Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, wir haben zuerst die Freude, Herrn Grunenberg zum 60. Geburtstag zu gratulieren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I auf:
Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1989
— Drucksachen 11/2700, 11/2966, 11/3119 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
Wir beraten die Einzelpläne. Ich rufe zunächst auf:
Einzelplan 04
Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes
— Drucksachen 11/3204, 11/3231 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Jungmann Austermann
Dr. Weng Frau Rust
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung fünf Stunden vorgesehen. Eine Mittagspause ist von 13 bis 14 Uhr vorgesehen. — Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Vogel.
Guten Morgen!
— Warum eigentlich nicht?
Guten Morgen, Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten und erfreulich heiter gestimmten Kolleginnen und Kollegen!
— Ja, Sie haben Grund dazu. — Seit der letzten Haushaltsdebatte ist an der Spitze zweier hier im Bundestag vertretenen Parteien eine Veränderung eingetreten. Sie, Herr Kollege Lambsdorff, sind zum Vorsitzenden der FDP gewählt worden.
Herr Kollege Waigel, der sich sicher noch einfinden wird,
ist Herrn Strauß als Vorsitzender der CSU nachgefolgt. Sie haben damit nicht nur für Ihre Parteien, sondern auch für unser Gemeinwesen insgesamt eine herausgehobene Verantwortung übernommen. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen meiner Partei und meiner Fraktion.
Ungeachtet aller Meinungsgegensätze wünsche ich Ihnen, daß Sie dieser Verantwortung gerecht werden können. An unserer Bereitschaft zum Dialog, zur streitigen Auseinandersetzung und, wo immer möglich, auch zum Konsens wird es dabei nicht fehlen, ganz gleich, wie in diesem Hause die Rollen jeweils verteilt sind.
Wir behandeln heute den Einzelplan 04, also Ihren Haushalt, Herr Bundeskanzler, in zweiter Lesung. Dabei geht es weniger um die einzelnen Positionen dieses von Ihnen unmittelbar zu verantwortenden Haushaltsabschnitts, obwohl auch da einige kritische Fragen zu stellen sind. Etwa die Frage, warum die Aufwendungen für das Kanzleramt seit Ihrem Amtsantritt um mehr als 25 % — und damit deutlich stärker als die Bundeshaushalte insgesamt — und die Aufwendungen für das Ihnen unterstellte Bundespresseamt sogar um mehr als 30 % auf fast eine Viertelmilliarde DM gestiegen sind.
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7416 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. VogelÜbrigens: Die Kosten-Nutzen-Analyse stimmt dabei ja selbst nach Ihrer Auffassung nicht, weil Sie trotz des Aufwandes ständig über die schlechte Darstellung Ihrer Politik jammern.
Es ist auch zu fragen, warum das Bundespresseamt, für das Sie immerhin die politische Verantwortung tragen, in den alljährlichen Beanstandungen des Bundesrechnungshofs Jahr für Jahr einen besonders breiten Raum einnimmt. Zuletzt war da immerhin, Herr Bundeskanzler — Sie haben das sicher mit Aufmerksamkeit gelesen — von einer mangelhaften Organisation, von fehlenden Rechnungsbelegen und — man höre — von einer Verschwendung öffentlicher Mittel im Bundespresseamt die Rede.
Wir würden uns wünschen, daß der Regierungschef in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich ein Muster an Sparsamkeit und ein Vorbild für korrekte Verwendung der Steuergelder darstellt.
Das tun Sie leider nicht. Im Gegenteil, Sie bieten ausweislich der Beanstandungen des Bundesrechnungshofs und ausweislich der Zahlen, die ich nannte, ein schlechtes Beispiel.
— Auch das.
Aber er macht da keinen Unterschied zwischen den Generationen.
Für einen sorglosen Umgang mit den öffentlichen Mitteln, Herr Bundeskanzler, spricht auch die Art und Weise, in der Sie selber den personellen Bestand der Bundesregierung aufgebläht haben. Am 1. Oktober 1982 gab es 61 Bundesminister und Staatssekretäre. Heute sind es 75, also 14 mehr. Das entspricht einer Steigerung um fast 25 %. Unter Einschluß der damit verbundenen Kosten für Dienstkraftwagen, Fahrer,
Sekretärinnen und persönliche Mitarbeiter — einschließlich Autotelefon — entspricht das einem Mehraufwand von rund 5 Millionen DM.Herr Bundeskanzler, haben Sie eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, daß mit der gleichen Summe von 5 Millionen DM statt 14 neuen Regierungsmitgliedern etwa 100 zusätzliche Arbeitsplätze etwa im Bereich der Arbeitsvermittlung, die diese Stellen dringend braucht, geschaffen werden könnten?
Was sollen eigentlich andere Zweige und Institutionen der Bundesverwaltung davon halten, daß ihnen Personalabbau empfohlen wird, wenn Sie selber mit einem so miserablen Beispiel in Ihrem eigenen Bereich vorangehen?Auch für Bundesregierungen, besonders für die Ihre, gilt: Mehr ist nicht automatisch besser; und noch so viel Quantität kann die fehlende Qualität nicht ersetzen.
Es geht heute aber nicht so sehr um Ihre Detailverantwortung, obwohl auch Details sehr aufschlußreich und enthüllend sein können. Es geht um Ihre politische Gesamtverantwortung. Es geht um den Zustand unseres Landes, um die Sorgen und die Hoffnungen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger und um die Auseinandersetzung mit Ihrer Politik, also mit Ihrem Handeln und Ihrem Unterlassen, aber auch mit unseren Alternativen.Für viele Menschen steht dabei die wirtschaftliche Lage im Vordergrund. Sie hat sich im Jahr 1988 insgesamt günstig entwickelt. Nicht nur die Sachverständigen, sondern auch Sie selber mußten die eigenen Voraussagen nach oben korrigieren und wir mit ihnen. Wir freuen uns über diese Entwicklung und die Notwendigkeit dieser Korrektur.
Wir verstehen auch, daß Sie diese Entwicklung für sich in Anspruch nehmen und den Eindruck erwecken wollen, daß sie unbegrenzt fortdauern werde, wenn man Sie nur machen ließe. Das haben auch frühere Bundesregierungen getan. Das gehört eben zum politischen Geschäft.Aber dabei werden wichtige Tatsachen und Gesichtspunkte verdrängt. Tatsachen, die bei einer redlichen Lagebeurteilung nicht beiseite geschoben werden dürfen. Ich nenne drei solcher Tatsachen.Erstens. Die Zahlen und Werte, besonders die Wachstumswerte, mit denen Sie argumentieren, sind — selbstverständlich, so füge ich hinzu — Durchschnittszahlen. Diese Durchschnittszahlen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es eben nicht allen besser geht, sondern daß es nicht wenigen Regionen und Branchen und darüber hinaus Millionen von Menschen in unserer Mitte, etwa den Arbeitslosen und den Sozialhilfeempfängern, sogar schlechter geht
als zu Beginn des Jahres oder zu Beginn Ihrer Amtszeit.
Zweitens. Sie verschweigen, daß die wichtigsten Impulse für die positive wirtschaftliche Entwicklung vom Verfall der Ölpreise ausging, also von einem Geschehen, für das wohl noch nicht einmal Sie ein Verdienst in Anspruch nehmen wollen. Deshalb reden Sie auch nicht so gern darüber. Aber es ist die Wahrheit. Willy Brandt und Helmut Schmidt mußten mit zwei exorbitanten Ölpreissteigerungen fertigwerden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7417
Dr. VogelIhnen sind zwei ebenso exorbitante Ölpreisrückgänge in den Schoß gefallen.
— Daß der Tüchtige immer Glück hat, Herr Kollege Dregger, erleben Sie gerade in den verschiedenen Bundesländern. Vorsicht!
— Entschuldigung, Herr Zwischenrufer: Es ist an Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten, daß Sie mir zurufen: Sie meinen wohl, weil Ihr Bruder abgewählt worden ist. Befolgen Sie die primitivsten Regeln des politischen Anstands, meine Herrschaften!
Von 1973 bis 1981 stiegen die Aufwendungen für unsere Öleinfuhren von jährlich 9,1 auf jährlich 49,1 Milliarden DM. Bis 1987, während Ihrer Regierungszeit, sind sie dagegen von 49,1 auf 16 Milliarden DM gefallen. Das kam allein im letzten Jahr einem Konjunkturanstoß von über 33 Milliarden DM gleich und über die ganze Zeit einem Programm in der Gesamthöhe von mehr als 165 Milliarden DM. Diese Gelder sind durch die Senkung des Ölpreises für den privaten Verbrauch freigesetzt oder wurden als kostensenkende Faktoren in der Wirtschaft wirksam.Drittens. Die weltwirtschaftlichen Instabilitäten— darüber sollten wir uns alle nicht täuschen — sind keineswegs behoben. Die Schwankungen des Dollarkurses, die in den letzten Tagen aus ganz geringfügigen Anlässen, eigentlich nur wegen einer Äußerung eines Mannes, der möglicherweise als Berater des neuen Präsidenten fungieren wird, aufgetreten sind, haben das einmal mehr deutlich gemacht. Insbesondere dauert — das wissen wir alle — das gefährliche Ungleichgewicht zwischen den amerikanischen Leistungsbilanzdefiziten und den japanischen und den deutschen Leistungsbilanzüberschüssen ebenso an wie die Schuldenkrise der Dritten Welt und einiger europäischer Staaten. Der neue amerikanische Präsident — er hat das schon erklärt — wird die Dinge nicht einfach weiterlaufen lassen können. Kein Volk kann auf die Dauer so über seine Verhältnisse leben, wie unsere amerikanischen Freunde das seit langem tun.Wenn Amerika darangeht, das zu korrigieren, wird das wegen der engen weltwirtschaftlichen Verflechtung unserer Wirtschaft auch für uns spürbare Folgen haben. Dabei leugne ich gar nicht, meine Damen und Herren, daß die Defizitpolitik der Vereinigten Staaten für unsere wirtschaftliche Entwicklung in der Vergangenheit durchaus positive Auswirkungen gehabt hat.Dennoch bleibt — ich betone das — die erfreuliche Tatsache, daß unser Jahresbruttosozialprodukt seit Beginn dieses Jahrzehnts um 400 Milliarden DM gestiegen ist. Selbst wenn man die gesparten Ölpreismilliarden berücksichtigt, ist das eine eindrucksvolle Leistung, zu der unsere gesamte Volkswirtschaft fast ohne Ausnahme beigetragen hat und die Respekt verdient.Wenn ich dabei die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften an erster Stelle nenne, dann deshalb, weil Sie, Herr Bundeskanzler, häufig den Eindruck erwecken, die wirtschaftlichen Erfolge seien gegen die Begehrlichkeit der Arbeitnehmer und gegen die Unvernunft der Gewerkschaften erreicht worden. Das ist blanker Unsinn. In Wahrheit sind die verantwortungsvolle Haltung der Gewerkschaften und der Fleiß und das Können unserer Arbeitnehmerschaft eine entscheidende Voraussetzung dieses Erfolgs
und einer unserer wichtigsten Standortvorteile.Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang immer wieder der Anteil der kleinen und mittleren Unternehmen. Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Die Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von weniger als 100 Millionen DM, also die kleinen und mittleren, beschäftigen zwei Drittel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Volk, erwirtschaften rund 50 % unseres Sozialprodukts und erbringen über 80 % der beruflichen Ausbildung unseres Nachwuchses; das ist weit überproportional.Und wenn von neuen Arbeitsplätzen die Rede ist: Die sind ganz wesentlich in Betrieben mit unter 50 Beschäftigten, also nach der Terminologie bei den sehr kleinen Unternehmen, entstanden, während gleichzeitig die Zahl der Beschäftigten in den größeren und vor allem in den ganz großen Betrieben kontinuierlich abnahm, auch bis in die jüngste Gegenwart hinein.Das sind beachtliche Leistungen, für die ich allen Beteiligten, nicht zuletzt dem Handwerk, Dank und Anerkennung auch bei dieser Gelegenheit ausspreche.
Ich füge hinzu: Ich kann die Bitterkeit manches „kleinen" und „mittleren" Unternehmers verstehen, wenn er verfolgt, mit welcher Breite und Ausführlichkeit die Probleme einzelner Großunternehmen im Bundestag verhandelt werden, und wenn er verfolgt, wie rasch hier Milliardenbeträge fließen, während Sie, Herr Bundeskanzler, und ihre Koalition zugleich seit Jahr und Tag hartnäckig unseren Vorschlag ablehnen, dem Mittelstand durch die Einführung der steuerstundenden Investitionsrücklage tatsächlich zu helfen.
Statt dessen — das ist mir auch von Ihrer Warte aus gesehen politisch völlig unverständlich — haben Sie in diesem Haushalt die Ansätze für die Mittelstandsförderung derart drastisch gesenkt, daß der Zentralverband des Deutschen Handwerks völlig zu Recht von einem noch nie dagewesenen Kahlschlag spricht.
Jetzt streiten Sie nach dem Motto „Haltet den Dieb" zwischen Union und FDP darüber, wer für dieses Debakel eigentlich verantwortlich ist. Wahrscheinlich hat dabei der Herr Wissmann, ihr wirtschaftspolitischer Sprecher, recht, wenn er sagt, was Sie da im
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7418 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. VogelHaushaltsausschuß beschlossen hätten, sei geradezu absurd und absolut unvertretbar. Aber wir werden alle hier erleben, wie derselbe Herr Wissmann, der das gesagt hat, wie alle Mittelständler in der Union und in der FDP und natürlich auch Sie, Herr Bundeskanzler, mit dem Haushalt des Wirtschaftsministeriums zusammen auch diese Absurditäten billigen und beschließen werden.
Ich wette einen hohen Betrag, daß sich nicht zehn in dieser Fraktion finden werden, die wenigstens in diesem Punkt unserem Änderungsantrag zur Wiederherstellung der Mittelstandsförderung zustimmen werden.
Das ist Handeln und Reden in zwei verschiedenen Ausfertigungen.Mit diesen Streichungen sparen Sie übrigens weniger, als Ihre Regierung kürzlich einer einzigen Firma, nämlich MBB, anläßlich der Fusion mit Daimler-Benz bewilligt hat. Daß es sich bei dieser Fusion außerdem um einen schweren Schlag gegen alle Grundsätze unserer Wettbewerbsordnung handelt, daß hier gefährliche Abhängigkeiten entstehen, daß Sie eine geradezu klassische Monopolsituation herbeiführen, hat Graf Lambsdorff mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit vor seiner Zustimmung zu eben diesem Vorhaben erklärt.
Das ist überhaupt ein Ablauf, der immer wieder Erstaunen hervorruft, wie äußerste Kritik an Vorhaben mit anschließender Billigung desselben oft innerhalb von Tages- und Wochenfristen einhergehen.Der Vorwurf, den ich hier erhebe, geht dabei weniger an den Vorstand von Daimler-Benz. Der wahrt seine Interessen oder das, was er für seine Unternehmensinteressen hält.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne.
Herr Kollege Vogel, wenn Sie auf die Widersprüchlichkeit meines Verhaltens hinweisen — und nicht völlig zu Unrecht —,
— natürlich, ich bin ja nicht blind und taub —
darf ich dann fragen, Herr Kollege Vogel — —
Das macht Sie so sympathisch, daß Sie das nicht sind.
Herr Vogel, jetzt reicht es aber mit Komplimenten und Glückwünschen heute morgen. Danke.
Ich werde Sie noch weiter kompromittieren. Ich habe noch zwei Komplimente.
Danke, danke.
Darf ich Sie fragen, warum die Mitglieder Ihrer Fraktion im Haushaltsausschuß sich bei der Ausbringung des Sperrvermerks der Stimme enthalten haben?
Lieber Graf Lambsdorff, Sie wissen ganz genau, daß der Haushaltsausschuß nicht darüber abgestimmt hat, ob die Fusion stattfinden solle, daß er nicht über die Dinge abgestimmt hat, die ich hier rüge. Unsere Mitglieder haben sich der Stimme enthalten, weil die aufgelaufenen finanziellen Forderungen und Kosten beim Airbus-Projekt jetzt in der Frage der Bewilligung der finanziellen Mittel keine andere Wahl ließen. Von Fusion war gar keine Rede.
— Bleiben Sie ruhig sitzen; halten Sie sich bedeckt.
— Nein, die Frage ist beantwortet. Ich fahre jetzt fort; nehmen Sie ruhig Platz.
Sonst müssen Sie meine ganze Rede über stehen, und das ist doch nicht gut.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Graf Lambsdorff?
Jetzt steht er schon wieder. — Ja, gerne.
Herr Kollege Dr. Vogel, wie soll ich das verstehen, wenn Sie gesagt haben, ich müßte Ihre ganze Rede „überstehen"? Das muß ich doch ohnehin.
Sie sollten sorgfältiger betonen!
Sie haben jetzt den Akzent auf „über" gelegt. Wenn Sie den Akzent auf „stehen" gelegt hätten, wäre es völlig korrekt.
Lieber Graf, ich muß offenbar mein Kompliment, daß Sie weder taub noch blind seien, ein Stück zurücknehmen. Denn wenn Sie den Beschluß des Haushaltsausschusses und die Enthaltung in der finanziellen Frage jetzt so verstehen, als wenn wir für die Fusion wären, dann sind Sie anscheinend partiell doch taub oder blind, lieber Graf.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7419
Dr. VogelDer Vorwurf geht nicht so sehr an die Unternehmensleitung; sie macht das Beste für sich. Ich kann das zwar im Ergebnis nicht teilen, aber ich kann verstehen, daß sie so handelt. Der Vorwurf geht eindeutig an Sie, meine Damen und Herren, die Sie genau das Gegenteil von dem tun, was Sie bisher gepredigt haben.Ohne die Debatte auf dieses Gebiet führen zu wollen, Herr Graf — ich wiederhole das, was ich mir schon zu unserer Kabinettszeit gelegentlich zu bemerken erlaubte — : Was hier geschieht, ist ein Stück Stamokap, wie es sich eigentlich selbst die stärksten Stamokaps so im einzelnen nicht erwartet und vorgestellt haben.
Daß Sie selber dabei nicht die beste Figur abgegeben haben, Herr Graf, haben Sie gerade schon eingestanden. Deswegen schenke ich mir die einschlägigen Passagen. Sie können es eventuell im gedruckten Teil nachlesen.Zweitens. Auf dem Hintergrund der günstigen konjunkturellen Lage und des deutlich gestiegenen Bruttosozialprodukts wiegen die Negativposten Ihrer ökonomischen und sozialen Bilanz nicht leichter, sondern nach unserer Auffassung schwerer.Ich weiß, Herr Bundeskanzler, Sie hören das nicht gerne, aber die andauernde Massenarbeitslosigkeit und die fortschreitende Umverteilung der Einkommen und des Reichtums von unten nach oben und der beständige Abbau sozialer Errungenschaften sind bedrückende Negativposten, über die niemand zur Tagesordnung übergehen darf. Hier sind eben nicht wirtschaftliche Zwangsläufigkeiten, sondern in aller Regel politische Entscheidungen, Ihre Entscheidungen, ursächlich. Ob Sie es hören wollen oder nicht: Es gibt eben im sechsten Jahr Ihrer Amtszeit unverändert über zwei Millionen Arbeitslose, davon 700 000 Langzeitarbeitslose, die über ein Jahr auf Arbeit warten.Ich darf hier übrigens einschieben: Ich begrüße den Appell, den der Vorsitzende des Rats der Evangelischen Kirche, Bischof Kruse, an uns alle gerichtet hat, nämlich daß wir im Rahmen der Beratungen des Strukturhilfegesetzes einen Weg finden, damit speziell für diese 700 000 Langzeitarbeitslosen etwas getan werden kann. Es wäre auch ein Beweis für die Konsensfähigkeit des Hauses, wenn wir uns gemeinsam hier auf einen Vorstoß einigen könnten.
Es wäre schlecht, wenn wir in das 40. Jahr der Republik mit einer Vielzahl von Feiern eintreten würden und nicht auf diesem Gebiet beweisen würden, wie ernst wir es auch mit dem Sozialstaatsprinzip unserer Bundesrepublik und unserer Verfassung meinen.
Es muß bei einer solchen Debatte auch ausgesprochen werden, daß es mehr Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik in diesen 40 Jahren gibt, nämlich 3,1 Millionen. Ebenso wahr ist, daß der Anteil derArbeitnehmereinkommen am Nettovolkseinkommen in den letzten sechs Jahren in Ihrer Amtszeit drastisch gesunken, der Anteil des Einkommens aus Unternehmertätigkeit und aus Vermögensbesitz aber ebenso drastisch gestiegen ist und daß das Realeinkommen — wohlgemerkt, das reale Einkommen, also das Einkommen nach Abzug der Preissteigerungen sowie der gestiegenen Steuer- und Abgabenbelastungen der deutschen Arbeitnehmerschaft insgesamt — heute ungefähr auf dem Stand von 1979 liegt,
während die Gewinne der Unternehmen insgesamt seit 1983 jährlich im Durchschnitt um 12,5 % gestiegen sind.
— Herr Kollege Dregger, ich nehme Ihren Einwurf gerne auf. Sie haben recht: Die Preissteigerung in den Jahren von 1979 bis 1982 war etwa so hoch — sie war stärker als zu Ihrer Zeit — wie in der Zeit von 1982 bis 1987. Aber die Steigerung der Steuerbelastung und die Steigerung der sozialen Abgaben war in Ihrer Zeit wesentlich höher als in den vier Jahren der Referenzperiode, die in unseren Abschnitt fällt.
