Gesamtes Protokol
GutenTag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung isteröffnet.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, teile ich mit,dass die Kollegin Antje Hermenau ihr Amt als Schriftfüh-rerin niedergelegt hat. Als Nachfolger wird der KollegeJohannes Kahrs vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist derKollege Kahrs als Schriftführer gewählt.Sodann mache ich darauf aufmerksam, dass nach einerinterfraktionellen Vereinbarung die heutige Tagesord-nung erweitert werden soll. Die Punkte sind in der Ihnenvorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:ZP 5 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesGesetzes über das Verbot des Verfütterns, des innergemein-schaftlichen Verbringens und derAusfuhr bestimmter Fut-termittel – Drucksache 14/4764 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses fürErnährung, Landwirtschaft und Forsten
– Drucksache 14/4838 –Berichterstattung:Abgeordneter Peter BleserZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz, Horst Seehofer, Wolfgang Lohmann, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der CDU/CSU: Sofortprogramm zurAbwehr von Gefahren durch BSE – Drucksache 14/4778
–
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für GesundheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich,Detlef Parr, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der F.D.P.: Vorrang für einen vorsorgenden Verbrau-cherschutz bei der Bekämpfung von BSE – Drucksache14/4852 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für GesundheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussDiese Zusatzpunkte sollen zusammen mit dem Einzel-plan 10 – Ernährung, Landwirtschaft und Forsten – auf-gerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.Wir setzen die Haushaltsberatungen fort:III. a) Zweite Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2001
– Drucksachen 14/4000, 14/4302 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses
zu der Unterrichtung durch die BundesregierungFinanzplan des Bundes 2000 bis 2004– Drucksachen 14/4001, 14/4301, 14/4524 –Berichterstattung:Abgeordnete Dietrich AustermannHans Georg WagnerOswald MetzgerDr. Werner HoyerDr. Christa LuftIch rufe auf:III.19 Einzelplan 11Bundesministerium für Arbeit und Sozialord-nung– Drucksachen 14/4511, 14/4521 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Konstanze WegnerHans-Joachim FuchtelAntje HermenauDr. Günter RexrodtDr. Christa LuftEs liegen ein Änderungsantrag der Fraktion derCDU/CSU, zwei Änderungsanträge der Fraktion derF.D.P. und vier Änderungsanträge der Fraktion der PDS13341
137. SitzungBerlin, Donnerstag, den 30. November 2000Beginn: 12.00 Uhrvor. Über den Änderungsantrag der Fraktion derCDU/CSU und über einen Änderungsantrag der Fraktionder F.D.P. werden wir später namentlich abstimmen. DieFraktion der F.D.P. hat einen Entschließungsantrag einge-bracht, über den morgen nach der Schlussabstimmung ab-gestimmt wird.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Karl-Josef Laumann von der CDU/CSU-Fraktiondas Wort.Karl-Josef Laumann (von der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute den Haushaltdes Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Wirmüssen heute in diesem Haushalt nicht über innovativeund neue Ansätze in der Sozialpolitik diskutieren; dennsie sind einfach nicht zu finden.
Wir müssen heute Morgen jedoch leider über die gewal-tige Verschiebung von Lasten aus dem Bundeshaus-halt in die Sozialversicherungen diskutieren, zulastender Arbeitslosenversicherung, zulasten der Rentenversi-cherung und zulasten der Krankenversicherung.Erstes Beispiel: 400 Millionen DM werden der Pflege-versicherung entzogen, da Sie die Beiträge für die Ar-beitslosenhilfebezieher im Bundeshaushalt weiterhin bei50 Prozent des Zahlbetrages belassen. Deswegen gibt esin der Pflegeversicherung kein Geld für notwendige Leis-tungen für Demenzkranke.Zweites Beispiel: Sie halten an den verschlechtertenRenteneinzahlungen für die Wehr- und Zivildienstleis-tenden fest. Früher hatte ein Zivil- und Wehrdienstleis-tender bei zehn Monaten geleistetem Wehr- oder Zivil-dienst einen Rentenanspruch von 32 DM im Jahr, heute,bei Ihnen, nur noch von 24 DM. Das heißt, Sie nehmen je-mandem, der seinen Dienst tut, zu dem wir ihn verfas-sungsrechtlich verpflichten, im Alter 100 DM Rente weg.Was ist das eigentlich für eine Botschaft für die jungenLeute in diesem Lande, die noch bereit sind, sich für un-sere Gesellschaft einzusetzen?
Drittes Beispiel: Sie senken die Krankenversiche-rungsbeiträge für die Arbeitslosenhilfebezieher. Auchhier müssen die anderen Krankenversicherten die Entlas-tungen im Bundeshaushalt finanzieren.Viertes Beispiel: Sie mindern die späteren Rentenan-sprüche der Empfänger von Arbeitslosenhilfe, indemSie die Beiträge der Bundesanstalt für Arbeit zur Renten-versicherung senken. Sie entziehen damit der Rentenver-sicherung 4 Milliarden DM. Noch viel schlimmer ist:Früher hat sich ein Bezieher von Arbeitslosenhilfe in ei-nem Jahr einen Rentenanspruch in Höhe von durch-schnittlich 39 DM erworben; aufgrund Ihrer Änderungensinkt dieser Anspruch auf durchschnittlich 15 DM. Erklä-ren Sie das doch bitte einmal den Menschen in Ost-deutschland, die zum Zeitpunkt der Wende 50 Jahre altwaren und deshalb aufgrund der strukturellen Verände-rungen große Probleme hatten, auf dem Arbeitsmarkt Fußzu fassen. Vom Bundesarbeitsminister und von den Sozi-alpolitikern von Rot-Grün hört man nichts darüber, wiesich die Situation dieser Menschen verbessern ließe. Dasist eine wirklich schlimme Entwicklung.
Selbst in meinen kühnsten Vorstellungen über rot-grüne Sozialpolitik hätte ich mir nie träumen lassen, dassSie gerade denjenigen, die im Alter ohnehin die niedrigs-ten Renten haben werden, die Rentenanwartschaftenmehr als halbieren. Das ist ein Armutszeugnis Ihrer So-zialpolitik und zeugt davon, dass Sie über ein sehr schwa-ches sozialpolitisches Gewissen verfügen.
Bei Ihnen weiß man auch nicht, was Sie überhauptwollen. Auf der einen Seite sagen Sie, wir müssten die Ba-sis der Pflichtversicherten in der Rentenversicherung aus-weiten – Stichworte 630-DM-Gesetz, Scheinselbststän-digkeit –, und auf der anderen Seite bringen SieGesetzentwürfe in den Deutschen Bundestag ein, die zurFolge haben, dass Gruppen, die schon immer Mitgliederin der Rentenversicherung waren, aus dieser ausscheidenkönnen; die Tanzlehrer, die Fahrlehrer und die selbststän-digen Lehrer an Volkshochschulen lassen grüßen.Wir unterhalten uns heute über einen großen Verschie-bebahnhof: Die geplanten Strukturanpassungsmaßnah-men müssen in Höhe von 1,7Milliarden DM von den Bei-tragszahlern finanziert werden, das Sonderprogramm fürLangzeitarbeitslose im Umfang von 750 Millionen DMmuss ebenso vom Beitragszahler finanziert werden, dieBeiträge für Bezieher von Arbeitslosenhilfe in der Pflege-versicherung in Höhe von 400 Millionen DM müssen vonden anderen Beitragszahlern kompensiert werden, in derKrankenversicherung müssen 1,2 Milliarden DM kom-pensiert werden, weil Sie Ihren Haushalt auf Kosten derKrankenversicherung finanzieren, und die Rentenversi-cherung wird mit 4,1 Milliarden DM belastet.Das JUMP-Programm, das Sie wie eine Monstranzals Sinnbild für Ihre Erfolge bei der Bekämpfung der Ju-gendarbeitslosigkeit vor sich hertragen, wird jetzt alleindurch Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern fi-nanziert; das heißt, kein Abgeordneter, kein Lehrer undkein Freiberufler zahlt mehr für diese gesamtgesellschaft-liche Aufgabe. Was denken Sie sich eigentlich dabei, indiesem Land eine solche Verschiebepolitik zu machen?
Jetzt kommt es noch schlimmer: Sie haben im nächs-ten Jahr Einnahmen aus der Ökosteuer in Höhe von23,4 Milliarden DM und werden damit die Beitragszahlerzur Rentenversicherung wahrscheinlich um 19,4 Milliar-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms13342
den DM entlasten; hier wird schon eine Differenz von4 Milliarden DM deutlich. Wenn Sie dann noch in ande-ren Sozialversicherungssystemen – ich habe schon davongesprochen – über 10 Milliarden DM an Ausgaben vonder Haushaltsfinanzierung in die Beitragsfinanzierungumschichten, ist das schlicht und ergreifend Betrug. WennSie den Leuten heute noch sagen, sie müssten die Öko-steuer zum Zwecke der Beitragsentlastung zahlen, istdas Betrug, da nur noch ganze 9 Milliarden DM aus demÖkosteueraufkommen zur Beitragsentlastung zur Verfü-gung stehen, weil Sie 10 Milliarden DM aus dem Haus-halt in die sozialen Sicherungssysteme verlagern.
Damit Sie einfach mal wissen, worüber wir hier reden:Wenn zur Zeit von Christi Geburt ein Mensch eine Milli-arde DM gehabt hätte, hätte er heute noch etwas davonübrig, selbst wenn er jeden Tag 1 000 DM ausgegebenhätte. Sie verschieben zehn Mal so viel aus dem Steuer-haushalt in die Sozialkassen. Auf diese Weise sind wir un-ter Riester in einer sozialpolitischen Eiszeit angelangt.
Herr Kol-
lege Laumann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Dreßen?
Bitte schön.
Herr Kollege Laumann, würden
Sie mir zugestehen, dass während der Regierungszeit von
CDU/CSU und F.D.P. durch die berühmten Fremdleis-
tungen in der Rentenversicherung ein Fehlbetrag im
Umfang von 40 bis 50 Milliarden DM entstanden war?
– Herr Kollege Blüm, Sie wissen genauso gut wie ich,
dass wir damals einen Bundeszuschuss in Höhe von
60 Milliarden DM hatten, aber Fremdleistungen im Um-
fang von 100 Milliarden DM – nachgerechnet von Ihrem
damaligen Staatssekretär – finanzieren mussten. Da gab
es also eine riesige Lücke. Das heißt, Sie haben damals in
die Kassen anderer gegriffen, um Fremdleistungen in der
Rente zu finanzieren. Gestehen Sie zumindest zu, dass das
nicht mehr der Fall ist, dass wir die Beiträge nur noch
dafür nehmen, um die Renten über die Beiträge, die
tatsächlich gezahlt wurden, zu finanzieren? Die Fremd-
leistungen sind wirklich endlich weg aus der Rentenver-
sicherung.
Herr
Kollege Laumann, wollen Sie jetzt antworten oder gestat-
ten Sie eine Frage des Kollegen Blüm?
Die Frage des
Kollegen Blüm höre ich sehr gern, damit endlich sozial-
politische Kompetenz in die Fragestellung hineinkommt.
Herr Kollege
Laumann, können Sie bestätigen, dass am Ende der Re-
gierungszeit Kohl der Bundeszuschuss zur Rentenver-
sicherung höher war als zu jeder Zeit vor uns, und zwar
absolut und prozentual? Damit hat er alle Fremdleistun-
gen weit übertroffen. Wir haben nie den Bundeszuschuss
gekürzt. Auch das unterscheidet uns von unseren Vorgän-
gern.
Lieber Kollege
Blüm, das bestätige ich Ihnen sehr gerne. Auch die Sozi-
aldemokraten müssten sich daran erinnern, dass wir Mo-
nate vor der Wahl gemeinsam eine Mehrwertsteuer-
erhöhung von 1 Prozent beschlossen haben, um den Bun-
deszuschuss zur Rentenversicherung zu erhöhen. Damals
waren sich die Redner sowohl von Ihrer als auch von un-
serer Seite einig, dass wir das wegen der versicherungs-
fremden Leistungen so machen müssen und dass die da-
mit abgegolten sind.
Ich gestehe Ihnen zu, dass Sie die Ökosteuer nehmen,
um den Rentenversicherungsbeitrag zu entlasten. Wenn
Sie die Rentenversicherung isoliert sehen, ist es so. Aber
Sie stecken jetzt 10 Milliarden DM, die bislang steuerfi-
nanziert waren, wieder in die Sozialversicherung. Das ist
das Inkonsequente Ihrer Politik.
Dass der Finanzminister das versucht, verstehe ich,
aber wir brauchen in Deutschland wieder einen Arbeits-
minister, der sich mit Tapferkeit und Klugheit gegen sol-
che Pläne eines Finanzministers wehrt. Den haben wir
zurzeit nicht. Das war früher in unserem Land anders.
Kollege
Laumann, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des
Kollegen Andres?
Selbstverständ-
lich.
Bitte
schön, Herr Andres.
Herr Kollege Laumann, könnenSie bestätigen, dass im Dezember des Jahres 1997 aufInitiative der damaligen Bundesregierung im Bundesratbeschlossen wurde, dass die Mehrwertsteuer um einenProzentpunkt erhöht wird, und dass das Ergebnis der ein-prozentigen Erhöhung unmittelbar in die Rentenversiche-rung geflossen ist, damit verhindert wird, dass der Beitrag
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Karl-Josef Laumann13343
auf 21 Prozent steigt? Können Sie bestätigen, dass da-durch jeder Käufer, der Mehrwertsteuer bezahlen muss,unmittelbar Leistungen für die Rentenversicherung er-bringt? Können Sie bestätigen, dass wir in diesem Jahr22Milliarden DM unmittelbar an die Rentenversicherungbezahlen, um echte Beiträge für Kindererziehungszeitenzu gewährleisten, und dass wir noch einmal rund 3 Milli-arden DM aufbringen, um einigungsbedingte Lasten, ins-besondere aus den Auffüllbeträgen, der Rentenversiche-rung zu erstatten? Können Sie bestätigen, dass dasMaßnahmen waren, von denen Sie in Ihrer Regierungszeitimmer geträumt haben, die Sie aber nicht realisierenkonnten?
Bestätigen kann
ich Ihnen, dass wir die Mehrwertsteuer – das habe ich
gerade gesagt – gemeinsam angehoben haben, um den
Bundeszuschuss zu erhöhen. Es ist unstreitig, dass es
allgemeingesellschaftliche Aufgaben in der Rentenver-
sicherung gibt, die steuerfinanziert werden müssen und
die nicht nur der Beitragszahler finanzieren kann. Dazu
haben wir immer gestanden. Es ist unstreitig, dass das
allgemeingesellschaftlich getragen werden muss. Diese
Diskussionen haben wir ja nicht nur beim VdK und beim
Reichsbund. Solche versicherungsfremden Leistungen
haben wir immer steuerfinanziert. Es ist allerdings auch
wahr, lieber Herr Kollege Andres, dass über die Defini-
tion der versicherungsfremden Leistungen nie Ein-
mütigkeit besteht. Jeder packt dort etwas herein, wozu er
lustig ist. Der große Unterschied in der Philosophie zwi-
schen Ihnen und uns ist folgender: Wir waren der
Meinung, dass die Kindererziehungszeiten zum Genera-
tionenvertrag der Rente gehören. Wir haben die Kinderer-
ziehungszeiten in dem Moment, in dem sie zu einer Rente
geführt haben, über Steuermittel der Rentenversicherung
erstattet. Sie zahlen nun quasi für das Baby Beiträge ein.
In unserer Regierungszeit wurden die Leistungen der
Rentenkasse für die Kindererziehung über Steuereinnah-
men finanziert. Unser damaliges Modell war genauso wie
Ihr heutiges steuerfinanziert.
Lieber Kollege Andres, die Wahrheit ist nun einmal:
Die Einnahmen aus der Ökosteuer liegen bei 23 Milliar-
den DM. Davon dienen 19 Milliarden DM der Beitrags-
entlastung. Sie als Mitglied dieser Bundesregierung
haben aber zu verantworten, dass mehr als 10 Milliar-
den DM – sie wurden über viele Jahrzehnte teilweise über
den Bundeshaushalt finanziert; ich denke an Langzeitsar-
beitslosenprogramme; ich erinnere an Ihr JUMP-Pro-
gramm; der Staat kommt für die Beiträge der Arbeitslo-
senhilfebezieher an die Sozialversicherungssysteme auf –
den Beitragszahlern „in die Jacke“ getan werden. Das ist
eine Sauerei.
Betrachtet man die Sozialversicherung insgesamt, er-
kennt man, dass in Wahrheit nur noch 9 Milliarden DM
zur Beitragsentlastung zur Verfügung stehen. Ihre Be-
hauptung, die Ökosteuer stehe für eine Beitragsentlastung
– die Einnahmen durch die Ökosteuer liegen bei 23 Mil-
liarden DM, aber davon dienen nur 9 Milliarden DM der
Beitragsentlastung –, ist Betrug an den Menschen.
Außerdem bleibe ich dabei: Es gibt für die Rentenver-
sicherung bessere Möglichkeiten, an Geld zu kommen,
als die Menschen über die Tankwarte abzukassieren.
Auch in diesem Punkt ist unsere Position grundsätzlich
anders als Ihre.
Herr Kol-
lege Laumann, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage
des Kollegen Andres?
Nein.
Ich
möchte eigentlich auch keine weiteren Zwischenfragen
zulassen; sonst verzögert sich der Zeitablauf zu stark.
Des Weiterenmüssen wir uns hier darüber unterhalten, dass wir es miteinem gespaltenen Arbeitsmarkt zu tun haben. DieLangzeitarbeitslosigkeit in Ostdeutschland ist um9,2 Prozent angestiegen. Das bedeutet, dass es in Ost-deutschland 38 000 Langzeitarbeitslose mehr gibt. Selbstdie Arbeitslosigkeit der unter 25-Jährigen ist um 11,6 Pro-zent gestiegen. Wir sollten uns gemeinsam über die Spal-tung des Arbeitsmarktes in Deutschland zwischen Ost undWest Sorgen machen.Ich hoffe, dass wir uns zumindest, was manche Ten-denzen zur Gewaltbereitschaft von jungen Menschenin unserem Land angeht, einig sind. Ich beschränke dasausdrücklich nicht auf Ostdeutschland. Auch ich finde dieDiskussion, wie sie zurzeit teilweise geführt wird, nichtrichtig. Gewaltbereitschaft ist vielleicht eher bei Jugend-lichen anzutreffen, die nach der Schulzeit keine berufli-chen Perspektiven haben. Wir müssen uns diese Entwick-lung genau anschauen – sie ist in Ostdeutschland stärkerals in Westdeutschland ausgeprägt –, um sie besser in denGriff zu bekommen.Ich biete der Regierung heute noch einmal an, gemein-sam darüber zu sprechen, wie wir die wenigen Jugendli-chen, die nicht bereit sind, unsere Angebote zu Qualifi-zierung und Arbeit anzunehmen – diese Jugendlichengibt es auch –, besser motivieren können und über mehrDruck vielleicht sogar zwingen sollten, eine Beschäfti-gung anzunehmen. In Holland sind Modelle entwickeltworden, die wir uns einmal anschauen und umzusetzenversuchen sollten. Ich bin für meine Fraktion bereit, daranmitzuwirken – notfalls bis hin zu gravierenden Gesetzes-änderungen. Ich sehe nicht ein, dass ein junger Mensch,dem Arbeit oder Ausbildung angeboten wird, die er ab-lehnt, weiterhin nahezu unbegrenzt über die Sozialhilfeunterhalten wird. Wir tun weder den Jugendlichen nochder Gesellschaft einen Gefallen, wenn wir die bisherigePraxis unverändert lassen.
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Gerd Andres13344
Ich wünsche mir, dass wir hier in Bezug auf Problem-gruppen des Arbeitsmarktes – ich denke zum Beispielan ältere Arbeitslose – eine unideologische Debatteführen. Was kann man dafür tun, dass der Arbeitsmarktsolche Menschen eher aufnimmt? Ich stelle diese Fragesowohl im Hinblick auf eine Verbesserung von Förder-maßnahmen als auch im Hinblick auf eine Änderung derarbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen. Wenn man ver-sucht, das Arbeitsrecht zu ändern, dann sollte man inten-siv über mögliche Auswirkungen nachdenken. Sie aberbezeichnen jegliche Überlegung in diese Richtung vonvornherein als Instrument aus der Folterkammer zumNachteil der Arbeitnehmer. Ich halte das nicht für richtig.Lassen Sie uns einmal überlegen, ob es Möglichkeitengibt, den Kündigungsschutz für Ältere so zu ändern, dasssie bessere Chancen haben, eingestellt zu werden. Ich er-innere daran, dass die heutigen Kündigungsschutzklagenzu 98 Prozent Abfindungsklagen sind. Lassen Sie uns ge-meinsam überlegen, was man tun kann, um für etwasmehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen.Ich finde es sehr traurig, dass in unserem Land eine an-scheinend ideologisierte Debatte über das Betriebsver-fassungsgesetz geführt wird. Dass sie ideologisiert ist,liegt im Übrigen daran, Herr Riester, dass Ihr Haus bisheute keinen Gesetzentwurf auf den Tisch gelegt hat, derklarmacht, wohin die Reise geht. Solange man die Dingein der Schwebe lässt, ist es immer so, dass herumspeku-liert wird und der eine oder andere Horrorgemälde ent-wirft. Wenn Sie mutiger wären und schneller entscheidenwürden, dann hätten Sie der dem Betriebsverfassungsge-setz zugrunde liegenden Idee vieles erspart. Ich warne Siesehr davor, weiterhin alles reglementieren zu wollen. Wirbrauchen eine Öffnung der Tarifverträge. Wenn die Sozi-alpartner eines Betriebes Angelegenheiten wie die Mitbe-stimmung anders organisieren wollen – beide Seiten müs-sen darin übereinstimmen –, dann muss das möglich sein.
Wir sollten auch nicht nur über das Wahlverfahren re-den. Das ist billig. Für mich ist klar: In Kleinbetriebendarf das Wahlverfahren nicht komplizierter sein als dieAufstellung eines Bundestagsabgeordneten.
Wir sollten darüber reden, wie die Sozialpartner mehr fürdie Qualifizierung machen können. Wir sollten realistischsein und nicht an die Schwellenwerte herantreten; sie ha-ben sich bewährt. Aber all diese Dinge sind zu regeln. Le-gen Sie endlich Lösungsvorschläge vor und sorgenSie damit dafür, dass diese Debatte aufhört. Denn Be-triebsverfassung, Mitbestimmung und soziale Partner-schaft sind für Deutschland eher ein Standortvorteil alsein Standortnachteil.
Das will ich vor allem in Richtung derjenigen sagen, dieimmer nur kritisieren.
Herr Riester, ich muss nun in dieser Debatte leider et-was ansprechen, was mit der Führung Ihres Hauses zu-sammenhängt. Unter Blüm gab es im Arbeitsministeriumwichtige Beamte, die loyal mit ihm zusammengearbeitethaben, obwohl sie eine andere parteipolitische Präferenzhatten als Herr Blüm. Heute haben Sie nur einen Abtei-lungsleiter – der geht nächstes Jahr in Pension –, der nichtIhr Parteibuch hat.
Dass das von Herrn Achenbach und von Herrn Tegtmeierorganisiert wird, die trotz SPD-Parteibüchern hervorra-gend mit Blüm zusammengearbeitet haben, ist für micheine menschliche Enttäuschung.
Dass Sie das alles mitmachen, zeigt, dass Sie in diesenFragen kleinkariert denken – das hätte ich nicht gedacht –oder dass Sie Angst haben. Wenn man Angst hat, dann istman unsicher, und wenn man unsicher ist, umgibt mansich wie in einer Wagenburg nur mit eigenen Leuten.
Ich erwarte, dass Sie diese Dinge ändern.Ich möchte nun noch etwas zur Rente sagen. Dass wirbei der Rente in einer so schwierigen Situation stecken,liegt auch daran, dass die Menschen wegen Ihrer Politikkein Vertrauen zur Rentenversicherungmehr haben. Wirhaben nämlich keine Rentenformel mehr. Sie ändern invier Jahren viermal die Rentenformel. Was sollen uns dieLeute hinsichtlich der Sicherheit noch glauben? StellenSie sich einmal vor, Ihre Feuerversicherung würde die Be-dingungen, unter denen Sie Ihr Haus versichert haben, invier Jahren viermal ändern! Dann würden Sie diese Versi-cherung doch kündigen. Genau das geschieht bei derRente: 1999 Nettolohnanpassung; dieses Jahr Inflations-ausgleich mit 2 Millionen Einsprüchen gegen diese Poli-tik; 2001 modifizierte Anpassung; 2003 Abzug der modi-fizierten Anpassung in der Alterssicherung. Herr Riester,hören Sie auf, die Rente in dieser Weise als Spielzeug zubetrachten! Kommen Sie zu einer stetigen Politik zurück!
Wenn ich an die gigantischen Verschiebungen im Haus-halt denke, wenn ich daran denke, dass Sie den Ärmstender Armen, den Arbeitslosenhilfebeziehern, die Renten-anwartschaften halbieren, wenn ich daran denke, dass Sieden Soldaten im Alter 100 DM Rente wegnehmen, wennich daran denke, dass Sie den Zivildienstleistenden, diezum Beispiel in Altenheimen einen schweren Dienst tun,die Rentenanwartschaften kürzen, dann wünsche ich mirfür das neue Jahr, für das nächste Haushaltsjahr, einen Ar-beitsminister, der die Kardinaltugenden hat: Demut ge-genüber denen, denen wir als Sozialpolitiker zu dienenhaben, nämlich gegenüber den Schwachen im Land; Mutund Tapferkeit, die Besitzstände, die Ansprüche, die dieseMenschen haben, in der Fraktion gegenüber anderen Be-reichen und vor allen Dingen im Kabinett gegenüber demBundeskanzler und dem Finanzminister zu verteidigen.
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Karl-Josef Laumann13345
Ein Arbeitsminister braucht Tapferkeit und Mut. SeitdemSie Minister sind, vermissen wir das. Bei Norbert Blümhaben wir beides erlebt.Schönen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Konstanze Wegner
von der SPD das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es tut mir Leid, ich bin etwaserkältet; deshalb kann ich nicht so laut reden wie der Kol-lege Laumann. Aber das ist ja vielleicht auch gar nichtnötig.
– Danke schön.Eines der wichtigsten Ziele der rot-grünen RegierungSchröder ist gerade der Umbau des Sozialstaates als Vo-raussetzung für seinen Erhalt. Daran arbeitet WalterRiester als zuständiger Minister.
Wir wissen alle, dass er dabei Tabus knacken muss
und dass er Kritik erntet, mitunter auch aus den eigenenReihen. Das ist bei einer so schwierigen Aufgabe nichtverwunderlich.Ich kann nur sagen: Ich habe Respekt vor der Art, wieer diese Aufgabe angeht, dass er offen für neue Ideen istund versucht, den Konsens mit den großen Gruppen indieser Gesellschaft zu erreichen.
Das ist kein Nachteil, sondern ein Vorteil. Das sollten ge-rade Sie wertschätzen, statt es zu attackieren.
Die Reform des Sozialstaats ist eine faszinierende,aber auch sehr schwierige Aufgabe; denn es gibt wohlkaum einen Bereich, in dem sich Besitzstandsdenken undÄnderungswünsche, Angst vor dem Verlust sozialerSicherheit und die Forderung nach schrankenloser so ge-nannter Freiheit so krass gegenüberstehen. Ich glaube, wirhaben allen Grund, auf die Leistungen unseres Sozial-staats stolz zu sein. Ich bin etwas betreten und unglück-lich darüber, dass es zurzeit Mode ist, nur die Kosten die-ses Sozialstaats zu thematisieren,
statt auch einmal zu sagen, wie viel diese Republik unse-rem Sozialsystem verdankt.
– Da dürften ruhig auch die anderen klatschen.Ich denke, dass wir gerade in den Zeiten der Massen-arbeitslosigkeit, die wir die ganzen letzten Jahre gehabthaben, längst rechtsradikale Parteien mit zweistelligenWahlergebnissen in unseren Parlamenten hätten, wenn esdiesen Sozialstaat nicht gegeben hätte.
Die Arbeitslosigkeit ist trotz ihres erfreulichen Rück-gangs noch immer das zentrale Problem der deutschen In-nen- und Sozialpolitik. Bei ihrer Bekämpfung können wirmeines Erachtens weit mehr von unseren kleinen euro-päischen Nachbarländern wie Holland – das wurde schonerwähnt –, Dänemark und Schweden lernen
als von Amerika, das manchen so vorbildlich erscheint.Das amerikanische Modell beruht auf ganz anderen kul-turellen und sozialen Wurzeln und ist meines Erachtensnicht auf Deutschland übertragbar.
Das holländische System der Bekämpfung der Arbeits-losigkeit
ist gekennzeichnet durch Lohnzurückhaltung der Ge-werkschaften, durch Steuersenkungen, die zur Folge ha-ben, dass die Arbeitnehmer trotz dieser Lohnzu-rückhaltung nicht weniger Geld zur Verfügung haben,durch einen sehr pragmatischen Umgang der Spitzen derGewerkschaften mit den Unternehmen, durch sehr weitentwickelte Teilzeitarbeitsformen
und schließlich durch eine sehr unbürokratische und effi-ziente Zusammenarbeit von privater und staatlicher Ar-beitsvermittlung. Gerade im Bereich der Teilzeitarbeit –ich denke hier auch an Teilzeitarbeit für Männer, nicht nurfür Frauen –
und im Bereich der Zusammenarbeit zwischen privatenund staatlichen Vermittlern haben wir noch einen erhebli-chen Nachholbedarf.
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Karl-Josef Laumann13346
In Dänemark, Finnland und Schweden – wir haben jain diesem Sommer eine Berichterstatterreise gemacht –kann man beobachten, dass die Verantwortlichen ebensowie unsere Regierung in Zeiten der Massenarbeitslosig-keit aktive Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau ver-stetigen, aus der Einsicht heraus, dass es richtig ist, dieMenschen auch in Zeiten der Arbeitslosigkeit im Ar-beitsprozess zu halten, und dass es immer noch viel bes-ser ist, in einer Qualifizierungs- oder Arbeitsbeschaf-fungsmaßnahme als arbeitslos zu sein.
Aber – dies erscheint mir für uns durchaus nachah-menswert zu sein – in diesen Ländern gibt es ganz erheb-liche Anstrengungen, die Art der Qualifizierung und dieBedürfnisse der Wirtschaft vor Ort stärker zusammenzu-bringen.
Das könnte auch bei uns noch verbessert werden; denn esist demotivierend für einen Arbeitslosen, wenn er x Qua-lifizierungen durchlaufen muss und trotzdem am Endewieder arbeitslos ist.Trotz allem, was noch verbesserungswürdig ist, hat dieRegierung jedoch unleugbar Erfolge bei der Bekämp-fung der Arbeitslosigkeit erzielt. Sie ist derzeit mit3,61 Millionen auf dem niedrigsten Stand seit 1995.
Entgegen Ihren Behauptungen, meine Damen und Herrenvon der Opposition, ist der Rückgang der Arbeitslosigkeiteben nicht nur demographisch, sondern auch strukturellbedingt.
Das heißt, die rot-grüne Koalition hat mit ihren Maßnah-men zur Konsolidierung der Staatsfinanzen, zur Senkungder Steuern und zur Senkung der Lohnnebenkosten für dieWirtschaft die Voraussetzung zur Schaffung neuer Arbeits-plätze geschaffen. Das können Sie nicht bestreiten.
Besonders erfolgreich ist das Zwei-Milliarden-Pro-gramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, mitdem es gelungen ist,
die Jugendarbeitslosigkeit um etwa 8 Prozent zu senken.Auf die Einzelheiten dieses Programms, vor allem auchauf die meines Erachtens sehr ungerechte Kritik, wonachmit diesem Programm sinnlos Mittel verpulvert würden,da es auch in Regionen mit niedriger Arbeitslosigkeitdurchgeführt werde, wird mein Kollege Schurer nachherin seiner Rede eingehen.
Sehr unbefriedigend – das muss man zugeben – ist dieLage nach wie vor in Ostdeutschland. Hier stagniert dieArbeitslosigkeit. Es gibt zwar Bereiche, in denen es bes-ser geht, die im Aufwind sind. Aber es gibt auch andereBereiche, in denen die Arbeitslosigkeit leider noch zu-nimmt. Deshalb ist es unabdingbar notwendig, dass wirdie aktive Arbeitsmarktpolitik in diesem Bereich aufhohem Niveau weiterführen.
Das schließt nicht aus, dass die Effizienz der einen oderanderen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme überprüft wer-den kann.Neben der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist die Re-form der Rentenversicherung das zweite zentrale Vor-haben der Sozialpolitik der Regierung.
Es ist ein Kernstück der notwendigen Modernisierung desSozialstaats. Auch hier gibt es, wie zu erwarten war, vielKritik. Es gibt aus meiner Sicht in manchen Bereichenauch verständliche Kritik.
Aber dennoch gilt, dass bis heute alle Kritiker durchsetz-bare und finanzierbare Alternativen zum riesterschenKonzept schuldig geblieben sind.
Entgegen dem, was behauptet wird, ist Riesters Re-form eben kein Systemwechsel, sondern eine System-ergänzung und der Versuch, die Rentenversicherung alsHauptsicherungspfeiler sowohl für alte als auch für jungeMenschen zu erhalten, ergänzt durch eine private und be-triebliche Vorsorge.
Gewiss wäre eine breite parlamentarische Mehrheit zurVerabschiedung dieser Reform wünschenswert gewesen.Ich denke, Minister Riester ist Ihnen von der CDU/CSUin Ihren Forderungen sehr weit entgegengekommen. Erhat praktisch alle erfüllt.
Frau Kol-
legin Wegner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Fuchtel?
Ja, bitte.
Bitteschön, Herr Fuchtel.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Dr. Konstanze Wegner13347
Frau Kollegin
Wegner, Sie sind jetzt in Ihrer Redezeit schon weit fort-
geschritten. Ich hätte erwartet, dass Sie als Haushaltspoli-
tikerin einmal Stellung nehmen zu den Verschiebungen
aus dem Bundeshaushalt zur Bundesanstalt für Arbeit. Ich
bitte Sie, die Kritik zu wiederholen, die Sie dazu im zu-
ständigen Ausschuss vorgebracht haben.
Lieber KollegeFuchtel, Sie können sich darauf verlassen, dass ich nochzu diesem Punkt komme. Denn ich habe noch genügendRedezeit.
Ich will noch ein Wort sagen, das Sie sicher nicht gernehören: Sie kritisieren die Ökosteuer. Aber Ihre Kritik ander Ökosteuer ist absolut heuchlerisch. Denn Sie selbsthaben früher eine solche Steuer gefordert.
Im Zusammenhang mit dem Benzinpreis ist das, was Siebetrieben haben, absolute Volksverdummung.
Auch hier sind Sie eine Antwort schuldig geblieben. Dennwer die Ökosteuer weghaben will, der muss sagen, wie eransonsten die Rentenversicherung stabilisiert. Dazu istaus Ihren Reihen keine Antwort gekommen.Jetzt komme ich zu der Frage, die Sie so beschäftigt: Wiesieht der Haushalt 2001 konkret aus? Die Bundesanstalterhält im Jahre 2001 entgegen dem ursprünglichen Vorha-ben der Regierung doch einen Zuschuss von 1,2 Milliar-den DM. Die Arbeitsmarktpolitik wird auf hohem Niveaumit 44Milliarden DM bei der Bundesanstalt verstetigt. DieBundesanstalt wird das Jugendprogramm fortführen undsie wird auch die bisherigen Arbeitsmarktprogramme ausdem Bundeshaushalt übernehmen.
– Schreien Sie doch nicht so. Warten Sie es ab!Ich sage ganz offen: Ich hätte lieber mit meinen Kol-legen von der Sozialpolitik das Jugendprogramm in denHaushalt eingestellt und der Bundesanstalt keinen Zu-schuss gegeben. Dafür habe ich mich auch eingesetzt.Aber auch Sie wissen doch, dass man sich als Bericht-erstatter nicht immer gegen die eigene Regierung undden kleinen Koalitionspartner durchsetzen kann. SolcheErfahrungen müssten Sie eigentlich auch gemacht ha-ben.
Auf jeden Fall – das können Sie nicht bestreiten – istdie Absenkung des Bundeszuschusses von 7,75 Milliar-den DM im laufenden Jahr auf 1,2 Milliarden DM eindeutliches Zeichen dafür, dass die Arbeitslosigkeit dras-tisch zurückgegangen ist.
Für die Arbeitslosenhilfe können 22,6 Milliarden DMverausgabt werden. Ob diese Mittel letztlich ausreichenwerden, ist ungewiss. Die Langzeitarbeitslosen stellennach wie vor die größte Problemgruppe und wir müssenalles versuchen – das ist auch der einzige Punkt, dem ichaus den lautstarken Ausführungen des Kollege Laumannzustimmen kann –, um den Eisblock der Langzeitarbeits-losigkeit aufbrechen zu helfen.
Hier sind aber die Unternehmen gefordert, das ist nichtSache der Parlamentarier. Die Unternehmen sind gefor-dert, nicht nur Junge einzustellen, weil sie angeblich bil-liger sind, sondern sie sollten den Älteren eine Chancegeben, die teilweise sehr gut qualifiziert und vor allemhoch motiviert sind. Diesen Appell möchte ich hier los-werden. Unterstützende Programme, die das den Unter-nehmen finanziell erleichtern, gibt es wirklich jedeMenge.In diesem Zusammenhang freue ich mich, dass dieBundesanstalt für Arbeit ein weiteres Programm mit demNamen „50 plus – die können es“ aufgelegt hat. Ich hoffe,dass uns dieses Programm unserem Ziel, die Langzeit-arbeitslosigkeit abzubauen, ein wenig näher bringt.
Für Modellprojekte zur Förderung innovativerMaß-nahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit stehen indiesem Haushalt 112,5 Millionen DM zur Verfügung, bis2004 sind es insgesamt 780 Millionen DM. Die Modell-projekte haben drei Schwerpunkte: Erstens wird es Sub-ventionierungen im Bereich der Sozialversicherung zurbesseren Qualifizierung Geringqualifizierter und Lang-zeitarbeitloser geben, Zweitens soll die Verbesserung derZusammenarbeit von Arbeits- und Sozialämtern erprobtwerden und drittens soll es Geld für innovative Projektezur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vor Ort geben.Entsprechend einem oft geäußerten Wunsch aller Par-teien ist die Sprachförderung neu geordnet worden. Dasneue Konzept tritt 2002 in Kraft. Träger der Sprachförde-rung für die Zuwanderer sind der Sprachverband und dasGoethe-Institut. Die Ressortzuständigkeit wird zwischendem Familienministerium – das ist für die Zuwandererunter 27 Jahren zuständig – und dem Arbeitsministe-rium – das ist für die über 27-Jährigen zuständig – geteilt.Insgesamt stehen für die Förderung 319 Millionen DMzur Verfügung. Ich freue mich besonders, dass auf Initia-tive der SPD-Berichterstatterin, die dankenswerterweisevom gesamten Ausschuss unterstützt wurde, auch dasGeld für die Kinderbetreuung künftig zur Verfügung ste-hen wird.
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Denn wir wissen alle: Die ausländischen Frauen, die anSprachförderungsmaßnahmen teilnehmen, hätten es sehrschwer, wenn die Kinderbetreuung gestrichen würde.Das Programm „Xenos“ gegen Fremdenfeindlichkeitist neu in den Haushalt aufgenommen worden. Projektegegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranzsollen in den nächsten Jahre mit jeweils 25 Millionen DMunterstützt werden. Die Mittel dafür kommen aus dem Eu-ropäischen Sozialfonds. Mit „Xenos“ sollen insbesonderesolche Jugendliche angesprochen werden, die durch frem-denfeindliches Denken und Handeln aufgefallen sind.Die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit ist einevielschichtige Aufgabe. Ich bin überzeugt, dass ein Verbotder NPD und gelegentliche Demonstrationen nicht aus-reichen.
Wir müssen versuchen, wieder Zugang zu den Jugendlichenzu bekommen, die in den Bann des Rechtsradikalismus ge-raten sind. Wir müssen versuchen, ihnen das Umdenken undden Ausstieg zu ermöglichen. Auch dafür gibt es in Skandi-navien Vorbilder.
Mit dem Thema Rechtsradikalismus komme ich amSchluss zum Ausgangspunkt meiner Rede zurück: derModernisierung des Sozialstaats als Voraussetzung fürseinen Erhalt und für die Stabilisierung der Demokratie.Wir brauchen einen differenzierten Sozialstaat, der demEinzelnen Würde und soziale Sicherheit gibt. Wir brau-chen aber auch einen Sozialstaat, der natürlich nicht dieindividuelle Leistungsbereitschaft hemmt.Ich denke, der Haushalt des Arbeitsministeriums fürdas Jahr 2001 liefert dazu einen Beitrag. Wir stimmen ihmzu.Ich danke Ihnen.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer
von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem die KolleginWegner gerade etwas vorgetragen hat, was über weiteStrecken an ein neues Kapitel aus Grimms Märchen erin-nerte, will ich mich doch wieder dem Haushalt zuwenden.
Den Bezug zu Grimms Märchen will ich nur an einemeinzigen Beispiel deutlich machen. Sie haben in den höchs-ten Tönen gelobt, dass das JUMP-Programm, das Inte-grationsprogramm für Jugendliche, nun völlig derBundesanstalt für Arbeit zugeordnet wird – wir halten dasfür falsch, weil es damit aus Mitgliedsbeiträgen finanziertwird – und das Erste, was die Bundesanstalt für Arbeit ge-macht hat, ist, eine Sperre zu verhängen.
Das zeigt doch wohl, dass dies eine falsche Entscheidunggewesen ist.
Der Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit undSozialordnung macht mit 170 Milliarden DM fast einDrittel des gesamten Bundeshaushalts aus. Er ist wie-derum mit Abstand der größte Einzelplan. Insofern, FrauWegner, ist die Kritik, die von der Opposition notwendi-gerweise und richtigerweise geäußert wird, keine Funda-mentalkritik an der Existenz des Sozialstaates. Es wirdvon uns überhaupt nicht bestritten, dass der Sozialstaat fürdie innere Stabilität der Bundesrepublik Deutschland überJahrzehnte sehr wichtig gewesen ist. Unsere Kritik be-zieht sich vielmehr darauf, dass dies ein Haushalt derMutlosigkeit ist, einHaushalt, der den Reformbedarf dersozialen Sicherung in Deutschland verschleiert. Das istder eigentliche Punkt.
Sie haben in vorher nie da gewesener Weise Verschie-bebahnhöfe zwischen der Arbeitslosenversicherung, derRentenversicherung, der Krankenversicherung und derPflegeversicherung eingeführt.
Sie haben darüber hinaus die Anwartschaften der Arbeits-losen in einer Weise gekürzt, wie es die alte Regierung niegemacht hätte.
– Dazu stehen Sie nicht, aber Sie sollten dazu stehen. –Das ist keine soziale Großtat, sondern zeigt schlicht IhreÜberforderung mit der Aufgabe, die vor Ihnen liegt.
Ich will mich ein wenig mit der Rentenversicherungbeschäftigen. Für den Bundeszuschuss an die Rentenver-sicherung sind über 100 Milliarden DM vorgesehen. Die-ser Bundeszuschuss ist zu einem nicht unerheblichen Teilaus einer schlichten Umfinanzierung entstanden. Gleichwird die Kollegin Dückert wieder mit Vehemenz und Pa-thos vortragen, wie wichtig es war, die Lohnnebenkostengesenkt zu haben.
Kein Stück haben Sie die Lohnnebenkosten gesenkt!
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Dr. Konstanze Wegner13349
Sie haben zwar die Rentenversicherungsbeiträge gesenkt,aber durch die Ökosteuer, die allein im nächsten Haushalt22 Milliarden DM ausmacht, haben Sie die Lohnneben-kosten insgesamt nicht gesenkt, sondern lediglich den Re-formbedarf verschleiert.
Frau Kol-
legin Schwaetzer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dückert?
Gerne.
Frau
Dr. Dückert, bitte schön.
Frau Kollegin Schwaetzer, ich habe eine kurze Frage. Sie
kann ganz einfach mit den Rechenarten von Adam Riese
beantwortet werden.
Sind nicht auch Sie der Ansicht, dass die Lohnneben-
kosten, die 1998 bei über 42 Prozent gelegen haben und
jetzt bei gut 41 Prozent liegen, heute niedriger sind als
vorher? Ist dies keine Senkung der Lohnnebenkosten?
Liebe Frau Kolle-gin Dückert, mit solchen Taschenspielertricks können Siedie Realität in der Bundesrepublik nicht verschleiern.
Für die Unternehmen genauso wie für die Arbeitnehmerist es völlig egal, ob sie Beiträge plus Ökosteuer oder obsie nur Beiträge zahlen. Sie verfahren wieder nur nachdem das Prinzip, von der rechten in die linke Tasche zuwirtschaften. Sie beweisen, dass Sie das nicht auseinan-der halten können.
Nicht einmal Ihr Motto „Tanken für die Rente“ stimmt;denn inzwischen hat sich der Bundesarbeitsminister eini-ges abhandeln lassen. Die Einnahmen aus der Ökosteuersollten einmal vollständig in die Rentenversicherung ge-hen. Jetzt werden anscheinend erhebliche Milliardenbe-trägen daraus anders verwendet; denn sonst müsste derRentenversicherungsbeitrag im Jahr 2003 deutlich nie-driger sein als 18,8 Prozent, die jetzt vom Arbeitsminis-terium angepeilt werden.Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: Dem Reform-bedarf innerhalb der Rentenversicherung können Sienicht dadurch Rechnung tragen, dass Sie sagen: Wir hal-ten die Beitragssätze jetzt unter 20 Prozent. Die Beitrags-sätze müssen dauerhaft unter 20 Prozent liegen und daswerden Sie nicht schaffen. Sie bekennen sich auch garnicht zu diesem Ziel, sondern verschieben den Beginn derAusgleichsmaßnahmen zwischen den Generationen imRahmen der Rentenreform immer weiter in die Zukunft.Damit – das ist insbesondere ein Vorwurf an die Grünen,die ja immer von der Generationengerechtigkeit geredethaben – verraten Sie die junge Generation.
Sie verraten die junge Generation, indem Sie einen Bei-tragssatz von 22 Prozent anpeilen, dazu kommen noch dievier Prozent private Vorsorge. Die junge Generation wirdIhnen schon zeigen, was sie davon hält.
An dieser Stelle muss ich mich allerdings auch über daswundern, was ich vonseiten der Union höre. Da sitzenHerr Seehofer und Herr Blüm, vehemente Verfechter ei-nes Rentenniveaus von 64 Prozent für den so genanntenEckrentner,
und gestern sagt der Fraktionsvorsitzende, Herr Merz,ganz kühl in seiner Rede, der Beitragssatz zur gesetzli-chen Rentenversicherung müsse bei 20 Prozent liegen.Herr Blüm, Sie werden mir nicht vorrechnen können, dassdas zusammenpasst,
auch nicht, wenn Sie die Lebensarbeitszeit auf 67 oder70 Jahre verlängern.
Deswegen haben auch Sie noch Klärungsbedarf, bis Siewieder regierungsfähig werden.
Ich kann Ihnen nur raten, dieses möglichst schnell in deneigenen Reihen zu klären.Zurück zum Regierungsentwurf. Herr Riester, Sie ha-ben ganz zum Schluss noch in Ihren Entwurf zur Renten-reform geschrieben – das ist ziemlich systemfremd, dassdie tariflichen Lösungen auch beim Aufbau der privatenAltersvorsorge Vorrang haben sollen. Ich frage mich, wasdiese Verbeugung vor den Gewerkschaften soll und wel-che Auswirkungen sie hat.
Die Gewerkschaften werden ein sehr weit gehendes Mit-spracherecht bei der Ausgestaltung der Zusatzversorgungerhalten. Dieses Recht ist sogar so formuliert, dass ohneZustimmung der Gewerkschaften überhaupt keine Pro-dukte, die auf dem Markt angeboten werden, gefördertwerden können. Sie haben noch keine Antwort auf dieFrage gegeben, wie das denn gemacht werden soll.
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Dr. Irmgard Schwaetzer13350
Die Gewerkschaften werden selbstverständlich die Betei-ligung der Arbeitgeber an der privaten Altersvorsorge for-dern,
was völlig systemfremd ist und auch von Ihnen bisher ab-gelehnt wurde.
Deswegen kann ich auch zu diesem Thema nur sagen:Herr Riester, Sie sind gut gestartet. Dafür haben Sie auchvon der Opposition, von der F.D.P., viel Lob bekommen.In der Tat ist es der richtige Reformansatz, die gesetzlicheRentenversicherung zurückzunehmen und zusätzlich eineprivate kapitalgedeckte Altersversorgung aufzubauen.Aber Sie haben sich Schritt für Schritt von diesem Kon-zept verabschiedet, weil Sie es in Ihrer eigenen Fraktionnicht durchsetzen konnten. Den letzten Schritt haben Siegetan um die Gewerkschaften zu befriedigen. Das wirdkeine tragfähige Reform, meine Damen und Herren, unddeswegen werden wir sie, wenn Sie sie so durchsetzenwollen, sicherlich nicht mittragen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zu einem an-deren Thema sagen, zur Künstlersozialversicherung. ImHaushalt 2001 wird schlicht der Ansatz des Jahres 2000übernommen, der da schon zu niedrig war, weil er um37 Millionen DM gekürzt worden ist. Das heißt, die Fort-schreibung in 2001 bedeutet faktisch eine Absenkung desim Gesetz festgeschriebenen Bundeszuschusses zurKünstlersozialversicherung und ist damit ein Verrat anden Künstlern, die in Deutschland weiß Gott kein einfa-ches Leben haben.
Die Absenkung des Bundeszuschusses lehnt die F.D.P.natürlich ab. Wir haben einen Antrag gestellt, den Zu-schuss des Bundes um 19 Millionen DM wieder auf171 Millionen DM zu erhöhen.
– Wir haben im Haushaltsausschuss einen Deckungsvor-schlag gemacht. Wenn er Ihnen nicht vorliegt, dann könnenwir Ihnen den selbstverständlich jederzeit nachliefern. AberSie, Herr Urbaniak, hätten sich im Haushaltsausschuss ein-mal mit den Verwertern und den Künstlern zusammenset-zen müssen.
– Das haben wir gemeinsam beschlossen; damals warenwir noch in der gleichen Koalition. Übrigens: Die Künst-lersozialkasse hat nur deshalb ihren Sitz in Wilhelmsha-ven, weil der damalige Arbeitsminister Ehrenberg, einGenosse, aus der Gegend kam.
Die Künstler und die Verwerter haben einen Vorschlagzur Neuordnung der Künstlersozialversicherung ge-macht. Aber Sie haben es vor der Einbringung des Geset-zes, über das wir nächste Woche im Bundestag debattie-ren werden, noch nicht einmal für notwendig gehalten,sich mit diesem Vorschlag auseinander zu setzen. Das istdie Arroganz der Macht. Dies ist nicht hinzunehmen. Ichdenke, die Wählerinnen und Wähler werden diese Arro-ganz richtig einschätzen.
Wir werden bei der Beratung dieses Gesetzes uns allezur Verfügung stehenden Mittel nutzen, damit Sie IhrerVerantwortung für einen Bereich, der einmal vom Ansatzher gut gestaltet war, endlich wieder gerecht werden. Wirhoffen, dass wir nun, nachdem Sie insgesamt elf Ministerund Staatssekretäre durch Fahnenflucht oder Entsorgungverloren haben, mit dem neuen Staatsminister und Beauf-tragten der Bundesregierung für Angelegenheiten derKultur und der Medien auch über dieses Thema einenkonstruktiven Dialog führen können.
Alsnächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. TheaDückert vom Bündnis 90/Die Grünen.Dr. Thea Dückert
:
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!Der Kollege Laumann hat uns vorhin, etwa kurz nach12 Uhr, mit einem fröhlichen „Guten Morgen!“ begrüßt.Als er dann seine Rede vorgetragen hat, habe ich gedacht:Er hat wohl – das ist ihm eigentlich zu gönnen – nicht nurden heutigen Tag, sondern ganz offensichtlich auch dieEntwicklungen in der Sozialpolitik der letzten zwei Jahreverschlafen.
Die Opposition verfährt weiterhin nach dem Motto,dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Auch der Haus-halt 2001 zeigt eines ganz deutlich: Wir bringen wiedermehr soziale Gerechtigkeit in die Politik der Bundesrepu-blik Deutschland hinein. Unser Motto ist die Nachhaltig-keit, das bedeutet: Wir wollen eine Politik für das Heuteund für das Morgen machen. Wir wollen die Lasten nichtauf Kosten der jüngeren Generation in die Zukunft ver-schieben, wie Sie das getan haben.
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Dr. Irmgard Schwaetzer13351
Wir wollen den Haushalt konsolidieren und gleichzeitiggestalten.Sie wissen genau, welch hohen Schuldenberg Sie unshinterlassen haben. Die Steuern sind über Jahre und Jahr-zehnte hinweg trotz der Regierungsbeteiligung der an-geblichen Steuersenkungspartei F.D.P. gestiegen. DieLohnnebenkosten, Frau Schwaetzer, sind allein von 1990bis 1998, also in acht Jahren, um 6,5 Prozent gestiegen.Auch die Mehrwertsteuer ist gestiegen.
Sie haben uns aber nicht nur einen Schuldenberg, son-dern auch – das ist sehr beschämend – einen Berg an Ju-gendarbeitslosigkeit hinterlassen. Als wir in die Regie-rung kamen, gab es insgesamt 4,7 Millionen Arbeitslose.
– Frau Schwaetzer, ich glaube nicht, dass es primitiv ist,nach zwei Jahren unserer Regierungstätigkeit einen Ver-gleich anzustellen. Während Ihrer Regierungszeit, wie ge-sagt, gab es 4,7 Millionen Arbeitslose. Jetzt sind es nurnoch 3,6 Millionen. Das kann man nicht primitiv nennen.Vielmehr zeigt das sehr deutlich, dass wir die Bekämp-fung der Arbeitslosigkeit in allen Politikbereichen zurzentralen Aufgabe gemacht haben, und zwar in der Steu-erpolitik, in der Finanzpolitik und in der Arbeitsmarktpo-litik.
Wir haben hier einen großen Etappenschritt gemacht.
Der Trend hat sich umgekehrt.
Die Steuern sinken. – Frau Schwaetzer, davon hätten Sienur geträumt, wir setzen es durch. – Die Lohnnebenkostensinken. Zum nächsten Jahr sinken auch die Rentenversi-cherungsbeiträge auf 19,1 Prozent.
– Zur Ökosteuer komme ich gleich, Frau Schwaetzer,auch zu den Gesamtbelastungen. – Die Arbeitslosigkeitsinkt und die Beschäftigung nimmt zu, und zwar nicht auf-grund der demographischen Entwicklung,
sondern – das sage ich ausdrücklich – aufgrund einer zu-sätzlichen Zugangs von Arbeitskräften, beispielsweisevon Frauen, in einer Größenordnung von 500 000. Das isteine positive Bilanz, meine Damen und Herren.
Frau Kol-
legin Dückert, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Laumann?
Gerne, Herr Laumann.
Bitte
schön, Herr Laumann.
Verehrte Frau
Kollegin, können Sie mir denn bestätigen, dass sich den
Gutachten der fünf Weisen, des Sachverständigenrats der
Bundesregierung, zufolge zwar – da haben Sie Recht – die
Zahl der Beschäftigten erhöht hat, dass aber, gemessen an
Erwerbsarbeitsstunden, die Beschäftigung in der Bundes-
republik Deutschland nicht gestiegen ist? Können Sie mir
bestätigen, dass das in den Gutachten des wissenschaftli-
chen Beirates der Bundesregierung steht?
Herr Laumann, ich kann Ihnen bestätigen, dass uns derSachverständigenrat bestätigt hat, dass der Zusammen-hang zwischen Steuerpolitik, Finanzpolitik, Haushalts-konsolidierung und Arbeitsmarktpolitik dazu geführt hat,
dass die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist und die Zahlder Beschäftigten in diesem Jahr und auch in den nächs-ten Jahren um 500 000 steigen wird.
Das hat uns der Sachverständigenrat bestätigt, HerrLaumann.Meine Damen und Herren, ich denke, dass wir durchdiese Politik, auch durch unsere Haushaltspolitik einegute soziale Bilanz vorzuweisen haben. Ich will Ihnen inErinnerung rufen, was passiert ist und was passieren wird.Ich erinnere an die zweimalige Erhöhung des Kinder-geldes und an die Erhöhung des Kinderfreibetrages undich sage Ihnen: Wir werden in dieser Legislaturperiodedas Kindergeld noch weiter erhöhen.
Was bedeutet die Erhöhung des BaföG? – Sie bedeutet,dass Jugendliche, die bisher große Schwierigkeiten hat-ten, am Bildungsangebot teilzuhaben, Erleichterung er-fahren. Es ist ein Schritt zu mehr Chancengleichheit auchbeim Zugang zur Bildung. Das haben wir bitter nötig.
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Dr. Thea Dückert13352
Wir haben das Wohngeld erhöht. Zum ersten Mal seitzehn Jahren. Auch das gehört zur sozialen Bilanz.Und wir haben das Arbeitslosengeld und das Kranken-geld erhöht, weil wir im Gegensatz zu Ihnen verfassungs-konform handeln und auch die Einmalzahlungen inhöhere Krankengeld- und Arbeitslosengeldzahlungenumsetzen.Unter dem Strich bedeutet das, dass eine vierköpfigeFamilie mit einem jährlichen Durchschnittseinkommenvon 60 000 DM im Jahr 2001 3 000 DM mehr in der Ta-sche hat.
Frau Schwaetzer, auch das sollten Sie bei Ihren kleinli-chen Rechnereien einmal zur Kenntnis nehmen.
Meine Damen und Herren, daran zeigt sich: Diese Po-litik hat ein soziales Gesicht.
Wir ruhen uns nicht aus; das ist völlig klar. Aber dies istein Grund zur Zufriedenheit.
Wir wollen die Herausforderungen annehmen. Das be-zieht sich nicht nur auf den Schuldenberg, den Sie uns hin-terlassen haben,
sondern auch auf die Veränderungen in der Arbeitswelt,auf die veränderten Erwerbsbiografien. Heute wollen undmüssen immer mehr Alleinerziehende in dieser Arbeits-gesellschaft Platz finden. Zu nennen ist auch die Verän-derung im Altersaufbau dieser Gesellschaft. Dies ist einungeheurer Reformbedarf, dem wir uns stellen. Das sinddie Herausforderungen der Zukunft.Ich habe gestern mit Interesse gelesen, wie es weiter-gegangen wäre, wenn beispielsweise Herr Blüm Sozial-minister geblieben wäre.
Er hat gestern in einem Interview in sehr deutlicher Weisedie schwarze Katze aus dem schwarzen Sack gelassen.Herr Blüm, Sie haben gestern gesagt, eine gesetzlicheRentenversicherung lasse sich nicht mit einer privatenverknüpfen.
Unser Angebot, Personen mit geringem Einkommen undinsbesondere Familien mit Kindern beim Aufbau der pri-vaten Altersvorsorge zu helfen, ist ein Gebot der sozia-len Gerechtigkeit.
Außerdem ist es ein Gebot der Fairness. Auch Herr Blümhätte damals schon sagen müssen, dass in Zukunft zur Al-tersversorgung neben dem Herzstück der gesetzlichenRentenversicherungen ein weiteres Standbein nötig ist,nämlich die private Vorsorge. Diese muss hinzukommen,damit die zukünftigen jungen Generationen im Alter gutabgesichert sind. Wir bieten ihr genau hierzu Hilfen an.Wir wollen nicht wie Herr Blüm erst losspringen und dannabstürzen. Wir wollen mit der Rentenreform der jungenGeneration die Hand reichen und ihre Altersversorgungabsichern.
Ich komme nun auf den Arbeitsmarkt zu sprechen,einen sehr wichtigen Aspekt unserer Politik. Die Progno-sen, nicht nur die des Sachverständigenrates, beweisen,dass unsere Politik hier schon Auswirkungen zeigt. Selbstin vorsichtigen Prognosen wird davon ausgegangen, dassin den nächsten Jahren eine positive Entwicklung auf demArbeitsmarkt zu erwarten ist. Trotz der demographischenEntwicklung entstehen zusätzliche Arbeitsplätze. So wer-den wir, auch wenn in Zukunft weitere Personengruppenwie zum Beispiel Frauen auf den Arbeitsmarkt drängen,ein Sinken der Arbeitslosenzahlen verzeichnen können.Diese Entwicklung sollte die Opposition einmal wahr-nehmen. Auch heute verhalten Sie sich in Ihren Redenwieder wie die berühmten drei Affen: nichts hören, nichtssehen, nichts sagen. Stattdessen klagen Sie nur.
Meine Damen und Herren, kommen Sie herunter vonden Bäumen und diskutieren Sie mit uns einmal überKonzepte der Arbeitsmarktpolitik, die der zukünftigenEntwicklung Rechnung tragen. Eines ist völlig klar: Es istein Irrglaube, zu meinen, dass man, wenn es auf dem Ar-beitsmarkt brummt, die aktive Arbeitsmarktpolitik ein-stellen könne. Das ist nicht so. Das zeigt auch die Struk-tur des Arbeitsmarktes: Es gibt große regionale Gefällebei der Höhe der Arbeitslosigkeit; Jugendliche und Älterebesonders in den neuen Bundesländern haben große Pro-bleme, Arbeit zu finden; es gibt das Problem der Lang-zeitarbeitslosigkeit. Deswegen verstetigen wir die aktiveArbeitsmarktpolitik – das wollen Sie, meine Damen undHerren von der Opposition, die ganze Zeit verhindern –auf einem hohen Niveau. Wir werden auch das JUMP-Programm – und zwar steuergegenfinanziert – weiterfortführen, denn es war schon in der Vergangenheit erfolg-reich.
Wir werden unsere beschäftigungspolitischen Anstren-gungen nicht zurückschrauben. Wir werden unsere Poli-tik der Senkung der Lohnnebenkosten und der Steuer- undAbgabenlast konsequent fortsetzen. Wir werden dasBündnis für Arbeit unterstützen und vorantreiben. Es ist
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Dr. Thea Dückert13353
auch dringend notwendig, moderne Formen von Teilzeit-arbeit und der Teilung von Arbeit voranzutreiben. Wirwerden das Betriebsverfassungsgesetz weiter reformie-ren.
Wir werden außerdem die Arbeitsförderung sehr kreativund mithilfe neuer Ansätze reformieren.
– Herr Präsident, ich sehe, dass es blinkt.
Seit langem!
Ich komme zum Schluss. – Meine Damen und Herren, ich
denke, dass sowohl die Bilanz des Gesamthaushaltes mit
der dort vorgesehenen Unterstützung von Familien mit
Kindern und den dort vorgesehenen strukturellen Maß-
nahmen, mit denen wir den Herausforderungen der Zu-
kunft begegnen, als auch die Bilanz des Arbeitsmarktes
eines deutlich machen:
Dieser Haushalt ist ein sozialpolitisch richtiger Ansatz,
mit dessen Hilfe Rot-Grün soziale und ökologische Poli-
tik verantwortlich weiter voranbringen kann.
Ich danke Ihnen.
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Dr. Klaus Grehn.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! In seiner gestrigen Rede hat derBundeskanzler die Erfolge bei der Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit und das Wachstum der Beschäftigung ge-feiert und zur gemeinsamen Freude aufgerufen. – DieBotschaft hört‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.
Deswegen kann man dies – wie manches andere auch –nicht unwidersprochen stehen lassen.Um es gleich vorwegzunehmen, Frau KolleginDückert: Dieser Widerspruch bedeutet keine Miesmache-rei und auch kein Jammern, sondern er ist der Tatsache ge-schuldet, dass die Welt eben ganz anders aussieht, je nach-dem, ob man vor dem Schreibtisch der Arbeitsvermittler,die nicht vermitteln können, oder vor den Mitarbeiternder Sozialämter, die dem Spardiktat zu folgen haben, stehtoder ob man hinter einem Schreibtisch sitzt.Die Tatsachen, dass die geschaffenen neuen Arbeits-plätze vor allem 630-Mark und Teilzeitarbeitsplätze sind,dass demographische Faktoren diese Entwicklung beein-flussen, sind in der Rede des Kanzlers nicht aufgetaucht.Der Bundeskanzler hat wohlweislich die ihm spätes-tens seit seiner Reise durch die neuen Bundesländer be-kannte Tatsache der sich zwischen Ost und West vertie-fenden Spaltung auf dem Arbeitsmarkt außen vorgelassen. Ich bin überzeugt, dass dies in den neuen Bun-desländern genauso aufmerksam registriert worden istwie der Verschiebebahnhof bei der Finanzierung, vondem hier verschiedentlich die Rede war, und wie die Tat-sache, dass eine zündende Idee für eine Verbesserung die-ses Zustandes nicht zu entdecken war.
Leider ist dies aber keine Einzelenttäuschung, wie un-ter anderem die Themen Ausbildungsplätze, Rente insge-samt und insbesondere das Teilthema Rente Ost belegen.Dieser Einschätzung steht auch der vorgelegte Haushalt innichts nach. Er macht deutlich, dass die Bundesregierungdie Chance die soziale Schieflage in der Gesellschaft zukorrigieren, leider nur unzureichend genutzt hat.Solange vonseiten der Arbeitgeber noch immer völligabwegige Forderungen nach einem Abbau der Soziallei-stungen erhoben werden – Stichworte dazu sind die Er-höhung der Lebensarbeitszeit, die Senkung von Lohner-satzleistungen, die Erhöhung des Drucks auf die aus demArbeitsleben Ausgegrenzten –, muss sich diese Bundesre-gierung entscheiden, wofür sie steht, für die Interessen derMillionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Ar-beitslosen, der Armen und Ausgegrenzten, wie Sie es imWahlkampf versprochen haben, oder einseitig für die In-teressen der Unternehmen, der Konzerne, der Banken, derfusionierenden Großunternehmen.Wir halten es für falsch, wenn der Bundesarbeitsminis-ter den Arbeitgeberverbänden Gesprächsbereitschaft überdie Verlängerung der Lebensarbeitszeit signalisiert.Schon längst nämlich haben die unzureichende Arbeits-marktpolitik, die so genannte Ökosteuer und das Renten-konzept nichts mit den Interessen des kleinen Mannes zutun, sondern all dies geht zu seinen Lasten. Es wird einKlima geschaffen, in dem sich der arbeitslos Gemachteschämt, der Sozialhilfeempfänger an den Pranger gestelltwird, der Arme und Bedürftige gefälligst für die ihm ver-abreichten Almosen dankbar zu sein hat.Diese Bundesregierung ist weit davon entfernt, von derdeutschen Wirtschaft einen angemessenen Beitrag fürsinnvolle und sozial gerechte Reformen zu verlangen.Stattdessen gibt sich der Kollege Schlauch, der ja nichtgerade auf einer hinteren Bank in der regierenden Koali-tion sitzt, dazu her, das anzugreifen, was die bisherigewirtschaftliche Stärke der Bundesrepublik ganz maßgeb-lich hervorgebracht hat: die Tarifautonomie von Arbeit-gebern und Arbeitnehmern und deren fair ausgehandelteFlächentarifverträge.
Wer heute gegen die Gewerkschaften zu Felde zieht, ver-zichtet auf den sozialen Ausgleich.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Dr. Thea Dückert13354
Die Stoßrichtung aller so genannten Reformvorhabender letzten Zeit ist klar erkennbar. Sie zielen auf die Ab-kopplung der Sozialsysteme von der Reichtumsentwick-lung. Die Funktion des Sozialstaates wird auf Wettbe-werbsförderung reduziert. Bei dem, was das falscheDenken vor allem des Bundesfinanzministers hervor-bringt, weht uns kein Hauch von Zukunftsfähigkeitentgegen. Die Finanzierbarkeit ist eine wichtige Voraus-setzung, der gesellschaftliche Konsens über die Zu-kunftsfähigkeit unserer Gesellschaft eine andere. Die Be-dürfnisse und Erwartungen der Millionen Bürgerinnenund Bürger dieses Landes lassen sich nicht durch angeb-liche Sparzwänge einseitig reduzieren oder vom Tisch wi-schen. Der Staat hat ihnen Rechnung zu tragen; dafür wer-den Regierungen gewählt.Deutlich sichtbar wird dieses falsche Denken bei derangegangenen Rentenreform.Die Antwort dieser Regie-rung auf das Erfreulichste in einer Gesellschaft, nämlichdie Verlängerung der durchschnittlichen Lebenszeit, lau-tet: Wenn ihr älter werdet, müsst ihr ärmer leben. Welcheine Armseligkeit des Denkens, welch eine Unfähigkeit,die Zukunft schon heute attraktiv und erstrebenswert zugestalten!Geradezu unerträglich ist der Gedanke, dass nichts ge-tan wird, um endlich die Lebensleistungen der Rentnerin-nen und Rentner in den neuen Bundesländern genausoanzuerkennen wie die derjenigen in den alten Bundeslän-dern. Stattdessen wollen Sie die Leistungen insgesamt ab-senken. Wenn alle Alten ärmer werden, dann sollen dieungeliebten Alten im Osten immer noch ärmer bleiben.
Dies ist das Signal, Herr Minister Riester. Es wird wohlvernommen. Die Regierung tut ein Übriges und kürzt garden Bundeszuschuss für die Rentenversicherung der Ar-beiter und Angestellten um 870 Millionen DM.
