2002 beteiligen
sich deutsche Marinekräfte an dieser Operation und da-
mit an der Überwachung des Seeraums Mittelmeer.
Dazu gehören unter anderem, wie wir es im Mandat ge-
schrieben haben, die Erstellung eines maritimen Lage-
bildes, die Durchführung von Security-Operationen,
zum Beispiel das Abfragen, das Anhalten und das
Durchsuchen von Schiffen, sowie auch die Nachrichten-
gewinnung und die allgemeine Aufklärung. Darüber hi-
naus sichern wir Hochwertschiffe durch Begleitung.
Schiffe mit besonderer Ladung werden von Marineein-
heiten eskortiert.
– Entschuldigung, fragen Sie doch, was Sie fragen wol-
len.
– Ich meine, der Zwischenruf war etwas neben der Sa-
che.
Angesichts der Tatsache, dass die terroristische Be-
drohung fortbesteht, bleibt Active Endeavour ein ganz
wichtiger und angemessener Beitrag der NATO, um für
die Sicherheit dieses für Europa so wichtigen Seegebiets
zu sorgen. Unser deutscher Beitrag ist nicht nur ein kla-
res Zeichen unserer Bündnissolidarität – ich erinnere da-
ran, dass es Gerhard Schröder war, der uneingeschränkte
Solidarität versprochen hat –,
sondern es liegt auch im Interesse unserer eigenen Si-
cherheit, dort Präsenz zu zeigen und auch in Zukunft die
Aufgaben zu erfüllen, die wir im Mandat, das Ihnen vor-
liegt, eindeutig beschrieben haben.
Wir werden uns mit bis zu 700 Soldatinnen und Sol-
daten – das ist die Obergrenze – in Zukunft an dieser
Operation mit See- und Seeluftstreitkräften beteiligen.
Das schließt natürlich auch ein, Herr Groschek, dass sich
Marineeinheiten, die sich im Transit durch das Mittel-
meer befinden, an dieser Operation beteiligen.
Die Mandatsdauer ist bis zum 31. Dezember 2011
vorgesehen.
Ich bitte Sie, Ihre Position zu überdenken, und auch
im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten
um eine breite Zustimmung.
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Paul
Schäfer das Wort.
Werte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Die deutsche Beteiligung an dieser NATO-Militäropera-tion ist abzulehnen und schnellstmöglich zu beenden.Erstens, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass man mitmilitärischen Mitteln dem Terrorismus nicht beikommenkann.Zweitens, weil dieses Mandat, gestützt auf Art. 5NATO-Charta, schon längst für andere Zwecke miss-braucht wird. Wenn man genauer hinschaut, stellt manfest, dass es mit der Sicherung von Öltransporten – ichkomme gleich noch darauf – auch hier inzwischen umdie Durchsetzung bestimmter Wirtschaftsinteressen geht.
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8190 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Paul Schäfer
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Das gilt auch, weil unter das Mandat auch die Abwehrvon Flüchtlingen, die nach Europa wollen, gefasst wird.Drittens, weil für uns, das entsendende Parlament,überhaupt nicht mehr klar ist, wofür welche Marineein-heit wann eingesetzt wird. Dieses Blindekuhspiel hat mitdem Parlamentsbeteiligungsgesetz wenig zu tun. Dassollten wir nicht mit uns machen lassen.
Wir waren ja heilfroh, dass man aus OEF ausgestie-gen ist. Da hätte man gar nicht einsteigen dürfen, weildie militärische Bekämpfung des Terrorismus in der Tatnichts gebracht hat. Im Gegenteil: Sie verschärft dieLage in Afghanistan und auch hier.
Das gilt auch für die Mission Active Endeavour. DerAuftrag lautet, „Führungs- und Ausbildungseinrichtun-gen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu be-kämpfen, gefangen zu nehmen“. Sie haben mehr als100 000 Abfragen gemacht, mehr als 160 Boardings.Welcher Terrorist wurde gefangen genommen und vorGericht gestellt? Kein einziger!