Werfen wir uns hier also bitte nicht gegenseitig Zahlen vor, die ja jeder nachlesen kann.Die Wahrheit ist, daß das reale Einkommen der deutschen Arbeitnehmerschaft heute auf dem Stand von 1979 liegt, während die Gewinne der Unternehmen insgesamt seit 1983 jährlich im Durchschnitt um 12,5 % gestiegen sind. Meine Damen und Herren, das bedeutet: Das um rund 400 Milliarden DM höhere Sozialprodukt wird also anteilig mit einem deutlich niedrigeren Lohnaufwand erwirtschaftet als das um 400 Milliarden DM niedrigere Sozialprodukt des Jahres 1979. Ich sage dies deswegen mit einer gewissen Ausführlichkeit, weil allein an dieser Feststellung der ständige Vorwurf gegen die „unersättlichen Gewerkschaften" und die „unersättlichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer" zuschanden wird.
In diesen Zahlen spiegelt sich auch, daß der Einkommensverlust der Arbeitslosen höher ist als der Einkommenszuwachs derer, die Arbeit haben. Das können Sie doch nicht einfach beiseite wischen, es sei denn, Sie spekulieren auf die Spaltung und die Polarisierung zwischen denen, denen es besser geht, und denen, die immer weiter zurückfallen. Zu denen, die zurückbleiben, gehören unverändert vor allem die Frauen — Frau Kollegin Süssmuth sagt das ja zu Recht auch immer wieder —, und zwar sogar die Frauen, die Arbeit haben, weil sich die Schere zwischen dem Durchschnittseinkommen der Frauen und dem der Männer noch immer weiter öffnet, in der letzten Zeit sogar wieder schneller.
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7420 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. VogelWahr ist ebenso, daß Sie diese Entsolidarisierung weiter vorantreiben. Die sogenannte Steuerreform nimmt mit der Erhöhung der Verbrauchsteuern, an der Sie festhalten, den breiten Schichten unseres Volkes jene 10 Milliarden DM, die Sie ab 1990 den Steuerpflichtigen mit einem Jahreseinkommen von über 100 000 DM schenken.Ihre AFG-Novelle kürzt die Mittel für die Aus- und Weiterbildung für die jungen Arbeitslosen. Außerdem beseitigt sie den Vorruhestand und mutet den Teilruheständlern zu, sich am Ende ihres Arbeitslebens mit einem Einkommen in Höhe des Arbeitslosengeldes zufriedenzugeben.Meine Damen und Herren von der Koalition, ich appelliere noch einmal an Sie: Wenn Sie schon nicht die ganze Novelle fallenlassen wollen, verzichten Sie bitte auf jeden Fall auf die Kürzung der Mittel für die Aus- und Weiterbildung für die jungen Menschen. Dies ist doch unverständlich. Sie selber reden doch von der Notwendigkeit einer Qualifizierungsoffensive.
Außerdem, wenn wir eine Kosten-Nutzen-Rechnung anstellen, meine Damen und Herren, so ergibt sich: Jeder junge Mensch, dem auf diese Weise die Chance auf Erlangung eines Arbeitsplatzes verlorengeht, ist zuviel. Wir sollten uns nicht wundern, wenn er dann eines Tages im Bereich der Jugendkriminalität in Erscheinung tritt; dies ist dann unsere Schuld und nicht die Schuld der jungen Leute.
Ihre sogenannte Gesundheitsreform, die Sie in einer unglaublichen Weise durch das Parlament pressen, läuft doch im Grunde auch auf nichts anderes als auf eine zusätzliche Belastung der Kranken hinaus, die künftig eben mehr zahlen sollen als die Gesunden. Weil du krank bist, mußt du mehr bezahlen; — das ist doch eigentlich der Kernsatz dieser „Reform".
Herr Bundeskanzler, ich frage Sie jetzt auch ganz persönlich: Was ist denn eigentlich von dem Solidarbeitrag der Pharmaindustrie in Höhe von 1,7 Milliarden DM, den auch Sie als eine Voraussetzung dieser Reform genannt haben, übriggeblieben?
Sagen Sie uns doch bitte ein Wort der Erklärung, warum dies alles nicht mehr gilt.Was ich hier vortrage, sind doch alles Tatsachen. Das kritisieren doch Ihre eigenen Leute, beispielsweise Herr Scharrenbroich oder Herr Fink. Herr Scharrenbroich spricht sogar davon, daß Sie, Herr Bundeskanzler, mit dieser Politik die Betroffenen provozieren. Nun könnten Sie sagen, daß Herr Scharrenbroich und seine Gefährten unabhängig davon, was sie vorher kritisiert haben, am Schluß doch immer zustimmen. Damit hätten Sie sogar recht. Aber das schafft doch die Wahrheit nicht aus der Welt. Nein, Sie verweigern leider — wir werden das auch heute wieder erleben — in dieser Hinsicht jeden Dialog in derSache. Sie behaupten vielmehr, die Tatsachen, die ich vortrüge, seien Katastrophengemälde, damit würden Neidkomplexe — manchmal sagen Sie sogar —, damit würden niedere Instinkte geschürt.Nun gut, wenn die Fakten und Zahlen, die ich vorgetragen habe, nicht stimmen, dann widerlegen Sie sie doch von dieser Stelle aus! Sagen Sie doch, ob die Zahlen und Fakten richtig sind oder nicht! Oder legen Sie uns dar, warum all das, was ich da kritisiere, sozial gerecht oder gar, wie es neuerdings in Ihrer Partei wieder häufiger und stärker gesagt wird, christlich motiviert sei.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wollen Sie wirklich das allen Menschen angeborene Verlangen nach Gerechtigkeit als Neid diffamieren? Ist das Neid, wenn sich ein Mitbürger, der von der Steuerveränderung keinen Vorteil hat und künftig im Falle der Krankheit mehr zahlen muß und den auch noch höhere Verbrauchsteuern für die Güter des täglichen Bedarfs treffen, darüber empört, daß Sie und ich und alle mit einem vergleichbaren Einkommen künftig um die 20 000 DM Steuern im Jahr nachgelassen bekommen, während er leer ausgeht, übrigens mit dem kleinen Unterschied, daß Sie das wollen, während ich das nicht will?
Wissen Sie eigentlich, in welche Gesellschaft Sie mit Ihrem Neidargument geraten? Sie geraten nämlich in die Gesellschaft all derer, die damit im Laufe der Jahrtausende ihre Privilegien verteidigt oder sogar noch ausgebaut haben.Noch ein ganz persönliches Wort an Sie, Herr Bundeskanzler. Neid ist eine Sünde — da haben Sie recht — , das Streben nach Gerechtigkeit ist aber eine Tugend. Die Bibel sagt: Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Wer das Streben nach Gerechtigkeit als Neid diffamiert, hat nichts, aber auch gar nichts von der christlichen Botschaft verstanden.
— Ja, mein Beispiel mit den 20 000 DM und dem, der nichts bekommt, ist Gleichmacherei! Schade, daß das Fernsehen nicht immer die Zurufer mit diesen entlarvenden Argumenten voll ins Bild bringen kann!
Unser Konzept zur Lösung der Fragen oder — ich sage etwas bescheidener — unsere Ansätze zur Lösung der Fragen, die ich aufgeworfen habe, liegen auf dem Tisch. Es sieht Anstrengungen der Wirtschaft und aller am Wirtschaftsprozeß Beteiligten, aber auch Anstrengungen der Gemeinschaft vor, Anstrengungen, die, etwa zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit, dieser Tage sogar der Sachverständigenrat mit dem zutreffenden Argument für unerläßlich erklärt hat, daß das Wirtschaftswachstum entgegen Ihrer ursprünglichen Annahme die Arbeitslosigkeit allein nicht bewältigen und beseitigen kann. Unser Konzept
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7421
Dr. Vogelgeht auf berechtigte Sorgen der Wirtschaft, etwa im Bereich der Unternehmensbesteuerung — die Sorgen der Unternehmer, gerade auch der kleineren und mittleren, auf diesem Gebiet sind berechtigt — und der Lohnnebenkosten ebenso ein wie auf die dringend gebotene Steigerung der privaten und der öffentlichen Investitionen. Es ist ein Konzept der ökonomischen, ökologischen und humanen Optimierung unseres Sozialprodukts und ein Konzept der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit. Unsere Sprecherinnen und Sprecher werden es im Verlauf der Haushaltsdebatte im einzelnen erläutern.Unsere Bereitschaft, an der Reform der Alterssicherung mitzuwirken, liegt im Rahmen dieses Konzepts. Allerdings sage ich klipp und klar: Wir werden Mitverantwortung nur für ein Reformwerk übernehmen, das sich in puncto soziale Gerechtigkeit substantiell von Ihrer sogenannten Gesundheitsreform unterscheidet.
Darum schlagen Sie sich bitte jetzt schon aus dem Kopf, daß die Heraufsetzung der Altersgrenze mit uns zu machen wäre, solange die Massenarbeitslosigkeit in diesem Ausmaß andauert! Das werden wir nicht mitmachen.
— Mein Gott, ich bitte Sie um alles in der Welt: Sie entlarven sich doch mit diesen Erklärungen selbst. Außerdem ist es wirklich schade um die Zeit.Zum Haushalt werden meine Kolleginnen und Kollegen bei der Beratung der Einzelpläne das Notwendige sagen. Ich beschränke mich auf das Folgende.Der Haushaltsentwurf, den Sie vorgelegt haben, ist der Ausdruck einer Politik, die wir ablehnen. Dieser Haushaltsentwurf bringt zwar mit einem Ausgabenzuwachs von 5,4 % die höchste Steigerungsrate seit 1982 — ganz entgegen allen Ihren Erklärungen. Trotz dieser Rekordsteigerung ist der Haushalt beschäftigungsfeindlich, weil er nichts zur Minderung der Arbeitslosigkeit beiträgt. Er ist nicht sozial, weil er keine der Ungerechtigkeiten der letzten Jahre korrigiert, sondern diese Ungerechtigkeiten verschärft und den alten auch noch neue Ungerechtigkeiten hinzufügt.Er ist außerdem unsolide, weil er schon jetzt erkennbare Mehrausgaben außer Betracht läßt und den Ausgleich nur durch unverhoffte Steuermehreinnahmen und die Veräußerung von Bundesvermögen zustande bringt. Das letzte unrühmliche Beispiel für den Ausverkauf des sogenannten Familiensilbers des Bundes ist die Veräußerung der Deutschen Pfandbriefanstalt; ein Verkauf, den vor allem die Nachfrager auf dem immer engeren Markt für erschwingliche Wohnungen noch zu spüren bekommen werden.
— Bedenken? Keine Fragen?
Die Friedenssicherungs- und Außenpolitik hat uns in den letzten Wochen, so im Anschluß an Ihren Moskau-Besuch, Herr Bundeskanzler, mehrfach beschäftigt. Ich konzentriere mich deshalb heute auf einige spezielle Bemerkungen.Wir begrüßen, daß unser Hauptverbündeter, die Vereinigten Staaten, nach Abschluß der Präsidentschaftswahlen alsbald wieder voll handlungsfähig sein wird. In der Person von George Bush folgt auf Ronald Reagan ein Präsident, der außenpolitisch erfahren ist und deshalb auf einen kontinuierlichen Fortgang des Abrüstungs- und des Rüstungskontrollprozesses hoffen läßt.Besorgt sind wir — ohne uns in unzulässiger Weise einmischen zu wollen — über die geringe Wahlbeteiligung am 8. November 1988. Kein Demokrat kann sich darüber freuen, wenn es in einem so großen demokratischen Land über die Hälfte aller Bürgerinnen und Bürger für überflüssig oder sinnlos halten, ihr Stimmrecht auszuüben.
— Meine Damen und Herren, Sie sind heute erstaunlich unruhig. Heben Sie sich das bitte für den Schlußteil auf; da werden Sie noch voll zum Zuge kommen.Wir wünschen der von Generalsekretär Gorbatschow auf den Weg gebrachten Politik der Erneuerung weiterhin Erfolg, auch und gerade in unserem Interesse und im Interesse Europas. Dabei dürfen wir allerdings die Lage und die Entwicklung in den anderen Ländern des Warschauer Pakts nicht aus den Augen verlieren. Polen, meine Damen und Herren, braucht beispielsweise nicht nur Ermahnungen und gute Ratschläge; Polen braucht vor allem auch unsere Hilfe, um mit seinen Problemen zurechtzukommen.
Gleiches — da stimmen wir ja wohl überein — gilt gerade in diesen Tagen für Jugoslawien.Wir fordern endlich Klarheit in der Frage der sogenannten Modernisierung der Lance-Raketen. Sie äußern sich zu dieser Frage seit Wochen — infolge der ständigen Wiederholungen muß ich fast annehmen: bewußt — zweideutig. In der „Washington Post" vom 16. November wird unter Berufung auf einen hohen westdeutschen „Offiziellen" sogar behauptet, Sie hätten bei Ihrem jüngsten Besuch in Washington Ihre Bereitschaft erklärt, die Ersetzung der Lance-Raketen durch neue Raketen und zusätzlich sogar noch die Einführung neuer Luft-Boden-Raketen mit beträchtlicher Reichweite mitzutragen.Die „Washington Post" , auf die Sie sich ja auch nicht selten berufen,
ist nicht irgendeine beliebige Zeitung, und selbst Sie werden sie nicht der „linken Kampfpresse" zurechnen. Ich fordere Sie deshalb auf, nein: ich bitte Sie, diesen Bericht von dieser Stelle aus zu dementieren, wenn Sie nachher das Wort nehmen.Im übrigen: Sie alle wissen doch genausogut wie ich, daß unser Volk die Stationierung neuer Raketen-
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7422 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. Vogelsysteme, also eine neue Nachrüstung, keinesfalls hinnehmen wird. Das wissen Sie doch.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir Sozialdemokraten werden einer Politik, die auf eine solche Nachrüstung im gegenwärtigen Prozeß der Abrüstung abzielt, erbitterten Widerstand entgegensetzen, erbitterten Widerstand.
Wir werden Sie auch durch eine parlamentarische Initiative dazu zwingen, daß Sie uns endlich klar sagen, ob Sie auf diesem Sektor zum Ja Ihres Verteidigungsministers oder zum Nein von Herrn Kollegen Genscher stehen. Mit diesem unklaren Spagat kann eine Frage von dieser Bedeutung nicht auf Monate und Jahre hinaus, vielleicht bis nach der Bundestagswahl in der Schwebe gehalten werden.
Wir beobachten mit Interesse die Diskussion, die in den letzten Monaten über Grenzen und Einschränkungen der Souveränität der Bundesrepublik in Gang gekommen ist, und beteiligen uns an ihr. Uns geht es dabei nicht um die Belebung eines vordergründigen Nationalismus. Was wir wollen, ist Klarheit darüber, ob und inwieweit es solche Beschränkungen noch gibt. Dort, wo es sie gibt, wollen wir, daß Sie in Einvernehmen mit den Verbündeten aufgehoben werden. Das Versteckspiel in dieser Frage etwa darüber, ob die sogenannte Flugakrobatik in Ramstein der Genehmigung deutscher Stellen bedurfte, ist untunlich. Dieses Versteckspiel nährt nur den Verdacht, die Einschränkungen reichten weiter und seien bedeutsamer als bisher angenommen. Ich bitte Sie deshalb, hier Klarheit zu schaffen und das Versteckspiel rasch zu beenden.Wir sind besorgt darüber, daß Sie sich auch hinsichtlich Ihrer Haltung zum südafrikanischen Apartheidregime noch immer dem Vorwurf mangelnder Klarheit aussetzen, daß Sie weltweit noch immer — das ist leider eine Tatsache — als stille Sympathisanten der dort Regierenden angesehen werden. Meine Damen und Herren, zu diesen Fragen gibt es eine ganz klare Aussage. Diese Aussage lautet:Die Folgen des perversen Apartheidsystems verletzen das Gefühl für Menschenwürde zutiefst. Die Apartheid in der Republik Südafrika ist moralisch und politisch unerträglich. Sie stellt eine Diskriminierung des Menschen dar, die Elend und Haß verursacht und Extremisten auf den Plan ruft. Dieses System muß mit friedlichen, aber eindeutigen, durch keine verkappten wirtschaftlichen Interessen verharmlosten Mittel überwunden und durch eine gerechte Ordnung ersetzt werden, die die Würde und das Lebensrecht eines jeden Menschen ohne Ansehen der Hautfarbe gewährleistet.
Diese Aussage stammt von unserem Bundespräsidenten, von Richard von Weizsäcker, und ich danke ihm dafür. Wir unterschreiben sie Wort für Wort und bitten, daß Sie, Herr Bundeskanzler, diese klare Aussage endlich zur Richtlinie ihrer Politik machen.
Unser weltweites Eintreten für Menschenrechte — es ist ja gut, daß sich die Aktivitäten quer durch das Haus verstärkten — wird erst glaubwürdig werden, wenn wir auch dem Apartheidregime gegenüber mit der Sprache des Bundespräsidenten reden.
Im Zusammenhang mit der Berliner Tagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ist viel über die Situation der Dritten Welt und die Notwendigkeit verstärkter Hilfe geredet worden. Wir meinen, es ist hoch an der Zeit, daß endlich gehandelt wird. Wir werden deshalb in der zweiten Lesung beantragen, eine Milliarde DM aus dem Verteidigungshaushalt für Zwecke eines Zukunftsprogramms Dritte Welt zur Verfügung zu stellen. Eine Milliarde DM — das sind 2 % des Verteidigungshaushalts. Unsere Sicherheit wird dadurch nicht beeinträchtigt, und für den Weltfrieden erreichen wir mit dieser einen Milliarde DM mehr als mit dem Jäger 90.
Wir sind schließlich für den Binnenmarkt und die Europäische Union. Sozialdemokraten — daran muß man gelegentlich erinnern — sind schon für die europäische Einigung eingetreten, als andere noch einen engstirnigen, ja, chauvinistischen Nationalismus in diesem Jahrhundert das Wort redeten und Europa damit in eine blutige Katastrophe stürzten. Allerdings wollen wir kein Europa der Millionäre. Wir wollen ein soziales Europa, in dem sich in erster Linie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Hause fühlen können. Wir wollen ein Europa, in dem das Parlament das Sagen hat.
Außerdem vergessen wir nicht: Die Gemeinschaft ist nur ein Teil Europas. Sie darf sich nicht abkapseln. Sie muß offen bleiben, ja, sich noch weiter öffnen — gerade im Zeitabschnitt der Schaffung des einheitlichen Binnenmarktes — für die Zusammenarbeit mit den Ländern der EFTA, also mit Österreich, mit der Schweiz, mit Schweden und den anderen skandinavischen Ländern, aber auch mit den europäischen Mitgliedsländern des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, also mit der Sowjetunion und allen anderen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes.Die Berliner Konferenz der Vorsitzenden der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien der EG und der EFTA hat in dieser Richtung ein Signal gegeben. Es wäre gut, wenn dieses Signal gemeinsam aufgegriffen würde.Ein Feld der Politik, das immer noch an Bedeutung gewinnt, ist der Schutz der Umwelt, die Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Neben den Problemen der Atom- und der Gentechnik und den
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7423
Dr. VogelHerausforderungen, die uns schon seit längerer Zeit zu schaffen machen und bei deren Bewältigung die bisherigen Fortschritte unzulänglich sind — ich nenne nur das Waldsterben und die zunehmende Vergiftung der Nordsee —, treten in diesen Monaten zwei neue Herausforderungen von globaler Dimension immer stärker in unser Bewußtsein, die Beschädigung der Ozonschicht und die drohende Klimaveränderung infolge der Anreicherung der Atmosphäre mit Kohlendioxid und anderen Gasen. Beide erfordern einschneidende Antworten, Antworten, die der Größe der Gefahren entsprechen, Gefahren, von denen uns der Zwischenbericht der zu Beginn dieser Legislaturperiode von uns gemeinsam eingesetzten Enquete-Kommission dankenswerterweise zu Beginn dieses Monats in nüchterner Sprache eine realistische Vorstellung vermittelt hat. Ich möchte dieser Kommission, an ihrer Spitze dem Vorsitzenden, dem Kollegen Schmidbauer, für diese sorgfältige und hilfreiche Arbeit ein sehr herzliches Wort des Dankes sagen.
Zur Vermeidung der Klimakatastrophe hilft nach diesem Bericht und nach jetzt fast übereinstimmender Meinung aller Experten nur eines, nämlich die drastische Reduzierung des Verbrauchs an Primärenergie. Wir dürfen nicht so wie bisher damit fortfahren, das, was die Natur in Jahrmilliarden angesammelt hat, in Zeiträumen aufzuzehren, die im Vergleich zu diesen Jahrmilliarden nur wie ein Augenblick, wie eine Sekunde erscheinen. Deshalb müssen wir die Entwicklung erneuerbarer, regenerativer Energien mit allem Nachdruck fördern, wir müssen aber auch den Energieverbrauch — und das ist die Wahrheit — verteuern und gleichzeitig die Arbeitskraft verbilligen. Beides leistet unser Vorschlag, einen fühlbaren Teil der Steuerlast von den Löhnen, den Einkommen, aber auch von den Erträgen — das wird mitunter in dieser Aufzählung vergessen — auf den Energieverbrauch zu verlagern, nicht um Haushaltslöcher zu stopfen, sondern um eine ökologische Wende mit Mitteln herbeizuführen, die der Größe der Herausforderung und der Gefahren entsprechen.Ich fordere Sie auf und lade Sie ein, mit uns in einen Dialog über diesen Vorschlag einzutreten. Das parteitaktisch motivierte Nein genügt nicht, dafür steht zu viel auf dem Spiel. Frau Breuel hat das erkannt und unseren Vorschlag unterstützt. Der Schweizer Bundesrat, der ja nun weiß Gott für seriöse Arbeit bekannt ist, arbeitet in der gleichen Richtung und hat dazu bereits sehr lesenswerte Vorschläge ausgearbeitet. Ich hoffe, Sie folgen bald, meine Damen und Herren von der Union, so lange wie bei der Ostpolitik können Sie diesmal nicht warten!
Auch die Nordsee kann übrigens nicht länger warten. Wir werden deshalb die Einsetzung einer ersten Rate in Höhe von 500 Millionen DM für das Sonderprogramm „Rettet die Nordsee jetzt" in den Haushaltsplan beantragen und dafür auch eine Deckung vorschlagen. Ich bitte auch hier, wenn parlamentarische Beratungen einen Sinn haben, daß Sie ernsthaft prüfen, ob Sie nicht diesem Ansatz zustimmen können.