Auf dem Arbeitsmarkt ist kein Umschwung zu er-kennen. Die Prognosen über die konjunkturelle Entwick-lung münden seit Jahren lediglich in Spekulationen überdas Auf und Ab der Zahlen der Arbeitslosen. Das Kon-junkturtempo wird sich nach jüngsten Aussagen der Wis-senschaft trotz erhöhter Steuereinnahmen und milliarden-schwerer Privatisierungserlöse weiter verlangsamen. DieFolgen für den Arbeitsmarkt sind vorhersehbar. Der un-verhoffte Gewinn bei der Versteigerung der UMTS-Li-zenzen in Höhe von 100 Milliarden DM könnte eine ent-scheidende Grundlage sein, um die Probleme auf demArbeitsmarkt nachhaltig zu lösen.
Diese Möglichkeit wird nicht genutzt.Unverständlich ist auch, dass der Haushaltsplan dieKürzung des Bundeszuschusses an die Bundesanstaltfür Arbeit auf 1,2 Milliarden DM vorsieht. Erneut wirdim Kaffeesatz der Prognosen gelesen, statt sich mit dertatsächlichen Lage vor allen Dingen im Osten Deutsch-lands zu befassen. Hier bleibt eine aktive Arbeitsmarkt-politik für Hunderttausende von Arbeitslosen dringendgeboten. Bundesweit muss der dramatisch wachsendeSockel der Langzeitarbeitslosen gezielt abgebaut werden.Nach der Lage der Dinge ist die Bereitstellung vonBundesmitteln für expansive und zugleich innovativeFördermaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit eine not-wendige Voraussetzung für Lösungen. Jeder, der anderesveranlasst, nimmt Ertrinkenden die Schwimmweste wegmit dem Hinweis auf das nahe liegende Ufer, das sich al-lerdings als Fata Morgana erweist. Der Änderungsantragder PDS sieht deshalb die Erhöhung der Mittel aufmaßvolle 2 Milliarden DM vor.Die völlige Streichung der Sachmittel für ABM ist eineweitere soziale Grausamkeit; denn sie bedeutet das Ausfür viele sozial und soziokulturell engagierte Vereine, dieeinen wichtigen Beitrag zur individuellen Bewältigunggesellschaftlicher Aufgaben leisten. Jeder durch ABM ge-schaffene Arbeitsplatz benötigt ein Mindestmaß an Aus-stattung mit Sachmitteln, weil er sonst nicht wahrgenom-men werden kann. Deshalb fordern wir in unseremÄnderungsantrag die Bereitstellung von 500 Milli-onen DM für diese Sachmittel.
Gestatten Sie mir eine weitere Bemerkung zur Arbeits-marktpolitik. Es ist nicht lange her, da wurde das Verfah-ren zu SAM/OFW verschärft, weil erhebliche Mitnah-meeffekte durch Unternehmen registriert wurden. Mirliegt eine Ausschreibung für ein Vorhaben vor, in der steht– es geht um 25 Gewerke –: „Die Arbeiten sind unter maß-geblicher Beteiligung von ABM-Arbeitnehmern durchzu-führen. Für die zugewiesenen Arbeitnehmer ist bei derAngebotsabgabe ein Nachlass bei der Preisbildung anzu-streben.“ – Das passiert in Bereichen, die durch ABMüberhaupt nicht abzudecken sind.
– Das ist die offizielle Ausschreibung eines Landrates. Ichkann Ihnen die entsprechenden Unterlagen gerne zur Ver-fügung stellen.
Ich nenne ferner den reduzierten Zuschuss zur Kran-kenversicherung. Die Gerechtigkeit bleibt auch bei derArbeitslosenhilfe und Sozialhilfe außen vor. Sie haben dieUnterfinanzierung der Arbeitslosenhilfe ansteigen lassenund die Deckelung der Sozialhilfe nicht zurückgenom-men. Sie haben stattdessen den Zuschuss zur Rentenver-sicherung von Arbeitslosenhilfebeziehern gesenkt. Daswird sich doppelt rächen: Es fällt uns zweimal auf dieFüße, einmal heute und einmal zuzeiten der Altersarmut,die bevorsteht.Die Ihnen zur Abstimmung vorgelegten Änderungsan-träge der PDS zum Einzelplan 11 zielen auf mehr
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Dr. Klaus Grehn13355
Gerechtigkeit und auf die Korrektur unvertretbarer Kür-zungen. Wir bitten deshalb um Ihre Zustimmung.
Ich gebenunmehr dem Bundesminister für Arbeit und Sozialord-nung, Walter Riester, das Wort.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Um es in Erinnerung zu rufen: Wir spre-chen über den Haushalt für Arbeit und Soziales. Eshandelt sich um 170 Milliarden DM, die wir für Arbeitund Soziales einsetzen. Das sind 15 Milliarden DM mehrals vor zwei Jahren, im letzten Jahr der alten Regierung.
Es gehört schon ein gerüttelt Maß an Unverfrorenheitdazu, zu erklären, dieser Haushalt sei Ausdruck einer so-zialen Eiszeit.
– Herr Laumann, was geht in Ihrem Kopf vor?
Ich darf Sie als CDU-Mitglied daran erinnern, was wirübernommen haben: Wir haben die größte Staatsver-schuldung übernommen, die dieses Land jemals gehabthat.
Wir haben die höchste Steuerquote übernommen, die die-ses Land jemals gehabt hat. Wir haben die höchsten Lohn-nebenkosten übernommen, die dieses Land jemals gehabthat.
Wir haben die höchste Arbeitslosenquote übernommen,die dieses Land jemals gehabt hat. All dieses haben wirübernommen. Da bin ich gerne bereit, jetzt Bilanz zu zie-hen.
– Ich höre von der rechten Seite: „die deutsche Einheit“.Ja, die haben wir übernommen und an der arbeiten wir,aber ohne laufend neue Schulden aufzubauen. Da unter-scheiden wir uns von Ihnen.
Wiedervereinigung bedeutet für uns nicht, laufend Steuer-einnahmen auszuweiten und laufend Schulden weiteraufzubauen. Darin unterscheiden wir uns.
– Wenn sich das Murmeln etwas legt, dann kommen wireinmal zu dem, was wir erreicht haben.
Wir haben als Erstes die Steuern gesenkt.
Wir haben als Zweites die Lohnnebenkosten gesenkt.
– Auf Ihr „Wo denn?“ komme ich im Detail noch zu spre-chen. – Wir haben als Drittes in zwei Jahren Rahmenbe-dingungen – wenn es Ihnen um die Leute ginge, müsstenSie darüber eigentlich jubeln – für über 1 Million zusätz-liche Beschäftigungsverhältnisse geschaffen.
– Nun schreit der für die Zwischenrufe sehr bekannte HerrNiebel: „630-Mark-Jobs“. Dazu darf ich Ihnen etwas sa-gen: Eine halbe Million sozialversicherungspflichtige zu-sätzliche Arbeitsverhältnisse ohne die 630-Mark-Jobssind entstanden.
Sie haben es in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit ge-schafft, die Zahl der Arbeitslosen um rund 3Millionen zuerhöhen; allein in den letzten zehn Jahren um rund2,5 Millionen.
Ich bin stolz darauf, dass wir es geschafft haben, die Zahlder Arbeitslosen um eine halbe Million zu senken, sodasswir uns erstmals über eine Bilanz verständigen können.
– Nun kommt der hervorragende Einwand der Damenund Herren von rechts, das sei alles Demographie. MeinHerr, Sie waren ja früher einmal beim Arbeitsamt be-schäftigt:
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Dr. Klaus Grehn13356
Wenn Sie sich einmal die Zahlen anschauen würden
– da höre ich qualifizierte Zwischenrufe; für Zwischen-rufe sind Sie ja bekannt, aber bitte ein bisschen qualifi-zierter –,
dann wüssten Sie, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosennicht deshalb um 100 000 gesunken ist, weil so viele ausdem Erwerbsleben ausgeschieden sind.
– Wir haben im Bereich der Jugend ein Schwerpunkt-programm eingesetzt.Über die Frage, wie diese Ausgabenfinanziert werden, möchte ich mich gern mit Ihnen fetzen.Unbestritten ist aber doch, dass wir es überhaupt ange-gangen sind. Sie sind es doch noch nicht einmal angegan-gen!
Herr Laumann, Ihnen mangelt es an Innovation. Gottsei Dank ist Herr Seehofer da, der mir sicherlich bestäti-gen kann, dass er einmal gesagt hat, unsere Vorschläge zurRentenreform seien ein Quantensprung in der Sozialpo-litik. Sie waren damals dabei und hätten Ihren Protest an-melden können;
Sie hätten sagen können, dass Ihnen der Entwurf zu we-nig innovativ ist. Noch besser wäre es allerdings gewesen,Sie hätten eigene Vorschläge eingebracht. Darauf warteich noch immer.
Herr Seehofer hat gesagt, es sei ein Quantensprung, dasswir endlich dazu kommen, eine kapitalgedeckte zusätzli-che Altersvorsorge systematisch aufzubauen.
Er hat ganz leise dazugesagt, die frühere Koalitionsregie-rung hätte das leider nicht geschafft.
Der Ehrlichkeit halber muss das gesagt werden; es warenmehrere Damen und Herren anwesend.
Wir werden dafür sorgen – es dauert nicht mehr lange,bis das Gesetz verabschiedet ist –, dass die Altersvorsorgestärker gefördert wird. Wir haben dafür gesorgt – ich zeigeIhnen gerne unsere Bilanz –, dass die Rentenversiche-rungsbeiträge und damit die Lohnnebenkosten gesenktwerden. Die Damen und Herren Abgeordneten möchtengerne wissen – es wurde in der Debatte vorhin verschie-dentlich angesprochen –, wie es sich mit der Bilanz be-züglich des Ökosteueraufkommens und der Einnahmenin der Rentenversicherung verhält. Ich kann das nur alsrhetorische Frage verstehen, da Sie es ohne weiteres imGesetzentwurf nachlesen könnten.
Ich will sie aber trotzdem konkret beantworten:
Die Einnahmen aus der Ökosteuer werden sich im nächs-ten Jahr auf 22,3 Milliarden DM belaufen, während derRentenversicherung 22,4 Milliarden DM zugeführt wer-den.
Das heißt, der Rentenkasse stehen 100 Millionen DMmehr zur Verfügung, als durch die Ökosteuer eingenom-men werden. Das ist die Wahrheit, die jeder von Ihnen ausdem Gesetzentwurf ersehen kann, von dem ich annehme,dass er Ihnen zur Verfügung steht.
Hören Sie also auf, mit Ihren Äußerungen solche Verwir-rungen hervorzurufen. Es gibt ja sicherlich viele Men-schen, die unsere Debatte verfolgen und denen im Ge-gensatz zu Ihnen die entsprechenden Unterlagen nicht zurVerfügung stehen.
GestattenSie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
– Frau Kollegin Schwaetzer, ich muss Sie darauf hinwei-sen, dass Auseinandersetzungen mit dem amtierendenPräsidenten nicht zulässig sind. Ich habe Ihre Zwi-schenfrage nicht zugelassen, weil Sie sich bereits nachden ersten drei Sätzen des Kollegen Riester gemeldet ha-ben. Ich fand das nicht angemessen.
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Bundesminister Walter Riester13357
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Ja, ich gestatte die Zwischenfrage des Kol-legen Meckelburg.
Herr Arbeits-
minister, Sie haben mit den Einnahmen aus der ersten
Stufe der Ökosteuer im Umfang von 8 oder 9 Milliarden
DM pro Jahr dafür gesorgt, dass der Rentenversiche-
rungsbeitrag von 20,3 Prozent auf 19,5 Prozent gesunken
ist. Mit der dritten Stufe, die im nächsten Jahr greift und
mit der Sie wiederum ein Drittel des geschätzten Ge-
samtaufkommens aus allen Stufen erhalten, wollen Sie er-
reichen, dass der Rentenversicherungsbeitrag von
19,3 Prozent auf 19,2 Prozent sinkt.
Können Sie mir bitte erklären, warum die erste Stufe
der Ökosteuer zu einer drastischen Senkung des Renten-
beitrags im Umfang von 0,8 Prozent führte, während die
für das nächste Jahr vorgesehene Stufe nur 0,1 Prozent
bringt, und wo der Rest der Einnahmen bleibt?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozial-
ordnung: Das kann ich Ihnen gern erklären. Wir haben
zwei Entlastungen realisiert: Mit den Einnahmen aus
der ersten Stufe der Ökosteuer in Höhe von 8,4 Milliar-
den DM 1999 haben wir die Beitragsbelastungen redu-
ziert. Man darf nicht vergessen, dass ich die Verantwor-
tung für die Rentenversicherung zu einer Zeit übernom-
men habe, in der zur Deckung der gesetzlich vorgesehenen
Schwankungsreserve – sie reichte Ende 1998 nur noch für
21 Tage Rentenzahlungen – rund 8 Milliarden DM gefehlt
haben.
– Herr Blüm, ich lasse Ihre Zwischenfrage gerne zu, weil
Sie diesen Sachverhalt hoffentlich bestätigen werden. –
Mit diesen rund 8 Milliarden DM haben wir diese Lücke
wieder geschlossen. Seit 1994 wird jetzt zum ersten Mal
wieder die vom Gesetz vorgesehene Schwankungsreserve
in der Rentenversicherung voll eingehalten.
Wir haben also aus den Ökosteuereinnahmen zwei
Dinge finanziert. Ich sage Ihnen nochmals: Wir werden
im nächsten Jahr 100 Millionen DM mehr in die Renten-
versicherung hineingeben, als wir Einnahmen aus der
Ökosteuer haben. Das ist die Wahrheit.
Herr Bun-desminister, nachdem mir jetzt drei Zwischenfragen undzwei angemeldete Kurzinterventionen vorliegen, möchteich eine kurze Zwischenbemerkung machen: Wir sind vonVertretern aller Fraktionen gebeten worden, Rücksicht aufdie nachfolgenden Debatten und die noch anstehendennamentlichen Abstimmungen zu nehmen.
Auch in dieser Debatte muss auf die zeitliche Einteilungetwas Rücksicht genommen werden. Deswegen haben SieVerständnis dafür, dass wir vom Präsidium sehr zurück-haltend mit dem Zulassen von Zwischenfragen und Kurz-interventionen umgehen.Herr Bundesminister, bitte fahren Sie fort.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Danke schön. – Ich fasse zusammen: Wirbauen die Altersvorsorge, die auf zwei Säulen steht, deut-lich aus. Wir senken die Beiträge und stabilisieren siedauerhaft. Ein weiterer Punkt ist, dass diejenigen, die we-gen Kindererziehung niedrigere Einkünfte oder Arbeits-unterbrechungen haben – das sind insbesondere dieFrauen –, rentenrechtlich deutlich besser gestellt werden.Weiterhin regeln wir die leider immer noch vorhan-dene verschämte Altersarmut im Rentenrecht und im So-zialhilferecht so, dass sie in diesem Land nicht mehr ent-stehen muss. Das ist Innovation.
Herr Laumann, ich komme auf Ihre Rede zu sprechen.Sie haben nicht alles lautstark vorgetragen; einige Dingehaben Sie leise gesagt. Einige Dinge fasse ich als Ange-bot auf und nehme sie gerne auf. Sie haben gesagt, Siemöchten über das zu entwickelnde Betriebsverfassungs-gesetz mitdiskutieren. Ich biete Ihnen das gerne an. Ichbin sehr daran interessiert, dass sich auch die Union daranbeteiligt. Ich weiß, dass sie diesbezügliche Erfahrungeneinbringt. Diese möchte ich hören. Ich halte es für unan-gemessen, über einen noch nicht vorliegenden Gesetzent-wurf in einer solchen Weise zu spekulieren. Wir werdendafür sehr schnell einen Referentenentwurf vorlegen. Ichbiete Ihnen an, an diesem mitzuarbeiten, sich als Unioneinzubringen, weil ich weiß, dass das ein wichtiger Punktist, an dem wir gemeinsam arbeiten müssen.
Sie haben einen zweiten Punkt angesprochen, den ichsehr ernst nehme und der nicht gern angesprochen wird.Es gibt Leistungsmissbrauch und Verhaltensweisen, diewir so nicht tolerieren können. Sie haben es, bezogen aufjunge Menschen, angesprochen. Es trifft nicht nur aufjunge Menschen zu, es trifft auf einer breiteren Ebene zu.Ich mache die Erfahrung, dass wir dort mit gesetzlichenRegelungen keine Wirkung erzielen können. Die beste-henden Gesetze lassen Leistungseinschnitte zu, wennMenschen leistbare Arbeit bewusst verweigern. Das istein Problem, das wir vor Ort angehen müssen. Wir müs-sen das vonseiten der Sozialämter und Arbeitsämter an-gehen. Wir müssen es als Politiker deutlicher ansprechen.Das nehme ich positiv auf. Wir müssen uns auch dieserSeite stellen. Wir können uns ihr aber am besten dadurchstellen, dass wir den Leuten nachvollziehbare Chancengeben und diese aufzeigen.
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Sie haben einen dritten Punkt angesprochen und daraufhingewiesen, dass es wichtig ist, die starke Diskrepanz inder Entwicklung zwischen Ost und West nicht aus den Au-gen zu lassen. Auch hier haben Sie mich auf Ihrer Seite.Stärker als im Westen ist es notwendig, dass wir in denneuen Bundesländernmit arbeitsmarktpolitischen Maß-nahmen unterstützend eingreifen. Genau das machen wir.Beispielsweise haben wir das JUMP-Programm schwer-punktmäßig noch einmal stärker auf die neuen Bundes-länder verlagert. Wir haben im nächsten Jahr vor, 50 Pro-zent der Mittel des JUMP-Programms in den ostdeutschenLändern einzusetzen.
Sie haben immer geschrien, dass das JUMP-Programmeine Sperre hat. Es hat keine Sperre mehr. Wir werden unsdafür einsetzen. Ich bin froh, wenn auch die Union daranentsprechend mitarbeitet.Weiter haben Sie die Frage der Flexibilisierung ange-sprochen. Dazu haben wir ein Gesetz mit zwei Ansätzeneingebracht, das im Deutschen Bundestag verabschiedetworden ist. Ich hätte mich darüber gefreut, wenn dieUnion dem zugestimmt hätte.
Zunächst geht es um die Beschäftigungssicherung. Wirhaben – für viele Sozialdemokraten war das gar nicht ein-fach – die Befristung ohne sachlichen Grund weiterhin er-möglicht. Dieses Recht ist nicht befristet. Eines haben wirdabei ausgeschlossen – es handelt sich um ein Anliegenvon Sozialdemokraten, von Gewerkschaftern und vonBündnisgrünen; ich hätte mich gefreut, wenn auch IhrePartei zugestimmt hätte –, nämlich Kettenarbeitsverträgemit Mehrfachbefristungen.
Dieses Gesetz enthält ein weiteres Element zur Stär-kung der Flexibilisierung. Ich war sehr überrascht, als ichin einem Interview des „Spiegel“ gelesen habe, dass derIhnen wahrscheinlich nicht fern stehende Ministerpräsi-dent von Bayern lauthals einen Teilzeitarbeitsanspruchin der Privatwirtschaft gefordert hat.
– Er hat das nicht eingeschränkt. Das können Sie nachle-sen, Frau Baumeister.Als es dann eine Woche später ernst wurde und wir denGesetzentwurf eingebracht haben – wir selbst haben die-ses Anrecht daran gebunden, dass seine Umsetzung be-trieblich überhaupt möglich ist –, haben Sie dagegen ge-stimmt.Herr Laumann, bei Ihnen stimmen Anspruch undWirklichkeit nicht überein. Ich biete Ihnen an, in diesenFragen zusammenzuarbeiten, genauso wie ich es bei derRentenreform angeboten habe. Aber arbeiten Sie dannbitte wirklich mit und verzögern Sie nicht! Bringen SieVorstellungen ein! Wenn es zum Schwur kommt, dannstehen Sie zu den Vereinbarungen, stimmen Sie zu undnicht dagegen!
Herr Minis-
ter Riester, der Kollege Laumann – Sie haben ihn gerade
direkt angesprochen – möchte eine Zwischenfrage stellen.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja, gerne.
Herr Minister,sind Sie bereit, hier zu bestätigen, dass die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion eine eigene Vorlage zur Teilzeitpro-blematik eingebracht hat? In dieser Vorlage ist ein An-spruch auf Teilzeitarbeit enthalten – betriebliche Gründedürfen dem nicht entgegenstehen –, wenn jemand einKind von unter zwölf Jahren zu erziehen hat, wenn je-mand einen pflegebedürftigen Familienangehörigen be-treuen muss oder wenn jemand gesundheitlich gehandi-capt ist und deshalb nicht so lange arbeiten kann.Der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Positionist nur folgender: Sie wollen einen Anspruch auf Teilzeit-arbeit, egal aus welchem Grund, während wir diesen An-spruch mit Gründen wie Familie, Pflege oder Erwerbs-minderung versehen haben. Ich bitte, das einmal zurKenntnis zu nehmen. Können Sie mir bestätigen, dass esim Deutschen Bundestag eine entsprechende Vorlage ge-geben hat, die Ihre Kollegen abgelehnt haben?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Herr Laumann, zunächst einmal bestätigeich Ihnen, dass Sie zu dem Zeitpunkt, als diese Teilzeit-initiative der Regierungskoalition vorlag, eine Vorlageeingebracht haben, die einen eingeschränkten Anspruchenthielt. Zwar bin ich mir nicht sicher, aber ich nehme an,dass die Vertreter der jetzigen Regierungskoalition in denZeiten, als sie noch in der Opposition waren, einem sol-chen Antrag von Ihnen – Sie stellten damals die Regie-rungskoalition – zugestimmt hätten; allerdings haben Sieihn damals nicht eingebracht. Wenn Sie eine solche Vor-lage nur dann einbringen, wenn eine Teilzeitoffensive be-reits auf dem Weg ist, dann ist klar, dass Sie eine Ein-schränkung wollen. Deswegen konnten wir Ihrer Vorlagenicht zustimmen.
Ich komme zum Schluss. Wir legen einen Einzelplanmit einem Volumen von 170 Milliarden DM vor. Mit die-sem Geld werden wir die Politik des Aufbaus von Be-schäftigung bzw. des Abbaus von Arbeitslosigkeit, eineinnovative Rentenpolitik und eine innenpolitischeErneuerung in diesem Land vorantreiben. Deswegen istdieser Einzelplan nicht nur vom Volumen her der größte,
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Bundesminister Walter Riester13359
sondern auch von der Innovation und vom ganzen politi-schen Ansatz her. Ich bitte Sie sehr, diesem Einzelplan zu-zustimmen.Herzlichen Dank.
Ich gebe für
die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Hans-Joachim
Fuchtel das Wort.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister,Ihre Aussagen können wir so nicht stehen lassen. Ich ver-wahre mich für die CDU/CSU energisch gegen die Be-hauptung, dass unter der früheren Regierung nichts für dieLangzeitarbeitslosen getan worden sei.
750Millionen DM wurden jedes Jahr eingesetzt. Und wasmachen Sie? – Sie nehmen das aus dem Haushalt herausund schieben es zur Bundesanstalt für Arbeit und dortwird die Förderung Stück für Stück abgebaut!
Das ist der Unterschied zwischen unserer Regierungszeitund Ihrer Regierungszeit.Ich kann ein Beispiel anfügen. Die Kollegen durftenSie hier nicht zu dem Hin-und-her-Jonglieren zwischenÖkosteuer und Bundeszuschuss für die Rente fragen. Aufeine Anfrage der PDS hin haben Sie die Hosen herunter-lassen müssen.
Sie haben in der Antwort zugegeben, dass Sie der Ren-tenversicherung zunächst einmal 4,6Milliarden DM ent-ziehen, um das dann durch die Ökosteuer auszugleichen.Das werfen wir Ihnen vor: dass Sie erst Geld in den Haus-halt verschoben haben und dann neues geholt haben, umdie Rentenversicherung zu finanzieren. Solche Taschen-spielertricks, Herr Minister, können wir nicht durchgehenlassen. Sie müssen schon offen legen, wie die Transfer-ströme verlaufen sind.
Wenn man das mit dem Einheitsprozess Anfang der90er-Jahre vergleicht, haben Sie jetzt ganz bescheideneHausaufgaben zu machen, Herr Minister.
Die Steuereinnahmen sind besser, die Konjunktur ist we-sentlich besser, ob er etwas dafür kann oder nicht. Es herr-schen einfachere Rahmenbedingungen, und die Aufga-ben, die erfüllt werden müssen, sind einfacher. Trotzdembringen Sie es nicht fertig, dass die Beschäftigung so starksteigt wie sonst in Europa.
Es ist doch ein Armutszeugnis dieser Regierung, dass siebei der Wahl große Erwartungen geweckt hat und wir jetztbei der Zunahme der Beschäftigung im hinteren Drittelherumdümpeln. Da kann ich nur sagen: Das hätte die Re-gierung Kohl besser gemacht.
1998 hatten wir einen Zuwachs von 400 000. Das wäre soweitergegangen. Durch Lafontaine haben wir dann dentotalen Abbruch dieser Entwicklung erlebt. Das ist dieWahrheit.
Herr Minister, Ihnen müssten eigentlich die Augen auf-gehen, wenn Sie diese Turbulenzen in der Rentenpolitiksehen. Sie kommen mir wie ein Leichtmatrose vor, derständig ängstlich nach dem Wetter schaut, und nicht wieein Kapitän, der auf der Brücke steht und das Steuer in derHand hat. So geht es auch weiten Teilen der Bevölkerung.
Die frühere Regierung wusste eben besser mit Renten-fragen umzugehen. Das muss man Ihnen sagen. Sie neh-men den Mund sehr voll. 1987 gab es viele Gutachten, dieeinen Anstieg des Rentenbeitrags bis 2030 auf mindes-tens 36,6 Prozent prognostiziert haben. Dann machteBlüm die Rentenreform, die sich sehen lassen konnte.Man erwartete danach für das Jahr 2030 noch 26 Prozent.Die Reform 1996/97 ließ dann 23,6 Prozent im Jahr 2030erwarten. Die rot-grünen Pläne landen im Jahr 2030 bei21,8 Prozent. Blüm brachte eine Reduzierung um 13 Pro-zent fertig. Sie kämpfen seit zwei Jahren darum, ob Sieüberhaupt zu 2 Prozent fähig sind. Das ist der Unterschiedin der Qualität.
Mit Ihrem Personal und mit Ihrer miserablen Qualitäthätten Sie die deutsche Einheit niemals geschafft. Jetztstehen Sie auf, machen ein großes Theater und werfen unsdie schwierigen Probleme, die damals zu bewältigen wa-ren, vor. Ich denke, das merken alle Leute. Sie sollten denMund nicht so voll nehmen.Das Gleiche gilt übrigens für die Arbeitsmarktpoli-tik. Sie mussten im letzten Augenblick Ihre Prognosen fürden Haushalt nochmals herunterrechnen.
Sie wollten 320 000 Beschäftigte mehr erreichen. 270 000mussten Sie dann in der letzten Runde der Haushaltsbera-tungen annehmen.
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Bundesminister Walter Riester13360
So ist es gewesen. Das müssen Sie hier auch einmal sa-gen. Wenn die Zahlen steigen, sind wir sehr zufrieden.Aber wir haben große Sorge, ob Sie das bewirken können.Wenn es dazu kommt, dann wahrscheinlich deswegen,weil andere im internationalen Bereich die konjunkturelleLage verbessern, aber nicht, weil Sie gute Gesetze ma-chen.
Sie haben nichts bewegt.Auf das Thema der 630-Mark-Jobs muss man heutenoch einmal eingehen.
Still und heimlich wurde nämlich die Statistik geändert.„Hokuspokus Riesterbus“ wurden aus 630-Mark-Be-schäftigten auf einmal Erwerbstätige. Die Aktion fand inder Nacht zum 1. Mai 2000 statt. Seitdem – man höre undstaune – haben wir 0,4 Prozent weniger Arbeitslose; dassind immerhin 100 000 Arbeitslose weniger in der Statis-tik. Sie haben das dem deutschen Volk niemals gesagt,sondern das klammheimlich in Ihre Statistik übernom-men.
Ähnliches gilt für das Thema zweiter Arbeitsmarkt.Vor der Bundestagswahl haben Sie uns immer vorgehal-ten, dass wir diesen nach oben gefahren hätten. Aber Siehaben dieses Niveau beibehalten. Bei Rot-Grün ist ebengut, was bei Schwarz-Gelb schlecht war. Das haben wirjetzt gelernt. Aber das können wir nicht so stehen lassen.Der Grüne Schlauch hat kürzlich den Kopf etwas ausdem Sand gesteckt und mehr Flexibilität bei den Löhnengefordert.
Wer glaubt, dass dies Zufall war, ist ein politischesMilchmädchen. Herr Riester, da geht einiges an Ihnenvorbei. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsfor-schung in Mannheim hat bereits am 28. Februar 2000 denEndbericht seines Gutachtens beim Finanzministeriumabgeliefert. In diesem Bericht steht, was Schlauch jetztfordert. Dem Bundesfinanzministerium – so kann man inder Expertise lesen – sind die Programme des Arbeitsmi-nisters zu teuer und zu ineffektiv. Deswegen wurde – nichtvon Ihrem Haus; Sie lässt man da schon einmal wie einenPappkameraden liegen –
vom Finanzminister und seinem Staatssekretär Overhauseine Untersuchung über die Frage in Auftrag gegeben, obman den ersten Arbeitsmarkt nicht stärker nutzen könnte,um endlich aus dieser Baisse bei der Arbeitslosigkeit her-auszukommen.
Das Ergebnis ist: Erstens löst der zweite Arbeitsmarktnicht die Probleme, zweitens muss der erste Arbeitsmarktflexibler gestaltet werden und drittens steht der Wert derProgramme nicht im Verhältnis zum Aufwand.Genauso, wie Sie Angst haben, in diesem Rentengesetzdas Problem der Rentenbesteuerung anzugehen, habenSie Angst vor diesen Erkenntnissen der Arbeitsmarktpoli-tik, die aus einem vom Bundesfinanzministerium in Auf-trag gegebenen großen Gutachten gewonnen wurden, undverweigern sich ihnen.Ich habe immer das Gefühl, dieser Minister verhältsich wie ein Mann, der in einem Zug sitzt und merkt, dasser in die falsche Richtung fährt. Er stöhnt: Ich fahre in diefalsche Richtung! – Da sagt sein Gegenüber: Warum zie-hen Sie nicht die Notbremse? – Darauf sagt er: Weil eshier so schön warm ist.
Das ist mit Sicherheit die falsche Verhaltensweise, wennman für die Zukunft das Richtige tun will.Wir hinken in Deutschland mit einer Arbeitslosigkeitvon mehr als 8 Prozent hinter unseren europäischen Nach-barstaaten her. Das ist das Problem, das Sie nicht sehen.Sie dürfen nicht nur nach Deutschland schauen. Wir ver-langen, dass wir uns im europäischen Vergleich sehen las-sen können. Das hat diese Regierung trotz aller Ankündi-gungen nicht geschafft.
Sie könnten jetzt die Beiträge zur Arbeitslosenversi-cherung senken, aber Sie tun es nicht. Stattdessen schönenSie die Zahlen im Bundeshaushalt
zulasten der Beitragszahler. Die Arbeitgeber haben be-kanntlich die Beitragssenkung verlangt, ebenso die Ge-werkschaften. Die Union ist bereit. Mit der Union würdedas Bündnis für Arbeit funktionieren. Bei Ihnen sind nurRuinen sichtbar!
Geradezu makaber ist, mit welcher KaltschnäuzigkeitSie die Sozialversicherungen belasten. Ganz besondersübel muss man Ihnen die Übertragung der Mittel für dieStrukturanpassung Ost auf die Bundesanstalt für Arbeitnehmen. Das ist ein Schlag ins Gesicht jedes Arbeitslosenin Ostdeutschland.
Man geht selbstverständlich davon aus, dass durchdiese Übertragung die Ausgaben reduziert werden. Vonwegen Chefsache: Nicht einmal mehr Bundessache, son-dern Sache der Bundesanstalt für Arbeit ist das nun! Dortwird man das Programm austrocknen. Das ist das erklärteZiel. Wenn Sie ein Arbeitsminister wären, der für Ost-deutschland das Notwendige tun wollte, dann würden Siejetzt die 29 Arbeitsamtsbezirke in Ostdeutschland, in de-nen wir eine Arbeitslosigkeit von mehr als 15 Prozent ha-ben, herausgreifen und würden ein neues Gesamtpaketschnüren, um dort gezielt zu helfen, und würden nichtweiter mit der Gießkanne durch das Land spazieren. Siesind doch nicht Gärtner, sondern Minister!
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Hans-Joachim Fuchtel13361
Innovationen können wir von diesem Minister nicht er-warten; das ist uns klar.
Das sehen wir übrigens bei den Bestimmungen zum Al-tersvermögen. Sie verbinden die Ökosteuer mit derRente.Das verträgt sich nicht. Das merkt zumindest auchschon das Bundesfinanzministerium. Ich bin überzeugt:Auch der Rest von Ihnen wird dies noch merken. Denn dieKraft, von Ihrer Seite aus etwas dagegen zu tun, habenSie ja nicht, wie vorhin auch der Beitrag der KolleginDr. Wegner gezeigt hat. Dies wird sich nicht so fortsetzenlassen, weil sich die Ökosteuer und die Rente wie derTeufel und das Weihwasser vertragen. Deswegen wird esmit diesem Spielchen ein Ende haben und wird es wiederzu einer vernünftigen Finanzierung kommen.
Ich frage Sie – jetzt kommt ein Angebot von unsererSeite –:
Warum schaffen wir es nicht, betriebliche Vermögensbil-dung und Rente zusammenzuführen? Das wäre zielorien-tiert und würde in Zukunft etwas bringen.
Hieran müssen wir arbeiten. Denn dadurch kann eingroßer sozialpolitischer, aber auch wirtschaftspolitischerund letztlich gesellschaftspolitischer Fortschritt erreichtwerden. Im Sinne einer Vision für die nächsten Jahre imRentenbereich verlangen wir, dass eine solche Konzep-tion in ein zukünftiges Gesetz aufgenommen wird. UnsereWirtschaft hat einen riesigen Innovationsschub hintersich. Ich frage mich, wo in der Politik Innovationen undneues Denken bleiben. Bei dieser Gesetzgebung ist das si-cher nicht der Fall.
Die AGP – das ist der Zusammenschluss der Firmen inDeutschland, die sich der Vermögensbildung angenom-men haben – mit ihrem Präsidenten Gerhard Schuler hatVorschläge gemacht, die aufgegriffen werden müssen.Wir fordern, dass das so genannte Win-Win-Modell ge-prüft wird. Dieses verbindet den sozialen mit dem wirt-schaftlichen Fortschritt. Diese Schnittstelle muss erkanntwerden. Als Partei Ludwig Erhards werden wir nicht eherRuhe geben, bis dies erreicht worden ist und dies Inhalteiner Zukunftsgesetzgebung für die Rente wird.
Als Haushälter noch ein paar Worte zum Abschluss:
Liebe Frau Dr. Wegner, Sie haben uns immer vorgewor-fen, wir würden mit Modellprojekten Wahlkampf ma-chen.
Wir hatten dafür einmal in einem Haushalt 100 Millio-nen DM vorgesehen. Was Sie jetzt aber machen, das istechter Wahlkampf. Im Jahre 2002 planen Sie – man höreund staune – 152 Millionen DM Spielgeld für die Koali-tion ein, um durch das Land zu ziehen und so genannte in-novative Projekte zu fördern.
Wir müssen dies kritisch ansprechen, nachdem in der Ver-gangenheit immer so getan wurde, als seien Sie auf die-sem Gebiet ganz brav und solide und als würden nur wirSchlimmes tun.
Meine Damen und Herren, zum Abschluss komme ichzur Solidität dieses Haushalts. Im Bereich der Arbeitslo-senhilfe kam es im letzten Jahr zu einer Unterfinanzierungvon 4 Milliarden DM. Trotzdem haben Sie nur ganze100 Millionen DM mehr in den Haushalt hineingeschrie-ben. Es ist doch schon vorgegeben, dass wir überplan-mäßige Ausgaben haben werden.Herr Minister, es ist schon eine große Unverschämt-heit, dass Sie mit der nächsten Stufe der Ökosteuer den so-zial Schwächsten auch noch das Weihnachtsfest versauen.Ich verstehe schon, warum die Gewerkschaften von Ihnenimmer mehr Abstand nehmen.
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin
Ekin Deligöz.
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Opposi-tion in diesem Haus ist in keiner beneidenswerten Lage.Noch vor einem Jahr standen wir hier heftig unter Be-schuss. Vor einem Jahr haben Sie die düstersten Voraus-sagen getroffen, die Sie überhaupt machen konnten.Heute machen Sie einfach damit weiter. Wir dagegen kön-nen bestätigen, dass wir unsere Hausaufgaben gut erledigthaben.
Wir haben nicht nur den Staatsbankrott abgewendetund die Steuern gesenkt, wir haben nicht nur den Mittel-stand und die Familien entlastet, sondern wir haben auch
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Hans-Joachim Fuchtel13362
Zeichen gesetzt und uns neue Ziele gesteckt: Dieses Landsetzt inzwischen auf ökologisch verträgliches Wachstum.Herr Fuchtel, Sie haben so schön über Ostdeutschlandgesprochen
und ich möchte aus dem heutigen „Handelsblatt“ zitieren:Die Wirtschaft in den neuen Ländern legt wiederstärker zu. Der Beschäftigungsabbau ist gestoppt.Das Niveau des Wirtschaftswachstums im Ostenwird noch im kommenden Jahr das Niveau der altenLänder erreichen.
– Sie glauben nicht, Herr Laumann, dass ich das „Han-delsblatt“ lese. Ich informiere mich im Gegensatz zu Ih-nen.Diese Koalition stellt sich den Herausforderungen vonmorgen und vergisst dabei nicht die Notwendigkeiten vonheute. Mit JUMP haben wir ein erfolgreiches Programmaufgelegt. Wir haben über 200 000 Jugendliche inMaßnahmen und in beruflicher Weiterbildung unterge-bracht. Wir haben JUMP für dieses Jahr dauerhaft gesi-chert und fest verankert. Damit werden wir aber nichtaufhören, wir werden weitermachen.
Wir haben bereits mehr als 50 neue Berufsbildergeschaffen. Wir haben das Berufsausbildungssystemreformiert und bleiben auch damit nicht stehen. In denkommenden Monaten wird ein Entwurf zur Aufstiegs-fortbildung vorgelegt werden. Dabei handelt es sichim Gegensatz zu dem, was Sie als Meister-BAföG vorge-legt haben – das war ein absoluter Flop und kam über-haupt nicht an –, um einen guten Entwurf. Wir machen dasum einiges besser, als Sie es je angedacht haben.
Wir bereiten aber nicht nur die Jugend auf die Arbeits-welt von morgen vor, sondern wir sagen ganz bewusst: Esgibt zwar keine Patentlösungen, aber es gibt gute Lö-sungsansätze.Sie, Herr Laumann, sprachen vorhin die internationa-len Vorbilder an. Wir orientieren uns nicht nur an den Vor-bildern, Entwicklungen und Erfahrungen aus dem Aus-land, sondern wir prüfen sie auch. Wenn sie sinnvollerscheinen, versuchen wir, sie umzusetzen. Wir ignorie-ren diese Vorbilder nicht, das hat doch wohl eher Ihre Re-gierung gemacht.Wir wollen einen dialogorientierten Ansatz. Zum Dia-log gehört auch, dass wir alle Verbände, wie zum Beispieldie Gewerkschaften, die Sozialverbände, aber auch dieUnternehmen und viele andere, in die Gespräche einbe-ziehen. Einer fehlt allerdings noch – da muss ich IhnenRecht geben –: Das ist die jetzige Opposition. Sie sindüberhaupt nicht in der Lage, einen Dialog zu führen, ge-schweige denn in diesem Bereich mitzuarbeiten.
Wir haben trotz des Sparzwangs Milliarden zugunstenvon Familien mit Kindern umverteilt. Wir haben dieVorgaben des Bundesverfassungsgerichts übererfüllt. Wirhaben höhere Kinderfreibeträge und ein höheres Kinder-geld durchgesetzt. Das gilt auch für das Kindergeld in derSozialhilfe. Wir sparen, aber wir sparen, um zu gestalten.Wir verteilen um und lassen nichts im luftleeren Raumstehen.
Vielleicht haben Sie ja aufmerksam zugehört. UnsereHaushälter haben am Dienstag angekündigt, dass weitere5 Milliarden DM zur Entlastung von Familien mit Kin-dern vorgesehen sind. Im nächsten Frühjahr werden wirzum ersten Mal einen Armuts- und Reichtumsbericht vor-legen. Wir möchten Fakten und Sachzusammenhängeauswerten,
um daraus Taten abzuleiten, was Sie bisher versäumt ha-ben. Sie, Herr Singhammer, haben Recht mit Ihrem Zwi-schenruf.Wichtig ist uns ein aktives soziales Sicherungssystem,das auf Selbsthilfe Wert legt und die Menschen nicht fürunmündig erklären will.Zum Schluss möchte ich noch etwas zu Ihnen, HerrFuchtel, sagen. Sie sprachen von dem Kapitän und demWetter. Wenn Sie Ahnung vom Segeln hätten, dann wüss-ten Sie, wie wichtig das Wetter für den Kapitän ist und wieman überhaupt vorgehen muss.
Ich wäre an Ihrer Stelle vorsichtig, bevor ich solche Be-hauptungen aufstellte.Diese Regierung ist aktiv. Sie hat Erfolge, die sie vor-zeigen kann. Sie baut nicht nur die Arbeitslosigkeit ab,sondern macht eine aktive Politik gegen verdeckte undsichtbare Armut in diesem Land. Diese Regierung lässtsich an Taten messen und nicht nur an schlauen Sätzenwie Sie.
Ich gebedem Kollegen Dr. Heinrich Kolb für die Fraktion derF.D.P. das Wort.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Ekin Deligöz13363
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, dass ichmich zunächst an den Bundesarbeitsminister wende. HerrRiester, Sie haben einiges zu dem gesagt, was Sie von unsals Erbschaft übernommen hätten.
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass Sie heute nur des-wegen große Reden schwingen können, weil Sie zum Bei-spiel 100 Milliarden DM aus dem Erlös der UMTS-Li-zenzen von uns geerbt haben. Sie sind Ihnen in den Schoßgefallen.
Ich weiß sehr wohl und will Sie daran erinnern, dass diePrivatisierung im Telekommunikationsbereich und dieEinführung von Wettbewerb gegen den erbitterten Wider-stand der SPD durchgesetzt wurde. Es ist heuchlerisch,was Sie hier machen.
Herr Riester, Ihre Erfolge beim Aufbau von Beschäfti-gung sind nicht ohne die Tatsache zu erklären, dass wirden Neuen Markt geschaffen und damit den Kapitalmarktgerade für kleine innovative Unternehmen geöffnet ha-ben, die sich als besonders beschäftigungsfördernd erwie-sen haben. Also: Eine Erbschaft besteht aus Soll und Ha-ben. Betreiben Sie keine Rosinenpickerei. Bitte nehmenSie die Erbschaft insgesamt an oder gar nicht.
Im Übrigen besteht zur Selbstzufriedenheit, HerrRiester, kein Anlass. Ich habe mir in Vorbereitung aufdiese Rede einmal das Sachverständigengutachten sehrintensiv angesehen. Es wird üblicherweise nur vonWirtschaftspolitikern gelesen. Das ist schade, weil geradezur Sozialpolitik sehr viel gesagt wird. Es ist richtig: DieBundesrepublik Deutschland hat das drittschwächsteWachstum in der Europäischen Union. Nur noch in Italienund Dänemark ist das Wachstum geringer. Es ist richtig:Wachstum findet mittlerweile fast ausschließlich in denalten Bundesländern statt. Die neuen Bundesländer sindausgeblendet. Das sind Dinge, die Sie zur Kenntnis neh-men müssen.Sie sind stolz darauf, dass Sie für mehr Beschäftigunggesorgt haben. Wir freuen uns mit Ihnen, Herr Riester.
Das sage ich auch an Ihre Adresse. Aber nehmen Sie bittezur Kenntnis: Der Arbeitsmarkt ist keine Einbahnstraße.Auch wir hatten während unserer Regierungszeit Phasen,in denen wir binnen kürzester Zeit einen Beschäftigungs-zuwachs von 3 Millionen erreicht haben. Aber die Frageist doch, was bei einer rückläufigen Konjunktur sein wird.Meine Sorge und die meiner Fraktion ist, dass hinterhereine wesentlich höhere Sockelarbeitslosigkeit zurück-bleibt, weil Sie Ihre Hausaufgaben nicht machen.
Schauen wir einmal, was die Sachverständigen schrei-ben. Sie schreiben erstens: Die Arbeitslosigkeit ist immernoch viel zu hoch. – Das ist richtig. Wir haben im Jahres-durchschnitt 2000 immer noch 3,9 Millionen Arbeitslose.Das ist unerträglich. Sie schreiben zweitens: Ein günsti-ger Konjunkturverlauf ist nicht mit einer Wachstumsdy-namik aus eigener Kraft gleichzusetzen. – Auch das istrichtig. Sie schreiben drittens: Ganz oben auf der Liste desdringenden Handlungsbedarfs stehen zukunftsweisendeReformen der Arbeitsmarktordnung und des Gesund-heitswesens. Ich zitiere: „Hier bewegt sich wenig.“ – Dasist die Zensur, die Sie vom Sachverständigenrat bekom-men haben, Herr Riester!
Schauen wir uns die Rahmenbedingungen am Ar-beitsmarkt an. Diese sind von entscheidender Bedeu-tung. Ich frage mich manchmal, ob Sie die richtige Grund-auffassung haben. Arbeitsplätze können auf Dauer imersten Arbeitsmarkt nur in Unternehmen und von Unter-nehmern geschaffen werden. Sie werden dann geschaffen,wenn die Rahmenbedingungen nicht zu restriktiv sindund wenn es sich vor allen Dingen nach Abzug von Steu-ern lohnt.
Was haben Sie gemacht? Ich kann Ihnen nicht erspa-ren, einen Blick zurückzuwerfen. Heute ist die Gelegen-heit zu einer Halbzeitbilanz. Sie haben die 630-Mark-Regelung verändert. Sie haben dem Mittelstand damitseine Flexibilitätsreserve geraubt. Sie haben massive Pro-bleme in der Betriebsorganisation, gerade bei kleinen Un-ternehmen, geschaffen.
Das Verrückteste ist: Sie sind stolz darauf, dass Sie da-mit die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäf-tigten erhöht haben. Aber Sie haben nur abgezockt, HerrMinister. Was Sie nicht geschafft haben, ist eine Lösungdes Problems, das Sie jahrelang wie eine Monstranzhochgehalten haben, nämlich die Verbesserung hinsicht-lich der Rentenversicherungsverläufe, insbesondere beiFrauen. Ein marginaler Prozentsatz derjenigen, die heuteeine geringfügige Beschäftigung haben, macht von IhremAngebot bei der Rente Gebrauch. Das zeigt: Sie haben amInteresse der Menschen vorbei gehandelt.
Thema Scheinselbstständigkeit. Sie wollten dieFlucht aus der Sozialversicherung stoppen. Aber anstattzu fragen, warum die Menschen aus der Sozialversiche-rung fliehen, haben Sie versucht, die Ausgänge zu verna-geln. Dabei haben Sie aber übersehen: Was Sie Schein-selbstständigkeit nannten, Herr Riester, nämlich dieTätigkeit, die gekennzeichnet ist durch anfangs nur einenArbeitgeber, ist ein wichtiger Zwischenschritt auf demWeg in die Selbstständigkeit. Deswegen sind die Zahlenzur Existenzgründungstätigkeit in Deutschland, seit Siean der Regierung sind, vernichtend.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 200013364
Sie haben die Gründungsdynamik der 90er-Jahre platt ge-macht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ich könnte noch lange fortfahren,zur Teilzeitarbeit und zu dem, was Sie als eine Reform desBetriebsverfassungsgesetzes hier auf den Weg zu bringengedenken. Ihr Handeln geht an den Notwendigkeiten desArbeitsmarktes vorbei. Der Sachverständigenrat hat esIhnen bescheinigt. Denken Sie um – noch ist Zeit –, an-derenfalls werden Sie eines Tages ein böses Erwachen er-leben.Vielen Dank.
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Ewald Schurer.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Wir sind ein ökonomisch,ein wirtschaftlich reiches Land, im Export Europameister,sogar Vizeweltmeister. In weltweiten Vergleichen derProduktivitätsraten sind wir anhaltend an der Spitze. Wirwerden international gelobt für ein duales System in derberuflichen Bildung.Aber ich darf hier feststellen: In einer 16-jährigen„Dürreperiode“ kam es in diesem Land zu einer anhalten-den politischen Desorientierung, auch im Bereich desAusbildungs- und Arbeitsmarktes. Langsam, aber si-cher zogen sich damals auch große Konzerne zunehmendaus der beruflichen Ausbildung zurück. Das seien Kosten,hörte man Anfang der 90er-Jahre, die keiner mehr tragenmöchte.Da entwickelte sich ein Zeitgeist, der sich in wirt-schaftsliberalen Befreiungschorälen den Weg in eineShareholder-Value-Kultur bahnte, aber einfach nichterkennen wollte, dass für diese Volkswirtschaft Bil-dung und Ausbildung die gesellschaftliche Investitionschlechthin bedeuten.
Die Liberalen forderten damals in Fortsetzung ihrer ge-sellschaftlichen Fehlanalysen sogar die vollständige Ein-stellung öffentlicher Programme, trotz ökonomisch nach-haltiger Verwerfungen in dieser Republik im Zuge derWiedervereinigung.
Im wieder vereinten Deutschland brachen in den neuenBundesländern die industriellen Strukturen teilweise fastvollkommen zusammen. Die angekündigten „blühendenLandschaften“ verkehrten sich damals, zumindest am Ar-beits- und Ausbildungsmarkt, ins krasse Gegenteil.1998 neigte sich dieser reale Albtraum dann endlichdem Ende zu.
Nach den Bundestagswahlen wurde im Oktober 1998 einneues Koalitionsprogramm vorgestellt. Darin war als ei-ner der wesentlichen Eckpfeiler das Sofortprogramm derneuen rot-grünen Bundesregierung zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit enthalten. Die Chancen jungerMenschen, sich über Bildung und Beruf gesellschaftlichzu integrieren und sich mit der Gesellschaft zu identifi-zieren, sollten nicht mehr länger dem Zufall überlassenwerden. Nein, sie sollten gezielt verbessert und ausgebautwerden. Im neuen Programm wurden von der Arbeits-verwaltung aus dem SGB III bereits bewährte undneue Maßnahmen konzentriert, damit zunächst einmal100 000 junge Menschen unter 25 Jahren Ausbildung undBeschäftigung bekamen.
Doch noch einmal, meine verehrten Damen und Her-ren, meldeten sich die Geister, zwar nicht aus dem Jenseits– so weit sind sie noch nicht –, aber aus dem Abseits. „So-fort abschaffen“, hieß es damals aus den Reihen der Unionvon vermeintlichen Sozialexperten der CSU,
noch bevor das Programm richtig loslegte. „Sie operierenmit falschen Zahlen“, wollte die liberale „Sozialabsänge-rin“ schon in der Startphase des JUMP-Programms da-mals wissen.
Tatsache ist: Allein im Jahre 1999 wurden rund 176 000Einzelpersonen durch das JUMP-Programm persönlichgefördert.
Bis Oktober dieses Jahres verzeichnete das Programmrund 75 000 weitere Eintritte. Weil circa 7 000 Jugendli-che in beiden Jahren in Maßnahmen des Programms ein-traten, kann wie folgt bilanziert werden: Von Anfang 1999bis zum Herbst 2000 sind insgesamt rund 243 000 jungeMenschen unter 25 Jahren in dieses Programm eingetre-ten und wurden in ungefähr 279 000 Fördermaßnahmenweitergebildet, qualifiziert und gefördert.Zum 1. Januar 2000 wurde das Programm schwer-punktmäßig auf die Eingliederung Jugendlicher in denersten Arbeitsmarkt hin ausgerichtet. So ergibt sich fürdas laufende Jahr folgende Situation: Gut 28 000 Einglie-derungen in den ersten Arbeitsmarkt konnten mit Lohn-kostenzuschüssen vorgenommen werden. Mehr als17 000 Jugendliche sind in Qualifizierungs- und Arbeits-beschaffungsmaßnahmen eingetreten. Fast 14 000 Ju-gendliche wurden in Trainingsmaßnahmen nach Art. 7integriert, um in einem systematischen Findungsprozessdie beruflichen Neigungen und Fähigkeiten junger Men-schen ganz gezielt herauszuarbeiten. Damit müssen Siesich, liebe Oppositionskollegen, auch einmal fachlich be-fassen. Erst dann können Sie sich ein Urteil erlauben.
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Dr. Heinrich L. Kolb13365
Fast 14 000 junge Menschen wurden in diesem Jahr mit„hinführenden Maßnahmen“ über soziale Betreuung ge-rade auch durch Streetworker, also durch eine individuelleSozialarbeit, erreicht. Circa 10 000 Nach- und Zusatz-qualifizierungen wurden und werden in diesem Jahr alsVollmaßnahmen nach Art. 7 durchgeführt. Noch nichtausbildungsgeeignete Jugendliche werden über Praktikaan die Berufsausbildung herangeführt. Die außerbetrieb-liche Ausbildung ist in strukturschwachen Regionen Ost-deutschlands nach wie vor ein ergänzendes Instrument,auf das wir vorerst nicht verzichten können. Bleibt nochzu ergänzen: Maßnahmen zum Nachholen des Haupt-schulabschlusses dürfen in der Palette der Maßnahmendes Sofortprogramms nicht fehlen.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-schung der Bundesanstalt für Arbeit hat erst kürzlich fest-gestellt: Das Programm hilft ausbildungs- und ar-beitslosen Jugendlichen gezielt. Die Begleitforschungbelegt: 27 Prozent der teilnehmenden Jugendlichen kom-men aus Familien mit niedriger sozialer Stellung. Fast15 Prozent der Teilnehmer haben keinen Schulabschluss,was eine wichtige Voraussetzung wäre, um beruflich ge-bildet werden zu können. 77 Prozent der Teilnehmer desSofortprogramms waren zuvor arbeitslos, davon 45 Pro-zent einmal und 32 Prozent mindestens zweimal. Daszeigt: Das Programm erreicht exakt die Richtigen.
Junge Menschen werden mit dem SofortprogrammJUMP gezielt angesprochen, geworben, motiviert und zueinem guten Teil neu ausgebildet und beschäftigt. Dass inOstdeutschland trotz dieses Programms die Jugendar-beitslosigkeit in diesem Jahr ein Stück weit gestiegen ist,spiegelt leider die geographisch gespaltene Konjunkturdes Landes wider. Der gesamtwirtschaftliche Auf-schwung konnte sich aufgrund tief greifender Strukturde-fizite in einzelnen Regionen des Ostens noch nicht in aus-reichendem Maße durchsetzen.Während die Jugendarbeitslosigkeit im Westen imOktober 2000 gegenüber dem Vergleichsmonat des Vor-jahres um 21 000 abnahm, gab es im Osten leider einenZuwachs von circa 15 000 jungen Menschen unter 25 Jah-ren. Aber ohne das Sofortprogramm – das ist die Wahrheit –wäre die Jugendarbeitslosigkeit in den neuen Ländern we-sentlich stärker – ein Teil der Expertinnen und Expertensagt sogar: explosionsartig – gestiegen.Gemäß den Empfehlungen des Spitzengespräches imBündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähig-keit vom 10. Juli 2000 wurden in das JUMP-Programmzusätzlich Mobilitätshilfen für Jugendliche aufgenom-men und vom Kabinett im Herbst entsprechend beschlos-sen. Jugendliche, die mindestens drei Monate arbeitslossind, können durch diese Mobilitätshilfen zusätzliche Un-terstützung erhalten, wenn ihr neuer Arbeitsplatz mindes-tens 100 Kilometer oder wenigstens eineinhalb Stunden –einfache Fahrzeit – vom alten Wohnort entfernt liegt.Mit einer Verwaltungsvereinbarung – darauf hat HerrMinister Walter Riester schon hingewiesen – wird dieBundesregierung sicherstellen, dass die Mittel für das So-fortprogramm im Jahr 2001 zu 50 Prozent in die neuenLänder fließen, also schwerpunktmäßig dort eingesetztwerden, wo es die jungen Menschen ganz besonders nötighaben.
Das Programm wird – das ist bedeutend – im Jahr 2001in einem Volumen von 2 Milliarden DM fortgeführt, wo-von – auch das ist interessant – 800 Millionen DM ausdem Europäischen Sozialfonds refinanziert werden. Jun-gen Menschen, die aufgrund fehlender Voraussetzungenvom Erwerbsleben ausgeschlossen sind bzw. den Zugangdazu nicht gefunden haben, eröffnet diese Bundesregie-rung auch weiterhin die Chance zum Einstieg in Berufund Gesellschaft. Über den Beruf Lebensperspektiven zuentwickeln bedeutet, dass junge Menschen neben demFachwissen auch soziale Kompetenz erlangen. Ich betonedas deshalb, weil das Sofortprogramm damit auch einProjekt gegen die Versuche des Rechtsradikalismus indiesem Land ist, Jugendliche für sich, also für die falscheSeite, zu vereinnahmen. Das zählt auf jeden Fall doppelt.Ich bedanke mich.
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Johannes
Singhammer.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im „Spiegel“ die-ser Woche ist eine Einschätzung der Konzeption rot-grü-ner Regierungspolitik aus dem Regierungslager zu lesen.Der Urheber will sich nicht mit Namen dazu bekennen.Darin heißt es:Wir bauen ein Auto, ohne einen Plan zu haben. AmSchluss haben wir das Auto, nur das Lenkrad ist nichtin Fahrtrichtung.Herr Bundesarbeitsminister Riester, bei Ihnen könnteman hinzufügen: Der Motor stottert, die Luft ist raus, Siefahren auf den Felgen und das auch noch im Zickzack-kurs.
Da nützt es auch nichts, wenn Ihnen der Bundeskanzlerimmer wieder ins Lenkrad greift.In der ersten Hälfte dieser Legislaturperiode haben Siedie Nähe der Bosse gesucht. „Genosse der Bosse“ zu seinwar das Ziel, das auch Sie angestrebt haben. Mit zuneh-mender Nähe zum Wahltermin ist eine merkwürdige Ver-änderung festzustellen. Jetzt wollen Sie wieder gern der
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Ewald Schurer13366
Boss der Genossen sein und Sie suchen die wärmendeNähe der Gewerkschaften.Die Folge dieses Schlingerkurses ist es allerdings, dassdie rot-grüne Bundesregierung nicht nur bei Arbeitneh-mern, sondern auch bei Arbeitgebern jeden Tag mehr anKredit verliert und dass es um Sie als Arbeitsminister vonTag zu Tag politisch einsamer wird. Ihr politischer Über-lebenskampf wird nicht einfacher. Auch dass Sie heuteden Verteidigungsstaatssekretär Kolbow mitgebracht ha-ben, wird Ihnen nicht viel nützen.
Mit den von Ihrer Regierung als besonders herausra-gend und wichtig proklamierten Projekten, nämlich derRentenreform und der Reform des Betriebsverfassungs-gesetzes, kommen Sie nicht voran.Im Jahre 1998 haben Sie angekündigt, die Renten-reform der Regierung Kohl/Waigel, die in Kraft war,außer Kraft zu setzen und nach kurzer Zeit ein völligneues Gebäude zu errichten. Das Erstere haben Sie getan,aber was Letzteres angeht, so liegt noch immer erst einEntwurf vor, obwohl wir bereits über die Hälfte der Le-gislaturperiode hinter uns haben. Und über diesen Ent-wurf – das muss man auch einmal sagen – werden von Tagzu Tag mehr Kübel an Kritik ausgeschüttet, wie dies in derRentendiskussion der vergangenen Jahre noch nie der Fallwar.Ich möchte Ihnen nur eine kurze Kostprobe geben.Der sächsische LVA-Direktor, Heinz Löffler, trifft diegenerelle Aussage, die Rentner seien die Gewinner derdeutschen Einheit gewesen. Nun ändere sich dies, denndie Rentner gerieten auf die Verliererseite. Der Präsidentdes Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirt-schaft, Bernd Michaels, kritisiert, dieser Zickzackkurszerstöre das „zarte Pflänzchen an Vertrauen“. Der Präsi-dent des Deutschen Städtetages, Hajo Hoffmann, sagt,wenn Sozialhilfe als Grundrente missbraucht werde,drohe ein Anstieg der Zahl der Sozialhilfeempfänger vonderzeit 180 000 auf 400 000. Und ein Zitat aus dem Be-reich der Wirtschaft: Der Allianz-Vorstand GerhardRupprecht sagt, das Defizit der Reform liege im Hand-werklichen.Wenn Ihnen das immer noch nicht reicht, so kann ichauch noch einige Stimmen aus Ihrem Lager zitieren: Diefinanzpolitische Sprecherin der Grünen, Frau Scheel,sagte, es sei naiv, zu glauben, man könne die neue Ren-tenformel schon im nächsten Jahr anwenden, mit der pri-vaten Absicherung aber erst ein Jahr später starten – bei-des gehöre zusammen. – Recht hat sie! Kurz und knapphat die Kritik, die hier von vielen schon zitiert worden ist,ein Plakat auf dem ÖTV-Kongress in Leipzig mit der Auf-schrift: „Riesters Rente macht uns arm“ zusammenge-fasst.Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Kritik,die aus allen Lagern kommt, die ideologisch nicht einzu-ordnen ist, zeigt: Diese Bundesregierung sitzt mit ihremEntwurf buchstäblich zwischen allen Stühlen. DieserBundesregierung fehlt der Kompass.
Den neuen Herausforderungen dieses eben begonnenenJahrhunderts – auch das kann man an dieser Stelle sa-gen – wird sie in keiner Weise, weder intellektuell nochpolitisch, gerecht. Was ist das Megaproblem der deut-schen Sozialpolitik in den nächsten Jahren? Das Mega-problem wird darin bestehen, dass sich die Sozialpolitikauf eine völlig andere demographische Entwicklung, alswir sie im zurückliegenden Jahrhundert verzeichnenkonnten, einstellen muss.Die große Veränderung wird daran deutlich, dass dieBevölkerungspyramide in den unteren Bereichen ab-schmilzt und ausfranst. Dies hat Folgen für die Bevölke-rungspolitik und wird nicht nur die Renten-, sondern auchdie Kranken- und die Pflegeversicherung massivberühren. Der eigentliche Grund dafür, warum eine Dis-kussion über die Reform der Rente aufgekommen ist, ist,dass die Zahl der Beitragszahler in den kommenden Jah-ren zurückgehen, die Zahl derjenigen, denen zum BeispielLeistungen aus der Rentenversicherung zustehen, aberwachsen wird. Auf dieses entscheidende Problem gebenSie eine völlig unzureichende Antwort. Sie weichen ausund sagen, dass Sie das Problem durch erhöhte Zuwande-rung lösen. Aber das Problem der demographischen Ent-wicklung werden Sie mithilfe von Zuwanderung nicht inden Griff bekommen.
Nach Modellrechnungen der Vereinten Nationen– vielleicht glauben Sie denen, wenn Sie mir nicht glau-ben, Herr Hagemann; passen Sie bitte genau auf! – wäreeine jährliche Zuwanderung von sage und schreibe3,4 Millionen Menschen nach Deutschland nötig – dasentspricht der Bevölkerungszahl von Mecklenburg-Vor-pommern und Schleswig-Holstein –, um das zahlen-mäßige Verhältnis der 15- bis 64-Jährigen zu den über 64-Jährigen in der Balance zu halten. Eine Zuwanderung inderartiger Größenordnung befürwortet in diesem HausGott sei Dank niemand und würde Deutschland auchüberfordern. Deshalb – jetzt komme ich zu dem entschei-denden Punkt – brauchen wir eine nachhaltige, vernetztePolitik für Familien und Kinder, gerade auch im Ressortdes Arbeitsministers.
Es geht uns nicht darum, die Zahl der Deutschen zu er-höhen, sondern es geht uns darum, dass die Familien, dieKinder wollen, diesen Wunsch auch realisieren können,ohne dass dadurch der soziale Abstieg vorprogrammiertwird und sie, wenn sie selbst in Rente gehen, erheblicheNachteile befürchten müssen. Deshalb haben wir beimEinstieg in die private Vorsorge so großen Wert daraufgelegt, dass die Familien besonders gefördert und nichterneut benachteiligt werden. Denn nur so kann der Gene-rationenvertrag wieder ins Gleichgewicht kommen.
Von einer schnellen und kräftigen Förderung fürdie Familien kann aber bei Ihnen keine Rede sein. Ichmöchte nur diesen einen Punkt herausgreifen. Die hiervorgesehene Familienkomponente kommt einem Mini-programm gleich. So beläuft sich die Kinderkomponente
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Johannes Singhammer13367
beispielsweise im ersten Jahr – das wäre dann 2002 – aufnur 7,50 DM pro Kind im Monat. Wie soll denn eine jungeFrau, ein junger Mann eine sichere zusätzliche Altersvor-sorge mit diesen minimalen Beträgen aus eigener Kraft er-reichen? Völlig unverständlich ist, dass die Bezieher ho-her Einkommen durch Steuerersparnisse zum Beispielaufgrund von Abschreibungsmöglichkeiten wesentlichgünstiger gestellt werden. So erhält eine allein stehendeVerkäuferin mit einem monatlichen Durchschnittsein-kommen eine Zulage von gerade 300 DM im Jahr undauch dies wird erst im Jahr 2008 erreicht, während einallein stehender Großverdiener bei einem Grenzsteuersatzvon 50 Prozent einen Steuervorteil von 2 000 DM hat.Wenn er verheiratet ist, hat er sogar einen Vorteil von4 000 DM. Das ist nicht das, was Sie angekündigt haben;das ist auch nicht sozial, sondern das ist ungerecht.
Damit diese Ungerechtigkeit von den Menschen inDeutschland nicht bemerkt wird, verschieben Sie auswahltaktischen Gründen den Einstieg in die private Al-tersvorsorge auf das Jahr 2002. Der Trick: Die Förderungwürde zwar im Jahr 2002 einsetzen, die Bilanz aber wirderst nach dem Wahljahr 2002 vorliegen. Dann wird sichmit großer Wahrscheinlichkeit herausstellen, dass sichalle Ihre Ankündigungen von einer breiten Inan-spruchnahme dieser privaten Vorsorge eben nicht bestäti-gen, weil es sich nämlich viele mit einem schmalen Geld-beutel überhaupt nicht leisten können.
Aufgrund der demographischen Gründe gibt es auchnicht den geringsten Anlass, dass sich Rot-Grün am Rück-gang der Arbeitslosenzahlen berauscht und geradezutrunken vor Glück einen Erfolg proklamiert. Auch bei völ-ligem Politikstillstand, wenn Sie die Hände in den Schoßlegten und nichts täten – manchmal wäre es im Übrigenbesser, Sie täten nichts statt das Falsche –, verließen Jahrfür Jahr 220 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmermehr den Arbeitsmarkt, als Jüngere in ihn neu einträten.Deshalb sind die Arbeitslosenzahlen dieser Regierung,die Sie hier als Erfolg verkaufen wollen, der Lackmustestfür die Erfolglosigkeit; denn hätten Sie wirklich etwasaußerhalb der demographischen Entwicklung bewirkt,dann müssten Sie mit den Arbeitslosenzahlen weit näheran der 3-Millionen-Marke angekommen sein, als diesjetzt der Fall ist.
Kommen wir noch zu dem zweiten großen Vorhaben,der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes. Vor derBundestagswahl versprach dieser Bundeskanzler den Ge-werkschaften eine weitgehende Umsetzung der damalsschon vorliegenden gewerkschaftlichen Forderungen.Schließlich hat man diesen Bundeskanzler im Wahlkampfja mit 8 Millionen DM unterstützt.
Mit dem Start des Bündnisses für Arbeit war allerdingsklar, dass die Arbeitgeber es nicht hinnehmen werden,wenn die gewerkschaftlichen Vorstellungen detailgenauumgesetzt werden. Deshalb wird nun die Vorlage des Ent-wurfes für ein geändertes Betriebsverfassungsgesetz stän-dig weiter verschoben. Es werden Eckpunkte vorgelegt,sie werden auch einmal präzisiert, aber ein echter Ent-wurf, den dieses Hohe Haus schon längst einmal sehenwollte, kommt nicht, weil Sie die Auseinandersetzungscheuen.
Herr Bundesarbeitsminister, das ist das politischeBSE-Prinzip: aussitzen, abwarten und hoffen, dass dieKatastrophe nicht eintritt. Aber damit werden Sie nichtsehr weit kommen. Deshalb möchte ich Sie fragen, HerrBundesarbeitsminister: Wie sieht denn nun Ihr Entwurfletztendlich aus? Was haben Sie denn in den Schubladen?Welche Auswirkungen werden Ihre Vorschläge für denStandort Deutschland haben? Werden die Mitbestim-mungstatbestände jetzt ausgeweitet oder nicht? Wird diemaßgebliche Zahl der Arbeitnehmer –, ab der ein Be-triebsrat gegründet werden muss, verändert oder nicht?
Wird mehr reguliert, wird mehr bürokratisiert oder weni-ger? Wie sieht das Verfahren bei den Betriebsratswahlenaus?Und, Herr Bundesarbeitsminister: Was geschieht hin-sichtlich dieser Fragen in Nizza?