Das ist doch der Punkt: Sie können nicht nachweisen,dass diese Mission irgendeinen Effekt hatte. Darum gehtes inzwischen allerdings auch gar nicht mehr.Sie sollten diesem Parlament jetzt ehrlich sagen, dasses darum geht, in Verbindung mit den Aktionen im Suez-kanal und im Indischen Ozean großflächig Räume zukontrollieren. Das klingt harmlos. Schaut man auf dieNATO-Homepage, findet man dort zum Beispiel alsAuftrag, dass systematisch Erdöl- und Erdgastransportebeschützt werden sollen. Man kann auch nicht von derHand weisen, dass die NATO-Mitgliedstaaten durch dieAufklärungsmissionen, die man durchführt, über Herr-schaftswissen verfügen. Das ist des Pudels Kern: Es gehtnicht um Territorialverteidigung, sondern darum, be-stimmte Interessen durchzusetzen. Dafür wollen wiraber keine Soldaten entsenden.
Wir sind für die Durchsetzung des Völkerrechts unddie Freiheit der Meere. Dabei handelt es sich aber – dasist der Punkt – um zentrale Aufgaben der Vereinten Na-tionen, nicht von exklusiven Machtblöcken und Militär-allianzen. Das ist doch der Punkt.
Inzwischen leiten Sie weitschweifende Aktivitätenaus dem Mandat ab, zum Beispiel die Abwehr illegalerImmigration und die Verhinderung von Flucht. Davonsteht aber nichts im Bundestagsmandat. Das ist doch Be-trug.
Das Problem ist aber nicht nur, dass im Bundestags-mandat nichts davon steht; das Problem ist auch, dasssolche Dinge tatsächlich gemacht werden. Der NATO-Kommandeur hat 2006 in Bezug auf die Amtshilfe fürGriechenland – hier ging es um Flüchtlinge – geschrie-ben, es gehe bei der Mission zwar um Kriminelle, aberman sende damit auch die Botschaft an die Terroristen:Wir suchen nach euch und wenn wir euch finden, gibt eskeinen Platz zum Verstecken. – Liebe Kolleginnen undKollegen, haben Sie gut zugehört? Das ist das, was ausdem Bundestagsmandat gemacht wird. Wir machen beidieser bedenklichen Praxis nicht mit.
Zur bedenklichen Praxis gehört auch, dass die Datenaller Schiffe, die einmal durch das Gebiet durchfahren,einfach zugeordnet und assigniert werden. Damit wer-den alle Schiffe und U-Boote, die durch das Gebiet fah-ren, der Operation Active Endeavour oder der OperationOcean Shield unterstellt. Meiner Meinung nach wirdhier die parlamentarische Kontrolle ad absurdum ge-führt. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz ist an dieserStelle sehr klar: Es regelt, dass der Auftrag und die Auf-gaben präzise benannt werden müssen. Soll es präzisesein, wenn nur von der „militärischen Präsenz auf See“die Rede ist? Der Auftrag und die Aufgaben müssen klarbenannt werden, ebenso die dafür vorgesehenen Kräfte.Davon kann in der Praxis keine Rede sein. Auch deshalblehnen wir das Mandat ab.Wir sagen Ihnen deshalb: Wenn Sie es mit dem Parla-mentsvorbehalt ernst meinen – wenn das Parlament da-rüber bestimmen soll –, gibt es Grund genug, jetzt inne-zuhalten und die Verlängerung des Mandats abzulehnen;sie ist aus friedenspolitischen Gründen ohnehin entschie-den abzulehnen. Die Bundeswehrbeteiligung an demMandat muss beendet werden.Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirsprechen heute über die mögliche Fortsetzung der deut-schen Beteiligung am Antiterroreinsatz OperationActive Endeavour. Ich möchte an dieser Stelle etwas Un-gewöhnliches machen, nämlich die Mission und dasMandat voneinander trennen.Herr Kollege Groschek, ich finde, für die Missiongilt: Das ist nicht ganz so heiß, wie es gekocht wird. Espassiert gar nicht so viel; man kann darüber reden, ob essinnvoll ist oder nicht. Ich möchte mich deshalb auf dieVersäumnisse beschränken, die ich beim Mandat gefun-den habe. Aus meiner Sicht gibt es vier Versäumnisse:Erstens. Es gibt sinnvolle Aspekte der Mission, überdie man im vorliegenden Mandat und in den Briefen derbeiden Minister, die versucht haben, das Mandat an dieFraktionen heranzutragen, an keiner Stelle etwas findet.Herr Staatssekretär, Sie haben heute zum ersten Mal da-rauf hingewiesen, dass NATO-Partner wie Russland, Is-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8191
Omid Nouripour
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rael, Marokko und die Ukraine daran beteiligt sind. Esist aus internationaler Sicht eine wirklich spannende Ge-schichte, dass die NATO mit diesen Ländern tatsächlichoperativ agiert. Das findet sich bisher nicht im Man-datstext wieder. Ich finde, es ist ein Riesenversäumnis,dass über das, was an der Mission sinnvoll sein könnte,überhaupt nicht gesprochen wird.Zweitens die Parlamentsbeteiligung. Im Hinblick da-rauf hat der Kollege Schäfer recht. Ich ging bisher ei-gentlich immer davon aus, dass Sie sich darum bemü-hen, in diesem Parlament breite Konsense herzustellenund dafür breit zu werben. Für die Parlamentsbeteili-gung gilt: Wir werden nicht immer automatisch infor-miert, wenn Schiffe eine Mission beginnen. In diesemFall sah die Parlamentsbeteiligung so aus, dass unsereFraktionsvorsitzenden einen Brief bekommen haben, indem steht: Wir bitten Sie, Ihre Fraktion über dieses Vor-haben der Bundesregierung zu informieren.Ich habe die Vorsitzenden meiner Fraktion angerufenund sie gefragt, was eigentlich in dem Brief steht. Daskonnten sie mir nicht beantworten, weil darin nichtsSubstanzielles zum Mandat stand. Hier gab es kein wirk-liches Bemühen darum, eine breite Unterstützung für dasMandat, für den Einsatz der Bundeswehr herzustellen.Herr Staatssekretär Kossendey, es wäre gut gewesen,wenn Sie das Gespräch gesucht hätten. Es reicht hiernicht aus, zu fragen: Warum habt ihr nicht angerufen?Sie wollten doch die Zustimmung des Hauses erreichen.Ein Gespräch hätte möglicherweise dazu geführt, dassmanche technische Missverständnisse, die im Raum ste-hen, von vornherein ausgeräumt worden wären.Im Gegenteil: Ich habe das Gefühl, dass diese spärli-che Informationspolitik in erster Linie auf einem Miss-verständnis seitens der Regierung beruht. Ich habe dasGefühl, dass die Regierung denkt, dies sei eine Exeku-tivmission. Darum geht es bei diesem Mandat aber defi-nitiv nicht.Das dritte Versäumnis: Ich kann nicht erkennen – daskonnte ich auch den Reden an keiner Stelle entnehmen –,welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit dieseMission beendet wird.
Wir reden jetzt seit 15 Jahren über Missionen und sagenimmer wieder: Dieser oder jener Punkt muss auf unsere„To do“-Liste für das nächste Mal; wir müssen noch ein-mal darüber nachdenken, was man anders machen muss. –Immer sind wir uns darüber einig, dass man Konditionenund Ziele formulieren muss, mit denen dargestellt wird,wann das Ganze zu Ende geht. Das fehlt hier völlig.Dazu ist nichts gesagt worden.Nun kann man das trotzdem alles für ausreichend er-achten, um der Mission zuzustimmen, weil man sie rich-tig findet.Damit komme ich zum letzten Versäumnis. Das be-trifft die völkerrechtliche Grundlage.