Ich glaube, Herr Kollege Töpfer wäre glücklich, wenner einen ersten Schritt in diese Richtung tun könnte.Das Feld der Innenpolitik im engeren Sinne wird gegenwärtig von den Fragen beherrscht, die sich mit dem Asylrecht und dem Zustrom deutscher Aussiedler aus Osteuropa verbinden. Ich kann dazu nur sagen, wer mit den brisanten Themen ohne Verantwortung umgeht, wer die Emotionen, die hier allzu leicht entzündet werden können, schürt und parteipolitisch mißbraucht, versündigt sich an unserem Gemeinwesen und lädt ganz schwere Schuld auf sich.
Es ist vor allem, Herr Bundeskanzler, Ihre Pflicht, hier einzugreifen. Reden Sie weniger über Herrn Schnoor, kümmern Sie sich auf diesem Gebiet lieber um Herrn Stoiber.
Wenn Sie schon meinen, ein Innenminister müsse fristlos entlassen werden, dann sollten Sie für die Entlassung des Innenministers eintreten, der wenige Tage vor dem 50. Jahrestag der Pogromnacht den traurigen Mut besaß, von der „Durchrassung", also von der rassischen Vermischung, zu reden und damit einen Begriff aus dem NS-Vokabular in unsere Diskussion einzuführen.
Die spätere halbherzige Korrektur des Herrn Stoiber, der noch die Stirn besaß, für diese Äußerung der SPD die Verursachung und die Schuld zuzuschieben, ändert an diesem unglaublichen Vorgang nichts.Außerdem, Herr Bundeskanzler — das folgende sage ich auch an Ihre Adresse als Parteivorsitzender — , es vergeht ja leider kaum ein Tag, an dem nicht aus Ihren Reihen ähnliche Wendungen gebraucht werden. So etwa zuletzt die mir völlig unverständliche Wendung des Kollegen Albers aus dem Europäischen Parlament aus Ihrer Fraktion.
— Herr Bötsch, ich bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir da helfen, also Herr Albert; es ist ja auch ganz gleich, ob er Albert oder Albers heißt. Es ist der Vizepräsident, den Sie im Europäischen Parlament gestellt haben, der sich nicht zu schade ist, von einem „Bevölkerungsgulasch" zu reden, das er vermeiden wolle. Da Sie ihn gut kennen, können Sie ihn darüber ja vielleicht noch näher befragen.
Das alles, was ich hier als Gefahr kennzeichne, beginnt schon mit dem Gerede über eine Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes. Ich freue mich, daß auch aus den Reihen der Union — aus den Reihen der FDP ohnehin — Stimmen laut geworden sind, die eine sol-
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7424 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. Vogelche Änderung ablehnen. Ich möchte hier klipp und klar sagen: Mit uns wird es eine Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes nicht geben.
Das hängt mit dem Kapitel unserer Geschichte zusammen, das wir gerade in den letzten Tagen so oft beschworen haben. Über rechtsstaatlich einwandfreie Verfahrensbeschleunigungen und auch über die Abschiebung von Bewerbern, deren Asylantrag rechtskräftig abgelehnt worden ist, in Länder, in denen dem humanitäre Gründe nicht entgegenstehen — solche Länder gibt es auch in Osteuropa im gegenwärtigen Zustand — kann man mit uns reden. Über eine Beschränkung oder gar Aufhebung des Asylrechts kann man mit uns nicht reden.Aussiedler deutscher Abstammung und Volkszugehörigkeit, die sich nach reiflicher Überlegung entschließen, zu uns zu kommen, nehmen ebenfalls ein verbrieftes Recht wahr. Auch daran wird es mit uns keine Änderung geben.
Ändern sollten sich dagegen die Lebensbedingungen dieser Menschen in mehreren der Gebiete, in denen sie zum Teil seit Jahrhunderten leben, etwa in Rumänien. Ich glaube, es ist an der Zeit, der gegenwärtigen rumänischen Führung in diesem Punkt noch deutlicher und noch klarer entgegenzutreten, als das in der Vergangenheit — erfreulicherweise gemeinsam — schon geschehen ist.
Ändern muß sich aber, Herr Bundeskanzler, vor allem Ihre Politik hinsichtlich der Eingliederung derer, die in wachsender Zahl zu uns kommen. Es genügt nicht, daß Sie die Landsleute willkommen heißen und es dann den Ländern und Gemeinden überlassen, wie sie mit der Eingliederung dieser Familien zurechtkommen.
Das ist völlig ungenügend. Ich würdige ja die Anstrengungen, die unternommen worden sind; aber ich sage: Völlig ungenügend ist vor allem die Beteiligung des Bundes an dem Wohnungsbauprogramm.
Ich bitte deshalb ganz nachdrücklich, diese Programme zu erweitern, finanziell besser auszustatten und — das ist für mich der entscheidende Punkt — für alle Wohnungssuchenden zu öffnen, auch für die, die hier schon lange auf eine Wohnung warten.
Wenn wir verhindern wollen, daß die starke Brisanz dieses Themas sich immer noch weiter hochschaukelt, dann ist die Wohnungsfrage, die Gleichbehandlung derer, die hier warten, und derjenigen, die neu zu uns kommen, ein entscheidender Gesichtspunkt, auch daß die Menschen nicht — wie einer aus Ihren Reihen vorgeschlagen hat — abgeschottet voneinander untergebracht werden, sondern daß man in der Unterbringung eine vernünftige Mischung zustande bringt.Zu einer Gesamtbilanz gehört auch eine Bewertung der politischen Kräfte, die in unserem Lande miteinander im Wettstreit stehen. Ihre Partei — das sagen Sie ja selber, das hat Ihnen am Wochenende auch Herr Kollege Waigel gesagt — bietet dabei ein düsteres Bild. Daß Herr Wallmann Herrn Stoltenberg und Ihnen vorwirft, Sie hätten bei der Ausgestaltung des Strukturhilfegesetzes das Grundgesetz mißachtet und Sie deshalb vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ziehen will, ist dafür nur ein Beleg, allerdings ein recht bemerkenswerter. Es passiert jedenfalls nicht alle Tage, daß ein stellvertretender Parteivorsitzender seinen Parteivorsitzenden und einen anderen stellvertretenden Parteivorsitzenden mit dem Vorwurf des Verfassungsbruches konfrontiert und unter diesem Vorwurf nach Karlsruhe zitiert.Aber auch sonst befindet sich Ihre Partei von Kiel über Hannover und Frankfurt am Main bis nach Mainz in einem beklagenswerten Zustand.
— Aber sicher. Ich kann Sie doch nicht enttäuschen, lieber Herr Seiters. — Sprecher aus Ihren eigenen Reihen halten deshalb eine grundlegende Reform der Struktur Ihrer Partei für notwendig, sonst könnten— jetzt kommt ein wörtliches Zitat — so sagen sie, „wie bei der Barschel/Pfeiffer-Affäre in SchleswigHolstein am Ende Vorfälle stehen, die nicht nur die Regierungsfähigkeit, sondern sogar die moralische Substanz der repräsentativen Demokratie gefährden". So ein Sprecher der Sozialausschüsse der CDA.Parallelen zwischen den seinerzeitigen Entwicklungen in Schleswig-Holstein und der jetzigen in Niedersachsen sind ja auch in der Tat nicht leicht zu übersehen. Herr Stoltenberg und Herr Albrecht haben beide für ihre Schwierigkeiten nicht die wahren Ursachen, sondern die „linke Kampfpresse" verantwortlich gemacht. Herr Stoltenberg hat sich dafür — das ehrt ihn — nach dem Verlust der Macht entschuldigen müssen.
Herrn Albrecht, so meinen nicht wenige Beobachter, könnte es ähnlich gehen, weil auch dort von der so apostrophierten Presse nur die Wahrheit zutage gefördert worden ist; übrigens nicht von der Presse allein, sondern auch von Ihrem Parteifreund Ludolf-Georg von Wartenberg, der geholfen hat, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Ich weiß nicht, ob auch der schon zur „linken Kampfpresse" gehört, der Staatssekretär in Ihrem Kabinett.
Was man über den immer weiter um sich greifenden Bestechungsskandal in Frankfurt liest, klingt auch nicht besonders erfreulich.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7425
Dr. Vogel— Ich höre hier mit Vergnügen, daß offenbar die Führung der Stadt Frankfurt bereits in sozialdemokratische Hände übergegangen ist, weil hier gesagt wird: „Alles Genossen".
Das passiert am 12. März. Jetzt trägt die Verantwortung seit 1977 die Christlich-Demokratische Union.Zu den Ereignissen in Mainz will ich mir aus naheliegenden Gründen eher Zurückhaltung auferlegen. Aber daß hier bei einem parteiinternen Machtkampf die primitivsten Regeln des Anstandes in schändlicher Weise verletzt worden sind, das erlaube ich mir in aller Deutlichkeit auszusprechen.
Wer eigentlich, meine Damen und Herren von der Union, soll noch an das von Ihnen immer wieder plakatierte christliche Menschenbild einer Partei glauben, die so mit ihren eigenen Leuten umspringt? Vielleicht, Herr Bundeskanzler, wird ein Ehrgeizling mit derartigen Methoden in Ihrer Partei noch weiter nach vorn kommen. Aber die endgültige Quittung werden Sie von den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes bekommen.
Weil Sie das wissen, lehnen Sie ja auch die demokratisch saubere Lösung rascher Neuwahlen mit fadenscheinigen Gründen ab.Außerdem, Herr Bundeskanzler, können Sie eigentlich einer Partei noch sicher sein, deren neuer Landesvorsitzender Ihnen öffentlich vorwirft, Sie seien über die wahren Verhältnisse sogar in Rheinland-Pfalz nicht mehr im Bilde, und die sich mit großer Mehrheit über Ihre Empfehlungen hinwegsetzt?Sie sind hier einmal aufgebrochen, um die deutsche Politik geistig-moralisch zu erneuern. Ich habe diese Passage Ihrer Regierungserklärung noch deutlich im Ohr.
Herr Bundeskanzler, was ist denn von der geistig-moralischen Erneuerung eigentlich geblieben? Welche Lehre haben Sie denn eigentlich unter dem Gesichtspunkt geistig-moralischer Erneuerung aus den Kieler Ereignissen gezogen? Wäre es denn nicht folgerichtig gewesen, in Niedersachsen durch Neuwahlen rechtzeitig einen neuen Anfang zu machen?
Sie haben doch selber nach Kiel gesagt — ich zitiere wörtlich — , die Erhaltung der Macht rechtfertige nicht jeden Preis. Ich finde, der Preis, um den Sie Ihre Macht in Niedersachsen erhalten wollen, ist jetzt schon für unsere Gemeinschaft und für unser Gemeinwesen zu hoch.
Außerdem: Herr Bundeskanzler, ist es Ihnen denn nicht selber insgeheim peinlich, daß die Mehrheit des Herrn Albrecht in Niedersachsen von der Stimme eines Abgeordneten Ihrer Partei abhängt, der wegen Wahlbetruges rechtskräftig verurteilt worden ist? Das ist ein Vorgang, der in der Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ohne Beispiel ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ist es Ihnen nicht selbst insgeheim peinlich, daß in Rheinland-Pfalz ein Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten zu einem Zeitpunkt vorgeschlagen worden ist, zu dem gegen ihn staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen eines schwerwiegenden Vorwurfs noch im Gange sind?
Ich greife der Verfügung der Staatsanwaltschaft in keiner Weise vor; aber ich erkläre wahrheitsgemäß: Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, daß während eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts eines Delikts im Amt der betreffende Mann als Kandidat vorgeschlagen wird.
Hätte das nicht Zeit bis zum Abschluß des Verfahrens gehabt?Ich habe Sorge, daß die Hemmschwellen für den korrekten Umgang immer niedriger werden.
Sie selbst sind bei alldem entgegen dem äußeren Anschein — ich meine das in bezug auf Ihr Verhalten — dünnhäutig geworden. Das verrät insbesondere die Wortwahl, zu der Sie sich neuerdings verleiten lassen.
Sie bezeichnen das Verhältnis zu den Gewerkschaften als Feindschaft. Einem Berufsverband, der nicht anders argumentiert und polemisiert als andere und weiß Gott milder polemisiert, als Sie das häufig tun, schreiben Sie, er handle infam.Meiner Partei, der Sie eben noch zu ihrem Jubiläum eine von uns dankbar entgegengenommene ehrende Würdigung gewidmet haben, werfen Sie in öffentlicher Rede vor, sie sei verkommen. Gerade mit diesem Ausdruck wäre ich an Ihrer Stelle als Vorsitzender einer Partei, die an nicht wenigen Stellen Schlimmes zu verantworten hat, überaus vorsichtig.
Wie sagten Sie doch, Herr Bundeskanzler, vor wenigen Tagen auf einem Parteitag in Aachen? Wörtliches Zitat:Wenn man das eigene Haus nicht in Ordnung hat, kann man das Land nicht regieren. Das ist eine ganz einfache Überlegung.Sehr wahr, Herr Bundeskanzler.
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7426 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. VogelAber welche Folgerung ziehen Sie denn aus dieser Feststellung? Das ist alles nicht gut. Worte, wie Sie sie verwenden, wählt nur, wer sich trotz aller nach außen zur Schau getragenen Zufriedenheit unsicher und in Bedrängnis fühlt. Diese Bedrängnis wird noch zunehmen, auch deshalb, weil nach dem Urteil eigener führender Mitglieder Ihrer Partei die Christlich-Demokratische Union konzeptionell erschöpft ist und ihre programmatische Kraft verloren hat.Frau Breuel, Wirtschaftsministerin in Niedersachsen, Ihre eigene Parteifreundin, sieht und beschreibt das in einem lesenswerten Text folgendermaßen:Bonn 1988 ist für mich ein schwankendes und suchendes Bonn. Es gibt Murren über die Zirkelwirtschaft des Kanzlers. Optimismus läßt sich nicht verordnen. Weil die Gesamtschau fehlt, wächst der Widerstand auch in den eigenen Reihen. Gefragt ist Überschaubarkeit, Schlüssigkeit, Solidität unserer Politik, die nicht Taktik, sondern Überzeugung ausstrahlen muß.Frau Breuel hat recht; genauso ist es.Ich füge hinzu: Das, was sie da schreibt, geht natürlich auch an die Adresse anderer Parteien. Es ist eine korrekte Beschreibung dessen, was Parteien zu leisten haben. Aber Sie sind in der Regierung, und es ist eine Stimme, die sich kritisch an Sie richtet.Wir lassen diese Kriterien auch für uns gelten. Wir arbeiten mit großer Anstrengung daran, ihnen gerecht zu werden.Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Partei haben ihren Vertrauenskredit im Bund und in den meisten Ländern nahezu aufgebraucht. Wir haben — das zeigen die Äußerungen bis in die letzten Tage hinein — neues Vertrauen gewonnen. Auch deshalb rückt der Tag näher, an dem die Rollen in diesem Hause neu verteilt werden. Bis dahin tun wir unsere Pflicht als stärkste Oppositionspartei.Ihren Haushalt, den Haushalt des Bundeskanzleramts, lehnen wir ab.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Dregger.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, zu Beginn der Debatte hatte ich die Hoffnung, daß wir eine harte, akzentuierte, aber faire Auseinandersetzung würden führen können. Als Sie dann zum Schluß Ihrer Rede auf Bundesländer eingingen, dabei Namen von Personen nannten, die hier nicht anwesend sind, die sich hier nicht äußern können — —
— Weil der Deutsche Bundestag nicht dazu da ist, die Probleme von Niedersachsen oder von RheinlandPfalz zu lösen.
Dafür sind die Parlamente von Bremen, von Hamburg,
von Niedersachsen, von Nordrhein-Westfalen zuständig. Wenn Sie schon die Absicht haben, so etwas hier zur Sprache zu bringen, dann gehört es zumindest zur Fairneß, das vorher mitzuteilen,
damit sich Betroffene darauf vorbereiten können.
Insgesamt war die Rede des Oppositionsführers eine Mischung von Dichtung und Wahrheit. Obwohl ich eine poetische Ader an ihm nie habe entdecken können, überwog ohne Zweifel die Dichtung. Aber die Rede enthielt auch einige Sätze, die richtig sind.
In der Tag, der Erdölpreisverfall ist unserer wirtschaftlichen Entwicklung entgegengekommen. Richtig!
Auf der anderen Seite ist dadurch der Subventionsbedarf der deutschen Steinkohle gewachsen. Da wir darüber gerade verhandelt haben und verhandeln müssen, wäre es sehr angemessen gewesen, Herr Vogel — wenn Sie diesen Aspekt schon anschneiden — , die Konsequenzen für Kohlesubventionen nicht zu verschweigen. Das gilt um so mehr, als wir den Eindruck haben, daß die Revierländer im Augenblick nicht bereit sind, sich an der Lösung dieses großen Problems in angemessener Weise zu beteiligen,
das ja gerade für die Energiewirtschaft der NichtRevierländer tiefgreifende Folgen hat.
Herr Vogel, es gibt andere Herausforderungen als damals: den Dollarverfall und die Schuldenkrise der Dritten Welt. Daß sie gemeistert werden konnten, ist uns nicht in den Schoß gefallen. Dazu haben die Notenbanken und die Regierungen der großen Industrienationen beigetragen. Unsere Steuerentlastungspolitik z. B. hatte auch den Sinn, einen Beitrag zu leisten, nämlich zu verhindern, daß diese Entwicklungen in Protektionismus und anderen Gefahren enden würden. Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg und der Präsident der Bundesbank, Herr Pöhl, haben dazu ganz wesentliche Beiträge geleistet.Schlimm fand ich, Herr Vogel, daß Sie den Eindruck erwecken wollten, als ob wir soziale Gerechtigkeit als Neid diffamieren wollten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7427
Dr. DreggerSoziale Gerechtigkeit gehört zu unseren Grundwerten.
Ich bin der Meinung, daß wir soziale Gerechtigkeit seit Ludwig Erhard in einer Weise verwirklichen, wie es Ihnen noch nicht gelungen ist, meine Damen und Herren.
In den Jahren 1987 und 1988 sind die Reallöhne der Arbeitnehmer um mehr als 8 % gestiegen, und dieser Anstieg hält in dieser Zeit an.
Während Ihrer Zeit sind die Reallöhne gesunken. Ich finde, daß Geldwertstabilität die größte soziale Errungenschaft ist. Wir haben sie geschaffen und wiederhergestellt und nicht Sie.
Meine Damen und Herren, wir haben auch nie den Beitrag der Gewerkschaften zu einer vernünftigen Politik herabgesetzt.
Diese Gewerkschaften, Herr Vogel, haben langfristige Tarifverträge geschlossen. Warum konnten sie es tun? Sie konnten es tun, weil sie Vertrauen in unsere Politik der Geldwertstabilität haben konnten. Sonst wäre das ja wohl nicht möglich gewesen.
Was die Würdigung der mittelständischen Wirtschaft angeht, brauchen Sie uns wohl keine Belehrungen zu erteilen.
Meine Damen und Herren, wichtiger als Subventionen im Einzelfall ist sicherlich der Tarifverlauf, den wir durch die große Steuerreform eingeführt haben: den durchgehenden Tarif vom Eingangssteuersatz bis zum Spitzensteuersatz. Das war die beste mittelstandspolitische Maßnahme, die überhaupt möglich sein konnte.
Herr Vogel, Sie haben sehr viele Details vorgetragen und kritisiert. Die Alternativen und die Zukunftsvorstellungen der SPD sind dabei allerdings nicht erkennbar geworden.
Ich glaube nicht, daß das ein rhetorischer Mangel war, sondern denke, daß Sie solche Zukunftsvorstellungen und Alternativen nicht besitzen.
Das ist sehr bedauerlich, weil wir ja in der Tat vor großen Herausforderungen stehen. Ich will nur einige nennen.Das Ungleichgewicht der Generationen, die zu geringe Zahl an Neugeborenen, der damit drohende Verlust an Jugend, an Innovationskraft, an Zukunft —
Die Gefährdung der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen im nationalen, vor allem im europäischen, ja im gesamteuropäischen Rahmen und in weltweiten Zusammenhängen.Schließlich die Vollendung des europäischen Binnenmarkts bis 1992 — eine geradezu revolutionäre Veränderung für Wirtschaft, Gesellschaft, für Unternehmen und Gewerkschaften, für die europäische Staatenwelt und für die beiden anderen großen Wirtschaftsräume in Nordamerika und Südostasien.All das verlangt von uns Reformbereitschaft, Wandlungsfähigkeit, Kreativität, eine große nationale und zum Teil auch internationale Kraftanstrengung.Zuwarten, Verharren im reinen Verbalismus, das können wir uns nicht leisten. Wer jetzt schläft, verschläft seine Zukunft. Wir müssen handeln, wir müssen die Weichen stellen. Wir müssen sie jetzt stellen, und das tun wir.Seit dem Regierungswechsel im Oktober 1982, in nur sechs Jahren, haben wir allein an inneren Reformen mehr auf den Weg gebracht als Sie, meine Damen und Herren der SPD, in 13 Jahren zuvor.
Sie haben von Reformen vor allem geredet, wir machen sie.Zehn Erfolgstatsachen möchte ich nennen, ehe ich mich drei großen Aufgaben zuwende, die wir noch in dieser Legislaturperiode meistern müssen.Erstens. Frieden und Freiheit sind nach innen und außen gesichert. Im Verteidigungsbündnis der NATO, unserer Wertegemeinschaft westlicher Demokratien, ist die Bundesrepublik Deutschland ein verläßlicher und hochangesehener Partner.In Europa erstreben wir über den Binnenmarkt hinaus eine Wirtschafts-, Währungs- und Sicherheitsunion, eine politische Union der freien Staaten Europas, die zunächst zum gleichgewichtigen Gesprächspartner der Weltmächte und später zur friedenserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten werden kann. Unter der deutschen Präsidentschaft sind die Weichen für den Binnenmarkt gestellt worden. Alle unsere europäischen Partner haben die Führungskraft Helmut Kohls, des deutschen Bundeskanzlers, bei der
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7428 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. DreggerVerwirklichung dieser Aufgabe ausdrücklich anerkannt.