In Nizza soll der Bereich der Mitbestimmung in die Reiheder durch Mehrheitsentscheid zu regelnden Bereicheüberführt werden. Das heißt in der Konsequenz: Wenn esdabei bliebe, wenn dieser Bereich in eine Mehrheitsent-scheidung überführt würde, würde die letzte Entschei-dung eben nicht mehr hier im Deutschen Bundestag ge-troffen, sondern in Brüssel. Welche Auswirkungen hat dasauf die Mitbestimmung? Welche Auswirkungen hat dasauf das Betriebsverfassungsgesetz? – Dazu brauchen wirvon Ihnen endlich einmal eine Auskunft!Es wundert nicht, wenn die Menschen in Deutschlandmit dieser Art von Politik immer weniger zufrieden sind.Eine Emnid-Umfrage aus der letzten Woche belegt dies.Speziell für Ihren Bereich der Arbeits- und Sozialpolitikfällt die Beurteilung besonders schlecht aus. Nur ein Drit-tel der Bürger bejaht die Frage, ob die sozial Schwachenvon der Politik der Bundesregierung profitiert haben. DieMehrheit sieht in Ihrer Politik also das Gegenteil vondem, was Sie versprochen haben.Herr Bundesarbeitsminister, es wird kälter in Deutsch-land. Sie tragen die Verantwortung dafür.
Ich gebe nunder Kollegin Katrin Göring-Eckardt das Wort für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Johannes Singhammer13368
Herr Singhammer, es stimmt, dass es in Deutschland käl-ter wird. Das hat aber mit der Jahreszeit und ganz sichernicht mit unserer Sozialpolitik zu tun.
Lassen Sie mich auf ein paar Punkte eingehen, die Sieangesprochen haben. Sie haben gesagt, die demographi-sche Entwicklung werde uns stark beschäftigen. Das tutsie in der Tat – im Gegensatz zu der damaligen Regierung.Sie haben ferner gesagt, Menschen mit kleinem Geldbeu-tel und Menschen mit Kindern könnten sich eine privateVorsorge nicht leisten. Herr Singhammer, finden Sie esfalsch, dass wir mit der privaten Vorsorge und ihrer För-derung langsam einsteigen, weil wir der Meinung sind,dass sich die Menschen erst darauf einstellen müssen?Finden Sie es falsch, dass beispielsweise eine allein er-ziehende Frau am Ende der Förderung mehr als 1 000 DMals private Zusatzrente bekommt, wenn sie monatlich je-weils etwa 10 DM für die private Vorsorge eingesetzt hat?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das falsch finden.Frau Schwaetzer, auf Sie gehe ich heute nicht ein. Das,was Sie heute hier gesagt haben, beinhaltete nichts, wasman als Konzept bezeichnen könnte. Sie haben lediglichder Union vorgeworfen, sie würde anstreben, mit einemRentenbeitrag von 20 Prozent ein Rentenniveau von über64 Prozent zu halten. Ich kann mich noch gut daran erin-nern, dass Sie in der Vergangenheit gesagt haben, mankönne mit 18 Prozent Beitrag auskommen. Aber über dasRentenniveau haben Sie sich nie geäußert. Da Sie daraufauch heute nicht eingegangen sind, möchte ich mich mitIhrer Rede auch nicht beschäftigen.
Aber ich möchte mich gerne mit Ihrem Kollegen HerrnKolb beschäftigen. Er hat nämlich gesagt, die Rente fürFrauen werde sich nicht verbessern.
Diese Feststellung ist eine riesige Fehleinschätzung.
Wir werden mit unserer Rentenreform nämlich zum ers-ten Mal dafür sorgen, dass es keine unterbrochenen Ren-tenbiografien für Frauen mehr gibt. Darauf haben dieFrauen sehr lange gewartet. Wir machen das und schaffendas auch. Das ist die Wahrheit.
Frau Kolle-gin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Schluss kommen.
Ich würde gerne noch auf einen Beitrag eingehen, dergestern im „Tagesspiegel“ zu lesen war, und zwar vomKollegen Blüm. Ich weiß nicht, warum er in dieser De-batte nicht redet. Ich gehöre dem Bundestag ja erst seitdieser Legislaturperiode an und hätte ihn gern als Rednererlebt. Herr Blüm, Sie haben in diesem Beitrag ein paarPunkte angesprochen, auf die man eingehen muss. Sie ha-ben gesagt, die Rentenreform sei Willkür. Das ist falsch:Die Rentenreform ist nicht Willkür, sondern sie reagiertauf die gegebene demographische Entwicklung undgleicht über die private Vorsorge das aus, was der jungenGeneration später fehlt und was sie deshalb zusätzlichbraucht.Sie haben darüber hinaus gesagt, die junge Generationwerde benachteiligt. Von allen Seiten wurden heute Gut-achten angeführt. Ich möchte einen Wissenschaftler zitie-ren, der wohl von Herrn Seehofer zur Anhörung eingela-den wurde, nämlich Herrn Raffelhüschen. DieserWissenschaftler, der Generationenbilanzen erstellt – dasist ja ein großes Anliegen von Ihnen –, kommt in seinerneuesten Generationenbilanz, die auf dem beruht, waswir im Zuge der Rentenreform vorgeschlagen haben, zudem Schluss: „Die Lasten für Jung und Alt werden gleich-mäßig verteilt.“ Er weist diesen Sachverhalt in Zahlennach, was ich aufgrund der Kürze meiner Redezeit nichtmachen kann.
Der Artikel über unsere Rentenreform, der in der „Wirt-schaftswoche“ erschienen ist, trägt die Überschrift „DerStein der Weisen“. Wir hätten es nicht gewagt, unsere Re-form so zu beurteilen.
Es gibt noch einen ähnlichen Artikel, der die Über-schrift „Expertenlob“ trägt. Herr Singhammer, auch die-sen sollten Sie sich einmal zu Gemüte führen. In diesemArtikel wird von nicht Rot-Grün nahen Wissenschaftlernberichtet, denen man nicht unterstellen kann, dass sie unsnach dem Munde reden. Vielmehr handelt es sich umdiejenigen Wissenschaftler, von denen Sie sich beratenlassen. Dann lassen Sie sich bitte auch hier beraten.Diese Reform hält, was sie verspricht, nämlich denAusgleich zwischen Jung und Alt. Sie führt die Genera-tionengerechtigkeit in diesem Land endlich wieder ein.Das ist die Wahrheit.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000 13369
Ich möchte zum Schluss auf das zu sprechen kommen,was Sie zum Thema Arbeitsmarkt gesagt haben. Wir ha-ben nie festgestellt, dass wir mit dem, was wir erreicht ha-ben, zufrieden sein können. Aber wir haben einen Anfanggemacht und wir werden weitermachen. Darauf kommt esan. Wir werden weitermachen mit der Bekämpfung derArbeitslosigkeit von Jugendlichen mithilfe des JUMP-Programms. Wir werden weitermachen mit den Reformenam ersten Arbeitsmarkt. Wir werden die Lohnnebenkos-ten senken. Sie wissen ganz genau, dass es darauf an-kommt. Es geht eben nicht um das Motto: von der einenTasche in die andere Tasche. Was Sie mit der Mehrwert-steuer gemacht haben, bedeutete, in die Rentenversiche-rung zu zahlen, wenn man Kinderkleidung, Nahrungsmit-tel oder sonst etwas gekauft hat. Wir sagen Ja zurÖkosteuer. Energie zu verteuern und die Lohnnebenkos-ten zu senken – das ist der richtige Ansatz.
Wir sagen: Der erste Arbeitsmarkt muss auch den Be-hinderten offen stehen. Deswegen führen wir entspre-chende Maßnahmen durch. Wir wollen weniger Arbeits-lose. Das bisher Erzielte reicht noch nicht; wir müssenweitermachen. Die Bilanz wird 2002 gut aussehen. Ichbin mir ganz sicher, dass wir auch danach noch weiter-machen werden mit der Senkung der Lohnnebenkosten,mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit und mit sozialerWärme in diesem Land, Herr Singhammer.Vielen Dank.
Eine Kurz-
intervention des Kollegen Dr. Heinrich Kolb.
Frau Kollegin Göring-
Eckardt, ausweislich des Sachverständigengutachtens,
das Sie in Auftrag gegeben haben und das Sie auch wohl
bezahlen werden, ist es so, dass sich die Zahl der sozial-
versicherungspflichtig Beschäftigten in den letzten Jahren
– der Stichtag ist genannt worden: 1. Mai dieses Jahres –
in Deutschland um etwa 4 Millionen erhöht hat. Das sind
4 Millionen Menschen, die vorher in geringfügiger Be-
schäftigung waren und jetzt von Ihnen in den Kreis der
Sozialversicherungspflichtigen aufgenommen worden
sind.
Diese 4 Millionen Arbeitsverhältnisse waren für Sie,
als Sie noch in der Opposition waren, regelmäßig ein ro-
tes Tuch. Sie haben uns immer wieder vorgejammert, es
sei unerträglich, dass Menschen in solch schlecht bezahl-
ten Arbeitsverhältnissen seien. Sie haben sich auch um die
Rentenversicherungen gerade von Frauen gesorgt, die
sehr häufig von dieser Art Beschäftigungsverhältnis Ge-
brauch machen.
Frau Göring-Eckardt, als ich das letzte Mal nachgese-
hen habe, waren es zwischen 3 und 4 Prozent der gering-
fügig Beschäftigten, die jetzt sozialversicherungspflichtig
sind, die von Ihrem Angebot Gebrauch gemacht haben,
durch zusätzliche Beiträge einen eigenen Rentenanspruch
zu erwerben. Man muss den Menschen sagen: Die Sozi-
alversicherungsbeiträge, die jetzt abgeführt werden, wer-
den in der Regel nicht zum Aufbau eines Rentenanspruchs
der geringfügig Beschäftigten verwendet. Vielmehr hat
man nur dann, wenn man zusätzlich zahlt, einen Anspruch
auf eine geringfügige Rente. – Ich höre gerade, der aktu-
elle Stand beträgt etwa 7 Prozent.
Sind Sie bereit, mir zuzustimmen, dass Sie mit Ihrer
Regelung offensichtlich ein Problem gelöst haben, das
überhaupt nicht bestand, dass Ihre Regelung zumindest an
den berechtigten Interessen der betroffenen Menschen
vorbeigegangen ist? Sonst hätten mehr als bisher davon
Gebrauch gemacht.
Zur Erwi-
derung Kollegin Göring-Eckardt.
glaube nämlich,
dadurch, dass wir die geringfügig Beschäftigten sozial-
versichert haben, können erstens eigene Rentenansprüche
erworben werden. Zweitens: Durch eine Reihe von wich-
tigen Maßnahmen innerhalb der Rentenreform können ei-
genständige Renten der Frauen gesichert werden. Drittens
– Frau Kollegin Dückert hat vorhin darauf hingewiesen –
haben wir von allen Experten bestätigt bekommen – da-
rauf kommt es bei Ihrer Argumentation an –, dass berei-
nigt um diese Arbeitsverhältnisse und und um all diejeni-
gen, die neu auf den Arbeitsarkt gekommen sind, die
Arbeitslosigkeit in Deutschland deutlich zurückgegangen
ist.
Ich glaube, dass Ihre Argumentation an dieser Stelle
ziemlich schräg ist und dass wir auf dem richtigen Weg
sind.
Letzter Red-
ner in dieser Debatte ist nunmehr Kollege Franz Thönnes
für die SPD-Fraktion. Dann haben wir zwei namentliche
Abstimmungen.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir inden letzten zwei Stunden von den Rednern der Oppositionerfahren haben, dass sie nach zwei Jahren in der Opposi-tion schon wieder alles besser wissen, muss man sich die
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Katrin Göring-Eckardt13370
Frage stellen: Warum haben Sie es denn in den letztenzwei Jahren Ihrer Regierungszeit nicht besser gemacht?
Ich muss Ihnen klar sagen: Diese Republik brauchtkeine Besserwisser, sie braucht Bessermacher!
Deshalb arbeitet diese Regierung jetzt sehr solide am Ab-bau der Arbeitslosigkeit.
Das Thema Arbeit ist das Thema Nummer eins inDeutschland. Die Menschen begreifen Arbeit als eineChance, an dem gesellschaftlichen Gestaltungsprozessteilzunehmen. Arbeit ist eine zentrale Voraussetzung, umdie Lebensbedingungen aktiv gestalten zu können: Woh-nung, Kultur oder gesellschaftliches Leben.
Deswegen hat diese Regierung den Abbau der Arbeitslo-sigkeit auf Platz eins ihres Arbeitsprogramms gestellt.
Diese Regierung ist erfolgreich; wir haben in zwei Jah-ren die Zahl der Erwerbstätigen um 1 Million und dieZahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um460 000 erhöht und gleichzeitig die Zahl der Arbeitslosenum 390 000 im Jahresdurchschnitt gesenkt. Wenn KollegeKolb die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten indiese Zahlen hineinrechnet, muss ich ihm entgegenhalten:Zu diesem Personenkreis zählen viele, die ihre Nebenbe-schäftigung aufgegeben haben – praktisch eine Überstun-denreduzierung durchgeführt haben – oder als Schüler,Rentner oder Hausfrauen durch die gesetzliche Regelungsozialversicherungspflichtig wurden. Wir haben einenechten Beschäftigungszuwachs in diesem Land.
Der Sachverständigenrat bestätigt die Politik dieserRegierung, indem er für das Jahr 2001 einen weiterenRückgang der Arbeitslosigkeit um 200 000 Menschen– die Arbeitslosenquote wird damit auf 9,1 Prozent sinken –und einen Anstieg der Beschäftigungsquote um 400 000prognostiziert. Das sind Größenordnungen, von denen Sienur geträumt haben.
Die Sachverständigen führen diese Entwicklungen auf diegute Finanz- und Steuerpolitik dieser Bundesregierungzurück; sie bezeichnen sie als Ergebnis der gestiegenenBinnennachfrage mit einer Steuerentlastung von 46 Mil-liarden DM für die Menschen in diesem Land.
Das ist das gute Zusammenwirken von Finanz-, Steuer-,Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, das Sie nie ge-schafft haben. Alle Elemente müssen zusammen begriffenund dürfen nicht, so wie Sie das gemacht haben, separatbetrachtet werden.
Wir sind mit der vorliegenden Situation nicht zufrie-den. Wir geben uns keiner Selbstzufriedenheit hin, son-dern investieren weiter in eine aktive Arbeitsmarktpoli-tik. In Ihrer Regierungszeit sind bei weit über 4 MillionenArbeitslosen nicht so viel Finanzmittel in die aktive Ar-beitsmarktpolitik geflossen wie bei uns. Sie haben 37Mil-liarden DM bei 4,4 Millionen Arbeitslosen investiert,während wir jetzt – die Arbeitslosenquote ist um 7 Prozentgesunken – 44,5 Milliarden DM bei 3,9 Millionen Ar-beitslosen investieren.
Sie haben die ganze Zeit die wirklich gute Arbeit desBündnisses für Arbeit verschwiegen. Im Bündnis fürAr-beit tragen die Tarifvertragsparteien für die Beschäfti-gungspolitik in Deutschland eine gemeinsame Verant-wortung. Das Bündnis für Arbeit ist damit Ausdruck einersozialen Marktwirtschaft, die alle betroffenen Parteien– bei allen Interessengegensätzen – an einen Tisch bringt,weil sie Bereitschaft und Verantwortung zeigen. Das istdas Gegenbeispiel von Spaltung und einseitiger Interes-senwahrnehmung, wie es in Ihrer Regierungszeit der Fallgewesen ist.
Mein Kollege Schurer hat zu dem JUMP-Programmeigentlich alles gesagt. Dieses Programm ist beim Abbauder Jugendarbeitslosigkeit erfolgreich gewesen: Die Ar-beitslosenquote junger Menschen hat sich um 9 Prozentverringert. Auch das ist im Konsens mit den Arbeitgebernund den Gewerkschaften erfolgt.Die große Bedeutung dessen, in die Zukunft jungerMenschen zu investieren, wird auch am Beispiel eines an-deren Feldes der Regierungspolitik deutlich: Wir hatten1998 341 000 BAföG-Empfänger; immer weniger Kin-der aus Arbeitnehmerhaushalten konnten in den Genussdieser Förderung kommen. Wir sorgen jetzt mit unsererPolitik dafür, dass im Jahre 2001 fast 450 000 junge Men-schen vom BAföG profitieren können.
Wir machen das, weil wir es den Wählerinnen undWählern versprochen haben. Wir sind der Auffassung,dass gut ausgebildete junge Menschen ein wichtigerFaktor für den Wirtschaftsstandort Deutschland sind. DieZukunft der Kinder in unserem Land soll nie wieder vomGeldbeutel der Eltern, sondern von dem, was in ihren
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Franz Thönnes13371
Köpfen ist, abhängen. Das ist unser Verständnis vonChancengleichheit.
Bei Besuchen, die ich in den letzten Wochen beim Ar-beitsamt meines Bezirks gemacht habe, habe ich eineschreckliche Erfahrung gemacht, die uns alle zum Nach-denken bringen sollte. Überall sagen die Vermittler – dieSchicksale von Arbeitslosen bestätigen uns das –, dass wirdie Frage stellen müssen: Was ist das Alter in unserer Ge-sellschaft noch wert? Ich vermag nicht einzusehen,warum Arbeitslose von 50 Jahren zum alten Eisengehören sollen.
Das ist das Ergebnis eines ständigen Werteverfalls in die-ser Gesellschaft, für den Ihre Regierung mit verantwort-lich ist.
Sich heute hierhin zu stellen und über deutsche Leit-kultur zu reden ist völlig unangemessen. Diskutieren Sieeinmal über eine Wertekultur, bei der deutlich wird, wasdas Alter wert ist, was es wert ist, das Gemeinwesen die-ser Gesellschaft solidarisch zu gestalten. Diskutieren Sieeinmal darüber, was Solidarität und Individualität bedeu-ten, was Eigenverantwortung und gesellschaftliche Ver-antwortung bedeuten.
Und diskutieren Sie darüber, was Menschenwürde undSozialstaatlichkeit bedeuten. Das sind die Fragen, die ge-stellt werden müssen.
Gestern haben wir zum Schluss der Debatte vom Frak-tionsvorsitzenden der CDU/CSU eine neue Sandkasten-spieltheorie erlebt. Es wurden zwei Angebote gemacht. Esgab den interessanten Vorschlag, ältere Arbeitnehmersollten bei der Einstellung auf ihren Kündigungsschutzverzichten und stattdessen eine Abfindung vereinbaren.Wissen Sie, was Sie hier betreiben? Sie befördern eine fürdie Arbeitslosenversicherung höchst gefährliche Ent-wicklung. Der schieben Sie am Ende die gescheitertenFälle aus diesem Prozess zur Finanzierung zu. Außerdemerwecken Sie dadurch den Eindruck, als seien Kündigun-gen am Ende nicht möglich. Betriebsbedingte Kündigun-gen sind immer dann, wenn es keine andere Möglichkei-ten für ein Unternehmen gibt, durchaus im Bereich desMöglichen. Ich sage Ihnen, was mit Ihren Vorschlag er-reicht wird: Ältere Arbeitnehmer werden zum Freiwildauf dem Arbeitsmarkt. Das steckt dahinter. Diese Philo-sophie wird die Sozialdemokratie nicht mitmachen. Fle-xibilität und Sicherheit ja, aber nicht die Arbeitnehmer alsFreiwild und als Kostenfaktor hinstellen.
Der zweite Vorschlag, der gemacht wurde, war höchstinteressant. Aus dem Mund von Herrn Merz haben wir er-fahren, dass die deutsche Arbeitslosenversicherung, diesich sehr bewährt hat, abgeschafft werden soll.
Nicht anders, Kollege Laumann, ist sein Vorschlag zu ver-stehen, dass ein Optionsmodell entwickelt werden soll,dass sich Arbeitslose so versichern können, wie das Ri-siko der Beschäftigung ist, wobei unterschiedliche Tarifevereinbart werden können. Nein, das ist nicht zuzulassen,weil das bedeutet, dass die geringen Risiken aus der Soli-darversicherung herausgenommen werden, dass die Be-schäftigungsverhältnisse mit größerem Risiko mit immerhöheren Beiträgen belastet werden, dass die größeren Be-triebe mit ihren größeren Arbeitsmärkten Vorteile gegen-über kleinen und mittleren Unternehmen haben und dassdie Frage bewertet werden muss, wer das Risiko der mög-lichen Arbeitslosigkeit einschätzt. Die Individualisierung,die Sie predigen, trägt dazu bei, dass der Arbeitgeber ei-nen noch viel stärkeren Druck auf die Mitarbeiter, vor al-lem die älteren, ausüben kann. Das ist mit uns nicht zu ma-chen.
Der Arbeitgeber geht kein Risiko ein. Am Ende soll derältere Arbeitnehmer das Gesamtrisiko tragen. Das ist inunserem Sozialstaat unsolidarisch.
An dieser Stelle sage ich, dass sich die solidarischeArbeitslosenversicherung in Deutschland bewährt hat.Eine Spaltung werden wir nicht zulassen, weil wir an die-ser Stelle nicht wollen, dass Sie Ihre Politik, für die Sie ab-gewählt worden sind, mit der Sie die Versicherungssys-teme fast gegen die Wand gefahren haben, im DeutschenBundestag weiterpraktizieren.Für uns steht auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitikganz vorne an: Wir werden weiterhin dafür sorgen, Frei-heit zu garantieren, Gerechtigkeit zu praktizieren und dengesellschaftlichen Zusammenhalt zu organisieren.
Ich schließedie Aussprache.Wir kommen zu den Abstimmungen. Zunächst werdenwir über die Änderungsanträge abstimmen.Abstimmung über den Änderungsantrag der CDU/CSU auf Drucksache 14/4786. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenenPlätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Das istder Fall.Ich eröffne die Abstimmung.–Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich
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schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnenund Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. DasErgebnis der Abstimmung wird später bekannt gegeben.Wir setzen die Abstimmungen fort.Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionder F.D.P. auf Drucksache 14/4806. Die Fraktion derF.D.P. verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, ihres Amtes zu wal-ten und die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alleUrnen besetzt? – Das ist der Fall.Ich eröffne die Abstimmung.–Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführe-rinnen und Schriftführer mit der Auszählung zu beginnen.Das Ergebnis der Abstimmung wird später bekannt gege-ben.Wir setzen die Abstimmungen fort.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erbitte Ihre Auf-merksamkeit für mündliche Abstimmungen.Abstimmung über den Änderungsantrag der Frak-tion der F.D.P. auf Drucksache 14/4805. Wer stimmtdafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DerÄnderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition ge-gen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS abge-lehnt.Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionder PDS auf Drucksache 14/4793. Wer stimmt dafür?– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ände-rungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen dieStimmen der PDS abgelehnt.Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionder PDS auf Drucksache 14/4794. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch dieser An-trag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmender PDS abgelehnt.Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionder PDS auf Drucksache 14/4795. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungs-antrag ist gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionder PDS auf Drucksache 14/4796. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungs-antrag ist gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bis zum Vorliegender Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen unter-breche ich die Sitzung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Sitzung ist wiedereröffnet.Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Ab-stimmung über den Änderungsantrag der Fraktion derCDU/CSU auf Drucksache 14/4786 bekannt. Abgege-bene Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt 265 Abgeord-nete. Mit Nein haben gestimmt 315 Abgeordnete. Es gabkeine Enthaltungen. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters13373
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 580;davonja: 266nein: 314JaCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtHans-Dirk BierlingRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserFriedrich BohlDr. Maria BöhmerSylvia BonitzJochen Borchert
Wolfgang BosbachKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyGeorg BrunnhuberDankward BuwittManfred Carstens
Leo DautzenbergWolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Ilse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelIngrid FischbachDirk Fischer
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisDr. Heiner GeißlerGeorg GirischDr. Reinhard GöhnerPeter GötzDr. Wolfgang GötzerKurt-Dieter GrillHermann GröheManfred GrundHorst Günther
Carl-Detlev Freiherr vonHammerstein
Helmut HeiderichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithDr. Karl-Heinz HornhuesSiegfried HornungJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkDr. Harald KahlBartholomäus KalbSteffen KampeterDr.-Ing. Dietmar KansyIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertDr. Helmut Kohl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 200013374
Norbert KönigshofenEva-Maria KorsHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Hermann Kues
Helmut LampDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Dr. Manfred Lischewski
Julius LouvenDr. Michael LutherErich Maaß
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterFriedrich MerzHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierFriedhelm OstEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Erika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz Romer
Dr. Klaus RoseKurt J. RossmanithAdolf Roth
Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuNorbert SchindlerBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Birgit Schnieber-JastramDr. Rupert ScholzReinhard Freiherr von Schor-lemerDr. Erika SchuchardtGerhard SchulzClemens SchwalbeDr. Christian Schwarz-SchillingHorst SeehoferHeinz SeiffertDr. h. c. Rudolf SeitersBernd SiebertWerner SiemannJohannes SinghammerBärbel SothmannMargarete SpäteWolfgang SteigerDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormMax StraubingerMatthäus StreblDr. Rita SüssmuthGunnar UldallArnold VaatzAngelika VolquartzPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter WillschBernd WilzWerner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfPeter Kurt WürzbachWolfgang ZeitlmannBenno ZiererWolfgang ZöllerF.D.P.Ina Albowitz
Rainer BrüderleErnst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachHorst Friedrich
Rainer FunkeHans-Michael GoldmannJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherWalter HircheBirgit HomburgerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeDirk NiebelGünther Friedrich Nolting
Cornelia PieperDr. Günter RexrodtDr. Edzard Schmidt-JortzigGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwellePDSDr. Dietmar BartschPetra BlässMaritta BöttcherEva Bulling-SchröterHeidemarie EhlertDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiUwe HikschDr. Barbara HöllCarsten HübnerUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzHeidi LippmannUrsula LötzerDr. Christa LuftPia MaierAngela MarquardtKersten NaumannRosel NeuhäuserDr. Uwe-Jens RösselChristina SchenkGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertDr. Winfried WolfNeinSPDBrigitte AdlerGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauWolfgang BehrendtDr. Axel BergHans-Werner BertlPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Klaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Iris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagPeter Friedrich
Lilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseAchim Großmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000 13375
Wolfgang GrotthausHans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergJelena Hoffmann
Iris Hoffmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerUlrich KelberHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterWerner LabschBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerKlaus LennartzDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherErika LotzDieter Maaß
Winfried ManteTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesDr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanGünter OesinghausEckhard OhlLeyla OnurHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Martin PfaffGeorg PfannensteinJohannes PflugDr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichDr. Carola ReimannMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosRené RöspelMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildDieter Schloten
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Volkmar Schultz
Ewald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenRolf SchwanitzBodo SeidenthalErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseReinhold Strobl
Dr. Peter StruckJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter Weißgerber
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerJochen WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekJürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützKlaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGila Altmann
Marieluise Beck
Volker Beck
Angelika BeerMatthias BerningerGrietje BettinAnnelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheDr. Angelika Köster-LoßackSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Christian SimmertChristian SterzingJürgen TrittinDr. Antje VollmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss13376
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 571davonja: 33nein: 538JaCDU/CSUDr. Reinhard GöhnerF.D.P.Ina AlbowitzHildebrecht Braun
Rainer BrüderleErnst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachHorst Friedrich
Rainer FunkeHans-Michael GoldmannJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherWalter HircheBirgit HomburgerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Detlef ParrDr. Günter RexrodtDr. Edzard Schmidt-JortzigGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwelleNeinSPDBrigitte AdlerGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauWolfgang BehrendtDr. Axel BergHans-Werner BertlPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Klaus BrandnerWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Iris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagPeter Friedrich
Lilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseAchim GroßmannWolfgang GrotthausHans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterWerner LabschBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerKlaus LennartzDr. Elke LeonhardGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherErika LotzDieter Maaß
Tobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensUrsula MoggSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesDr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanGünter OesinghausEckhard OhlLeyla OnurHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Martin PfaffGeorg PfannensteinJohannes PflugDr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichDr. Carola ReimannMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosRené RöspelMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildDieter Schloten
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldNun gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Ab-stimmung über den Änderungsantrag der Fraktion derF.D.P. auf Drucksache 14/4806 bekannt. AbgegebeneStimmen 572. Mit Ja haben gestimmt 33, mit Nein habengestimmt 539. Damit ist auch dieser Änderungsantrag ab-gelehnt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000 13377
Fritz SchösserOttmar SchreinerGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Volkmar Schultz
Ewald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenRolf SchwanitzBodo SeidenthalErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseReinhold Strobl
Dr. Peter StruckJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerJochen WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekJürgen Wieczorek
Helmut Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützKlaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtHans-Dirk BierlingRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserFriedrich BohlDr. Maria BöhmerSylvia BonitzJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyGeorg BrunnhuberDankward BuwittManfred Carstens
Leo DautzenbergWolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Ilse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Gerhard Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisDr. Heiner GeißlerGeorg GirischPeter GötzDr. Wolfgang GötzerKurt-Dieter GrillHermann GröheManfred GrundHorst Günther
Carl-Detlev Freiherr vonHammerstein
Helmut HeiderichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithDr. Karl-Heinz HornhuesSiegfried HornungJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkDr. Harald KahlBartholomäus KalbSteffen KampeterIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertNorbert KönigshofenEva-Maria KorsHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Hermann Kues
Helmut LampDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard Lintner
Dr. Manfred Lischewski
Dr. Michael LutherErich Maaß
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterFriedrich MerzHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Erika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz Romer
Dr. Klaus RoseKurt J. RossmanithAdolf Roth
Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuNorbert SchindlerBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Birgit Schnieber-JastramDr. Rupert ScholzReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtGerhard SchulzClemens SchwalbeDr. Christian Schwarz-SchillingHorst SeehoferHeinz SeiffertDr. h. c. Rudolf SeitersBernd SiebertWerner SiemannJohannes SinghammerBärbel SothmannMargarete SpäteWolfgang SteigerDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Ich bitte jetzt diejenigen Kolleginnen und Kollegen,die dem Einzelplan 11 in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Damit ist der Einzelplan 11 an-genommen.Ich rufe nun auf:III. 20 Einzelplan 15Bundesministerium für Gesundheit– Drucksachen 14/4514, 14/4521 –Berichterstattung:Abgeordnete Walter SchölerDr. Michael LutherMatthias BerningerJürgen KoppelinDr. Barbara HöllNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Ich höre kei-nen Widerspruch. – Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion derCDU/CSU hat jetzt der Kollege Aribert Wolf das Wort.Aribert Wolf (von Abgeordneten derCDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Vor wenigen Jahrenkonnten wir noch stolz sein auf das deutsche Gesundheits-wesen. Wir waren auch international hoch angesehen,teilweise sogar Vorbild für die Länder in Osteuropa.Heute, nach nur zwei Jahren rot-grüner Bundesregie-rung, hat unser Gesundheitswesen massiv an Ansehenverloren.
Wenn heute Experten wie der Kölner Gesundheitsöko-nom Professor Lauterbach eine Bestandsaufnahme ma-chen, dann klingt das so:Das deutsche Gesundheitswesen ist zwar teuer, abermedizinisch nur Mittelmaß.Meine Damen und Herren, nach 25 Monaten rot-grü-ner Budgetierungspolitik hat das deutsche Gesundheits-wesen einen rasanten Abstieg von der Champions Leaguein die Kreisklasse hinter sich. Eine richtige Linie undklare Zielvorstellungen sind in der Gesundheitspolitikvon Rot-Grün nicht erkennbar. Ähnlich wie bei der Rentetaumelt man orientierungslos hin und her und lässt vieleProbleme einfach liegen. Man versucht, sich wie im Irr-garten ein Stückchen voranzutasten, aber den richtigenWeg hat man noch lange nicht gefunden.Wenn heute Experten sagen, wir seien medizinisch nurnoch Mittelmaß in Deutschland, dann sagen sie es nichtdeswegen, weil unsere Ärzte plötzlich all das verlernt ha-ben, was sie in den Jahren vorher positiv geleistet haben,sondern weil Rot-Grün die Rahmen- und Arbeitsbedin-gungen massiv verschlechtert hat.
Es geht um einen Würgegriff von zwei Seiten. Auf dereinen Seite lässt Rot-Grün zu, dass dem Gesundheitswe-sen Geld entzogen wird und der ohnehin enge finanzielleSpielraum der Kassen noch weiter eingeengt wird. Aufder anderen Seite – der Ausgabenseite – würgt man dieÄrzte durch eine gnadenlose Budgetierung und nimmtden in den Heilberufen Tätigen und all denen, die sich imGesundheitswesen positiv einbringen, die Motivation unddas Engagement, auf Deutsch: die Freude am Beruf.
Wenn im Fußball zum Beispiel jemand auf die Ideekäme, einen Leistungsträger, einen hervorragenden Spie-
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Vizepräsidentin Petra Bläss13378
Dr. Rita SüssmuthGunnar UldallArnold VaatzAngelika VolquartzPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter WillschBernd WilzWerner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfPeter Kurt WürzbachWolfgang ZeitlmannBenno ZiererWolfgang ZöllerBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGila Altmann
Marieluise Beck
Volker Beck
Angelika BeerMatthias BerningerGrietje BettinAnnelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheSteffi LemkeDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Christian SimmertChristian SterzingJürgen TrittinDr. Antje VollmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
PDSDr. Dietmar BartschPetra BlässMaritta BöttcherHeidemarie EhlertDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiUwe HikschDr. Barbara HöllCarsten HübnerUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzHeidi LippmannUrsula LötzerDr. Christa LuftPia MaierAngela MarquardtKersten NaumannRosel NeuhäuserDr. Uwe-Jens RösselChristina SchenkGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertDr. Winfried Wolfler, der mehr leistet als der Durchschnitt, zurückzupfeifenund ihm zu sagen, er müsse langsamer und schlechterspielen und dürfe nicht so schnell rennen, dann würde je-der sagen: Derjenige, der so etwas vorschlägt, spinntdoch. Genau dies aber bewirkt die Budgetierung im Me-dizinbetrieb.Jeder Arzt, der bereit ist, mehr zu leisten, mehr zu ge-ben und mehr Patienten zu bekommen, wird von der Bud-getierung auf das Mittelmaß zurückgepfiffen. Er muss er-kennen, dass er, wenn er sich mehr anstrengt, auffällt unddann kontrolliert wird. Das verhagelt die Stimmung.
Bei uns war die Gesundheitspolitik noch ein Aktivpos-ten der Regierung.
Seehofer war hoch angesehen, da können Sie schreien,was Sie wollen. Wir sehen ja heute noch, wie gern vielewieder Horst Seehofer als Gesundheitsminister zurückha-ben wollen. Vielleicht wird es eines Tages auch so kom-men, Sie werden es erleben.
Bei Rot-Grün – auch das pfeifen mittlerweile die Spat-zen von den Dächern – ist die Gesundheitspolitik einSchwachpunkt, ist Ballast, ist geradezu die Achillesferseder Regierung Schröder. Eigentlich kann uns die liebeFrau Fischer fast Leid tun. Sie ist als Quotenfrau ins Mi-nisterium gerutscht.
Das Gesundheitswesen ist bekannt als Haifischbecken.Nur wer fachlich sattelfest ist, kann sich darin entspre-chend profilieren.Blicken wir zurück, wie es anfing: Zuerst gab es dieQuerschüsse von SPD-Dressler, dann kam das Gemäkelaus der eigenen grünen Partei. Wenn der Kanzler eine Ab-schussliste durchsickern lässt, steht Frau Fischer immerganz oben. Das schwächt natürlich. Und irgendwo tut eseinem menschlich fast Leid. Aber wir müssen sehen, dassihre politische Schwäche verheerende Auswirkungen aufunser Gesundheitswesen hat. Weil die Gesundheitsminis-terin politisch so schwach ist, kann sie nicht verhindern,dass andere Minister unsere Kranken- und Pflegeversi-cherung wie eine Weihnachtsgans finanziell ausnehmen.
Wenn Sie sehen, wie viel Geld, das dringend für dieVersorgung von Kranken und Pflegebedürftigen benötigtwird, heute abgezwackt, umgeleitet und zur Haushaltssa-nierung missbraucht wird, dann wird Ihnen klar, welchgewaltige Summen Rot-Grün der Kranken- und Pflege-versicherung entzieht.
Ich darf nur ein paar Dinge nennen. Allein 500 Milli-onen DM klaut man den Pflegebedürftigen, weil der Staatweniger Beiträge für die Arbeitslosen bezahlt. DieSchwächsten müssen dafür büßen, dass Frau Fischer soschwach ist. Das ist die Wahrheit.
Das gleiche Spiel läuft in der gesetzlichen Kranken-versicherung ab. 1,2 Milliarden DM fehlen der GKVkünftig, weil für Arbeitslosenhilfeempfänger wenigerGeld in die Kassen fließt. 600 Millionen DM fehlen derKrankenversicherung durch die Kürzung der Renten.Noch nicht abzuschätzen sind die Millionenbeträge, diejetzt durch die Einführung der beitragsfreien Mitversi-cherung für Schwule und Lesben auf die gesetzlicheKrankenversicherung zukommen. Mindestens 250 Milli-onen DM – das hat man großartig als Erfolg verkündet –beträgt die Belastung durch die Neuregelung der Er-werbs- und Berufsunfähigkeitsrenten.Wie haben sich die Grünen aufgeplustert, als sie zumKanzler marschiert sind. Als sie hinterher rausgekommensind, hat ihnen der Kanzler fast alle Federn ausgerupft.Nur ein paar hat er ihnen noch gelassen, damit sie nichtganz nackig sind. Der Krankenversicherung fehlen damitmindestens 250 Millionen DM, um Kranke in unseremLand anständig versorgen zu können.
Es kommen zusätzliche Zahlungsverpflichtungenauf die Kassen zu, die Rot-Grün selbst auf den Weg ge-bracht haben. Man hat am Anfang großkotzig die Zuzah-lungen zurückgenommen. Das führte bei der Krankenver-sicherung zu einem Einnahmeausfall von 1Milliarde DM.Man hat das Krankenhausnotopfer abgeschafft. Damitfehlen jährlich 700 Millionen DM. Man hat Leistungenausgeweitet, die Soziotherapie zum Beispiel, das bringtzusätzliche Kosten von 1 Milliarde DM jährlich mit sich.Das ist noch nicht alles. Auch künftig soll es munterweitergehen – so die Planungen –, und den Krankenkas-sen weiter kräftig Geld entzogen werden. Durch dasSGB IX, das neue Rehabilitationsrecht – so die Rechnungder Krankenkassen, wenn diese Regelung in Kraft tritt –,werden die Kassen eine weitere Belastung von 500 Milli-onen DM zu tragen haben. Das sind wieder 500 Milli-onen DM, die fehlen. Wenn wir sehen, wie das Bundes-verfassungsgerichtsurteil zur Krankenversicherung derRentner umgesetzt werden soll, dann stellen wir fest, dass2002 auch dort wieder 500 Millionen DM an zusätzlicherBelastung drohen.
Wenn 2002 die Rentenreform kommt und es mit demAufbau der privaten Rentenversicherung ernst wird,dann müssen wir davon ausgehen, dass der Krankenver-sicherung wiederum Jahr für Jahr zunächst 700 Milli-onen DM fehlen. Dies steigert sich bis 2008 auf einen Be-trag von insgesamt 5,5 Milliarden DM pro Jahr, der in denKassen der Krankenversicherung fehlt. Es sind gewaltigeBeträge, die sich aufsummieren und die wir dringendbräuchten, um unseren Menschen auch in der Gesund-heitspolitik eine Perspektive zu bieten.
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Aribert Wolf13379
Wäre die Ministerin Kassiererin im Supermarkt, dannwäre sie längst entlassen, weil sie sich das Geld von an-deren zu leicht aus der Tasche ziehen lässt.
Ich meine, Frau Fischer, Sie müssen kämpfen, damit dasGeld in der Kasse bleibt. Sie müssen sich stärker auf derEinnahmeseite engagieren. Dann müssten Sie auf derAusgabenseite nicht so stark die Muskeln spielen lassen.Sie glauben, Sie könnten dort alles über Budgetierung,Reglementierung und noch mehr Bürokratie regeln. Aberall das schafft mehr Probleme, als es Probleme löst.
Gerade auf der Ausgabenseite darf eine verantwor-tungsvolle Gesundheitsministerin nicht nur auf das Geldund auf die Kassenbilanzen schauen. Menschen müssenimmer wichtiger als Zahlen und Bilanzen sein.
Wer Gesundheitspolitik ernst nimmt, der darf eben nichtnur die wirtschaftliche Seite der Krankenversicherungsehen, sondern er muss in seinem politischen Programmauch Versorgungsziele definieren und sich fragen: Wiesteht es mit der gesundheitlichen Versorgung der Bevöl-kerung? Wie gehen wir heute mit chronisch Kranken um?Wenn wir uns diesen Bereich näher ansehen, dann mer-ken wir, dass sich draußen dramatische Szenen abspielen.Ich möchte Ihnen einiges von dem nennen, was an unsherangetragen wird. Ohnehin protestieren die Leis-tungserbringer auf den Straßen. Aber darauf will die Mi-nisterin nicht reagieren. Das sind alles schwer reicheLeute, denen es nur ums Geld geht. – Ich glaube nicht,dass wir damit dem Problem gerecht werden; denn es gibtviele Ärzte, die sehr engagiert arbeiten. Auch gibt es vielePfleger in den Pflegediensten, die ihre Patienten liebendgerne gut versorgen würden.Wenn Sie dann in einer Emnid-Umfrage lesen, dasschronisch Kranken in bis zu 15 Prozent der Fälle unterHinweis auf die rot-grüne Budgetierung Arzneimittelverweigert werden, dann sollte das zum Nachdenken an-regen.
Wenn Sie zur Kenntnis nehmen, dass in einer Langzeit-studie der Uni Bremen und der Gmünder Ersatzkassefestgestellt wurde, dass jedem vierten Patienten ein Arz-neimittel aus Budgetgründen heute nicht mehr verordnetwird, wenn die Deutsche Rheuma-Liga sagt, durch dierot-grüne Gesundheitspolitik werden Ärzte und Patientenin gleicher Weise verunsichert, das Arzt-Patienten-Ver-hältnis leide massiv unter der Budgetierungsdiskussion,was an Medikamenten gespart werde, müssen die Patien-ten mit größerer Unbeweglichkeit und stärkeren Schmer-zen bezahlen, was am Ende zu Krankenhauseinweisungenführe, die wiederum höhere Folgekosten nach sich zögen,dann sehen wir, auf welchem Irrweg sich Rot-Grün mitdieser Budgetierungspolitik befindet und warum es bitternotwendig ist, dass wir hier umsteuern.
Auch wenn Sie es immer noch nicht glauben: DieDeutsche Parkinson-Vereinigung stellt fest, dass Patien-ten, die nach langen Krankenhausaufenthalten endlichmedikamentös gut eingestellt sind, nach ihrer Entlassungaus dem Krankenhaus, wenn sie beim niedergelassenenArzt weiterbehandelt werden, Medikamente nicht in dergleichen Weise verordnet bekommen wie im Kranken-haus, weil dieser Arzt unter Budgetzwang steht; Heilmit-tel werden fast überhaupt nicht mehr verordnet.
Ich frage mich: Ist das der richtige Weg, den Sie hier soselbstherrlich beschreiten? Haben Sie wirklich kein Ohrmehr für die Sorgen und Nöte von vielen armen und kran-ken Leuten in unserem Land?
Die Beispiele lassen sich fortsetzen. Die Frauenselbst-hilfe für Krebspatienten stellt fest: Nach Operationenwerden wichtige Heilmittel wie zum Beispiel Lymphdrai-nage und Krankengymnastik nicht mehr verordnet. Nurnoch 10 Prozent der Tumorpatienten erhalten eine adä-quate Schmerztherapie.Auch Kinderwerden Opfer der Budgets. Der Bundes-verband für Logopädie und Ergotherapie
und der Bundesverband für Pflegeberufe stellen fest, dassgerade auch bei Kindern eine zunehmende Verordnungs-zurückhaltung der Ärzte festzustellen ist. Alles Folgen derBudgets, meine Damen und Herren.Die Folge daraus wiederum sind Entwicklungsstörun-gen für Kinder und schwerwiegende Spätfolgen. All daskostet künftig sehr viel Geld. Budgetierung spart nicht,Budgetierung treibt auf lange Sicht die Kosten.
Die Multiple-Sklerose-Gesellschaft berichtet, dass von60 000 Patienten, bei denen eine Therapie mit Interferonerforderlich ist – das kostet pro Patient zwischen 25000DMund 30 000 DM –, nur noch circa 15 000 behandelt wer-den und dass schuld daran die Budgets sind. Der Grundist, dass ein Neurologe, der heute einen Patienten mit In-terferon behandelt, kompensatorisch dafür 113 andere Pa-tienten ohne Behandlung und ohne Medikamente nachHause schicken muss, weil er sonst seine Budgetvorgabenüberschreitet.
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Aribert Wolf13380
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollege Dr. Wodarg?
Ja, gerne.
Herr Kollege, Sie ha-
ben eben die Logopäden und die Entscheidung der Bun-
desausschüsse zitiert, Sie haben aber nicht gesagt, dass es
die Bundesausschüsse waren, sondern Sie haben gesagt,
es liege am Budget, dass hier jetzt möglicherweise
Schwierigkeiten in der logopädischen Versorgung entste-
hen.
Ist Ihnen klar, dass Sie hierbei jetzt in die Arbeit der
Selbstverwaltung eingreifen wollen?
Würden Sie es für richtig halten, wenn die Arbeit der
Selbstverwaltung durch eine staatliche Gestaltung, zum
Beispiel durch das Ministerium, abgelöst würde?
Ist das wirklich Ihre Auffassung?
Wir sind uns ja einig, dass in der Logopädie etwas ge-
tan werden muss. Die grundsätzliche Frage ist hier aber,
ob die Entscheidung der Selbstverwaltung, die Sie hier
missbraucht haben, in dieser Debatte überhaupt eine Rolle
spielt.
Herr Dr. Wodarg, ich mussIhnen Folgendes sagen: Stellen Sie sich vor, Sie sagen Ih-rer Frau, sie möchte am Abend acht Personen zum Esseneinladen, geben ihr aber nur Geld, um für vier Personeneinkaufen zu können. Ihre Frau kocht dann und versucht,etwas auf den Weg zu bringen, und Sie machen Ihrer Frauhinterher Vorwürfe, dass sie zu wenig gekocht hat. Dasheißt doch: Sie haben ihr vorher zu wenig Geld zur Ver-fügung gestellt.
Das ist die gleiche Situation wie bei den Budgets, meineDamen und Herren. Das ist das Problem.
Wenn Sie mit Ihrer rot-grünen Politik mit der Budge-tierung weiterfahren, haben wir die Probleme. Dann kön-nen Sie nicht die Selbstverwaltung für die Beschränkun-gen verantwortlich machen, sondern Sie müssen an dieWurzel des Übels gehen und die Budgetierung aufheben.
Meine Damen und Herren, auch die Budgets selbst hal-ten beileibe nicht das, was sie zu versprechen scheinen.Ich darf Ihnen nur einmal die Entwicklung der Arznei-mittelausgaben schildern, die ja von 1991 bis 1999 rela-tiv stark budgetiert waren. 1993 waren es 27,5 Milliar-den DM.
– Natürlich sind die schuld. – 1996 sind wir schon bei34,2 Milliarden DM, 1998 bei 34,7 Milliarden DM und1999 bei 37,6 Milliarden DM. Sie werden sehen, die Arz-neimittelausgaben werden auch weiterhin steigen, ob Siebudgetieren oder nicht.
Wenn aber nicht mehr die richtigen Arzneimittel verord-net werden, die Menschen nicht mehr richtig therapiertwerden und später, wenn sie richtig krank sind, ins Kran-kenhaus müssen und die Behandlung dort wesentlich teu-rer ist, dann werden Sie feststellen, dass die Budgetierunghohe Folgekosten verursacht und deshalb auch unter Kos-tengesichtspunkten ein Schuss in den Ofen war.
Wir müssen aus diesen Beispielen zwei Dinge lernen:Erstens. Budgetierung spart auf lange Sicht keine Kosten,sondern verschlechtert die Qualität der gesundheitlicheVersorgung. Zweitens. Nicht das Abschaffen von Bud-gets, sondern das Festhalten an Budgets führt zu einerZweiklassenmedizin. Wenn Sie an der Budgetierungfesthalten – wenn man sich die Wirklichkeit in den Arzt-praxen heute ansieht, dann wird man feststellen, dass sichdas schon abzeichnet –, dann werden teure und aufwen-dige Behandlungen zum Privileg derer, die es sich leistenkönnen, solche Behandlungen aus eigener Tasche zu be-zahlen. Der Arme, der sozial Schwache, der nicht privatzahlen kann, bleibt auf der Strecke. Eine solche Gesund-heitspolitik wollen wir nicht mittragen. Deswegen kämp-fen wir gegen diese Politik.
Es wird Ihnen nicht gelingen, den Menschen vorzu-gaukeln, dass trotz begrenzter Mittel Leistungen unbe-grenzt gewährt werden können und dass nur mit der Jagdauf Wirtschaftlichkeitsreserven die Weichen in unseremGesundheitswesen in Richtung Zukunft gestellt werdenkönnen. Frau Fischer, ich kann Ihnen nur raten: BefreienSie sich aus dem Treibsand der Budgetierung und Regle-mentierung; denken Sie endlich innovativer!
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Ansonsten gehen Sie eines Tages im Treibsand der Bud-getierung unter. Sie werden, wenn Sie sich nur ein biss-chen in der politischen Landschaft umschauen, erkennenmüssen, dass es auch bei den Grünen ein paar gibt, diesich offen zu den Ansätzen bekennen, die wir von CDUund CSU immer wieder als Alternativen zu Ihrer Bud-getierungs- und Überreglementierungspolitik aufzeigen.Sie müssen die Wahrheit sagen: Es gibt ein demogra-phisches Problem in Deutschland. Dieses Problem be-trifft nicht nur die Renten-, sondern auch die Krankenver-sicherung. Es ist mathematische Logik, dass es für denEinzelnen unter dem Strich teurer wird, wenn es immerweniger Junge, die einzahlen, und immer mehr Älteregibt, die Leistungen in Anspruch nehmen. Wenn Sie sichnicht trauen, den Menschen diese Wahrheit zu sagen, undstattdessen behaupten, dass die Budgetierung ausreicht,dann betreiben Sie auch in der Gesundheitspolitik Ross-täuscherei. Das werden Sie politisch bitter bereuen.
Da Sie noch immer nicht zur Kenntnis nehmen wollen,dass der medizinische Fortschritt heute rasanter voran-schreitet als die Entwicklung der Einkommen, möchte ichIhnen ein paar Beispiele nennen: In den letzten 40 Jahrenhat sich die Zahl der Diabeteskranken verdoppelt. DieZahl der Asthmakranken hat sich verdreifacht. Innerhalbder letzten 15 Jahre ist die Zahl der Dialysepatienten vonnull auf über 50 000 gestiegen. Die Zahl der HIV-Patien-ten ist von null auf 40 000 gestiegen. Jeder weiß, dass dieBehandlung von HIV-Patienten besonders teuer ist.Wenn Sie zur Kenntnis nehmen, dass es inzwischen in-novative Medikamente für die Behandlung bestimmterKrebskrankheiten, von Hepatitis und von multipler Skle-rose gibt, dann müssen auch Sie trotz Ihrer ideologischenVerblendung feststellen, dass dies alles Geld kostet unddass dieses Geld nicht alleine durch Einsparungen an an-derer Stelle erwirtschaftet werden kann. Wenn wir verant-wortungsvoll handeln wollen, müssen wir erkennen, dassder medizinische Fortschritt es vielen Patienten ermög-licht, ein längeres und erträglicheres Leben zu führen.
Deshalb müssen wir darüber nachdenken, wie wir auchohne Budgetierung und Reglementierung künftig sicher-stellen können, dass der medizinische Fortschritt breitenSchichten der Bevölkerung zugute kommt.Sie werden über kurz oder lang erkennen, dass unserSystem von Wahlleistungen und Kernleistungen undunser Vorschlag, dem Einzelnen ein bisschen mehr Ver-antwortung zuzutrauen, ihm mehr Eigenverantwortung zugeben, der bessere Weg ist. Wir sind der Meinung, wermehr Eigenverantwortung übernehmen soll, braucht auchentsprechende Informationen; deswegen brauchen wirmehr Transparenz im Gesundheitswesen.
Wir brauchen auch mehr Wettbewerb zwischen den Leis-tungserbringern.
Letzter Punkt – auch damit werden Sie von Rot-Grünsich bei der Diskussion über den Risikostrukturaus-gleich beschäftigen müssen –: Es kann nicht sein, dasssich Krankenkassen heute ausschließlich um Junge, Ge-sunde und Gutverdienende kümmern und der chronischKranke völlig an den Rand gedrängt wird. Wir denkenüber diese Dinge intensiv nach. Wir haben Lösungsvor-schläge entwickelt.
Deswegen billigen uns die Menschen auch mehr Kompe-tenz zu und deswegen kommen viele schon heute zu demErgebnis, es sei höchste Zeit, dass die CDU/CSU, dassHorst Seehofer auf die Regierungsbank zurückkommt.
Mir ist nicht bange, dass Sie, wenn Sie in der Gesund-heitspolitik so weiter machen, die Quittung 2002 vomWähler präsentiert bekommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Walter Schöler.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Als Antwort auf die Frage desKollegen Wodarg hat der Kollege Wolf ein Beispiel ge-wählt, das ich überhaupt nicht akzeptieren kann. HerrKollege Wolf, eine gute Hausfrau kommt auch mit demhalben Budget aus und macht noch ein hervorragendesEssen. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen zu Hause ist.
– Meine Mutter hat das mit acht Kindern immer geschafft,obwohl das nicht einfach war.
Der Kollege Wolf hat immer die gleichen Rezepte, diegleichen Strickmuster. Es wird ein Horrorbild von derdeutschen medizinischen Versorgung gezeichnet.
Die Patienten sollen verunsichert werden und Sie wollenvon dem Erbe, das Sie uns hinterlassen haben, ablenken.
Denn nichts anderes als Ihre Bilanz haben Sie hier aufge-zählt.
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Aribert Wolf13382
Übrigens habe ich zum Haushalt von Ihnen noch keinWort gehört.
– Das stimmt. Er hat bestimmt nicht reingeguckt. – Ichwill mich deshalb zunächst diesem Gesundheitsetat undseinen Schwerpunkten zuwenden.Auf den ersten Blick nimmt sich der Einzelplan für dieBereiche Gesundheit und Pflege mit 1,77 Milliarden DMauch relativ bescheiden aus. Aber ich will daran erinnern:Die Leistungen für unser Gesundheitssystem betragenmehr als 560 Milliarden DM im Jahr und übersteigen da-mit bei weitem den Gesamthaushalt des Bundes. Rund dieHälfte dieser Aufwendungen für die Gesundheit wer-den aus Beiträgen der gesetzlichen Krankenversicherungfinanziert. Unser Etat für 2001 vermindert sich gegenüberdem Vorjahr zwar um 63 Millionen DM, aber das beruhtim Wesentlichen auf geringeren Bauinvestitionen – ichnenne nur das Stichwort BfArM – und auch auf der imJahr 2000 erfolgten Abwicklung der Einmalzahlung andie Hepatitis-C-Opfer. Darauf komme ich gleich nochzurück. Im Übrigen leistet dieser Einzelplan 15 auch wei-terhin seinen Beitrag zur Konsolidierung des Gesamt-haushalts. Modellprogramme können weiter zurückge-führt werden.
Denn der erhebliche Nachholbedarf, den es aufgrund derdeutschen Einheit gab, wird zunehmend befriedigt. Zudemsind inzwischen viele dieser Modellvorhaben – deshalbsind es auch Modellvorhaben gewesen – in die Regelver-sorgung und damit in die Finanzierung der Kostenträgeroder auch der Länder übergegangen.Bei allen notwendigen Sparbemühungen stellt dieserEinzelplan Gesundheit die Finanzierung wichtiger ge-sundheitspolitischer Maßnahmen sicher.Für Maßnahmen zur gesundheitlichen Aufklärungsind wiederum 8Millionen DM eingeplant. Die Ausgabenfür die Aids-Aufklärung mit 18 Millionen DM sowie dieAufklärung gegen Drogenmissbrauch mit 12 Milli-onen DM werden auf hohem Niveau verstetigt. DiesesGeld dient der Sicherung eines hohen Informationsstan-des der Bevölkerung und vor allem der Jugendlichen. Wirmüssen leider immer wieder feststellen, dass es in denverschiedenen Bereichen nach wie vor großen Aufklä-rungsbedarf gibt.Die Arbeit der Bundeszentrale für gesundheitlicheAufklärung könnte nicht so effektiv sein, würde sie nichtdankenswerterweise von Sponsoren in millionenschwe-rem Wert unterstützt. In diesem Zusammenhang ist zu be-dauern, dass die Wirkung der Aufklärungskampagne„Keine Macht den Drogen“ auf Trikots von Spitzensport-lern angesichts des Konsums von Drogen und auch vonAnabolika durch einige schwarze Schafe eingeschränktwurde. Das Verhalten dieser Sportpromis unterläuft dasBemühen um Aufklärung.Und nun sollen im Reichstagsgebäude auch noch Spu-ren von Kokain gefunden worden sein. Auch das könntedas Vertrauen in bestimmte Aufklärungsmaßnahmen et-was schwächen. Zyniker könnten jetzt sicherlich sagen,die Drogenbeauftragte der Bundesregierung habe mit ih-rer Feststellung Recht, dass sich seit dem Regierungs-wechsel vor zwei Jahren einiges bewegt habe –
aber leider in die falsche Richtung.Aber, meine Damen und Herren, mit dem Umsteuernin der Drogenpolitik zu mehr Prävention und Schadens-minimierung haben wir den richtigen Weg eingeschlagen.Das wird sich auf Dauer auch zeigen. Auch wenn wir da-mit leben müssen, dass es nirgendwo und zu keiner Zeiteine suchtfreie Gesellschaft geben wird, werden wir unstrotzdem damit nicht abfinden.
Wir müssen immer wieder verdeutlichen: Jeder Drogen-tote ist einer zu viel.
Die Rentenzahlungen zur Entschädigung von Hepa-titis-C-Opfern aus der ehemaligen DDR wurden jetzt bei3,3 Millionen DM verstetigt und unterliegen künftig einerDynamisierung. Damit hat die Koalition ein wichtigesVersprechen eingelöst. Nach Jahren des Vertröstens er-halten die betroffenen Frauen endlich eine angemesseneEntschädigung. Das hat die alte Regierung nicht zustandegebracht.
– Sie haben den Bundesrat nicht auf Ihrer Seite. Ich weißdas.
– Herr Zöller, ich kenne die Vorgänge genau.In Form eines Entschließungsantrages haben wir jetztdie Bundesregierung aufgefordert, die Weiterführung derStiftung „Humanitäre Hilfe für durch BlutprodukteHIV-infizierte Personen“ zu sichern.
Der Anteil des Bundes beträgt dabei 68 Millionen DM.Dieser Betrag muss in den Finanzplan 2001 bis 2005 ein-gestellt werden.
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Walter Schöler13383
Dies soll ein deutliches Zeichen für die weiteren an derStiftung Beteiligten – die Pharmaindustrie, das DeutscheRote Kreuz und die Bundesländer – sein. Auf der Grund-lage des im HIV-Hilfegesetzes vereinbarten Schlüsselswerden von diesen nämlich weitere 102 Millionen DMaufzubringen sein. Ich hoffe, dass im Rahmen derVerhandlungen deren Zustimmung erreicht werden kann.Die 700 Opfer des Blutskandals haben weiterhin An-spruch auf unsere Unterstützung.
Neu vorgesehen wurde im Haushalt das Aktionspro-gramm „Umwelt und Gesundheit“ mit einem Ansatzvon 1 Million DM und Verpflichtungsermächtigungen inHöhe von 3Millionen DM für die kommenden Jahre. Die-ses gemeinsame Programm von BMG und BMU setztsich erstmalig ganzheitlich mit Fragestellungen des ge-sundheitsbezogenen Umweltschutzes und des umwelt-bezogenen Gesundheitsschutzes auseinander. Umweltbe-zogene Erkrankungen sollen erforscht und Umweltrisikenrealistisch eingeschätzt werden. Die rot-grüne Bundesre-gierung gibt mit diesem Programm ein weiteres Signal inder Gesundheitspolitik. Wir greifen damit ein wichtigesThema auf, das die alte Regierung ebenfalls vernachläs-sigt hat.
Wir begrüßen ausdrücklich das von der Bundesregie-rung in der vergangenen Woche verabschiedete For-schungsprogramm „Gesundheitsforschung: Forschungfür den Menschen“.
Bis 2004 werden rund 1,1Milliarden DM für die effektiveBekämpfung von Krankheiten, für Gesundheitsforschungin Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft undfür die Stärkung der Forschungslandschaft durch Struktur-optimierung und Innovationen zur Verfügung gestellt.Auch dieses Programm zeigt: Für die Regierung ist dieGesundheit der Bürgerinnen und Bürger eines der höchs-ten Güter. Darauf, Herr Wolf, sind wir stolz.
Meine Damen und Herren, Herr Seehofer, den ich hiersitzen sehe, hat uns 1998 ein besonderes Sorgenkind hin-terlassen: das Bundesinstitut fürArzneimittel und Me-dizinprodukte.
Schon während der Haushaltsberatungen im vergangenenJahr habe ich auf die hohe Zahl von unerledigten Nach-zulassungsanträgen aufmerksam gemacht. Sie von derOpposition haben damals relativ wenig getan, um denStau bei den Zulassungen schnell abzubauen.
Von den ursprünglich 32 000 unerledigten Zulassungsan-trägen sollte Ende 1999 noch ein Restbestand von 14 000Fällen übrig bleiben. So wurde uns voriges Jahr und auchnoch im Frühjahr gemeldet.
Jetzt zeigt die neueste Statistik, dass es wieder 21 000 Zu-lassungsfälle gibt, die noch zu erledigen sind.Ich weiß, dass es sich um ein sehr sensibles Themahandelt, Frau Bergmann-Pohl. Ich will auch nicht aus dem„Spiegel“ von dieser Woche zitieren oder die Panorama-Sendung vom 12. Oktober nochmals anführen. Dortwurde behauptet, dass es infolge von Nebenwirkungenvon auf dem deutschen Markt befindlichen Medikamen-ten ohne Zulassung zu einer erheblichen Zahl von Todes-fällen komme. Ich vermag diese Meldung weder auf ihreRichtigkeit noch auf ihre Seriosität hin zu prüfen,
aber eines ist klar: Es war dringender Handlungsbedarfgeboten.
Die Gesundheitsministerin und die Koalitionsfraktionenhaben hier im Gegensatz zu der Verfahrensweise währendIhrer Regierungszeit gehandelt.
Dazu gehörte auch – das will ich nicht verschweigen – dieAuswechslung in der Spitze des Instituts. Ich meine auch,dass im Parlament bestimmte Dinge angesprochen wer-den müssen, weil wir auch hierfür eine Mitverantwortunghaben.Sollte der „Spiegel“-Artikel von dieser Woche zutref-fend sein,
wonach der alte Chef – nein, ich zitiere ihn nicht, aber essteht in diesem Bericht –
seinem Nachfolger auf dem Bonner Schreibtisch nur einePostkarte mit dem Gruß „Viel Spaß“ hinterlassen habensoll, würde ich dringend dazu raten, statt über das Gna-denbrot über disziplinarische Maßnahmen nachzudenken,
wohl wissend, dass ein hohes Maß an Verantwortung aufder politischen Ebene Herr Seehofer hat,
der vom Gesundbeter zum Rentenzampano der Unionavanciert ist,
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Walter Schöler13384
und dass vielleicht auch seine frühere Staatssekretärinentsprechende Verantwortung trägt.Sie haben damals 250 Aushilfsstellen mit kw-Vermer-ken geschaffen, nachrichtlich im Haushalt geführt, zufinanzieren aus Gebühreneinnahmen, und da diese offen-sichtlich nicht so flossen wie erwartet, wurde dann wie-derum an Personal gespart. Das war dann ein Teufelskreis,den wir nun durchbrochen haben, indem wir diese Stellenzunächst in den Haushalt übernommen haben.Wir haben im Jahr 2000 weitere 75 Stellen bereitge-stellt, und 2001 sind es noch einmal 75 Stellen.Das reicht immer noch nicht, wie wir jetzt erfahrenmussten. Deshalb haben wir die Ansätze für Sach- undPersonalkosten nochmals erhöht, haben für die Erweite-rung der Informationstechnik, für den Geschäftsbedarf,für eine Personalbewirtschaftung und viele andere orga-nisatorische Punkte des Hauses 5,7 Millionen DM einge-stellt und zusätzlich weitere 40 Planstellen vorgesehen.Die Mehrkosten betragen nochmals 6,2 Millionen DM,und ich befürchte, wir werden diese nicht so sehr aus Ge-bühren finanzieren können, wie das früher vorgesehenwar.Nicht die Sperrung eines Drittels des Etats, wie es vonIhnen als Druckmittel im Haushaltsausschuss vorgeschla-gen wurde, ist der richtige Weg. Ihr Antrag im Haushalts-ausschuss war pure Ablenkung von Ihrer Verantwortungin der Vergangenheit.
Sie sind auf diese Situation sehr stolz, Herr Wolf. Siehaben eben von Stolz geredet. Das BfArM braucht keinenDruck, das BfArM braucht Unterstützung. Wir werden sieihm geben.
Wir haben die Befürchtung, dass die jetzt getroffenenMaßnahmen noch nicht das Ende des Tunnels sein wer-den, aber wir gehen einmal davon aus. Ein Bericht ist fürAnfang nächsten Jahres durch die Bundesregierung zu-gesagt. Er wird die Situation offen legen, Zukunftsper-spektiven aufzeigen, und danach können wir gemeinsamberaten, um die dringend erforderliche Bearbeitung vonNachzulassungsanträgen von Arzneimitteln zu gewährleis-ten.Meine Damen und Herren, es ist doch gar nicht hin-nehmbar, dass nicht zugelassene Altmedikamente verord-net werden und Pharmaunternehmen viele Monate auf dieZulassung von hilfreichen neu entwickelten Medikamen-ten warten müssen und deshalb teilweise auch ins Auslandausweichen.
Das ist nicht hinnehmbar, aber Sie haben dafür die Ver-antwortung. Wir haben die richtige Weichenstellung vor-genommen und damit hoffentlich zugleich auch ein Si-gnal an die Pharmaindustrie gesetzt.Wir bauen auf den neuen Chef Herrn ProfessorSchweim, und wir vertrauen darauf, dass er die Problemeim BfArM schnell in den Griff bekommt.
Im Übrigen, meine Damen und Herren, kommen wirdamit auch der Forderung der EU-Kommission nach ei-ner intensiveren Prüfung der Arzneimittel nach. Die ge-setzliche Grundlage haben wir im Mai dieses Jahres be-schlossen. Mit der 10. Änderung des Arzneimittelgesetzeswird mehr Transparenz und Qualität erreicht. Es darf keinArzneimittel mehr in den Verkehr gelangen, dessen phar-mazeutische Unbedenklichkeit und dessen therapeutischeWirksamkeit nicht belegt ist.
Der Schutz der Patienten hat Vorrang vor wirtschaft-lichen Interessen. Das ist unser Grundsatz.
Daher ist für die Regierungskoalition die Stärkung der Pa-tienten- und Verbraucherrechte ein zentraler Punkt auchder Gesundheitsreform.Im Übrigen werden wir auch über die mit dem Zulas-sungsverfahren verbundenen Gebühren demnächst imRechnungsprüfungsausschuss noch zu reden haben. Zudieser Altlast der Vorgängerregierung liegen nämlich ei-nige Bemerkungen des Rechnungshofes vor. HerrSeehofer hatte unter Mitzeichnung des damaligen Wirt-schaftsministers – das war wohl Herr Rexrodt – eine neueGebührenordnung erlassen, die ja die Finanzierung derPersonalstellen sicherstellen sollte, offensichtlich als Ge-schenk an die Pharmaproduzenten und vielleicht auch alsWiedergutmachung für seine in den Reißwolf geschicktePositivliste, denn statt des durchschnittlichen Gebühren-satzes von 125 000 DM je Zulassungsfall hat man großzü-gige Ermäßigungsregelungen eingearbeitet, die jetzt dazuführen, dass im Schnitt nur 27 000 DM je Fall an Ge-bühren erhoben werden können. Wer von uns wünschtsich nicht auch eine solche Großzügigkeit des Staates beianderen Gebühren, die die Bürger zu tragen haben?Gerade im Medikamentenbereich – das wissen Sie alle –gibt es ein erhebliches Einsparpotenzial. Es kann dort ge-spart werden, ohne die Versorgung der Kranken zu ge-fährden. Fachleute nennen in diesem Zusammenhangeinen Betrag von über 8 Milliarden DM jährlich. Bei-spielsweise in den Niederlanden, die Sie so oft als Vorbilddargestellt haben und noch darstellen, verlassen nur etwa60 Prozent aller Patienten die Arztpraxis mit einerMedikamentenverordnung. In Deutschland hingegen er-halten rund 85 Prozent der Patienten ein Rezept von ihremArzt, obwohl sie es manchmal gar nicht haben wollen.Von diesen Medikamenten wandert oft ein großer Teilin den Müll. Wir brauchen deshalb die Positivliste undhalten an diesem Ziel fest. Für die Erarbeitung dieser Liste
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haben wir in diesem Haushalt drei Planstellen vorgese-hen.
– Herr Thomae, ich war ein halbes Jahr lang Berichter-statter für den Gesundheitsetat. In dieser Zeit hat mich ei-ner Ihrer früheren Fraktionskollegen angerufen und michgebeten, mich
verstärkt mit dieser Thematik zu befassen.