Die völkerrechtliche Grundlage fehlt. Das Einzige, wasich heute in der Debatte dazu gehört habe, war eine Äu-ßerung von Ihnen, Herr Staatsminister. Sie haben demKollegen Erler vorgeworfen, er habe auch bei OEF keineBedenken gehabt und die Mission sogar verteidigt. WirGrünen haben schon damals gesagt: OEF ist völker-rechtswidrig. Deshalb kommen wir auch an dieser Stellenicht mit.Die Grundlage für das OEF-Mandat und die Opera-tion Active Endeavour ist bis heute das Selbstverteidi-gungsrecht der Amerikaner, das im Jahr 2001 von denVereinten Nationen anerkannt wurde. In diesem Be-schluss der Vereinten Nationen finden Sie sehr genaueund sehr präzise Rückbezüge auf die Regionen, von de-nen die Gefährdung ausgeht. So ist die Operation ActiveEndeavour nicht mehr begründbar. Sie haben es ja auchgar nicht versucht; weder der Minister noch Sie habendas versucht. Auch in dem Antragstext wird nicht ver-sucht, zu begründen, inwiefern die Vereinigten Staatenvon Amerika im Aktionsraum der Operation Active En-deavour ihre eigene Sicherheit gewährleisten.Sie sind zwar stolz darauf, dass wir jetzt einen Sitz imVN-Sicherheitsrat haben, aber Sie haben es versäumt,diese Gelegenheit zu nutzen, um auf einen Beschluss derVereinten Nationen hinzuwirken, mit dem das Mandateine völkerrechtliche Grundlage bekommen hätte. Ichglaube nicht, dass das schwierig gewesen wäre. SolltenSie einen solchen Beschluss nicht bis zur nächsten Le-sung erreichen – das ist meines Wissens in der nächstenWoche –, dann fühle ich mich nicht imstande, meinerFraktion zu empfehlen, diesem Mandat zuzustimmen.
Nun hat das Wort der Kollege Philipp Mißfelder für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Kollege Nouripour, sicherlich werden wir dieGelegenheit nutzen – der Kollege Hahn vom Verteidi-gungsausschuss, die Kollegen Kiesewetter, Brand undich haben uns schon beraten – und das eine oder andereMissverständnis bis zur Schlussberatung beseitigen. Ichstimme Ihnen zu, dass wir auch bei dieser Frage versu-chen sollten, einen möglichst breiten Konsens in diesemHaus herzustellen. Das ist das Anliegen der Regierung;das ist auch unser Anliegen als Mehrheitsfraktion.Um vielleicht schon einmal eine Kleinigkeit auszu-räumen, empfehle ich Ihnen, den Antrag noch einmaldurchzulesen. Das ist hilfreich, weil der Schlusssatz ei-nen ausdrücklichen Hinweis auf die Ukraine und Russ-land enthält. Damit ist zumindest einer der Punkte, diefür Sie kritikwürdig sind, schon ausgeräumt. Bis zumEnde des Textes lesen, hilft bei der einen oder anderen
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8192 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010
Philipp Mißfelder
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Akte, generell bei Vorgängen. Das soll die eine oder an-dere Diskussion auch schon erspart haben.Was den Auftrag angeht, sage ich: Er ist klar umris-sen. Das ist im Mandat eindeutig formuliert. HerrSchäfer hat das paraphrasiert. Er hat von der Jagd aufTerroristen gesprochen. Es ist so:Die Operation Active Endeavour hat weiterhin zumZiel, einen Beitrag dazu zu leisten, Führungs- undAusbildungseinrichtungen von Terroristen auszu-schalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zunehmen und vor Gericht zu stellen …
Weiter heißt es:– militärische Präsenz auf See,– Aufklärung, Überwachung und Lagebilderstel-lung auf und über See,– Austausch und Abgleich gewonnener Lagebild-informationen mit weiteren Akteuren im Rah-men des Auftrages,– Kontrolle des Seeverkehrs,– die ist ausdrücklich erwähnt –– temporäre Führung der maritimen Operation,– Lufttransport zur Unterstützung der maritimenOperation,– Eigensicherung und Nothilfe.Das umreißt sehr klar das, worum es in der Missionkonkret geht.