Mit der Sowjetunion und den Staaten Ost-Mitteleuropas stehen wir in einem aktiven, friedenssichernden Dialog. Die Reise von Bundeskanzler Kohl nach Moskau hat den deutsch-sowjetischen Beziehungen eine neue Qualität gegeben. Das ist von allen Seiten anerkannt worden, auch von der Opposition in diesem Haus.Bei allen Unterschieden, die uns von der Sowjetunion trennen; eines haben unsere Völker gemeinsam: Sie haben den Krieg im eigenen Land erlebt, und sie haben dabei schreckliche Verluste erlitten,
die größten Verluste an Gefallenen und Vermißten überhaupt, die Völker in diesen beiden Weltkriegen zugefügt worden sind. Diese Erfahrung hat unsere Völker geprägt und, wie ich glaube, auch ihre politische Führung. Angesichts des Furchtbaren, das hinter uns liegt, und angesichts der Gefahren, die es abzuwehren gilt, sollten Deutsche und Russen und die anderen Völker der Sowjetunion in der Lage sein, gemeinsam Friedenspolitik zu machen.
Zweitens. Wir schaffen Frieden mit weniger Waffen. Wir haben den INF-Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion unterstützt, obwohl er nicht alle unsere Wünsche erfüllt. Wir haben ihn unterstützt, weil wir hoffen, daß er nur ein erster Schritt eines Abrüstungsprozesses ist, der auch uns, das geteilte Land an der Militärgrenze, entlastet.Uns geht es vor allem um die Abrüstung auch der Kurzstreckensysteme auf vereinbarte niedrige Obergrenzen. Sie können den potentiellen Angreifer nicht abschrecken, weil sie nur das Land des potentiellen Opfers erreichen können. Als Teil eines nicht unterbrochenen Abschreckungsverbundes, der Nordamerika und Europa zu einer strategischen Einheit macht, bleiben sie allerdings vorerst unentbehrlich.Vor allem geht es uns um die Beseitigung der militärischen Übermacht der Sowjetunion im Bereich der Panzerarmeen. Diese Übermacht begründet die Invasionsfähigkeit uns gegenüber. Auch darüber haben wir in Moskau gesprochen.Wir hoffen, daß beide Bündnissysteme die gewonnene prinzipielle Übereinstimmung über die Notwendigkeit auch asymmetrischer Abrüstung in konkrete Vereinbarungen umsetzen können. Wir werden dazu auch in Zukunft — wie in der Vergangenheit — unseren Beitrag leisten.Drittens. In der Deutschlandpolitik haben wir im Hinblick auf den Reiseverkehr große Fortschritte erzielt: Über 5 Millionen Reisen aus der DDR konnten wir im vergangenen Jahr zählen. 1,2 Millionen davon waren Reisende unterhalb des Rentenalters. Diese Entwicklung setzt sich fort. Wir haben die Grenze aus Stein und Stacheldraht durchlässiger gemacht. Die geteilte Nation verliert sich nicht aus den Augen. Wir bleiben im Kontakt.Dabei verzichten wir nicht darauf, das Unrecht der Teilung und die Verletzung der Menschenrechte in den anderen Teilen Deutschlands beim Namen zu nennen. Wir verzichten erst recht nicht darauf, für die Einheit Deutschlands einzutreten. Der Bundeskanzler hat das in nicht zu übertreffender Klarheit in seiner Eingangsrede in Moskau getan.
Der Widerspruch von Gorbatschow hat uns weder überrascht noch verunsichert. Denn, meine Damen und Herren, ich bin überzeugt davon: Die Zeit arbeitet für uns, wenn wir standhaft bleiben.
Sie arbeitet für uns, weil sie für die Freiheit arbeitet. Gorbatschow weiß, daß sich die Sowjetunion wandeln muß: zu mehr Freiheit hin, wenn auch nicht zu einer Freiheit in dem Ausmaße, wie wir sie kennen, daß sich die Sowjetunion wandeln muß zu mehr Freiheit hin, wenn sie wirtschaftlich nicht weiter verarmen, wenn sie ihren Menschen Hoffnung geben, wenn sie Weltmacht bleiben will. Wenn sich aber die Sowjetunion zu mehr Freiheit hin wandelt, dann werden auch die Honeckers und Ceauçescus diesen Wandel nicht stoppen können, auch wenn sie jetzt sowjetische Zeitschriften in ihren Ländern verbieten.
Wenn sich aber die kommunistische Welt zu mehr Freiheit hin wandelt, dann wird sie auch uns Deutschen das Freiheitsrecht auf nationale Einheit nicht vorenthalten können.
Deswegen, lieber Kollege Brandt und lieber Kollege Bahr, unterstützen wir nicht Ihre Vorstellungen von zwei Friedensverträgen mit zwei Deutschlands. Es gibt nur ein Deutschland, und es kann nur einen Friedensvertrag für Deutschland als Ganzes geben.
Wir wissen, meine Damen und Herren, daß wir unser Ziel nicht in einem Schritt, sondern nur in einem Prozeß erreichen können, der die Interessen aller Beteiligten, auch die der Sowjetunion, berücksichtigt. Dafür gibt es Lösungen; wir arbeiten daran.Viertens: offene Herzen und Solidarität. Herr Vogel hat dieses Thema schon angeschnitten. Über 200 000 Deutsche aus Polen, Rumänien und der Sowjetunion werden 1988 zu uns in die Bundesrepublik Deutschland kommen. In Moskau hat der Bundeskanzler Deutsche empfangen, die in ihrer Heimat bleiben wollen, was wir begrüßen und was wir unterstützen. Er hat auch einige empfangen, die jetzt auf dem Wege zu uns sind. Von beiden waren wir sehr beeindruckt. Meine Damen und Herren, alle Bundesregierungen haben sich dafür seit langem eingesetzt. Wir nehmen die Deutschen, die zu uns kommen, herzlich auf und bieten ihnen bei uns eine beständige Heimat.
Das verlangt von uns offene Herzen und Solidarität.Wir werben um diese Solidarität bei unseren Mitbür-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7429
Dr. Dreggergern. Sie haben ähnliches und Größeres bei der Aufnahme von Millionen von deutschen Heimatvertriebenen am Ende des Krieges schon einmal geleistet.Meine Damen und Herren, ich muß leider ein Wort zu Herrn Lafontaine sagen, dem stellvertretenden SPD-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten des Saarlandes. Ich fürchte, er wird in dieser Hinsicht als abschreckendes Beispiel in die Geschichte eingehen. Seine Einschätzung der Deutschen, die jetzt zu uns kommen, war herzlos. Sie übersieht die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland für die Deutschen eine ähnliche Funktion hat wie Israel für die Juden. Wie Israel die Heimat aller verfolgten und unterdrückten Juden ist, so ist die Bundesrepublik Deutschland die Heimat aller verfolgten
und unterdrückten Deutschen.
Sattheit und Wohlstand bei uns dürfen uns nicht verführen,
rücksichtslos gegenüber den Deutschen zu sein, die unter Not und nationaler Unterdrückung zu leiden hatten. Auf diese Deutschen können wir im übrigen stolz sein. Sie haben durch Jahrhunderte hindurch — bei den Siebenbürger Sachsen waren es über 800 Jahre — ihre deutsche Sprache und Kultur bewahrt. Sie haben Einzigartiges für ihre Heimatgebiete und Gastländer geleistet. Sie waren in all diesen Jahrhunderten eine wertvolle Brücke zwischen diesen und uns.
Herr Kollege Vogel, Sie haben die Äußerungen von Herrn Lafontaine korrigiert. Dafür bin ich Ihnen dankbar. Ich bin wie Sie der Meinung, daß Bund, Länder und Gemeinden mit den Bürgern diese Aufgabe zu erfüllen haben. Der Bund hat für den Wohnungsbau 750 Millionen DM zur Verfügung gestellt,
mit dem Bemerken, daß wir weitere Mittel zur Verfügung stellen werden, wenn die Lage es erfordert.
Fünfte Erfolgstatsache: Europa hat wieder an Dynamik gewonnen. Brüssel im Februar, Hannover im Juni 1988 — unter deutscher Präsidentschaft, d. h. unter der Präsidentschaft von Helmut Kohl, ist der Durchbruch gelungen.
Die Europäische Gemeinschaft wird 1992 zum größten Binnenmarkt der Erde, mit 320 Millionen Einwohnern, mit neuen Wachstums- und Beschäftigungschancen, mit guten wirtschaftlichen und politischen Perspektiven. Wir müssen sie nutzen. Und das heißt auch hier wieder: Wir müssen handeln.Sechstens. Seit sechs Jahren, d. h. seit der Regierungsübernahme von Helmut Kohl, haben wir wieder eine florierende Wirtschaft.
Das reale Wachstum erreichte im ersten Halbjahr 1988 mit fast 4 % ein stolzes Ergebnis. Seit 1982 summiert sich dieses Plus auf rund 12 % real. Und die Preise sind stabil.Die solide und erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik kommt allen Bürgern zugute, den Arbeitnehmern ebenso wie den Unternehmern, den Rentnern ebenso wie den Sparern. Allein in den beiden Jahren 1986 und 1987 stieg das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte um real 8,5 %.
Im ersten Halbjahr dieses Jahres hielt der Anstieg mit real 4 % an.Seit 1983 — auf dieses Thema sind Sie eingegangen, Herr Vogel, Sie haben das aber nicht gesagt —, seit dem Tiefpunkt, sind weit über 850 000, fast 900 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden, nicht neue — neue waren es viel mehr — sondern zusätzliche Arbeitsplätze, über die alte Zahl hinaus, davon ein großer Teil in Zukunftsindustrien.Die Kurzarbeit ist drastisch zurückgegangen, die Jugendarbeitslosigkeit erheblich gesunken.
Nahezu alle Jugendlichen finden wieder eine Lehrstelle.
Die Zahl der Erwerbstätigen erreichte im September 1988 mit über 26,4 Millionen einen neuen Höchststand. Aller Voraussicht nach werden wir im nächsten Jahr die Arbeitsplatzverluste ausgeglichen haben, die Anfang der 80er Jahre unter der Regierungsverantwortung der SPD entstanden waren.
Das ist dann gewiß ein großer Erfolg, mit dem wir uns aber nicht zufriedengeben. Wir müssen die Zahl der Arbeitsplätze weiter vermehren, da die Nachfrage in den letzten Jahren erheblich gestiegen ist: mehr junge Menschen, mehr Frauen, mehr Ausländer und jetzt die Deutschen, die von ihrem verfassungsmäßigen Recht auf Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch machen. Wir arbeiten daher mit Nachdruck daran, die Zahl der Arbeitsplätze über die von uns zusätzlich geschaffenen fast 900 000 hinaus zu vermehren. Das geht nicht wie in einer Planwirtschaft mit staatlichen Maßnahmen. Und auch Planwirtschaften haben dabei ja keine Erfolge, sondern allenfalls Scheinerfolge.
Mehr Arbeitsplätze, das heißt mehr internationale Wettbewerbsfähigkeit. Das aber heißt mehr Qualifizierung, mehr Ausbildung in Berufen, die nachgefragt werden, mehr Forschung und Entwicklung,
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7430 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. Dreggerengere Zusammenarbeit von Universitäten und Wirtschaft, wie es z. B. in der neuen Universität in Ulm in vorbildlicher Weise geschieht.
Ausbildung, Qualifizierung, Forschung und Entwicklung, das sind die guten Karten, die wir haben und die wir einsetzen müssen.Siebter Punkt: Solidarität mit unseren Bauern. Unsere Bauern haben unter der Überproduktion zu leiden, die alle fortschrittlichen Agrarnationen heimsucht. Die Bauern sind für uns nicht nur Agrarproduzenten, sondern auch Landschaftspfleger und mittelständischer Kern der ländlichen Räume.
Deshalb lassen wir sie nicht im Stich.
Nicht von allen EG-Ländern unterstützt, teilweise im Gegenteil behindert, kämpfen wir für auskömmliche Preise durch Produktionsbegrenzung, durch Anpassung der Produktion an den Bedarf. Flächenstilllegung, Produktionsaufgaberente, Extensivierung der Produktion, d. h. weniger Dünger, Quotenregelung bei der Milchproduktion, all das sind deutsche Ideen und Erfolge in der EG. Das Strukturgesetz in dessen Mitte die flächenmäßige Verteilung von über 1,1 Milliarden DM und die Einführung der Förderobergrenze gegenüber Agrarfabriken stehen, ist ein weiterer Schritt.Der Agraretat liegt heute 60 % über dem Stand vor der Regierungsübernahme. Er hat sich damit völlig anders entwickelt als die anderen Haushalte, deren Ausweitung zum Zwecke der Konsolidierung stark begrenzt wurde.Achtens. Familien haben bei uns wieder Zukunft. Mit einer Reihe von Maßnahmen — beispielsweise Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub, steuerlicher Familienlastenausgleich und Baukindergeld — wird die wirtschaftliche Situation der Familien spürbar erleichtert. Nach dem jetzigen Stand betragen die familienpolitischen Entlastungen, für die sich vor allem die CDU und die CSU eingesetzt haben, im Zeitraum 1985 bis 1990 rund 16,6 Milliarden DM jährlich. Leistungen für Kinder sind die wichtigste und die beste Zukunftsinvestition.
Wichtiger als alle materiellen Dinge, kostbarer als alles andere sind die Menschen.
Neuntens: für gesunde Umwelt. Während die SPD über Umweltschutz über ein Jahrzehnt vor allem redete, haben CDU und CSU zusammen mit der FDP im Interesse unserer natürlichen Lebensgrundlagen gehandelt: Einführung des Katalysatorautos,
strenge Gesetze für die Luftreinhaltung, für Boden- und Gewässerschutz, Reaktorsicherheit — und nun als große Aufgabe: Schutz der Ozonschicht.Einige Ergebnisse unserer erfolgreichen Umweltpolitik: jährlich 2 000 Tonnen weniger Bleiemissionen, Verminderung des Schwefeldioxidausstoßes bis 1995 auf ein Drittel des Standes von 1982, 15 000 Tonnen weniger Phosphor in Wasch- und Reinigungsmitteln in den beiden letzten Jahren.Viel bleibt zu tun, insbesondere an der europäischen Front. Wir sind die Vorreiter des Umweltschutzes in Europa.
Im Rahmen der EG werden wir weiterhin nichts unterlassen, was möglich ist, um unsere Partner für weitere Umweltinitiativen zu gewinnen, wenn möglich, auch unsere osteuropäischen Partner; denn der Wind weht, wohin er will.Was uns der Umweltschutz bedeutet, zeigt aber auch seine ressortmäßige Verselbständigung. Wie die CSU den ersten Landesminister für Umwelt — es war der heutige bayerische Ministerpräsident Max Streibl — stellte, so hat die Union auch den ersten Bundesminister für Umweltschutz gestellt; es ist der heutige hessische Ministerpräsident Walter Wallmann.Zehntens. Die Bundesrepublik Deutschland nimmt heute wieder einen Spitzenplatz unter den großen Industrienationen der Welt ein. Wir sind zur Zeit die Exportnation Nummer eins mit einer breiten Angebotspalette von Maschinen und Anlagen, Autos und Elektronik, Technik und Konsumgütern. Unsere außenwirtschaftliche Leistungsbilanz ist positiv. Für Forschung und Entwicklung werden 1988 rund 60 Milliarden DM von Staat und Wirtschaft ausgegeben, ein Rekordergebnis für unsere Zukunftssicherung.
Die wirtschaftlichen und finanziellen Rahmendaten für diese Erfolge unserer Bundesrepublik Deutschland haben wir gesetzt, und zwar insbesondere durch die große Steuerreform, die wir in drei Stufen 1986, 1988 und 1990 verwirklichen. Die Steuerreform ist ein großes, kühnes und sozial ausgewogenes Werk.
Wir entlasten vor allem die kleinen und mittleren Steuerzahler um netto über 40 Milliarden DM jährlich. Dabei sind die geringfügigen Verbrauchsteuererhöhungen abgezogen, die wir, wie angekündigt, beschlossen haben.Die Opposition hat diese Steuerentlastung, die vor allem den kleinen und mittleren Steuerzahlern zugute kommt, erbittert bekämpft.
Inzwischen hat sie ihre eigenen Pläne zurückgenommen.Alle Voraussagen der Opposition haben sich als falsch erwiesen, auch im Hinblick auf die Finanzen der Gemeinden, die ja angeblich vor dem Ruin standen. Die Steuereinnahmen der Gemeinden sind trotz der Steuerentlastung nicht zurückgegangen. Sie haben sich in diesem Jahr weiter erhöht, im ersten Halbjahr 1988 um 8,9 %, bei der Gewerbesteuer sogar um mehr als 11 %. Das Haushaltsdefizit der Gemeinden
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7431
Dr. Dreggerwird in diesem Jahre etwa 2 Milliarden DM betragen. 1981 lag es ohne Steuerentlastung der Bürger bei 10 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, Sie haben sich auf allen Feldern so geirrt, daß Sie wirklich nachdenklicher werden sollten.Drei große Aufgaben stehen in den nächsten Monaten vor uns: Am Freitag wollen wir die Gesundheitsstrukturreform verabschieden. Es geht um die Sicherung unseres freien Gesundheitswesens. Seit 1960 sind die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung von 9 Milliarden DM auf 125 Milliarden DM gestiegen; sie haben sich vervierzehnfacht. Die Belastungen mußten von den Beitragszahlern und der Wirtschaft je zur Hälfte getragen werden. Der Durchschnittsbeitrag zur Krankenkasse ist von 1970 bis heute von 74 DM auf 360 DM pro Monat gestiegen. Diese Kostenexplosion zu Lasten der Beitragszahler und der Wirtschaft muß gebremst werden, wenn wir unser freiheitliches und leistungsfähiges Gesundheitswesen erhalten wollen. Das wollen wir. Deshalb haben wir den Mut und die Kraft zur Reform.Unser Strukturgesetz verfolgt vier zentrale Ziele:Erstes Ziel: Die Leistungen der Solidargemeinschaft „Krankenversicherung" sollen überall dort, wo es geht, durch Festbeträge auf das medizinisch Notwendige konzentriert werden. Das medizinisch Notwendige soll zu 100 % erstattet werden. Wer anderes oder mehr will, muß das selbst finanzieren.Zweites Ziel: Durch den Abbau der vorhandenen Überversorgung wird der Spielraum für neue Aufgaben gewonnen. Es soll mehr für die Vorsorge und die Bekämpfung der großen Volkskrankheiten getan werden. Insbesondere soll denen geholfen werden, die zu Hause aufopferungsvolle Pflegearbeit leisten.
Hilfe zur Pflege der Angehörigen zu Hause: Das ist wichtiger, sozialer und notwendiger als die Erstattung jeder Ausgabe für Zwecke, die über das medizinisch Notwendige hinausgehen.Drittes Ziel: Die Beiträge sollen auf niedrigerem Niveau langfristig stabilisiert werden, damit die Beitragszahler — Versicherte und Unternehmen — nicht überfordert werden, denn steigende Sozialbeiträge und zu hohe Steuern behindern die Schaffung neuer Arbeitsplätze.Viertes Ziel: Solidarität und Eigenverantwortung sollen stärker miteinander verbunden werden. Nach hundert Jahren punktueller gesetzgeberischer Eingriffe in die Krankenversicherung wird das neue Recht der Krankenversicherung jetzt im Fünften Buch des Sozialgesetzbuches zusammengefaßt. Es soll am 1. Januar 1989 in Kraft treten. Meinen herzlichen Glückwunsch allen Kolleginnen und Kollegen, die sich dieser Aufgabe gewidmet haben, insbesondere Norbert Blüm, dem zuständigen Ressortminister.
Rentenreform für Sicherheit im Alter,
das ist eine der großen und schwierigen Reformaufgaben, schwierig vor allem deshalb, weil das Verhältnis zwischen künftigen Beitragszahlern und künftigen Rentnern aufs schwerste gestört ist.
Inzwischen hat der Bundesarbeitsminister den Reformentwurf vorgelegt.
Durch die von uns vorgesehenen Maßnahmen wird das gegenwärtige System ohne gravierende Mehrbelastungen für Beitragszahler und Wirtschaft und ohne unzumutbare Eingriffe für die Rentner bis weit über die Jahrhundertwende hinaus gesichert.
Das von uns reformierte System ist auch in der Lage, sich künftigen Veränderungen und Belastungen anzupassen. Der Staat wird in fairer Weise in die Mitverantwortung genommen. Seine Leistungen an die Rentenversicherung sollen sich nicht mehr allein an dem Anstieg der Bruttoverdienste ausrichten, sondern zusätzlich an der Veränderung des Beitragssatzes.Für uns Christliche Demokraten und Christlich-Soziale ist ein Reformschritt der wichtigste: Für nach 1986 geborene Kinder soll ein zweites und drittes Kindererziehungsjahr rentenbegründend und rentensteigernd anerkannt werden.
Alle Kindererziehungsjahre sollen künftig aus der Rentenversicherung finanziert werden. Meine Damen und Herren, nicht unsere heutigen Beiträge, sondern die künftigen Beiträge der künftigen Beitragszahler, also der heutigen Kinder, sichern unsere künftigen Renten. Wer Kinder zur Welt bringt und sie erzieht, leistet den entscheidenden Beitrag zur Rentenversicherung.