Auf die Frage, warum er es als Berichterstatter nicht selbstgetan hat, hat er geantwortet: Es ist mir peinlich; ich hattenicht genügend Zeit. – Das kennzeichnet die Verantwor-tung, die Ihre Leute offensichtlich in dieser Frage emp-funden haben.
Der mit Abstand größte Haushaltstitel im Einzel-plan 15 mit knapp 900MillionenDM umfasst den Bereichder Pflegeinvestitionen, insbesondere der Investitionen inden neuen Bundesländern. Er dient damit auch weiterhindem Aufbau Ost. Wir wenden etwa 918Millionen DM fürden Gesamtbereich Pflege auf. Die Pflegekassen hinge-gen haben einen Jahresetat von knapp 33 Milliarden DM.Was die Zukunft der Pflegeversicherung anbetrifft, solässt sich sagen, dass die Koalition auf einem richtigenWeg ist.
Wir haben bereits wichtige Verbesserungen beschlossenund es gibt auch neue Vorschläge der Koalitionsfraktio-nen und der Regierung für ein Qualitätssicherungsgesetzund zur Verbesserung der Situation dementer Pfle-gebedürftiger. Diese Vorschläge stoßen offensichtlich aufsehr positive Resonanz.Im Gegensatz zu Herrn Wolf meinen wir: Die sozialePflegeversicherung hat ein solides finanzielles Funda-ment.
Das zeigt auch der neueste Bericht zur finanziellen Lageauf Grundlage der Berechnungen des Bundesversiche-rungsamtes. Defizite werden nur vorübergehender Natursein.
Der Mittelbestand wird dauerhaft und deutlich oberhalbder gesetzlich vorgeschriebenen Finanzreserve von an-derthalb Monatsleistungen sein.Zu der Gesundheitsreform wird Kollege Kirschnernoch einige Ausführungen machen.
Wichtig ist für uns im Rahmen der Gesundheitsreform2000: Wir konnten wesentliche Ziele trotz der Blockade-politik der Opposition durchsetzen.
Die meisten Punkte konnten wir im Vermittlungsverfah-ren verwirklichen.Wir sollten uns darin einig sein, dass Gesundheit füralle Menschen bezahlbar bleiben muss. Das hat weder– wie Herr Brüderle gestern festgestellt hat – etwas mitVollkaskomentalität zu tun,
noch mit der sozialen Hängematte, die von eurem Ex-Kanzler in die Diskussion gebracht wurde und in der erjetzt offensichtlich selber schaukelt.
Die Medizin mit ihren zahlreichen und vielfältigen Ein-richtungen und Möglichkeiten ist für den Menschen daund nicht umgekehrt.Meine Damen und Herren, ich möchte ein Wort desDankes an all die richten, die die gesundheitliche Versor-gung in Arztpraxen, in Kliniken und in Reha-Einrichtun-gen sicherstellen.
Die medizinischen Einrichtungen sind einem ständigenStrukturwandel unterworfen, Herr Parr, und sie werdenkünftig noch effizienter arbeiten müssen.
Dieser Strukturwandel sichert die gesundheitliche Versor-gung, aber auch die Arbeitsplätze der dort Beschäftigten.Das wissen die Beschäftigten genau und sie sollten sichdeshalb weder verunsichern noch für bestimmte Eigenin-teressen Einzelner missbrauchen lassen.Jetzt noch ein persönliches Wort an Sie, Frau Ministe-rin Fischer.
Ich habe mittlerweile verstanden, warum Sie ein beson-deres Faible für die Harry-Potter-Bücher haben. Man ent-wickelt ja so langsam einen Sinn dafür. Ich hoffe, beimLesen des Bandes „Die Kammer des Schreckens“ denkenSie nicht immer an die Ärztekammer.
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Hoffentlich halten Sie sich bei einem Besuch in derCDU/CSU-Fraktion nicht für die „Gefangene von Aska-pan“. Man könnte bei diesem Titel fast einen Druckfehlervermuten und an Aspirin denken.
Wenn Sie dann aus dem „Feuerkelch“ trinken – so lautetder Titel des dritten Bandes –, dann wird es Ihnen hof-fentlich gelingen, den „Stein der Weisen“ zu finden. Denhat Herr Seehofer nie gefunden.
Der Stein der Weisen steht dafür, dass Sie beim Vertei-lungskampf um den Beitragstopf beim Mehrfrontenkriegnicht immer zwischen die Mühlsteine der Kassen, derÄrzteschaft, der Pharmaindustrie und der Kliniken gera-ten.Frau Ministerin Fischer, herzlichen Dank Ihnen undIhren Mitarbeitern für die gute Zusammenarbeit, herzli-chen Dank auch den Kolleginnen und Kollegen Bericht-erstattern für die kollegiale Zusammenarbeit! Ich gehedavon aus, dass das gesamte Haus dem Gesundheitsetatzustimmen wird. Denn bis auf einen Antrag im Haus-haltsausschuss – der zur Sperre zum BfArM – haben Sieüberhaupt keine Anträge im Haushaltsausschuss, ge-schweige denn heute hier im Parlament vorgelegt. Siemüssen also sehr zufrieden mit dem Haushaltsentwurfsein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, das
klingt jetzt schon eine Weile nach einem Schluss, deswe-
gen habe ich Sie nicht erinnert. Ihre Redezeit ist aber ab-
gelaufen.
Die SPD-Fraktion steht für
eine hohe medizinische Versorgungsqualität sowie für die
soziale und solidarische Finanzierung der Krankenversi-
cherung.
Wir werden dem Haushalt auf jeden Fall zustimmen.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Detlef Parr, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich würde das Lob der Ministerin ja gerne
fortführen, aber mir fehlt der Grund dazu. Ich möchte mit
einem Zitat beginnen:
Die Maßnahmen der Behörden sind nicht immer
rechtzeitig und ausreichend gewesen, ihre Einhal-
tung ist nicht immer mit der notwendigen Sorgfalt
überwacht worden; die Bevölkerung ist nicht recht-
zeitig und angemessen über die denkbaren Risiken
unterrichtet worden.
So liest sich eine Schlussfolgerung aus dem Abschlussbe-
richt des britischen Untersuchungsausschusses zur BSE-
Krise. Sie trifft voll auf unsere aktuellen Verhältnisse in
Deutschland zu.
Die beiden ersten BSE-Fälle bei deutschen Rindern
haben die eklatanten Versäumnisse der rot-grünen Bun-
desregierung in der Verbraucherschutzpolitik offen ge-
legt.
Ihr Krisenmanagement, Frau Ministerin, war miserabel.
Die ARD-Korrespondentin Marion van Haaren hat es in
einem Kommentar auf den Punkt gebracht. Sie sagt, Sie
haben in Ihrer Amtszeit Blindekuh gespielt.
Es ist Ihnen nicht gelungen, das löchrige Sicherheits-
system in Deutschland, vor allem aber in Europa zu
schließen und für den Schutz der Gesundheit unserer
Bevölkerung Entscheidendes durchzusetzen. Ganz im
Gegenteil: Sie hätten 1999 – auch noch unter deutscher
Ratspräsidentschaft – niemals einer Lockerung des Ex-
portverbots für britisches Rindfleisch zustimmen dürfen.
Im gleichen Jahr sind dort immer noch 2 254 BSE-
Fälle aufgetreten. Ihre damalige lapidare Begründung:
Die Umsetzung der Lockerung ist fachlich vertretbar und
rechtlich unumgänglich“. Was heißt eigentlich „rechtlich
unumgänglich“? Ein EU-Recht, das Vorrang vor den Ge-
sundheitsinteressen unserer Kinder, Frauen und Männer
hat, gehört auf den Sondermüll.
Pikant in diesem Zusammenhang – ich komme ja aus
Nordrhein-Westfalen und habe das sehr genau beobachtet –
ist die Rolle der grünen Ministerinnen Bärbel Höhn und
Andrea Fischer. Gegensätzlicher können Bewertungen
ein und desselben Sachverhalts nicht ausfallen. Die Grüne
Bärbel Höhn nahm den Ratschlag renommierter Wissen-
schaftler ernst, das Exportverbot dürfe keinesfalls vor Ab-
lauf der gesamten Inkubationsperiode von etwa fünf bis
sechs Jahren aufgehoben werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, gestat-ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?
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Ja, bitte.
Herr
Kollege Parr, wie beurteilen Sie denn die Tatsache, dass
es sich bei dem BSE-Fall in Schleswig-Holstein um ein in
Deutschland 1996 geborenes Tier handelt, bei dem es
keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass es jemals mit aus
Großbritanien importierten Tieren in Kontakt getreten ist.
Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Effizienz
eines Importverbotes?
Ich habe meine Ausführungennicht in diesen Zusammenhang gestellt. Vielmehr habeich über das Exportverbot gesprochen und dessen Locke-rung kritisiert. Ich bleibe dabei, dass das Exportverbothätte aufrechterhalten bleiben müssen.
Zweites Beispiel: Die grüne Landesministerin fordertefrühzeitig die Entwicklung von Testverfahren. Sie trugentscheidend dazu bei, die Schnelltests zur Marktreife zubringen. Bereits im Frühjahr des letzten Jahres kam derPrionentest in Nordrhein-Westfalen an über 5 000 Schlacht-rindern zum Einsatz. Die grüne Bundesministerin hum-pelt erst jetzt hinterher.Drittes Beispiel: Frau Fischer setzt auf Europa – dasmuss Sie auch – und auf langwierige Gespräche, die oftergebnislos verlaufen. Gestern noch verstieg sich derStaatssekretär des Landwirtschaftsministeriums im Ge-sundheitsausschuss in diesem Zusammenhang zu einemHinweis auf den freien Warenverkehr innerhalb der Ge-meinschaft.
Das kann doch wohl nicht wahr sein!
Frau Höhn dagegen erhöht den Druck auf die handelndenPersonen und setzt sich für nationale Alleingänge als dras-tische Signale ein. Ich denke, es ist notfalls doch besser,die Gefahr eines Vertragsverletzungsverfahrens in Kaufzu nehmen, als das Heft des Handelns allein den europä-ischen Bürokraten in die Hand zu geben.Ein weiteres Trauerspiel kann man im Bereich der For-schung beobachten. Frau Ministerin, Sie haben in allenIhren Talkshow-Auftritten auf Fortschritte auf diesemFeld hingewiesen. Aber der Blick in Ihren Bericht und aufdie 71 Seiten des viel gelobten und soeben vorgestelltenGesundheitsforschungsprogramms bestätigen Ihre Akti-vitäten keineswegs: Von drei BMG-Projekten zur Erfor-schung der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit stammen zweiaus den Jahren 1993 und 1997 und damit aus der Regie-rungszeit der alten Bundesregierung.
Nach der Regierungsübernahme spielte die BSE-For-schung im BMG bis zum Haushaltsjahr 2000 überhauptkeine Rolle; das ist auch dem Bericht zu entnehmen. Fürdas Jahr 2001 liegt der Antrag für sage und schreibe einForschungsvorhaben vor.
Auch der Forschungsverbund TSE beim Ministeriumfür Bildung und Forschung wurde bereits im Januar 1993eingerichtet. Besondere zusätzliche Aktivitäten währendIhrer Regierungszeit sind nicht erkennbar. Ganz im Ge-genteil: Nach Aussagen einer Ärztin in einer der zahlrei-chen Talkshows gehen immerhin 10 bis 15 Prozent derbetroffenen Fälle auf familiäre Dispositionen zurück – mitanderen Worten: sie sind genetisch bedingt.Frau Ministerin, Sie führen in einem PositionspapierIhres Hauses unmissverständlich aus, Sie wollten dasSchutzniveau des Embryonenschutzgesetzes nicht an-tasten. Offensichtlich wollen Sie auch in eng begrenztenund gegen Missbrauch abgesicherten Bereichen keinenMillimeter des zehn Jahre alten Gesetzes zur Diskussionstellen, um auf diese Weise der Forschung neue Möglich-keiten zu eröffnen.
De facto bedeutet das ein Forschungsverbot! In Deutsch-land soll es wohl keine neuen Vorsorgemaßnahmen undkeine erweiterten Heilungschancen geben. Also bleibt fürForscher und Patienten wieder nur der Weg ins Ausland.Das kann nicht in Ordnung sein!
Wir haben in einem Antrag zum Haushalt zusätzliche50 Millionen DM zur Erforschung der Ursachen und derFolgen sowie der Möglichkeiten zur Bekämpfung derRinderseuche gefordert. Wenn aus den UMTS-Zins-ersparnissen zu Recht Mittel in die Bildung und die Ver-kehrsinfrastruktur fließen, so darf doch die Förderungzusätzlicher Anstrengungen zum Ausbau des Gesund-heitsschutzes unserer Bevölkerung erst recht nicht ver-gessen werden. Der SPD-Kollege Lewering hat in der ers-ten Lesung des Haushalts ausgeführt:Wir haben vor der Wahl versprochen, den Schutz derMenschen vor Gesundheitsgefahren zu einem Leit-gedanken der Gesundheitspolitik zu machen. Auchin diesem Punkt halten wir Wort.Halten Sie Wort und stimmen Sie unserem Antrag zu! Wirsind das den Menschen in unserem Land auch im Hinblickauf das notwendige Vertrauen in unser Gesundheitssys-tem schuldig. Es hat bereits durch das unverständlicheFesthalten der Bundesregierung an völlig überholten Vor-stellungen zur Steuerung des Systems erheblich gelitten.Frau Ministerin, Sie haben in der ersten Lesung desHaushalts ausgeführt:Die Koalition wird sich sicherlich weiterhin mit derFrage beschäftigen, ob die Budgets in der jetzigenForm handhabbarer gemacht werden müssen.
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Vizepräsidentin Petra Bläss13388
Es geht aber weder um Handhabbarkeit noch um Geset-zestechnik, sondern es geht um die Frage der Zukunfts-fähigkeit unseres Gesundheitssystems.
Mit einer Ausgabendeckelung und einer damit ein-hergehenden staatlich verordneten Leistungsverweige-rung ist die Zukunft nicht zu gestalten. Die Patienten sinddieser Entwicklung ohnmächtig ausgeliefert. Sie könnensich nicht wehren, wenn zum Beispiel Medikamente nichtmehr verschrieben werden, dringend notwendige Heilbe-handlungen beim Physiotherapeuten nicht mehr durchge-führt werden, nach einem Schlaganfall die erforderlicheSprachschulung beim Logopäden nicht mehr übernom-men wird, Praxen zeitweise geschlossen bleiben, weil dieÄrzte nicht länger bereit sind, zum Nulltarif zu arbeiten,oder Wartelisten entstehen und Behandlungen zeitlichverschoben werden. Man kann die Beispiele für Ratio-nierungen beliebig fortsetzen. Diese schleichende Ratio-nierung hat längst eine beängstigend rasante Fahrt aufge-nommen.
Stoppen Sie sie endlich, schaffen Sie die Budgetierungab
und geben Sie den freien Berufen auf dem Wachstums-markt Gesundheit endlich wieder eine Chance.Wie so oft stellen wir fest, dass die Menschen im Den-ken längst viel weiter sind als die Politik. Nach einer Em-nid-Umfrage empfinden 69 Prozent der Befragten dasArzneimittelbudget als gefährlich, da es zu einer Unter-versorgung führt. Hochgerechnet sind bereits etwa drei-einhalb Millionen Menschen in Deutschland von Arznei-mittelablehnungen betroffen.Der Arzneimittelbeauftragte der KassenärztlichenBundesvereinigung, Dr. Bausch aus Hessen, weist ineiner Untersuchung unmissverständlich Leistungsein-schränkungen nach. Die Gmünder Ersatzkasse stellt in ei-ner sorgfältig durchgeführten Erhebung bei ihren Mitglie-dern fest, dass die Arzt-Patienten-Beziehung einenerheblichen Vertrauensbruch erlitten hat. Ein grundlegendfalsches System handhabbarer zu machen ist ein Fehler.Lösen Sie sich von dieser Illusion, Frau Ministerin.
Wir sollten uns ein Zitat, das erschreckend ist, näheransehen. Die Gmünder Ersatzkasse schreibt in der ge-nannten Erhebung:Wenn schon in einem Quartal fast 30 Prozent derbehandelten Befragten Erfahrungen mit Leistungs-verweigerung hatten, bedeutet dies, dass in einemgesamten Jahr bei unveränderten Bedingungen deut-lich mehr als ein Drittel der Krankenversicherten sol-che Erfahrungen machen.In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend ei-nen Blick auf die MEDICA in Düsseldorf werfen. EineVeranstaltung des Deutschen Krankenhaustages fand be-sonderen Zulauf. Sie war überschrieben mit dem Motto:Leistungsgerechte Vergütung versus Budgetierung. FrauMinisterin, die Teilnehmer hatten wohl die von Ihnen ver-teilte Beruhigungspille bei der Eröffnung in Form IhrerAbsichtserklärung entgegengenommen. Die Einführungder DRGs, der Fallgruppenpauschalen im Krankenhaussollte keinesfalls zu einem Preissystem mit Budgetierungund floatenden Punktwerten führen.
Das haben Sie gesagt. Geschluckt hatten sie diese Pilleaber noch nicht. Zu frisch klang ihnen noch die Forderungdes grünen Parteirats nach sektoralen Budgets mit Unter-legung von DRGs in den Ohren. Was denn jetzt? Wie dennjetzt? Sagen Sie uns bitte, wie Sie Ihre Erklärung mit die-sem Beschluss zusammenbringen wollen! Ich bin mir si-cher, es wird Ihnen nicht gelingen.Letzte Bemerkung: Wenn das Unternehmen Kranken-haus – so das Motto des Krankenhaustages – wirklich indie Lage versetzt werden soll, unternehmerisch zu han-deln, dann muss die Planwirtschaft weg. Budgets, DRGsund unternehmerischer Wettbewerb passen einfach nichtzusammen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt dieKollegin Katrin Göring-Eckardt für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen.
Lob hat.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte gerne zwei Vorbemerkungen machen. Die ersteVorbemerkung betrifft Herrn Wolf und Herrn Schöler.Wenn mein Mann kocht, dann geht es nicht darum, wieviel es kostet, sondern erstens darum, wie es schmeckt,und zweitens darum, ob es harmonisch zusammenpasst.
So ist es auch mit unserer Gesundheitspolitik.Die zweite Vorbemerkung, Herr Wolf, richtet sich nuran Sie. Sie haben gesagt, wir würden die Ängste und Nöteder Menschen nicht ernst nehmen. Dann haben Sie mehrals 20 Minuten hier gestanden und die Themen Creutz-feldt-Jakob-Krankheit und BSE, die in dieser Wochewirklich allen Menschen auf den Nägeln brennen, mitkeinem Wort erwähnt.
Ich bin Herrn Parr und auch Ihnen dankbar, dass Sie ge-meinsam mit uns den Gesetzesantrag einbringen. Ichglaube aber, Herr Wolf hatte einen Grund, warum er heute
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Detlef Parr13389
nicht darüber geredet hat. Wenn man sich ansieht, was Siein Ihrer Regierungszeit getan haben, dann gibt es dazunämlich etwas Konkretes und etwas Allgemeines zu sa-gen.Das Konkrete wurde im Jahr 1995 fortgesetzt mitÄußerungen des damaligen BundesgesundheitsministersHorst Seehofer, der der „Bild“-Zeitung gesagt hat, BSEsei kein Problem bei deutschem Rindfleisch.
Weiterhin wurde gesagt:... Horst Seehofer ... verteidigte sein Vorgehen imStreit um die Lockerung britischer Rindfleischim-porte als „konsequent vorbeugenden Gesundheits-schutz“.Es wurde außerdem gesagt:Der Minister kritisierte die öffentliche Diskussiondes Themas in den letzten Tagen und sprach von„Halbwahrheiten und schlichtweg unverantwortli-cher Panikmache“. Dagegen kritisierte die Grünen-Abgeordnete Ulrike Höfken-Deipenbrock, es sei un-seriös, bei dreijährigen Rindern keine Gefahranzunehmen. Die Inkubationszeit bei BSE betragebis zu 17 Jahre.Das ist das Konkrete, was in Ihre Regierungszeit fällt.Jetzt komme ich zum Allgemeinen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, erlau-
ben Sie, bevor Sie dazu kommen, eine Zwischenfrage des
Kollegen Wolf?
Sie wissen, dass heuteAbend noch eine Debatte zum Thema BSE stattfindet. Ichhabe dazu nichts gesagt, weil ich nichts davon halte, allesfünfmal mit denselben Argumenten durchzukauen.Meine Frage zielt auf den möglichen Beitritt zu einerKlage Frankreichs gegen die EU-Kommission, die wollte,dass das Importverbot fällt. Im Gesundheitsausschussstand ein solcher Beitritt zur Debatte und es wurde darü-ber abgestimmt. Eine Kollegin von Ihnen sagte damals,sie sei der Meinung, dass mehr auf den Weg gebracht wer-den müsse. Sie stimmte einem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu. Diese Kollegin ist hinterher ausge-tauscht worden, das heißt, sie musste den Gesundheits-ausschuss verlassen.
Wie stehen die Grünen zu einem Importverbot? Ja odernein? Wäre ein Importverbot nicht ein zusätzlicher Schutzgewesen? Sie und Ihre Ministerin haben der deutschenBevölkerung diesen Schutz letztlich verweigert, indemSie das Importverbot aufgehoben haben.
Deutschlands in der EU-Kommission. Sie wissen vor al-len Dingen eines: Ein Importverbot hätte zu dem Zeit-punkt, als wir im Gesundheitsausschuss darüber geredethaben, nichts genützt. Der Grund dafür ist ganz einfach:Mit einem Importverbot hätten wir nicht ausschließenkönnen, dass deutsche Verbraucherinnen und Verbrauchermit britischem Rindfleisch, das über andere Länder ein-geführt worden ist, konfrontiert werden.
– Herr Zöller, ich sage Ihnen gerne, was anders war. DerUnterschied besteht darin, dass wir dafür gesorgt haben,dass die Verbraucherinnen und Verbraucher wissen, wassie auf den Tisch bekommen. Wir haben nämlich einekonsequente Etikettierung eingeführt. Das haben Sie da-mals nicht gemacht. Sie haben von Qualitätssiegeln ausBayern geredet usw.
Ich komme jetzt auf den allgemeinen Aspekt zu spre-chen. Er geht über das hinaus, was uns in dieser Wochebeschäftigt. Wir Grünen haben in den letzten Jahren vonIhrer Seite sehr häufig erlebt, dass Sie all das als Spinne-rei bezeichnet haben, was die Forderung enthielt, die bio-logische Landwirtschaft zu fördern. Damals haben einpaar Menschen ihre Standpunkte beibehalten – Sie habensie auch öffentlich als Spinner bezeichnet –,
obwohl die Politik die artgerechte Tierhaltung zur Pro-duktion von gesundem Fleisch nicht gefördert hat, ob-wohl sich die Politik nicht um salmonellen-belastete Eierund genmanipuliertes Gemüse gekümmert hat.
– An dieser Stelle geht es übrigens nicht um Klein- undGroßbauern. Das ist völlig falsch. – Weil diese Menschenihre Standpunkte beibehalten haben, besteht heute dieMöglichkeit, dass sich die Verbraucherinnen und Ver-braucher für Nahrungsmittel entscheiden können, die ausökologischem und damit tatsächlich unbedenklichem An-bau stammen. Ich bin sehr froh, dass diese Menschenihren Kampf durchgehalten haben. Wir müssen langfris-tige Maßnahmen ergreifen, um diese Politik konsequentfortzusetzen.
Ich sage Ihnen noch etwas zu den Klein- und Groß-bauern. Auch bei Kleinbauern stehen die Rinder mitunterso eng beieinander, dass die Übertragung von Krankhei-ten nicht auszuschließen ist. Auszuschließen ist auch dortnicht das Vorhandensein von Antibiotika in Futtermitteln.Es gibt gerade in Ostdeutschland eine ganze Menge vonGroßbauern, deren Rinder vorwiegend im Freien sind. Esgeht also nicht um die Größe eines landwirtschaftlichenBetriebes. Es geht vielmehr darum, ob unsere Landwirt-
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schaftspolitik statt einer industrialisierten eine artgerechteTierhaltung ermöglicht.
– Ich glaube nicht, dass das weit weg von der Gesundheitist. BSE ist das Gesundheitsproblem, das die Menschen indieser Woche vor allen Dingen bewegt.
Ich möchte auf einen anderen Teil der Gesundheitspo-litik zu sprechen kommen. Wir müssen uns gemeinsamüberlegen, ob uns das, was wir in dieser Zeit erleben, nichtdazu bringen sollte, die Kompetenzen des Verbraucher-schutzes in diesem Lande – ich denke auch an die Mög-lichkeiten der Menschen, Verbraucherschutz wahrzuneh-men – sehr stark zu erweitern, und zwar weit über dashinaus, was unsere Regierung schon tut.
Ich möchte nicht wiederholen, was hier zu den Schwer-punkten des Haushalts schon gesagt worden ist. Ichmöchte gern darüber sprechen, was diese Schwerpunkteim Hinblick auf diejenigen Fragen bedeuten, die uns ge-sundheitspolitisch interessieren.Sie haben hier einen Punkt angesprochen, auf dem Sieoffensichtlich unablässig herumreiten wollen: die Budge-tierung. Was ist denn Budgetierung überhaupt,
sieht man einmal von den sektoralen Budgets ab, die Sieaufgrund Ihres Abstimmungsverhaltens im Bundesrat zuverantworten haben? Das ist ja nicht das, was wir einge-führt haben oder was uns gefällt.
Wir wollen die Beitragssatzstabilität erhalten, weil dieArbeitsmarktpolitik für diese Regierung eine entschei-dende Frage ist.
Aus diesem Grund kann es uns nicht um sektorale Bud-gets gehen; die haben Sie zu verantworten. Wir wollendagegen, dass das Geld, das zur Verfügung steht, sinnvollverteilt wird. Uns geht es also – das ist der erste Punkt –um Beitragsgerechtigkeit und damit auch um Generatio-nengerechtigkeit.Der zweite Punkt: Alle medizinisch notwendigen Leis-tungen – auch hier unterscheiden wir uns von Ihnen, wennSie von Wahl- und Kernleistungen reden – müssen auchfür alle zur Verfügung stehen. Wahlfreiheit der Versicher-ten darf nicht heißen, dass man zwischen besserer oderschlechterer Versorgung zu wählen hat. Deswegen disku-tieren wir auch über den Risikostrukturausgleich; ichhoffe übrigens, dass wir mit Ihnen darüber gemeinsamdiskutieren können.
Es geht dabei nicht um einen Wettbewerb um die billigs-ten Patienten – da sind wir mit Ihnen völlig einig –, son-dern um einen Wettbewerb um die beste Versorgung. Indieser Diskussion, die wir gemeinsam zu führen haben,geht es also darum, wie es mit der Einnahmeseite des Ge-sundheitssystems in Deutschland aussieht. Wir dürfen da-bei aber nicht zu dem Ergebnis kommen, die Einnahme-seite über höhere Beiträge oder über höhere Zuzahlungenzu verbessern. Das ist ja vielleicht Ihre Idee.
Wenn wir über die Einnahmeseite reden, darf das nichtnach dem Motto ablaufen: „Wir ziehen den Patientenmehr Geld aus der Tasche“, sondern es geht um mehr Bei-tragsgerechtigkeit. Dazu haben wir auch einen entspre-chenden Beschluss gefasst.
Über einige andere Fragen wird man dann sehr konkretund zeitnah reden müssen. Da würde ich auch nicht sagen,dass all das, was an Gesundheitspolitik in Deutschlandüber viele Jahre hindurch gemacht wurde, der oder der zuverantworten hat. Es gibt nämlich ein paar Krankheiten– nicht erst seit zwei Jahren, sondern schon viel länger –,um die wir uns besonders kümmern müssen. Dazu gehört– dieses Thema haben Sie auch angesprochen, Herr Wolf –die Diabetesversorgung. Wir haben dazu einen Antragverabschiedet; dazu muss es noch weitere Maßnahmengeben. Dazu gehören Krebs, insbesondere Brustkrebs,und Allergien. Das geht schließlich bis hin zur Gesund-heitserziehung an Schulen und zu der Frage, wie sich dieZahl der Unfalltoten verringern ließe.Wir sollten uns also gemeinsam auf einen Aktionsplan„Gesundheitsziele“ verständigen, in dem konkrete Maß-nahmen festgelegt werden, die dazu führen, dass unserGesundheitssystem auch zukunftsfähig bleibt.
– Es geht nicht um Budgetierung, sondern darum, dass dieMenschen im Hinblick auf sehr konkrete Krankheiten Si-cherheit bekommen.In diesem Zusammenhang sind für uns drei Punkteganz besonders wichtig: Es muss solidarisch ablaufen,was gegen Kern- und Wahlleistungen, aber auch gegenZuzahlungen spricht, es muss patientennah sein und esmuss die Menschen als Partner verstehen, was eine Ge-sundheitspolitik über die Köpfe der Menschen hinwegausschließt.Vielen Dank.
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat für die
PDS-Fraktion die Kollegin Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Liebe Kollegin Göring-Eckardt, dasLetzte höre ich sehr gerne. Endlich Gesundheitsziele fest-zulegen wäre wirklich etwas Neues. Das fände unsere Un-terstützung, vorausgesetzt, die Programme würden ent-sprechend ausgerichtet werden.
Aber zurück zum Haushalt: Der Einzelplan 15 ist beiüberwiegender Fortschreibung der bekannten Aufgabendurch die Sparvorgaben des Finanzministers geprägt. Andieser Grundbewertung ändert auch die Tatsache nichts,dass die Aufnahme des Programms „Umwelt und Ge-sundheit“ positiv zu bewerten ist. Diese Bewertung giltauch für das erfolgreiche Bemühen, die humanitäre Hilfefür die HIV-Opfer durch Blut und Blutprodukte über dasJahr 2004 hinaus weiterzuführen.Aus gesundheitspolitischer Sicht liegt der Hauptfehlerdes Bundeshaushalts nicht im Einzelplan 15, sondern istim Haushalt des Bundesministers für Arbeit und Sozialeszu finden, über den wir vorhin schon debattiert haben. Diedort vorgenommene Kürzung des Zuschusses für dieKrankenversicherungsbeiträge der Arbeitslosenhilfebe-zieher um 1,2 Milliarden DM macht einen neuen großenVerschiebebahnhof zulasten der GKV auf.
Dadurch werden der gesundheitlichen Versorgung enor-me Mittel entzogen. Bei der gegenwärtigen Einnahmen-situation der GKVen ist das unverantwortlich.
Meine lieben Damen und Herren von CDU/CSU undF.D.P., von Ihnen waren wir Verschiebebahnhöfe überJahre gewohnt. Aber Sie, meine Damen und Herren vonder Koalition, müssen mir und vor allen Dingen IhrerWählerschaft folgenden Widerspruch erklären: In IhrerOppositionszeit haben Sie diese Art von Haushaltssanie-rung immer aufs Schärfste kritisiert. Damals haben Siediese Politik für unsozial und ungerecht gegenüber derVersichertengemeinschaft gehalten.
Ich nenne das schlicht und einfach Beitragsklau; das giltfür früher wie für heute.
Mit Ihrer vor wenigen Minuten entschiedenen Ablehnungunseres Antrags haben Sie genau das getan. Die FolgenIhres Handelns haben Sie nun alleine zu verantworten.Für die Mehrausgaben der Kassen beim Krankengeld,die als Ergebnis der Änderungen bei den Erwerbsun-fähigkeitsrenten entstehen, gibt es keinen Ersatz. Auchwenn diese jetzt nur 250Millionen DM pro Jahr betragen,
bleibt es das Geheimnis der Bundesregierung, wie sieihre gesamten finanzpolitischen Willkürakte angesichtszukünftiger Mehrbelastungen der GKVen in den kom-menden Jahren zu verantworten glaubt.
Ich sage Ihnen: Dem Wunschtraum, die Gesundheitsre-form 2000 werde das schon irgendwie richten, wird einböses Erwachen folgen.
Durch die Ereignisse dieser Woche ist in die Haus-haltsdebatte ein recht unerfreuliches Thema geplatzt, undzwar die BSE-Problematik. Dieses Thema ist zwar nichtneu, aber nachdem die wirkliche Dimension dieses Pro-blems deutlich geworden ist, erleben wir hektische Akti-vitäten und heftige gegenseitige Schuldzuweisungen.Niemand möchte den schwarzen Peter behalten, niemandhat Schuld, wenn es um den Anteil an der Verharmlosungder Gesundheitsgefahren von BSE in Ihren jeweiligenRegierungszeiten geht.Aber ist es nicht so, dass alle – ich betone: alle – davonreden, dass das Vorsorgeprinzip verlangt, auch Risiken,die nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden können,weil Wissenslücken existieren, grundsätzlich als realanzusehen und nach Möglichkeit zu beseitigen? Ist esnicht so, dass die Krankheit BSE angesichts der poten-ziellen Gesundheitsgefahren geradezu als klassischer Fallfür eine konsequente Anwendung dieses Prinzips geltenmuss?
War es nicht so, dass Minister Seehofer das Problem be-reits Anfang der 90er-Jahre durchaus auf diese Weise an-gehen wollte, er aber schon nach kurzer Zeit – von wem,habe ich nicht zu beantworten – zum Rückzug gezwungenwurde?Aber haben nicht auch SPD und Grüne, damals nochscharfe Kritiker dieser Entwicklung, ihre guten Vorsätzemit Übernahme der Regierungsverantwortung auf eigen-artige Weise sofort vergessen? Wie anders ist es sonst zuerklären, dass die Regierung die Umsetzung des EU-Be-schlusses zur Vernichtung von Risikomaterialien bis zumOktober dieses Jahres immer wieder hinausgezögert hat,dass sich Gesundheitsministerin Fischer der Aufhebungdes Importstopps im Falle Großbritanniens zu einem Zeit-punkt fügte, als von einem Ende der mit dem Import ver-bundenen Gefahren keineswegs die Rede sein konnte?
Blieb nicht auch unter Rot-Grün das Thema Tiermehl un-angetastet, obwohl ständig das Risiko bestand, dass dasTiermehl trotz des Verbotes auch in Rinderfutter gelangenkonnte?Natürlich trifft es zu, wenn die Gesundheitsministerinvon einem „GAU der industrialisierten Landwirtschaft“
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spricht. Aber Recht hat auch die „Süddeutsche Zeitung“,wenn sie von einem gleichzeitigen GAU der Seuchen-bekämpfungspolitik in diesem Lande schreibt. AngesichtsLetzterem sind, wenn es auch viel zu spät erfolgt, das jetztangestrebte umfassende Tiermehlverbot und der Einsatzvon Schnelltests, welche wir heute Abend – hoffentlichalle zusammen – beschließen werden, vor allem von denGesundheitspolitikern zu unterstützen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Bundesministerin für Gesundheit, Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchtemich zu Beginn meiner Rede bei den Berichterstattern fürdie gute Zusammenarbeit bei der Haushaltsberatung so-wie bei meinen Mitarbeitern, die die Berichterstatter– was diese im Haushaltsausschuss gesagt haben – auf dasAllerbeste unterstützt haben, bedanken. Besonders gilt Ih-nen mein Dank für Ihre Unterstützung bei den Verände-rungen, die beim BfArM anstehen. Der Kollege Schölerhat dazu bereits das Notwendige gesagt.
Auch ich möchte mit einigen Aussagen zum ThemaBSE beginnen: In der Vergangenheit hat es zwar in die-sem Zusammenhang viele Maßnahmen gegeben. Offen-kundig waren diese jedoch nicht ausreichend. Wir müssenuns der Tatsache stellen, dass dieses Thema näher an unsherangerückt ist, als wir dies lange Zeit wahrhaben woll-ten. Nun haben wir es mit einer sehr tief greifenden Ver-unsicherung der Verbraucherinnen und Verbraucher zutun. Ich glaube, dass wir das Vertrauen in die Politik nichtdadurch wieder herstellen, dass wir beschwichtigen unduns darauf verlassen, dass der erste BSE-Befall eines Rin-des in Deutschland ein Einzelfall gewesen sein könnte.Jetzt müssen wir ehrlich sein.
– Herr Wolf, wir können gerne noch einmal darüber spre-chen, warum jetzt plötzlich ein entschlossenes Handelnmöglich ist, was lange Zeit sehr schwer durchzusetzenwar.Ich könnte Ihnen jetzt sagen, von welcher SeiteWiderstand kommt. Ich habe es gestern im Landwirt-schaftsausschuss sehr deutlich gemerkt: Unter den Land-wirtschaftspolitikern ist das Tiermehlfütterungsverbotparteiübergreifend eine bittere Pille.
Da sollte sich hier keiner etwas vormachen. Das Gleichegilt für die Frage der BSE-Tests, die von den Landwirt-schaftspolitikern ebenfalls sehr kritisch beurteilt werden,weil man Angst hat, dass man damit überhaupt erst dieNachricht in die Welt setzt, es gebe in Deutschland einBSE-Problem.Vielleicht werden auch wir hier in Deutschland einmalähnlich wie die Briten einen Bericht vorlegen – ich fändedas interessant –, wer wann was wie falsch gemacht hat.Im Moment aber ist es viel klüger, dass sich jeder an seineNase packt und überlegt, was man vielleicht hätte andersmachen müssen, und dass man dann ebenso wie beimTiermehlfütterungsverbot bei allen anderen in diesem Zu-sammenhang erforderlichen Maßnahmen gemeinsamvorgeht. Unsere Aufgabe ist es, mit der jetzigen Situationumzugehen. Manche Dinge sind jetzt möglich, die langeZeit wegen großer Widerstände nicht möglich waren.
Das Tiermehlverbot ist ein dramatischer Eingriff in ei-nen ganzen Wirtschaftszweig. Es verlangt von allen Be-teiligten unglaublich viele Umstellungsmaßnahmen. Of-fenkundig bedurfte es erst eines weiteren Vorfalles, bisendlich Handlungsbereitschaft entstanden ist. Darüberkönnte ich als Grüne sehr lamentieren. Das tue ich nicht,sondern ich sage: Ich bin froh, dass uns die Durchsetzungdieses Verbotes jetzt gelingt. Das ist ein wichtiger und be-deutsamer Schritt. Noch bedeutsamer ist, dass dieserSchritt jetzt offensichtlich auch auf EU-Ebene zumindestin die Nähe des Möglichen rückt.
Denn wir müssen in diesem Bereich etwas tun; auf ande-rem Wege können wir keine Sicherheit herstellen.Ich verweise im Zusammenhang mit derFleischhygienedringlichkeitsverordnung, die ich zurzeitmit den Ländern berate und die vermutlich nächste Wocheverkündigungsreif ist, darauf, dass die Länder dafür zu-ständig sind, BSE-Tests durchzuführen. Ich kenne auch indiesem Zusammenhang Äußerungen von Mitgliedernmancher hier im Hause vertretenen Partei, warum mankeine Ausweitung der Tests vornehmen wolle. – Auchdies also dazu, dass sich jeder einmal an die eigene Nasepacken sollte.Es ist notwendig und richtig, dass wir jetzt flächen-deckende Tests einführen, ohne dabei die Verbraucherin-nen und Verbraucher in falscher Sicherheit zu wiegen.Denn diese Tests werden uns zwar Aussagen darüber ge-ben, wie die epidemiologische Lage ist. Aber sie bietenkeine hundertprozentige Sicherheit darüber, wie es umdas einzelne Tier steht.Jetzt nur noch kurz ein Wort zum Exportverbot – dennich möchte auch noch auf die Gesundheitspolitik zu spre-chen kommen –: Der Europäische Rat von Florenz imJahre 1996 hat festgelegt, unter welchen Bedingungen dasExportverbot für britisches Rindfleisch aufgehoben wer-den kann. Wenn ich mich nicht völlig täusche und nichtschon vom Rinderwahnsinn befallen bin,
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Dr. Ruth Fuchs13393
waren ich und die anderen, die jetzt auf der Regierungs-bank sitzen, 1996 noch nicht an der Regierung. Als dasImportverbot letztes Jahr aufgehoben wurde, waren dieBedingungen, die der Europäische Rat von Florenz unterBeteiligung der damaligen deutschen Bundesregierungaufgestellt hatte, erfüllt. Deswegen wurde das Importver-bot aufgehoben.Deutschland bzw. die neue Bundesregierung hat trotz-dem dagegen gestimmt. Aber wenn das Importverbot vonallen anderen Ländern erst einmal aufgehoben ist, dannkann man zwar in Bezug auf das europäische RechtRobin Hood spielen, so wie Herr Parr das hier versuchthat, aber dann sind Sie noch lange kein Verbraucher-schützer. Denn ein Verbraucherschützer muss sich dochdie Frage stellen, ob man nur heldenhaft gegen europä-isches Recht kämpft oder ob man nicht auch dafür sorgensollte, dass die Menschen wissen, welches Fleisch sie aufden Teller bekommen. Denn auf alle anderen Mitglied-staaten haben Sie keinen Einfluss. Das ist der Punkt, HerrParr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seehofer?
Selbstverständlich.
Frau Ministerin, ich
stimme Ihrer Argumentation am Schluss hundertprozen-
tig zu. Es wird nämlich in der Öffentlichkeit viel zu häu-
fig übersehen, dass dieses Gebiet vergemeinschaftet ist
und es sich um zwingendes Recht der Europäischen
Union handelt.
Könnten Sie aber dafür sorgen, dass in Ihrer Koalition
die gleichen Maßstäbe bei der Beurteilung eines gewissen
Zeitraums – es waren fünf Monate im Jahr 1995 – ange-
legt werden? Damals hatten wir den gleichen Streit, da-
mals wurde ich aufgefordert, national vorwegzumar-
schieren und allein zu handeln. Meine Argumentation
damals war genau die gleiche, die Sie jetzt verwenden.
Können Sie bestätigen, dass das so ist?
Nein, so leicht kann ich es Ihnen nicht machen. Es gibt ei-nen Unterschied. Kollege Seehofer, Sie müssen mirzuhören, wenn ich versuche, Ihnen eine Antwort zu ge-ben.
– Sie können sich nicht zwischen zwei Damen entschei-den? – Lasst ihn einen Augenblick in Frieden!
Herr Kollege Seehofer, durch die Vergemeinschaftung– hier sind wir in der Tat einer Meinung – in einem Eu-ropa der offenen Grenzen sind die Möglichkeiten, diesenSchutz auf nationaler Ebene herzustellen, begrenzt. Ichreklamiere für mich aber, dass wir damals als es um dieAufhebung des Importverbots ging – dabei habe ich ei-nen durchaus abenteuerlichen Umgang mit denRechtsverpflichtungen gepflegt –, gesagt haben: Wir he-ben das Verbot nur auf, wenn ihr uns erlaubt, strenge Vor-schriften für die Kennzeichnung vorzunehmen. Das istuns gestattet worden, aber wir sind mit dem Stand derDinge noch nicht zufrieden. An diesem Punkt sehe ich deneinen Unterschied zu Ihrer Argumentation.Es gibt noch einen zweiten, der allerdings nichts mitmeiner oder Ihrer Politik zu tun hat. In dem Moment, zudem bei uns BSE-Fälle auftreten, kommen wir natürlichin Argumentationsnöte gegenüber anderen Ländern, de-ren Fleisch wir nicht bei uns haben wollen, weil sie BSE-Fälle haben.
Damit man mir nachher nicht vorwirft, ich hätte übernichts anderes gesprochen, möchte ich mich nun der Ge-sundheitspolitik zuwenden. Vorher möchte ich aber nocheinen Vorschlag machen: Wir dürfen nicht nur akutes Kri-senmanagement betreiben. Das war notwendig, damit wirjetzt weitere Schritte gehen können. Ich möchte gern ei-nen Arbeitsstab BSE beim BMG mit Vertretern aus demHaus, aus den Ländern und der Wissenschaft einrichten,in dem wir gemeinsam darüber beraten können, welcheweiteren Schritte wir gehen können. Dazu möchte ich alleBeteiligten einladen.
Jetzt möchte ich zur Gesundheitspolitik kommen, beider ich einiges Vorgetragene so nicht stehen lassen kann.Lassen Sie mich mit den neuesten Zahlen zur finanziel-len Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung,die uns seit heute Morgen vorliegen, beginnen. Das Defi-zit ist im dritten Quartal zurückgegangen. Wir werden amEnde des Jahres einen Überschuss von etwa 1 Milli-arde DM haben.
So viel zu den Unkenrufen.Es ist gelungen, den Stand der hohen Schulden in Ost-deutschland etwas abzubauen. Dafür war eine große Soli-daritätsanstrengung der Versicherten aus dem Westen not-wendig. Die Leistungsausgaben – jetzt hören Sie gut zu –sind um 1,8 Prozent gestiegen; darauf komme ich späternoch zurück. Der durchschnittliche Beitragssatz liegt der-zeit bei 13,57 Prozent, im ersten Halbjahr 1998 lag er bei13,64 Prozent. Das ist eine gute Ausgangsbasis für dasnächste Jahr, in dem wir es mit vielen Herausforderungenzu tun haben werden. So haben wir zum Beispiel, zweiVerfassungsgerichtsurteile umzusetzen, die ebenfalls aus
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Bundesministerin Andrea Fischer13394
einer Zeit stammen, in der ich nicht die Verantwortungtrug.
Die Entwicklung des Beitragssatzes ist ein Erfolg,zwar nicht für die Kassen oder für mich, aber für die Ver-sicherten, deren Belastungsfähigkeit in den 90er-Jahrenaufgrund Ihrer Abgabenquote an eine Grenze gestoßenwar. Deswegen ist es so wichtig, dass wir die Beitrags-sätze stabil halten.
Dazu war es notwendig, die Einnahmenseite zu stärken.Dass Ihnen der Weg nicht gefallen hat, ändert nichts da-ran, dass wir es getan haben. Dabei hatten wir eine Hypo-thek zu tilgen.Da gerade von Verschiebebahnhöfen die Rede war,möchte ich auf Folgendes hinweisen: Die größten Ver-schiebungen zwischen Arbeitslosen-, Renten- und Kran-kenversicherung gab es im Jahr 1995 mit 5 bis 6 Milliar-den DM. Ich habe durchgesetzt – das muss ich einfachrichtig stellen –, dass bei der Erwerbsunfähigkeitsrente –es handelt sich hier um ein Gesetz, das noch aus der altenRegierungszeit stammt und bei dem die höhere Belastungfür die Krankenversicherung kampflos hingenommenwurde – die Belastung auf 250 Millionen DM begrenztwird.
Ich möchte jetzt noch auf die internationalen Ver-gleiche zu sprechen kommen. Die internationalen Ver-gleiche beziehen sich nicht auf den Stand des Jahres 2000,sondern auf einen längeren Zeitraum. Die Qualitätsmän-gel sind ein altbekanntes Problem unseres Landes. Ichwill Ihnen deswegen im Zusammenhang mit dem Argu-ment – ich kann es nicht mehr hören, denn das ist nunwirklich intellektuell dürftig –, alle Probleme in unseremGesundheitswesen lägen an der Budgetierung, sagen: Damachen Sie sich einen schlanken Fuß, weil Sie sich nichtmit dem eigentlichen Qualitätsproblem in unserem Ge-sundheitswesen beschäftigen wollen.
Natürlich weiß ich, dass in diesem Lande Ärzte mitVerweis auf das Budget Medikamente verweigern. Dashalte ich für skandalös.
Aber die Frage ist: Haben die Ärzte Recht, wenn sie sichbei der Verweigerung eines Medikamentes auf das Bud-get berufen? Diese Frage müssen Sie stellen. Damit istschon Frau Yzer vom VFA auf die Nase gefallen, als sieunter Krokodilstränen eine Studie vorlegte, nach der vie-len Leuten Medikamente verweigert worden sind. Beimgenauen Hinsehen hat sich jedoch herausgestellt, dass70 bis 80 Prozent der verweigerten Medikamente solchewaren, die seit 1992 von der Leistungsfähigkeit der ge-setzlichen Krankenversicherung als Bagatellmedikamen-te ausgeschlossen sind.
Wo ist das Problem?
Dass es in der Praxis natürlich einfacher ist, die Schuldauf die böse Frau Fischer zu schieben, anstatt zu erklären,dass Bagatellleistungen nicht von der Solidargemein-schaft finanziert werden, verstehe ich. Aber deswegen istes trotzdem nicht richtig, auch wenn Sie es sich immer zuEigen machen.Dann haben Sie sich, Herr Wolf, widersprochen. Siehaben gesagt, die Arzneimittelausgaben seien trotz Bud-getierung ständig gestiegen. Was denn nun? Werden dieAusgaben durch die Budgetierung zu stark gedeckelt oderist sie als Deckel zu wenig wirksam, weil die Ausgabenweiter steigen?Das liegt übrigens daran, dass allein bei den Arznei-mittelbudgets keine Grundlohnsummensteigerung vorge-sehen ist. Wenn Ärzte nachweisen können, dass es durchInnovationen zu höheren Kosten kam, dann können siehöhere Abschlüsse machen. Dies obliegt nicht der Bun-desgesundheitsministerin, sondern der Selbstverwaltung.Diese versagt in diesem Punkt.
Die Selbstverwaltung versagt auch, wenn es darum geht,die Ärzte bei einer rationalen Arzneimitteltherapie zu be-raten.
Sie wollen die Budgets freigeben und die Ärzte so vielverschreiben lassen, wie sie wollen.
Verschwendung bei der Verschreibung von Arzneimittelnist weder im Interesse des Patienten noch im Interesse derSolidargemeinschaft, die dann Medikamente mitbezahlenmuss, die niemand braucht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, es
gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage des
Kollegen Wolf.
Bitte.
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Bundesministerin Andrea Fischer13395
Wir haben bei unseren po-
litischen Vorschlägen die Erfahrung gemacht, dass Sie sie
wieder rückgängig machen. Ist es nicht richtig, dass wir
die Arzneimittelsteuerung nicht völlig freigeben wollten,
sondern budgetablösende Richtgrößen auf den Weg ge-
bracht haben,
und dass Sie das mit Ihrem Gesetz einfach kassiert haben?
Heute besteht das Problem, dass Sie Budgets plus Richt-
größen vorschreiben, die dazu führen können, dass ein
Arzt, obwohl er anständig verordnet und seine Richt-
größen eingehalten hat, am Ende dennoch mit seinem Ho-
norar wegen Arzneimittelüberschreitung haftet. Halten
Sie das für richtig und gerecht?
Herr Wolf, wenn ich Sie jetzt wie den Blinden von der
Farbe reden höre, dann weiß ich schon, dass ich mich bes-
ser nicht Ihrer Unterstützung versichern sollte, obwohl
Sie mir heute so viel Mitleid haben angedeihen lassen.
– Ich würde es Ihnen jetzt gerne erklären.
Noch einmal: Die Richtgrößen gibt es noch immer.
Wenn sich Ärzte in ihren Praxen darüber beklagen, sie
hätten unzureichende Budgets, dann meinen sie die Richt-
größen; denn die Budgets sind eine Vereinbarung, die auf
der Ebene der Kassenärztlichen Vereinigung getroffen
wird. Der einzelne Arzt erfährt nur von der Richtgröße,
die Sie so schätzen. Bei diesen Richtgrößen – das sollten
Sie sich einmal anschauen – gibt es in der Bundesrepublik
Deutschland in den Regionen und auch in den Fach-
arztgruppen riesige Unterschiede. Es sind aber immer
Festlegungen der Selbstverwaltungen.
Wenn es trotz Richtgrößenprüfung und des erfolgten
Regresses nicht gereicht hat, dann kommt der Kollektiv-
regress, von dem Sie gerade gesprochen haben. Dann
steht es der Kassenärztlichen Vereinigung frei – so steht
es im Gesetz –, wie sie damit umgeht. Der Radiologe, der
sich darüber beklagt, dass er kein Medikament verschrie-
ben habe, muss von der kassenärztlichen Vereinigung
überhaupt nicht in diese Art von Regress einbezogen wer-
den.
Noch etwas zu den budgetablösenden Richtgrößen.
Die einzige Kassenärztliche Vereinigung, die das gemacht
hat – das wissen Sie ganz genau –, war die Kassenärztli-
che Vereinigung in Bayern. Ich habe mich damit viel be-
schäftigt; das hat den bayerischen Ärzten wenig Freude
gebracht.
– Auch wenn Sie dabei waren, wurde dadurch die Sache
zu meiner großen Überraschung nicht besser. – Was ich
damit sagen will, ist: Die Richtgrößen haben wir als In-
strument im Gesetz festgeschrieben.
Sie sind derjenige, der die ganze Zeit diesen Popanz mit
dem Budget aufbaut. Die Richtgrößen sind vollkommen
richtig dargelegt.
Ich will es anders formulieren: Wenn der Deckel, der
die Richtgrößen festlegt, so eindeutig wäre, dann könnte
es diese breiten Unterschiede in unserem Land in dieser
Form nicht geben. Das hat vielmehr mit den unterschiedli-
chen Facharztgruppen und mit den üblichen Konflikten
zwischen den verschiedenen Beteiligten zu tun.
Ich glaube, dass die Richtgröße keine Alternative ist.
Ich will jetzt nur noch abschließend darauf eingehen,
was Sie wollen. Sie wollen keine Budgets, aber Sie wol-
len stabile Beitragssätze. Also sagen Sie den Leuten deut-
lich: Sie wollen, dass die Menschen höhere Zuzahlungen
leisten, oder den Anschluss von Leistungen, die komplett
privat abgerechnet werden sollen. Etwas anderes kann es
nicht sein. Außerdem habe ich ja Ihre Texte gelesen, in de-
nen das zum Teil steht. Da gibt es ein Drei-Stufen-Modell
mit einer „untergestuften“ Grundleistung, für die man
dann weniger bezahlt, und irgendwelchen ergänzenden
Wahlleistungen. Das alles steht in Ihren Texten.
Ich finde, dann sollten Sie hier auch ehrlich sagen, dass
Sie die Einkommen all derjenigen, die im Gesundheits-
wesen verdienen, verteidigen wollen, dass dort überhaupt
keine Abstriche gemacht werden sollen. Immer mehr
Menschen wollen im Gesundheitswesen ihr Geld verdie-
nen. Das heißt, auch auf der Anbieterseite entsteht ein ho-
her Druck. Diese Einkommen verteidigen Sie und statt-
dessen wollen Sie bei den Patienten in die Tasche greifen.
Das ist Ihre Alternative und das sollten Sie ehrlich sagen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Michael Luther für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will versuchen,wieder etwas Sachlichkeit in die Debatte zu bringen. Daes um den Haushalt geht, will ich etwas zur Haushaltsbe-ratung sagen. Ich meine, das Berichterstattergesprächfand in einer angenehmen und konstruktiven Atmosphärestatt. Dafür will ich mich an dieser Stelle recht herzlichbedanken.
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Damit hören allerdings die Punkte auf, für die ich michbedanken kann. Auch wenn ich neu in dem ganzen Metierbin, habe ich relativ schnell erkannt, welche strategischenZiele das Bundesgesundheitsministerium eigentlich ver-folgen sollte und welche es nicht verfolgt, wo im Endef-fekt die Defizite liegen.Herr Schöler, Sie haben hier schon sehr ausführlich zuder Diskussion zum BfArM Stellung genommen. AusSicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte ich sa-gen: Das Parlament muss ein ganz besonderes Augen-merk darauf legen, dass dieses Bundesinstitut für Arz-neimittel und Medizinprodukte zum Arbeiten kommt.So wie es momentan vor dem Hintergrund eines europä-ischen Marktes wirkt und arbeitet, ist es schädlich für diePharmaindustrie, weil Zulassungen von Medikamentensehr lange dauern, weil es Widersprüche innerhalb des ei-genen Hauses gibt. So werden zum Beispiel Unterlageneinerseits angenommen und andererseits in Verbindungmit anderen Antägen abgelehnt. Da weiß also die eineHand nicht, was die andere macht.Für die neuen Bundesländer stellt sich noch ein beson-deres Problem: 25 000 Nachzulassungen von Anträgen ausdem Gebiet der ehemaligen DDR sind noch offen. Das istdiskriminierend.
All diese Dinge beschreiben die Arbeitsweise des Ins-titutes. Hier muss also etwas passieren. Das ist aber nichtallein Schuld der jetzigen Bundesgesundheitsministerin,das gestehe ich gern zu.
Ich meine vielmehr, dass das Parlament vielleicht zulange zugeschaut hat. Es wird nun endlich Zeit, dass hieretwas passiert. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen.Eines wundert mich allerdings an dieser Stelle, HerrSchöler: Wenn das Parlament hier eine besondere Kon-trollfunktion ausüben soll, dann muss es auch die Kon-trollinstrumente, die es hat, nutzen. Ich glaube, das In-strument einer qualifizierten Haushaltssperre schafft unsdie Möglichkeit, qualifiziert Einfluss zu nehmen, alsodort, wo ein Fortschritt bei der Modernisierung des Insti-tuts zu verzeichnen ist, entsprechend zu reagieren. DiesesInstrument ist extra für das Parlament eingerichtet wor-den, aber Sie haben es abgelehnt und das wundert mich.
– Sie legt das Institut nicht lahm.
Wir haben im Berichterstattergespräch sehr lange überdiese Frage gesprochen. Wir wissen, was gemacht werdenmuss. Ich denke, die Kontrolle sollte vom gesamten Par-lament und nicht nur durch von der SPD-Fraktion durch-geführt werden.Ich will nun etwas, zu dem Gesetz zur Neuordnung derseuchenrechtlichen Vorschriften sagen.Damit soll derSchutz der Menschen in Deutschland vor Infektionskrank-heiten verbessert werden. Dieses Gesetz ist im Frühjahrdieses Jahres verabschiedet worden. Noch im Mai hat dieKoalition im Deutschen Bundestag mitgeteilt: DasRobert-Koch-Institut, dem die Umsetzung dieses Geset-zes obliegt, benötigt zusätzlich 45 Personalstellen,700 000 DM jährlich für Ausgaben im Sachbereich undeine einmalige Anschubfinanzierung in Höhe von810 000 DM.Als ein, zwei Monate später der Haushalt aufgestelltworden ist, wurde deutlich, dass die Koalition das schonwieder vergessen hatte; denn die entsprechenden Ansätzeim Haushalt wurden nicht erhöht. Weder auf Nachfragenoch nach der Diskussion im Haushaltsausschuss wurdeetwas geändert. Es wundert mich, wie Sie sich, Frau Mi-nisterin, hier verhalten und wie Sie es zulassen konnten,dass das Robert-Koch-Institut im Hinblick auf die Um-setzung des Gesetzes letztendlich unzureichend mit Per-sonal ausgestattet wird. Es werden jeweils nur 14 Stellenfür 2001 und 2002 und keine zusätzlichen Mittel für dielaufenden Sachkosten bewilligt. Die Folge ist, dass Sieletztendlich die Umsetzung dieses Gesetzes gefährden.
Wenn man darüber nachdenkt, dann ist das angesichts derBedeutung dieses Themas besonders makaber. Aber daspasst in das Bild, das die Bundesgesundheitsministerininsgesamt abgibt. Sie kündigt vollmundig etwas an undmuss dann im Kabinett einen Rückzieher machen. Dasgilt nicht nur für dieses Thema.Sie sind auch bei dem Thema „Verringerung der Bei-tragszahlungen zur „Krankenversicherung fürArbeits-losenhilfeempfänger“ gescheitert. Das kostet die gesetz-lichen Krankenkassen 1,2 Milliarden DM, was, gemessenam gesamten Ansatz für das Gesundheitswesen, eine ge-ringe Summe zu sein scheint, die aber den Krankenkassenwirklich fehlt. Wir alle wissen, dass das Hauptproblem inDeutschland die fehlende Sicherung der Finanzierung desGesundheitswesens ist.
Hier besteht dringender Reformbedarf. Die Defizite– das möchte ich an dieser Stelle betonen – sind schonlange bekannt. Horst Seehofer und die damalige Koalitionhatten bereits eine Reform im Gesundheitswesen auf denWeg gebracht. Wir haben schwierige Schritte unternom-men, um zu einer wirklichen Lösung beizutragen. Als SieRegierungsverantwortung erlangten, haben Sie unserenReformkurs nicht fortgeführt. Sie haben sogar Teile derReform zurückgenommen und haben etwas Neues aufden Weg gebracht, ich sage: verschlimmbessert. Jetzt tunSie gar nichts mehr.
Die Folgen Ihrer Politik sind heute eigentlich ausrei-chend beschrieben worden. Ich möchte nur noch daraufhinweisen: Sie gefährden letztendlich die medizinischeVersorgung der Patienten genauso wie die Existenzgrund-lage der gesetzlichen Krankenkassen, der Ärzte und der
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Dr. Michael Luther13397
Krankenhäuser. Diese Liste ließe sich beliebig bis hin zuden Logopäden fortschreiben. All diese Gruppen befindensich in einer schwierigen Lage, weil Sie eines nicht be-achten: Das Gesundheitswesen ist ein kompliziertes Rä-derwerk, in dem ein Zahnrad in das andere greift. Wennman dort mit dem Holzhammer hineinschlägt, dann zer-schlägt man das ganze Getriebe. Man muss versuchen,mit Augenmaß zu reformieren. Darauf kommt es an. Wirhaben angeboten, daran mitzuwirken. Aber von IhrerSeite kommt zurzeit überhaupt nichts. Das finde ich mehrals bedauerlich.
Ich finde es deshalb mehr als bedauerlich, weil Sie,meine Damen und Herren von den Grünen, an und für sichgute Ansätze gezeigt haben. Ihr Parteirat hat die Durch-führung einer Gesundheitsreform beschlossen, der wirsehr viel Positives abgewinnen können.
Aber warum wollen Sie die Reform nicht schon jetzt, son-dern erst 2002 auf den Weg bringen?
Ich vermute, der eigentliche Grund ist: Ein gutes Gesetzpasst nicht zu dieser Regierung und vor allem nicht zurSPD, gegen die Sie es nicht durchsetzen wollen.
Ich gebe an dieser Stelle zu: Ich bin medizinischerLaie. Das müssen Sie bedenken, wenn ich mich jetzt zumThema Richtgrößen und Budgets äußere. Ich verstehedas Thema so: Bei einem Budget wird ein Rahmen vor-gegeben, der eingehalten werden muss. Die Ärzte bekom-men dann im Laufe des Jahres von den KassenärztlichenVereinigungen, ihren Selbstverwaltungsorganen, mitge-teilt: Die Budgets, die eigentlich für das ganze Jahr aus-reichen sollten, sind bereits im September aufgebraucht.Verraten Sie mir einmal, wie sich jemand an Richtgrößenorientieren soll, wenn das Budget aufgebraucht und keinGeld mehr da ist?
Als Haushälter muss ich auch die Öffentlichkeitsarbeitansprechen. Sie haben im Haushalt 3,3 Millionen DM fürdie Öffentlichkeitsarbeit vorgesehen. Ich habe Sie schonim Haushaltsausschuss gefragt: Was wollen Sie mit die-sem Geld machen? Wollen Sie die Pflegeversicherung be-kannt machen? Ich glaube, das braucht man nicht mehr.Die kennt jeder in Deutschland. Wollen Sie die Gesund-heitsreform publizieren? Welche wollen Sie denn publi-zieren?
Ich weiß, wozu es dient: zur gefälligen Selbstdarstellung.Das haben Sie sicherlich auch nötig, denn bei substanzlo-ser Politik braucht man besonders viel Geld zur Selbst-darstellung.
Ein weiteres Thema, das mir persönlich Sorgen berei-tet, ist heute noch nicht angesprochen worden. Das ist dieDrogenpolitik.
– Ich habe schon zugehört. Ich kann auch den Haushalt le-sen, Herr Schöler.Es gibt zwei Projekte, mit denen sich die Bundesregie-rung befasst. Das eine ist das Modellprojekt auf dem Ge-biet des Drogen- und Suchtmittelmissbrauchs. Dafür sindwie in diesem Jahr 9,8 Millionen DM eingestellt. Bis zumSeptember dieses Jahres sind aber nur 3,7 Millionen DMhierfür ausgegeben worden. So hieß es am Anfang der Be-richterstattergespräche. Sie haben also offensichtlichgroße Probleme beim Umsetzen dieses Programms. Aufder anderen Seite planen Sie 12 Millionen DM für Auf-klärungsmaßnahmen auf dem Gebiet des Drogen- undSuchtmittelmissbrauchs ein und bleiben damit beimHaushaltsansatz der letzten Jahre.Aber manchmal muss man politisch auf die jeweiligeZeit reagieren. Ich will ein paar Zeitungsüberschriften derletzten Wochen zitieren: „Der Drogenkonsum nimmt er-schreckend zu“,
so die „Neue Osnabrücker Zeitung“ vom 4. November2000. – „Immer mehr Kokain auf dem Markt“, so „DieWelt“ vom 28. Oktober 2000. – „Neue Drogen – unver-änderte Gefahren“, so die „Neue Züricher Zeitung“ vom11. Oktober 2000.Das ist die Beobachtung, die auch wir machen: MitDrogen wird sorgloser umgegangen. Ich zitiere nochmals,und zwar „Die Welt“ vom 7. November 2000. HerrRüdiger Engler – er ist Leiter des für die Drogendeliktezuständigen LKA 22 hier in Berlin sagteBei den Erstkonsumenten von Kokain verzeichnenwir im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg um50 Prozent.
Auch wenn man mit Jugendlichen spricht – ich sprecheoft mit Jugendlichen – stellt man fest, dass man sich beimUmgang mit dem Thema Drogen und mit den Drogenselbst der Gefahren nicht bewusst ist.
Ich meine darauf muss man mit einer adäquaten Auf-klärungskampagne reagieren. Fixerstuben nützen über-haupt nichts.
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Dr. Michael Luther13398
Denn es kommt vor allem darauf an, Jugendliche, jungeMenschen, junge Erwachsene vor dem Einstieg in dieDrogen zu bewahren, und es geht nicht darum, wenn es zuspät ist, zu sehen, wie man einen Entzug organisierenkann.
Deshalb sage ich an dieser Stelle: Stecken Sie die3,3 Millionen DM, die Sie für die Öffentlichkeitsarbeitvorgesehen haben, lieber zusätzlich in die Drogenauf-klärung. Dort wäre dieses Geld gut angelegt.
Um der Meinung vorzubeugen, wir hätten keine ent-sprechenden Anträge gestellt: Dies haben wir im Haus-haltsausschuss getan. Sie haben sie leider abgeschmettert.Ich meine, Herr Schöler, man kann nicht einfach so wei-termachen wie bisher.Ich komme zum Schluss. Ich habe die Bundesministe-rin am Anfang für die gute und nette Beratung, die wir hat-ten, gelobt. Das kann ich noch einmal bestätigen. Übermehr positive Impulse konnte ich leider nicht berichten.Schade. Vielleicht klappt es im nächsten Jahr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
hat die Kollegin Regina Schmidt-Zadel das Wort.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Der Kollege Walter Schöler istfür meine Fraktion schon ausführlich auf den Einzel-plan 15 eingegangen, auch auf die Drogenpolitik, HerrLuther. Vielleicht haben Sie nicht richtig zugehört. Ichwürde Ihnen raten, Ihre Thesen am Tor der Pfarrkirche inZwickau anzuschlagen. Vielleicht werden sie dann deut-licher vernommen, als das heute hier der Fall war.
Meine Damen und Herren, die Redner der Oppositionhaben diese Aussprache genutzt, um eine Generaldebatteüber die Gesundheitspolitik zu führen. Ich will an dieserStelle auf einige aktuelle und grundsätzliche Dinge ein-gehen.Die Debatte hat gezeigt, dass die Opposition unter star-kem Gedächtnisschwund leidet.
Man kann feststellen, dass dieser umso stärker wird, jelänger Sie die Oppositionsrolle wahrnehmen.
Bei Ihnen, Herr Wolf, ist das besonders deutlich gewor-den. Sie müssten allein schon aufgrund Ihres früher aus-geübten Berufs mehr wissen und bessere Informationenhaben.Ich möchte aber auch noch einmal auf die Verschiebe-bahnhöfe eingehen. Sie waren beim Erfinden von Ver-schiebebahnhöfen Weltmeister.
Ich erinnere an die 5 Milliarden DM, die während IhrerRegierungszeit von einem Bereich in den anderen ver-schoben wurden.
Sie haben heute wieder einmal die übliche Art der Kri-tik an den Tag gelegt, indem Sie gebetsmühlenartig immerwieder die üblichen Horrorszenarien von den knappenBudgets, von Rationierungsmedizin und Zweiklassenme-dizin bringen.
Nein, meine Damen und Herren, der Rückblick auf daszurückliegende Jahr und der Ausblick auf das Jahr 2001machen sehr deutlich, dass die grundlegenden Reformen,die die Regierungskoalition mit dem Gesundheits-reformgesetz 2000 auf den Weg gebracht hat,
zu greifen beginnen und genau das bewirken, was wir be-absichtigt haben. Ich verstehe nicht, warum Sie soschreien.
Den Versicherten wird auch in Zukunft ein leistungsfähi-ges, qualitativ hochwertiges
– hören Sie zu, Frau Bergmann-Pohl, Sie könnten auchnoch etwas lernen, wenn Sie einmal zuhören würden! –
und für alle gleichermaßen zugängliches und solidarischfinanziertes Gesundheitswesen zur Verfügung stehen.Unser Ziel war und ist es, das unverzichtbare System dergesetzlichen Krankenversicherung für das 21. Jahrhun-dert fit zu machen.
Je länger der eingeschlagene Kurs bei den Reformen bei-behalten wird, umso eher greifen sie und umso besser sinddie Ergebnisse.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Dr. Michael Luther13399
Ein gutes Beispiel dafür ist die integrierte Versor-gung. Sie stellt ein Kernstück unserer Gesundheitsreformdar.
Unser Ziel war es – dieses haben wir erreicht –, die bis-lang starre Trennung zwischen dem stationären und demambulanten Sektor aufzubrechen. Das oft unkoordinierteund planlose Nebeneinanderherarbeiten von Krankenhäu-sern und niedergelassenen Ärzten hat nämlich Ressourcenvergeudet und der Versorgungsqualität, die wir in denMittelpunkt unserer Politik gestellt haben, oft genug imWeg gestanden.