Deshalb kann ich Ihre Kritik an dieser Stelle nicht teilen.Denn eines ist klar: Bei der Terrorismusbekämpfunggeht es nicht darum – Herr Schäfer und Herr Nouripour,in diesem Punkt möchte ich Sie beide korrigieren –, aus-schließlich Amerika zu schützen. Es ging im Falle derNATO-Mandatierung darum, die Wertegemeinschaft derNATO-Mitglieder insgesamt zu schützen.
Völkerrechtlich gibt es mehrere Grundlagen; der Einsatzist auch mandatiert durch VN-Resolutionen. Es ist dochso: Aufgrund einer Lageeinschätzung kommt man nurselten zu dem Schluss, dass die terroristische Bedrohungvon innen kommt. Die terroristische Bedrohung wirdvielmehr von außen in ein Land hineingetragen. Insofernsind entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, mit denenman dem Terrorismus Einhalt gebieten kann.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Herr Ströbele, ich freue mich darüber. Was Zwischen-
fragen in dieser Legislaturperiode angeht, haben Sie den
Rekord gebrochen.
Ich will mich beeilen, weil wir alle Feierabend ma-
chen wollen. – Ich habe schon entsprechende Zwischen-
fragen gestellt und wollte auch Ihre Vorredner danach
fragen: Können Sie mir erklären, was denn im letzten
Jahr – das Mandat soll ja jedes Jahr erneuert werden –
von dieser ruhmvollen Truppe an Aktivitäten geleistet
worden ist? Was machen die da eigentlich? Heißt Prä-
senz zeigen, dass sie über das Mittelmeer schippern? Wir
wissen, dass Griechenland und die Türkei NATO-Staa-
ten sind. Was ist also der Unterschied zu dem, wie die
Schiffe dieser Staaten üblicherweise über das Mittelmeer
schippern?
Was haben sie konkret gemacht? Haben sie irgendwo et-
was ausgehoben? Haben sie irgendjemanden festgenom-
men oder ähnliche Aktionen durchgeführt?
Herr Ströbele, Sie haben heute so viele Zwischenfra-gen gestellt. Da Sie also fast den ganzen Tag gestandenhaben, können Sie sich meinetwegen bei der Beantwor-tung Ihrer Frage hinsetzen.
In der Tat ist es ja so, dass ein Element unserer Kon-zeption der Terrorismusbekämpfung ist, Präsenz zu zei-gen. Was findet denn im Moment um das Reichstagsge-bäude herum statt? Das ist doch nichts anderes, alsPräsenz zu zeigen. Wir stehen bei der Terrorismusbe-kämpfung in einer Partnerschaft mit den anderen NATO-Staaten. Es ist also nicht so, dass die deutsche Marine al-leine herumschippert. Herr Ströbele, schon das Wort„herumschippern“ zeigt an dieser Stelle, wie wenig Siein der Lage sind, gegenüber den Soldatinnen und Solda-ten den Respekt zum Ausdruck zu bringen, den sie ver-dient haben.
Aber an diesem Wort will ich mich jetzt nicht aufhän-gen, auch wenn Sie es vorhin vielfach verwendet haben.Präsenz zeigen, heißt aus meiner Sicht, präventiv inein Stadium der Terrorismusbekämpfung einzutreten.Dazu ist diese Mission da. – Ich denke, Ihre Frage ist da-mit beantwortet.
– Wir haben nächste Woche Gelegenheit, noch einmaldarüber zu diskutieren. Vielleicht lässt Sie Ihre eigeneFraktion dann endlich auch einmal zu Wort kommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8193
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Herr Kollege, bevor Sie mit Ihrer Rede fortfahren,
möchte ich fragen, ob Sie noch eine Zwischenfrage des
Herrn Kollegen Mützenich gestatten?
Bitte.
setzt, selbst wenn es jetzt dem einen oder anderen um
diese Uhrzeit schwerfällt, selbst wenn es jetzt vielleicht
eine undankbare Tätigkeit ist, hier noch zu sitzen und
nicht anderen parlamentarischen Verpflichtungen nach-
gehen zu können, die vergnügungsvoller sind.