Deshalb ist es notwendig, die Kinderkosten neben den Beitragskosten als Grundlage der Rentenleistungen anzuerkennen.Wir haben das erste Kindererziehungsjahr durchgesetzt, wir setzen jetzt das zweite und dritte durch. Unser Ziel ist es, Frauen, die Mütterarbeit leisten, den Frauen gleichzustellen, die Erwerbsarbeit leisten. Ich danke der FDP, daß sie diese unsere Anliegen aufgenommen hat. Wir suchen den Konsens auch mit der Opposition.
Es wäre schön, wenn wir uns in dieser wichtigen Zukunftsfrage der deutschen Nation in einer gemeinsamen Lösung finden könnten.
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7432 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. DreggerZur Postreform: Wir sind stolz auf die Bundespost. Damit wir es bleiben können, müssen wir sie den Herausforderungen der Zukunft anpassen. Die Bundespost ist das größte öffentliche Unternehmen Europas. Sie erbringt die unterschiedlichsten Leistungen, von der Briefbeförderung bis zur Informations- und Kommunikationstechnik. Wir wollen diese Bundespost in leistungsfähige staatliche Unternehmen mit eigenen Vorständen aufgliedern, damit sie fähig bleibt, kundennah der Entwicklung entsprechend zu handeln. Wir wollen vor allem dafür sorgen, daß die Deutsche Bundespost und die deutsche Wirtschaft insgesamt in der rasanten Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik nicht zurückfallen, sondern sich im internationalen Wettbewerb behaupten.Wir haben unsere Reform durch eine Regierungskommission, in der auch die Opposition vertreten war, vorbereiten lassen, in der aller Sachverstand zur Sprache kam. Der Postminister hat seine Vorstellungen mit allen Beteiligten — das sind sehr viele — erörtert und abgestimmt. Das bedeutet nicht, daß wir diese Reform als einzige im allgemeinen Einvernehmen verabschieden können. Aber wir sind zum Handeln verpflichtet, und wir werden handeln, auch in dieser dritten großen Reformaufgabe, die in dieser Legislaturperiode noch vor uns steht.Meine Damen und Herren, in meiner Erwiderung auf den Oppositionsführer habe ich zehn Erfolgstatsachen unserer Bilanz und drei der Zukunftsaufgaben, die wir in dieser Legislaturperiode noch lösen werden, vorgetragen.
Wer diese Bilanz unvoreingenommen prüft, wird sie unabhängig davon, wie er die eine oder andere politische Frage beurteilen mag, eindrucksvoll finden.
Die Bundesrepublik Deutschland ist heute das europäische Erfolgsland schlechthin. Unsere Partner in Europa und in der Welt sehen in uns in vielen Bereichen die Nummer eins. Diese Einschätzung kann unsere Mitbürger und auch uns mit Genugtuung erfüllen. Wir wollen das in unseren Kräften Stehende tun und wollen alle, die bereit sind, daran mitzuwirken, beteiligen, damit es so bleibt.Im Namen der CDU/CSU-Fraktion bedanke ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen von der FDP für die gute Zusammenarbeit.
Helmut Kohl, dem Bundeskanzler, und seinen Ministern spreche ich Dank und Anerkennung für die herausragenden Leistungen aus, die sie in den letzten sechs Jahren für das Wohl unseres Volkes erbracht haben.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Abgeordneter Kleinert .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Haushaltsdebatten im Bundestag als dem Ort der politischen Generalauseinandersetzung folgen für gewöhnlich einem eingeschliffenen Ritual: Die Regierung, ganz besonders diese Regierung, verkündet mit anmaßender Selbstgerechtigkeit diverse Erfolgsbilanzen. Wie mühsam und hohl das klingen kann, haben wir gerade eben gehört. Die Oppositionsparteien attackieren die Regierung, legen die Finger in die Wunde der Widersprüche und versichern, wenn sie nur das Sagen hätten, dann würde alles besser, und zwar gleich. Dabei erscheint die politische Auseinandersetzung leicht reduziert auf die Frage des bloßen Austauschs von Parteien und Personen. Es tritt in den Hintergrund, was eigentlich ganz vorn stehen muß, nämlich die Frage, was Politik heute zu leisten hat und was Politik real leisten kann.In diesem Herbst ist die Versuchung besonders groß, beim Kratzen an der Oberfläche des politischen Personalkarussells stehenzubleiben; denn die ganzen vermeintlichen Erfolgsbilanzen, die wir gerade gehört haben, sollen ja nur vergessen machen, wie sehr es mittlerweile bröckelt und wie sehr es bröselt im Fundament der Regierungsmacht des Herrn Kohl. Was vor gut einem Jahr in Schleswig-Holstein mit jener Zerstörung der politischen Kultur dort seinen Anfang genommen hat, hat sich fortgesetzt durch den Lauf der Roulettekugel in den Spielbanksälen von Niedersachsen bis Rheinland-Pfalz. Die ganzen Bekundungen nach Schleswig-Holstein, nun sollte alles anders werden — was ist denn daraus geworden? Allein das Beispiel Niedersachsen zeigt, wie sehr der Verfall der politischen Kultur mittlerweile weitergegangen ist.
Doch nicht die Skandale und Skandälchen der Bonner Regierungsparteien und ihrer Statthalter in den Ländern sollen im Vordergrund dieses Beitrags stehen; im Vordergrund stehen soll die Auseinandersetzung mit den wesentlichen politischen Themen, um die es heute geht. Keine Seite des Bundestags wird es heute mehr wagen, die grundsätzliche Bedeutung des ökologischen Themas in Zweifel zu ziehen. An Bekundungen ökologischer Nachdenklichkeit in Sonntagsreden und in Seminarvorträgen besteht mittlerweile kein Nachholbedarf mehr. In diesem einen Punkt hat sich seit dem Einzug der GRÜNEN in den Bundestag wahrlich etwas geändert: Es wird ungleich mehr als damals über Ökologie und Umweltpolitik geredet.
Die Probleme sind zum großen Teil inzwischen wohlbekannt. Viele — auch hier — sind in Sachen Umweltrhetorik mittlerweile durchaus geübt.Doch eines hat sich kaum geändert, meine Damen und Herren: die politische Praxis. Sie hat sich kaum geändert. Alle spektakulären Fototermine des Umweltministers, alle Hubschrauberflüge und alle Strandinspektionen des Herrn Töpfer an den immer neuen Brennpunkten der ökologischen Krise, all seine versammelte Nachdenklichkeit in umweltpolitischen Sonntagsreden können über eines nicht hinwegtäu-
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Kleinert
schen: über die dürftige Praxis regierungsamtlicher Umweltpolitik.
Gewiß, es gibt da und dort Detailverbesserungen. Das soll gar nicht bestritten werden. Aber die Waldschäden nehmen zu, die Müllberge nehmen noch stärker zu, die Stickoxide nehmen weiter zu, das Trinkwasser ist gefährdet, die Nordsee stirbt, und die Klimakatastrophe wird immer wahrscheinlicher.Erst in diesen Tagen haben wir die deprimierende Bilanz der jüngsten Waldschadenserhebung hören müssen. Obwohl die Witterungsbedingungen in diesem Jahr ungewöhnlich günstig waren, sind die Waldschäden schlimmer geworden. Trotz anderslautender Vorhersagen der Regierung hat der Ausstoß von Stickoxiden weiter zugenommen. Hauptverursacher für diesen Anstieg ist der wachsende Lkw-Verkehr. Was tut nun die Bundesregierung dagegen? Die Bundesregierung tut gar nichts.
— Nichts, nichts tun Sie. — Was hat die Regierung unternommen, als die Nordseekatastrophe durch das Robbensterben tagtäglich in alle Wohnzimmer flimmerte? Was hat sie unternommen? Herr Töpfer hat im Sommer von 20 Milliarden DM gesprochen, die zur Sanierung der Nordsee gebraucht würden, 20 Milliarden DM! In diesem Bundeshaushalt finden sich ganze 7 Millionen DM.
Das sind 0,03 %. Mit diesen 7 Millionen DM soll, wie es heißt, zur Reinhaltung der Nordsee ein Demonstrationsvorhaben zur kostengünstigen Ölentsorgung in den bundesdeutschen Seehäfen gefördert werden. Das ist alles, was Sie uns zu bieten haben,
alles an Konsequenz aus dem, was wir alle mit der Nordseekatastrophe mitbekommen haben, was die Öffentlichkeit mitbekommen hat, als Herr Töpfer mit Hubschrauberflügen und spektakulären Strandinspektionen großes Ballyhoo veranstaltet hat. Das ist alles, was in diesem Bundeshaushalt als Konsequenz übrigbleibt.Was wird getan, um die wachsenden Müllberge zu beseitigen? Ich will Ihnen sagen, was getan wird: Das Problem wird ins Ausland verschoben. Der Müll wird in die Dritte Welt oder in Ostblockländer exportiert. Müllimperialismus könnte man das nennen, was das Konzept dieser Bundesregierung ist. Die Devise lautet: möglichst weg damit, möglichst kein Aufhebens, möglichst weg mit dem Dreck, aber nicht heran an die Quellen, nicht heran an die Hauptverursacher des demnächst drohenden Müllnotstands. Denn dann müßten Sie ja den Konflikt mit der chemischen Industrie und mit anderen mächtigen Freunden dieser Regierung suchen, und so weit reicht die ökologische Nachdenklichkeit des Herrn Töpfer nicht.Politisch überlebt diese Regierung längst nicht mehr deshalb, weil ökologische Risiken und ökologische Gefahren in der Gesellschaft noch nicht bekannt genug wären; Sie leben mittlerweile eher vom politischen Gegenteil, Sie leben davon, daß die Menschen am Übermaß der Nachrichten und Berichte über ökologische Probleme fast zu ersticken drohen und daß jeder und jede in diesem Land mittlerweile weiß oder doch sehr genau spürt, daß der großen öffentlichen Konjunktur umweltpolitischer Themen kaum jemals wirkliche politische Konsequenzen folgen, meine Damen und Herren.
Die Folge davon ist ein wachsendes Gefühl von Ohnmacht und Überforderung, und Sie wundern sich dann hinterher, daß demnächst niemand mehr von der Bonner Politik wirkliche Lösungen erwartet.Es gibt eben nicht nur eine Krise der Umwelt, sondern auch eine Krise der Umweltpolitik. Wirksame Veränderungen sind bis heute in keinem der wesentlichen Bereiche von Umweltpolitik erreicht worden, in der Energiepolitik nicht, in der Luftreinhaltung nicht, nicht im Gewässerschutz und nicht im Trinkwasserschutz, nicht bei der Chemisierung und nicht bei der Vergiftung, nicht beim Müll und beim Landschaftsverbrauch und auch nicht beim Natur- und Artenschutz.Der Sozialwissenschaftler Ulrich Beck hat 1986 den Zustand der Umweltpolitik mit dem Begriff „politisches Vakuum" gekennzeichnet. Er schreibt in seinem Buch „Risikogesellschaft" dazu weiter — ich zitiere:Die Gefährdungen wachsen, aber sie werden politisch nicht umgemünzt in präventive Risikobewältigungspolitik. Mehr noch, es ist unklar, welche Art von Politik und politischen Institutionen dazu überhaupt in der Lage ist. Zugleich entsteht mit dieser Kluft ein Vakuum an politischer Kompetenz und Institutionalität, ja sogar an Vorstellungen darüber. Die Offenheit der Frage, wie die Gefährdungen politisch zu handhaben sind, steht in krassem Mißverhältnis zu dem wachsenden Handlungs- und Politikbedarf in der Gesellschaft.Diese Feststellungen treffen auch zwei Jahre nach Erscheinen dieses Buches haargenau auf die Realität des Jahres 1988 und den Zustand der Umweltpolitik zu. Die Frage, ob irgend jemand in dieser Regierung umweltpolitisch guten Willen hat oder nicht, ist deshalb auch gar nicht so interessant. Vorzuwerfen ist dieser Regierung etwas ganz anderes. Vorzuwerfen ist dieser Regierung in erster Linie, daß in ihrer Politik nicht einmal eine Ahnung davon deutlich wird, welche grundsätzlich neuen Probleme mit der ökologischen Frage heute anstehen und welche grundsätzlich neuen Probleme damit aufgeworfen sind.Worum es dabei geht, hat kein anderer als der CDU- Kollege Biedenkopf unlängst vorsichtig, aber in der Grundtendenz erstaunlich zutreffend dargestellt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle aus einem Referat des Kollegen Biedenkopf zitieren, das er vor der Konferenz des Instituts für Ökologie und Unternehmensführung e.V. in Bonn im September gehalten hat. Herr Biedenkopf sagte:
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7434 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Kleinert
Ich halte dafür, daß die Beibehaltung einer Wirtschaftspolitik, die auf quantitatives Wachstum festgelegt ist und sich deshalb für berechtigt hält, quantitatives Wachstum auch mit staatlichen Mitteln zu fördern, mit dem anderen an Bedeutung gewinnenden Ziel unvereinbar ist, die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ökologisch verträglich zu gestalten und den Konsequenzen begrenzter Ressourcen für die Gesellschaft Rechnung zu tragen.
Ich zitiere weiter — Originalton Biedenkopf — :Wir werden deshalb — davon bin ich überzeugt — unser bisheriges Wachstumsziel überprüfen müssen.
Meine Damen und Herren, das ist die vorsichtige Wortwahl eines Mitglieds der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der trotz seiner Außenseiterrolle in seiner Partei sicher Rücksichten nehmen muß, die ich hier nicht nehmen muß. Ich erlaube mir deshalb, den gleichen Sachverhalt etwas drastischer auszudrücken. Etwas drastischer ausgedrückt heißt das: Man kann nicht Umweltpolitik machen, ohne an die heiligen Kühe der Wirtschafts- und Finanzpolitik heranzugehen.
Man kann nicht über ökologische Wenden philosophieren und gleichzeitig über Wachstumsraten daherschwadronieren, als hätte man von ökologischen Folgekosten noch nie etwas gehört.
Das ist das eigentliche Dilemma der Umweltpolitik dieser Regierung. Eine Umweltpolitik, die vor den wirtschaftlichen Grundstrukturen Halt macht, wird den Wettlauf zwischen den kleinen Fortschritten einerseits und den großen neuen Problemen andererseits niemals gewinnen können. Solange die industriellen Hauptverursacher der Umweltprobleme mit Samthandschuhen angefaßt werden, solange nicht endlich wirksame Instrumente eingesetzt werden, um Investitionen aus umweltgefährdenden in umweltfreundliche Produktionszweige umzulenken, solange die Möglichkeiten nicht genutzt werden, über eine ökologisch ausgestaltete Steuerreform auf die wirtschaftliche Entwicklung Einfluß zu nehmen, so lange wird jede Umweltpolitik den Problemen bloß hinterherlaufen.Mit viel Aufwand und noch mehr Peinlichkeiten hat die knappe Mehrheit dieser Koalition vor der Sommerpause eine Steuerreform durchgedrückt, die nichts bewirken wird außer einer weiteren Umverteilung von unten nach oben. Wenn auch nur ein Teil der Energien, die dabei verbraucht worden sind, zur ökologischen Umgestaltung des Steuersystems eingesetzt worden wäre, dann wenigstens hätten die Umwelt und die Mehrheit der Menschen etwas davon gehabt, meine Damen und Herren.
In Ihrer Politik triumphieren jenseits aller schönen Sonntagsreden immer die alten Prioritäten. Die alten ökonomischen Muster wie Wachstum, Rentabilität und Weltmarktkonkurrenz triumphieren über ökologische Teilwahrheiten. Die fundamentale Einsicht, daß die Dynamik der Industriegesellschaften immer stärker auch eine Dynamik ökologischer Zerstörung ist, hat die Bonner Koalition nicht erreicht.
Sie glauben noch immer, mit einem eigenen Ministerium, das ein paar Gesetze und ein paar schärfere Grenzwerte durchsetzen kann, sei die Sache erledigt, und ansonsten könne man alles beim alten lassen. Das, meine Damen und Herren, wird schiefgehen!
Umweltpolitik muß aus dem Getto isolierter Ressortverwaltung ausbrechen, und Umweltpolitik muß endlich zu einer ökologischen Wirtschafts-, Finanz- und Strukturpolitik werden. In dem Dreieck von ökologischer Verträglichkeit, sozialer Gerechtigkeit und Finanzierbarkeit muß eine Wirtschaftspolitik nach neuen Prioritäten so angelegt sein, daß vorrangiges Kriterium die Umweltverträglichkeit ist.Die Entwicklung und die Umsetzung einer solchen Ökonomie, die die ökologische Verträglichkeit in den Mittelpunkt rückt, die Entwicklung sanfter Technologien und die dazu nötigen Veränderungen in den Produktionsstrukturen, aber auch bei den Verbrauchern, das sind die großen politischen Aufgaben des ökologischen Umbaus, um die es heute geht.
Wenn man Ihre Politik an solchen Zielen mißt, dann wird man nicht einmal kümmerlichste Ansätze finden. Im Gegenteil: Bedenkenlos sollen mit der Gentechnologie neue, nicht mehr rückholbare Risiken erzeugt werden. Sie wollen, daß die großindustrielle Verwertung dieser hochgefährlichen Technologie demnächst beginnen kann.Wenn man sich das alles ansieht, was auf diesem Gebiet läuft, dann kommt man an der Vorstellung nicht vorbei: Bonner Regierungspolitik hat bis heute aus allen gelehrten Debatten um die Fragwürdigkeit eines überholten wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Fortschrittbegriffs nichts, aber auch gar nichts gelernt.
Während die Diskussion um sinnvolle Instrumente der Technikfolgenabschätzung in Bonn seit Jahren vor sich hindümpelt, ist sie mittlerweile längst von einer Realität überholt, die eine Vielzahl neuer Gefahrenquellen hervorgebracht hat. Es geht dabei wirklich nicht um Pessimismus und dumpfe Zukunftsängste; aber allein die Bedenkenlosigkeit, mit der vor 20 und vor 30 Jahren alle maßgeblichen Kräfte den Weg in die sogenannte friedliche Nutzung der Atomenergie beschritten haben, sollte heute wenigstens nach Tschernobyl Anlaß genug zu größerer Vorsicht sein.Aber auch das hat offenbar nicht zu tieferen Einsichten geführt. Man muß das Gefühl haben, Tschernobyl ist in diesem Hause längst wieder vergessen; denn auch heute soll regierungsamtlich all das wieder
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für vernünftig und für richtig erklärt werden, was Wissenschaftler als Fortschritt anpreisen und was neue profitable Kapitalanlagen verspricht. Dafür ist die Gentechnologie nur ein Beispiel.Meine Damen und Herren, sehr kurz sind die Beine regierungsamtlicher Politik auch da, wo es um die Zukunft des Beschäftigungssystems und der Sozialsysteme geht. Ja, es ist noch schlimmer: Die Umverteilungswirkungen Ihrer Politik gerade in diesen Bereichen gehören zu den schrecklichsten Konsequenzen der Politik, über die wir heute reden.Sicher, Herr Vogel, einmal mehr ist beschäftigungspolitische Tatenlosigkeit dieser Regierung zu beklagen, wenn es um den Haushaltsentwurf und wenn es um die Frage geht, was denn nun eigentlich den mehr als 2 Millionen Arbeitslosen angeboten werden soll. Diese Tatenlosigkeit ist eine kalkulierte Tatenlosigkeit. Natürlich bleibt es ein sozialpolitischer Skandal, wenn auch in diesem Haushalt keine Initiativen zu ökologisch und sozial sinnvollen Investitionen zu finden sind.Aber wer hier mit Recht das Thema Massenarbeitslosigkeit anspricht, darf nicht nur die absichtsvolle Enthaltsamkeit der Bundesregierung in diesen Fragen anprangern. Wir müssen uns mit den Fragen der Arbeitslosigkeit, mit der ganzen Zukunft des Beschäftigungssystems und mit der Problematik der Umgestaltung sozialer Sicherungssysteme noch auf grundsätzlichere Weise beschäftigen, als es vorhin anklang.Eines kann als gesichert angesehen werden: Mit der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik der Regierung wird sich am Zustand der Massenarbeitslosigkeit bis zum Jahre 2000 gar nichts ändern. Selbst wenn Sie ein Wachstum von 2,5 % unterstellen, gäbe es im Jahre 2000 ungefähr so viele Arbeitsplätze wie heute, wenn sich sonst nichts ändert. Das bedeutet, daß auch im Jahre 2000 die Zahl der arbeitslosen Menschen mindestens so hoch wäre wie heute. Unter diesen Voraussetzungen will Norbert Blüm das Rentenalter ab 1995 sogar wieder heraufsetzen, was diese Probleme nur verschärfen würde. Wenn das Wachstum niedriger sein sollte, wären die Probleme noch dramatischer, und wenn die Möglichkeiten des Zugangs von Frauen zum Erwerbsleben tatsächlich verbessert werden sollen, dann wird das das Problem aufwerfen, daß weitere Millionen von Erwerbsarbeitsplätzen angeboten werden müssen.Für all diese langfristigen Zukunftsprobleme hat diese Regierung nicht nur keine Antworten, all das ist für diese Regierung gar kein Grund zur Besorgnis; das wissen wir aus vielen Zeugnissen. Die konservativen Politikstrategen verstehen solche Zukunftsaussichten überwiegend sogar als Chance, jene sozialstaatlichen Hindernisse zu beseitigen, die der vollen Durchsetzung ihrer Art von Flexibilisierung heute noch entgegenstehen.Wenn man aber nach Lösungen sucht, dann kommt man zunächst an einer grundsätzlichen Feststellung nicht vorbei: Die gerechte Verteilung der Arbeit und die Frage der Arbeitszeitverkürzung sind die entscheidenden politischen Hebel in dieser Frage. Wer radikale Arbeitszeitverkürzungen will, muß dabei auch das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit politisch neu bestimmen. Deswegen wollen wir GRÜNE den Arbeitsbegriff ausweiten.
Wir wollen, daß Tätigkeiten wie Hausarbeit, wie Kindererziehung, wie Kümmern um Pflegebedürftige in der Gesellschaft als Arbeit anerkannt werden.