Wir haben die gesetzliche Voraussetzung dafür ge-schaffen, dass sich die verschiedenen Leistungserbringeraller Sektoren einmal Gedanken darüber machen, wieeine bessere Verzahnung zwischen den Bereichen mög-lich ist und was sie bringen kann.
Das sind Gedanken – hören Sie gut zu –, die vor allemeine Antwort auf die Frage zum Ziel haben: Wie kann maneine Versorgungskette verwirklichen, in deren Mittel-punkt der Patient und nicht allein die wirtschaftlichenEinzelinteressen mehrerer Leistungserbringer stehen,
die vor allem ihre Geräte auslasten wollen
und dafür – hören Sie zu! – unnötige und teure Doppel-und Dreifachuntersuchungen durchführen? Wie sehr wirmit diesem Ansatz ins Schwarze getroffen haben,
lässt sich schon heute erkennen auch wenn die Reform vornoch nicht einmal einem Jahr in Kraft getreten ist und dieSelbstverwaltung wichtige Rahmenvereinbarungen nochnicht ganz, sondern nur teilweise unter Dach und Fachhat.Modelle für integrierte Versorgungsformen schießenüberall wie Pilze aus dem Boden.
Beinahe an jedem Tag wird irgendwo in Deutschland einAntrag gestellt, um ein Praxisnetz oder Ähnliches ins Le-ben zu rufen. Man macht es sich nicht mehr wie bisher inden Nischen bequem, schimpft nicht mehr in ritualisierterForm auf Budgets und beschwört nicht mehr Klischeesund alte Feindbilder,
wie wir das heute bei Ihnen wieder erlebt haben. Vielmehrsind die Strukturen in Bewegung geraten und die Fantasieder Beteiligten wurde angeregt. Das wollten wir damit er-reichen.
Das beweist doch eines, meine Damen und Herren: Beiden Beteiligten im Gesundheitswesen gibt es durchausgenügend Innovationspotenzial.
Es ist doch offenbar auch die ernsthafte Bereitschaft vor-handen, einmal über den Gartenzaun der eigenen Arzt-praxis oder des Kurparkes hinauszuschauen und neue An-sätze der ärztlichen Versorgung zu entwickeln. Man mussÄrzten, Klinikleitern, Apothekern oder Physiotherapeu-ten doch nur die Möglichkeit an die Hand geben, sich zu-sammenzutun und ein auf den Patienten zugeschnittenesVersorgungssystem zu entwickeln, bei dem die Qualität– das ist das Wichtigste in unserem Programm – oberstePriorität hat.
Das gilt auch für den Teil der Reform, der den sta-tionären Sektor unseres Gesundheitswesens vor tiefgreifende Veränderungen stellen wird, nämlich die Um-stellung des Finanzierungssystems unserer Krankenhäu-ser auf eine leistungsorientierte, pauschalierte Bezahlung.Die stufenweise Einführung der so genannten DRGs läuftplanmäßig. Sie sollen bis zum Jahr 2003 in allen Klinikeneingeführt werden.
Dann wird es endlich möglich sein, die Leistungen dereinzelnen Kliniken zu vergleichen – auch das ist bishernicht möglich –, und dann wird sich zeigen, wer in diesemLand gut und wirtschaftlich arbeitet.
– Das wird sich wirklich zeigen.Die gesetzliche Krankenversicherung muss heute einDrittel ihrer Ausgaben für den stationären Bereich auf-wenden. Wem sage ich es?
Hier liegt der Schlüssel, wenn es darum geht, Reserven zumobilisieren.Ich will noch einmal auf die Reform im stationären Be-reich eingehen. Es stand ursprünglich ja auch mehr im Ge-setz, als letztlich in Kraft treten konnte. Ich würde mirwünschen, meine Damen und Herren, dass aus der Unionnicht nur Mäkelei, sondern mehr Konstruktives käme.
Erst blockieren und dann beklagen, erst Täter und dannSanitäter – Herr Wolf, das ist der Wolf im Schafspelz, denSie heute hier abgegeben haben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Regina Schmidt-Zadel13400
Zum Ressort der Bundesministerin für Gesundheitgehört seit dieser Wahlperiode auch die Pflegeversiche-rung. Mein Kollege Walter Schöler ist darauf eingegan-gen. Ich möchte aber auch noch einmal darauf hinweisen,dass wir in diesem und im nächsten Jahr zwei wichtigeGesetze auf den Weg bringen.So, wie wir mit der Gesundheitsreform 2000 den Qua-litätsgedanken in der gesetzlichen Krankenversicherunggestärkt haben, so wird das als Entwurf vorliegende Qua-litätssicherungsgesetz den Qualitätsgedanken in der ge-setzlichen Pflegeversicherung verankern.
Unser Ziel ist es, sicherzustellen, dass Pflegebedürftige– ganz gleich, in welcher Einrichtung und in welcher Re-gion sie gepflegt werden – eine optimale und qualitativhochwertige Pflege erhalten.
Der Gesetzentwurf stärkt die Verbraucherrechte in derPflege.Die Gesundheitspolitik der Koalition ist auf einemguten, nein, auf einem sehr guten Weg.
Sie stellt sicher, dass die Mitglieder der gesetzlichenKrankenversicherung auch in Zukunft darauf bauen kön-nen,
dass die Versorgungsqualität nicht von der Region ab-hängt, in der sie leben.
– Nein, auch keine Frage des Geldbeutels. Das war zu Ih-rer Zeit so und das haben wir abgeschafft, Herr Wolf.
Es wird keine Frage der Region sein, in der sie leben.
Sie stellt weiter sicher, dass der Leistungsumfang der not-wendigen Versorgung nicht von der Krankenkasse ab-hängt, bei der sie versichert sind.Sie können sich darauf verlassen, dass Gesundheit inZukunft bei uns keine Frage des Geldbeutels ist.
Das ist das, was wir mit unserem Gesundheitssystem undauch mit dem vorgelegten Haushalt bewirken wollen. Ichwürde mich freuen, wenn Sie als Opposition konstruktivdaran mitarbeiten würden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Ilja Seifert für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Die Sicherung einer menschenwürdigenund ganzheitlichen Pflege ist nicht mit der Konzipierungund der Umsetzung der Pflege in Form einer „Teilkas-koversicherung“ vereinbar. Die Sicherung einer men-schenwürdigen und ganzheitlichen Pflege ist auch nichtmit einem vorrangig auf somatische Verrichtungen orien-tierten Pflegebegriff vereinbar.Die Sicherung einer menschenwürdigen und ganzheit-lichen Pflege ist erst recht nicht – wir reden ja hier überden Haushalt – mit dem Entzug von 1,6 Milliarden DMverteilt über vier Jahre für die Finanzierung der Pfle-geversicherung durch die Absenkung der Bemessungs-grundlage für die Pflegeversicherungsbeiträge der Bezie-herinnen und Bezieher von Arbeitslosenhilfe vereinbar.Warum also lassen Sie zu, dass sich die konkrete Pflege-situation für eine wachsende Zahl von Menschen weiterzuspitzt?Auf unserer Anhörung am 15. November benannteClaus Fussek aus München, immerhin einer der aus-gewiesensten Kenner der Szene, einige der drängenstenProbleme: Pflegerinnen und Pfleger arbeiten weit ober-halb der Belastungsgrenze. Sie sind viel zu wenige. Siekommen gerade dazu, die absolut nötigsten Dinge zu tunnach dem Prinzip: satt, sauber, trocken. Das hat mit men-schenwürdiger Pflege nichts zu tun.
Die weiteren Probleme sind: Ursprünglich durchaushoch motiviertes und qualifiziertes Personal steht untermassivem Druck. Man verabreicht inzwischen Psycho-pharmaka als Medikamente gegen die Zeitnot. Dafür sinddiese Medikamente nicht gedacht. Betroffene Menschenmit Schluckbeschwerden bekommen eine Magensonde,weil die Zeit fehlt, das Essen mit der notwendigen Ruheeinzunehmen bzw. einzugeben. Windeln und Dauerkathe-ter gelten inzwischen als pflegeerleichternde Maßnah-men. Die Wörter „pflegeerleichternde Maßnahmen“ sindin den Alten- und Pflegeheimen inzwischen zum Horror-begriff geworden.
Wie lange will die Gesellschaft eine solche Unkultur desLeids noch dulden?Liebe Kollegin Schmidt-Zadel, ein Pflege-Qualitäts-sicherungsgesetz ist nicht zum Nulltarif zu haben.
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Regina Schmidt-Zadel13401
Wir brauchen darüber so lange nicht zu reden, solange Siealles unter Haushaltsvorbehalt stellen. Das ist nämlichweniger, als wenn Sie nach dem Motto „linke Tasche,rechte Tasche“ verfahren würden. Das Einzige, was Siemit Ihrem Gesetz erreichen, ist eine Erhöhung des büro-kratischen Aufwandes für diejenigen, die die Leistungendokumentieren müssen.
Es wird weniger Zeit für die Menschen und mehr Zeit fürdie Papierarbeit aufgebracht.Menschenwürdige und ganzheitliche Pflege muss vonder Würde des Menschen ausgehen. Insofern brauchenwir eine Wertediskussion in der Gesellschaft. Ich bin froh,dass die Kollegin Göring-Eckardt vorhin darauf hinge-wiesen hat, dass im Gesundheitswesen darüber wieder ge-redet werden soll. Ich hoffe, diese Diskussion führt zu Er-gebnissen.Angesichts der Tatsache, dass die Demenzkranken indie Pflegeversicherung einbezogen werden sollen, kön-nen wir nicht sagen: 500 Millionen DM und nicht mehr.Wenn man nämlich von der Gesamtzahl der betroffenenMenschen ausgeht, die mit 500 000 bis 2 Millionen ange-geben wird, dann ergibt sich ein Betrag – ich gehe von derUntergrenze aus – von 83,33 DM pro Monat. Umgerech-net auf den Tag sind es 2,74 DM. Wer will da noch von ei-ner Unterstützung für die Angehörigen reden?Reden wir also endlich wieder über die Einnahmeseiteder Pflegeversicherung. Wo bleibt denn der Beitrag derArbeitgeber? Er ist nirgendwo erkennbar. Wenn die Pfle-geversicherung tatsächlich eine Säule in den sozialenSicherungssystemen bilden soll, dann braucht sie auch dieBeiträge der Arbeitgeber sowie die Beiträge von Beamtenund Selbstständigen. Langfristig muss es eine Umstellungauf die Wertschöpfungsabgabe geben. Wir kommen nichtdarum herum. Deshalb können wir im Rahmen der Haus-haltsberatung nicht nur darüber reden, wie die wenigenMittel gedeckelt und anders verteilt werden können, son-dern wir müssen auch über die Einnahmen reden.Danke für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Kollege Klaus Kirschner für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die Aussprache überden Einzelplan 15, den Haushalt für Gesundheit, hat deut-lich gemacht, meine Damen und Herren von der Opposi-tion, dass Sie in gewohnter Manier – opportunistisch undpopulistisch zugleich – wild um sich schlagen. Herr Kol-lege Wolf, hören Sie doch einmal zu. Sie sagen, es wärenicht genügend Geld für Heilmittel da. Machen Sie sichdoch zumindest die Mühe, einmal in die KV 45 zuschauen. Von 1998 zu 1999 gab es eine Steigerung bei denHeil- und Hilfsmitteln und den Mitteln für die Dialyse von17,41 Milliarden DM auf 17,91 Milliarden DM. Das sind500Millionen DM mehr. Da können Sie doch nicht sagen:Das Geld wird weniger.
– Ich bitte Sie! Schauen Sie sich die Daten und Faktendoch einmal an. Kollege Luther hat gesagt, er kann denHaushalt lesen. Dann nehme ich an, dass Sie auch dieZahlen lesen können.
– Ja, aber Sie behaupten doch, das Geld würde nicht mehrausreichen, und vermitteln den Menschen draußen, als obdas Geld weniger geworden wäre. Bleiben Sie doch beiden Fakten. Das gehört auch zur Auseinandersetzung, diewir bei aller Unterschiedlichkeit in den Auffassungen zuführen haben.
Lassen Sie mich auch sagen: Die wenigen aus Ihren Rei-hen vernehmbaren Ansätze taugen nicht zur Weiterentwick-lung eines solidarischen, die medizinisch notwendige Voll-versorgung absichernden Krankenversicherungssystems.
– Lieber Kollege Herr Zöller
– er sagt immer: Zöllner; aber ich muss sagen: HerrZöller –, ich will noch einmal darauf hinweisen: Ihr Kon-zept, das die Überschrift „Der faire Sozialstaat“ hat, läuftdoch darauf hinaus, dass Sie Leistungen kürzen. – Schüt-teln Sie doch nicht den Kopf, wahrscheinlich haben Sie esnoch nicht einmal gelesen. Wenn Sie von 12 Beitrags-satzpunkten sprechen und damit um 1,53 Beitragssatz-punkte kürzen wollen, dann müssen Sie doch einmal sa-gen, wo Sie die rund 25 Milliarden DM einsparen wollen,ohne dass Sie bei den Leistungen kürzen. Es gehört dochdazu, dass Sie das endlich einmal nach außen hin deutlichmachen.
Dann sagt Herr Wolf: Heilmittel werden nicht mehr ge-währt. Sagen Sie doch einmal, was Sie denn nun wirklichwollen. Wollen Sie die Heilmittel streichen?
– Wunderbar. Gut, Herr Kollege Wolf, dann sagen Siedoch einmal, was aus diesem Leistungskatalog gestrichenwerden soll. Was definieren Sie als Wahlleistung?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Dr. Ilja Seifert13402
Ich warte schon lange auf eine Antwort und diese Debatteführen wir ja nun schon seit Jahren; auch der Sachver-ständigenrat hat das mit seinem Pfirsichmodell, mit sei-nem Kuchenmodell, mit seinem Zwiebelmodell getan.Sie alle haben von Kernwahlleistungen oder von was auchimmer gesprochen. Sagen Sie doch einmal, was Sie beider Humanmedizin im Leistungskatalog zusammenstrei-chen wollen. Haben Sie doch endlich einmal den Mut,dieses zu sagen.
Ich warte schon lange auf diese Diskussion. Die müs-sen wir doch einmal mit aller Ernsthaftigkeit führen. Siemüssen den Menschen draußen sagen, dass Sie beispiels-weise die Heilmittel nicht mehr gewähren. Sagen Sie Ih-nen doch, dass Sie den Zahnersatz streichen. Wie sonstkommen Sie auf die zweistellige Milliardensumme, aufüber 20 Milliarden DM?
– Dann erklären Sie es mir doch einmal. Bitte, ich fordereSie dazu auf. Aber das haben Sie vorher bewusst nicht ge-macht, weil Sie es den Menschen nämlich nicht sagenwollen. Es hört sich natürlich unglaublich gut an, zu sa-gen: Wir wollen nur noch 12 Beitragssatzpunkte. – Sie sa-gen aber nicht, wie Sie zu diesen 12 Beitragssatzpunktenkommen wollen. Dann sagen Sie im gleichen Atemzug:Das Gesundheitswesen ist ein Wachstumsfaktor; dortgehören noch mehr Mittel hinein. Diesen Widerspruchmüssen Sie doch einmal aufklären.
Bei Ihnen bleibt der Patient auf der Strecke. Aber esmuss doch umgekehrt sein: Das Ziel jeder Gesundheits-politik ist der Patient. Der Patient hat mit seinen berech-tigten Bedürfnissen im Mittelpunkt einer modernen Ge-sundheitspolitik zu stehen.
Das Ziel muss sein: ein System eines barrierefreien Zu-gangs zu einer qualitätsgesicherten medizinischen Be-handlung, die dem jeweils gesicherten Stand der medizi-nischen Wissenschaft entspricht.
– Lieber Herr Kollege Dr. Thomae, Ihr Zuruf zielt in diegleiche Richtung wie die Ausführungen Ihres KollegenParr; ich möchte fast sagen – wenn das nicht unparlamen-tarisch wäre –: „Quatsch“. Deshalb sage ich es nicht.
Ich will Ihnen bezüglich der Arzneimittel nur Folgen-des sagen – ich denke, wir werden nächste Woche eineDebatte dazu haben –: 1998 betrugen die Ausgaben fürArzneimittel 34,66 Milliarden DM und 1999 37,57 Mil-liarden DM. Sie aber stellen sich hin und sagen, das Geldreiche nicht aus.
Beweisen Sie doch erst einmal, dass das Geld nicht aus-reicht. Sie wissen doch ganz genau, dass wir – gemessenam Bruttoinlandsprodukt – weltweit die zweithöchstenAusgaben auf diesem Sektor haben und innerhalb der Eu-ropäischen Union an erster Stelle liegen. Sie aber tun so,als ob das Geld nicht ausreiche.Sie wissen genau, dass viel Geld in die falsche Rich-tung geht.
Mit diesem Gesetz sollen die Wirtschaftlichkeit unddie Qualitätssicherung auf dem Gesundheitssektor abge-sichert werden. Das Gesetz verpflichtet zur Qualitäts-sicherung und dafür gibt es eine ganze Reihe tauglicherInstrumente. Wenn Sie fordern, das Budget abzuschaffen,müssen Sie sagen, was Sie stattdessen wollen. Wir habenIhre Alternativen in der Vergangenheit gesehen: höhereZuzahlungen und Leistungsausgrenzung.
Einen solchen Weg gehen wir allerdings nicht mit.
Ichschließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 15– Bundesministerium für Gesundheit – in der Ausschuss-fassung. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Einzelplan 15 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU,F.D.P. und PDS angenommen.Ich rufe auf:III. 21 Einzelplan 16Bundesministerium für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit– Drucksachen 14/4515, 14/4521 –Berichterstattung:Abgeordnete Waltraud LehnJochen BorchertOswald MetzgerJürgen KoppelinHeidemarie EhlertZum Einzelplan 16 liegen zwei Änderungsanträge derFraktion der CDU/CSU, ein Änderungsantrag der Frak-tion der F.D.P. und zwei Änderungsanträge der Fraktionder PDS vor.
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Klaus Kirschner13403
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Jochen Borchert von der CDU/CSU–Fraktiondas Wort.Jochen Borchert (von der CDU/CSUmit Beifall begrüßt): Sehr geehrter Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Am 26. Oktober 2000 ver-kündete der Bundesumweltminister – wie immer außer-ordentlich vollmundig – vor der Presse: Die ökologischeErneuerung ist eingeleitet.
Herr Minister, ich frage Sie: Welches Land meinen Sieeigentlich? Deutschland können Sie jedenfalls nicht mei-nen.
– Frau Kollegin, durch Ihre Brille vielleicht.Die umweltpolitische Halbzeitbilanz der RegierungSchröder bietet wahrlich keinen Grund zum Jubeln.
In den letzten zwei Jahren, Herr Minister Trittin, habenSie keines der von Ihnen angekündigten Reformvorhabenumgesetzt. Sie haben Gesetzesnovellierungen angekün-digt, aber als Ergebnis nur unverbindliche so genannteEckpunkte zustande gebracht. Aber was soll es auch? Manwollte der Öffentlichkeit sowieso nur Aktivitäten und Be-triebsamkeit vortäuschen. Die Umweltpolitik der letztenbeiden Jahre ist eine reine Ankündigungsrhetorik. InWirklichkeit haben Sie die klassischen Felder der Um-weltpolitik völlig vernachlässigt.
Zu Recht schreibt Thilo Bode, der Chef von Greenpeace,in der „FAZ“:
Die Regierung hat kein zukunftsweisendes Umwelt-konzept.Beispielhaft möchte ich hier nur aufführen: Ohne greifba-res Konzept ist Deutschland zur 6. Klimakonferenz nachDen Haag gereist. Das Ergebnis ist verheerend.
Der Klimaschutz stagniert. Deutschland hat seine interna-tionale Führungsrolle unter Minister Trittin verloren. Dasvorgelegte Klimaschutzprogramm ist ein reines Ankündi-gungsprogramm. Mit der Umsetzung der IVU-Richtlinieund der UVP-Änderungsrichtlinie befindet sich derMinister ebenfalls in Verzug. Der Novellierungsentwurfzum Bundesnaturschutzgesetz wurde von den anderenRessorts noch vor dem Stapellauf gestoppt. Bei der Bio-masseverordnung hat die rot-grüne Koalition noch immerkeinen Konsens gefunden. Bei der so genannten rot-grü-nen Energiepolitik handelt es sich um eine Politik mit dergeringsten ökologischen Effizienz und den höchstenvolkswirtschaftlichen Kosten.
Hier geht es nicht um Energiepolitik, sondern um die Be-friedigung ideologischer Ziele.Das Fazit: In zwei Jahren grüner Umweltpolitik istnoch keine einzige der angekündigten Novellierungen inden Bundestag eingebracht worden. Die Umweltpolitikist auf der Strecke geblieben.
Ihre Politik, Herr Minister, zeichnet sich durch Still-stand und durch Rückschritt aus.
Meine Damen und Herren, die umweltpolitische Halb-zeitbilanz ist ein Fiasko. Mit dem ideologisch motivierteneinseitigen Ausstieg aus der Kernenergie negiert dieBundesregierung die Tatsache, dass Klimaschutz eineglobale Aufgabe ist. Die neuesten Forschungsergebnisseder zwischenstaatlichen UNO-Kommission für Klima-wandel machen eines deutlich: Beim Klima muss schnellund global gehandelt werden. Deshalb ist der einseitigeAusstieg aus der Kernenergie falsch. Die Konsequenzenfür das Klima sind fatal. Durch den Verzicht auf Kern-energie – immerhin ein Drittel des erzeugten Stroms –wird die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern erhöhtoder wir beziehen Strom aus Kernkraftwerken andererLänder, die bei weitem nicht unseren Sicherheitsstandardsentsprechen. Da die Bundesregierung gleichzeitig dieMittel für die Forschung im Bereich Reaktorsicherheitweiter kürzt, verliert sie zunehmend die Fähigkeit, mitzu-helfen, die Sicherheit von Kernkraftwerken in anderenLändern entscheidend zu verbessern.
Da hilft auch der ständige Hinweis auf Wind- undSonnenenergie nicht. So notwendig dies ist, die benötigteStrommenge können diese Bereiche in Zukunft sichernicht liefern. Inwieweit Windanlagen im Offshorebereichsinnvoll betrieben werden können, muss noch erforschtwerden. Hier sind technische und ökologische Fragennoch nicht schlüssig geklärt. Deshalb stimmen wir in die-sem Bereich der Erhöhung der Forschungsmittel aus-drücklich zu.Die Entsorgungsfrage bleibt nach dem Ausstieg aus derKernenergie weiterhin ungelöst.
In der Vereinbarung zwischen der Bundesregierung undden Energieversorgungsunternehmen ist der ungestörteBetrieb der Kernkraftwerke wie auch deren Entsorgungfestgeschrieben. Ich denke, die französische Regierungbesteht zu Recht auf dem vertraglich vereinbarten Rück-
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms13404
transport von deutschem Atommüll aus französischenWiederaufbereitungsanlagen nach Deutschland.
Herr Trittin, Sie haben 1998 wegen höherer Gewalt dieVerträge mit Frankreich kippen wollen. Jetzt sind Sie aufdie Erfüllung dieser Verträge angewiesen.Mit etwas über 1 Milliarde DM bleibt der Gesamt-haushalt des BMU im Jahr 2001 weiter auf einem er-schütternd niedrigen Niveau. Verglichen mit dem letztenHaushalt der Regierung Helmut Kohl ist das ein Minusvon fast 10 Prozent, während der Gesamthaushalt deutlichangestiegen ist. Am Gesamthaushalt partizipiert das Bun-desumweltministerium im kommenden Jahr noch mit0,23 Prozent. 1998 waren es noch 0,26 Prozent. Im Re-gierungsentwurf des BMU-Haushalts lag der Verwal-tungsanteil noch bei über 50 Prozent. Unter 50 Prozentdes Gesamthaushaltes sollten für den eigentlichen Pro-grammhaushalt, das heißt für Umweltschutz, eingesetztwerden.Jetzt, nachdem wir die katastrophale Haushaltsplanungüber Wochen massiv kritisiert haben, hat die Bundesre-gierung reagiert. Sie haben die Mittel im Programmhaus-halt auf 377 Millionen DM erhöht. Sie kommen jetzt aufetwas über 50 Prozent. Trotzdem ist das Ergebnis: DieBundesregierung gibt immer weniger für den Umwelt-schutz aus. Das Wenige, das sie ausgibt, benötigt sie über-wiegend für die Verwaltung. Dadurch sinken die Investi-tionen in wichtigen Bereichen des Umwelt- undNaturschutzes. Aus dem Vertragsnaturschutz steigen sieweitgehend aus.Vertragsnaturschutz ist im Gegensatz zu Ihrer Politikfreiwilliger Naturschutz. Beim Vertragsnaturschutz trittan die Stelle überflüssiger gesetzlicher Regelungen einevertragliche Vereinbarung. Verwaltung und Betroffenesetzen sich an einen Tisch und vereinbaren mit örtlicherSachkunde und mit Engagement sinnvolle Naturschutz-projekte. Das ist Umwelt- und Naturschutz vom Bürgerfür den Bürger und das ist gleichzeitig ein Beitrag zu ei-nem Weniger an Bürokratie.Die von der CDU/CSU vorgelegten Anträge, auf die-sem Gebiet die Mittel zu erhöhen, sind von Ihnen abge-lehnt worden. Dies zeigt, dass Sie nicht auf Vertragsna-turschutz, also auf freiwilligen Naturschutz und damit aufdas Engagement der Bürger setzen, sondern dass Sie al-lein den Vorschriften und Regelungen vertrauen.
– Wahrscheinlich mehr als Sie; aber darüber können wirja einmal in Ruhe diskutieren. Ihre Zwischenrufe zeigenzumindest nicht, dass Sie davon viel Ahnung haben.
Wir werden heute sicherlich noch auf die Vorbereitun-gen zum Klimagipfel in Den Haag eingehen. Es zeigtsich, dass dieser Klimagipfel aufgrund der schlechtenVorbereitungen mit einem Desaster endete. Nun richtensich die Hoffnungen auf einen „Reparaturgipfel“ in Bonn;aber ob man in sechs Monaten weiter als heute sein wird,das ist angesichts der Art der Vorbereitung zumindestfraglich. Wenn es in Bonn keinen Erfolg gibt, wird Ihnen,Herr Minister, der Wind noch stärker ins Gesicht blasen.Die rot-grüne Regierung hat die Umweltpolitik demDiktat von Ideologen untergeordnet. Statt Fortschritt gibtes Rückschritt; statt globaler Zusammenarbeit gibt es nurnationale Alleingänge. Von umweltpolitischen Innovatio-nen fehlt jede Spur. Sie stellen damit den Sinn des Um-weltministeriums zunehmend infrage.
Ihre Umweltpolitik ist und bleibt erfolglos. Die ökologi-sche Erneuerung wurde nicht eingeleitet. Wir lehnen die-sen Haushalt daher ab.Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Waltraud Lehn von der SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Der Haushalt 2001, Herr Borchert, ist für dieUmwelt ein guter Haushalt:
8,3 Milliarden DM geben wir zusätzlich für den Klima-schutz aus. Wir setzen mit diesem Haushalt einen um-weltpolitisch deutlichen Akzent. Das ist Handeln undnicht Reden. Das sind Taten – und was für welche!
Die 8,3 Milliarden DM verteilen sich wie folgt: fürEnergieeinsparungen bei Altbauten zusätzlich 2 Milliar-den DM, für umweltschonende Energieformen zusätzlich300 Millionen DM und für die Bahn zusätzlich 6 Milliar-den DM.
– Wenn Sie etwas fragen möchten, dann können Sie sichmelden und ich werde auf Ihre Kommentare gerne einge-hen.
Für die Wärmedämmung bei Altbauten und dieUmrüstung von Heizungsanlagen und Haustechnik
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Jochen Borchert13405
werden für die Dauer von fünf Jahren zusätzlich 400 Mil-lionen DM im Bauhaushalt bereitgestellt. Für den Um-weltschutz ist es ein besonderer Erfolg, dass wir die För-derdauer, die zunächst nur drei Jahre betragen sollte, jetztauf fünf Jahre verlängert haben. Dadurch erhält diesesFörderprogramm eine Perspektive.Durch entsprechende Verpflichtungsermächtigungenwurde das Fördervolumen immerhin von 1,2 auf 2 Milli-arden DM erhöht. Mit diesem Geld kann ein Kreditvo-lumen von insgesamt 10 Milliarden DM angestoßen wer-den. Es entstehen zusätzliche Arbeitsplätze in mittelstän-dischen Betrieben. Zugleich – das ist genauso wichtig –tragen wir mit diesem Förderprogramm ganz entschei-dend dazu bei, dass unser Klimaschutzziel „25 Prozentweniger CO2 bis 2005“ erreicht werden kann. Alle Fach-leute sind sich mit uns einig, dass das CO2-Einsparpoten-zial bei Altbauten besonders hoch ist.
Doch damit nicht genug: Für die Erforschung und Ent-wicklung zukunftsweisender Energieformen werden inden nächsten drei Jahren jährlich 100 Millionen DM be-reitstehen, von denen 20 Millionen DM im Umwelthaus-halt veranschlagt werden.
Ein Schwerpunkt wird dabei die Entwicklung der Brenn-stoffzelle sein. Damit führen wir die von uns eingeleiteteWende in der Energiepolitik konsequent, nachhaltig undauch mit großen Beträgen fort.
Es geht weiter: Auch unser Umsteuern in der Ver-kehrspolitik zugunsten der Bahn ist ein aktiver Beitragzum Klimaschutz. Er unterstreicht die Glaubwürdigkeitder Bundesregierung in ihrem Bemühen, das CO2-Re-duktionsziel zu erreichen. In den nächsten drei Jahrenwerden jährlich 2 Milliarden DM zusätzlich für den Aus-bau der Schienenwege im Verkehrshaushalt zur Verfü-gung stehen.All diese Maßnahmen sind ein Beitrag zum Erreichendes Klimaschutzziels. Sie ergänzen die bereits von derBundesregierung seit 1998 getroffenen Maßnahmen, dieich hier in Erinnerung rufe: das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das 200-Millionen-DM-Anreizprogramm zur För-derung erneuerbarer Energien, das 100 000-Dächer-So-larstrom-Programm und auch die Ökosteuer. Anstatt mitbilliger Polemik gegen die ökologische Steuerreform zuwettern, sollten Sie von der CDU/CSU lieber auf dashören, was Ihnen Ihr früherer Umweltminister und derheutige Exekutivdirektor des UNO-UmweltprogrammsUNEP, Klaus Töpfer, ins Stammbuch geschrieben hat.
In einem Interview mit dem „Spiegel“ vom 13. Novem-ber, also von vor gerade 14 Tagen, hat er Ökosteuer nichtnur als sinnvoll bezeichnet, sondern außerdem erklärt:Wir können es uns nicht leisten, ein sinnvolles In-strument wie die Ökosteuer einfach wegzuwerfen.Recht hat der Mann.
Allein bis heute haben wir schon mehr CO2 eingespartals alle anderen EU-Staaten zusammen. Mit dem erst imvergangenen Monat verabschiedeten Klimaschutzpro-gramm haben wir einen weiteren wichtigen Schritt unter-nommen, um das Klimaschutzziel zu erreichen. Wir sindauf dem richtigen Weg. Wir sind auch auf dem richtigenWeg, was die Ökosteuer angeht, denn aus ihr wird auchdas Marktanreizprogramm zur Förderung erneuerbarerEnergien gegenfinanziert. Hierfür sind im Haushalt desWirtschaftsministeriums für die Jahre 2001 bis 2004 er-neut 200 Millionen DM vorgesehen.
Beide Programme haben einen Photovoltaikanlagen-boom in der Bundesrepublik Deutschland ausgelöst. Indiesem Jahr werden in unserem Land 50 Megawatt Solar-zellenleistung installiert. Das ist ungefähr ein Viertel derWeltproduktion. Unser Ziel ist es, bis zum Jahr 2010 denAnteil erneuerbarer Energien zu verdoppeln. Insgesamthaben wir in dieser Legislaturperiode mehr als 1 Milli-arde DM bereitgestellt – das sind nun wahrlich keinePeanuts –, um die beschleunigte Markteinführung vonEnergie aus Wind, Sonne, Biomasse und Erdwärme zufördern.
Hinzu kommen 300 Millionen DM für die Forschungs-förderung in diesem Bereich.Alle bisher genannten Fördermittel, bis auf die jährlich20 Millionen DM für umweltschonende Energieformen,werden außerhalb des Haushalts des BMU veranschlagt.Daran wird deutlich, dass der Erfolg der Umweltpolitiknicht allein an der Höhe des Etats des BMU gemessenwerden kann. Damit wird unterstrichen, welchen Stellen-wert die Bundesregierung in ihrer Gesamtheit der Um-weltpolitik einräumt.
Herr Borchert, wenn Sie sich ausschließlich auf dieZahlen des BMU-Haushalts, auf den ich gleich im Detailzu sprechen komme, beziehen, ist das nicht nur konserva-tiv, sondern geradezu rückständig.
Wir können uns eine Beamtenmentalität nach demMotto „Dafür bin ich nicht zuständig“ nicht leisten. Wirbrauchen vernetztes Denken und vernetztes Handeln. Wirbrauchen Minister und Ministerinnen, die nach rechts undlinks schauen, die raten und sich beraten lassen. Wir ha-ben mit vielen Instrumentarien einen flexiblen Haushalt
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Waltraud Lehn13406
geschaffen, der sich von Starrheit entfernt. Wir müssenauch in unserem politischen Handeln hin zu Querdenkenund Problemlösungen kommen. Umweltschutz ist undbleibt eine Querschnittsaufgabe. Wenn wir über denUmwelthaushalt diskutieren, dann diskutieren wir immerauch über die umweltpolitischen Zielsetzungen. Deshalbmuss man den Blick für das Ganze statt nur für einen Teil-bereich haben.Insgesamt sind im Bundeshaushalt 2001 fast 10,4 Mil-liarden DM für Umweltmaßnahmen veranschlagt, vondenen 10 Prozent auf den Haushalt des BMU entfallen.Daneben gibt es noch die Steuerungs- und Beratungs-funktion dieses Ministeriums. Mit dem Hauptanteil von90 Prozent leisten, abgestimmt mit dem BMU, fast alleanderen Ressorts ihren aktiven Beitrag zum Umwelt-schutz. Ich möchte, dass das so bleibt. Jedes einzelne Res-sort muss sich für Umweltschutz engagieren, muss sichder Bedeutung von Umweltschutz und Klimaschutz be-wusst sein. Nur so werden wir die Chance haben,Deutschland bei diesem wichtigen Thema nach vorne zubringen.
Aber auch im Haushalt des BMU ist eine Steigerung zuverzeichnen. Im Vergleich zum Regierungsentwurf ist derProgrammhaushalt des BMU in den Haushaltsberatun-gen um 34,3 Millionen DM, das heißt um 9,2 Prozent, er-höht worden. Davon sind 20 Millionen DM die bereits er-wähnten zusätzlichen Mittel für die Erforschung undEntwicklung umweltschonender Energieformen.Daneben wurden aber auch andere deutliche umwelt-politische Akzente gesetzt. Die Fördermittel für Natur-schutzgroßprojekte wurden um 4 Millionen DM aufge-stockt. Das bedeutet gegenüber dem Regierungsentwurfeine Steigerung um 10 Prozent. Damit kann dieses För-derprogramm, mit dem der Bund wichtige Anstöße fürden Naturschutz in den Ländern gibt, auf einem deutlichhöheren Niveau fortgeführt werden.Insgesamt gehört der Naturschutz ohnehin zu denSchwerpunkten in der Umweltpolitik der Bundesregie-rung. Dies wird auch deutlich durch die 20 neuen Stellen,die das Bundesamt für Naturschutz in den beiden kom-menden Jahren erhält, durch die Erhöhung der Projekt-fördermittel für die Umweltverbände und Naturschutz-verbände um noch einmal 11,7 Prozent in diesem Jahr unddurch die zusätzlichen Mittel von 3 Millionen DM für dieAnsiedlung einer Abteilung des Europäischen Zentrumsfür Umwelt und Gesundheit des europäischen Regional-büros in Bonn mit 20 Mitarbeitern.Zusammenfassend stelle ich fest, dass der Bundes-haushalt 2001 klare umweltpolitische Akzente setzt. Hier-bei steht ein wirksamer Klimaschutz mit einer 25-pro-zentigen CO2-Reduzierung bis 2005 im Mittelpunkt.
Der Haushalt ist damit eine hervorragende Grundlage füreine auch in der zweiten Hälfte der Legislaturperiodeerfolgreiche Umweltpolitik.Sie folgt dabei unserem Grundsatz, dass eine moderne,zeitgemäße Umweltpolitik nicht dabei stehen bleibendarf, Fehler der Vergangenheit zu korrigieren oder nur aufNaturkatastrophen zu reagieren. Vielmehr muss sie durchdie Entwicklung präventiver Maßnahmen zukünftige Be-lastungen vermeiden.Ich möchte mich auch in diesem Jahr bei meinen Mit-berichterstattern aus den anderen Fraktionen für die gute,konstruktive Zusammenarbeit bedanken. In diesen Dankschließe ich Herrn Minister Trittin und seine Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter insbesondere aus dem Haus-haltsreferat ein, die mich mit gewohnt kompetenter undschneller Zuarbeit in allen Fragen unterstützt haben.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Birgit
Homburger von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich bin dem KollegenBorchert für die Aufzählung all dessen, was die Regierungzwar angekündigt hat, als sie hier angetreten ist, aber bisheute nicht getan hat, sehr dankbar. So kann ich mir dassparen und muss das nicht alles noch einmal aufzählen.Festzustellen bleibt, Herr Trittin, dass außer dem so ge-nannten Atomausstieg und der so genannten Ökosteuernichts, aber auch gar nichts erreicht worden ist.
Das zeigt sich jetzt auch wieder bei einem aktuellenBeispiel: Sie sind mit leeren Händen aus Den Haagzurückgekehrt.
Während die alte Bundesregierung in Sachen Klima-schutz noch Impulsgeber war,
ist von Deutschland seit der Übernahme des Umweltres-sorts durch einen grünen Minister auf internationalemParkett überhaupt nicht mehr die Rede.
Sie können zwar zwischenzeitlich einen Beschluss zumKlimaschutzprogramm vorweisen; aber umgesetzt ist da-von absolut nichts. Sie haben sich vor der Konferenz inDen Haag auf internationaler Ebene in keiner Weisegekümmert. Zudem haben Sie die Einführung eines Emis-sionsrechtehandels sträflich vernachlässigt und fürDeutschland auf diesem Gebiet keinerlei Sachkompetenzentwickelt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Waltraud Lehn13407
Herr Minister, es reicht eben nicht aus, immer nur zusagen, was man nicht will. Die Herausforderung auf die-ser Konferenz bestand darin, während der Verhandlungendie Reihen der EU-Umweltminister geschlossen zu haltenund an einem dynamischen Prozess teilzunehmen. Statt-dessen habendie Europäer nur noch auf den Mangel an Beweg-lichkeit aufseiten der Amerikaner gestarrt. Dadurchwaren sie nicht mehr imstande, eine effektive ge-meinschaftliche Strategie zu entwickeln, um die US-Haltung zu verändern.Dies war ein Zitat aus dem „Algemeen Dagblad“, einerunabhängigen Tageszeitung der Niederlande.An der Unbeweglichkeit der Europäer waren Sie, HerrTrittin, maßgeblich beteiligt. Das heißt schlicht, dass Siean der Lösung der Aufgabe, die Sie dort hätten wahrneh-men sollen, kläglich gescheitert sind.
Ich sage Ihnen heute: Sie bleiben klimapolitisch in derPflicht. Die F.D.P. fordert die Bundesregierung auf, un-verzüglich Verhandlungen aufzunehmen mit dem Ziel,mögliche Kompromisslinien zu finden und gemeinsamePositionen zu vereinbaren. Nutzen Sie doch einmal Ihr be-kanntermaßen gutes persönliches Verhältnis zu Ihrer fran-zösischen Kollegin! Sehen Sie nicht zu dabei, wie per-sönliche Irritationen und Meinungsverschiedenheitendazu führen,
dass es bei den Verhandlungen Schwierigkeiten gibt!Nehmen Sie die Herausforderung an, als Vermittler zwi-schen Großbritannien und Frankreich zu wirken! Dabeigilt es, verlorenes Terrain wieder gutzumachen.
Herr Schröder sagte gestern in seiner Rede zum Haus-halt: „Was dieses Land braucht, ist ein Mehr an Interna-tionalität.“ Ich habe das wohl gehört. Ob er dabei auch anSie gedacht hat, weiß ich nicht. Ich zweifle aber daran, obSie für die Lösung dieser Aufgabe wirklich der Richtigesind.
Wenn man diese Aufgabe annimmt, dann sollte dieBundesregierung nicht nur daran arbeiten, eine Kompro-misslinie zu finden, die von den EU-Staaten gemein-schaftlich getragen wird. Sie muss darüber hinaus sofortin Sondierungsgespräche mit anderen Ländergruppen,zum Beispiel mit den Staaten der Umbrella-Gruppe, mitden GUS-Staaten und den G-77-Staaten usw., eintreten.Von Deutschland müssen endlich wieder konstruktiveInitiativen ausgehen.
Die nächste Klimarunde in Bonn ist unsere letzteChance in diesem Bereich – es ist eh schon furchtbar spät –,hier zu endgültigen Ergebnissen zu kommen. Deswegenmuss mit allem Engagement dafür gesorgt werden, dassder Kioto-Prozess nicht endgültig und ausgerechnet in derBundesstadt Bonn scheitert. Geschähe dies, wäre auchMinister Trittin endgültig gescheitert.
Ich komme jetzt von der Klimapolitik zum Entwurf desnationalen Haushaltsgesetzes. Ich muss Ihnen sagen, dassSie auch hier in den Detailberatungen überhaupt nicht aufunsere Vorschläge eingegangen sind. So bleibt Ihr Haus-halt schlicht enttäuschend.
Wie schon in den letzten beiden Jahren sucht man ver-geblich nach einem zukunftweisenden Umweltkonzept.Statt Haushaltsmittel für sinnvolle umweltpolitische Pro-jekte bereitzustellen, plant der Minister die Subventionie-rung ökologisch unsinniger Maßnahmen. Jetzt will dieBundesregierung Zuschüsse für die Aufarbeitung vonAltöl zu Basisöl gewähren, um die EU-Altölrichtlinie um-zusetzen, deren mangelnde Umsetzung der EuGH in ei-nem Urteil festgestellt hat.
– Hören Sie zu, Herr Matschie. Die Subventionierung istunsinnig, da in Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Ländern schon bisher Altöl in erheblichem Umfang zuBasisöl aufbereitet wird.
In dem Urteil hat der EuGH die Subventionierung aus-drücklich nicht gefordert. Er sagt, dass es nicht seine Auf-gabe sei, festzustellen, welche Maßnahmen die Mitglied-staaten hätten ergreifen müssen. Vor diesem Hintergrundwäre eine rechtliche Privilegierung nicht nur nach Auf-fassung der F.D.P. völlig ausreichend. Das zeigt sich imÜbrigen auch daran, dass Sie diesen Haushaltstitel mit ei-nem Sperrvermerk versehen haben.
Das heißt nämlich, dass Sie sich intern nicht darüber einigsind. Ich weiß auch, dass es unterschiedliche Rechtsauf-fassungen zwischen den verschiedenen Ministerien inner-halb dieser Bundesregierung gibt.
Der Vorrang der stofflichen Verwertung ist auchökologisch nicht zu rechtfertigen. Es gibt vom Umwelt-bundesamt ein neueres Forschungsprojekt, das eindeutigfeststellt, dass man aus der Ökobilanz keinen eindeutigenVorteil eines Verwertungsverfahrens gegenüber einem an-deren herauslesen kann.
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Birgit Homburger13408
Eine zusätzliche Förderung der Aufarbeitung ist also auchaus ökologischer Sicht unsinnig. Deswegen fordern wirdie Bundesregierung noch einmal auf, auf europäischerEbene darauf hinzuwirken,
dass die Richtlinie dem aktuellen technischen Stand an-gepasst wird. Aber auch hier ist – wie immer, wenn es umumweltpolitisches Engagement geht –, absolut nichts ge-schehen.Sie, Herr Minister Trittin, haben mir auf meine Frage,ob Sie das auf europäischer Ebene angehen wollen, er-klärt, Sie hätten die UBA-Studie nach Brüssel geschickt.Wenn Sie sich bei dieser Sache einbilden, das allein würdeausreichen, um in Brüssel etwas zu bewirken, dannscheint es mir doch so, dass Sie überhaupt keine Ahnungdavon haben, wie man vorgehen muss, um etwas politischdurchzusetzen.
Aus ökologischer Sicht ebenfalls zweifelhaft sind imÜbrigen die Vorgaben zur EU-Altfahrzeugrichtlinie, diein nationales Recht umgesetzt werden soll. Auch hier ha-ben Sie wieder einmal gepennt. Die vorgesehenenQuotenvorgaben zum Recycling werden dafür sorgen,dass die Fahrzeughersteller in Zukunft schwerere Autosbauen werden, was den Kraftstoffverbrauch erhöhenwird. Das hat die Bundesregierung gerade erst in einerAntwort auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion zuge-geben. Ich kann Ihnen nur sagen: Das, was Sie hier ma-chen, ist ein ökologischer Schildbürgerstreich.
Hinzu kommt, dass die drohende Rücknahmepflichtschon bald für einen entsprechenden Rückstellungsbedarfin Milliardenhöhe bei der Industrie und damit für ent-sprechende Steuerausfälle sorgen wird. Das ist rot-grüneUmweltpolitik im wahrsten Sinne des Wortes. Maßnah-men des grünen Umweltministers lassen Bilanzen rotwerden; aber rot werden vermutlich auch Ihre Ohren, HerrTrittin, wenn Sie das nächste Mal ins Kanzleramt zumselbst ernannten Autokanzler Schröder zitiert werden.
Auch die Atompolitik ist wenig durchdacht. Ichmöchte sie heute ansprechen – wir haben bereits vielfachdarüber diskutiert –, weil sie für die Haushaltsberatungeneine ganz erhebliche Rolle spielt. Die Endlagerung ra-dioaktiven Mülls war im rot-grünen Koalitionsvertragnoch als „fehlende Lösung des Atommüllproblems“ be-zeichnet worden. Jetzt haben Sie das Problem dadurchgelöst, dass Sie schlicht erklären, sie stellten die Castorenauf die grüne Wiese. Das nennt man Umweltpolitik nachGutsherrenart.
Anstatt die Endlagerprojekte Konrad und Gorleben, indie im Übrigen bereits Milliardenbeträge investiert wur-den, zügig voranzutreiben, sollen alternative Endlager-standorte erkundet werden. Der Ansatz des vergangenenJahres hierfür ist zwar erhöht worden. Trotzdem ist die Sa-che irreführend, weil die Erkundung neuer Standortetatsächlich ein Hundertfaches dieser Summe kostet, ohnedass es neue Erkenntnisse geben wird. Das Ganze ge-schieht darüber hinaus mit dem Geld anderer Leute, weildiese Ausgaben von den Kraftwerksbetreibern refinan-ziert werden. Das ist für mich ideologisch motivierteGeldverschwendung.
Ich möchte ein letztes Thema aufgreifen, das wir hiernoch nicht diskutiert haben, was mir aber vor kurzem zuOhren gekommen ist. Sie, Herr Umweltminister, verfah-ren bei der Besetzung von Gremien und Sachverstän-digenräten die ganze Zeit nach Gutsherrenart. Wie ich er-fahren habe, soll die Führung der Geschäftsstelle derStörfallkommission nicht mehr wie bisher durch die Ge-sellschaft für Reaktorsicherheit in Köln, sondern durchdie Infrastruktur und Umweltschutz GmbH in Bonn wahr-genommen werden. Ich frage mich, was Sie damit be-zwecken.
Die Störfallkommission hat eine wichtige Aufgabe zubewältigen. Die Geschäftsstelle muss nicht nur das Ple-num, sondern auch noch zehn Arbeitsgruppen inhaltlichbetreuen. Das heißt also, man braucht inhaltlich undadministrativ wirklich hoch kompetente Leute. Bisherwurde diese Aufgabe zu aller Zufriedenheit sehr zuver-lässig erfüllt. Deshalb: Warum diese Neuausschreibung?
Warum wollen Sie nicht, dass die GRS diese Aufgabeweiter übernimmt? Mir stellt sich die Frage: Fühlen Siesich den Experten der GRS nicht gewachsen? Nur das er-klärt für mich, warum Sie diese Aufgabe nun an die GFAgeben wollen, die auf diesem Gebiet bisher keinerlei Er-fahrung hat. Die GFA hat bisher lediglich zusammen mitder GTZ entwicklungspolitische Projekte abgewickelt.Ich bin gespannt, Herr Minister Trittin, ob Sie in IhrerRede ausnahmsweise dazu öffentlich Stellung nehmenwollen und damit aufhören, alles in Hinterzimmern zu be-sprechen und das Parlament im Dunkeln zu lassen.
Der Umwelthaushalt 2001 – das will ich Ihnen ab-schließend sagen, Herr Minister Trittin – ist ein deprimie-rendes Dokument umweltpolitischen Widersinns undökologisch sinnloser Geldverschwendung.
Ichmöchte Ihnen bekannt geben, dass die beiden namentli-chen Abstimmungen, die von der CDU/CSU beantragtworden waren, nicht stattfinden werden. Der Antrag ist
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Birgit Homburger13409
zurückgezogen worden, sodass es heute keine namentli-chen Abstimmungen mehr geben wird.
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. ReinhardLoske von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es istnoch nicht lange her, dass viele Medien der Umweltpoli-tik das Totenglöckchen läuteten.
Die ökologischen Hauptprobleme hierzulande – so war zulesen und zu hören – seien weitgehend gelöst; wir hättenjetzt andere Sorgen, das Verfolgen ökologischer Zielemüsse ins zweite oder dritte Glied zurücktreten.Manche redeten vom Schutz der natürlichen Lebens-grundlagen nur noch als Kostenfaktor. Andere sahen indem Reden über die Umweltkrise nur noch Hysterie.Viele von uns haben gerne die Melodie der Ökooptimistenvernommen, die da lautet: Alles halb so wild, alles wirdgut. Ich glaube, in diesen Tagen ist es nicht übertrieben,wenn man sagt, dass diese Lebenslüge in den letzten Mo-naten einen schnellen Tod gestorben ist.Das zeigen vier Beispiele besonders deutlich, nämlichder Klimawandel, der BSE-Skandal, die Krise unsererBahn und leider auch nachwie vor die chronische Erkran-kung unserer Wälder. Auf ganz unterschiedliche Weiseerinnern uns die Problemfelder daran, dass wir – nach wievor – vor sehr schwierigen Aufgaben stehen und sie nochkeineswegs gelöst haben.Zum Thema Klimaschutz. Wir haben nächste Woche– wenn ich das richtig verstanden habe – Gelegenheit, imRahmen einer Regierungserklärung umfassend darüberzu reden. Deswegen will ich jetzt nicht auf die Details ein-gehen. Aber ich will wenigstens so viel sagen, dass auf derKonferenz in Den Haag die Zwischenergebnisse des In-tergovernmental Panel on Climate Change präsentiertwurden und dass dort gezeigt wurde, dass der Anstieg derTemperaturen bis zum Jahre 2100 bei möglicherweise bis6 Grad Celsius liegt. Das sprengt alles, was bis jetzt imBereich der natürlichen Klimaschwankungen zu beob-achten war. Soll – diese Aussage ist dort noch einmal be-stätigt worden – die Erderwärmung in Grenzen gehaltenwerden, muss der Ausstoß von Treibhausgasen bis Mittedes nächsten Jahrhunderts, bis zum Jahr 2050, halbiertwerden. Wir bewegen uns hier mittlerweile auf der Basisvon gesichertem Wissen. Die vielen Wetterextreme derletzten Jahre und Monate sind deutliche Indizien dafür,dass wir uns bereits mitten in dem größten Experiment,das die Menschheit sich je vorgenommen hat, befinden.Ich glaube, es war auch kein Zufall, dass vor allen Din-gen die Rückversicherer in Den Haag zugegen waren undmahnend ihre Stimme erhoben haben. Sie sagen uns, dassdie großen Risiken – Stürme, Sturmfluten oder Ex-tremniederschläge – kaum noch zu kalkulieren sind unddass es nicht auszuschließen ist, dass Menschen, die in be-sonderen Risikolagen leben, etwa in Küstennähe oder imGebirge, keine Versicherungen mehr finden werden,wenn der Klimawandel sich weiter zuspitzt.Kommen wir jetzt zum politischen Teil. All diese Ein-sichten – und das war ja schon eine große Errungenschaftin diesem Hohen Hause – haben bislang dazu geführt,dass wir gemeinsam den Schluss gezogen haben: Klima-schutz ist eine vorrangige politische Aufgabe. Darin sindwir uns einig. Die Bundesregierung und die Koalitions-fraktionen haben sich dieser Aufgabe angenommen undein anspruchsvolles – ob es erfolgreich ist, wird man se-hen – Klimaschutzprogramm vorgelegt. Frau KolleginHomburger, wenn ich Sie immer reden höre, diese Regie-rung habe außer Atomausstieg und Ökosteuer nichts ge-macht,
dann muss ich doch glauben, Sie sind zwei Jahre hinterder Diskussion zurück.
Wir haben uns – das wurde bereits von der KolleginLehn ausgeführt – die energetische Sanierung des Alten-baubestandes vorgenommen
und dafür in den nächsten fünf Jahren 2 Milliarden DMzusätzlich zur Verfügung gestellt. Wir haben bei derKraft-Wärme-Kopplung den Bestand gesichert und unsden Ausbau fest vorgenommen.
– Wir haben das Gesetz in Kraft gesetzt. Sie wissen esvielleicht nicht: Kurzfristig gilt die Bonusregelung; per-spektivisch wollen wir ein Zertifikat-Modell, das heißt,eine Verdoppelung der Kraft-Wärme-Kopplung bis zumJahr 2010.
Wir fördern umfassend die erneuerbaren Energien. Wirwerden ab 2003 eine Schwerverkehrsabgabe einführen,und – darauf komme ich noch – wir haben die Investiti-onsmittel für die Bahn um 50 Prozent erhöht. Meine Da-men und Herren, das alles sind Dinge, die es früher nichtgegeben hat. Sie sind das Ergebnis dieser Regierung.
Dazu gehört natürlich auch die ökologische Steuerre-form. Ich bin einigermaßen froh, dass das heute nichtwieder auf diese ganz primitive Art gelaufen ist. Wir kön-nen ab sofort die Diskussion so führen: Wir können unsdarüber streiten, wie man es macht, aber wir können unsnicht mehr darüber streiten, ob man es macht.
Bei Ihrer nächsten Kampagne gegen die Ökosteuer wer-den wir Sie genau daran messen, ob Sie den Klimaschutz
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms13410
ernst nehmen oder ob Sie auf die Ökosteuer zielen und inWahrheit den Klimaschutz meinen.
– Sie, Herr Paziorek, waren ja da, im Gegensatz zu FrauHomburger. Es kann zwar immer mal sein, dass man ver-hindert ist; das gilt es nicht zu kritisieren. Aber wenn mandie Klappe so weit aufreißt, obwohl man gar nicht da war,ist das schon bemerkenswert.Wirklich bemerkenswert war dort, dass die Industrie inSachen Klimaschutz an unserer Seite gestritten hat. Daswar ganz eindeutig zu spüren und ist ein wichtiges Signal.Wir hatten Präsentationen zusammen mit der Indus-trie – eine organisiert vom Umweltministerium –, zusam-men mit Unternehmen aus den Bereichen erneuerbareEnergien. Es ging um die Brennstoffzelle, um Mikro-kraftwerke, um Contracting, also darum, wie mitEnergieeinsparung Geld zu verdienen ist. Die Veranstal-tung war ein Supererfolg, die Hütte war rammelvoll, dieLeute standen draußen vor der Tür.
Die Wahrheit ist, dass sogar der BDI an unserer Seite ge-standen hat. Die letzten Mohikaner, Frau Homburger, sindSie; Sie haben es nur noch nicht gemerkt. Das ist das Pro-blem.
Über die Klimakonferenz werden wir nächste Wocheausführlich sprechen. Wir müssen da ganz eindeutig eineDoppelstrategie ins Auge fassen. Es gibt Staaten, bei de-nen überwiegt die Sorge; die glauben, sie könnten sich dieReduktion nicht leisten, und versuchen, durch abwegigeSchlupflöcher sich gesund zu rechnen und aus ihren Ver-pflichtungen herauszukommen. Das konnten wir so nichtakzeptieren. Ich persönlich glaube dennoch, dass es mög-lich sein wird, in den nächsten Monaten eine Lösung her-beizuführen und in Bonn zu einem Ergebnis zu kommen.Umso dringlicher ist, wie gesagt, eine Doppelstrategie:Auf der einen Seite müssen wir das Kioto-Protokoll amLeben halten und ausbauen; und auf der anderen Seite, da,wo man auf Innovationen setzt, brauchen wir einen „fasttrack“. Wir können es vielleicht so sagen: Das Kioto-Pro-tokoll ist nicht die Voraussetzung für nationales Handeln.Das hat diese Regierung kapiert. Deswegen gehen wir aufden Innovationstrack.
Wir schreiten voran, weil wir glauben, dass derjenige, deretwas tut, auch auf den Weltmärkten der Zukunft Vorteilehat. Da wollen wird dabei sein.
Zum Thema BSE. Auch die BSE-Krise ist, jedenfallsin ihrem tieferen Zusammenhang, eine ökologische Krise.Sie steht gewissermaßen als Synonym für eine völligeEntfremdung des Menschen von seinen Nahrungsmitteln.Es ist auch richtig: Da, wo Massentierhaltung und Indus-trialisierung der Landnutzung zu Prinzipien erhoben wer-den, bleiben Natur und Verbraucherschutz automatischauf der Strecke und da, wo nur nach den niedrigsten Prei-sen geschielt wird, bleibt die Qualität auf der Strecke. Dasist so sicher wie das Amen in der Kirche. Deshalbist es wichtig, dass wir neben den Akutmaßnahmen– Schnelltests, Tiermehlverbot, Kennzeichnungspflicht –,über die wir uns hoffentlich weitgehend einig sind, end-lich beginnen, über die Zukunft unserer Landwirtschaftnachzudenken und sie selbst auf den Prüfstand zu stellen.
Das ist jetzt die Stunde des ökologischen Landbaus,das ist – ganz wichtig für den Erhalt der bäuerlichen Land-wirtschaft – die Stunde der Regionalvermarktung. Einegroße Aufgabe für unsere Europapolitiker und absolutnotwendig ist es, dafür zu sorgen, dass die Vergabe derAgrarsubventionen an ökologische Qualitätskriterien ge-knüpft wird.Wir müssen – das steht jetzt auch auf der politischen Ta-gesordnung – im Zuge der Beratung über die Novelle desBundesnaturschutzgesetzes, die hoffentlich bald stattfin-den wird, den „Naturschutz durch nachhaltige Nutzung derKulturlandschaft“ zum Prinzip erheben. Wir brauchen einequalitative Definition dessen, was ordnungsgemäße Land-wirtschaft ist. Das ist aus unserer Sicht unverzichtbar.
Es muss auch endlich Schluss sein mit der „Alarmis-muskritik“. In den letzten Jahren war es so, dass fast je-der, der auf irgendeine Umweltgefahr hingewiesen hat,sofort als Panikmacher hingestellt wurde. Es ist sicherlichrichtig, dass in den 70er- und 80er-Jahren manchesUmweltproblem hysterisch überzeichnet wurde. Aber einebenso schlechter Ratgeber – wenn nicht noch ein vielschlechterer – wie Hysterie ist Herunterspielen und Ab-wiegeln; denn das kostet Vertrauen und sät in der Bevöl-kerung nur Misstrauen. Deshalb hilft jetzt nur eins: abso-lute Transparenz!
Zur Krise der Bahn – auch das ist ein großes Thema –:Die Bahn hat, wie wir alle wissen, Riesenprobleme. Aberdarin liegt auch eine Chance; denn Politik und Gesell-schaft müssen sich über die Frage klar werden: WelcheRolle soll die Bahn beim Transport von Mensch und Gü-tern in Zukunft spielen? Die Umweltschützer und die Um-weltpolitiker waren immer Verbündete der Bahn. Das istwichtig und – das hat die Regierung erkannt – soll auch sobleiben. Deswegen sind die Investitionsmittel – hören Siegenau hin! – von 6 Milliarden DM im Jahr 1998, als wiran die Regierung kamen, auf 9 Milliarden DM in denHaushaltsjahren 2001 bis 2003 erhöht worden. Das ist einPlus von 50 Prozent. Davon könnten Sie sich wirklicheinmal eine Scheibe abschneiden.
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Dr. Reinhard Loske13411
Wir erwarten aber im Gegenzug von der Bahn, dass sieauf mehr Geld nicht nur mit Streckenstilllegungen undPersonalabbau antwortet. Eine Schrumpfbahn, die sichaus der Fläche zurückzieht, hat keine Perspektive. Wirbrauchen eine Bahn, die sich aktiv um die Erschließungneuer Märkte bemüht, und zwar im Personenverkehr undim Güterverkehr. Deswegen lautet der Deal, den wir Um-weltpolitiker den Bahnern anbieten: Bemüht euch umneue Märkte! Dann werdet ihr unsere Unterstützung be-kommen; denn die Bahn ist gut für die Umwelt.
Zum Thema Waldsterben kann ich wegen Zeitman-gels nicht mehr viel sagen. Nur so viel: Es ist erstaunlich,dass viele von uns das Thema Waldsterben längst abge-hakt haben. Die Realität ist leider so, dass das, was sichüber Jahre und Jahrzehnte im Boden an Schadstoffen ku-muliert hat, sozusagen schleichend über uns kommt. Soschön es ist, jetzt über Wasserstoffautos zu reden, die viel-leicht 2010 oder 2015 über die Straßen fahren werden, sowichtig ist es auch, den Emissionsausstoß jetzt zu senken.Ich komme zum Schluss. Der ökologische Struktur-wandel ist eine der wichtigsten Aufgaben, der sich die Po-litik zu stellen hat. Sollte diese Aufgabe kurzzeitig auf derpolitischen Agenda nach hinten gerückt sein, so ist diesnun definitiv vorbei. Ich glaube, Umweltpolitik ist wiederda, und zwar allein aufgrund der Macht der Verhältnisse.Sie ist eine Querschnittsaufgabe. Deshalb lässt sich Um-weltpolitik zunehmend auch im Haushalt anderer Minis-terien wiederfinden, zum Beispiel in dem Etat des Minis-teriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen oder desWirtschaftsministeriums.Der Haushalt 2001 des Umweltministeriums ist einguter Haushalt. Deshalb bitte ich Sie, ihn zu unterstützen.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Birgit
Homburger von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Kollege Loske, Sie
haben Bezug darauf genommen, dass ich an der Klima-
konferenz in Den Haag nicht teilgenommen habe. Das ist
richtig. Ich sehe, dass Herr Minister Trittin klüger gewor-
den ist: Während er mir nach der letzten Debatte noch ei-
nen Brief geschrieben hat, in dem er sich wütend darüber
beschwert hat, dass ich ihn angegriffen habe, und mir mit-
teilte, dass er kein Verständnis dafür habe, dass ich nicht
nach Den Haag fahre, hat er es heute also Ihnen überlas-
sen, das in die Debatte einzuführen.
Dazu möchte ich Stellung nehmen: Die F.D.P. steht
ganz klar zur Klimaschutzpolitik. Wir wollen den Emis-
sionsausstoß mindern. Wir wollen den Erfolg des Kioto-
Prozesses. Daran arbeiten wir mit.
Die F.D.P. hat seit Monaten Vorschläge zum interna-
tionalen Klimaschutz gemacht. Wir haben mehrfach
nachgefragt, was der Bundesumweltminister mit Blick
auf Den Haag zu unternehmen gedenkt. Wir haben Vor-
schläge gemacht, wie der Zertifikathandel funktionieren
kann.
Alle diese Vorschläge wurden entweder ignoriert oder ab-
gelehnt. Stattdessen hat man uns erklärt, es gebe eine Ar-
beitsgruppe zum Zertifikathandel im Umweltministerium
und bei der Börse. Auf Nachfrage, wer da mitarbeite, hat
man keine Antwort erhalten. Im Gegenteil, es hat sogar
geheißen, die betreffenden Ministeriumsvertreter hätten
eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben.
Man bekommt also überhaupt nichts mit: Klimaschutz in
Geheimzirkeln! Sie haben der F.D.P. seit Monaten die Tür
vor der Nase zugeschlagen und uns von der Mitarbeit aus-
geschlossen.
Ich kann schon verstehen, dass es der Minister gern ge-
sehen hätte, wenn ich nach Den Haag mitgekommen
wäre. Er hätte ohne Zweifel jegliche fachliche Unterstüt-
zung gut gebrauchen können.
Ich bin absolut sicher, dass Sie größtes Verständnis
dafür haben, dass ich mich angesichts der nicht bestehen-
den Mitwirkungsmöglichkeiten schweren Herzens ent-
schlossen habe, nicht mitzufahren. Ich bin im Übrigen der
festen Überzeugung, dass es nicht mein Job ist, zur psy-
chologischen Verstärkung hinter einem Minister herzu-
laufen. Es wäre zwar schön für ihn gewesen, aber er muss
die Misserfolge von Den Haag selber vertreten.
Eine einzige letzte Bemerkung noch: In dem bereits an-
gesprochenen Brief hat sich der Herr Minister bei mir be-
schwert, ich hätte ihm bei der letzten Rede „Lustlosigkeit“
vorgeworfen.
Insoweit kann man allerdings nur über einen einzigen
Punkt streiten: Ob es nach niedersächsischer Wortwahl
„Lustlosigkeit“ oder nach baden-württembergischer Wort-
wahl „Luschtlosigkeit“ war. Ich bin dafür, dass es
„Luschtlosigkeit“ war.
Zur Erwi-derung Herr Loske.
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Dr. Reinhard Loske13412
Zwei Punkte. Erstens. Herr Trittin hat mir nichts überlas-
sen.
Zweitens. Ich habe bis jetzt nicht verstanden, woran die
Klimakonferenz von Den Haag gescheitert ist. Aber jetzt
weiß ich es.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Dabei sein ist nicht immer al-les. Erfolge zählen. Ich denke, wir in diesem Hause sinduns einig, dass Den Haag ein Desaster war. Wie mit natür-licher Umwelt umgegangen wird, wurde uns in letzterZeit klar vor Augen geführt.Zum einen markiert das Desaster in Den Haag die Un-fähigkeit und den Unwillen der führenden Industrielän-der, dem Klimakollaps entgegenzutreten. Zum anderenzeigen uns die nunmehr auch „deutschen“ BSE-Rinder,welch unbeherrschbare Risiken der industrielle Umgangmit Leben – die Abstinenz natürlicher Kreisläufe bei derNahrungsmittelherstellung – für Mensch und Natur birgt.Beide Ereignisse verbindet eines: Die Politik stellt sichnicht wirklich den Problemen. Sie schiebt vielmehr dasUmsteuern auf Zeiten hinaus, in denen es höchstwahr-scheinlich für Lösungen zu spät sein wird.Beim BSE ist – so könnte man es poetisch formulie-ren – die heile Welt der glücklichen und gesunden deut-schen Almkühe in den Niederungen friesischer Mastanla-gen versunken:
von einem auf den anderen Tag Alarmstufe rot! Plötzlichist alles möglich. Tiermehl ist „out“, Schnelltests sind„in“, wenn auch so dosiert, dass es nicht zu teuer kommt.Das Massenschlachten beginnt.Wahrscheinlich bricht der Rindfleischmarkt trotzplötzlichen Aktionismus nachhaltig zusammen. Das wirddann weitaus kostspieliger sein als die verpassten und ver-drängten Vorsorgemaßnahmen. Dies ist eine Katastrophefür viele Bauern, aber es ist keine Katastrophe für dieMenschheit.Anders beim Klima. Während der BSE-Schock we-nigstens eventuell einen Impuls in Richtung ökologischerTierhaltung und Futtermittelproduktion auslösen könnte,wäre es beim Eintreten des Klimakollapses für ein Um-steuern zu spät. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie allehier wissen, was Klimakollaps wirklich bedeutet. Reißterst einmal der Golfstrom ab und hat das Abschmelzen derGletscher und Pole einen bestimmten Punkt überschritten,sind die dramatischen Veränderungen bei Niederschlag,Wind und Temperatur nicht einfach umkehrbar. Der BSE-Gefahr kann man ausweichen: Schweineschnitzel stattRinderrouladen. Wenn das Klima erst einmal kollabiertist, gibt es kein Entrinnen. Dieser Gefahr ausweichen kön-nen wohl nur diejenigen, die Geld oder Macht haben. Dassind größtenteils die Gleichen, die heute umfassendenKlimaschutz verhindern. Die Betreffenden sitzen nichtnur in Washington, Toronto oder Tokio, sondern dazugehören auch die Allianz der Mineralöl- und Automobil-industrie und die Kuponschneider vieler anderer Wirt-schaftsbereiche, dazu gehören die Lobbyisten in Parla-menten und Verwaltungen, auch hierzulande.
– Ich spreche gerade von Lobbyisten; die sind Ihnen si-cher bekannt. –Hierzu gehören auch diejenigen, die in Deutschlanddafür sorgen, dass die Bahn zerschlagen wird. Das Me-dienbild vom germanischen Klimaritter und -retter, dasunser Umweltminister abgibt, ist ein Zerrbild. WährendJürgen Trittin in Den Haag den harten Mann spielt – wasich in diesem Fall unterstütze –, zertrümmert der Bund alsEigentümer der Bahn einen wesentlichen Pfeiler CO2-sparender Mobilität.