In der Tat finde ich es doch richtig, dass wir auch aus
Respekt gegenüber denjenigen, die in unserem Namen
Herr Kollege, ich wollte mich dafür bedanken, dass
Sie erwähnt haben, dass offensichtlich auch nach Ihrer
Auffassung die eine oder andere Unklarheit in der Man-
datierung, also in dem, was die Bundesregierung dem
Parlament überantwortet hat, in den nächsten Tagen zu
klären ist. Ich glaube, dass wir im Auswärtigen Aus-
schuss und in den mitberatenden Ausschüssen dazu eine
Debatte brauchen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zu
dieser Klarheit beitragen würden.
Aber da die beiden Vertreter der Bundesregierung
vorhin nicht willens waren, zur Aufklärung beizutragen,
würde ich Sie gerne fragen, was denn die Ankündigung
des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Herrn Hoyer,
bedeutet, dass es möglicherweise in Zukunft zu einer Art
integrierenden Mandatierung für eine Fortschreibung der
Operation Active Endeavour kommen könnte. Liegt Ih-
nen eine weitere Information vor? Wird es über dieses
Mandat hinausgehen? Wie könnte man das begründen?
Leider liegt mir keine Information vor. Dazu, wie
man das begründen könnte, fällt mir viel ein. Wir wer-
den die Gelegenheit nutzen, auch an dieser Stelle für
Klarheit zu sorgen. Unser Angebot ist doch ganz eindeu-
tig. Für die SPD hat Herr Groschek Kritik ja nicht an der
Mission selbst geübt, sondern hat eine für den Zuschauer
vielleicht etwas verwirrende Kritik an der Mandatierung
vorgetragen. Es ist richtig, dass wir uns damit ernsthaft
beschäftigen. Unser Ansinnen ist es, bis zur Schlussbera-
tung einen größtmöglichen Konsens herzustellen; das ist
selbstverständlich. Darum werden wir uns auch in den
nächsten Tagen bemühen. Der Auswärtige Ausschuss
muss sich darum bemühen und soll sich damit in seiner
nächsten Sitzung beschäftigen.
Meine Damen und Herren, was ich zum Thema Man-
datierung noch einmal festhalten will – ich sage das,
weil gerade angeklungen ist, wir müssten das jedes Jahr
beschließen –: Ich finde es gut, dass sich der Deutsche
Bundestag so intensiv mit den Mandaten auseinander-
und zum Schutz der deutschen Bürgerinnen und Bürger
im Einsatz sind, immer über den besten Weg diskutieren
und darum ringen, wie wir diese Mandate auf den Weg
bringen können.
Denn bei den vielen Auslandseinsätzen, die es momen-
tan gibt – teilweise wird ja in der öffentlichen Wahrneh-
mung die Arbeit des Auswärtigen Ausschusses ganz auf
die Mandate reduziert –, bin ich der Meinung, dass der
Parlamentsvorbehalt und die parlamentarische Beratung
einen so hohen Stellenwert haben, dass wir uns selber
hinterfragen müssen, dass wir diskutieren: Welche Fort-
schritte gibt es? Welche Kritikpunkte gibt es? Dann,
wenn wir eine Entscheidung getroffen haben, müssen
wir auch dazu stehen und von dieser Stelle die Soldatin-
nen und Soldaten im Auslandseinsatz kraftvoll unterstüt-
zen. Darum geht es auch bei diesem Mandat. Deshalb
werden wir daran arbeiten, dass an diesem Punkt der
Konsens in diesem Haus so groß wie möglich ist.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3690 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Erhebt sich dagegen
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Damit wir sind wir auch schon am Schluss unserer
heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destags auf morgen, Donnerstag, 25. November 2010,
9 Uhr, ein.
Ich danke Ihnen herzlich dafür, dass sie so lange aus-
geharrt und diskutiert haben.
Ich wünsche einen schönen Abend und schließe die
Sitzung.