Diese Anerkennung ist nötig, und sie ist die Voraussetzung, wenn der Anspruch auf individuelle Entfaltungsmöglichkeiten unterschiedlicher Arbeits- und Lebensbedürfnisse in der Gesellschaft möglich werden soll. Das ist das eine.Wer politisch wirksam Massenerwerbslosigkeit bekämpfen will, der muß für radikale Arbeitszeitverkürzungen eintreten. Dazu gibt es keine Alternative. Daß dabei differenzierte Lohnausgleichsmodelle notwendig sind, haben die GRÜNEN in ihrem Sindelfinger Wirtschaftsprogramm schon 1983 vorgeschlagen.
Da braucht uns niemand etwas Neues beizubringen.Frauen und Männern muß der gleichberechtigte Zugang zur Erwerbsarbeit ermöglicht werden. Deswegen braucht es auch unterschiedliche Formen von Teilzeitarbeit; das ist nicht das Problem. Das Problem ist die Frage der sozialen Absicherung dieser unterschiedlichen Formen von Teilzeitarbeit, und dafür treten wir ein.
Die Politik muß den Frauen den Weg zeigen, auf dem dieser Zugang auch tatsächlich erleichtert werden kann. Man darf nicht nur davon reden. Es muß auch endlich wirksam politisch etwas umgesetzt werden. Die GRÜNEN haben dazu in ihrem Antidiskriminierungsgesetz schon vor zwei Jahren entsprechende Vorschläge unterbreitet.
Das Problem ist auch nicht die Frage der flexibleren Ausgestaltung von Arbeitszeitregelungen. Wir wollen, daß das Recht, flexiblere Arbeitszeiten zu haben, von dem Menschen und seinen Bedürfnissen ausgeht. In diesem Sinne sind wir nicht gegen Flexibilisierung von Arbeitszeitregelungen. Das Problem liegt ganz woanders. Das Problem liegt bei einer Flexibilisierungsstrategie, die sich lediglich für mehr Wochenendarbeit und für verlängerte Maschinenlaufzeiten stark macht. Eine solche Flexibilisierungsstrategie wird nicht mehr Freiheit für den einzelnen hervorbringen, sie wird am Ende eher das Gegenteil von mehr Freiheit für den einzelnen hervorbringen, denn sie wird den einzelnen in größerem Maße als heute den Unternehmenszwecken und den Bedürfnissen der Maschinerie unterordnen.
Deshalb sind auch nicht die Überlegungen zur Arbeitszeitverkürzung und manche seiner unbequemen Wahrheiten an die Adresse der Gewerkschaften für mich das Problem, das man mit den jüngsten Überlegungen von Oskar Lafontaine haben muß. Ich kann nichts Schlimmes daran finden, wenn jemand poli-
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tisch den Anspruch stellt, die soziale Ausgestaltung des Modernisierungsprozesses zu betreiben, so wie Lafontaine den Anspruch stellt. Daran kann nichts Schlimmes sein. Denn, um das Wort eines berühmten Gelehrten dieser Republik aufzugreifen, der gemeinhin zur Linken gerechnet wird: Es kann ja wohl nichts Unanständiges sein, über die Reform des Kapitalismus nachzudenken.
Wenn nun freilich unter dieser schönen Überschrift am Ende nur die praktische Umsetzung dessen verstanden wird, was auch ohne den Versuch steuernden Eingriffs in die wirtschaftliche Entwicklung sozial sowieso stattfinden würde, dann muß sich Oskar Lafontaine am Ende schon fragen lassen, worin sich sein Modernisierungskonzept sozialpolitisch — nicht ökologisch — von dem unterscheidet, was wir von Späth und von anderen bereits seit längerem angeboten bekommen, und das muß im Zentrum einer solchen Diskussion stehen.Meine Damen und Herren, wer sich mit der Sozialpolitik dieser Regierung beschäftigt, wird um zwei Glanzstückchen des Reformeifers im Kabinett des Dr. Kohl nicht herumkommen, d. h. um die zwei Vorhaben, die in diesen Tagen besondere Bedeutung beanspruchen, nämlich die sogenannte Gesundheitsreform und die künftige Rentenfinanzierung.Was in diesen Tagen die Koalitionsmehrheit mit aller Gewalt in Marathonsitzungen zur Neuregelung der Gesundheitspolitik hier über die Bühne bringen will, hat mit Reform wenig, aber verdammt wenig zu tun.
Denn statt den Zusammenhang von Rekordgewinnen in der Pharmaindustrie mit Suchtgefahren in der Gesellschaft aufzugreifen, statt die Fragwürdigkeit bestimmter Entwicklungen der Apparatemedizin zu thematisieren, statt über ärztliche Gebührenordnungen nachzudenken und der Frage des Krankheitsbegriffs in einer verdreckten und vergifteten Umwelt nachzugehen, statt all dies zu tun, was nötig wäre, reduziert sich das, was großspurig unter der Überschrift „Strukturreform des Gesundheitswesens" daherkommt, auf eine Strafaktion für Kranke und auf die schleichende Einführung einer Zweiklassenmedizin.
Auch die bisher bekanntgewordenen Vorschläge zur Rentenreform beweisen, daß hier bestenfalls der Weg der Flickschusterei vorgeschlagen wird. Statt angesichts der veränderten Alterspyramide und der Probleme wachsender Altersarmut den Weg einer grundlegenden Neuordnung anzupeilen, schlagen Sie Flickwerk vor. Mir ist allerdings schleierhaft, wieso die Sozialdemokraten dabei diesen Weg mitgehen wollen.Statt in die Richtung einer steuerfinanzierten einheitlichen Grundsicherung zu denken, auf der aufbauend dann eine durch Pflichtbeiträge finanzierte Zusatzrente gezahlt wird, statt in diese Richtung einer grundlegenden Neuordnung zu denken, soll weiter herumlaviert werden mit demnächst fast unbezahlbaren Beitragssätzen und ohne Aussicht, Altersarmut jemals wirksam verhindern zu können. Meine Damen und Herren, Sie werden damit Probleme nicht lösen, sondern nur weiter verlängern.
Was sich in der Umwelt- und Sozialpolitik als Politik der kurzen Beine herausstellt, hat sich in einer wirtschaftspolitischen Kernfrage der letzten Wochen noch viel drastischer als Kapitulationserklärung der Politik vor den Interessen der mächtigen Konzerne herausgestellt. Ich meine damit das Verhalten der Bundesregierung zur geplanten Großfusion von Daimler-Benz und MBB.Ausgerechnet im fünfzigsten Jahr seit Hitlers Überfall auf Polen entsteht in der Bundesrepublik wieder eine gigantische Waffenschmiede. Es entsteht ein Rüstungskonzern, der dem vielbemühten freien Wettbewerb schon deshalb entzogen ist, weil nach dem heutigen Stand ca. 60 % der Beschaffungstitel aus dem Rüstungshaushalt an diesen Superkonzern gehen würden.Und was macht die Bundesregierung? Die Bundesregierung liefert noch das Geld dazu und die ideologische Rechtfertigung obendrauf. Die ganzen Herrschaften, die sich sonst als Gralshüter der Marktwirtschaft aufspielen, haben sich hier zu bloßen Handlangern der Interessen der großen Konzerne degradieren lassen.
Herr Lambsdorff hatte sich dabei noch eine ganz originelle politische Begleitmelodie ausgedacht. Er hat zunächst die Backen ganz gehörig aufgeblasen und sich als oberster Kritiker der geplanten Großfusion aufgespielt, am Ende aber die Rolle eines politischen Knallfrosches übernommen.
Nach einer Woche des schlagzeilenträchtigen Ballyhoos war er nämlich mit seinen Bedenken bereits wieder am Ende. Es ist schon grotesk, wenn man diesen Vorgang mit dem ansonsten so verbreiteten Geschwätz vom freien Spiel der Kräfte vergleicht und ihn dazu in Beziehung setzt.Als die Frage von Markteinführungshilfen für alternative Energieerzeuger anstand, bekam die Regierung ordnungspolitische Bedenken und warnte vor drohender Wettbewerbsverzerrung.
Ich zitiere aus einer Vorlage des Finanzministeriums:Die Bundesregierung hält zusätzliche Förderungsmaßnahmen für den falschen Weg.Also, wenn es um die Förderung neuer umweltfreundlicher Energiearten geht, scheitert diese Förderung an ordnungspolitischen Bedenken. Dann ist von Wettbewerbsverzerrungen die Rede. Wenn aber ein solcher Superkonzern entsteht, dann sind diese Bedenken der Gralshüter der Marktwirtschaft wie weggeblasen. Das ist die politische Realität in der Bundesrepublik heute.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7437
Kleinert
Die großen Fragen des ökologischen Umbaus und der sozialen Zukunftsentwürfe bleiben in der Politik dieser Regierung weitgehend ausgespart. Während allüberall über Zukunft und Zukunftssicherung nachgedacht wird, regiert in Bonn eine Politik des politischen Werbefeldzuges. Von der gesellschaftlichen Wirklichkeit längst überholt, wird ein Weiterwursteln in lange ausgetretenen Politikpfaden praktiziert. Gelegentlich fällt dann einmal auf, wie weit die Bonner Realitätsverdrängung schon weg ist von der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Jüngstes Beispiel war im Sommer die peinliche Veranstaltung zum Flugbenzin. Dann wird hektisch nach Beruhigungspillen für eine aufgebrachte Öffentlichkeit gesucht, aber nur, damit es dann hinterher erst recht so weitergehen kann wie zuvor.Ulrich Beck, den ich vorhin schon einmal zitiert habe, hat diesen wachsenden Abstand der offiziellen Politik zur Gesellschaft so zugespitzt — ich zitiere — :Die gesellschaftlichen Institutionen werden zu Konservatoren einer sozialen Wirklichkeit, die es immer weniger gibt. Frei nach Brecht könnte man sagen: Wir geraten immer mehr in eine Situation, in der die Regierungen sich gezwungen sehen können, das Volk abzuwählen, und die Verbände vielleicht nicht umhinkönnen, ihre Mitglieder zu entlassen.Die bestehenden Institutionen sind nicht einmal mehr im Ansatz in der Lage, auf die heutigen Probleme angemessen zu reagieren. Das ist der Hintergrund dafür, daß es in der Gesellschaft einen tief sitzenden Bruch gegenüber den Institutionen und gegenüber der offiziellen Politik heute gibt und daß sich diese Tendenzen verstärken. Das hat nicht nur positive Aspekte, sondern bringt auch die Schwierigkeit mit sich, daß aktiver Veränderungswille heute Probleme hat, einen gesellschaftlichen Ort zu finden, weil man zunehmend weniger glaubt, daß die große Politik überhaupt noch etwas bewegen kann außer ihrer eigenen Bestandserhaltung.
Das ist auch der Grund, weshalb in der Gesellschaft Einstellungen um sich greifen, die sagen: Laßt die Politiker doch machen, was sie wollen, es juckt uns nicht, und es ist am Ende doch belanglos. So denken mittlerweile viele. Ich halte diese Entwicklung nicht nur deshalb für gefährlich, weil sie letztlich auch bei uns Spuren hinterläßt. Sie ist vor allem deshalb gefährlich, weil in Wirklichkeit die Anforderungen an Politik in einer Zeit der ökologischen Risikogesellschaft und der tiefgreifenden sozialen Umbrüche größer sind als jemals zuvor. Deshalb wird es um so folgenreicher sein, wenn die Politik der Gesellschaft hoffnungslos hinterherhechelt und ansonsten nur noch unangenehme Skandalgerüche verbreitet, wie das für die Politik zutrifft, für die diese Regierung steht.
Wir brauchen eine grundlegende Neuorientierung der Politik und der politischen Institutionen. Dafür werden andere Mittel als die einer pragmatischen Reformpolitik nicht zur Verfügung stehen. Aber dieseMittel müssen endlich gebündelt eingesetzt werden, damit ein neues Gefüge entstehen kann in der Beziehung zwischen Arbeit, freier Zeit und sozialer Absicherung und damit eine neue Ökonomie durch ein neues ökologisches Leitbild als grundlegendes Kriterium entstehen kann.Meine Damen und Herren, am ersten Tag dieser Haushaltsdebatte kann nicht ganz über das hinweggegangen werden, was in der letzten Sitzungswoche im Bundestag vorgefallen ist. Herr Jenninger ist zurückgetreten. Die persönliche Seite dieses unglückseligen Auftritts ist damit abgeschlossen. Darum kann es also nicht gehen.Gefragt werden muß aber schon danach, was dieser Auftritt im Bundestag und in der Bundesrepublik des Jahres 1988 bedeutet hat und was er bedeuten wird im Blick auf die zahlreichen Veranstaltungen, die für das kommende Jahr geplant sind. Eines kann dabei mit Sicherheit gesagt werden: All diejenigen, die mit Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985 ein Kapitel bundesdeutscher Vergangenheit abgeschlossen und ein neues aufgeschlagen sahen, sind widerlegt. Die Last mit der Vergangenheit ist noch lebendiger, als viele es wahrhaben wollten. Der Bundestag muß sich deshalb mit diesen Themen beschäftigen, bevor im nächsten Jahr die offiziellen Feierlichkeiten anstehen.Theo Sommer hat in diesem Zusammenhang in der „Zeit" von der — ich zitiere — „Fühllosigkeit des guten Gewissens" gesprochen. Er sieht diese Fühllosigkeit in Jenningers — und jetzt zitiere ich Sommer —„kaltherzigen Zitaten über hakennasige jüdische Blutschänder" . Er sieht diese Fühllosigkeit ebenso in den Sätzen eines Berliner „ taz " -Autors, der geschrieben hat, die Disco sei bereits abends um acht „gaskammervoll" gewesen.Es ist zu einfach, solche Dinge als rhetorische oder sprachliche Entgleisung abzutun.
Denn das Gemeinsame an beiden Äußerungen ist, daß beide ein erschreckendes Maß an Unbetroffenheit zum Ausdruck bringen, welche letztlich — ob gewollt oder nicht — Verbrechen bagatellisiert.Diese Art Umgang mit Sprache in der Bundesrepublik macht schon heute eines deutlich: Wer glaubt, im Frühjahr 1989 anläßlich des 40. Gründungstags der Bundesrepublik ein biedersinniges Freudenfest feiern zu können, wird von der Last der Vergangenheit eingeholt werden.Und wenn das Problem eines solchen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik heute angesprochen ist, dann muß auch jenes fürchterliche Wort von der „durchrassten Gesellschaft", wie wir es aus dem Munde von Herrn Stoiber hören mußten, hier aufgegriffen werden.Sicher, Herr Stoiber hat dieses schreckliche Wort wieder zurückgenommen. Aber ein maßgeblicher Repräsentant einer Landesregierung und wichtiger Funktionär einer Koalitionspartei kann einen solchen Begriff auch dann nicht einfach ungeschehen machen, wenn er sich korrigiert hat.
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7438 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Kleinert
Wieso kann ein maßgeblicher Politiker in einem Gespräch über Ausländerpolitik ein solches Wort überhaupt gebrauchen? Beweist diese Fähigkeit zu einem solchen Begriff aus dem Wörterbuch des Unmenschen nicht doch, wie sehr mindestens im Unterbewußten auch heute noch etwas mitgeschleppt wird aus unseligen Traditionen? Verweist dies nicht auch auf vielleicht doch ganz tiefsitzende Ängste und schreckliche Ressentiments, die bis heute weiter wuchern und die an ganz unselige Zeiten erinnern?Es gibt noch andere Beispiele für die Aktualität der Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit. Was ist eigentlich davon zu halten, wenn in einer Antwort des Bundesinnenministers auf eine Kleine Anfrage der GRÜNEN im Herbst 1988 die Formulierung auftaucht — ich zitiere — : „Faschismus ist ein politischer Kampfbegriff, den vor allem Kommunisten verwenden"?
Was ist davon zu halten, wenn es in einem Entwurf für ein neues Ausländerrecht aus dem Hause des Herrn Zimmermann heißt, Ausländer gefährdeten — Zitat — „die Homogenität der Gesellschaft ... die gemeinsame deutsche Geschichte, Tradition, Sprache und Kultur " .
Meine Damen und Herren, wenn man nur die Sprache berücksichtigt, die da zum Ausdruck kommt, dann müßte man meinen, im Innenministerium hätte sich eine rechtsradikale Kampftruppe eingenistet.
Fühllosigkeit in der Sprache kann man dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Späth bei seinen Vorschlägen zur Änderung des Asylrechts nicht vorhalten. Bei ihm liegt das Problem in der Sache. Späth propagiert ganz offen die Einschränkung des Asylrechts. Er beweist damit nicht nur seine Gegnerschaft zu einer Politik der offenen Grenzen. Er zeigt auch, wie wenig er von dem besonderen historischen Zusammenhang begriffen hat, in dem gerade in der Bundesrepublik nach der Erfahrung des Faschismus das Asylrecht entstanden ist.Dieser Zusammenhang verpflichtet in der Bundesrepublik zu einem Höchstmaß an Liberalität und Toleranz im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen, aus anderen Rassen und mit anderer Hautfarbe.Wer wirklich Konsequenzen aus jener Vergangenheit ziehen will, hat deshalb nicht auf rechtes Stammtischgeschwätz zu schielen, sondern er muß die eigentliche Aufgabe in der praktischen Umsetzung jener multikulturellen Gesellschaft sehen, von der neuerdings sogar Heiner Geißler spricht. Das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft muß gegen Angst, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Nationalismus und gegen Ausländerhaß gesetzt und durchgesetzt werden. Das wäre eine der entscheidenden Konsequenzen aus jener Geschichte, die uns neulich hier erneut eingeholt hat.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In der Tat, Herr Kleinert, wird die Bundesrepublik vor einer nicht leichten Aufgabe stehen, wenn sie im nächsten Jahr darangeht, dieses Jubiläum zu feiern. Schon das müßte man ein wenig in Anführungsstriche setzen. Wir alle wissen das. Wir fragen uns überhaupt, wie kurzlebig unsere Zeit geworden ist, wenn 40 Jahre ein Jubiläumsdatum sind.
Muß eigentlich jedes Jahresdatum zu einer Feier herhalten? Aber nun gut. Es wird so kommen.Es ist sicherlich nicht nur Anlaß zum Jubel. Es ist auch Anlaß zur Sensibilität. Es ist aber auch Anlaß — und das lassen wir uns nicht wegnehmen —, mit einigem Stolz auf das zu sehen, was wir erreicht haben.
Ich jedenfalls — und ich denke, das gilt auch für die meisten meiner Freunde — bin unbeschadet aller Schwierigkeiten, Defizite und Probleme, die ich sehe, gern und aus Überzeugung Bürger der Bundesrepublik Deutschland und lebe gern in diesem Land.Ich habe keinen Zweifel und will auch nicht wegdiskutiert sehen, daß es bei uns Ausländerfeindlichkeit und auch Antisemitismus gibt. Ich denke und hoffe, es sind Restbestände. Aber wer wollte das übersehen und verschweigen? Es gibt sie. Solche Gefühle, solche Ressentiments oder Sentiments sind überall schlecht. Bei uns, in unserem Lande sind sie vollständig unakzeptabel. Es ist unsere Aufgabe, uns das nicht im Parlament gegenseitig vorzuhalten, sondern draußen dahin zu wirken, daß solche Gefühle und solche Äußerungen unterbleiben und korrigiert werden.
An eines, Herr Kleinert, glaube ich allerdings nicht: daß man das mit Gesetzen, mit Strafgesetzen regeln kann. Den Geist und das Denken von Menschen mit Strafgesetzen ändern zu wollen,
das ist eine Auffassung, die wir nicht teilen. Strafgesetze helfen hier nicht.Aber ansonsten nehme ich das, was hier zum Ausdruck gebracht worden ist, schon ernst, und wir nehmen es ernst.Im übrigen, nun etwas weniger ernst: Ich glaube, von Technik, so haben Sie das hier dargetan, verstehen Sie etwas. Von Pyrotechnik verstehen Sie nichts. Knallfrösche zerplatzen und sind weg — und ich bin hier.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7439
Dr. Graf LambsdorffHerr Kollege Vogel, die Freie Demokratische Partei bedankt sich bei Ihnen — der Vorsitzende erst recht — für Ihre freundlichen Worte zu meiner Wahl. Wir werden hier noch häufig aneinandergeraten.
Das ist klar. Aber wir müssen uns die Fähigkeit erhalten, in Situationen, in denen es darauf ankommt, miteinander sprechen zu können. Wir haben schon früher erfahren, daß es solche Situationen gibt, die sich keiner wünscht, die aber nicht vermeidbar sind.In der Politik wie im privaten und wirtschaftlichen Leben steht man immer wieder einmal vor der Frage: Wie hoch soll ich eigentlich die Meßlatte für die Ziele legen, die ich anzustreben habe? Lege ich sie hoch, so laufe ich das Risiko, es nicht zu schaffen und die selbstgesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen. Lege ich sie niedrig, so bewegt man nicht viel. Diese Regierung und diese Koalition haben die innenpolitische Meßlatte dieser Legislaturperiode wahrlich hoch angesetzt; sehr hoch. Allein die drei Reformwerke: Steuerreform, Gesundheitsreform und Rentenreform! Jedes einzelne reichte eigentlich für eine Legislaturperiode. Es ist festzustellen: Wir sind im Zeitplan. Wir erfüllen unser Pensum. Wir tun das, was wir uns vorgenommen haben. Wir werden nicht allen Erwartungen gerecht. Das können wir überhaupt nicht. Wir werden auch nicht alle selbstgesetzten Ziele erreichen. Auch dafür lag die Meßlatte zu hoch.Dennoch, ich halte es für richtig, sie so hoch gelegt zu haben. Die Steuerreform hat ihre Schönheitsfehler; nicht die, die Sie zitieren. Aus unserer Sicht sind schon mit den Stichworten Quellensteuer und gespaltener Spitzensteuersatz solche Schönheitsfehler erwähnt. Aber — Herr Dregger hat recht — es ist über Jahrzehnte nicht gelungen, den linear-progressiven Tarif einzuführen, den Mittelstandsbauch zu beseitigen und, was viel wichtiger als die Spitzensteuersätze ist, die leistungstötende Wirkung der Grenzsteuersätze im mittleren Einkommensbereich auch bei Facharbeitern endlich etwas herunterzufahren.