Allein im Geschäftsbereich Fernverkehr soll die Zahl derLokführer bis zum Jahre 2003 um 45 Prozent zurückge-hen, trotz Ihrer Zuschüsse. Der Grund für diesen Abbausind natürlich eingesparte Züge, denn Roboter bewegen janoch keine Triebwagen.
Die Beschäftigtenzahl der Deutschen Bahn AG soll garbis zum Jahr 2015 von derzeit 240 000 auf 120 000 hal-biert werden.
– Jetzt auf einmal?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird eben häufi-ger mit dem Auto gefahren, wenn keine Möglichkeitenbestehen, mit der Bahn zu fahren.
– Sie können das ja nachher dementieren und sagen, wasSie wirklich für den Ausbau der Bahn in der Fläche tun.
In diesem Punkt geht es um Ökologie und auch umArbeitsplätze.
Wenn zu viel Auto gefahren wird – die Menschen müs-sen ja zur Arbeit kommen –, dann kann die Bundesregie-rung noch so viele Klimaschutzprogramme auflegen – es
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wird nichts nützen. Wer seine Förderung de facto auf denAusbau von Autobahnen und Flughäfen statt auf denSchienenverkehr orientiert, ist im Klimaschutz nicht ernstzu nehmen.
Schließlich sagen die Prognosen des Wuppertal-Insti-tuts – das kennen Sie –, dass der CO2-Ausstoß des LKW-Verkehrs bis 2020 von 33Millionen auf 66Millionen Ton-nen steigen wird. Die CO2-relevanten Belastungen ausdem deutschen Flugverkehr werden gar von 38 MillionenTonnen auf 120 Millionen Tonnen zunehmen und sich da-mit vervierfachen. Dagegen bleiben im gleichen Zeitraumdie Emissionen der Bahn bei lediglich konstant 10 Milli-onen Tonnen. Dieser Wert berücksichtigt dabei noch nichteinmal den geplanten Kahlschlag. Gerade der Anteil desVerkehrsmittels, das die Atmosphäre vergleichsweise mi-nimal belastet, soll also nicht nur stagnieren, sondern nunsogar noch schrumpfen. Ich halte das für Irrsinn.
Mir fällt es angesichts des Haushaltsentwurfs schwer,ein Umschwenken in Richtung Ökologisierung derLandwirtschaft – damit wären wir wieder bei BSE – odergar ein Durchstarten im Naturschutz zu erkennen. DerTitel „Zuschüsse für Erprobungs- und Entwicklungsvor-haben auf dem Gebiet des Naturschutzes“ wird, nachdemer im letzten Jahr schon um 14 Prozent reduziert wurde,wiederum um 15 Prozent abgesenkt. Mit diesem Titelwurden aber insbesondere Forschungsprojekte innerhalbdes spannungsgeladenen Verhältnisses zwischen Natur-schutz und Landwirtschaft finanziert. Hier gab es hochin-teressante Vorhaben mit dem vorbildlichen Ziel, zum ei-nen Arbeit und Einkommen im ländlichen Raum zuentwickeln und zum anderen Naturschutzgebiete undKulturlandschaft zu schützen.Die so ökologisierte Landwirtschaft schuf auch Leit-bilder für regionale Kreisläufe im ländlichen Raum. Dortist nun Kahlschlag angesagt. Aber so richtig verwundernkann dies nicht; denn wenn vom zuständigen EU-Kom-missar der Ruf nach genverändertem Sojaschrot als Ersatzfür Tiermehl als Futtermittel laut wird,
dann wird klar, wo Schwerpunkte gesetzt werden. Ein Ri-siko wird gegen das nächste so lange ausgetauscht, bis eswieder in die Hose geht. Hier hat man die Wahl zwischenPest und Cholera. Beides lehnen wir ab.
Dabei ist noch nicht einmal klar, ob die BSE-Erregergar in die Böden eingedrungen sind, wie der Wissen-schaftliche Bodenschutzbeirat zu bedenken gibt. Wir ha-ben also eventuell noch Probleme vor uns, die wir im Mo-ment überhaupt nicht überblicken.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Klimakollaps undBSE, aber auch der drohende Zusammenbruch von Mors-leben sollten uns Anlass geben, generell die ökologischeNachhaltigkeit der bundesdeutschen Politik zu hinterfra-gen. Einiges wurde von dieser Bundesregierung auf denWeg gebracht, aber der grundlegende Wandel blieb nurein Versprechen. Im Gegenteil: Im Vergleich zum letztenHaushalt der Kohl-Regierung wurden – über alle Einzel-pläne verteilt – Umweltschutzausgaben von mehr als ei-ner halben Milliarde DM gestrichen.
Der Atomausstieg blieb nur ein Versprechen, die Ver-kehrspolitik ein Chaos.In diesem Sinne ist der Regierungsentwurf auch ausumweltpolitischer Sicht von uns abzulehnen. Der ausblei-bende Wandel manifestiert sich in diesem Zahlenwerk.
Dies können wir nicht unterstützen.
Zum Schluss noch Folgendes: Sie haben sehr protes-tiert, als ich die Punkte diskutiert habe, die sich auf dieBahn beziehen. Sie können das alles anders machen; wirerwarten da etwas. Wir erwarten natürlich – KollegeLoske hat das angesprochen – ein vernünftiges, weiter ge-hendes KWK-Gesetz. Ich erwarte, dass Herr MinisterTrittin auch dazu etwas sagt.Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Christoph Matschie von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich denke, man kann ganzklar sagen, dass sich dieser Haushalt an den Erfordernis-sen einer zukunftsorientierten Umweltpolitik ausrichtet.
Herr Borchert, ich kann nicht verstehen, dass Sie im-mer wieder Programmhaushalt und Verwaltungshaushaltgegeneinander ausspielen. Ich bin zwar einerseits froh,dass es gelungen ist, den Programmhaushalt im Stamm-haushalt des BMU noch einmal um über 34MillionenDMaufzustocken – ich bin dafür der zuständigen Haushälte-rin Frau Lehn sehr dankbar –,
aber es macht doch überhaupt keinen Sinn, Verwaltungs-haushalt und Programmhaushalt gegeneinander auszu-spielen. Das Umweltministerium – das haben Sie dochselber an dieser Stelle immer wieder betont, als Sie nochin der Regierung waren – ist doch in erster Linie nichtetwa ein Programmministerium, sondern ein Gesetzge-bungsministerium.
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Eva Bulling-Schröter13414
Auf der anderen Seite wissen Sie genauso gut wie ich,dass wesentlich mehr Mittel für den Umweltschutz imBundeshaushalt zur Verfügung stehen, als in diesem Ein-zelplan verankert sind.
Herr Grill, wir haben in diesem Haushalt insgesamt über10 Milliarden DM, wenn man alle Ressorts zusammen-nimmt, die für Umweltschutzaufgaben und für die not-wendigen Investitionen in diesem Bereich zur Verfügungstehen.Ich denke, es wäre sinnvoll, wenn Sie sich ab und zueinmal daran erinnerten, dass wir mit diesem Haushaltwie mit dem vorangegangenen Haushalt auch Nachhal-tigkeit in der Finanzpolitik durchsetzen und die Altlasten,die Schulden, abarbeiten, die Sie uns hinterlassen habenund die nicht wir aufgehäuft haben.
Wir gehen Investitionen im Umweltschutzbereich invielfältiger Form an. Wir verstärken den Verwaltungsbe-reich. Frau Lehn hat auch dazu etwas gesagt. Ich glaube,dass es sinnvoll ist, 20 neue Stellen im Bundesamt für Na-turschutz zu schaffen, weil die Aufgaben in diesem Be-reich wachsen. Deshalb ist es notwendig, auch in diesemBereich deutlich aufzustocken.Man darf nicht gering schätzen, dass auch über Maß-nahmen entschieden worden ist, die zu Mindereinnahmenim Haushalt führen, aber dem Naturschutz zugute kom-men. Ich erinnere daran, dass es uns gelungen ist, einenwichtigen Beitrag zum Schutz des Naturerbes in denneuen Bundesländern zu leisten, indem wir 50 000 Hek-tar an Naturschutzflächen kostenlos für die Bundeslän-der bzw. Naturschutzverbände zur Verfügung gestellt ha-ben und weitere 50 000 Hektar zu verbesserten Kondi-tionen anbieten.
Ich denke, dass die Überlegungen zu einer Novelle desBundesnaturschutzgesetzes gute Voraussetzungen bieten,auch diesen Bereich zukunftsorientiert weiterzuent-wickeln. Das Naturschutzrecht wird stärker an der Funk-tionsfähigkeit des Naturhaushaltes, an den ökologischenZusammenhängen und an dem Schutz der biologischenVielfalt ausgerichtet. Wir schreiben zum Beispiel die Ver-pflichtung fest, Biotopverbundsysteme zu schaffen undmindestens 10 Prozent der Landesfläche als Naturschutz-vorrangflächen auszuweisen. Ich glaube, dass es notwen-dig ist, in diesem Bereich weiter voranzukommen.Die Konferenz von Den Haag ist von mehreren Sei-ten angesprochen worden. Ich glaube auch, dass sie einRückschlag für die internationale Umweltpolitik war.Aber das lag weder an der Bundesregierung, wie HerrBorchert uns glauben machen will, noch lag es an der Ver-handlungsführung von Herrn Trittin, wie Sie, FrauHomburger, behaupten. Sie tragen damit zur Weiterent-wicklung der F.D.P. als Ferndiagnosepartei bei. Wennman an einer Konferenz nicht teilnimmt, dann kann manhier nicht solche Behauptungen aufstellen.
Die Konferenz hat uns etwas anderes gezeigt, nämlichdass wir keinen Schritt weiterkommen, wenn Einzelinte-ressen und Klientelinteressen über gemeinsame Lösungenin der Umweltpolitik gestellt werden.
Die Konferenz hat uns weiterhin gezeigt, wie schwierig esin der Klimaschutzfrage ist, die Kernbereiche der Indus-triegesellschaft berührt, zu gemeinsamen Auffassungenzu kommen.
Es war die erste Konferenz, bei der es um harte Entschei-dungen ging,
weil sich auf dieser Konferenz herausstellen musste, wel-che Maßnahmen umzusetzen sind und welche nicht.
Im Gegensatz zu manchen anderen Regierungen, dieauf dieser Klimaschutzkonferenz im Bremserhäuschengesessen haben, hat die Bundesregierung ein mutiges Kli-maschutzprogramm verabschiedet, mit dem der Koh-lendioxidausstoß in der Bundesrepublik Deutschland bis2005 noch einmal um 70 Millionen Tonnen verringertwerden kann. Diese Senkung ist auch notwendig, wennwir die Verpflichtungen erfüllen wollen, die Deutschlanddamals unter Ihrer Regierung eingegangen ist. Wir habendie Verpflichtung zur Reduktion um 25 Prozent im Ver-gleich zu 1990 für richtig gehalten und stehen dazu.Aber genauso wahr ist es, dass uns die Experten bei derRegierungsübernahme 1998 gesagt haben, dass wir mitder Fortsetzung Ihrer Politik die Klimaschutzziele weitverfehlen werden.
Es war deshalb notwendig, dass die Bundesregierung einneues Programm zum Klimaschutz beschlossen hat.Wir werden dazu beitragen, dass Ressourcen effizien-ter genutzt werden, dass die Energieeinsparung stärkergefördert wird und dass die Nutzung erneuerbarer Ener-gien weiter ausgebaut wird. Wir wollen, dass der Anteilerneuerbarer Energien bis 2010 verdoppelt wird. Wir wer-den dafür die Rahmenbedingungen weiter verbessern. Einwesentlicher Schritt ist mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz schon getan worden.
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Christoph Matschie13415
Auch der Ausstieg aus der Atomenergie, der ja von Ih-nen immer wieder kritisiert wird
– nein –, ist ein Beitrag dazu, den notwendigen Umbau derEnergiestrukturen voranzutreiben und Freiräume fürmehr dezentrale Versorgung und Energieeinsparung zuschaffen.
Herr Borchert, Sie haben gesagt, jetzt würden wir denAtomstrom aus anderen Ländern importieren. Wenn Siesich einmal die Import- und Exportzahlen der deutschenStromwirtschaft anschauen, dann werden Sie feststellen,dass sich der Import und der Export von Strom fast dieWaage halten.
Es kann also gar nicht die Rede davon sein, dass Strom ausDeutschland durch Atomstrom aus dem Ausland ersetztwird.
– Das ist keine seltsame Argumentation. Man kann nichtvon dem Ersetzen von Energie reden, wenn man sich dieEnergieflüsse in beide Richtungen anschaut.Wir werden auch die Kraft-Wärme-Kopplung undderen Ausbau weiter voranbringen. Auch hier ist ein ers-ter wichtiger Schritt getan worden. Wir werden in dennächsten Monaten weitere rechtliche Rahmenbedingun-gen schaffen, die dafür sorgen, dass die Kraft-Wärme-Kopplung in Deutschland ausgebaut wird.Ich bin froh, dass es gelungen ist, das bereits beste-hende Förderprogramm zur Markteinführung erneuerba-rer Energien nochmals finanziell aufzustocken. Alleinim nächsten Haushaltsjahr stehen uns dafür 300 Milli-onen DM zur Verfügung. Ich denke, dass es auch sinnvollist, einen Teil der Zinsersparnisse aus den UMTS-Lizenz-erlösen gezielt für die Forschung im Bereich umwelt-freundlicher Technologien zur Energieerzeugung einzu-setzen.Auch die von Ihnen jahrelang verschleppte Energie-einsparverordnung liegt jetzt endlich auf dem Tisch.
Das zeigt, dass diese Bundesregierung handelt. Gesternist die Fassung vorgelegt worden.
– Sie können sie erhalten, sie sich anschauen und dannkönnen wir gemeinsam darüber diskutieren. –
Hier werden Wärmestandards definiert, die dazu führen,den Heizenergiebedarf von Neubauten um 30 Prozent ge-genüber den bisherigen Anforderungen zu senken.Um auf den Vorwurf bezüglich der Bahn einzugehen,Frau Bulling-Schröter. Es ist dieser Regierung gelungen,mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm in den nächstendrei Jahren zusätzlich 6 Milliarden DM zu mobilisieren,die dem Ausbau der Schieneninfrastruktur zugute kom-men. Ich glaube, so gut, wie es die Bahn unter dieser Bun-desregierung hat, hat sie es lange nicht gehabt.
Zum Schluss ein kurzer Blick auf Ihr Lieblingsthema,die Ökosteuer und Ihren Antrag, den Sie zur Abschaffungder Ökosteuer vorgelegt haben. Übrigens: Ihre Argumentegegen die Ökosteuer richten sich am Ende ja gegen Ihr ei-genes Programm; denn in der CDU ist die Ökosteuer pro-grammatisch eigentlich nie umstritten gewesen. HörenSie einmal auf Ihren früheren Umweltminister Töpfer, dererst vor kurzem gesagt hat: Wer die Ökosteuer als K.-o.-Steuer bezeichnet, hat nichts begriffen. Davon können Sieetwas lernen.
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ichkann Ihnen nur sagen: Kommen Sie aus Ihrer Schmoll-ecke heraus. Machen Sie konstruktive Umweltpolitik.Das nützt der Umwelt und dem Klima im Parlament.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Peter Paziorek von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Herr Matschie hat geradesinngemäß ausgeführt, dass der Haushalt der rot-grünenRegierungskoalition für das nächste Jahr unter die Über-schrift „Zukunftsfähigkeit gewinnen“ gestellt worden ist.Bei der Bewertung dieses Haushaltsplanes, glaube ich,muss man aber große Zweifel daran haben, ob Sie dieserÜberschrift, die Sie sich gerade selbst gegeben haben,überhaupt gerecht werden. Bei einer Prüfung der einzel-nen Haushaltsstellen drängt sich vielmehr der Eindruckauf, dass Sie die erfolglose Umweltpolitik der letzten zweiJahre auch im nächsten Jahr fortsetzen wollen.
Sie, lieber Kollege Reinhard Loske,haben gerade aus-geführt, all die Hinweise auf das so genannte Totenglöck-lein für die Umweltpolitik seien jetzt nicht mehr ange-bracht. Ich will auf die Ausgabe des „Tagesspiegels“ vomgestrigen Tage verweisen. In einem Kommentar mit derÜberschrift „Zurück ins Kerngeschäft“ heißt es: „DieGrünen verwechseln Realpolitik mit Ökologie-Ver-zicht...“. Hervorragend ist diese Überschrift. Es heißt indiesem Artikel weiter – ich darf zitieren, Herr Präsident –:
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Christoph Matschie13416
Aber es nutzt nichts, neues Terrain zu erschließen,wenn das angestammte preisgegeben wird. Es lagnicht am Profil des linken, angeblich allenfalls amAtomausstieg interessierten, ansonsten der Ökologieabholden Umweltministers Trittin, dass die Grünenso blass aussehen. Weite Kreise ihrer herrschendenSchicht von Polit-Profis haben Realpolitisierung wieDe-Ökologisierung verwechselt.Recht hat der Kommentator des „Tagesspiegels“.
Ich will auch auf die Klimaschutzkonferenz in DenHaag eingehen; das Thema wurde ja von vielen Vorred-nern bereits angesprochen. Ich glaube, dass in einer Haus-haltsdebatte auch zur Klimakonferenz in Den Haag Stel-lung bezogen werden muss. Alle von uns, die auf derKonferenz waren, stehen noch unter dem Eindruck desnegativen Konferenzergebnisses. Wir als CDU/CSU-Fraktion – ich will das ganz deutlich sagen – werden unsdafür einsetzen, dass in Deutschland und auch in diesemHause alle gemeinsam an einem erfolgreichen Rio-Nach-folgeprozess arbeiten. Die Unterbrechung der sechstenKlimakonferenz in Den Haag war ein schwerer Rück-schlag und insofern eine Enttäuschung, als man manch-mal das Gefühl hatte, eine Einigung wäre greifbar nahegewesen.
Herr Matschie, Sie haben gerade mit Ihrem Hinweisauf die vergangenen Klimakonferenzen ein Beispiel dafürgegeben, was sich im Parlament abgespielt hätte, wennder jetzige Umweltminister nicht Trittin, sondern Merkelhieße. Dann wäre alles nach dem bekannten Motto „Esgibt nur eine Stelle, die an dem Scheitern dieser Klima-konferenz schuld ist“ – so ähnlich haben Sie das damalsgesagt – verlaufen.
– Frau Ganseforth, Sie haben sich an einer Stelle diffe-renziert geäußert; das gebe ich zu. Ich habe Ihre Stellung-nahme nachgelesen. Ansonsten gab es nur eine generelleKritik, die die Hauptschuld an den schlechten Ergebnis-sen der bürgerlichen Koalition anlastete. Heute haben Sieauf einmal Verständnis für Schwierigkeiten und gewisseHandlungszwänge – nur weil das Regierungslager ge-wechselt hat. Das ist in der Tat keine sinnvolle Konti-nuität. Herr Matschie, ich will ganz deutlich sagen: HerrTrittin hat mehrfach – auch in Presseerklärungen – in DenHaag erklärt, die Ergebnisse von Kioto dürften nicht„zurückverhandelt“ werden; er möchte die Ergebnissevon Kioto aufrechterhalten. Wer war denn damals in Ki-oto in der deutschen Delegation federführend? Das wardie damalige Bundesumweltministerin Merkel von derCDU/CSU-Bundestagsfraktion. Sie stellen sich jetzt hierhin und tun so, als ob im Grunde genommen auf Klima-konferenzen der 90er-Jahre keine Erfolge erzielt wordenwären. Schauen Sie sich das bisher Erreichte an und dannkommen Sie zu einem anderen Ergebnis.
– Ich habe nicht Sie angesprochen, Herr Loske.Um eines – auch für die Nachfolgekonferenz in Bonn– ganz deutlich zu machen: Wir wollen keine Schlupf-löcher, sondern eine konsequente Verhaltensänderung derIndustriestaaten. Jeder, der einen solchen Kurs einfor-dert, erhält unsere Unterstützung. Sie sollten sich diePressemeldungen ansehen, die unmittelbar nach demScheitern der Konferenz von Den Haag veröffentlichtwurden. An einer Stelle wird zum Beispiel ausgeführt,dass sich die so genannte Supermacht USA, unterstütztvon Japan und den OPEC-Staaten, durchsetzen konnte,weil sie gegenüber einem zerstrittenen Europa angeblichdie besseren Argumente hatte.
Das ist doch das Hauptproblem: Sie hatten nicht die bes-seren umweltpolitischen Argumente – das konzedierenwir –, aber die EU-Staaten konnten sich bis zur letztenMinute der Konferenz nicht darüber einigen, mit welchenMitteln die verfahrene Situation hätte aufgebrochen wer-den können. Das war das Hauptproblem der letzten Stun-den dieser Verhandlungen.So darf es nicht weitergehen. Die CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion erwartet von dem Bundesumweltminister,dass er sich im Vorfeld der Nachfolgekonferenz seinerbesonderen Verantwortung stellt und ein hohes Maß nichtnur an Durchsetzungskraft und klarer Positionierung, son-dern auch an Flexibilität zeigt, um zu einem guten Ergeb-nis zu gelangen. Ohne Flexibilität bei den Verhandlungenwerden wir unsere Grundsatzposition bei internationalenVerhandlungen nicht durchsetzen können. Deshalb sageich: Sie sind als Bundesumweltminister massiv gefordert.Wenn Sie diese Vorgaben einhalten, werden Sie auch vonunserer Seite die notwendige Unterstützung erhalten. Wirals CDU/CSU wollen nicht, dass die Nachfolgekonferenzvon Den Haag zu einem großen umweltpolitischen Super-GAU wird. Daran kann keiner in diesem Hause ein Inte-resse haben.
Herr Bundesumweltminister, wenn man sich Ihren Be-richt vor dem Umweltausschuss vom Januar 1999, alsovor fast zwei Jahren, ansieht und daraufhin überprüft, wasSie in diesem Bericht als umweltpolitische Schwerpunktedieser Legislaturperiode herausgestellt haben, wird manunschwer feststellen können, dass Sie mit Ausnahme desso genannten Atomausstiegs in allen anderen BereichenIhre selbstgesetzten Zielvorstellungen in dieser Legisla-turperiode nicht mehr erreichen werden. Wenn wir unsüberlegen, was Sie im Augenblick als Sachstand bei derAtomausstiegspolitik vorliegen haben, haben wir großeZweifel daran, ob das, was Sie pressemäßig gut verkaufthaben, auch realisiert werden kann. Im Augenblick habenSie nur eine Erklärung paraphiert. Sie wissen ganz genau,dass das juristisch ein Nullum ist. Sie können alles
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Dr. Peter Paziorek13417
Mögliche paraphieren. Gesetzgeberisch bringt Ihnen dasüberhaupt nichts. Sie müssen ein Atomausstiegsgesetzvorlegen.
– Sie sagen, dass es noch kommt. Sie haben angekündigt,dass es in diesem Herbst kommen wird. Wir wissen ganzgenau, dass bis heute diesem Haus noch kein Atomaus-stiegsgesetz vorliegt. Das hängt sicherlich damit zusam-men, dass sich vieles, was Sie vollmundig erklärt haben,juristisch nicht umsetzen lässt. Das ist das Problem dieserRegierung: Im Umweltbereich haben wir einen Ankündi-gungsminister, der in vielen Bereichen keine Taten folgenlässt. Das ist das große Problem in unserer Umweltpoli-tik.
Sehen wir uns die Abfallpolitik an. Was ist hier nichtalles genannt worden! Es sollte ein übergreifendes Kon-zept zum produktbezogenen Umweltschutz vorgelegtwerden. Im Augenblick diskutieren wir in diesem Bereichnur das Zwangspfand. In der Öffentlichkeit wird so getan,als ob hier schon alles geklärt sei. Ich habe mir noch ein-mal das Ergebnis des Kamingesprächs angesehen. Andem Abend nach dem Kamingespräch haben Tickermel-dungen angekündigt, dass das Pfand kommt. Bei der Er-klärung der Umweltminister zur Verpackungsverordnungheißt es unter Ziffer 4 – ich zitiere –:Zur abschließenden Beurteilung muss das BMU fürseinen Vorschlag eine ökologische Untermauerungder Lenkungswirkung des Modells zur Stabilisie-rung von ökologisch vorteilhaften Verpackungenvorlegen.Das kann ich nur so verstehen, dass man darüber nach-denkt, ob man ökologisch unverträgliche Verpackungenmit einem Pfand belegt. Der Minister hat aber erst einmaldie Aufgabe, seine Schularbeiten zu machen, um dannvorzulegen, in welchem Maße das ökologisch sinnvollgemacht werden kann. Bis heute wissen wir nicht, ob undzu welchem Zeitpunkt der Minister das Konzept vorlegenwill. Sie wissen genauso gut wie wir, dass im Bundesratdarüber nachgedacht wird, die ganze Angelegenheit zuvertagen, bis der Umweltminister nicht nur eine Presseer-klärung herausgibt, dass so etwas kommt, sondern bis derUmweltminister wirklich eine Ökobilanz vorlegt, dass einZwangspfand in dieser Form berechtigt ist. Machen Siebitte erst einmal Ihre Schularbeiten, bevor Sie Presse-erklärungen zu dieser Frage herausgeben.
Der Naturschutz ist gerade ebenfalls angesprochenworden. Es gibt Ländertreffen der Naturschutzverbände,bei denen Vertreter des BMU ankündigen, dass im Be-reich des Naturschutzes tatsächlich etwas passiert. Schönwäre es. Im Augenblick ist weder im Umweltausschussnoch in diesem Hause ein Entwurf für ein Bundesnatur-schutzgesetz zur Novellierung des bestehenden Gesetzesangekommen. Angeblich ist es auf dem Dienstweg zwi-schen dem Umweltministerium und dem Landwirt-schaftsministerium abhanden gekommen. Ich frage mich,ob dieser Entwurf überhaupt abgeschickt worden ist. Sieerklären immer: Wir wollen das Naturschutzgesetz novel-lieren. Aber niemand im Umweltausschuss hat bis jetztKenntnis davon bekommen, wie der Gesetzentwurf aus-sieht und wann er vorgelegt wird. Sie kündigen in einerPresseerklärung etwas an, ohne in diesem Hause – wieheißt es so schön – Butter bei die Fische zu tun.
– Na gut, Herr Matschie, Sie wissen sicherlich, dass Sieauch damals dazwischengerufen haben, als wir die letzteNovellierung des Bundesnaturschutzgesetzes im Jahr1997 vorgenommen haben. Das Ganze ziehlt also insLeere.Zum Stichwort „Umwelt und Gesundheit“. Dies sollein Hauptthema der Umweltpolitik in dieser Legislatur-periode sein. Das Eckpunktepapier haben Sie vorgelegt –und dann war Schluss. Als ob man mit einem Eckpunkte-papier verantwortlich Umweltpolitik betreiben kann.Interessant war die Diskussion zum Sommersmog. Siehaben über Jahre Frau Merkel als ehemalige Umweltmi-nisterin attackiert, weil im Bereich des Sommersmogs dieRegelungen angeblich defizitär seien. Jetzt, zu einemZeitpunkt, zu dem Sie die Regierungsverantwortung ha-ben, haben Sie nichts anderes zu tun, als die Konzepte zuübernehmen, die CDU/CSU- und F.D.P.-geführte Länder-regierungen in ihren Bereichen schon längst umgesetzthaben und in einem Entschließungsantrag dem Bundesratvorgelegt haben. Sie haben in diesem Bereich abgeschrie-ben. Damit haben Sie der Öffentlichkeit überhaupt nichtzur Kenntnis gegeben, dass, damit Ihre ganze Kritik, dieSie uns über Jahre vorgehalten haben, völlig an der Sachevorbeigegangen ist.
Eines will ich Ihnen konzedieren: Eine Fehlanzeigewill ich nicht unbedingt vermelden. Es war die einzigeStelle, Herr Minister, bei der Sie in den letzten zwei Jah-ren lernfähig gewesen sind.Das Stichwort Ökosteuer ist schon des Öfteren ge-nannt worden.
– Nein, es ist auch von Ihnen angesprochen worden. – Ichmuss noch einmal sagen: An dieser Form der Ökosteuerkann man nicht festhalten. Das sieht man in Ihrer Fraktionteilweise genauso. Ich habe gestern in der „Berliner Zei-tung“ einen Artikel mit der Überschrift gefunden: „Euro-solar-Kritik an der Ökosteuer“. Dort ist ein sehr bekanntesMitglied der SPD-Bundestagsfraktion zitiert worden. MitErlaubnis des Präsidenten möchte ich aus diesem Artikelwidergeben:Der Bundestagsabgeordnete und Präsident der Verei-nigung Eurosolar, Hermann Scheer , hat dieVerwendung der Einnahmen aus der Ökosteuer kriti-siert. Die Abgabe wäre den Steuerzahlern viel leich-
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Dr. Peter Paziorek13418
ter zu begründen, wenn das Geld in die Förderung er-neuerbarer Energien und des Energiesparens fließenwürde ...
Man muss aber sagen: Er hat sich bei Ihnen nicht durch-setzen können. Die Verwendung der Einnahmen aus derÖkosteuer ist völlig kontraproduktiv. Neben den verfas-sungsrechtlichen Bedenken gibt es ein umweltpolitischesBedenken, das wir hier klar und deutlich benennen müs-sen.
Zum Schluss möchte ich noch einen Hinweis auf dasvon Ihnen hier mehrfach genannte Programm zur Förde-rung erneuerbarer Energien geben. Kein Umweltpoliti-ker wird die Notwendigkeit bestreiten, dass wir erneuer-bare Energien fördern müssen. Entscheidend ist aber, wieSie das machen. Die Bedenken – ich sage das ganzgrundsätzlich –, die gegen Ihre Förderpraxis inzwischen inimmer stärkerem Maße vorgebracht werden, sind berech-tigt: Sie überregulieren, Sie greifen in den Markt ein, Sieschaffen Vorgaben, Sie machen mittlerweile eine Energie-und Umweltpolitik, die in den Markt so detailliert ein-greift, dass man große Bedenken haben muss, ob erneuer-bare Energien damit langfristig sinnvoll gefördert werden.Denn mit dieser Politik betreiben Sie in Wirklichkeit dieZementierung des Status quo und Sie schaffen gerade beiden erneuerbaren Energien keine neuen Entwicklungen.Aus diesem Grunde kann ich vor der Fortsetzung derÜberregulierung nur warnen. Langfristig bedeutet das,dass wir auch im Bereich der erneuerbaren Energien denentscheidenden Schritt nicht vorankommen, sondern imStatus quo verharren. Das wäre kontraproduktiv.
Die Bilanz nach zwei Jahren rot-grüner Umweltpolitiklautet: Es ist nicht sehr viel gewesen. Den Hinweis ineiner Werbebroschüre des Bundesumweltministeriums„Na klar ...“ – als Antwort auf die Frage in der Überschrift:„Zwei Jahre umsonst?“ – kann ich an dieser Stelle nur alsabsolut berechtigt bezeichnen.
Das Worthat jetzt der Herr Bundesminister Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Anders als es Herr Borchert meint, gehtes bei diesem Haushalt nicht um Ankündigungen, sondernum die haushaltsmäßige Feststellung von künftigen Aus-gabeberechtigungen.
Wir haben einen ganz einfachen Umstand zu verzeich-nen: Wir haben mit diesem Haushalt das größte ökologi-sche Zukunftsinvestitionsprogramm vorgelegt, dasdiese Republik je gesehen hat.
Wir geben allein für den Klimaschutz 8,3 Milliarden DMaus. 6 Milliarden DM fließen in den Ausbau der Schiene,2 Milliarden DM in den Ausbau der Wärmedämmung und300 Millionen DM in Förderung von Zukunftsenergien.Vor diesem Hintergrund kann ich verstehen, dass Sie alsOppositionsfraktion Schwierigkeiten haben. Denn wassoll man daran kritisieren?
Als erfahrener Oppositionspolitiker empfehle ich Ihnenin so einem Fall: Greifen Sie besser nicht auf das Manus-kript vom vergangenen Jahr zurück, weil Sie dann an denTatsachen schlicht und ergreifend vorbeireden.
– Ich hoffe, dass wir nächste Woche ausführlicher darüberdiskutieren werden.Wir haben in Den Haag einen schweren Rückschlag imHinblick auf die gemeinsamen Anstrengungen für denKlimaschutz einstecken müssen. Ich persönlich habemich mit den Kollegen Müller, Loske, Paziorek undLippold gefreut, dort diese Diskussion zu führen.
– Frau Ganseforth, Entschuldigung. Dich hätte ich eigent-lich als Erste nennen müssen, Monika. Sie war auch amlängsten da.
– Habe ich das jetzt wieder gutgemacht? –Ich glaube allerdings, dass wir uns gemeinsambemühen müssen, auch international – mit aller Festigkeitin der Position und mit aller Notwendigkeit zur Flexibilitätbei Erreichung eines Ergebnisses – dafür Sorge zu tragen,dass es möglichst schnell eine Fortsetzung gibt. Darüberführen wir zurzeit viele bilaterale Gespräche – mit denAmerikanern, mit den Engländern, mit der EU-Präsident-schaft –, weil wir glauben, dass wir jetzt das, was an Ge-meinsamkeiten in Den Haag auch erreicht worden ist – eshaben sich ja auch Lösungen abgezeichnet –, schnell unterDach und Fach bringen müssen. Vielleicht besteht für FrauHomburger dann auch einmal die Gelegenheit, das Ganzeaus der Nähe zu betrachten.Eines will ich hinzufügen, meine Damen und Herren:Wir haben unsere gute Position bei internationalen Ver-handlungen unter anderem dadurch erreicht, dass dieBundesrepublik Deutschland neben Großbritannien und
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Dr. Peter Paziorek13419
Luxemburg eines der wenigen Länder ist, in denen mitdem Klimaschutz Ernst gemacht worden ist.
Es ist zwar richtig, dass wir mit einem CO2-Ausstoß von5 Prozent des weltweiten Ausstoßes nicht die Probleme füralle lösen können. Deswegen brauchen wir eine interna-tionale Lösung. Aber umgekehrt ist auch richtig, dass wirdadurch, dass wir hier im Lande etwas tun, internationaletwas bewegen können. Deswegen wünsche ich mir sehr,dass wir hier, unabhängig vom Streit über das eine oder an-dere Instrument – darauf komme ich noch –, einen Kon-sens über Parteigrenzen hinweg erreichen. Nur so könnenwir international tatsächlich etwas bewegen. Ich freuemich, dass dies von den Anwesenden in Den Haag auch sogesehen wurde, und empfand dies als eine sehr angenehmeForm der Kooperation.Mit dem Programm zur Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung, mit der Energieeinsparverordnung, mit derbeabsichtigten Einführung des Niedrigenergiehauses ha-ben wir Meilensteine gesetzt. Wir wollen das fortsetzen,indem wir uns den Verkehrsemissionen zuwenden. AlsStichworte nenne ich die entfernungsabhängige Auto-bahngebühr und einen weiteren Ausbau der Bahn.Natürlich hat in diesem Zusammenhang auch dieSelbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft vom9. November 2000 eine Rolle gespielt. Einmal in die an-dere Richtung gefragt, Frau Homburger: Was hätte ichunserer Industrie eigentlich sagen sollen, die gerade er-klärt hat, sie wolle ihre Einsparungen von 20 auf 28 Pro-zent und bis 2012 sogar auf 35 Prozent steigern, wenn ichdem Ansinnen zugestimmt hätte, dass den Amerikanernein Plus von 1,5 Prozent zugestanden wird? Denn das wardie Forderung. Die Vertreter des BDI, die in Den Haag wa-ren, waren mit mir völlig einer Auffassung, dass man indieser Form nicht verhandeln könne und dass auf dieserBasis ein Abschluss nicht zu erreichen sei.
Man kann natürlich auch nicht über Klimaschutzpolitikdiskutieren und sich zugleich jeder konkreten Maßnahmeim eigenen Land verweigern. Ich will das an einem Bei-spiel belegen: Die ökologische Steuerreform ist im Kli-maschutzprogramm mit einem Einsparpotenzial von10 Millionen Tonnen CO2 veranschlagt. Das bedeutet ei-nen Prozentpunkt von den einzusparenden 25 Prozent.
– Ich wusste gar nicht, dass wir hier im dänischen Parla-ment sind, Herr Kollege Hirche. Führen Sie diese Debattebitte dort.Wenn Sie von der F.D.P. und der CDU/CSU gegen dieÖkosteuer sind, dann frage ich Sie nach Ihrem konkretenVorschlag zur Einsparung dieser 10 Millionen TonnenCO2. Wir reden hier nicht über Programmatik, sondernüber einen Wettstreit ganz konkreter Einsparungsmaßnah-men.
– Kommen Sie mir nicht mit der Idee, Herr Paziorek, Siewären ja eigentlich für eine Ökosteuer und würden nur dieVerwendung der Mittel aus der Ökosteuer kritisieren.
Ich habe mir den Spaß gemacht, mir die Homepage derCDU anzugucken, auf der Sie einen Wettbewerb „Ge-dichte gegen die Ökosteuer“ ausloben.
Ich möchte einmal eines dieser Gedichte zitieren:Kalte Zeiten brechen an.Wärme sich, wer wärmen kann!Die Heizung wird herabgestellt,das Auto besser abbestellt.Wohlbefinden wird zu teuerdank der grünen Ökosteuer.Schröder strahlt und Eichel rafft:„Haha, wir haben es geschafft!“
Die Verfasserin dieses „Ökosteuer-Blues“ heißt UndineWeidlich und hat dafür von Ihnen einen Preis bekommen.
Da höre ich richtig, wie Sie die Verwendung der Ökosteuerkritisieren.Aber ich muss Ihnen, auch in Abwesenheit Ihres Frak-tionsvorsitzenden, eines sagen: Solche Rumpelreime sindder wahre Anschlag auf die deutsche Leitkultur.
Wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind in der FrageKlimaschutz tatsächlich in einer Vorreiterrolle. Dazu istdie ökologische Steuerreform ein wichtiges und zentralesInstrument. Wir wollen es als Teil einer Umstrukturierung,auch der Art und Weise, wie wir mit Energie umgehen, ge-stalten. Sie werden keinen Einstieg in eine andere Ener-giestruktur, in mehr Effizienz, in mehr erneuerbare Ener-gien, das heißt auch in eine dezentralere Struktur,bekommen, wenn Sie aus reinem Strukturkonservatismusund jenseits aller ideologischen Debatten des Pro undKontra von Atom an zentralisierten Energietechnologienfesthalten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Bundesminister Jürgen Trittin13420
Deswegen gehören der Ausstieg aus der Atomenergie, Kli-maschutz und mehr Effizienz untrennbar zusammen.
Bevor ich mich abschließend kurz den Bereichen Na-turschutz und Landschaftspflege zuwende, möchte ichmich –Frau Lehn hat das schon getan – ausdrücklich beiden Berichterstattern der Koalitionsfraktionen bedanken.
Es ist gelungen, 14,3 Millionen DM zugunsten des Pro-grammhaushaltes umzuschichten. Am meisten freut uns,dass wir es geschafft haben, die Naturschutzgroßprojekteauf 44 Millionen DM aufzustocken. Auch der operativeTeil des Bundesamtes für Naturschutz wird ausgebaut.Das empfinde ich als nachdrückliche Stützung für einesunserer herausragenden umweltpolitischen Anliegen, inderen Zentrum die Novelle des Bundesnaturschutzgeset-zes steht.
Das Bundesnaturschutzgesetz besteht nicht nur ausdem Biotopverbund und der Einführung einer Verbands-klage. Nein, es geht auch um einen Ausgleich zwischendem Schutzbedürfnis der Natur und denjenigen, die dieNatur nutzen, zumeist zum Broterwerb, aber auch in derFreizeit.
Dieser neue Ausgleich zwischen den Interessen der Land-wirtschaft und dem Naturschutz ist notwendig. Wir habenhier erstmalig eine Definition der guten fachlichen Praxisaus Naturschutzsicht vorgelegt.
Das ist in meinen Augen deswegen so wichtig, weil wir an-gesichts der BSE-Krise vor der Herausforderung stehen,uns gemeinsam von der industrialisierten Agrarproduktionzu verabschieden und auf eine naturverträgliche, an Qua-lität statt an Quantität orientierte Produktion in derLandwirtschaft umzusteigen.
Ich füge einen weiteren Gedanken hinzu. Zu einem mo-dernen Naturschutz gehört auch ein anderer Umgang mitBio- und Gentechnik. Wir haben es auf internationalerEbene geschafft, das Protokoll über die biologische Si-cherheit abschließend zu verhandeln; wir werden es hierratifizieren. Außerdem ist es uns gelungen, für die Freiset-zung von gentechnisch veränderten Organismen neue Re-geln zu schaffen.Aber das ist nicht genug. Wir erwarten gerade vor demHintergrund der schrecklichen Erfahrung mit BSE, dass esin Europa – das können wir nicht alleine und ausschließ-lich für uns regeln – klare Regeln nicht nur für die Freiset-zung von gentechnisch veränderten Organismen, sondernauch und gerade für gentechnisch veränderte Lebensmittelgibt: unmissverständliche Kennzeichnung, Rückverfolg-barkeit bis zur Quelle und vor allen Dingen klare Haf-tungsregeln, damit nicht letztendlich der Konsument an-geschmiert ist.
Mit einem solchen anderen Verständnis des Verhält-nisses von Naturschutz und Landwirtschaft sowie des Um-gehens mit gentechnisch veränderten Organismen wollenwir erreichen, dass die Verbraucher selbst entscheidenkönnen, welchem Risiko sie sich aussetzen wollen. So-lange dies nicht gegeben ist, soll es – davon bin ich festüberzeugt – für einen kommerziellen Anbau solcher Pflan-zen ein Moratorium geben.Das ist die Herausforderung, der wir uns gemeinsam zustellen haben, wenn wir die Sorgen der Verbraucherinnenund Verbraucher ernst nehmen wollen und klarstellen wol-len, dass bei uns der Schutz von Mensch und Umwelttatsächlich Vorrang hat.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen
Bartholomäus Kalb von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Bundesmi-nister, ich bedauere es außerordentlich, dass Sie in IhrerRede kein einziges Wort zum Kernkraftwerk Temelingesagt haben, obwohl dieses Thema viele Menschen in derGrenzregion zur Tschechischen Republik sehr bewegt. Ichfrage Sie, warum Sie es ablehnen, die Gesellschaft für Re-aktorsicherheit zu beauftragen – dies hat die tschechischeRegierung angeboten –, ihrer Tätigkeit in Temelin weiternachzugehen und zusätzliche Überprüfungen vorzuneh-men. Sie lehnen dies ab, so ist mitgeteilt worden, weil Siekeine herbeigerechnete Sicherheit wollen.Auch wir wollen dies nicht. Wir wollen aber wissen– die Tschechen haben sich bereit erklärt, daran mitzuar-beiten –, ob das Kernkraftwerk Temelin den europäischenSicherheitsstandards entspricht oder nicht.
Entspricht es diesen Sicherheitsstandards, dann müsstenwir das den Menschen sagen, damit sie sich nicht unnöti-gerweise Sorgen machen. Entspricht dieses Kernkraftwerkdiesen Sicherheitsstandards nicht, dann sind Sie bzw. dieBundesregierung aufgefordert, unverzüglich in nach-drückliche Verhandlungen mit der tschechischen Regie-rung einzutreten, um dort die in Europa sonst üblichen Si-cherheitsstandard durchzusetzen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Bundesminister Jürgen Trittin13421
Zur Erwi-
derung, Herr Bundesminister Trittin.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Herr Kollege, ich bin Ihnen
für diese Kurzintervention dankbar. Dies gibt mir erstens
Gelegenheit, der geschätzten Kollegin Homburger auf ihre
Frage nach der Nichtweiterbeschäftigung der GRS in der
Störfallkommission zu antworten. Diese Nichtweiterbe-
schäftigung ist Ergebnis einer Ausschreibung nach Haus-
haltsrecht und insofern eine kaufmännische Entscheidung.
Ich dachte bisher, die F.D.P. sei der Auffassung, dass man
so etwas regelmäßig tun sollte, stelle aber angesichts Ihrer
Äußerungen immer wieder fest, dass die alte Weisheit gilt:
Wer sich eine Decke über den Kopf zieht, soll sich nicht
beschweren, dass er im Dunkeln sitzt.
Nun zweitens zu dem ernsten Thema Temelin. Es liegt
ein diesbezügliches Ergebnis der GRS vor. Die GRS ist bei
der Begutachtung von relevanten Anlageteilen zu einem
eindeutigen Ergebnis gekommen: Diese Anlage ist nach
deutschem Recht nicht genehmigungsfähig. Ich wüsste
nicht, was an dieser Stelle noch zu untersuchen ist. Das
weiß auch die tschechische Regierung; denn wir haben ihr
dieses Ergebnis mitgeteilt.
Wir haben es in langwierigen Verhandlungen mit der
tschechischen Regierung geschafft, die Vereinbarung zu
treffen, dass in Bezug auf mehrere Anlageteile – Ihre
Bayerische Staatsregierung ist da die ausführende
Behörde –
eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprü-
fung durchgeführt wird.
Dies betrifft zum Beispiel die Veränderung des Brenn-
stoffkreislaufes, den veränderten Zuschnitt der entspre-
chenden Druckleitungen und Ähnliches, also zentrale
Teile der Anlage.
Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass dies nicht die
Umweltverträglichkeitsprüfung ist, die wir immer gefor-
dert haben, zu der die Tschechen immer sagen, es werde
sie nicht geben.
– Noch einmal langsam für Sie: Die GRS ist zu einem ein-
fachen Ergebnis gekommen – das müsste auch in ein
bayerisches Hirn reingehen –:
Die Anlage ist nach deutschem Recht nicht genehmi-
gungsfähig.
Wir haben mit der tschechischen Regierung in Abstim-
mung mit den zuständigen Landesbehörden ein Verfahren
verabredet, das zurzeit läuft. Ich erwarte von der tschechi-
schen Regierung, dass sie die Ergebnisse dieser grenz-
überschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung im Hin-
blick auf zentrale Bestandteile der Anlage tatsächlich so
ernst nimmt, wie sie uns das zugesagt hat.
Als nächs-
tem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Kurt-Dieter
Grill von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte an Ihre Aus-führungen, Herr Minister Trittin, anschließen, indem ichsage: Die GRS darf gar nicht mehr nach Temelin, seitdemdas SPD-Mitglied und EU-Kommissar Verheugen öffent-lich festgestellt hat, Temelin sei das sicherste Kernkraft-werk Europas. Es bedarf wohl keiner Prüfung mehr.
Ich habe heute Nachmittag hier gehört, dass in Deutsch-land seit dem Regierungswechsel 1998 sozusagen dergroße Sprung in der Umweltpolitik gelungen sei. Ichdenke, bei einem größeren Zeitkontingent könnte ichdarstellen, wie wenig Sie sowohl in der Perspektive alsauch real geschafft haben.
Ich will zwei Bemerkungen machen: Es gab einmaleine Zeit, unmittelbar nach dem Regierungswechsel 1983,da hat ein Umweltminister – Zimmermann – den Kataly-sator in Deutschland eingeführt. Das war zu der Zeit, alsdie Sozialdemokraten in Niedersachsen behauptet haben:Wenn der Kat eingeführt wird, geht VW Pleite.
Daneben ist es interessant, Ihnen vorzuhalten, dass inder Zeit von Helmut Kohl der Energieverbrauch in West-deutschland gegenüber den Prognosen um 30 Prozentzurückgegangen ist. Ich kann das mit Zahlen belegen. Beidem, was Sie als Erbe übernommen haben, haben Sieüberhaupt keine Veranlassung, uns zu kritisieren.
– Herr Loske, ich zähle Ihnen das alles auf. – Zu der Zeit,als Sie kritisierten, es würde nichts passieren, haben wir inWahrheit das Fundament gelegt, auf dem Sie heute ope-rieren können. Wir haben das Fundament in 16 Jahrengeschaffen.
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Herr Minister, wir sind uns nicht ganz klar darüber ge-wesen, was Sie mit 10 Millionen Tonnen CO2 und derÖkosteuer gemeint haben. Meinten Sie das jährlich oderauf die ganze Zeit bezogen? Beziehe ich das auf ein Jahr,so kostet die Vermeidung von 1 Tonne CO2 entweder2 500 DM oder 12 500 DM. Ich will Ihnen sagen: Wenndas der Maßstab ist, mit dem Sie die CO2-Reduzierungin Deutschland vorantreiben wollen, machen Sie die Bun-desrepublik Pleite.
Zum Vergleich: Bei BP kostet die Vermeidung von1 Tonne CO2 im innerbetrieblichen Handel 16 DM bis24 DM. Sie können mit uns wieder darüber reden, wennSie uns ökonomische Wege der CO2-Reduzierung undnicht einen Weg aufzeigen, der die Bürger dieses Landesplündert und soziale Ungerechtigkeit befördert.
Herr Matschie, Sie und auch die Kollegin Lehn habendas gemacht, was zu erwarten war. Sie haben heute alleHaushalte des Bundes zusammengezählt, weil Sie sonstdas hätten darstellen müssen, was Sie uns früher vorge-worfen haben.
Sie sind vom Umwelthaushalt auf den Gesamthaushaltausgewichen und selbst dort sehen Sie in der Bilanzschlecht aus.
Der ökologische Sprung fand von 1993 bis 1998 in derLuftreinhaltepolitik statt. Es wurden zwei Drittel weni-ger SO2 und NOX ausgestoßen und 100 Milliarden DMvon der Wirtschaft zur Luftreinhaltung investiert und dieIndustrie verursachte 30 Prozent CO2 weniger. Das ist dasFundament.Eines darf ich gleich hinzufügen: Den Weltmeistertitelfür installierte Windenergie haben Sie aus unserer Zeitübernommen, den haben nicht Sie geschaffen. In dieser Si-tuation befinden wir uns. Mercedes Benz – heute Daimler-Chrysler – hat seine Entscheidung über die industrielleAnwendung der Brennstoffzelle in einem serienreifenFahrzeug 1996 gefällt und nicht zu Zeiten dieser Bundes-regierung. Sie ernten das, was wir gesät haben. Das ist un-ser Problem.
Da, wo Sie Neues ankündigen, vielleicht auch schoneinmal zu Papier gebracht haben, sind die Korrekturensehr oft falsch, beispielsweise bei der Verpackungsver-ordnung und anderem mehr. Wenn wir Ihnen die Vorbe-reitung von Rio überlassen hätten – das ist das Thema –,dann wäre Rio nie zustande gekommen. Das ist das Ele-mentare.
Sie haben Merkel und Töpfer kritisiert, als Kioto, Ber-lin und anderes nicht so erfolgreich verliefen, wie Sie dasgewünscht haben. Ich aber sage Ihnen: Wir legen nichtdiese Elle an, sondern wir messen Sie an unseren Erfolgen.Gemessen an unseren Erfolgen in der internationalen Um-weltpolitik haben Sie nicht gerade viel gebracht, um es ge-linde zu sagen.
Die Klimapolitik dient als Beleg dafür. Wir können unsin der Frage des Ausstiegs aus der Kernenergie darüberstreiten, ob die Kernenergie ein unverantwortliches Risikodarstellt. Dafür sind Sie den Beleg bisher schuldig geblie-ben. Aber wenn Sie aus der Kernenergie aussteigen, dannsollten Sie wenigstens nachweisen, wie der klimaverträg-liche Ausstieg aus der Kernenergie vonstatten gehen soll.Sie haben gesagt: Wer aussteigt, muss auch sagen, wo ereinsteigt. Den Beleg für den Einstieg, das Aufzeigen derneuen Richtung, ist diese Bundesregierung bisher schuldiggeblieben.Der Bundeswirtschaftsminister hat erklärt: Es wird indiesem und voraussichtlich auch im nächsten Jahr keinEnergiekonzept der Bundesregierung geben. Auf einerVeranstaltung der IG BCE vor einigen Wochen in Hanno-ver hat der Bundeswirtschaftsminister Müller hinter ver-schlossenen Türen – das gebe ich zu, aber es gibt für die-ses Gespräch genügend Zeugen – gesagt, es gebe keinEnergiekonzept, weil er nicht in der Lage sei, bis 2020 dieKlimalücke, die durch den Ausstieg aus der Kernenergieentstehe, zu schließen.
Deswegen verbreiten Sie vordergründig das Geredeüber erneuerbare Energien. Aber der Bundeskanzler sel-ber hat erst vor wenigen Wochen gesagt:
Das wird nicht die Zukunft der deutschen Energiever-sorgung sein. So lange wie Gerhard Schröder auf öffentli-chen Veranstaltungen – zuletzt bei Daimler-Chrysler –Kohlekraftwerke als Ersatz für Kernkraftwerke beschreibt,werden Sie in der Klimapolitik nicht dorthin kommen, woSie international hinkommen müssen, sondern der CO2-Ausstoß wird am Ende Ihrer Regierungszeit höher als beiRegierungsantritt sein.
Ich will hinzufügen, Herr Loske: Sie selber sind es dochgewesen, die im Zusammenhang mit dem Ausstieg aus derKernenergie davor gewarnt haben, dass Deutschland seineLeitbildfunktion in Sachen Klimapolitik verlieren könnte.Das KWK-Vorschaltgesetz ist keine ökologische Leis-tung; denn es bevorzugt Stromproduktionen aus Kohle.So, wie die Realität ist, produzieren Sie damit mehr CO2,als Sie einsparen. Das ist der Punkt.
Ich will Ihnen, Herr Matschie, noch etwas zur Bahn sa-gen. Nur durch die Milliardenerlöse aus dem Verkauf derUMTS-Lizenzen, die Sie nicht bekommen hätten, wennEichel und Schröder bei der Privatisierung Recht behaltenhätten, sind Sie in der Lage, die Mittel für die Bahn zur
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Kurt-Dieter Grill13423
Verfügung zu stellen, die Sie zu unserer Zeit gehabt hät-ten. Das ist aber nicht der Punkt. Wenn wir zu unserer Zeiteine solche Bahnpolitik zugelassen hätten, wie Sie sie jetztmit Herrn Mehdorn betreiben, wären Sie auf die Gleise ge-gangen und hätten wider den Abbau der Eisenbahn gere-det. Das, was jetzt passiert, ist kein Aufbau, sondern einAbbau, den Sie zu verantworten haben.
– Nein, das ist kein dummes Zeug, sondern die Wahrheit.Das ist das Schlimme.
Es gibt noch einen sehr interessanten Punkt, den ichzum Schluss aufgreifen will. Ich will ihn mit „Das Endeder Katastrophe“ überschreiben. Der BundesministerJürgen Trittin hat sich in Artikeln der „Berliner Zeitung“,aber auch auf einer Veranstaltung mit den Umweltverbän-den geäußert. Ich zitiere eine ap-Meldung: Im grundsätz-lichen Teil seiner Bilanz sagte Trittin: Mit Katastrophen istkeine Politik mehr zu machen. Dieser Mechanismus, vondem die Umweltschutzorganisation Greenpeace lebe,funktioniere nicht mehr.
Ich glaube, Herr Trittin, Sie hätten ebenso gut sagenkönnen, dieser Mechanismus der Grünen funktionierenicht mehr. Denn die Katastrophenpolitik, die Sie Green-peace vorwerfen, ist genau das Prinzip gewesen, das Siebis zu Ihrem Regierungsantritt angewendet haben. Sie ha-ben Greenpeace als Wahlhelfer bei der Darstellung vonKatastrophen zur Unterstützung Ihrer Politik gebraucht.Es geht nicht um Greenpeace, sondern Sie erklären Ihr ei-genes Politikprinzip für beendet, das Sie in die Regierunggebracht hat.
Sie sind mit der Instrumentalisierung der Katastrophenund der Ängste der Menschen in die Regierungsverant-wortung gekommen. Jetzt erklären Sie diese Politik für be-endet. Deswegen muss man die interessante Frage stellen,warum der Bundesumweltminister die Katastrophe alsMittel der Politik für beendet erklärt hat.Ich kann Ihnen hierfür Beispiele nennen: Stichwort Cas-tor-Behälter. Unter Trittin ist es so, dass das, was früherals unverantwortlich galt, nämlich die Halle wegzulassen,heute möglich ist: Unter Ihnen kann der Castor-Behälterohne Halle auf der grünen Wiese stehen. Ein zweiter Punktist, dass Sie rechtzeitig vor dem nächsten Castor-Transportdie Ungefährlichkeit zum Prinzip machen. Aber das hat janicht damit zu tun, dass sich seit dem Regierungswechselin Sachen Sicherheit des Castors etwas geändert hätte.Nein, es geht lediglich darum, Herr Trittin, dass Sie denCastor für sicher erklären, weil Sie jetzt auf der Lok sitzenund nicht mehr Töpfer und Merkel für diese Frage ver-antwortlich machen können.
Sie sagen, Greenpeace müsste mit der Katastrophenpo-litik aufhören, und meinen die Grünen.
Das hat etwas damit zu tun – das hat man auch heute wie-der an Ihrer Arroganz gemerkt –, dass Sie die Macht lie-ben. Die Katastrophe als Mittel der Politik hat für Sie aus-gedient – das ist Ihre Realität, Sie haben es wunderschönbelegt –, weil dieses Prinzip heute Ihre Macht eher ge-fährden könnte.Zu der Tatsache, dass Sie sich selber zur höheren Ge-walt erklärt haben, ist zu sagen: Die höhere Gewalt ist dieKatastrophe. Ich würde das so formulieren: Die Katastro-phe ist beendet, weil die Katastrophe jetzt regiert.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Michael Müller.
Ich möchte zuBeginn auf Herrn Paziorek eingehen – nicht auf den Zi-tatenklempner Herrn Grill, der sich seine Wahrheitzurechtschneidet,
sondern auf Sie, Herr Paziorek. Ich finde, dass Ihr Satz zurKlimaproblematik richtig ist. Wir haben hier im Hausüber alle parteipolitischen Grenzen hinweg eine gemein-same Verantwortung. Deshalb will ich auch ausdrücklichbestätigen, dass der Klimaprozess, der Rio-Prozess, wei-tergehen muss. Da sind wir einer Meinung,
aber da werden wir auch Sie an Ihren Taten messen.
Das ist der Maßstab, an diesen Maßstab werden wir Sieerinnern, und daran werden wir Sie auch messen.
Wir haben in der Bundesrepublik die Ausgangssitua-tion, dass wir gegenüber 1 Milliarde Tonnen CO2-Jahres-ausstoß im Jahre 1990 heute etwa 850 Millionen Tonnenhaben. Das heißt, es fehlen noch etwa 100 Millionen Ton-nen CO2-Reduktion, um die 25 Prozent CO2-Reduktionzu erreichen. Diese 100 Millionen Tonnen sind jetzt un-gleich schwerer zu erreichen als die Erfolge der Vergan-genheit.
Darüber sollten wir uns im Klaren sein, weil wir heute sehrviel stärker in den Strukturwandel hinein müssen. DasSchlimme ist, und da muss man auch die Wahrheit sagen:
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Kurt-Dieter Grill13424
Seit etwa zehn Jahren sinkt der Zuwachs in der Energie-produktivität.Wir sind heute bei einem Zuwachs von nurnoch 1,5 Prozent pro Jahr, wir waren in den 80er-Jahrenbei deutlich über 2,5 Prozent. Das heißt, in den letztenzehn Jahren ist leider viel zu wenig getan worden für ra-tionelle Energieverwendung, für erneuerbare Technolo-gien etc. Das ist die Wahrheit.
Es ist jetzt also heute deutlich schwieriger geworden, weildie Energieproduktivität weit hinter dem zurück bleibt,was zu erreichen wäre. Auch unter den Bedingungen libe-ralisierter Energiemärkte ist es jetzt sehr viel schwieriger,mehr Einsparen durchzusetzen.Man muss noch einen Punkt sehen, Herr Paziorek. Wirhaben das große Problem, dass die ökonomisch stärksteWeltmacht, die USA, sich auf dem Gebiet des Klima-schutzes wie der Allerletzte verhält, wie eine unverant-wortliche Nation; anders kann man das gar nicht bezeich-nen.
In Wahrheit wird dort ökologischer Kolonialismus gegen-über der Zukunft betrieben. Das muss man in aller Klar-heit kritisieren.
Nach neuen Aussagen wird damit gerechnet, dass derEnergieverbrauch in den USA bis zum Jahre 2010 um34 Prozent und bis zum Jahr 2020 um 51 Prozent steigt.Das ist schlicht unverantwortlich.
Deshalb ist es schwer, mit einem solchen Land zu einemKonsens zu kommen. Wir wollen doch ehrlich sein: Daswäre einem Ihrer Minister nicht anders gegangen als HerrnTrittin. Mehr noch: Es ist richtig, dass er nicht auf einenfalschen Konsens eingegangen ist. Dafür bekommt er un-sere volle Unterstützung.
– Sie wissen doch genau, dass das nichts mit Vorarbeitenzu tun hat. Im Gegenteil, wir müssen uns Sorgen über dieEntwicklung der Umweltpolitik in den USA machen. Siemüssten das genauso sehen wie wir.
Da ist die Ökologie herunter gerutscht.
– Das stimmt doch nicht.
– Sie haben doch wirklich Erfahrungen aus dem Innenle-ben der Regierung und sollten deshalb hier nicht solcheleichtfertigen Behauptungen aufstellen.
Das ist auch eine Form von leichtfertiger Politik, die wirnicht akzeptieren können.Lassen Sie uns bitte bei der Frage bleiben, welche Kon-sequenzen wir aus Den Haag ziehen. Die Konsequenz, dieauch Herr Loske genannt hat, ist richtig. Jetzt muss Europazeigen, ob es den Klimaschutz ernst nimmt.
Wir kommen nicht zu einer globalen Regelung in der kur-zen Zeit, in der wir sie bräuchten. Also müssen wir durcheigenes Vorbild der Welt zeigen, dass es geht. Das wird derentscheidende Punkt sein, an dem wir uns zu messen ha-ben.
Das fordern wir, und da bitten wir Sie auch um Unterstüt-zung, Herr Paziorek. Das muss unsere gemeinsame Liniesein.
Nun zu einige anderen Punkten, zunächst zur Öko-steuer:Auch hier ist die Wahrheit relativ einfach. Aus un-serer Sicht und aus der Sicht vieler Wirtschaftsverbändeund Wissenschaftler – wenn ich mich an Ihre früheren pro-grammatischen Grundsätze richtig erinnere, dann warenSie hier auch schon einmal viel weiter – war und ist dieökologische Steuerreform Teil einer modernen Wirt-schafts- und Umweltpolitik.
Jetzt ist die Sache in der Realität wieder relativ einfach:Die einen machen die ökologischen Reformen; die ande-ren, also Sie, blockieren sie. So sieht die Wirklichkeit aus.An dieser einfachen Wahrheit kommen Sie nicht vorbei.Natürlich kann man über einzelne Punkte der Öko-steuer diskutieren. Auch ich bin dafür – Sie haben diesenPunkt angesprochen –, die erneuerbaren Energien vonder Ökosteuer zu befreien, wenn es möglich wäre. AberSie wissen, dass das unter den heutigen Bedingungen eu-roparechtlich leider nicht möglich ist, weil sich nicht ex-akt nachweisen lässt, woher welcher Strom kommt.
Das ist doch das Problem. Wir wollten die regenerativenEnergien doch ursprünglich von der Ökosteuer befreien.Aber mit diesem Vorhaben sind wir bei der EU gescheitert.Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Das geschah nichtaus bösem Willen. Wir haben keinen Pfusch gemacht. Wirmussten bei der Einführung der Ökosteuer der realen Si-tuation Rechnung tragen. Wie gesagt, natürlich kann manüber den einen oder anderen Punkt reden.
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Michael Müller13425
Aber tun Sie doch jetzt nicht so, als hätten Sie sich inder Vergangenheit dafür eingesetzt, dass ein großer Teildes Aufkommens aus der Ökosteuer für ökologische In-vestitionen verwandt wird. Eine solche Position haben Sienie vertreten. Das tun Sie erst jetzt.
Sie haben in der Vergangenheit immer nur von der Auf-kommensneutralität geredet. Insofern liegen unsere Posi-tionen – wenn Sie ehrlich sind – viel nähe, beieinander.
Nein, die Wahrheit ist auch hier ganz einfach: Sie instru-mentalisieren die ökologische Steuerreform, weil Sie da-mit Stimmung machen wollen; denn Sie haben in Wahrheitkeine inhaltlichen Themen anzubieten. Das ist der eigent-liche Punkt, um den es Ihnen geht.
– Nein, das stimmt auch nicht. Sie sollten sich erst einmalinformieren. Nach dem jetzigen Stand ist der Energiever-brauch in den letzten Monaten deutlich gesunken. DerMineralölverbrauch ist um rund 4 Prozent zurückgegan-gen. Da können Sie doch nicht behaupten, die Ökosteuerhabe keine Wirkung. Nehmen Sie zum Beispiel auch dieUntersuchung des RWI über die Arbeitsplatzeffekte.Diese sind beträchtlich. Sie können doch nicht so tun, alsob die ökologische Steuerreform keine Wirkung habe. Siesollten sich erst einmal informieren. Sowohl bei der Mini-mierung von Emissionen und Verbrauch als auch bei derSchaffung von Arbeitsplätzen gibt es deutliche Effekte.Die könnte man natürlich beträchtlich ausweiten.
Aber das Problem ist nicht unser Wille. Das Problem sindSie; denn wenn wir versuchen würden, die Effekte stärkerund schneller auszuweiten, dann würden wir bei Ihnen aufnoch mehr Widerstand stoßen. Seien Sie doch bitte ehrlichin der Argumentation.
– Die habe ich doch gerade genannt! Sie scheinen aufIhren Ohren zu sitzen!
– Alle Studien belegen, dass der Mineralölverbrauch umrund 4 Prozent zurückgegangen ist.
Ich empfehle Ihnen: Schauen Sie sich die Zahlen an, wennSie mir nicht glauben wollen. Das kostet doch nicht vielMühe. Machen Sie wenigstens das. Dann können wir wei-terreden.Nächster Punkt: Natürlich gibt es einen Grundsatzstreitüber die Frage des Atomausstiegs. Aber Sie müssen dochzugeben, dass die Entwicklung ohne die innovative Dyna-mik, die wir mit dem Ausstiegsbeschluss in den Energie-markt hineingebracht haben, noch viel eindeutiger inRichtung Monopolisierung der Strommärkte im europä-ischen Verbund gegangen wäre. Ist das Ihre Alternative?Nein, wir wollen die neuen Märkte erschließen. Deshalbmusste diese Richtungsentscheidung getroffen werden.Wir haben mit unserem Ja zum Ausstieg aus der Atom-energie diese Richtungsentscheidung getroffen. Es gehtjetzt um neue Märkte und neue Beschäftigungsmöglich-keiten. Die von uns gewünschten Effekte zeichnen sich inder Zwischenzeit bereits ab. Sie sind richtig gut.
Insgesamt ist festzustellen: Im Vergleich zu früher gibtes zwei fundamentale Unterschiede: Als wir noch in derOpposition waren, waren wir bereit, Sie sehr viel stärkerin der Umweltpolitik zu unterstützen. Aber Sie haben un-sere Angebote nicht angenommen.
Sie hätten während Ihrer Regierungszeit mit Unter-stützung der Opposition sehr viel mehr machen können.Heute kritisieren Sie das, was wir in der Umweltpolitikmachen, mit dem Argument, dass das alles nicht stimmigsei. Nein, in Wahrheit kritisieren Sie uns, weil Sie mehrUmweltpolitik ablehnen. Das ist der Punkt.
Niemand, den man ökologisch ernst nimmt, lehnt die öko-logische Steuerreform ab. Nur Sie tun das. Wie soll manSie dann ökologisch Ernst nehmen? Das geht nicht. IhrVerhalten passt dazu einfach nicht.Lassen Sie es uns so sehen: Wir sind jetzt in einer Si-tuation, in der wir den Umbauprozess begonnen haben. Esist eine strategische Frage, wie es weitergeht.Ich glaube, dass die Grundidee der ökologischen Effi-zienz auch ein überragendes Ziel für die Wirtschafts- undIndustriepolitik ist. Lassen Sie mich das an einem Punktverdeutlichen.In der Bundesrepublik entfällt auf Wirtschaft undDienstleistung ein Anteil am Bruttoinlandsprodukt vonetwa 2,2 Billionen DM. Von diesen 2,2 Billionen DM ent-fallen ungefähr 1,4 bis 1,6 BillionenDM auf Transport, aufMaterial, auf Energie, auf Abfallkosten etc. Gleichzeitigbesteht die Situation, dass bei den vier Wertschöpfungs-ketten unserer Wirtschaft, also Rohstoffanlieferung, Pro-duktbearbeitung, Produktnutzung und Entsorgung, auf je-der dieser Stufen etwa 50 Prozent des Materialeinsatzes andie Umwelt abgegeben werden. Wenn wir es erreichten,diese gewaltige Verschwendung erheblich zu reduzieren,so wäre dies ein gigantisches Programm für mehr Arbeit,für mehr Umwetlschutz und für mehr Wettbewerbsfähig-keit. Die Ökologie ist in Wahrheit eine Chance, und wir
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Michael Müller13426
wollen diese Chance zur Modernisierung unseres Landesnutzen.