Das ist bei allen Fehlern gute und richtige Steuerpolitik. Es ist Reform. Es ist erst die dritte steuerpolitische Reform in der Geschichte der Bundesrepublik: Die Einführung der Mehrwertsteuer, das Anrechnungsverfahren bei der Körperschaftsteuer und jetzt die Einführung des linear-progressiven Tarifs. Das ist Reform, die auch jede andere Regierungszusammensetzung überstehen wird, weil sie richtig ist und weil sie gut ist. Freuen Sie sich aber nicht zu früh, Herr Wieczorek, wegen dieser Bemerkung.Meine Damen und Herren, die Gesundheitsreform ist ein erster Schritt. Endlich wird einer getan. Er ist doch notwendig. Die Kostenexplosion im öffentlichen Gesundheitswesen kann so nicht ungehindert weitergehen. Die daraus folgende Beitragsexplosion gefährdet weiter Arbeitsplätze, belastet die Arbeitskosten und die Produktivität. Die Einsparungen, die vorgenommen werden, betreffen alle, bildlich gesprochen: vom Geburtshelfer bis zum Bestattungsunternehmer. Es kann nur Ärger geben, auf der ganzen Front. Denn niemand läßt sich gerne etwas wegnehmen. Wir wissen, daß hier auch aus der Sicht der FDP auf alle Fälle noch Defizite gegeben sind. Es muß ein zweiter Schritt folgen, und er wird folgen. Es kann nicht so bleiben, daß der große Anteil, den die Krankenhäuser am öffentlichen Gesundheitswesen kosten, unberücksichtigt bleibt.
Wir stehen in der Rentenreform vor abschließenden Beratungen. Es ist zum erstenmal ein Ansatz gemacht worden — wie ich denke, ein erfolgversprechender und richtiger Ansatz — , die demographische Entwicklung einzufangen. Die sieht für die Bundesrepublik verheerend aus. Das weiß doch jeder. Die Zahlen stehen fest. Wir müssen uns also darum bemühen. Es ist — ich freue mich über die anerkennenden Worte, Herr Kollege Dregger; über Urheberrecht und darüber, wer zuerst darüber nachgedacht hat, will ich gar nicht streiten — ein Stück Gleichberechtigung — im Sinne von Kindererziehungszeiten — von der Koalition vorgeschlagen und in diesen Entwurf aufgenommen worden. Wir begrüßen es, daß die Sozialdemokraten bereit sind, über dieses wichtige Stück deutscher Politik Gespräche zu führen und, wenn es geht, zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen.Aber das Festhalten an einer starren Altersgrenze, Herr Vogel, keine Flexibilität auch für solche aufzunehmen, die länger arbeiten wollen, und für andere, die kürzer — —
— Wenn wir darüber schon reden, sieht es ein bißchen anders aus.
Wenn es am Ende heißt: Die Altersgrenze muß festgeschrieben werden und der Bundeszuschuß — ich übertreibe jetzt etwas — verdreifacht werden, dann waren es etwas platonische Liebeserklärungen, daß wir hier vielleicht doch zueinander kommen könnten. Ich will hoffen, daß es geht.Meine Damen und Herren, es geht nicht alles so, wie man manchmal bei Ihnen den Eindruck hat, als könne man solche Reformen ohne jede Einschränkung zustande bringen. Manna vom Himmel regnen lassen können nämlich auch Sie nicht.
In Wahrheit sind einige von Ihnen unterwegs, um die Bürger dieses Landes mit Abgaben und Steuern in einer Weise zu schröpfen, wie wir das früher noch nie gehabt haben. Ich brauche mir nur anzusehen, was der Senator Scherf an steuerpolitischen Vorstellungen kürzlich verkündet hat: kein Grundfreibetrag mehr ab 130 000 DM; die Staatsquote soll — so expressis verbis gesagt — über höhere Steuern heraufgesetzt werden, freie Berufe rein in die Gewerbesteuer, Quellensteuer 25 %, verdreifachte Mehrwertsteuer bei Pkw ab 60 PS, Mineralölsteuer verdreifachen. Das, meine Damen und Herren, kommt aus Ihren Reihen, und es kommt unwidersprochen aus Ihren Reihen.
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7440 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. Graf Lambsdorff Das wundert mich so.Bei Herrn Scherf bin ich in Bremen. Herr Vogel, der Bundeskanzler wird sich für die CDU mit Ihnen auseinandersetzen. Das ist nicht meine Aufgabe. Aber ein Wort will ich Ihnen doch sagen. Bremen sollten Sie schon erwähnen, wenn es um den Zustand von Parteien geht.
Kümmern Sie sich um Bremen.
Es hat lange gedauert, bis der Innensenator Meyer gegangen ist. Aber immerhin ist er gegangen, und Herr Schnoor ist immer noch da.
Bei Herrn Schnoor hat man den Eindruck,
er sei auf seinem Sessel nicht festgeklebt, sondern festgeschraubt und verlötet.
Selbst Herr Penner hat neulich schon ein kleines Anzeichen der Bedenken gegeben.
— Ich weiß, ich weiß, Herr Penner, Sie sind zur Ordnung gerufen worden, und Disziplin ist alles.Was der FDP-Fraktionsvorsitzende im Landtag von Nordrhein-Westfalen gestern gesagt hat: Die Art und Weise, wie sich Herr Schnoor der Kritik des Parlaments entzieht, indem er die Polizei als Schutzschild mißbraucht, um sich selbst zu schützen, ist undemokratisch, das ist auch die Meinung der FDP-Bundestagsfraktion
und der gesamten Partei.
Herr Schnoor braucht uns, meine Damen und Herren, über die Notwendigkeiten der inneren Sicherheit nicht zu belehren, jedenfalls nicht so lange, wie er die Kiefernstraße in Düsseldorf verteidigt. Vielleicht lesen Sie sich dazu einmal durch, was der Fraktionsvorsitzende Farthmann zu diesem Thema gesagt hat.
Fragen der inneren Sicherheit, meine Damen undHerren, sind sicherlich von der Materie her schwierig.Aber rechtsfreie Räume entstehen lassen, wie das indiesem Düsseldorfer Bereich der Fall ist, das kann nicht die Antwort auf solche Entwicklungen sein.
Ich sagte, Fragen innerer Sicherheit seien von der Materie her schwierig. FDP und CDU/CSU gehen hier in einigen Bereichen von unterschiedlichen Ausgangspositionen aus.
Wir haben das immer gewußt. Aber wir werden die Sicherheitsgesetze, die sogenannten Sicherheitsgesetze, die im Parlament eingebracht sind, verabschieden.
— Wir haben das längst beschlossen, und Sie wissen das natürlich auch ganz genau.
Und wir werden die Datenschutzgesetze und die dazugehörigen Gesetze der Dienste mit den Vorbehalten ins Kabinett bringen, die wir nach langer und sorgfältiger Beratung für notwendig halten, für notwendig in dem Sinne, daß in den Fraktionen noch einmal darüber gesprochen wird.
Wir sind der Meinung, daß die Bürger im Lande ein Tätigwerden auf diesem Gebiet von den hier Verantwortlichen erwarten. Wir wissen, daß wir ein volles Durchsetzen unserer liberalen Position nicht erreichen können. Wir werden uns erträglichen und vertretbaren Kompromissen nicht verschließen. Aber auch Kompromißbereitschaft — das sei hinzugefügt — hat ihre Grenzen. Ich denke, wir werden die Grenzen nicht ausloten müssen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Erfolgsbilanz der Politik dieser Regierung in der Wirtschaftspolitik ist völlig eindeutig. Ich brauche das hier nur ganz kurz anzuführen: Wachstumsrate von 3,5 in diesem Jahr, Preisstabilität. Herr Vogel hat davon gesprochen, daß das durch die Energiepreise entstanden sei, und gemeint, das sei nur die Auswirkung des internationalen Ölpreismarktes. Sie schreiben unsere eigenen gemeinsamen Bemühungen zu klein, daß wir nämlich 1973 angefangen haben, wirklich Marktwirtschaft zu exerzieren und damit auch auf die ölproduzierenden Länder durch die Entkoppelung von Energieverbrauch und Wachstum, durch Einsparungsbemühungen,
und zwar erfolgreiche, Druck auszuüben. Unsere Außenhandelsbilanz ist so gut in Ordnung, daß es eherÄrger im Ausland gibt. Die Investitionen steigen. Der
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7441
Dr. Graf LambsdorffKonsum steigt. Die Aussichten für 1989 werden vom Sachverständigenratsgutachten positiv bewertet.Wir haben wirklich nichts zu beklagen, mit der Ausnahme des einen Punktes — und dies bestreite ich überhaupt nicht — : Arbeitslosigkeit, Arbeitslosigkeit, über die man vieles sagen könnte, auch über das Thema Statistik. Aber ich will keine Statistik-Diskussion, solange die Zahlen und die Einzelschicksale eine wichtige Rolle spielen. Aber wir machen wohl darauf aufmerksam, daß seit vielen Jahren die Hauptverantwortung bei den Tarifvertragsparteien liegt, die diese Verantwortung erst in sehr letzter Zeit besser wahrnehmen. Es ist eine Tarifpolitik betrieben worden, die immer nur diejenigen sichert und immer nur denjenigen nutzt, die Arbeit haben, und die sich um die, die vor den Fabriktoren stehen, nicht kümmert. Das ist zu kritisieren. Das geht an die Adresse der Tarifvertragsparteien, ganz besonders dann, wenn man Tarif autonomie will, wie wir es wollen und wie wir sie verteidigen wollen.
Das Verhältnis zu den Gewerkschaften — Herr Kollege Vogel, Sie haben davon gesprochen — sollte kein feindschaftliches Verhältnis sein. Einverstanden. Auch wir wollen das nicht. Wir wollen eine vernünftige und sachliche Gesprächsbasis mit einer wichtigen, großen Organisation oder: vielen wichtigen, großen Organisationen.Trotzdem kann ich nicht übersehen, daß ich hier z. B. ein Flugblatt der IG Metall aus Saarbrücken mit der Überschrift auf dem Tisch habe: „Kriminelle, Gangster und Banditen. Daß Lambsdorff, Bangemann, Kohl, Geißler und Stoiber sich die Zerschlagung des DGB an die Fahne geschrieben haben, ist nichts Neues". Das finde ich nicht besonders unfeindschaftlich, wie Sie zugeben werden.Auf der anderen Seite haben wir gestern bei der IGBE in Dortmund eine Diskussion erlebt, die eine vorbildliche demokratische Auseinandersetzung darstellte und in der man in einer Weise miteinander umgegangen ist, wie ich es mir für andere Gespräche, wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt — und die gab es in Dortmund natürlich auch — , wünsche.
Es gibt, meine Damen und Herren, auch Defizite in unserer Bilanz. Herr Kleinert hat das Thema Umweltschutz angesprochen. Daß er im übrigen gleich wieder verschwindet, wenn er seine Rede hier abgeschlossen hat — —
— Sie ersetzen ihn vorzüglich, Frau Kollegin Schoppe. Trotzdem möchte man ganz gerne eine Auseinandersetzung fortsetzen können.Das Thema Umweltschutz stellt uns nach wie vor vor große Probleme. Viele davon — und da liegt einer der Punkte, warum uns die Ergebnisse nicht so befriedigen, wie wir es gerne hätten — können überhaupt nur europäisch grenzüberschreitend, aber nicht nur nach Westen, sondern auch nach Osten, gelöst werden. Umweltschutz hat heute eine internationale Dimension angenommen, die in ihrer Bedeutung der Friedenspolitik und der Abrüstungspolitik gleichkommt; denn hier geht es um die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen für die Menschen.
Aber national alleine ist nur Mäßiges zu bewegen. Das ist keine Ausrede, daß Defizite entstehen, wo nichts bewegt worden ist und wo man etwas hätte tun können.Wir werden weiter daran arbeiten, und wir werden mit Ihnen, Herr Vogel, und mit Ihren Freunden Gespräche führen müssen, um den Umweltschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufnehmen zu können. Hier müssen wir uns aufeinander zubewegen, wenn wir eine Zweidrittelmehrheit bekommen wollen, die ja von allen hier in diesem Hause mitgetragen werden muß. Wir sehen es auch hier als wertvoller an, eine Regelung zu bekommen, auf die man sich verständigen kann, als eine ideale Regelung an den Himmel zu hängen, für die es eine Mehrheit nicht geben kann und nicht geben wird. Wir sind für praktische Politik und nicht für Theoriediskussionen.
Zu dem, was Herr Kleinert vorhin gesagt hat, ist anzumerken, ob Umweltschutz auf Dauer erfolgreich betrieben werden kann, wenn man eine Regel, eine Verordnung, eine Anweisung, eine Beschränkung auf die andere häuft. Keiner findet sich in dem Dickicht mehr zurecht. Die Verfahrensdauern für Genehmigungsverfahren und Anträge sind ganz unerträglich lang geworden; ich will es hier nicht weiter erörtern. Es gibt Anlaß, darüber zu sprechen.Diese Bundesregierung ist außergewöhnlich erfolgreich auf dem Gebiete der europäischen Politik. Es war der Durchbruch unter deutscher Präsidentschaft — Herr Bundeskanzler, Sie und der Außenminister haben sich in dieser Sitzung im Februar in Brüssel große Verdienste erworben — , der überhaupt den Weg zum einheitlichen Markt geöffnet hat. Aber nun haben wir auch eine Bitte an Sie, von der wir wissen, daß sie bei Ihnen und bei dieser Regierung auf offene Ohren trifft: Bitte sorgen Sie dafür, daß daraus wirklich der offene Markt Europa und nicht die Festung Europa wird.
Die Mehrzahl unserer Partnerländer vertritt diese Auffassung nicht; machen wir uns nichts vor. Es wird harter Arbeit bedürfen, das durchzusetzen.In der Deutschlandpolitik hat der Kollege Dregger aufgezählt, was wir im Zustand der deutschen Trennung, den wir alle eines Tages zu überwinden hoffen, an praktischer Erleichterung für die Menschen geschaffen haben: Reiseverkehr, Reiseerleichterungen auch für West-Berliner, Städtepartnerschaften, Universitätspartnerschaften, Umsiedler und Aussiedler.Zur Aussiedlerfrage: Die Freie Demokratische Partei hat es immer begrüßt, daß mehr Großzügigkeit auf der Seite der DDR eingetreten ist. Wir sagen ausdrücklich — die Bundesregierung und die Koalition
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7442 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. Graf Lambsdorffhaben es nicht getan; wir wollen es auch nicht — : Wir wollen keine Abwerbung in der DDR. Wir wollen nicht Menschen motivieren, sie bewegen, sie anreizen, ihre Heimat zu verlassen. Wir begrüßen es, daß die Evangelische Kirche in der DDR diese Position einnimmt. Wir sind gespannt, ob es der Vatikan wirklich fertigbringt und veranlassen wird, daß der in Ost-Berlin residierende Kardinal nach Köln ausreist.Ein paar Worte zur Außenpolitik: 1987 war das erfolgreichste Abrüstungsjahr seit dem Zweiten Weltkrieg. Es war eigentlich das erste Jahr, in dem wirklich abgerüstet worden ist, in dem eine ganze Waffengattung beseitigt worden ist.
Das INF-Abkommen ist ein großer Erfolg dieser Bundesregierung, dieser Koalition und ihrer Politik. Ich weiß, daß Sie von der Opposition dem nicht zustimmen, aber diese intellektuelle Einsicht muß eines Tages bei Ihnen aufgebracht werden: Das INF-Abkommen ist eine unmittelbare Folge des hier von der Mehrheit des Hauses unterstützten NATO-Doppelbeschlusses. Es ist nicht eine Folge der Politik der Friedensbewegung, der GRÜNEN und der Sozialdemokraten.
Die Bundesregierung hat erfolgreich die Beziehungen zur UdSSR verbessert — wir haben über den Moskau-Besuch des Bundeskanzlers und des Außenministers gesprochen. Gleichzeitig ist die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten erhalten und ausgebaut worden. Wir legen Wert darauf, daß wir mit diesem wichtigsten Partner im westlichen Bündnis in guten und freundschaftlichen Beziehungen leben. Wir legen Wert darauf, weil das für unsere Sicherheit von entscheidender Bedeutung ist.Wenn Herr Mechtersheimer von den GRÜNEN sagt — ich zitiere das wörtlich — : „Die NATO gehört auf den Misthaufen" : Das, meine Damen und Herren, wäre dann wohl der „Misthaufen", den grüne Politik bereiten würde, wenn sie es denn könnte. Zum Glück können sie das nicht.
Sie sind hier eingezogen, Frau Schoppe — ich habe das ja miterlebt —, unter den lauten Rufen: „Frieden stiften", „Versöhnung", „Harmonie". Verglichen mit der Art, wie Sie miteinander umgehen, sind alle anderen Bundestagsparteien Harmonievereine.
Die grüne Partei — ich unterstreiche dabei das Wort „Partei" — ist zu konstruktiven Politikbeiträgen unfähig. Für einzelne Abgeordnete der GRÜNEN gilt dieses Urteil so nicht.Herr Vogel, wir sind mit Ihnen einer Meinung — wir brauchen da auch nicht ermahnt zu werden; ich habe es auch nicht so verstanden — in der Frage der Menschenrechte. Liberale begrüßen selbstverständlich jede freiheitliche Regelung, die sich gegen staatlich verordnete Ruhegebote auflehnt, vor allem wenn diese Ruhegebote nicht demokratisch legitimiert sind.Das sehen wir in den baltischen Staaten der Sowjetunion mit der gleichen Sympathie wie in den Kirchengemeinden der DDR, in der Danziger Lenin-Werft wie auf dem Wenzelsplatz in Prag, in Chile wie in Südafrika. Da gibt es keine Unterschiede. Aber über eines wird man ja vielleicht noch streiten dürfen, ohne gleich geziehen zu werden, man wolle die Menschenrechte gar nicht durchsetzen: über die Art und Weise, wie man zur Einhaltung der Menschenrechte in solchen Ländern kommt. Derjenige, der gegen wirtschaftliche Sanktionen Bedenken äußert, ist deswegen kein Verächter der Menschenrechte, um es kurz-zufassen.
Meine Damen und Herren, wenn ich auch die Fehler und Ungeschicklichkeiten betrachte, die wir begangen haben — wer regiert, macht Fehler, und wer Entscheidungen trifft, macht Fehler, und Ungeschicklichkeiten werden auch begangen; es könnten manchmal ein paar weniger sein; es würde Ihnen leid tun, aber uns würde es freuen — , dann müßten wir ja eigentlich, vor allen Dingen wenn ich Ihre Interpretation dieser Ungeschicklichkeiten höre, ganz mächtig in der Tinte sitzen,
aber das ist nicht der Fall. — Nein, wir tun es nicht, verehrter Herr Kollege Vogel, weil die Ergebnisse dieser Politik stimmen. Am Ende zählen Ergebnisse.
Ergebnisse zählen nicht nur in der Mitte der Legislaturperiode, sondern sie zählen auch am Ende der Legislaturperiode.
— Verehrter Herr Kollege Vogel, ich habe das auch schon zu Adenauers Zeiten erlebt, Sie auch. In der Mitte der Legislaturperiode hieß der nächste Bundeskanzler immer Ollenhauer, am Schluß war es wieder Adenauer. Diesmal wird es auch so sein.
Meine Damen und Herren, wir wollen dazu beitragen, daß diese Ergebnisse noch besser werden. Die Freie Demokratische Partei, Herr Bundeskanzler, wird ihren Beitrag in dieser Koalition leisten.Wir würden auch gerne sehen, daß die Präsentation noch mehr überzeugt. Eines, was der Kollege Kleinert hier gesagt hat, geht nun weit an der Wirklichkeit vorbei: Er hat von einem Werbefeldzug der Regierung gesprochen. Hätten wir einen, dann wäre ich ganz vergnügt, dann wäre ich ganz froh, meine Damen und Herren.
Zur Verzagtheit gibt es nicht den geringsten Anlaß. Diese Koalition arbeitet erfolgreich. Sie wird weiter Erfolg haben. Die Freie Demokratische Partei, ihre Bundestagsfraktion stimmt dem Haushalt des Bundeskanzlers zu.Ich danke Ihnen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7443
Das Wort hat der Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie in jedem Jahr ist die Generalaussprache zum Etat des Bundeskanzleramts Gelegenheit, über die Gesamtpolitik zu sprechen. Es ist ganz selbstverständlich, daß keine Bundesregierung — das war in früheren Zeiten auch nie so — erwarten kann, von der Opposition Lob oder Zuspruch zu erfahren.
— Es mag in Bayern anders sein, Herr Kollege.
— Vielleicht aus dem Grunde, weil die Sozialdemokraten es endgültig aufgegeben haben, die Verhältnisse in Bayern ändern zu wollen.
Das dürfen Sie ja dem Kollegen Vogel nicht unterstellen. Das ist ja auch in Ordnung.Kritik ist verständlich, und Kritik ist sicherlich auch berechtigt. Das gilt sicherlich auch für die heutige Debatte und für die jetzige Bundesregierung.Herr Abgeordneter Dr. Vogel, ich glaube aber, es ist eben wichtig — zu Beginn Ihrer Ausführungen hatte ich eigentlich den Eindruck, das sei auch der Tenor Ihrer Rede —, daß wir uns bei aller Schärfe der Auseinandersetzung die Fähigkeit zu einem vernünftigen Gespräch erhalten. Dies setzt aber doch voraus, daß man auch im Parlament bei aller Härte der Auseinandersetzung fair miteinander umgeht.Was Sie heute hier zur CDU Deutschlands gesagt haben — ich fürchte, Sie haben das vorformuliert, was die Sache noch schlimmer macht - , ist schlicht und einfach unerträglich. Sie sprechen von Sorge um diese große Partei, aber in Wirklichkeit ist für jeden erkennbar, der hier dabei war, daß es Ihnen um Diffamierung und Herabsetzung des politischen Gegners ging.