Deshalb muss man nicht alles kaputt reden, man mussvielmehr nach vorne denken. Nach vorne zu denken, dasist unser Ziel, meine Damen und Herren. Die Ökologie isteine Chance für eine moderne Bundesrepublik in Europa,das damit auch ein Modell für die Globalisierung wird, einModell dafür, wie man Produktivität sinnvoller so organi-siert, dass sie mit Arbeit und Umwelt verbunden werdenkann.Das ist unser Ziel und für dieses Ziel kämpfen wir. Des-halb werden wir uns auch nur begrenzt an den Debattenbeteiligen, die noch einmal die Schlachten von gesternoder vorgestern führen.Vielen Dank.
Ich schließedamit die Debatte.Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwarzunächst zu den Änderungsanträgen.Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU aufDrucksache 14/4788. Wer stimmt für diesen Änderungs-antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ände-rungsantrag ist abgelehnt worden mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen derCDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P.Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU aufDrucksache 14/4789. Wer stimmt für diesen Änderungs-antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Än-derungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis ab-gelehnt worden.Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksa-che 14/4810. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantragist abgelehnt worden mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen und der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS und ge-gen die Stimmen der F.D.P., die natürlich zugestimmt hat.Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache14/4797. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag istgegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des gesam-ten übrigen Hauses abgelehnt worden.Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache14/4798. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Auch dieser Änderungsantrag ist gegen dieStimmen der PDS mit den Stimmen des gesamten übrigenHauses abgelehnt worden.Ich bitte nun diejenigen, die dem Einzelplan 16 in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – DerEinzelplan 16 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen der gesamten Opposition ange-nommen worden.Ich rufe die Tagesordnungspunkte VII a bis VII h sowieZusatzpunkt 4 auf:Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes über die Verarbeitungund Nutzung der zur Durchführung der Ver-ordnung Nr. 820/97 des Rates erhobenenDaten– Drucksache 14/4721 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Gesundheitb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem In-ternationalen Übereinkommen von 1989 überBergung– Drucksache 14/4673 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege-lung des Bergungsrechts in der See- und Binnen-schifffahrt
– Drucksache 14/4672 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reformdes Verfahrens bei Zustellungen im gerichtlichenVerfahren
– Drucksache 14/4554 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschusse) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung von Vorschriften auf dem Gebiet der An-erkennung und Vollstreckung ausländischerEntscheidungen in Zivil- und Handelssachen– Drucksache 14/4591 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussf) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung desGesetzes über die Errichtung eines Fonds„Deutsche Einheit“ und des Gesetzes über denFinanzausgleich zwischen Bund und Ländern– Drucksache 14/4436 –
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Michael Müller13427
Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderSonderausschuss „Maßstäbegesetz/Finanzausgleichsgesetz“g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än-derungen vom 1. Oktober 1999 der Satzung derInternationalen Atomenergie-Organisation– Drucksache 14/4454 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheith) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung über den Standder Abwicklung des Fonds für Wiedergutma-chungsleistungen an jüdische Verfolgte– Drucksache 14/4264 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussHaushaltsausschussZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten RenateDiemers, Karl-Josef Laumann, Bernd Neumann
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
CDU/CSUVerbesserung des Programmangebots fürSchwerhörige, Gehörlose, Sehbehinderte undBlinde im Fernsehen und den neuen Medien– Drucksache 14/4385 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Kultur und MedienInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen nun zu den abschließenden Beratungenohne Aussprache.Tagesordnungspunkt VIII a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-logie zu der Verordnung der Bun-desregierungAufhebbare siebenundneunzigste Verordnungzur Änderung derAusfuhrliste – Anlage ALzurAußenwirtschaftsverordnung –– Drucksachen 14/3995 , 14/4093 Nr. 2.1,14/4565 –Berichterstattung:Abgeordneter Werner Schulz
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord-nung der Bundesregierung nicht zu verlangen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mitden Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. –Das Stimmverhalten der PDS habe ich nicht sehen kön-nen.Tagesordnungspunkt VIII b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-logie zu der Verordnung der Bun-desregierungEinundfünfzigste Verordnung zur ÄnderungderAußenwirtschaftsverordnung– Drucksachen 14/4166, 14/4308 Nr. 2.1, 14/4566 –Berichterstattung:Abgeordnete Gudrun KoppDer Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord-nung der Bundesregierung nicht zu verlangen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig an-genommen worden.Tagesordnungspunkt VIII c:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-logie zu der Verordnung der Bun-desregierungAchtundneunzigste Verordnung zur Änderungder Ausfuhrliste – Anlage AL zur Außenwirt-schaftsverordnung –– Drucksachen 14/4167, 14/4308 Nr. 2.2, 14/4585 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Ditmar StaffeltDer Ausschuss empfiehlt wiederum, die Aufhebungder Verordnung der Bundesregierung nicht zu verlangen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist einstimmig angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-tionsausschusses.Tagesordnungspunkt VIII d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 12 zu Petitionen– Drucksache 14/135 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht 12 ist mit den Stimmen der Koaliti-onsfraktionen und der F.D.P. gegen die Stimmen vonCDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer13428
Tagesordnungspunkt VIII e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 212 zu Petitionen– Drucksache 14/4609 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht 212 ist mit den Stimmen des ganzenHauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden.Tagesordnungspunkt VIII f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 213 zu Petitionen– Drucksache 14/4610 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht 213 ist mit den Stimmen des ganzenHauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden.Tagesordnungspunkt VIII g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 214 zu Petitionen– Drucksache 14/4611 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht 214 ist mit den Stimmen des ganzenHauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden.Tagesordnungspunkt VIII h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 215 zu Petitionen– Drucksache 14/4612 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht 215 ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und denen der PDS gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.Tagesordnungspunkt VIII i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 216 zu Petitionen– Drucksache 14/4613 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht 216 ist mit den Stimmen des ganzenHauses gegen die Stimmen der PDS angenommen wor-den.Ich rufe nun auf:III. 22 Einzelplan 10Bundesministerium für Ernährung, Landwirt-schaft und Forsten– Drucksachen 14/4510, 14/4521 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Uwe-Jens RösselIris Hoffmann
Josef HollerithMatthias BerningerJürgen KoppelinEs liegen vier Änderungsanträge der Fraktion derCDU/CSU, zwei Änderungsanträge der Fraktion derF.D.P. und ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor.Die Fraktion der F.D.P. hat einen Entschließungsantrageingebracht, über den morgen nach der Schlussabstim-mung abgestimmt werden soll.Außerdem rufe ich die Zusatzpunkte 5 bis 7 auf:ZP 5 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionender SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes überdas Verbot des Verfütterns, des innergemein-schaftlichen Verbringens und der Ausfuhr be-stimmter Futtermittel– Drucksache 14/4764 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
– Drucksache 14/4838 –Berichterstattung:Abg. Peter BleserZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten AnnetteWidmann-Mauz, Horst Seehofer, WolfgangLohmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUSofortprogramm zur Abwehr von Gefahrendurch BSE– Drucksache 14/4778 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
A.usschuss für GesundheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrichHeinrich, Detlef Parr, Gudrun Kopp, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der F.D.P.Vorrang für einen vorsorgenden Verbraucher-schutz bei der Bekämpfung von BSE– Drucksache 14/4852 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für GesundheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussDie Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünenhaben zu ihrem Gesetzentwurf über das Verbot des Ver-
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fütterns, des innergemeinschaftlichen Verbringens und derAusfuhr bestimmter Futtermittel einen Entschließungs-antrag eingebracht.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wortzunächst dem Abgeordneten Heinrich Wilhelm Ronsöhr.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! AlsErstes möchte ich für die Fraktion der CDU/CSU hier er-klären, dass wir dem Gesetz, das die Tiermehlverfüt-terung verbietet, zustimmen werden.
Wir tun dies, obwohl wir gestern vom Landwirtschaftsmi-nister in der Sitzung des Landwirtschaftsausschussesgehört haben, dass er eine solche Gesetzgebung so nichteingeleitet hätte und dass er das für seine Enkel auch zuProtokoll geben wolle. Ich finde das schon etwas eigenar-tig,
wenn das einer der beiden Fachminister, die mit dem Ge-setz beschäftigt sind, so erklärt.
Meine Damen und Herren, wir investieren auch in dieseGesetzgebung ein Stück Vertrauen, von dem wir gar nichtwissen, ob es so rechfertigen lässt, denn natürlich tritt die-ses Gesetz auch eine ungeheure Kostenlawine los. Ichglaube, darüber sind wir uns hier im Hause auch einig.
Aber dann muss natürlich auch klar und eindeutig gesagtwerden, bei wem die Kosten ankommen.Ich habe heute Nachmittag, als ich aus Hannover wie-der zurückgekommen bin, gehört, man habe offensichtlichim Kanzleramt vereinbart, dass der Bund, die Länder undauch die Kommunen jeweils ein Drittel der Kosten tragenwürden. Nur muss man dann immer auch darüber disku-tieren. Ich gehe davon aus, dass der Bund und die Länderdann von den Kosten entlastet würden, aber darüber, obdie Kommunen auch darauf verpflichtet werden können,muss dann zumindest in weiteren Beratungen noch disku-tiert werden. Ich glaube, dass dazu auch noch Beratungs-bedarf besteht,
und ich hoffe, dass die entsprechenden Beratungen zumErgebnis haben werden, dass zumindest bei Landwirtenund anderen keine Kosten hängen bleiben, denn wir habenjetzt sinkende Rindfleischpreise, und unter dieser Bedin-gung können Rindermäster keine zusätzlichen Kosten ver-tragen. Ich denke, darüber müssen wir uns einig sein.Weil wir im Grunde genommen nicht konkret wissen,wie die Kostenfrage geregelt sein wird, entwickeln wirhier auch aufgrund der gestrigen Erklärungen des Bundes-landwirtschaftsministers Vertrauen. Aufgrund dieser Er-klärung gehe ich davon aus, dass der Bund so mitfinan-zieren wird und hoffentlich auch die Länder somitfinanzieren werden, dass möglichst keine Kosten zu-sätzlich auf die Landwirte in Deutschland zukommen.
Meine Damen und Herren, wir entwickeln dieses Ver-trauen auch, obwohl es ja einige Ungereimtheiten in denBeratungen in der letzten Woche gab.Viele von uns – nicht nur die Gesundheitspolitiker, son-dern auch die Agrarpolitiker – haben an der Beratung desGesundheitsausschusses teilgenommen. Dort ist uns etwasüber BSE-Schnelltests gesagt worden, was danach vonMinisterialbeamten korrigiert wurde.
Ich bin sehr dankbar, dass sich jetzt die Bundesregierungkorrigiert hat und auch für die Einführung flächendecken-der Schnelltests ist. Wenn ich den Ministerialbeamten amDienstagmorgen zugehört habe – das haben ja auch anderegetan –, dann war das offensichtlich nicht so, sondern dasollten auch durch manche Privatinitiative BSE-Schnell-tests auf uns zukommen. Aber wenn das nur der Privati-nitiative überlassen bliebe und wir ansonsten mit BSE-Schnelltests nur die Tiere kontrolliert hätten, die verendetsind oder die krank sind, die also auffällig geworden sind,dann hätte das nach meiner Meinung nicht gereicht, weiles damit zu einem Flickenteppich bei den BSE-Schnell-tests gekommen wäre.Wir von meiner Fraktion wollen ganz eindeutig, dass esso schnell wie möglich – wir wissen, dass die Länder dafüreine Infrastruktur aufbauen müssen – zu flächendecken-den BSE-Schnelltests kommt. Wenn die Regierungsfrak-tionen und die Regierung das jetzt auch wollen, dann halteich das für sehr positiv und für eine begrüßenswerte Ent-wicklung, aber ich finde, dass hätte man uns am Dienstag-morgen auch schon erklären können.
Gestern fand wieder eine Beratung statt. Ich kann be-stätigen, dass sie sehr sachlich abgelaufen ist. Ich glaube,dass wir von der CDU/CSU-Fraktion für Argumente zu-gänglich waren. Es wurde zwischenzeitlich über einen An-trag diskutiert, der vorsah, dass Fischmehl an Ferkel bis35 Kilogramm verfüttert werden kann. Wir haben diesenAntrag gar nicht für so schlecht gehalten. Aber nachdemwir erfahren hatten, dass die EU ein generellesTiermehlfütterungsverbot, das auch eine Fischmehlverfüt-terung nicht zulässt, aussprechen will, haben wir gesagt,dass wir jetzt mit Klugheit handeln müssen.
Man kann sich natürlich ein anderes Vorgehen vorstel-len. Aber es wäre sozusagen idiotisch gewesen, wenn wirin dieser Woche etwas beschlossen hätten, was die EUdurch ihren Beschluss schon am nächsten Montag konter-kariert hätte. Dieser Beschluss hätte kein Vertrauen in den
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Verbraucherschutz in Deutschland geschaffen und hätteauch nicht das Vertrauen der Rinder haltenden Landwirteund Rindfleisch produzierenden Betriebe in unsere Politikgestärkt. Wir haben uns auf diese Vorgehensweise in kon-struktiver Weise eingelassen.
Wir von der Christlich Demokratischen Union und vonder Christlich-Sozialen Union werden den Gesetzge-bungsprozess konstruktiv begleiten und die sich aus demGesetz ergebenden Folgen beobachten.
Aber wir sind der Auffassung, dass es eine bessere Koor-dination und Zusammenarbeit zwischen den Ministeriengeben muss, um die Folgen zu bewältigen.Gestern hat meine Kollegin Annette Widmann-Mauzgefragt, ob denn jemand etwas zu der Kontamination derBöden mit BSE-Erregern sagen könne. Der Landwirt-schaftsminister hat darauf geantwortet, da gebe es nichts.
Gestern lagen aber schon Erkenntnisse vor. Ich erwarte,dass ein Landwirtschaftsminister darüber Bescheid weißund uns gegenüber nicht den Eindruck erweckt, dass ernichts weiß.
Möglicherweise hat er tatsächlich nichts gewusst, aber dasdarf angesichts der großen Probleme nicht sein.
Wenn wir Vertrauen schaffen wollen, dann muss ein bes-seres Management an den Tag gelegt werden, als es vonder Gesundheitsministerin und dem Landwirtschaftsmi-nisterium bisher gezeigt wurde.
Wir alle, die Bundesregierung und das Parlament, soll-ten dazu beitragen, dass von uns das Signal ausgeht, dasswir angesichts der BSE-Krise gemeinsam daran arbeiten,das Risiko zu vermindern. Ich setze mich beruhigt in einFlugzeug, wenn ich weiß, dass die Airline alles tut, um dieAbsturzgefahr zu mindern. Man kann zwar nie wissen, obman nicht möglicherweise abstürzt. Aber es ist für michwichtig, zu wissen, dass die Fluggesellschaft und die Flug-hafenverwaltung alles tun, damit es nicht zu einem Ab-sturz kommt. Bei der BSE-Bekämpfung müssen wir ingleicher Weise handeln. Die Bevölkerung muss wissen– nur so kann sie wieder Vertrauen fassen –, dass wir alleszur Risikominderung in diesem Bereich tun werden.
Natürlich muss es nach dem Tiermehlverbot finanzielleRegelungen geben; denn wir wissen, dass die Landwirte infinanziellen Nöten sind, dass sie teilweise mit dem Rückenzur Wand stehen, dass ihre Existenz gefährdet ist und dassein Stück Kulturlandschaft in Deutschland möglicher-weise kaputtgeht. Ich fordere alle Fraktionen dieses Hau-ses auf, mit uns dafür zu kämpfen, dass es zu finanziellenRegelungen zugunsten der Landwirte und der Schlachte-reien kommt, damit dieses Stück deutsche Kultur, das sichin vielen Grünlandschaften widerspiegelt,
nicht kaputtgeht.
Der Landwirtschaftsminister hat im Rahmen der Dis-kussion über die Preisentwicklung, die es in bestimmtenBereichen gab und gibt, erklärt, wir von der CDU/CSUwürden immer nur über Geld und nur die anderen würdenüber Strukturen reden. Jetzt reden wir auf einmal alleüber Strukturen. Ich habe hier erlebt, wie die Sozialdemo-kraten über die bayerischen und baden-württembergischenStrukturen in der Landwirtschaft geredet haben. Sie habensich lustig gemacht – ich kann mich noch an das Lachenerinnern. Aber darüber, dass die strukturelle Ausgangssi-tuation dort eine andere war, ist nicht gesprochen worden.Jetzt kritisiert jeder die bäuerlichen Strukturen; plötz-lich gibt es nur noch industrielle Agrarfabriken. Ich weißnicht, ob es sich bei den beiden im Gespräch befindlichenBetrieben – bei dem einen ist die Wahrscheinlichkeit einesBSE-Vorfalls sehr groß, bei dem anderen ist tatsächlich einBSE-Fall aufgetreten – nicht um bäuerliche Betriebe han-delt. Ich halte es aber für ungerecht, wenn jetzt schon wie-der die konventionelle Landwirtschaft ausgespielt wirdund jemand auf der Anklagebank sitzt, der dort nicht hin-gehört.Die Landwirte in Deutschland haben Tiermehl meinerMeinung nach legal eingesetzt, und zwar nicht bei Wie-derkäuern, sondern bei Schweinen und Hühnern. Das ha-ben wir gesetzlich nicht untersagt. Warum gerät die Land-wirtschaft jetzt so massiv in die Kritik? Warum tut auchder Bundeskanzler so, als wäre die bäuerliche Agrarstruk-tur in der Bundesrepublik Deutschland eigentlich eine in-dustrielle? Ich halte das für ungerecht.
Die Landwirte stehen so nicht nur finanziell, sondern auchpsychologisch mit dem Rücken zur Wand. Aus dieser Lagemüssen wir sie befreien.Ich fordere noch eines: Machen wir doch bitte eineAgrarpolitik, die die Landwirtschaft nicht ständig belastet!Wenn es um steuerliche Entlastungen oder um die Sen-kung der Sozialabgaben in der Landwirtschaft geht, han-delt es sich nach Meinung dieses Landwirtschaftsministersum Subventionen. Wenn wir aber die Sozialabgaben oderdie Steuern im industriellen Bereich senken, handelt essich um die Verbesserung von Rahmenbedingungen.Diese Unterschiede zwischen Agrarpolitik und der übrigenWirtschaftspolitik belasten die Bauern in unserem Land.Von daher fordere ich zum Umdenken in der Agrarpolitikauf.
Ich hoffe, dass wir hier im Bundestag verdeutlichen, dassnicht nur die CDU/CSU-Fraktion dafür einsteht, sonderndas sich auch andere Fraktionen dafür einsetzen.
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Heinrich-Wilhelm Ronsöhr13431
Herr Kollege
Ronsöhr, Ihre Redezeit.
Vielen
Dank, Frau Präsidentin, dass Sie mir eine zusätzliche
Minute zugestanden haben. –Tschüs.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Iris Hoffmann.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich einigeWorte vorweg sagen. Da wir uns heute in der Haushalts-debatte befinden, habe ich mir einmal die Änderungsan-träge der CDU/CSU angeschaut: Inhaltlich müsste manzwischen den Anträgen sicherlich differenzieren, aber infinanzieller Hinsicht hätten Sie damit in kürzester Zeitround about 900Millionen DM verfrühstückt. Bis jetzt ha-ben Sie uns nicht wissen lassen, wie Sie dies finanzierenwollen. Das ist letztendlich haushaltspolitische Schleuder-wirtschaft und deshalb wurde Ihre Regierung vor zweiJahren abgewählt. Sie konnten es nicht, deshalb machenwir es.
Landwirtschaft im Haushalt 2001 heißt, das beschlos-sene Zukunftsprogramm 2000 auch in diesem Bereichfortzuführen. Die Sanierung der Staatsfinanzen ist für unsnach wie vor eine Hauptaufgabe; denn solide Haushalts-politik ist eine unverzichtbare Grundlage für neue Arbeits-plätze, für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklungund für soziale Stabilität. Trotz aller Sparzwänge stand füruns im Mittelpunkt, dass die grundlegenden Ziele undWirkungen des Einsatzes von Bundesmitteln für dieAgrarsozialpolitik nicht beeinträchtigt werden. Ich denke,so ist es uns gelungen, einen Haushalt vorzulegen, derauch im nächsten Jahr tragfähig ist.Der Anteil der Ausgaben für die landwirtschaftliche So-zialpolitikwird trotz des großen Drucks auf den Agraretat– resultierend aus der allgemeinen Haushaltslage – biszum Jahr 2004 von gegenwärtig 66 Prozent auf 73 Prozenterhöht. Der Bund stellt dafür im kommenden Jahr über7,3Milliarden DM bereit. Allein 4,3Milliarden DM davonentfallen auf die Alterssicherung der Landwirte. Damit fi-nanziert der Bund die Alterssicherung der Landwirte zuzwei Dritteln und entlastet diese dadurch von den Auswir-kungen des Strukturwandels.
Wir haben Wort gehalten: Die in der landwirtschaft-lichen Krankenversicherung versicherten Landwirtemussten lediglich im Jahr 2000 einen einmaligen Sparbei-trag von 250 Millionen DM für den Haushalt aufbringen.Ab dem Jahre 2001 werden wir wieder den ungeschmäler-ten Bundeszuschuss zur Übernahme der Leistungsauf-wendungen der Altenteiler bereitstellen.Fakt ist jedoch, dass die jetzigen Organisationsstruk-turen in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung demWirtschaftlichkeitsgrundsatz und dem Strukturwandel inkeiner Weise gerecht werden. Der Handlungsbedarf aufdiesem Gebiet ist keine Erfindung von Rot-Grün, sondernbesteht schon seit längerer Zeit. Eine Neugestaltung derOrganisation der agrarsozialen Sicherung ist deshalb dasdringendste Gebot. Primär geht es hierbei um den ver-stärkten Einfluss des Bundes auf die Haushalt- und Wirt-schaftsführung der landwirtschaftlichen Sozialversiche-rungsträger. Nach wie vor gehe ich davon aus, dass dieBundesregierung noch bis zum Jahresende einen Gesetz-entwurf hierzu vorlegen wird, der auf den Feststellungendes Rechnungsprüfungsausschusses vom April dieses Jah-res basiert.An die Länder geht mein Appell, sich angesichts ihrerVerantwortung gegenüber den Landwirten nicht länger zuverweigern. Ansonsten muss man sich hier über den Un-mut der Agrar- und Haushaltspolitiker nicht wundern, dieletztlich entscheidend dazu beitragen, dass die Bundes-mittel bereitgestellt werden, auf deren richtige Verwen-dung aber keinen Einfluss haben.
Das muss sowohl im Interesse der Landwirte, die an einersparsamen Haushalts- und Wirtschaftsführung der Sozial-versicherungsträger interessiert sind, als auch im Interesseder Steuerzahler anders werden.Die landwirtschaftliche Unfallversicherung wird miteinem Betrag von 500 Millionen DM im Haushaltsjahr2001 fortgeführt. Erst seitdem wir in der Regierungsver-antwortung stehen, wird intensiv und ernsthaft über dennotwendigen Reformbedarf in diesem Bereich diskutiert.Diese Debatte ist nicht erst seit zwei Jahren fällig, sie hättelängst geführt werden müssen. Dazu waren CDU/CSUund F.D.P. jedoch nie wirklich bereit. Deshalb lade ich Sieganz herzlich ein, bei uns Nachhilfe zu nehmen, um an-schließend gemeinsam mit uns die landwirtschaftliche Un-fallversicherung hinsichtlich der Kriterien für die Vertei-lung der Bundeszuschüsse an die landwirtschaftlichenUnternehmer zu reformieren und in diesem Zusammen-hang auch über die Weiterentwicklung des materiellenLeistungsrechts nachzudenken.
In den Haushaltsgesprächen haben wir immer wiederbetont, dass es uns nicht darum geht, den gegenwärtigenTitelansatz zu senken, obwohl – das muss man an dieserStelle ganz klar feststellen – der Bundesrechnungshof so-fortige Einsparpotenziale in Höhe von 80 Millionen DMfestgestellt hat. Unser Ziel ist es, notwendige Änderungen,insbesondere bei der Verteilung der Bundesmittel dazu zunutzen, die hierdurch frei werdenden Mittel noch stärkerzugunsten der bundesberechtigten Unternehmer zu ver-wenden. Wir müssen und werden in den nächsten Wochenund Monaten darüber diskutieren, wie eine sachgerechtereVerwendung der Mittel erreicht werden kann.Auf dem Prüfstand wird unter anderem die Frage ste-hen, inwieweit Nebenerwerbsbetriebe weiterhin in erheb-lichem Umfang Bundeszuschüsse erhalten können, dadiese in der Regel ihr Haupteinkommen außerhalb deslandwirtschaftlichen Bereiches erzielen.Ebenso muss darüber nachgedacht werden, inwieweiteine Bundesmitteluntergrenze geschaffen wird, die die Be-zuschussung durch Kleinstbeträge ausschließt. Es ist doch
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lachhaft, wenn ein jährlicher Zuschuss von 82 Pfennigoder 4,58 DM an einzelne Unternehmer gezahlt wird. Ichglaube nicht, dass sich die betroffenen Unternehmen da-durch spürbar entlastet fühlen. Aufwand und Nutzen ste-hen hier in keinem Verhältnis. Insofern machte eine Bun-desmitteluntergrenze von zum Beispiel 200 oder 300 DM– in welcher Höhe auch immer – sicherlich Sinn.Auch die Auszahlung von Bundeszuschüssen an Unter-nehmen der öffentlichen Hand wird hierbei eine Rollespielen. Dies zeigt, dass die landwirtschaftliche Unfallver-sicherung nicht auf die einfache Formel zu bringen ist, derBund trage die so genannte alte Last und dann werde sichdas Problem irgendwann biologisch lösen. So geht esnicht. Im Bundeslandwirtschaftsministerium geht man da-von aus, dass selbst dann wenn die alte Last etwa 850 Mil-lionen DM betragen würde, noch nicht einmal im Jahre2010 eine spürbare Entlastung des Bundeshaushalts er-reicht werden könnte. Dies birgt somit ein großes finanzi-elles Risiko für den Bund in sich.Um verlässliche Angaben zu den finanziellen Auswir-kungen eines Systemwechsels auf den Bund, aber auch aufdie Landwirte zu erhalten, soll zunächst ein versicherungs-mathematisches Gutachten in Auftrag gegeben werden.Sobald uns dieses vorliegt, werden wir hier die richtigenEntscheidungen zur Weiterentwicklung der landwirtschaft-lichen Unfallversicherung treffen.
Deshalb ist es, meine Damen und Herren von der CDU,aber auch von der PDS, nicht damit getan, in der Bereini-gungssitzung des Haushaltsausschusses vor 14 Tagen undjetzt auch hier im Plenum Anträge auf Erhöhung dieses Ti-telansatzes einzubringen, die nicht nur inhaltlich, sondernauch politisch absurd sind. Nutzen Sie lieber die Zeit sinn-voll und machen Sie sich gemeinsam mit uns Gedanken,wie wir in diesem Bereich eine konsensfähige Reform aufden Weg bringen! Alles andere nämlich wäre Flickschus-terei.
In den vergangenen Wochen und Monaten wurde derAgrardiesel vor dem Hintergrund der hohen Mineralöl-preise breit thematisiert. Bislang wurde eine Verbilligungdes Agrardiesels auf der Basis des Landwirtschafts-Gasöl-verwendungsgesetzes gewährt. Erst in der vergangenenSitzungswoche haben wir das neue Agrardieselgesetz ver-abschiedet, welches ab 2001 gelten wird.
Danach werden die Landwirte mit einem Steuersatz von57 Pfennig je Liter Diesel belastet werden. Das bedeuteteine Vergütung oder auch Entlastung von 23 Pfennig proLiter und hat für 2002 und 2003 die Folge, dass die Land-wirtschaft hinsichtlich des Agrardiesels von den weiterenStufen der Ökosteuer ausgenommen bleiben wird. Für denBund ergeben sich hieraus steuerliche Mindereinnahmenvon insgesamt 700 Millionen DM, die über den Gesamt-haushalt zu kompensieren sind. Schon hiermit haben wirals Regierungskoalition ein deutliches Zeichen gesetzt,dass die Landwirte keineswegs das Stiefkind von Rot-Grün sind.
Uns ist sehr wohl bewusst, unter welch kompliziertenBedingungen auch im Vergleich zu den anderen EU-Mit-gliedstaaten die deutsche Landwirtschaft produziert. Un-ter diesem Aspekt haben wir über das eigentliche Zu-kunftsprogramm 2000 hinaus den zusätzlichen Bedarf von700 Millionen DM anerkannt.
Natürlich ist mir klar, dass eine weiter gehende Herabset-zung des Steuersatzes primär vor dem Hintergrund derWettbewerbsfähigkeit wünschenswert wäre. Eine Lösung,die auch im Vergleich zu den anderen Wirtschaftszweigenwie zum Beispiel den Transport- und Fuhrunternehmen al-len Seiten gerecht wird, ist aber nicht in Sicht.Auch eine weitere Obergrenzenlösung in Betracht zuziehen wäre das falsche Signal, hieße das doch, die größe-ren norddeutschen, aber insbesondere auch ostdeutschenBetriebe von der Herabsetzung des Steuersatzes auf Agrar-diesel auszuschließen. Jeder weiß: Der Dieselkraftstoff-verbrauch ist immer noch an die Fläche, unabhängig vonder Betriebsgröße, gebunden.Es ist uns noch immer die Möglichkeit gegeben, imnächsten Jahr Spielräume im neuen Agrardieselgesetz zuerschließen. Letztlich aber kann dieses Problem nur durcheine Harmonisierung der Steuersätze zwischen den EU-Staaten gelöst werden.Meine Damen und Herren, die Gemeinschaftsaufgabe„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“kann trotz der notwendigen Haushaltskonsolidierung aufdem bisherigen Niveau von 1,7Milliarden DM fortgeführtwerden. Wie die Anträge der Opposition uns zeigen, hältsie es eher mit Shakespeare, der seinen DramenheldHeinrich IV. sagen ließ: „Der Wunsch war des GedankensVater.“ Ich darf anfügen: bei Ihnen in diesem Fall wohlauch.
Auch heute ist es noch verwunderlich, dass Sie erst vorzwei Jahren Ihre förmliche Affenliebe zur Gemeinschafts-aufgabe entdeckt haben und auch erst seitdem permanenteine Erhöhung des Haushaltsansatzes einfordern, obwohlSie diesen doch jahrelang selbst bis an die Schmerzgrenzereduziert haben, obwohl die Haushaltskonsolidierung fürSie seinerzeit nicht das Thema war.
Auch das erinnert mich eher an Shakespeare und seinenSommernachtstraum: „Gut gebrüllt, Löwe!“ Deshalb ma-chen wir Ihre Mätzchen nicht mit und lehnen Ihre Anträgeab.
Wir als Regierungskoalition stehen für Solidität undkonzentrieren uns auch im Agrarhaushalt auf den Rahmendes Machbaren, wissen wir doch alle, dass die Gemein-schaftsaufgabe auch die Kofinanzierung der Ländereinschließt. Jeder von uns, auch die Kollegen von der Op-position, hat den heftigen Dissens in dieser Frage zwi-schen Länderfinanz- und Länderagrarministern miterle-ben dürfen.
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Iris Hoffmann
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Trotz des schon dargestellten engen finanzpolitischenSpielraumes im Agrarhaushalt war es möglich, den Titel-ansatz „Modellvorhaben“ um 5Millionen DM zu erhöhen.Hiermit haben wir ein Zeichen gesetzt, dass uns die regio-nale Entwicklung, aber auch die arbeitsmarktpolitischenInitiativen am Herzen liegen.Zusätzlich konnten im Agrarhaushalt ein Hilfspro-gramm zur Sicherung der Liquidität von Unterglasgar-tenbaubetrieben sowie eine verbesserte Investitionsför-derung für Energieeinsparmaßnahmen verankert werden.Damit tragen wir der schwierigen Situation in diesem Be-reich Rechnung, da vor allem Unterglasgartenbaubetriebevon den enorm gestiegenen Energiepreisen überproportio-nal betroffen sind.Als kurzfristig wirksame Maßnahme wird ein Pro-gramm zur Verbilligung der Betriebsmittelkredite aufge-legt, welches von den Ländern durchgeführt wird. DerBund wird sich hieran auch 2001 und 2002 mit 10 Milli-onen DM beteiligen – ein entsprechender Länderanteilkommt hinzu –, sodass für dieses Programm jährlich bis zu20 Millionen DM bereitstehen werden.Um die Abhängigkeit des Gartenbaus von den Energie-kosten mittelfristig zu mildern, wird im Rahmen der Ge-meinschaftsaufgabe auch die Förderung von Investitionenzur Energieeinsparung, insbesondere im Unterglasanbau,gezielt verbessert. Dies betrifft zum Beispiel den Neubauenergiesparender Gewächshäuser, aber auch Wärme- bzw.Kältedämmungsanlagen. Deshalb stellen wir hierfür inden Jahren 2001 und 2002 jeweils 15 Millionen DM zurVerfügung. Auch in diesem Fall kommt ein entsprechen-der Länderanteil hinzu.Wenn man dem Antrag der CDU folgte – sie forderteine Erhöhung auf 300 Millionen DM – und die Logik un-seres Antrages fortführte, dann müsste es in diesem Be-reich ebenfalls eine Beteiligung der Länder geben. Die Mi-nisterpräsidenten, auch die der CDU-geführten Länder,wären sehr dankbar, wenn sie 300 Millionen DM dazule-gen dürften – weil sie es nämlich gar nicht könnten.
– Nur einige.
Wir tragen damit jedenfalls zur Standortsicherung desUnterglasgartenbaus bei und zugleich sichern wir die da-mit verbundenen Arbeits- und Ausbildungsplätze. Darüberhinaus sorgen wir für die Steigerung der Energieeffizienzund auch für die umweltpolitisch unverzichtbare Reduzie-rung von klimaschädlichen Emissionen.
Diese Debatte zeigt, dass wir einen soliden und finan-zierbaren Agrarhaushalt für 2001 auf den Weg gebrachthaben,
der auch mittelfristig Grundlage unserer nationalen Agrar-politik sein wird. Trotz aller Konsolidierungszwänge ist esuns darüber hinaus gelungen, eigene agrarpolitische Ak-zente zu setzen. Auch wenn die Opposition dies gerne alsPeanuts abtun möchte: Dies ist – um wieder mit Shakespearezu sprechen – ebenfalls verlorene Liebesmüh, belegendoch die Fakten, dass wir uns als rot-grüne Regierungsko-alition sehr wohl den agrarpolitischen Herausforderungenunserer Zeit stellen.Vielen Dank.
Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, ich habe gerade eine, wie ich finde,
sehr schöne Nachricht bekommen, über die Sie sich si-
cherlich mitfreuen: Das Gartenreich Wörlitz ist seit heute
Teil des Weltkulturerbes.
Wir sollten dem Land Sachsen-Anhalt, den Wörlitzern und
uns allen gratulieren. Vor allem sollten wir denjenigen
danken, die es bis heute erhalten haben.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marita Sehn.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren!Die Bauern bekommen endlich wieder einen Land-wirtschaftsminister, der auch so aussieht.So wurden Sie, lieber Minister Funke, von den Kollegin-nen und Kollegen der Regierungsfraktionen als Landwirt-schaftsminister hier eingeführt. Diese Aussage mag viel-leicht stimmen, was das äußere Bild des Ministersanbelangt, aber es handelt sich dabei bestimmt nicht umInhaltliches.Die Landwirte, die ursprünglich große Hoffnung in Sieals einen Berufskollegen gesetzt haben, sehen sich nun,nach zwei Jahren funkescher Agrarpolitik, bitter ent-täuscht. Gut gemeint ist das Gegenteil von gut – so lässtsich das Krisenmanagement der Bundesregierung bei denMaßnahmen zur Bekämpfung von BSE wohl am bestenumschreiben.
Die Gesundheitsministerin scheint, nachdem sie keinemaßgeblichen Strukturverbesserungen in der Gesundheits-politik auf den Weg gebracht hat, die Agrarpolitik alsSpielwiese entdeckt zu haben. Man kann ihr leider nur be-stätigen, dass sie von Agrarpolitik doppelt so viel verstehtwie von der Gesundheitspolitik. Nur: Zwei mal null istnach den Regeln der Mathematik eben auch null.
Weiß Frau Fischer denn wirklich, wovon sie redet, wennsie von einem „GAU der industrialisierten Landwirt-schaft“ spricht? Den Betrieb, auf dem das infizierte Tiergefunden wurde, als „industrialisierte Landwirtschaft“ zudiffamieren, ist in höchstem Maße unseriös.
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Iris Hoffmann
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Frau Fischer täte gut daran, den Ratschlag von HerrnMüntefering zu befolgen und im Zusammenhang mit BSEnicht „primitiv und parteipolitisch zu agieren“.In Anbetracht dessen, dass bislang nicht einmal Infor-mationen über die Ursachen der Infektion vorliegen, solltesich Frau Fischer vielleicht doch etwas zurückhalten, an-statt die deutsche Landwirtschaft pauschal zu verunglimp-fen.
Der BSE-Skandal eignet sich nicht für gegenseitigeSchuldzuweisungen. Die Verbraucher erwarten von unskeine parteipolitischen Gladiatorenkämpfe. Sie wollen,dass alles Erdenkliche getan wird, um diese Bedrohung soschnell wie möglich zu beseitigen.
Das koalitionsinterne Hickhack zum Verbot der Verfütte-rung von Tiermehl war in diesem Sinne unwürdig undkontraproduktiv.
Die Bundesregierung wäre gut beraten, die Verunsiche-rung bei den Verbrauchern und – das möchte ich besondersbetonen – auch bei den Landwirten zu beenden.
Das schafft man nicht mit Schnellschüssen und unüber-legtem, kurzatmigem Handeln.Die weitere Erforschung des Erregers sowie der Infek-tionswege ist zwingend notwendig. Deshalb fordert dieF.D.P. die Aufstockung der Mittel für die Bundesfor-schungsanstalt für Viruskrankheiten von 12Millionen DMum 50 Millionen DM auf 62 Millionen DM.
Wenn fundierte Informationen über die Übertragungs-wege und eventuelle Möglichkeiten der Bekämpfung derErreger vorliegen, kann auch ein optimaler Schutz der Be-völkerung gewährleistet und die Verunsicherung der Ver-braucher beseitigt werden. Wir erwarten, dass alle Frak-tionen, die ernsthaft an einer Lösung des Problemsinteressiert sind, diesem Antrag zustimmen.
Über die schnellstmögliche Einführung von BSE-Schnelltests sind wir uns einig. Man darf bei der Debatteeines nicht vergessen: Teurer als jede Maßnahme wäre einnachhaltiger Vertrauensverlust der Verbraucher in Bezugauf die Sicherheit deutscher Agrarprodukte.Vorrang vor allen wirtschaftlichen Überlegungen müs-sen die Sicherheit und die gesundheitliche Vorsorge derVerbraucher haben. Das geht nur im engen Schulterschlussaller Beteiligten: der Bundesregierung, der Verbraucherund der Produzenten, unseren heimischen Landwirten.
Es ist für das Verhältnis der Bundesregierung gegen-über unseren Bäuerinnen und Bauern bezeichnend, dasstrotz steigender Belastungen der Betriebe der Agrarhaus-halt erneut vermindert wird. Doch damit nicht genug:Auch in anderen Bereichen hat die Bundesregierung Pro-bleme verursacht, mit denen die Landwirte zu kämpfen ha-ben.Nehmen Sie zum Beispiel die Debatte um den Agrar-diesel: Allein durch die Ökosteuer haben Sie der Land-wirtschaft eine Mehrbelastung von 900 Millionen DM zu-gemutet. Beim Agrardiesel zahlen die Landwirte pro LiterDiesel anstatt der ursprünglichen 23 Pfennig ab Januar57 Pfennig Steuern.
– Nicht gerade 1 000 Prozent. – Während die Franzosenauf die drastisch gestiegenen Energiepreise flexibel mit ei-ner Steuersenkung reagiert haben, muten Sie den Land-wirten eine Steuererhöhung um fast 150 Prozent zu.
Immerhin hat Bundesminister Funke in seiner Redevom 14. September dieses Jahres sein „außerordentlichesBedauern“ über die Wettbewerbsverzerrung in der Euro-päischen Union und insbesondere auf dem Energiesektorgeäußert. Ich bin mir sicher, dass den Landwirten anstelleIhrer Krokodilstränen konkrete Maßnahmen lieber gewe-sen wären. Wir fordern kurzfristig, also in einem erstenSchritt zur Beseitigung der gravierendsten Wettbewerbs-verzerrungen, die Absenkung des Steuersatzes für Agrar-diesel auf 47 Pfennig pro Liter.Auch im Gartenbau nimmt die Bundesregierung eineSchlechterstellung deutscher Betriebe im europäischenWettbewerb sowie den Verlust von bis zu 30 000 Arbeits-plätzen in Kauf. Um zumindest den größten Existenznötender Betriebe zu begegnen, fordern wir ein Hilfsprogrammfür die Unterglasbetriebe mit einem Gesamtumfang von300 Millionen DM.
Dies versetzte die Betriebe in die Lage, langfristig wirt-schaftlich zu arbeiten und sich am Markt zu behaupten.Herr Funke hat als Ziel seiner Agrarpolitik „eine leis-tungsstarke und wettbewerbsfähige Land-, Forst- undErnährungswirtschaft“ definiert. Diesem Ziel stimmen wirausdrücklich zu. Aber, meine Damen und Herren, Sie han-deln nicht danach. Wie sonst soll man die im Sommer vonUmweltminister Trittin vorgelegten Eckpunkte zum Bun-desnaturschutzgesetz verstehen? Sie verletzen die gutefachliche Praxis der Umweltpolitik, indem Sie auf Kon-frontation statt auf Kooperation setzen. Das Landwirt-schaftsministerium wird allenfalls informiert und HerrFunke in die Rolle eines politischen Wackeldackels ge-drängt, der nur noch die Vorschläge abnickt. Ich appellieredeshalb an Sie, Herr Minister Funke: Wachen Sie auf undsorgen Sie dafür, dass die Interessen der Landwirte ge-wahrt werden!
Der größte Wettbewerbsnachteil für die deutscheLandwirtschaft ist die konzeptionslose Agrarpolitik derBundesregierung. Sehr geehrter Herr Funke, es reichtnicht zu wollen, man muss es auch tun.
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Marita Sehn13435
Beim Agrardiesel lassen Sie sich von Herrn Berninger ander Nase herumführen, die gute fachliche Praxis beimBundesnaturschutzgesetz diktiert Ihnen Herr Trittin in dieFeder und bei der Bekämpfung von BSE gibt Frau Fischerden Takt vor.Im Interesse unserer Landwirte hoffen wir, dass sich dieArbeit der Bundesregierung substanziell verbessert. DieF.D.P. hat Vorschläge dazu unterbreitet.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Steffi Lemke.
Ver-ehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen und Kolleginnen!Da ich, wie einige von Ihnen wissen, aus Dessau stamme,möchte ich die Gelegenheit nutzen, der Region vonDessau, Bitterfeld, Wörlitz, Wittenberg herzlich zu derAufnahme von Wörlitz in die Weltkulturerbeliste zu gra-tulieren, und Sie alle einladen, die Region im Frühjahr, imSommer, im Herbst und im Winter zu besuchen und zu ge-nießen.
Zum eigentlichen Thema, dem Agrarhaushalt. Zwi-schen der ersten Lesung dieses Haushaltes und der zwei-ten Lesung heute sind nur wenige Wochen vergangen.Dennoch führen wir jetzt eine vollkommen andere De-batte, als wir sie damals hier im Bundestag geführt haben.Was hat sich in dieser Zeit verändert? Was ist passiert?Noch vor wenigen Wochen und Tagen haben wir im Agrar-ausschuss primär über zusätzliche Hilfen für Landwirt-schaft und Gartenbau, für die Unterglasbetriebe, für dieorkangeschädigten Waldbauern, für die trockenheitge-schädigten ostdeutschen Bauern, für die gesamte Land-wirtschaft, die beim Agrardiesel eine größere finanzielleUnterstützung braucht, debattiert. Wenn ich mir die Ände-rungsanträge der Opposition zum Agrarhaushalt anschaue,stelle ich fest, dass sich die darin enthaltenen Forderungenauf 1,6 Milliarden DM zusätzlich zu dem Betrag, den wirim Haushalt haben, summieren.Ich glaube, dass dies das ganze Dilemma der Agrarpo-litik in den letzten Wochen, Monaten und Jahren wider-spiegelt. Wir haben darüber gesprochen, dass immerversucht worden ist, die systematischen Mängel der Land-wirtschaftspolitik im Nachhinein mit zusätzlichen Zu-schüssen in Milliardenhöhe auszugleichen, und dass dasnicht mehr geht. Das hat die Debatte über die Sanierungdes Haushaltes gezeigt und das hat uns in der letztenWoche in erschreckender Weise und, wenn auch geahntund erwartet, sehr plötzlich die BSE-Diskussion vor Au-gen geführt.Wir haben im Haushalt 2001 positive Akzente für einesozialorientierte und umweltorientierte Politik setzen kön-nen.
Der Sozialetat steigt – ich möchte das noch einmal beto-nen – um 332 Millionen DM an. Das heißt: Wir haben diesozialorientierte Politik, die auch früher schon in Deutsch-land stattgefunden hat, fortgeführt.
Das heißt nicht, dass sie unverändert, so, wie sie in denletzten Jahren von der CDU/CSU/F.D.P.-Bundesregierungbetrieben worden ist, fortgeführt werden konnte. Aber dasheißt, dass sie nach wie vor den Schwerpunkt ausmachtund wir den landwirtschaftlichen Betrieben soziale Si-cherheit geben.Wir haben im Haushalt 2001 umweltorientierte Ak-zente setzen können. Hätten wir den Haushalt von vorn-herein im Lichte der BSE-Diskussion, wie sie heute statt-findet, diskutiert, wären diese Akzente stärker ausgefallen.Aber die Ansätze in diesem Haushalt sind dennoch sehrpositiv. Das betrifft die Gemeinschaftsaufgabe, in der auchfür den ökologischen Landbau wesentlich bessere Förder-kriterien enthalten sind. Das betrifft Modellprojekte, dieZukunftsperspektiven für Arbeitsplätze im ländlichenRaum entwickeln. Das betrifft auch einen sehr aktuellenund wichtigen Punkt: die Verbraucheraufklärung und -in-formation, die deutlich verbessert wird, vor allem inhalt-lich. Reaktionen seitens der Verbraucherinformation inDeutschland auf die erste BSE-Krise mit Plakaten, auf de-nen junge Menschen in – ich nenne es einmal so – attrak-tiver Weise mit dem Motto „Esst mehr Fleisch“ dargestelltworden sind, gibt es heute nicht mehr.
Herr Ronsöhr hat in seinem Debattenbeitrag ausgeführt– Herr Ronsöhr, ich sehe, Sie haben im Moment wichti-gere Dinge zu erledigen; vielleicht hören Sie mir trotzdemzu –, dass es legal gewesen ist, in Deutschland Tiermehl,das als Hauptverursacher für die derzeitige BSE-Krise gilt,zu verfüttern. Sie haben Recht: Das ist legal gewesen.Trotzdem war es falsch; das ist der springende Punkt.
Was, wie ich meine, in der Landwirtschaftspolitik dervergangenen Jahrzehnte systemimmanent grundfalschwar, ist: Man hat sich grundsätzlich nicht an den Verbrau-cherinteressen orientiert. Vielmehr standen ökonomischeInteressen im Vordergrund. Aber die BSE-Krise zeigt, dasses sogar ökonomisch falsch gewesen ist, so zu handeln. ImRahmen der BSE-Krise kommen Folgekosten auf uns zu,deren Höhe im Moment niemand beziffern kann.Ich halte es derzeit wirklich nicht für vordringlich, überökonomische Hilfen für Bauern zu sprechen. Natürlichmüssen wir auch darüber sprechen, aber jetzt ist es dasWichtigste, Sofortmaßnahmen zu ergreifen, wie wir diesin dem heute vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zumVerbot der Verfütterung von Tiermehl vorsehen und wiewir dies mit der flächendeckenden Einführung von BSE-Tests tun. Darum müssen wir uns momentan zuallererstkümmern. Wir müssen zudem darangehen, die Verbrau-cher zu informieren und ein deutliches Signal zu setzen– ich bin dem Bundeskanzler dafür dankbar, dass er dies
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Marita Sehn13436
gestern von seiner Seite aus getan hat –, dass es in Zukunfteine andere Form von Landwirtschaftspolitik geben muss.Diese muss sich sehr viel stärker und strikter an den Ver-braucherinteressen orientieren.
Ich möchte dies gemeinsam mit der Opposition tun. Wirhaben ja, was das Verbot der Verfütterung von Tiermehlanbetrifft, im zuständigen Ausschuss und auch heute hierim Parlament schon ein Stück Gemeinsamkeit erzielt.Denn es geht nicht darum, die Landwirtschaftspolitik, dieanders werden soll, gegen die Landwirtschaft und die Bau-ern auszurichten; das ist wirklich überhaupt nicht beab-sichtigt. Es geht vielmehr darum, dies im Interesse derBauern zu tun. Denn die sind neben den Verbrauchern dieLeidtragenden der momentanen Diskussion.
Es geht darum, von industrialisierten Formen der Land-wirtschaft wegzukommen.
Es geht nicht darum, eine Diskussion über große undkleine Betriebe zu führen – das sollten die letzten Wochendoch gezeigt haben –, also nicht darum, dass die Politikvorschreibt, wie viel Hektar Land ein Betrieb umfassenmuss. Es geht vielmehr darum, darüber nachzudenken,nach welchen kontrollierbaren und für die Verbrauchernachvollziehbaren Qualitätskriterien in großen bzw. klei-nen bäuerlichen bzw. nicht bäuerlichen Betrieben Land-wirtschaft praktiziert werden soll.Es geht darum, von industriellen Formen, die sich bei-spielsweise im Rahmen der Käfighaltung von Legehennen– das ist ein gutes Beispiel; ich glaube, Sie können mir zu-stimmen, dass das industrielle Landwirtschaft ist – mani-festiert haben, wegzukommen, also von der flächenunge-bundenen Tierhaltung, bei der Tiere ohne Auslauf, ohneWeidehaltung und ohne eigene Futterflächen in industriel-len Fabriken gehalten werden. Herr Ronsöhr, dies gibt esnicht nur in Ostdeutschland. Das gibt es auch ganz massivin dem Land, aus dem Sie kommen, nämlich in Nieder-sachsen.
Wir müssen zu einer artgerechten, transparenten undkontrollierbaren Form von Landwirtschaft kommen. Derökologische Landbau gehört aus meiner Sicht in diesemZusammenhang an die Spitze. Dies können wir nichtdurch ideologische Diskussionen und im Kontra zur kon-ventionellen Landwirtschaft erreichen, sondern dadurch,dass wir, wie Bauernpräsident Sonnleitner das schon vorzwei Jahren getan hat – in diesem Punkt stimme ich ihmvoll zu –, den ökologischen Landbau als Vorbild für die ge-samte Landwirtschaft in Deutschland begreifen. Das istdas, was der ökologische Landbau leistet und schon ge-leistet hat.Ich bedanke mich.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! BSE hat die angeblich heile deutscheWelt wie ein Kartenhaus zusammenbrechen lassen. DasVertrauen in die Landwirtschaft ist gebrochen. Landwirteund Verbraucher sind verunsichert. Viele stehen vor demRuin.Auch wenn gegenwärtig noch vieles im Dunkeln liegt,ist zumindest eines klar: Wir haben es hier keineswegs nurmit einem landwirtschaftlichen, sondern mit einem zu-tiefst gesellschaftlichen Problem zu tun.
Ich meine damit zum einen, dass die Bauern unter denZwängen der Konkurrenz liberalisierter Märkte immer bil-liger produzieren müssen, um ihre Existenz zu sichern.Hieraus resultieren, wie wir alle wissen, eben nicht bloßpositive Wirkungen auf die landwirtschaftliche Erzeu-gung. Zum anderen will ein Großteil der Verbraucher Le-bensmittel billig kaufen. Das hat viel damit zu tun, dass dieVerlockungen des Konsums angesichts der Fülle von in-dustriellen Konsumgütern und Dienstleistungsangebotenimmer größer werden. Die Befriedigung eines mit massi-ver Werbung manipulierten Kaufrausches erfolgt oft mitdem Geld, das man bei der Ernährung einsparen zu kön-nen glaubt.Ich meine, einige Wertevorstellungen werden immerfragwürdiger. Die Mechanismen dieser Gesellschaftgehören deshalb auf den Prüfstand. Die Bewältigung derBSE-Krise darf also nicht nur auf veterinärmedizinischeund technisch-organisatorische Konsequenzen beschränktbleiben. Was wir brauchen, ist eine sachliche Debatte umnotwendige Veränderungen bei der Art und Weise derAgrarproduktion, damit wir zu einer tatsächlich zukunfts-fähigen Produktionsweise gelangen.
Das korrespondiert mit der Frage nach einem neuenErnährungsbewusstsein und -verhalten in der ganzenBreite der Bevölkerung.Der heute vorliegende Gesetzentwurf macht michnicht unbedingt glücklich. Er erscheint, so sollte man ehr-lich sagen, wie ein Kind aktionistischer Hilflosigkeit.
Trotzdem steht außer Frage, dass auch meine Fraktion ihmzustimmen wird. Erst dann zu handeln, wenn die vielenoffenen Fragen wissenschaftlich beantwortet sind, wärenicht zu verantworten. Schließlich geht es um dieWiederherstellung des Vertrauens der Menschen in dieLandwirtschaft. Gerade das ist jetzt besonders wichtig.
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Steffi Lemke13437
Allerdings sollte allen klar sein, dass diese Entschei-dung einen ganzen Rattenschwanz von Problemen nachsich zieht, die gelöst werden müssen. Ich erwarte von derBundesregierung, dass sie bald erklärt, mit welcher finan-ziellen Unterstützung die Betriebe mit Rinderhaltungüberhaupt rechnen können.
Es reicht mir nämlich nicht, dass Sie, Herr Bundesminis-ter Funke, eine finanzielle Beteiligung des Bundes für er-forderlich halten. Sie waren schließlich auch für 47 Pfen-nig beim Agrardiesel und haben sich, bei allem Respekt,nicht durchsetzen können.Einigkeit sollte darin bestehen, dass es nicht angeht,dass die Landwirte den Erlöseinbruch durch den stark re-duzierten Schlachtrinderabsatz und sinkende Erzeuger-preise sowie die Mehrkosten durch längere Haltung undUmstellung des Futterregimes infolge des Tiermehlver-bots allein tragen. Handlungsbedarf sehe ich auch hin-sichtlich der Kostentragungspflicht für die Tierkörperbe-seitigung; hier ist eine Änderung der derzeitigenRechtslage nötig. Es wird nicht gehen, die Länder, Kom-munen und Landwirte mit den enormen Mehrkosten alleinzu lassen. Hier ist ein Bundeszuschuss dringend erforder-lich.
Leider wurde ein solcher im Ausschuss nur sehr vage inAussicht gestellt.Zu meinen Erwartungen an die Bundesregierung gehörtdes Weiteren, dass eine Konzeption zur Sicherung pflanz-licher Eiweißfuttermittel mit Schwerpunkt beim Ausbauder einheimischen Futterpflanzenproduktion, und zwarauch auf derzeitigen Stilllegungsflächen, erarbeitet wird.Ein Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zu die-ser Problematik überraschte uns heute positiv. Ich wertediesen Entschließungsantrag als einen Schritt in die rich-tige Richtung. Er gibt mir die Hoffnung, dass Gen-Soja so-wohl aus eigener Produktion als auch aus Importen keinenZugang in die Tierfütterung finden wird.
Zu meinen Erwartungen gehört außerdem, dass dasBundeslandwirtschaftsministerium in der Dezember-Sit-zung des Planungsausschusses für Agrarstruktur und Küs-tenschutz für eine vorrangige Förderung des ökologischenLandbaus und der Erzeugung von Biofleisch bis hin zumAbsatz eintritt, dass die Forschung zum Komplex BSE undCreutzfeldt-Jakob-Krankheit intensiviert und die dafür er-forderlichen Mittel im Haushalt etatisiert werden undschließlich, dass sich die Regierung nachdrücklich dafüreinsetzt, dass die BSE-Problematik auf die Tagesordnun-gen des EU-Gipfels in Nizza und der Verhandlungen mitden EU-Beitrittskandidaten kommt.
Auf höchster Ebene, also durch die Regierungschefs, mussein europaeinheitliches Herangehen an die nicht vor na-tionalen Grenzen Halt machende BSE abgesichert werden.Wem der Verbraucherschutz und das Vorsorgeprinzipernst sind, der muss erstens dafür sorgen, dass die Bedin-gungen für flächendeckende BSE-Tests schnell geschaf-fen werden, um in Erfahrung zu bringen, wie groß die Zahlinfizierter Rinder in Deutschland tatsächlich ist. Zweitensmüssen Importe von Fleisch und Fleischerzeugnissen ausDrittländern, die Tiermehl verfüttern und keine BSE-Testsdurchführen, ausgeschlossen werden. Das gehört zur Lo-gik des Gesetzentwurfs.
Ich komme nunmehr zum Haushalt 2001. Hierzu liegtIhnen ein Änderungsantrag meiner Fraktion vor: Erstenswollen wir, dass die Zuschüsse zur landwirtschaftlichenUnfallversicherung um 100 Millionen DM aufgestocktwerden. Das soll eine Teilentlastung der Landwirte bei denBeiträgen ermöglichen, was Sie, Kollegin Hoffmann, alsabsurd bezeichnen.
Wir solidarisieren uns mit dem Bauernverband hinsicht-lich seines gerechtfertigten Verlangens nach gleichwerti-gen Bedingungen bei der Unfallversicherung wie imHandwerk und der übrigen mittelständischen Wirtschaft.
Zweitens geht es uns um die Erhöhung des Bundesan-teils an der Gemeinschaftsaufgabe um gleichfalls100 Millionen DM, weil insbesondere die Altver-pflichtungen mit derzeit rund 58 Prozent so hoch sind, wiedies in den letzten zehn Jahren nur einmal der Fall war.Damit könnte der nach Ländern sehr differenzierte An-tragsstau bei der Investitionsförderung der Betriebe undDorferneuerung abgebaut werden.Die Finanzierbarkeit des Antrags ist gegeben, wenn Sieunserem Ansinnen folgen und die für die Beschaffung desschlicht überflüssigen Waffensystems Eurofighter 2000vorgesehenen Mittel, das bekanntlich noch teurer werdensoll, als im Entwurf des Verteidigungshaushalts steht,dafür und für andere sinnvolle Verwendungen umschich-ten.Es ist schon makaber, dass es bisher am politischen Wil-len für die Einordnung der finanziellen Mittel für eine großangelegte BSE-Forschung gefehlt hat. Dies geschah trotzder Bedrohung durch BSE, die durch die Ereignisse inEngland längst eine sehr reale ist, während die so genanntemilitärische Bedrohung wohl eher ein Phantom ist, um derRüstungsindustrie ihre Profite mithilfe von Steuergeldernzu sichern und für eventuelle militärische Aus-einandersetzungen um Rohstoffe fit zu sein. Das sind fi-nanzielle Mätzchen, werte Kollegin Hoffmann, und ver-hindern die Aufstockung der Mittel für die GA.
Als positiv werte ich den Antrag der Koalitionsfraktio-nen für ein Hilfsprogramm zur Sicherung der Liquiditätvon Unterglasgartenbaubetrieben, auch wenn dessen fi-nanzielle Ausstattung mehr als dürftig ist. Erwähnenswertist allerdings, dass die Koalition damit die Intention unse-res früher gestellten Antrages zur Einrichtung eines Bund-Länder-Nothilfefonds aufgegriffen und kreativ umge-schrieben hat.
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Steffi Lemke13438
Abschließend möchte ich Ihnen, Herr Minister Funke,Folgendes mit auf den Weg geben: Kluge Regierungen ha-ben immer für zufriedene Bauern und Verbraucher ge-sorgt. Das sollte auch diese Bundesregierung beherzigen.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesminister Karl-Heinz Funke.
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst auf ei-
nige Punkte eingehen, die in der Debatte schon eine Rolle
gespielt haben, insbesondere im Zusammenhang mit dem
Gesetz über das Verbot des Verfütterns und der Ausfuhr
bestimmter Futtermittel.
Herr Ronsöhr, Sie haben erwähnt, ich hätte im Aus-
schuss auf die Frage einer Bundestagsabgeordneten – ich
dachte, es sei Frau Lemke gewesen, aber vielleicht irre ich
mich –, ob es Erkenntnisse über die Infektion über die Bö-
den gebe, geantwortet: Da gibt es nichts. – Das stimmt
nicht. Ich habe gesagt: Es gibt keine Erkenntnisse über
eine Reinfektion über die Böden. Exakt so habe ich es for-
muliert. Das ist etwas völlig anderes, als wenn man den
Satz in einer Weise ausspricht, die assoziiert, man habe nie
davon gehört oder kenne es nicht.
Lassen Sie mich noch etwas dazu sagen. Über das Gut-
achten des Wissenschaftlichen Beirates beim Umweltmi-
nisterium – insoweit ist die Diskussion überhaupt nicht
neu – haben der Kollege Trittin und ich – ich glaube, es
war im Mai oder Juni 2000; das genaue Datum könnte ich
feststellen – bei einer Veranstaltung des Deutschen Bau-
ernverbandes mit deren Vertretern diskutiert. Dabei ging
es im Übrigen auch um den Einsatz von Antibiotika. Wir
wissen: Die im Gutachten geäußerte Auffassung wird dort
selbst als theoretisch deklariert.
Wir sind damals gebeten worden – lassen Sie mich das
noch zu Ende führen, Herr Carstensen –, Flächen, wenn
vorhanden, für Forschungszwecke zur Verfügung zu stel-
len. Das werden wir jetzt machen. Bisher hatten wir keine
Flächen in Deutschland, die wir dafür zur Verfügung hät-
ten stellen können. Wir werden jetzt Flächen zur Verfü-
gung stellen, damit dort Forschung betrieben werden
kann. Ich weiß überhaupt nicht, was eine solche Behaup-
tung in einer solchen Debatte, in der es um Sachlichkeit
und Fairness geht, eigentlich soll.
Herr
Minister Funke, können Sie vielleicht etwas zu einer Pres-
semitteilung sagen, die mir heute oder gestern auf den
Tisch gekommen ist –
– das spielt, glaube ich, keine große Rolle –, in der einer –
ich glaube sogar, der Chef dieser Expertengruppe – darauf
hingewiesen hat, dass er schon im Februar ernsthaft und
sehr real auf Gefahren in diesem Punkt hingewiesen hat,
und in der er auch gesagt hat, es sei, obwohl er auf diese
Gefahr ernsthaft hingewiesen habe, seitdem weder aus
Ihrem Hause noch aus dem Hause der Gesundheitsminis-
terin eine Antwort gekommen?
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Entschuldigung, soweit ich
die Pressemitteilung kenne, geht es darum, dass er Flä-
chen, von denen eine BSE-Gefährdung ausgeht, gefordert
hat, die er untersuchen kann. Diese Flächen standen nach-
weislich bisher nun einmal nicht zur Verfügung. Deswe-
gen konnten wir bisher auf diese Aufforderung nicht rea-
gieren, was wir jetzt selbstverständlich tun werden.
Ansonsten kenne ich den Inhalt der Presseerklärung
nicht. Sie können sie mir ja zugänglich machen, damit ich
sehe, ob darin noch andere Forderungen enthalten sind.
Wir haben über diese Problematik sehr offen diskutiert.
Warum auch nicht?
– Herr Hornung sagt jetzt, wir können nicht Millionen
Hektar unter Quarantäne stellen. In Ordnung, ich will das
nicht kommentieren.
Gleichzeitig gehen wissenschaftliche Analysen, basie-
rend auf Erfahrungen in Großbritannien, bisher eindeutig
davon aus, dass es diese Reinfektionen nicht gibt. Genau
das habe ich im Ausschuss gesagt und gemeint, meine Da-
men und Herren. Das ist so, etwas anderes kann ich nicht
behaupten.
Herr Minister,
gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Gerne.
Herr Minis-ter, können Sie bestätigen, dass ich Sie gestern im Aus-schuss gefragt habe, ob die Bundesregierung bei dem Be-trieb in Schleswig-Holstein, in dem das BSE-Rind auf-gefallen ist, Quarantänemaßnahmen aufgrund des Bun-desbodenschutzberichtes der Bundesregierung und auf-grund der Befunde der Wissenschaftler zur Übertragungder BSE-Erreger über Weideflächen plant, und dass Siemir auf diese Frage keine Antwort gegeben haben?
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Steffi Lemke13439
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Entschuldigung, ich erinneremich wirklich überhaupt nicht an diese Frage im Aus-schuss. Die haben Sie jetzt formuliert.
Ich müsste mal einige Kollegen fragen, die dabei gewesensind.
Die Formulierung Ihrer Frage entnehmen Sie jetzt einerPressemitteilung unseres Hauses, in der genau das in etwasteht.
– Es ist wirklich sehr merkwürdig, was da jetzt läuft. Wiegesagt, wir haben schon im Mai/Juni darüber diskutiert.Meine Damen und Herren, ich will ein paar Punkte an-sprechen. Natürlich wird jetzt die Agrarpolitik insgesamtinfrage gestellt.
Darüber findet eine breite Diskussion statt. Es wird überdie Art unserer Ernährung nachgedacht. Mir scheint, wis-senschaftlicher Rat ist mehr denn je notwendig, um auf diedamit verbundenen Fragen Antworten zu finden – auchdann, wenn der Politik und den Politikern – mir ja auchinsbesondere – Versagen vorgeworfen wird. Allerdingskann ich bei dem einen oder anderen Vorwurf, insbeson-dere auch an meine Adresse, nicht umhin zu sagen: Heuch-ler.
Nun verfolge ich ja diese Diskussion – den Vorteil habeich – schon seit längerem, damals noch als niedersächsi-scher Landwirtschaftsminister in Zusammenarbeit mitdem Kollegen Seehofer. Ich habe mir das eine oder anderenoch einmal heraussuchen lassen.Seehofer und ich waren uns damals – er hat mir das imÜbrigen auch bestätigt – in vielen Dingen wie der Beur-teilung der Situation und den zu ergreifenden Maßnahmendurchaus einig. Deswegen mache ich auch keine Schuld-zuweisungen.Das kommt bei mir überhaupt nicht infrage,weil ich vor mir selber noch bestehen und noch in denSpiegel gucken will. Ich mache es nicht und ich habe esbisher auch nicht getan.
Ich richte weder an die Kommission in Brüssel noch an dievorherige Regierung Schuldzuweisungen. Sonst hätte icheinen abendfüllenden Zitatenschatz, meine Damen undHerren.
Ich könnte hier fragen, was denn davon zu halten ist,wenn uns Ministerpräsident Stoiber vorwirft, wir würdenden Verbraucherschutz hintenanstellen, wirtschaftliche In-teressen hätten Vorrang. Dass ausgerechnet Stoiber mirbzw. einer rot-grünen Regierung vorwirft, bei uns kämenwirtschaftliche Interessen vor dem Verbraucherschutz, istschon eine seltsame Umkehrung der parteipolitischen Po-sitionen. Aber wie gesagt, darauf möchte ich gar nicht ein-gehen.
Ich habe mich damals gewundert – ich wurde eben da-rauf hingewiesen; die „Süddeutsche Zeitung“ soll mittler-weile das eine oder andere aufgearbeitet haben –, als unsganz bestimmte Bundesländer, die im Süden derBundesrepublik Deutschland liegen und deren Namen ichnicht nennen möchte, in der Vergangenheit aufgeforderthaben, Klage zu erheben, wenn europäische Richtlinien,insbesondere diejenigen zum Schutz vor BSE, umgesetztwerden müssten. Das scheinen diese Bundesländer völligvergessen zu haben. Soll ich das Abstimmungsverhaltendieser Bundesländer in manchen Ausschüssen des Bun-desrates publik machen? Nein, das tue ich alles nicht; dasmöchte ich nicht.
– Frau Kollegin, wenn es mir irgendwann zu dumm wird,dann werde ich das vielleicht machen.Ich bekenne mich dazu, gesagt zu haben: DeutschesRindfleisch ist sicher, Deutschland ist BSE-frei.
– Natürlich, Herr Kollege Carstensen, ich bekenne michauch dazu. Nur eines vermeide ich, nämlich heuchlerischzu werden und so zu tun, als hätte ich das alles überhauptnicht gesagt. Das ist der entscheidende Punkt.
Ich weiß nicht, ob man mir deshalb Versagen und Ver-säumnisse vorwerfen kann. Ich habe das alles vor demHintergrund ganz bestimmter Erkenntnisse gesagt, wie si-cherlich all jene, die das auch gesagt haben. Ich unterstelleihnen nicht das, was Sie mir unterstellt haben. Deshalbwünsche ich mir, dass Sie mir das auch nicht unterstellen.Andere haben gesagt: „Setzt das nicht zu schnell um,die Bundesregierung soll erst einmal klagen“, und habengleich die Zahlen dabei gehabt, anhand derer sie belegenkonnten, wie hoch die Landwirtschaft durch die Umset-zung der europäischen Richtlinie belastet wird. So siehtder Sachverhalt aus. Sie haben mich enttäuscht. Aber da-mit musste ich vielleicht rechnen. Aber das bringt michnicht dazu – ich will ja vor mir selber bestehen –, dieSchuld Brüssel in die Schuhe zu schieben. Zu Brüssel
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könnte ich auch einiges sagen. Aber das mache ich auchnicht.Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch das, wasim Vorwort des F.D.P.-Antrages steht. Über die dort auf-gelisteten Maßnahmen können wir selbstverständlich re-den, zum Beispiel über die Schnelltests. Im Übrigen weißich nicht, worin der Widerspruch zwischen dem, was ichin den verschiedenen Ausschüssen gesagt haben, bestehensoll. Ich habe auch im Gesundheitsausschuss zu denSchnelltests Stellung genommen und gesagt, dass wir eineflächendeckende Testung wollen und dass die Tests mög-lichst schnell verbessert werden müssen, um entspre-chende Erkenntnisse zu bekommen. Ich habe dies – daskann man nachlesen – auch so im Agrarrat gefordert, weildie Frage der Testung im Hinblick auf das Vertrauen derVerbraucher ganz entscheidend ist. Nur über die Tests lässtsich das Vertrauen wieder herstellen. Deshalb müssen wirdie Test weiter verbessern; denn je besser die Tests sind,desto aussagekräftiger sind die Ergebnisse.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Ja, gerne.
Herr Minister Funke, Sie ha-ben sich gerade wieder für die Durchführung von Testsausgesprochen. Sie sind wie ich darüber informiert, dasseine große Zahl an Tests – ich glaube, es waren 16 000 –auf freiwilliger Basis durchgeführt worden sind. Das istbeachtlich. Warum hat die Bundesregierung angesichts dergroßen Bereitschaft nicht schon früher eine flächen-deckende Testung durchgesetzt bzw. wenigstens Ge-spräche darüber geführt?
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Herr Heinrich, darauf kannich sehr sachlich und sehr nüchtern antworten: Die Tests,die vor allem in der Schweiz weiterentwickelt wurden,sind erst seit Mitte 1999 von der EU evaluiert und als sol-che anerkannt worden. Seitdem werden sie durchgeführtund weiterentwickelt. Die Position der Bundesregierungwar allerdings – offensichtlich ist das auch Ihre Position,wie aus dem Antrag, den Sie gestellt haben, hervorgeht –,dass solche Tests im Grunde genommen europaweitdurchgeführt werden müssen, weil sie ansonsten in einemgemeinsamen Markt ohne Grenzen wenig Wert im Hin-blick auf die Sicherheit der Verbraucher haben. Genau umdiesen Punkt ist es uns immer gegangen, um nichts ande-res.
Im Vorwort Ihres Entschließungsantrages steht – soläuft das manchmal –, das Exportverbot gegen Großbri-tannien sei 1999 unter deutscher Präsidentschaft aufge-hoben worden.
– Nein, es ist falsch, aber so wird gearbeitet. Ich erinneremich deshalb noch sehr genau, weil es bei meiner erstenTeilnahme als zuständiger Bundesminister am Agrarratwar. Es war übrigens unter österreichischer Präsident-schaft.Jetzt könnte ich allenfalls sagen – das tue ich aber nicht –,mein Vorgänger habe versäumt, Mehrheiten dafür zuschaffen. Es wäre falsch, das zu sagen. Ich tue es auchnicht. Denn die Kriterien, die letztlich für die anderen Na-tionalstaaten ausschlaggebend dafür waren, das Export-verbot aufzuheben, hatten die Regierungschefs aller EU-Mitgliedstaaten zuvor in Florenz festgelegt. Das lief nacheinem ganz bestimmten Verfahren ab. Wenn die Kommis-sion sozusagen grünes Licht gegeben hätte, sollte derAgrarrat auf Vorschlag der Kommission zustimmen. – Soist es damals gewesen.Ich würde also meinem Vorgänger niemals sagen: Dashast du alles versäumt. Ich habe trotzdem – so lautete imÜbrigen auch das Votum des Deutschen Bundestages – da-gegen gestimmt, meine Damen und Herren, weil wir Ver-braucherschutz und Gesundheitsschutz höher stellen.
So war es und der Kollege Borchert wird das bestätigen.Ihm wäre es – davon bin ich überzeugt – in der Agrarrats-sitzung – ich glaube, sie war im November oder im De-zember des Jahres 1998 – genauso gegangen.Da stelle ich mich also nicht hin und sage: Mein Vor-gänger hat es versäumt, für Mehrheiten zu sorgen; deswe-gen haben wir das nicht hinbekommen. Das wäre billigund ich täte ihm unrecht, wenn ich das sagte. Ich werde dasauch nicht tun.Herr Kollege Heinrich, wenn Sie jetzt davon sprechen,Sie seien für eine offene Deklaration von Futtermitteln,so ist dies nun eine Sache, von der ich zufällig weiß, ohneMitglied des Deutschen Bundestages oder Mitglied dieserRegierung gewesen sein zu müssen, dass es hierüber im-mer Diskussionen gegeben hat und wie die Auffassung derjeweiligen Beteiligten war. Nun können Sie sagen, Sieseien als Fraktion immer dagegen oder dafür gewesen, of-fen zu deklarieren, und die CDU/CSU habe das immer ab-gelehnt. Mag sein.
Koalitionsinterna kenne ich nicht. Aber wenn Sie sichganz heimlich für die vorausgegangenen Jahre aus derRegierungsverantwortung verabschieden und sagen, dasmüsse aber nun endlich kommen, und den Eindruck er-wecken, dass die gegenwärtige Bundesregierung dies ver-säumt habe, so kann man das nicht zulassen, Herr KollegeHeinrich.
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Bundesminister Karl-Heinz Funke13441
Nun sage ich Ihnen eindeutig: Ich bin für die offeneDeklaration und ich weiß, dass die SPD auch immer dafürwar. Also sind wir gemeinsam dafür. Jetzt so zu tun, alsseien die einen die Schlimmen und Sie die Guten – nein,meine Damen und Herren, so ist die Diskussion um dieseFragen von Verbraucherschutz und Gesundheitsschutz inder Vergangenheit niemals geführt worden und deshalbkann man sie auch jetzt nicht mitmachen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will dazunoch eine Bemerkung machen, weil in diesem Zusam-menhang Agrarstruktur und Agrarpolitik angesprochenworden sind. Ich habe mir von vielen Seiten genug Kritikangehört, im Übrigen aus allen Parteien, auch aus der ei-genen, weil ich immer für bäuerliche Strukturen in derLandwirtschaft eingetreten bin. Aber da bin ich Überzeu-gungstäter. Da habe ich meine Einstellung. Ich werde im-mer für bäuerliche Strukturen sein, eingedenk der Tatsa-che, dass wir auch andere Strukturen haben. Ich bewertedas auch nicht, indem ich sage, das eine sei alles gut unddas andere sei alles schlecht. Würde man dies tun, so hieltees auch der Wirklichkeit nicht stand.Ich könnte jetzt aufzählen, welche Vorlagen ich imLaufe der Zeit gemacht habe, die damals noch abgelehntworden sind. Das will ich aber auch nicht tun. Das bringtim Grunde auch überhaupt nichts. Wenn jetzt jemand sotut, als gebe es auf dieser Welt auch in der Agrarpolitikweder Liberalisierung noch Globalisierung – das geht inmehrere Richtungen, meine Damen und Herren, weil ichnicht will, dass man mir irgendwann sagt: Das hättest duja auch einmal sagen können –, so kann ich das nicht nach-vollziehen. Wir brauchen Spezialisierung, wir brauchenRationalisierung, um mit dieser Globalisierung und Libe-ralisierung fertig zu werden. Ob ich die Liberalisierungimmer gut finde, ist etwas völlig anderes. Ich nehme sie alsRealität.
– Jetzt sind wir wieder bei dem Thema. Gut, wenn wir in-soweit wenigstens einig sind. – Wenn ich die Realitätwahrnehme, kann ich nicht den Eindruck erwecken, alskönnte ich Europas Grenzen dichtmachen und die Land-wirtschaft, die wir hier haben, alleine strukturell fest-schreiben. Das können wir nicht. Wenn ich das sagenwürde, würde ich meiner Verantwortung gegenüber dendeutschen Bauern nicht gerecht, weil das mit Realitätüberhaupt nichts zu tun hat.
Das sage ich an alle, die glauben, wir könnten gewisseidyllische Züge kennzeichnen.
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meinolf
Michels?
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Ich gestatte eigentlich immer
Zwischenfragen. Es macht mir Freude, darauf zu antwor-
ten.
Herr Minister, Sie sag-ten gerade, wir könnten die Grenzen nicht dicht machen.Können die deutschen Verbraucher, wenn wir heute Abenddas Gesetz beschließen, das Vorgaben für die Fleisch-produktion in Deutschland enthält, davon ausgehen, dasskein anders produziertes Fleisch aus EU-Ländern oderDrittländern auf deutschen Frühstückstischen landet?
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Herr Kollege Michels, bevorich zu Ihrer Frage komme, möchte ich noch einen Satz zudem sagen, was ich vorher gesagt habe. Ich bin sehr dank-bar dafür, dass wir in der durch den BSE-Fall ausgelöstenDebatte jetzt über Vertrauen der Verbraucher in die Land-wirtschaft und auch darüber reden, dass dann, wenn wirbäuerliche Landwirtschaft haben wollen, für deren Er-zeugnisse auch entsprechende Preise auf dem Markt be-zahlt werden müssen, damit die Landwirte entsprechendGeld für ihre Produkte bekommen und ihre Betriebe wei-ter führen können. Hier und da lese und höre ich durchausetwas anderes. Es muss klar sein, dass die Preisfrage zudiesem Komplex dazugehört.Auf Ihre Frage möchte ich Folgendes antworten: Ichhabe prüfen lassen, ob wir im Rahmen unseres auf natio-naler Ebene beschlossenen Verbotes, Tiermehl in die Fut-terkette zu bringen, die Möglichkeit haben, Importe vonTieren, die mit Tiermehl gefüttert wurden, zu verbieten.Das ist rein rechtlich nicht möglich. Die einzige Grundlagehierfür wäre das Tierseuchengesetz. Diese Möglichkeitwurde schon juristisch geprüft, damit kommen wir abernicht zurecht. Im Übrigen habe ich mich deshalb auchschon vor einer Woche im Agrarrat dafür eingesetzt, dassman das Verbot, Tiermehl zu Futtermittelzwecken zu ver-arbeiten, auf europäischer Ebene umsetzen sollte. Europahätte nämlich dann die Möglichkeit, an den Außengrenzendes gemeinsamen Marktes die Importe zu kontrollieren.Ich bin ganz entschieden dafür – Gott sei Dank werden wirja darüber reden, Byrne und Fischler haben sich gesterndazu geäußert –, ein europaweites Verbot zu erlassen. Soentstehen erstens keine Wettbewerbsnachteile für die deut-sche Landwirtschaft und zweitens kann dabei über dieFrage der Importe
– das habe ich gerade gesagt, Herr Kollege Carstensen –geredet werden. Ich werde sehr darauf drängen, dass mei-ner Forderung, keine derartigen Importe aus Drittländernzuzulassen, stattgegeben wird.
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– Ich kann jetzt nicht alle Zurufe aufgreifen, weil ich sieschlichtweg akustisch nicht höre. Die beiden oben genann-ten Dinge gehören aber zusammen.Ich möchte noch etwas zu den Finanzen sagen. HeuteAbend spricht ja der Bundeskanzler mit den Ministerpräsi-denten über dieses Thema. Der Bund wird sich seiner Ver-antwortung für die Bereiche, für die er zuständig ist, nichtentziehen. Ich gehe davon aus, dass das auch für alle ande-ren gilt, auch für die Länder.
Wir haben – das möchte ich sehr offen sagen – noch keineexakten Zahlen, sodass wir noch nicht klar abschätzen kön-nen, wie viel Geld dafür nötig ist, um das umzusetzen.Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass eskeiner von uns weiß. Darum sind der Bundeskanzler, derFinanzminister und ich heute Nachmittag in einem Ge-spräch übereingekommen, dass eine Bund-Länder-Ar-beitsgruppe eingerichtet wird. Diese soll versuchen, alleFaktoren zu erfassen und zu quantifizieren, sodass dann aufdieser Basis dort über eine faire Lastenverteilung geredetwerden kann. Dies ist der einzig gangbare Weg, wenn manseriös bleiben will, anders geht es nicht. Ich bin dankbar,dass wir diese Absprache treffen konnten. Wenn man sichheute Abend schon einigt, ist das umso besser.Da meine Redezeit zu Ende geht, muss ich mich jetztbeeilen. Ich möchte noch kurz zum Agrarhaushalt und zurAgrarpolitik überleiten. In der durchaus aufgeheizten Dis-kussion der letzten Tage ist ein wichtiger Punkt unterge-gangen, den wir Sozialdemokraten immer für richtig undnotwendig gehalten haben und den ich immer so gut wiemöglich voranzubringen versucht habe, nämlich die ver-traglich gebundene Landwirtschaft. Das heißt, dass Ver-träge bestehen, angefangen bei der Art der Erzeugung überdie Futtermittelwerbung bis zur Ladentheke. Durch einesolche vertragliche Bindung wird alles wie auf einer glä-sernen Kette aufgereiht und kann nachvollzogen werden.Einer solchen Landwirtschaft gehört die Zukunft.
Es gibt in vielen Ländern Deutschlands diesbezügliche An-sätze. Entscheidend ist, dass dieses in Zukunft kommenwird.Abschließend, meine Damen und Herren, nur noch einSatz zu den Subventionen: Ich bitte diejenigen, die überSubventionen geredet haben, nachzusehen, wie Subventio-nen definiert sind.
Die Zeit ist vor-
bei.
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Selbstverständlich sind steu-
erliche Rahmenbedingungen dann keine Subventionen.
Darüber ist aber auch nie geredet worden.
Jetzt konnte ich nicht mehr viel zum Haushalt sagen,
aber angesichts des Themas, das auf den Nägeln brennt,
ist das vielleicht zu verantworten. Ich bitte um Verständ-
nis.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Josef Hollerith.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir denSaldo beim Einzelplan 10 ziehen, müssen wir feststellen,dass gerade mal 27 Millionen DM bewegt worden sind– 44 Millionen DM Kürzungen, 71 Millionen DM Er-höhungen –, und dies bei einem Gesamthaushalt von11 Milliarden DM und dies angesichts der existenziellenProbleme unserer Bauern in Deutschland.
Diese Zahl belegt, dass im Haushaltsausschuss ein Of-fenbarungseid der rot-grünen Mehrheit geleistet wurde.Sie dokumentiert die Verweigerung vor den existenziellenProblemen der Landwirtschaft in Deutschland.Ich bekenne mich ausdrücklich dazu, dass wir ange-sichts dieser Situation Anträge über rund 900 Milli-onen DM eingebracht haben, weil uns die Menschen, dieBauern, die bäuerlichen Familien, das flache Land, dieStrukturen dort am Herzen liegen.
Ich nehme das, was Sie über die Solidität der Finan-zierung gesagt haben, sehr ernst. Es ist eine Frage der Pri-oritäten. Es ist eine Frage, ob der Herr BundeskanzlerSchröder Schmiergeld in die Hand nimmt, um Länder zukaufen,
oder ob wir das Geld nehmen, um den berechtigten Be-langen der Landwirtschaft zu entsprechen.
Das ist die politische Frage, vor der wir stehen.
Wir haben Anträge gestellt, 200 Millionen DM für dieUnfallversicherung einzustellen, weil wir die alte Lastvom Bund abfinanziert haben wollen.
Es ist doch ein besonderes Zeichen der Qualität derrot-grünen Haushaltsberatung, dass gegen uns mitder Mehrheit von Rot-Grün 80 Millionen DM bei der
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Bundesminister Karl-Heinz Funke13443
Unfallversicherung gesperrt worden sind und bereitsheute die Entsperrungsvorlage der Bundesregierung inden Fächern liegt.Ich weiß schon, warum das so ist. Man hat gemerkt,dass in Rheinland-Pfalz im nächsten Jahr Landtagswah-len anstehen
und dass bei einer nicht erfolgten Entsperrung dieBeiträge vor der Landtagswahl raketenartig hätten erhöhtwerden müssen. Das ist keine solide Beratung des Haus-halts, die von Ihnen geleistet worden ist.
Sie haben sich unserem Antrag verweigert, den Unter-glasbetrieben wirksam zu helfen, und auch hier ist es jaklar, dass von den drei Gründen für die hohen Energie-preise zwei politisch von Ihnen, von der rot-grünen Mehr-heit zu verantworten sind. Die Steigerung der Energie-preise wird durch die Knappheit, durch den schwachenEuro – Energie wird in Euro fakturiert – und durch dieÖkosteuer verursacht.Es ist deswegen auch eine Frage der Gerechtigkeit,dass die Politik, wenn sie diese Verantwortung für die ho-hen Energiepreise hat, auch für Kompensation sorgt. Des-wegen haben wir unseren Antrag für die Unterglasbe-triebe gestellt.
Sie verweigern sich unserem Antrag zur Aufstockungder Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe. Wir wollen mitdem Antrag, 300 Millionen DM für BSE-Folgekosteneinzustellen, ein Signal der Bereitschaft setzen,
und ich bin froh und dankbar, dass hierzu offensichtlichauch mit den zuständigen Ministern der Länder eine großeKoalition der Vernunft auf dem Weg ist,
um den Bauern, die hier mit Milliardenverlusten unschul-dig in die Misere geraten sind, wirksam zu helfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Rot-Grüntraktiert die Bauern mit der Ökosteuer. Es ist ein beson-derer Widerspruch, dass man bei Rot-Grün in Bezug aufdie Ökosteuer offensichtlich bereit ist, in Europa im Al-leingang voranzugehen, man aber, wenn es um die Ge-sundheitsvorsorge der Menschen geht, auf Europa wartenwill.
Das ist eine besondere Widersprüchlichkeit. Sie schi-kanieren die Landwirtschaft mit den Kürzungen derGasölbeihilfe und mit der Erhöhung der Mineralölsteuer.In unserer Zeit zahlten die Bauern per Saldo 21 PfennigMineralölsteuer pro Liter Agrardiesel. Sie nehmen denBauern jetzt 57 Pfennig ab. Das ist ungerecht; denn dieBauern haben weniger Mineralölsteuern gezahlt, weil dieTraktoren und Mähdrescher eben nicht die Landstraße be-lasten, sondern weil sie die meiste Zeit auf den Feldernfahren. Deswegen haben die Bauern zu Recht wenigerMineralölsteuern gezahlt.
Ihr Haushalt wird den dramatischen Problemen derLandwirtschaft in Deutschland nicht gerecht. Die Bauernverdienen eine bessere Politik. Wir lehnen den Haushaltab.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Uli Höfken.
Sehrgeehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Zu Recht haben wir Grünen seit 20 Jahren auf einengrundlegenden Wechsel in der Agrarpolitik gedrängt. AmBeispiel von Herrn Hollerith sieht man, warum: Ihm klebtdas Esso-Schild auf der Stirn und weist ihn so als einenVorkämpfer für die Mineralölindustrie aus.
Wir aber setzen uns für die erneuerbaren Energien und fürdie Wettbewerbsfähigkeit von Pflanzenölen, also für Pro-dukte der Landwirtschaft, ein.In der BSE-Krise wird auf traurige Weise deutlich: DieIndustrialisierung der Agrarwirtschaft ist am Ende.Ich meine nicht den Betrieb in Schleswig-Holstein. Werkommt denn auf solch blödsinnige Ideen? Ich meine dieIndustrialisierung in der Futtermittelindustrie. Was istheute wieder passiert? In Rheinland-Pfalz wurde Tier-mehl in Kälberfutter gefunden.
Dieser Zwang zur Industrialisierung, diese Art derRohstoffproduktion, die zu den heutigen Strukturen ge-führt haben, legen den Schluss nahe: Diese Agrarwirt-schaft ist am Ende.
Nur eine Landwirtschaft, die Gesundheit und den Ver-braucherschutz in den Vordergrund stellt und gleicher-maßen Rücksicht auf die Natur und auf eine artgerechteHaltung der Tiere nimmt, hat Zukunft.
Hinsichtlich BSE stand Zögern, Zaudern und Ver-harmlosen viel zu lange auf der Tagesordnung der natio-nalen und internationalen Politik. Die Folge ist eineklammheimliche Ausbreitung der Rinderseuche. Unter
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Josef Hollerith13444
dem Strich kann man von einem maximalen Schaden fürVerbraucher und Erzeuger sprechen. Neben vielen ande-ren Schlussfolgerungen ist daraus auch die Schlussfolge-rung zu ziehen, dass die Ernährungspolitik und der Ver-braucherschutz eine stärkere Stellung in derLandwirtschaftspolitik bekommen sollten.
Wir haben seit vielen Jahren dutzendweise Anträge,Anfragen und Initiativen in den Bundestag und in das Eu-ropäische Parlament eingebracht, in denen wir konkreteVorschläge gemacht haben, wie die weitere Verbreitungvon BSE zu stoppen ist. Ich erinnere beispielsweise anden Antrag, den wir am 18. April 1996 eingebracht habenund in dem stand:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, ... die Verfütterung von Tiermehl an allelandwirtschaftlichen Nutztiere unverzüglich voll-ständig einzustellen und diese Forderung EU-weitumzusetzen.Am 13. Juni 1997 haben wir in einem Antrag explizit denAusschluss von Risikomaterialien gefordert. Das hat dieRegierung von CDU/CSU und F.D.P. aber abgelehnt.
Im Dezember 1999, also vor einem Jahr, haben wir aufeiner Anhörung „Futtermittel im Fokus“ konkrete Maß-nahmen für mehr Transparenz bei der Fleischetikettie-rung, die Umsetzung einer offenen Deklaration und dieHerausnahme von Tiermehlen aus der Futterkette formu-liert, und zwar in Anwesenheit von Vertretern der Futter-mittelindustrie, die diese Maßnahmen rundweg abgelehnthaben.
Unser Ziel war es immer, vernünftige Vorschläge zuformulieren und Lösungen zu finden, die Übergänge be-inhalten.
Jetzt, wo das notwendige Umsteuern zu lange herausge-zögert worden ist, helfen nur noch die Notbremse und eineschmerzhafte Radikalkur.Die Bundesregierung hat sehr schnell auf den erstenBSE-Fall bei einem deutschen Rind mit den BSE-Testsund mit der Herausnahme der Tiermehle aus der Futter-kette, was wir gemeinsam parteiübergreifend beschließenwerden, reagiert.
Das genügt aber nicht; denn weitere Maßnahmen müssenkurzfristig erfolgen.
Die Herkunftskennzeichnung muss erweitert werden.Auch das ist schon angesprochen worden.Alle geschlachteten Rinder müssen getestet werden.Das muss die langfristige Zielsetzung sein und dazu müs-sen die Länder in die Lage versetzt werden. Alle Futter-mittelbestandteile gehören deklariert. Herr Heinrich, ichkann mich erinnern, als die Präsidentin noch agrarpoliti-sche Sprecherin war, ist dieses einmal eine Initiative vonCSU und Grünen gewesen, die dann leider im Laufe derJahre wieder gestoppt wurde.
Es gibt weitere Maßnahmen und Notwendigkeiten, zumBeispiel bei der Forschung. Aber das wird der Kollege si-cherlich noch weiter ausführen.EU, Bund und Länder sind aufgefordert, die Umstel-lung auf den Anbau von Ersatzfuttermitteln und die Um-stellung der Tierkörperbeseitigungsanlagen mit Sofort-programmen zu fördern sowie die betroffenen Landwirtezu unterstützen. Da wird so verfahren, wie Minister Funkedas dargestellt hat. Die Koalitionsfraktionen haben dazuheute einen Entschließungsantrag eingebracht, mit demZiel, den Anbau von eiweißhaltigen Futtermittelpflan-zen auf Stilllegungsflächen zu ermöglichen. Das heißt,auf dem Agrarrat am nächsten Montag muss eine Öffnungin diesem Bereich erreicht und damit eine Perspektive fürdie Pflanzeneiweißversorgung eröffnet werden. Aberauch das reicht noch nicht aus.Nur mit einer radikalen Änderung der industriellenProduktionsweisen in der Agrarwirtschaft sind Ver-brauchersicherheit und -vertrauen zurückzugewinnen.Die Lebensmittelproduktion insgesamt muss dabei dasVorsorgeprinzip immer in den Vordergrund stellen.
Industrielle und zukunftsfähige Landwirtschaftschließen sich weitgehend aus. Die Produkte, die wirdurch diese Massenproduktion auf den Markt gebrachthaben, sind nicht wettbewerbsfähig, wie man jetzt sieht.Die Zukunft der Landwirtschaft muss auf vier Säulenstehen. Erstens: die Verstärkung der ökologischen Le-bensmittelerzeugung; wir werden in den nächsten Wo-chen einen konkreten Aktionsplan vorlegen. Zweitens:Marktorientierung und Verbraucherschutz; das beinhaltetauch die Durchsetzung erhöhter Erzeugerpreise und dieUmschichtung der Agrarförderung im Rahmen der Ge-meinschaftsaufgabe und der Agenda 2000. Drittens: art-gerechte Tierhaltung und gesunde Tierernährung. Vier-tens: erneuerbare Energien.Die Chancen, jetzt die richtigen Weichen zu stellen,stehen gut. Mit Andrea Fischer haben wir eine Ministerin,die die Interessen der Verbraucher durchsetzt.
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Ulrike Höfken13445
Bei der neuen Politik unterstützen wir auch Landwirt-schaftsminister Karl-Heinz Funke, von dem wir erwarten,dass er diese Neuausrichtung der Landwirtschaft mit allerKraft betreibt. Mit Gerhard Schröder haben wir erstmalseinen Bundeskanzler, der klipp und klar sagt: Die Zeit derAgrarfabriken ist zu Ende, Perspektive hat nur noch eineverbraucherfreundliche Landwirtschaft. Darin werdenwir diese Bundesregierung mit allen Möglichkeiten un-terstützen.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe leider Gottes nur
dreieinhalb Minuten.
Ich möchte mich deshalb sehr auf Ihre Rede konzentrie-
ren, Herr Minister. Sie war enttäuschend und es war dem
Anlass nicht entsprechend, was Sie zum Verbraucher-
schutz, was Sie unserer Landwirtschaft und unseren
landwirtschaftlichen Betrieben gegenüber gesagt haben.
Es klingt immer so, als wären die Bauern an dem Problem
schuld. Die Bauern sind nicht schuld.
Herr Minister, hätten Sie doch ein Wort des Bedauerns
darüber ausgesprochen, dass hier fast jeder landwirt-
schaftliche Betrieb in Mitleidenschaft gezogen wird, auch
diejenigen, die überhaupt keine Rinder halten. Es wird
eine extreme Preisexplosion auf dem Futtermittelmarkt
geben. Ich sage Ihnen: Es hätte Ihnen gut angestanden,
auch einmal die Tragweite dieses Gesetzes darzustellen.
Wir reden hier von 3 oder 4 Milliarden DM. Aber es
wird sehr viel mehr kosten. Denn die Beseitigung des
Tier- oder Fischmehls ist nur die eine Seite. Das andere,
all das, was sich noch im Anschluss daran vollzieht,
überblickt heute noch niemand. Hier wäre ein seriöses
Wort angebracht gewesen.
Frau Kollegin Höfken, so zu tun, als wäre mit dem
Tiermehlverbot jetzt eine andere Agrarpolitik eingeleitet,
als hätten wir den Agrarfabriken den Kampf angesagt, das
stellt ja doch wohl alles auf den Kopf. Als hätten wir BSE
in Deutschland in einer Agrarfabrik gehabt! Wir haben es
in einem ganz normalen mittelbäuerlichen Betrieb vorge-
funden, der mit einer Agrarfabrik überhaupt nichts zu tun
hat.
Nachdem wir noch nicht einmal wissen, wie die Infekti-
onswege ablaufen, kann man auch nicht darüber reden,
wer Schuld oder wer keine Schuld hat wer Verantwortung
zu tragen hat und wer nicht. Unsere Bauern haben sich an
Recht und Gesetz gehalten und sind jetzt, wie sich die ge-
samte Entwicklung von BSE seit 1985 darstellt, die Leid-
tragenden.
Man muss klar feststellen, dass die Bundesregierung
ausgesprochen kopflos gehandelt hat. Sie hat zu keiner
Zeit die Souveränität ausgestrahlt, die sie hätte haben
müssen,
obwohl die Wissenschaft klar gesagt hat, dass für
Deutschland eine BSE-Freiheit nicht garantiert werden
kann. Sie hat keine vorbeugenden Maßnahmen getroffen;
das Kabinett ist wie ein Hühnerhaufen durcheinander ge-
laufen und jeder hat etwas anderes gesagt.
Die Bauern und die Verbraucher sind auch durch die Po-
litik dieser Bundesregierung verunsichert. Das Kabinett
hat keine einzige vorbeugende Strategie gefahren.
Wenn der Bundeskanzler heute so tut, als wäre jetzt
eine andere Agrarpolitik eingeleitet, irrt er ganz gewaltig.
Durch die jetzigen Maßnahmen ist nichts darüber gesagt,
wie die zukünftige Agrarpolitik aussehen wird. Fest steht
nur, dass die Preise für Futtermittelmassiv steigen, viele
Verwertungsstränge ausfallen und die Betriebe – unab-
hängig von ihrer Größe – hinsichtlich ihrer Rentabilität
ganz gewaltig unter Druck geraten werden. Insofern ist
der vorgelegte Gesetzentwurf für mich nicht schlüssig. Er
enthält Widersprüche und erfasst nicht die finanziellen
Auswirkungen.
Ich bin gespannt, ob die Bauern, die absolut unschul-
dig in eine existenzvernichtende Situation geraten sind, in
dieser Sache nicht entsprechende Regressansprüche ein-
klagen werden. Sie werden von den Landwirten keine An-
rufe bekommen, diese bekommen wir.
Die Lage der Landwirtschaft hat durch Ihre Politik und
das BSE-Problem eine Dramatik angenommen, die ihres-
gleichen sucht. Ich bin gespannt, was hier noch auf die
Regierung zukommen wird.
Herr KollegeHeinrich, ich bitte Sie, jetzt wirklich zum Schluss zu-kommen.
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Ulrike Höfken13446
Ich werde dem Gesetzent-
wurf deshalb nicht zustimmen und mich der Stimme ent-
halten.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wodarg.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nur wenig Zeit
und möchte deshalb vier Punkte besonders herausstellen.
Zum einen freue ich mich darüber, dass in die Neurege-
lung nicht nur das Tiermehl, sondern auch die Fette mit
einbezogen wurden. Ich erwähne diesen Punkt aus aktu-
ellem Anlass.
Sie wissen, dass ich an dieser Stelle mehrfach davor
gewarnt habe, die Milchaustauscher mit tierischen Fet-
ten anzureichern.
Das einzige Risiko, das sich jetzt bei dem Rind aus dem
schleswig-holsteinischen Betrieb gezeigt hat, ist die Tat-
sache, lieber Herr Carstensen – dazu hätten Sie längst et-
was tun können –, dass es mit Milchaustauschern gefüt-
tert wurde.
Herr Kollege
Carstensen, der Kollege Wodarg hat wirklich nur drei Mi-
nuten Zeit. Ich bitte Sie, das zu beachten.
Wahrscheinlich ist die-
ses Rind damit durch die Milchaustauscher infiziert wor-
den.
– Ich bitte, das auf meine Zeit anzurechnen – Herr
Carstensen, Sie können sich ja zu einer Zwischenfrage
melden.
– Ich kann verstehen, dass Herr Carstensen sich hier sehr
getroffen fühlt, weil er als Ausschussvorsitzender – –
Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, jetzt muss ich aber doch einmal ein
bisschen dafür sorgen, dass der Lärmpegel fällt.
Insbesondere ist es schwierig, wenn Kollegen nur sehr
kurze Redezeit haben. Es sind nur noch drei Minuten.
Dann müssen Sie eine Zwischenfrage stellen, damit man
das noch hören kann.
Ich weise darauf hin,dass in den Milchaustauschern tierische Fette sind. Ichhabe das hier schon dreimal gesagt. Bisher ist nichts ge-schehen. Jetzt geschieht etwas. Das machen wir gemein-sam, und darüber freue ich mich.
Das Zweite, was wichtig ist, haben wir eben vomLandwirtschaftsminister gehört: Jetzt, wo auf EU-Ebeneeine gemeinsame Strategie entwickelt und Tiermehl ver-boten wird, besteht die Möglichkeit, die risikoreichen Im-porte aus Drittländern in Angriff zu nehmen. In den Jah-ren 1990 bis 1995 sind über 800 000 Tonnen Tiermehleaus der EU in die Nachbarländer Polen, Tschechien, Un-garn undSlowakei exportiert worden. In der gleichen Zeit istrisikoreiches Fleisch importiert worden, insgesamt fast800 000 Rinder. In Deutschland sind allein 86 000 TonnenRindfleischkonserven aus Ländern verkauft worden, beidenen wir überhaupt nicht wissen, was dort verfüttertworden ist. Das muss ein Thema werden. Wenn wir vonRisiken reden, dann sollte das mit auf die Tagesordnung.Das halte ich für wichtig.Ein dritter Punkt, den wir beachten müssen: Wenn wirjetzt flächendeckend Tests machen,
dann sollte uns bewusst sein, dass jeder gefundene BSE-Fall mehr Sicherheit bedeutet. Das war bisher nichtselbstverständlich. Man hatte Angst vor jedem Fall, dergefunden wurde. Es ist in der Schweiz so gewesen und wirsollten es uns zum Prinzip machen, dass die Landwirte
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und die Tierärzte, die den Fall melden, nicht bestraft,sondern gelobt werden. Wir müssen ihnen sagen: Gut habtihr das gemacht! – Und wir müssen die Landwirte ent-sprechend entschädigen, damit sie nicht aus Angst vorwirtschaftlichen Konsequenzen weiterhin die Fälle ver-schweigen.
Das, denke ich, sind drei wichtige Dinge. Mir reichtleider die Zeit nicht. Ich bedaure sehr, dass diese wirklichsachlichen Argumente, die ich hier vorzutragen versuchthabe, durch diese Pöbeleien von der rechten Seiteuntergegangen sind.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Albert Deß.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Im Schnellverfahren wurde vonder rot-grünen Mehrheit ein Gesetzestext vorgelegt, derunausgegoren, mehr als mangelhaft und nicht zu Ende ge-dacht ist.
– Herr Schmidt, wir werden als Union zwar mit Mehrheitzustimmen, die Verantwortung für das Gesetz aber
muss die rot-grüne Koalition in diesem Hause überneh-men.
Mit Sachverstand ist dieser Gesetzentwurf nicht geschrie-ben worden.
Deshalb darf man uns dafür nicht in Haftung nehmen.
Man braucht kein Prophet zu sein, um vorherzusagen,dass dieses Gesetz nachgebessert oder durch Eilverord-nungen ergänzt werden muss. Von Krisenmanagementkann man im Bundeslandwirtschaftsministerium nichtsprechen.Laut AFP-Meldung vom 27. November heurigen Jah-res sagte die Agrarsprecherin der Grünen, Uli Höfken,Funke richte mit seinem Vorgehen massiven Schaden an.Sein Vorgehen sei nicht realitätsbezogen. – Wo UliHöfken Recht hat, hat sie Recht.
Auch wenn für mich in den ersten Tagen nicht die fi-nanziellen Auswirkungen im Vordergrund stehen, son-dern der Gesundheitsschutz, so litt Minister Funke dochunter Realitätsverlust, als er in der „Bild“-Zeitung sagte,die Existenz der Bauern stehe nicht auf dem Spiel. Wer sodaherredet, wird seiner Verantwortung als Bundesland-wirtschaftsminister nicht gerecht.
Eine solche Denkweise reiht sich in eine Kette vonFehlentscheidungen dieser Bundesregierung im Agrarbe-reich ein. Über die anderen Bereiche will ich nicht reden.Der Bundeskanzler fordert jetzt eine andere Agrarpoli-tik; doch gerade er hat mit seiner überhasteten Zustim-mung zur Agenda 2000 eine Agrarpolitik unterstützt, de-ren Konsequenzen wir jetzt zu tragen haben.
– Das könnt ihr doch nicht abstreiten. –
Ihr habt der Agrarpolitik zugestimmt, mit der wir es jetztzu tun haben. Dafür könnt ihr keine Vorgängerregierungverantwortlich machen. Mit der Agenda 2000 wurde imInteresse unserer Agrarindustrie eine Weichenstellung hinzu Weltmarktpreisen vorgenommen.Mit der Würde unserer Bauern hat eine solche Agrar-politik nichts mehr zu tun.
Wer wertvolle Agrarprodukte zu Ramschpreisartikeln ver-kommen lässt, der macht sich für Entwicklungen mitver-antwortlich, wie sie jetzt mit der BSE-Krise zum Ausdruckkommen. Wo sind denn heute die Wirtschaftsjournalisten,die schlauen Agrarprofessoren, unsere Wirtschaftsbosse,die Kommissare und leider auch viele Politikerkollegen,die unsere bäuerliche Landwirtschaft einer Agrarindustrieopfern wollen? Sind sie nicht mitverantwortlich für dieGesundheitsgefährdung unserer Bürgerinnen und Bürger?Herr Schmidt, damit das zwischen uns klar ist: Ich sage dasparteipolitisch vollkommen neutral.
Bei Minister Funke sehe ich keinen Ansatz für eineAgrarpolitik, die unseren Bauern eine Zukunftsperspektivebietet. Seit er Minister in Bonn bzw. in Berlin ist, hat erseine früheren Aussagen weitgehend über Bord geworfen.Auch deswegen gilt für ihn heute das agrarpolitischeCredo: Wachsen oder weichen. 5 Prozent Höfesterben sindfür ihn ganz normal. Auch der agrarpolitische Sprecher derSPD-Fraktion, der liebe Kollege Matthias Weisheit, hathier vor kurzem einen beschleunigten Strukturwandel ein-gefordert.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Dr. Wolfgang Wodarg13448
Herr Kollege
Deß, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Christa Nickels?
Warum nicht? Ja.
Herr
Kollege, Sie machen hier dieser Regierung Vorwürfe. Sie
sprechen vom Vorrang von Verbraucherinteressen und re-
klamieren Sicherheit. Wie kommt es dann zustande, dass
Frau Stamm und damit die Bayerische Staatsregierung, als
es um die der Richtlinie der Europäischen Union betref-
fend die Herausnahme der Risikomaterialien ging, auch
bei der Bundesregierung dahin gehend interveniert haben,
dass man das nicht tun solle, weil es zu teuer sei? Was hat
das mit Verbraucherinteressen zu tun? Erklären Sie mir
einmal diesen Widerspruch!
Frau Nickels, Sie sollten zur
Kenntnis nehmen, dass es der bayerischen Staatsministe-
rin darum gegangen ist, zu klären, wer die Kosten für die
Herausnahme dieser Risikomaterialien übernimmt.
Sie sollten auch zur Kenntnis nehmen, dass die Umwelt-
ministerin von Nordrhein-Westfalen – soweit ich weiß,
gehört sie zu Bündnis 90/Die Grünen – dieser Bundesre-
gierung vorgeworfen hat, beim Thema BSE zwei Jahre
verschlafen zu haben.
Bevor Minister Funke noch mehr bäuerliche Betriebe
versenkt, soll er lieber selber von Bord gehen; andernfalls
geht das ganze Agrarschiff unter. Der Bundeskanzler kann
bei den Themen Osterweiterung und WTO zeigen, ob er
seinen Worten Taten folgen lässt. Vor den Verhandlungen
zur Agenda 2000 hat er ebenfalls große Töne gespuckt;
umgesetzt hat er aber nichts.
Ich fordere alle politisch Verantwortlich dazu auf, über
Parteigrenzen hinweg an einem besseren europäischen
Agrarmodell zu arbeiten.
Unsere Bauern dürfen nicht den Globalisierungsstrategien
geopfert werden. In der Rede von Frau Höfken waren
durchaus Ansätze, denen ich nicht widerspreche.
Die von vielen zum neuen Glaubensbekenntnis erhobene
Globalisierungsstrategie hat bisher vor allem im Agrarbe-
reich weltweit Schäden hinterlassen. Wir brauchen ein
Denken in regionalen Kreisläufen, um dem Würgegriff der
Agrarindustrie zu entkommen. Nachhaltigkeit muss im
Vordergrund stehen. Wie sagte doch der frühere EU-Präsi-
dent Santer:
Es bestehen erhebliche Zweifel, ob die BSE-Krise
wirklich ein Unfall der Natur ist. Ist die BSE-Ge-
schichte nicht vielmehr die Folge eines Landwirt-
schaftsmodells, das auf Produktivität um jeden Preis
ausgerichtet ist?
Die Konsequenzen dieser Produktionsweise zu mini-
malen Kosten setzen die Grundgesetze der Natur außer
Kraft und führen letztendlich zu höheren Belastungen für
die Gesellschaft. Insofern hat der Kommissionspräsident
Recht, aber umgesetzt hat er von dem, was er gesagt hat,
leider nichts.
Wir sollten heute gemeinsam darüber nachdenken, ob es
für unsere Bauern zumutbar ist, dass sie zu Preisen produ-
zieren müssen, die unter den Preisen vor 30 oder 40 Jahren
liegen. Ein durchschnittlicher Industriearbeiter musste, um
6Kilogramm verschiedene Grundnahrungsmittel – ich will
jetzt die einzelnen aus Zeitgründen nicht aufzählen – kau-
fen zu können, 1960 acht Stunden und 20 Minuten arbei-
ten, dagegen 1997 – von diesem Jahr habe ich die letzten
statistischen Zahlen – nur noch zwei Stunden und neun Mi-
nuten.
Eines muss man hier sagen: Eine Ernährung zum Null-
tarif kann es nicht geben. Wenn wir eine Lehre aus der jet-
zigen Krise ziehen, dann die, dass wir gemeinsam daran ar-
beiten müssen, in Europa ein Agrarmodell zu
verwirklichen, durch das unsere Bauern eine Chance und
unsere Verbraucher sichere Nahrungsmittel erhalten. Das
muss unser gemeinsames Ziel sein.
Zu einer sie per-
sönlich betreffenden Äußerung in der Debatte erhält jetzt
die Kollegin Uli Höfken das Wort zu einer Kurzinterven-
tion.
Ichbin Albert Deß dankbar, dass er mir die Gelegenheit zuzwei Korrekturen gibt. Die erste Korrektur bezieht sich aufdas Zitat meiner Aussage gegenüber Minister Funke. Vondiesem Zitat habe ich dank Albert Deß gestern erfahren. Esgeht um die Meldung einer Agentur, in der es heißt, dassich gesagt hätte, Minister Funke richte Schaden an.
– Es mag ja sein, dass du das findest. – Allerdings habe ichmich sofort falsch zitiert gefühlt; ich bin auch wirklichfalsch zitiert worden. Ich habe nämlich gesagt, dass dieRücknahme der Eilverordnung in der Öffentlichkeitund beim Verbraucher durch Verwirrung entsprechenden
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Schaden anrichte. Das ist zusammengezogen worden, so-dass das durchaus nicht im Sinne meiner Äußerung war.
Bei einer zweiten Äußerung meinerseits ist es genauso.Ich bin gefragt worden, ob ich finde, dass man sagenkönne, dass Deutschland BSE-frei sei. Darauf habe ich ge-sagt, nein, ich finde nicht, dass das realitätsnah ist. Darausist geworden, dass Funke nicht mehr realitätsbezogen sei.Auch das ist eine ganz andere Aussage.
– Aber, wie gesagt, ich habe von dieser Meldung erst zweiTage später erfahren.Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen.Albert Deß hat eben gesagt, die bayerische Ministerinhabe aus Kostengründen die Herausnahme der Risikoma-terialien abgelehnt. Dazu muss ich sagen, dass es in derwörtlichen Darstellung der Rede der bayerischen Staats-ministerin in der „Süddeutschen Zeitung“ heißt:Die Entscheidung der Europäischen Kommissionvom 29. Juni– da geht es um diese Risikomaterialien –... lehnt Bayern aus rechtlichen und fachlichen Grün-den ab. Die beschlossenen Maßnahmen sind geeignet,den Verbraucher zu verunsichern.Weiter heißt es:Bayern fordert deshalb die Bundesregierung auf, frist-gerechte Klage zu erheben und die einstweiligeAufhebung der Entscheidung beim Gerichtshof zubeantragen.Danke.
Bitte, Herr Kol-
lege Deß.
Frau Kollegin Höfken, ich
nehme zur Kenntnis, wenn Sie sagen, dass hier falsch zi-
tiert worden ist. Ich habe das Zitat der Presse entnommen.
Du hast mir nicht gesagt, dass es falsch ist.
Ich muss zu dem gegen Bayern gerichteten Vorwurf sa-
gen: Ich stehe hier nicht für die bayerische Staatsministe-
rin.
– Ich kann doch nicht für jede Aussage geradestehen, die
in München gemacht wird, zumal wenn ich davon nichts
selber in Händen halte.
Aber ich stelle hier Folgendes fest, wenn ich dies in
aller Ruhe hier sagen darf: Bitte nennt mir ein rot-grün re-
giertes Bundesland, in dem im Hinblick auf BSE mehr Un-
tersuchungen vorgenommen worden sind als in Bayern.
In Bayern sind in den letzten Jahren Untersuchungen an
4 000 Tieren vorgenommen worden, die abgeschlachtet
worden sind. Dabei handelte es sich um so genannte Im-
portrinder aus der Schweiz und aus Großbritannien. Kein
Bundesland hat diese Abschlachtungen so konsequent
durchgeführt wie der Freistaat Bayern.
Unter diesen 4 000 untersuchten Rindern war das berühmte
Rind „Maise“ aus der Schweiz, bei dem BSE festgestellt
wurde. Darüber hinaus wurden 9 740 Rinder untersucht, die
verdächtige Krankheitsanzeichen zeigten. Bei diesen
9 740 Rindern hat sich kein Verdacht auf BSE ergeben. Bay-
ern hat aus seiner Sicht also alles für den Gesundheitsschutz
getan.
Ich fordere – dies noch in aller Kürze –, dass diese Bun-
desregierung darüber nachdenkt, wie unsere Verbraucher
noch besser geschützt werden können. Ich habe vor
kurzem gefordert, dass die für alle Rinder DNA-Analyse
eingeführt wird. Hier kann die Bundesregierung eine Vor-
reiterrolle übernehmen. Herr Minister Funke, dadurch
könnte die Abstammung jedes Rindes mit Sicherheit feh-
lerfrei festgestellt werden. Ich fordere darüber hinaus die
offene Deklaration von Futtermitteln, verbunden mit dem
Nachweis, aus welchen Ländern die einzelnen Kompo-
nenten stammen.
Außerdem fordere ich die Bundesregierung auf, massiv
dafür einzutreten – der Minister hat das angekündigt –,
dass Importe aus Ländern verboten werden, in denen nicht
nach unseren Standards erzeugt und untersucht wird. Nur
so können wir die Verbraucher entsprechend schützen.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Matthias Weisheit.Matthias Weisheit (von der SPD mit Beifallbegrüßt): Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen undKollegen! Vielleicht gelingt es mir als vorletztem Redner,in dieser nicht sehr angenehmen Situation noch einmal aufdie Sache zurückzukommen, um die es heute geht. In die-ser Woche hat sich bei diesem Thema Gemeinsamkeit ge-zeigt. Dafür möchte ich mich bei den Oppositionsparteienganz ausdrücklich bedanken. Vor allem möchte ich denKollegen des Agrarausschusses dafür danken,dass sie die-sem Gesetzentwurf – wie der Kollege Heinrich-Wilhelm
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Ulrike Höfken13450
Ronsöhr gesagt hat: mit gewissen Bauchschmerzen –zu-gestimmt haben.
Dafür danke ich Ihnen nochmals ausdrücklich.Durch dieses Gesetz tun wir das, was nach dem erstenoriginären BSE-Fall in Deutschland notwendig ist: Wirnehmen das Tiermehl, das nach allen bisherigen wissen-schaftlichen Erkenntnissen wahrscheinlich der infektiöseAuslöser dieser Krankheit ist, aus der Nahrungsmittelketteheraus. Dadurch können wir in Zukunft Infektionen ver-hindern und beim Verbraucher für Sicherheit und Ver-trauen sorgen. Das ist im Sinne unserer Landwirte. Ichhalte das, was wir diese Woche auch mit Ihrer Hilfe hiergeschafft haben, für sehr wichtig. Dafür nochmals herzli-chen Dank!
Im Zusammenhang mit diesem BSE-Fall gab es in derveröffentlichten Meinung wie auch hier im Hause – undauch während dieser Debatte – Reaktionen, die mich als ei-nen Agrarpolitiker, der diese Debatten, seitdem es BSEgibt, mitverfolgt und mitbestritten hat, wirklich fürchter-lich geärgert haben. Ich muss sagen: Das Maß an Heuche-lei ist – so wie es der Minister gesagt hat – nicht zu über-bieten.
Ich kann mich noch an die Debatten mit dem KollegenSeehofer erinnern. Ich war bestimmt einer seiner schärfs-ten Kritiker; ich habe aber nie gefordert, er solle zurücktre-ten, weil er sich in der EU nicht durchsetzen konnte. Wiralle wissen doch, dass wir alleine gegen Gemeinschafts-recht nichts machen können. Bei dem, was in dem Zusam-menhang heute hier gesagt wurde, hört der Spaß wirklichauf. Für meine Fraktion und für die Grünen erkläre ich aus-drücklich: All dieses Gerede, Minister Funke und Ministe-rin Fischer hätten hier versagt und hätten schlechte Politikgemacht, ist falsch. Wir stehen hinter diesen beiden Mini-stern.
Wenn es Grund zur Kritik gibt und Eingeständnisse er-forderlich sind, dann müssen wir alle uns selbst an die Nasefassen: Wir alle haben zu lange geglaubt, es reiche aus, dieTiermehlverfütterung an Wiederkäuer – die deutschen Si-cherheitsstandards beim Tiermehl sind anerkannt hoch – zuverbieten, um die Bundesrepublik vor BSE zu bewahren.
– Ich spreche von den Agrarpolitikern und nicht von Ihnen,Frau Widmann-Mauz. – Wir sind eines Besseren belehrtworden. Wir haben einsehen müssen, dass in einem offe-nen Europa Tiermehl herumgekarrt werden kann. Wennich dann in der Zeitung lese, dass eine Charge Rinderfut-ter „aus Versehen“ mit Tiermehl versetzt worden ist und sobeim Empfänger ankam, kann ich nur feststellen: Hier sindwahrscheinlich doch kriminelle Machenschaften im Spiel.– Wir können nichts Besseres tun, als dem vorliegendenGesetzentwurf zuzustimmen, um in Zukunft die Tiermehl-verfütterung zum Schutz der Verbraucher und zum Schutzder Bauern zu unterbinden.
Zum Schluss noch einen Satz zu den Entschädigun-gen – die Redezeit rennt mir davon; das meiste dazu hatder Minister schon ausgeführt –: Es ist völlig selbstver-ständlich, dass wir in dieser Frage die Bauern und auchdiejenigen, die für die Entsorgung verantwortlich sind,nicht allein lassen können.
– Diesen Antrag werden wir im zuständigen Ausschuss be-raten; das ist gar keine Frage.
Herr Kollege,
bitte nicht mehr diskutieren!
Aber die Verbraucher – das
muss ebenso festgestellt werden – werden natürlich für
Fleisch mehr zahlen müssen. Denn in deren Sinne und für
deren Sicherheit passiert das Ganze.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annette Widmann-Mauz.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchtezunächst ein paar Worte an den Kollegen Wodarg richten:Zunächst finde ich es sehr schön, Herr Kollege Wodarg,dass Sie Sachlichkeit eingefordert haben. Ich bin gespannt,wie Sie sich nachher in der Abstimmung über den vorlie-genden Antrag der Union verhalten werden. Denn viele derMaßnahmen, die Sie hier als sachlich richtig bezeichnet ha-ben, sind in diesem Antrag enthalten. Wie Sie sich heute inder Abstimmung verhalten werden, zeigt, wie glaubwürdigSie sind.
– Lieber Kollege Wodarg, ich wäre vorsichtig, sich mit sol-chen Zurufen zu Wort zu melden. Noch vor zwei Wochenhaben Sie uns, als wir im Gesundheitsausschuss unter ei-nem ganz anderen Gesichtspunkt der Lebensmittelsicher-heit über das Thema BSE gesprochen haben, Panikmachevorgeworfen.
Gerade angesichts der Entwicklungen in unserem Land seitletztem Freitag sollten Sie mit solchen Äußerungen vor-sichtig sein.Wer über den Haushalt von Minister Funke sprechenwill, darf über BSE nicht schweigen. Denn enorme Kostenkommen auf Bund, Länder und Kommunen, auf die Land-wirtschaft und die Industrie sowie auf die Verbraucherinnen
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Matthias Weisheit13451
und Verbraucher zu. Der Einzelplan des Landwirtschafts-ministers berücksichtigt leider nichts davon.Die Ängste der Menschen sind groß; das Wissen überBSE ist klein. Die Reaktionen der rot-grünen Bundesre-gierung auf die ersten BSE-Fälle in Deutschland sind lei-der unprofessionell und unkoordiniert.
Die BSE-Epidemie ist von der Bundesregierung völlig un-terschätzt worden. Das hat selbst Ministerin Fischer in ihrerheutigen Rede zum Haushalt klar eingeräumt. Allein ihreAussage, jetzt sei es an der Zeit, ehrlich zu sein, zeigt, wiezögerlich die Bundesregierung die BSE-Problematik be-handelt.Sie haben absolut leichtfertig gehandelt und sich trotzwissenschaftlich fundierter Warnungen und nicht auszusch-ließender Risiken der Aufhebung des Importstopps durchdie EU-Kommission unterworfen. Die Bundesregierung hatden Importstopp aufgehoben, obwohl letzte Zweifel nichtbeseitigt waren. Im Gegenteil: Selbst die neuen BSE-Fällein Großbritannien und Frankreich haben Sie schlichtweg ig-noriert. Die Bundesregierung hat den vorsorgendenVerbraucherschutz unterlaufen und das damit verbundeneRisiko für die Konsumenten billigend in Kauf genommen.
Sie haben im Gegensatz zu Frankreich – daran hätten Siesich ein Beispiel nehmen können – die Marktinteressenüber den Verbraucherschutz gestellt.Wenn die europäische Ebene beim Verbraucherschutzversagt, dann ist ein Handeln einzelner Mitgliedstaaten ge-rechtfertigt. Im Übrigen sieht das ja eine Kollegin der Grü-nen, die Mitglied des Gesundheitsausschusses ist, so wiewir: Sie stimmt bei Abstimmungen zu diesen Fragen mituns, enthält sich oder muss den Raum verlassen.
Die Bundesregierung muss endlich auf die sichere Seitekommen und dem Verbraucherschutz Rechnung tragen.Verbraucherschutz muss in Deutschland endlich wiederernst genommen werden; denn jetzt gibt es BSE auch hier.Die Gefahren durch BSE sind so groß, dass selbst Sie, HerrFunke, inzwischen erkannt haben, dass sofort gehandeltwerden muss.Auch die Grünen müssen sich jetzt zu einer einheitli-chen Linie durchringen. Fischer hier, Höhn da – so geht esin Zukunft nicht mehr weiter.
Auch Sie müssen Ihrer Schutzpflicht für die Verbraucherin-nen und Verbraucher in Deutschland endlich nachkommen.Wir fordern von Ihnen ein umfassendes Sofortpro-gramm. Wir müssen umgehend alle notwendigen Schutz-maßnahmen ergreifen, um die größtmögliche Sicherheitvor BSE zu gewährleisten und das Vertrauen in unserelandwirtschaftlichen Produkte wiederherzustellen. Wirbrauchen ein umfassendes Importverbot für Rinder,Schafe und Ziegen aus Ländern mit regelmäßigem BSE-Vorkommen.
Wir brauchen ein umfassendes Importverbot für derenFleisch und die daraus hergestellten Erzeugnisse. Wirmüssen auch am Exportverbot für Rindfleisch aus Portu-gal festhalten.
Sie haben uns in den vergangenen Monaten immer wie-der Panikmache vorgeworfen und sich allein auf dieKennzeichnungspflicht verlassen. Sie haben das Junktimhergestellt, dass wir keine Importverbote bräuchten, wennwir eine lückenlose Kennzeichnung hätten. Das war IhrPrinzip. Den Fachleuten war von Anfang an klar: In Eu-ropa ist die Kennzeichnungsregelung für Rindfleisch unddie daraus hergestellten Produkte unzureichend und dieUmsetzung lückenhaft. Warum ziehen Sie daraus dennkeine Konsequenzen? Ihr Junktim existiert doch de factonicht.Wir fordern seit Monaten ein umfassendes Importverbotfür Rinder sowie deren Fleisch und daraus hergestelltenFleischerzeugnisse aus Großbritannien. Wenn es seinmuss, sollte man das auch im nationalen Alleingang durch-setzen; denn nur so lässt sich auf europäischer Ebene diesofortige obligatorische umfassende Kennzeichnung desRindfleisches und der Rindfleischprodukte bezüglich Ge-burts-, Mast-, Schlacht- und Zerlegungsort des Tieres wir-kungsvoll durchsetzen. Sie können doch nicht auf der einenSeite sagen, diese Maßnahme sei „blödsinnig“ – wie HerrKollege Wodarg es im Ausschuss formuliert hat –, und aufder anderen Seite mit genau dieser Maßnahme drohen undauf der europäischen Ebene für Druck sorgen. Da wider-spricht sich Ihr Verhalten doch wohl vollkommen.
Wir müssen heute prüfen, inwieweit diese Kennzeich-nungspflichten auch auf Schaf- und Lammfleisch sowieauf weitere Produkte von Schafen und Ziegen auszudeh-nen sind.
Die Verfütterung von kontaminiertem Tiermehl ist einmöglicher Übertragungsweg für BSE. Diese Gefahren-quelle kann nur durch ein europaweites Verbot der Verfüt-terung von Tiermehl gebannt werden.
– Hören Sie doch einmal zu! Das sind gute Vorschläge, diedie Regierung umsetzen könnte.
Wir unterstützen in unserem Antrag, den wir einge-bracht haben, ein umfassendes EU-weites Tiermehlver-fütterungsverbot, weil Infektionen und Kreuzkontamina-tionen nicht ausgeschlossen sind. Wir sind aber der
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Annette Widmann-Mauz13452
Meinung, dass dies nur eine von vielen Maßnahmen seinkann, um ausreichenden Schutz zu bieten.
– Ihre Zwischenrufe werden Sie den Verbrauchern erklä-ren müssen.
Wir brauchen die Schnelltests, und zwar nicht nurschnell, sondern sofort. Sie müssen flächendeckend an allengeschlachteten Rindern in Deutschland eingesetzt werden.
Auch hier muss die EU möglichst schnell nachziehen. Dervon der EU bislang vorgesehene Untersuchungsumfangreicht aus unserer Sicht noch nicht ganz aus. Es muss un-verzüglich mit den Untersuchungen von Schlachttierenbegonnen werden. Die Untersuchung muss alle Schlacht-tiere ab einem Alter, ab dem wissenschaftliche Aussagenmöglich sind, umfassen. Es darf nicht bei den 30 Monatenbleiben.
Weiterhin muss die Erforschung von BSE, TSE, derCreutzfeldt-Jakob-Krankheit und ihrer Varianten endlichkonsequent vorangetrieben werden. Das umfasst auch dieWeiterentwicklung der Schnelltests sowie Bluttests für le-bende Tiere. Das Forschungsprogramm muss intensiviertwerden. Das kostet Geld. Dieses Geld muss jetzt bereitge-stellt werden.Es entstehen vielfältige Kosten; die Landwirte sind schonjetzt – allein durch die Diskussion über BSE – dramatisch be-troffen: Absatzeinbrüche, hohe Futtermittelkosten und stei-gende Entsorgungskosten verstärken die enormen Einkom-menseinbußen, unter denen die Landwirtschaft, seitdem Siean der Regierung sind, ohnehin schon genug leidet. ErstenBetrieben droht das Aus. Deshalb müssen wir über finanzi-elle Soforthilfen und Ausgleichsmaßnahmen sprechen, undzwar auf europäischer und auf nationaler Ebene.Wir fordern ein umfassendes finanzielles Hilfsprogrammfür die betroffene Landwirtschaft.Herr Funke, gestern haben Sie im Ausschuss eine fi-nanzielle Unterstützung des Bundes in Aussicht gestellt.Werden Sie in dieser Frage endlich konkret; denn es han-delt sich um eine nationale Herausforderung.Wir stimmen heute dem Tiermehlverfütterungsverbotzu. Das ist aber nur ein erster Schritt. Unser Entschlie-ßungsantrag weist konsequent auf weitere notwendige undsinnvolle Maßnahmen hin. Deshalb zögern Sie heute nichtschon wieder, sondern beweisen Sie Glaubwürdigkeit,liebe Frau Höfken: Stimmen Sie unserem Entschließungs-antrag zu! Sie haben in Ihrer Rede mehrere Punkte ange-sprochen, die sich genau so in unserem Antrag wiederfin-den. Beweisen Sie heute die Glaubwürdigkeit, die Sieimmer einfordern.Spätestens seit dem letzten Freitag herrscht eine tiefeVerunsicherung in der Bevölkerung; denn unsere heimi-schen Produkte und unsere Landwirtschaft stehen unter ei-nem pauschalen Verdacht. Das ist weder sachlich noch ge-rechtfertigt. Aber Fakt ist: Es gibt keine pauschale Sicher-heit mehr. Aus dieser Vertrauenskrise mit all ihren schlim-men Folgen kommen wir nur mit ganz konkreten Schrittenwieder heraus. Landwirtschaftliche Interessen und unsereGesundheit sind kein Widerspruch.Vielen Dank.
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Herr Kollege Wodarg das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegin Widmann-Mauz, Sie haben wieder ein Import-
verbot gefordert und gesagt, wir sollten Ihren Antrag un-
terstützen. Sie verkennen offenbar weiterhin, dass ein Im-
portverbot innerhalb der EU völliger Schwachsinn ist, weil
wir ehrlicherweise – endlich – davon ausgehen, dass so-
wohl das gefährliche Tiermehl als auch die Waren im freien
Wirtschaftsraum Europa frei verteilt werden. Wir haben
jetzt die Basis, um epidemiologisch vernünftig zu handeln,
vernünftige Konzepte zu machen und nichts Notwendiges
auszulassen.
Wir müssen grundlegend an das Problem herangehen
und dürfen nicht wieder anfangen, nur ein Land als das
schwarze Schaf anzusehen und gewissermaßen rituelle
Handlungen zu vollziehen, wie wir es schon einmal ge-
macht haben, als zum Beispiel die extensiv gehaltenen Rin-
der, die nun wirklich am wenigsten gefährdet sind, weil sie
nicht mit Tiermehl gefüttert werden, in Bayern geschlach-
tet wurden. Wir dürfen keine Ersatzhandlungen vorneh-
men, sondern wir müssen wissenschaftlich begründet han-
deln.
Es ist nun einmal so, dass in ganz Europa BSE-Fälle auf-
treten. Je mehr gesucht wird, desto mehr findet man. Wir
haben laut gerufen, wir seien BSE-frei. Jetzt suchen wir
und finden welche. Das müssen wir ehrlich zugeben.
Ein Importverbot ist Quatsch. Deshalb ist dieser Teil Ih-
res Antrags Blödsinn. Wir werden uns im Ausschuss über
die anderen, zum Teil vernünftigen Vorschläge unterhalten
können. Aber Ihren Antrag müssen wir ablehnen, weil er
populistische Elemente enthält, die wir nicht unterstützen.
Lieber HerrKollege Wodarg, ich finde es schön, dass Sie Ihre Aussagewiederholt haben. Sie konterkarieren selbst hier im Ple-num des Deutschen Bundestages die Politik Ihrer eigenenBundesgesundheitsministerin. Sie tritt doch auf der euro-päischen Ebene, wie sie uns immer versichert, mit derDrohung auf, das nationale Importverbot wieder einzu-führen, wenn keine umfassende Kennzeichnungspflichteingeführt wird.
Wie muss diese Äußerung von Ihnen, Mitglied der tra-genden Regierungsfraktion, auf die anderen Mitgliedstaaten
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Annette Widmann-Mauz13453
der Europäischen Union wirken, wenn Sie diese Maß-nahme als „völligen Schwachsinn“ und „Quatsch“bezeichnen?
– Nein, er hat „Schwachsinn“ gesagt. Das werden Sie imProtokoll nachlesen können.Sie haben damit die Verantwortung für eine Gefahren-quelle übernommen. Wir haben nie behauptet, dass unserAntrag den umfassenden Schutz bringt. Aber wir sind inder Lage, jede Gefahrenquelle, die wir kennen, auszu-schalten.
Sie nehmen bewusst in Kauf, eine Gefahrenquelle nichtauszuschalten. Das verstehen auch Ihre Kollegen von denGrünen im Ausschuss nicht. Hier gibt es einen Dissens. Ichhabe nicht gesagt, dass wir den Importstopp nur für Groß-britannien wollen, sondern wir wollen ihn für alle Länder-mit regelmäßigem BSE-Vorkommen.Sie können die Gefahren durch BSE, die es auch inFrankreich gibt, doch nicht einfach negieren. Ich fragemich: Leben Sie immer noch in der Zeit vor dem letztenFreitag, in der Zeit vor Ihrem Regierungsantritt?
Ich schließe da-
mit die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen.
Es besteht der Wunsch des Abgeordneten Norbert
Schindler nach einer Erklärung zur Abstimmung. – Er-
klärungen zur Abstimmung sind Abgeordnetenrecht. Das
steht jedem Abgeordneten zu.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich werde dem Gesetz zum
Verbot der Tiermehlverfütterung in der vorliegenden Form
nicht zustimmen. Meine Erklärung dafür: Wie erklären wir
draußen, die Schwarte, die wir am Stück Fleisch ab-
schneiden, muss in die Sonderversorgung – so ist es for-
muliert –, und das andere Stück Fleisch wird zum mensch-
lichen Verzehr absolut empfohlen und zugelassen? Es ist
schon etwas schizophren, wie hysterisch derzeit die Dis-
kussion läuft
und dass wir unter öffentlichem Druck – natürlich mit
Recht – ein Gesetz verabschieden. Ich begrüße ausdrück-
lich das Verbot im Zusammenhang mit Tierkadavern. Da-
hinter stehe ich unbedingt. Aber mit diesem Gesetz schüt-
ten wir das Kind mit dem Bade aus.
Der zweite Aspekt betrifft die Kosten. Ich befürchte, es
wird ein teures Gesetz werden und es wird die Bauern –
beim jetzigen Preisabsturz und durch die Verordnung spä-
ter – sehr hart treffen.
Wir haben dafür keine Lösung. Dass etwas getan werden
muss, ist klar; aber die Erklärung von Herrn Minister
Funke – wir reden darüber; natürlich lässt man die Bauern
nicht im Regen stehen – ist mir etwas zu wenig.
Herr Bundeskanzler Schröder hat gestern Morgen von
der Abkehr von der industriellen Agrarpolitik geredet. Ich
bin bereit, ihm sofort zu folgen,
wenn wir dies europaweit – nicht mit Global-Player-
Sprüchen, sondern in einem europäischen Konsens – tun,
damit wir in bäuerlichen Strukturen Nahrungsmittel pro-
duzieren können, wie wir sie in der Vergangenheit hatten.
Vielen Dank.
Nur noch derHinweis: Man darf nur sein eigenes Abstimmungsverhal-ten erklären. Man darf in diesem Prozess nicht mehr mitdem Bundeskanzler diskutieren.
Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen, und zwarzunächst zu den Änderungsanträgen.Abstimmung über den Änderungsantrag der FraktionCDU/CSU auf Drucksache 14/4782. Wer stimmt dafür? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantragist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden.Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionder CDU/CSU auf Drucksache 14/4783. Wer stimmtdafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ände-rungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionengegen die Stimmen von CDU/CSU und PDS bei Enthal-tung der F.D.P. abgelehnt wordenAbstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionder CDU/CSU auf Drucksache 14/4784. Wer stimmtdafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch dieserÄnderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und PDS beiEnthaltung der F.D.P. abgelehnt worden.Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionder CDU/CSU auf Drucksache 14/4785. Wer stimmtdafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch dieserÄnderungsantrag ist mit dem gleichen soeben festgestell-ten Stimmenverhältnis abgelehnt worden.Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionder F.D.P. auf Drucksache 14/4807. Wer stimmt dafür? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantragist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden.Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionder F.D.P. auf Drucksache 14/4808. Wer stimmt dafür? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantragist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden.Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionder PDS auf Drucksache 14/4744. Wer stimmt dafür? –
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2000
Annette Widmann-Mauz13454
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantragist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, mit einigenStimmen der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmender PDS bei einigen Enthaltungen aus der CDU/CSU ab-gelehnt worden.Ich bitte nun diejenigen, die dem Einzelplan 10 in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Einzel-plan 10 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDSangenommen worden.Wir kommen nun zur Abstimmung über den von denFraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grüneneingebrachten Entwurf eines Gesetzes über das Verbot desVerfütterns, des innergemeinschaftlichen Verbringens undder Ausfuhr bestimmter Futtermittel, Drucksa-chen 14/4764 und 14/4838. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung mit den Stimmen fast des gesamten Hauses beimehreren Gegenstimmen aus der CDU/CSU und einerGegenstimme aus der F.D.P. und bei einigen Enthaltungenaus der CDU/CSU und einer Enthaltung aus der F.D.P. an-genommen worden.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istmit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenom-men worden.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entsch-ließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/4854. Wer stimmt für die-sen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Entschließungsantrag ist, soweit ich sehe, ein-stimmig angenommen worden.Ich rufe die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten AnnetteWidmann-Mauz, Horst Seehofer, WolfgangLohmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUSofortprogramm zur Abwehr von Gefahrendurch BSE– Drucksache 14/4778 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für GesundheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrichHeinrich, Detlef Parr, Gudrun Kopp, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der F.D.P.Vorrang für einen vorsorgenden Verbraucher-schutz bei der Bekämpfung von BSE– Drucksache 14/4852 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für GesundheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussInterfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf denDrucksachen 14/4778 und 14/4852 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-nung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages auf morgen, Freitag, den 1. Dezember 2000, 9 Uhr,ein.Die Sitzung ist geschlossen.