Wahr ist, Herr Abgeordneter Vogel — Sie sind Parteivorsitzender, Theo Waigel ist jetzt Parteivorsitzender, Otto Graf Lambsdorff ist Parteivorsitzender, und ich bin es schon seit einigen Jahren — , daß ein jeder von uns im Leben seiner eigenen Partei immer wieder Situationen erlebt, über die er schlicht und einfach unglücklich ist, die ihn betroffen machen. Aber ich finde, wenn wir darüber reden, sollte das zunächst einmal unter dem Gesichtspunkt geschehen, daß jeder vor seiner eigenen Tür kehrt.
Herr Abgeordneter Vogel, Sie sind vor ein paar Tagen in einer Fernsehsendung gefragt worden, ob Sie denn wirklich — das war wörtlich die Frage — in Ihrer Partei alles im Griff haben. Sie haben dann geantwortet — ich zitiere — :Erstens mal habe ich gegen dieses Bild, daß manimmer alles im Griff haben müsse, eine gewisseAbneigung ... Aus dem Griff wird dann leicht auch ein erstickender Griff, ein Würgegriff ... Sie haben vollständig recht, natürlich haben auch wir Probleme. Es wäre ja völlig unglaubwürdig, wenn wir das leugnen wollten. In Bremen geht es darum, daß eben Großstadtprobleme, mit denen wir auch anderswo zu tun hatten, natürlich auch an Bremen nicht spurlos vorbeigehen.Warum haben Sie nicht in diesem Sinne heute hier gesprochen? Warum haben Sie beispielsweise nicht gesagt, daß die bremische SPD am Ende ist, wie jeder in der Stadt unschwer erkennen kann?
Warum fordern Sie für das benachbarte Niedersachsen Neuwahlen und in Bremen nicht?
Denn angesichts der dortigen Korruptionsfälle ist es doch wirklich überfällig, daß Sie ein Großreinemachen durchführen.
Angesichts der Verhältnisse in dieser Stadt — Sie können ja Ihren zurückgetretenen Parteivorsitzenden aus der Region zitieren — wissen Sie doch so gut wie ich, daß Sie allen Grund haben, sich mit den Entwicklungen in Ihrer eigenen Partei zu beschäftigen. Früher hatten Sie ja mal etwas mit Bayern zu tun. Soll ich Ihnen alles vorlesen, was Peter Glotz — immerhin ein langjähriger Spitzenmann der deutschen Sozialdemokratie — über die Entwicklung in Bayern gesagt hat? Ich kann die Liste fortsetzen.
Sie waren auf dem SPD-Parteitag in Berlin,
Sie haben die Auseinandersetzung zwischen zwei führenden Sozialdemokraten dort erlebt. All dieses zeigt Ihnen doch, daß Sie in Wahrheit überhaupt keinen Grund haben, in einer solchen Form hier überheblich aufzutreten.Aber ich habe nicht die Absicht, mich jetzt weiter mit Ihnen zu beschäftigen. Ich will ganz offen auch über die Probleme sprechen, die wir in der CDU haben.Meine Damen und Herren, wer wie ich über 40 Jahre einem Landesverband angehört, wer in diesen über 40 Jahren — ich spreche jetzt von der CDU in Rheinland-Pfalz — einen Großteil seiner Kraft eingebracht hat, hat natürlich seine eigenen Positionen zu Grundfragen der Politik und auch zu Personen. Dementsprechend habe ich mich natürlicherweise aus meiner persönlichen Überzeugung heraus für meinen langjährigen Freund Bernhard Vogel engagiert. Er ist bei der Abstimmung unterlegen, und ich habe als Demokrat und als Parteivorsitzender dieses Ergebnis zu respektieren, obwohl mich dieses Ergebnis tief betroffen gemacht hat. Auch das gehört zum Leben einer lebendigen Partei. Daraus einen Zusammenbruch der politischen Kultur konstruieren zu wollen ist schlicht Heuchelei.
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7444 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Bundeskanzler Dr. KohlDann gibt es ein zweites Beispiel, bei dem man die Absicht sieht, Herr Vogel, und bei dem man deutlich erkennen kann, um was es geht. Das ist Ihre Hetzkampagne gegen Niedersachsen und gegen Ernst Albrecht.
Denn darüber kann es doch gar keinen Zeifel geben: Ernst Albrecht und Niedersachsen sind Ihnen im Prinzip völlig egal,
Sie wollen die dortige Regierung stürzen, um damit an die Bundesratsmehrheit zu gelangen. Das ist das Ziel Ihrer Politik, nicht mehr und nicht weniger.
Dabei ist Ihnen jedes Mittel recht. Ich sage noch einmal: Es ist Ihnen jedes Mittel recht. Sie gehen mit der Reputation von Mitbürgern in einer Weise um, die schlicht skandalös ist.
Sie dürfen glauben: Die Bürger werden das bei der Wahlentscheidung 1990 zu berücksichtigen haben. Sie können auch davon ausgehen, daß die Bürger in Niedersachsen erfahren werden, wie die Vorgänge in dieser Zeit waren, welches Ziel Herr Schröder, von Ihnen unterstützt, in diesen Jahren immer wieder deutlich gemacht hat. Wie heißt es in einem dieser Zeitungsartikel — und die Sprache ist verräterisch — :Wir müssen die Brandfackel ins andere Lager werfen.Hier war heute soviel von politischer Kultur und politischer Sprache die Rede.
— Wollen Sie sich dazu bekennen, Herr Vogel? Ist das also Ihre Strategie? Heißt dieser Zwischenruf, daß das Ihre Strategie ist?
— Nein, nein, nein.Ich kann Ihnen nur sagen: Wir wissen ziemlich genau, was Sie beabsichtigen. Ich erwähne nur die unglaubliche Entstellung bei der Schilderung der Frankfurter Vorgänge, die Sie heute hier vorgenommen haben. Meine Damen und Herren, in Frankfurt geht es ja nicht um Verfehlungen des Oberbürgermeisters. Es sind doch Leute Ihrer eigenen Partei, die in Frankfurt dies alles getan haben!
Ich habe nicht die Absicht, mich weiter mit diesem Thema zu beschäftigen. Ich will abschließend nur sagen: Wie so vieles in Ihren Behauptungen ist auch Ihre Einschätzung zum Presseamt falsch.
Ich will zwei Zahlen nennen, die für sich sprechen. In der Zeit von 1969 bis 1975 — Herr Abgeordneter Vogel, das ist die Zeit, die Sie mit zu verantworten haben — betrug die Steigerungsrate 42 %.
In der Zeit von 1983 bis 1988 beträgt sie 30 %. Ich weiß nicht, was Sie daran auszusetzen haben.
— Entschuldigung, von 1969 bis 1975 sind es sechs Jahre. 1983 bis 1988 ist ein vergleichbar großer Zeitraum. Mir scheint in der Tat, daß Sie Schwierigkeiten haben, die einfachsten Gedankengänge noch aufzunehmen, wenn nur ein politischer Gegner spricht.
Abschließend: Ich rate Ihnen — Sie mögen das beherzigen oder nicht — , sich um die Zukunft der CDU keine Sorgen zu machen. Sie haben diese Partei in 40 Jahren oft genug totgesagt. Sie haben ihr oft genug Konzeptionslosigkeit nachgesagt. Dies alles hat uns in der Vergangenheit nicht geschadet. Wir haben eine gute Chance, meine Damen und Herren, in den beiden kommenden Jahren bei den Wahlen in Berlin, bei den Wahlen zum Europaparlament, bei mehreren Wahlen in den Bundesländern und dann bei der Bundestagswahl unsere Kräfte zu messen. Wir sollten diese Zeit geduldig abwarten, und wir sollten das Ergebnis der Wahlen gemeinsam akzeptieren.Graf Lambsdorff hat Ihnen eben den richtigen Ratschlag gegeben: Es war immer so, daß in der Zwischenzeit der jeweilige Oppositionsführer glaubte, er sei ganz nah am Ziel, und am Wahlabend sah es anders aus. Es ist Ihr gutes Recht, hier auf eine Veränderung zu drängen, und es ist unser gutes Recht, für unsere Politik zu werben. Bloß sollten wir es unter menschlichen Umständen tun, die erträglich sind, aber nicht in der Form, wie Sie es heute hier getan haben.
Meine Damen und Herren, angesichts der Tatsache, daß wir seit der Sommerpause, wenn ich mich richtig erinnere, vier oder fünf Debatten zu dem Thema Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Hohen Hause hatten, will ich micht heute zu diesem Thema auf einige Bemerkungen beschränken. Ich möchte noch einmal einen Hinweis auf unsere Grundsätze geben, weil Sie unsere Grundsätze angesprochen haben.Ziel unserer Politik ist auch in Zukunft, daß wir gemeinsam mit unseren Bündnispartnern die Freiheit und die Sicherheit unserer Länder gewährleisten. Das heißt für uns eigene Verteidigungsanstrengungen im eigenen Land, auch notwendige Opfer, das heißt für uns die Präsenz amerikanischer Streitkräfte mit ihren nuklearen und konventionellen Waffen in Europa und
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7445
Bundeskanzler Dr. Kohlbei uns in der Bundesrepublik Deutschland. Das ist eine Grundvoraussetzung für die Erhaltung von Frieden und Freiheit.Zweitens. Wir wollen den europäischen Pfeiler des Bündnisses festigen. Anfang der vergangenen Woche hat die Westeuropäische Union Spanien und Portugal als neue Mitglieder aufgenommen. Das ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Aktivierung der WEU, die wir gemeinsam unterstützen.Drittens. Wir wollen auch künftig im Bündnis Aufgaben, Risiken und Verantwortlichkeiten fair teilen. Das ist natürlich auch eine Aussage zu dem Thema Modernisierung. Darüber werden wir in Brüssel mit unseren Freunden und Partnern zu sprechen haben. Dabei müssen sowohl die finanziellen als auch die tatsächlichen Leistungen für die gemeinsame Verteidigung gewürdigt werden. Ich denke hier vor allem an den großartigen Beitrag, den unsere Soldaten in der Bundeswehr leisten, und ich denke auch an die Dichte der Truppenstationierung in unserem Land und die damit verbundenen Belastungen für unsere Bevölkerung.Viertens. Wir wollen auch in Zukunft der Aufgabe gerecht werden — als wichtige Voraussetzung der Stärke des Bündnisses und als Grundlage politischer und wirtschaftlicher Stabilität aller Partner — die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auf beiden Seiten des Atlantik zu steigern und den Austausch von Gütern in jeder Hinsicht zu erleichtern. Das schließt ein klares und uneingeschränktes Bekenntnis zum freien Welthandel auf der Grundlage stabiler Währungsrelationen, sowie eine entschiedene Absage an jede Art von Protektionismus ein.
Graf Lambsdorff, ich stimme Ihnen zu: Das Problem liegt nicht hier bei uns in der Bundesrepublik; wir haben auch an unsere Freunde in der Gemeinschaft Fragen zu stellen. Ich will ohne jede Umschweife sagen: Für mich wäre eine protektionistische Politik der EG widersinnig. Es kann keinen Sinn machen — ich will es im Bild sagen — , wenn wir das Material, das wir beim Abreißen der Grenzpfähle im Inneren gewinnen, dazu benutzen, um neue Grenzen nach außen aufzurichten.Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vom Tag der Einführung der D-Mark und der sozialen Marktwirtschaft bis zum heutigen Tag ist ein Paradebeispiel, zu welchen Erfolgen ein Land im Guten kommen kann, das sich zum freien Welthandel bekennt. Die umgekehrten Beispiele will ich hier nicht nennen; aber sie sind uns geläufig. Dies kann nicht unsere Politik sein.
Wir haben — ich bedanke mich für die freundschaftliche Unterstützung und für das Lob, das wir empfangen haben — in diesem abgelaufenen Jahr in der Europäischen Gemeinschaft einen großen Schritt nach vorn tun können. Es sind jetzt nur noch 48 Monate, die uns vom Datum 31. Dezember 1991 trennen. Es gilt jetzt, auf dem Erreichten aufzubauen. Die vor uns liegenden Präsidentschaften — die der Spanier im ersten Halbjahr und der Franzosen im zweiten Halbjahr des nächsten Jahres — werden eine weitere ganz wichtige und entscheidende Stufe auf diesem Weg in die Zukunft sein.Es gibt keine Alternative zu dieser Politik, auch wenn sie Opfer kostet, auch wenn viele hierzulande noch nicht begriffen haben, daß mit der Europäischen Gemeinschaft eine neue Qualität der deutschen Gesellschaft und der deutschen Politik eintritt. Unsere Freunde sagen ja zu Recht — oft mit einem Unterton des Vorwurfs —: Ihr habt die meisten und die größten Vorteile von dem, was sich da entwickelt.Meine Damen und Herren, wir sind auch im abgelaufenen Jahr im Blick auf die Rüstungskontrolle und Abrüstung ein entscheidendes Stück vorangekommen. Alle Zeichen deuten darauf hin, daß sich diese Entwicklung im nächsten Jahr positiv fortsetzen kann. Der neugewählte amerikanische Präsident hat mir vor ein paar Tagen bei unserem Gespräch in Washington noch einmal klar versichert, daß er die START-Verhandlungen zügig fortführen will. Ich kann das nur begrüßen, denn die Festigung der strategischen Stabilität dient nicht nur der Sicherheit der Großmächte, sondern alles, was bei START geschieht, liegt im ureigensten Interesse der Europäer.Bei den Genfer Verhandlungen über das weltweite Verbot Chemischer Waffen werden die USA unter George Bush auf der Grundlage des von ihm selbst — 1984 — eingeführten amerikanischen Vertragsentwurfs ihre Anstrengungen verstärken. Die offenen Überprüfungsfragen sind schwierig. Ich weiß dies. Aber ich kann nur sagen: Wir haben jedes Interesse daran, daß die C-Waffen verschwinden. Es gibt aus meiner Sicht kein Argument dafür. Angesichts der Hinweise, daß in bestimmten Ländern in schwierigen Regionen der Welt möglicherweise Produktionen dieser Art stattfinden, ist es um so wichtiger, daß alle Verantwortlichen hier so schnell wie möglich handeln. Wir wollen, daß die C-Waffen verschwinden.
Das vor uns liegende Nahziel ist der Abschluß des Wiener KSZE-Folgetreffens mit einem substantiellen und ausgewogenen Schlußdokument, das ein Verhandlungsmandat über konventionelle Stabilität in ganz Europa einschließt.Gemäß den Beschlüssen unseres Bündnisses in Reykjavik vom Sommer 1987 ist es unser Ziel, deutliche und überprüfbare Reduzierungen sowjetischer und amerikanischer Kurzstreckenflugkörper auf gleicher Obergrenze zu erreichen.Der Zeitplan, Herr Abgeordneter Vogel, ist völlig eindeutig, er ist mit Rücksicht auf die amerikanischen Wahlen so terminiert worden. Wir werden im Frühsommer, im Mai oder Juni, den 40. NATO-Geburtstag mit einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs begehen — das wird vermutlich in London sein — , und dort wird das Gesamtkonzept zu verabschieden sein. Ich sage klar und deutlich aus meiner Sicht: Es muß ein Gesamtkonzept sein, und es kann nicht irgendwelche Entscheidungen zum Nachteil der Deutschen enthalten.Meine Damen und Herren, galt schon in politisch schwierigeren Zeiten der Satz, daß man das West-Ost-
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Bundeskanzler Dr. KohlVerhältnis nicht auf die Fragen von Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle verengen darf, so gilt dies heute, in einem Moment, wo mehr Chancen, als früher denkbar war, deutlich geworden sind, erst recht. Es geht darum, den politischen Dialog aller Staaten in Ost und West zu verstärken, es geht darum, die Zusammenarbeit auf allen Gebieten zum gegenseitigen Nutzen auszubauen. Die Bundesregierung stellt sich dieser Verantwortung.Der Herr Bundespräsident ist im Augenblick gerade in Bulgarien. Der Bundesaußenminister ist heute von dort zurückgekommen. Die Beziehungen zu Bulgarien haben sich ausgezeichnet entwickelt. Ähnliches gilt für die Beziehungen zu Ungarn, das kann jeder von Ihnen unschwer erkennen. Wir haben aus Gründen, die Sie alle kennen, schwierigere Gespräche mit Rumänien. Wir haben zu Beginn dieses Jahres angefangen, die Beziehungen mit Prag zu vertiefen. Dort ist inzwischen ein Wechsel an der Spitze eingetreten, dessen Konsequenzen noch nicht absehbar sind.Herr Abgeordneter Vogel, an mir wird es nicht liegen, die notwendigen Entscheidungen auch im Gespräch mit Polen herbeizuführen. Aber Sie wissen so gut wie ich, daß ein Besuch in Polen gerade in den letzten Monaten ganz gewiß nicht das Gemäße gewesen wäre, sondern daß wir die Entwicklung innerhalb Polens abwarten müssen. Es muß unser Ziel sein — ich glaube, darüber sind wir einer Meinung — , daß das, was mit Polen im Blick auf die Vergangenheit noch zu besprechen ist und was für die Zukunft vorbereitet werden kann, auch getan wird.Die zentrale Bedeutung unseres Verhältnisses zur Sowjetunion habe ich erst vor ein paar Tagen hier deutlich gemacht. Wir haben einen vertieften Dialog begonnen, wir wollen eine der Zukunft zugewandte Zusammenarbeit sowohl mit der Sowjetunion als auch mit allen unseren östlichen und südöstlichen Nachbarn.Meine Damen und Herren, wir wissen, wenn wir diesen Schritt tun, mit wem wir verhandeln; wir gehen ohne jede Illusion an diese Gespräche heran. Bei all diesen Fragen — das gilt vor allem für die Abrüstung — ist entscheidend, wie die Tatsachen aussehen und nicht, wie sich die Reden anhören. Und wenn wir von dieser sicheren Grundlage aus, die immer, wenn Sie so wollen, die geistige Grundlage des Harmel-Berichts war, an diese Fragen herangehen, dann, glaube ich, dürfen wir heute, am Vorabend des Jahres 1989, davon ausgehen, daß das neue Jahr auf dem Felde der Abrüstung und Entspannung Gutes bringen wird.Es ist hier von allen Rednern — und ich bin dankbar dafür — das Thema Aussiedler angesprochen worden. Es werden in diesem Jahr an die 200 000 sein, in den nächsten Jahren werden es wohl ähnliche Zahlen sein. Ich sage hier noch einmal: Es gilt der Satz: Aussiedler sind Deutsche. Sie haben ein Recht auf Einreise und Aufnahme. Dieses Recht ist aus gutem Grund durch das Grundgesetz verbürgt. Wir sollten uns davor hüten, daran herumzudeuteln und falsche Vergleiche mit anderen Gruppen anzustellen.
Wenn wir in diesem Sinne für die Aussiedler eintreten, dann ist das keineswegs eine Politik, als ob wir die Menschen, die in anderen Ländern leben, beispielsweise seit zehn bis zwölf Generationen in der Sowjetunion, auffordern würden, zu uns zu kommen. Ich habe in meinem Gespräch mit Generalsekretär Gorbatschow nachdrücklich darauf hingewiesen, daß es unser Interesse ist, den Menschen, den Deutschen, die Sowjetbürger sind und dort leben, Lebenschancen und mehr Menschenrechte zu verschaffen, damit sie in ihrer alten Heimat bleiben können. Es kann nicht unser Interesse sein, ein Problem in einer Dimension von 2 Millionen Deutschen in der Sowjetunion lösen zu wollen. Aber es gibt andere Länder innerhalb des Warschauer Pakts, wo die Verhältnisse sehr viel schwieriger sind, wo ich das, was ich soeben sagte, so ohne weiteres nicht sagen kann, und wo unser Interesse sein muß, daß von dort möglichst viele hierher zu uns kommen. Wir sollten sie mit offenen Armen aufnehmen.
Herr Abgeordneter Vogel, wenn Sie sich so um andere Parteien sorgen, dann rate ich Ihnen dringend, sich im Zusammenhang mit der Frage der Aussiedler den Äußerungen Ihres Stellvertreters, des saarländischen Ministerpräsidenten, anzunehmen. Nicht nur das, was hier im Bundestag gesagt wurde, sondern auch das, was draußen in der Öffentlichkeit von ihm gesagt wird, hat ein Niveau, das weit unter dem, was durchschnittliche deutsche Stammtische auf diesem Gebiet bieten, angesiedelt ist.
Es ist für meine Begriffe schlicht ein Skandal, daß ein Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes und immerhin der stellvertretende Vorsitzende einer so traditionsreichen Partei, die sich zu Recht in ihrer Geschichte zur Solidarität bekannt hat, in dieser Weise über die Deutschen spricht.Für uns ist folgendes festzuhalten: Wenn diese Deutschen zu uns kommen, um künftig als Deutsche unter Deutschen leben zu können, wenn sie kommen, weil sie ihren Kindern ihre Identität, ihre Sprache und Kultur sichern wollen, dann haben sie einen rechtlichen und moralischen Anspruch darauf, daß wir ihnen nach Kräften helfen. Das heißt, dies ist eine nationale Aufgabe für alle.Herr Abgeordneter Vogel — auch das sei hier einmal klar gesagt — , ich bin überzeugter Föderalist und war lange genug selber Ministerpräsident; aber ein Teil der Argumente, die ich gegenwärtig von der Seite der Gemeinden und von der Seite der Bundesländer in diesem Zusammenhang höre, entspricht nicht meiner Vorstellung von gelebtem Föderalismus.
Der Bund hat hier klar die Initiative ergriffen.
— Ich habe jetzt kein einziges Land besonders zu erwähnen. Ich habe bewußt alle Länder und auch die Gemeinden angesprochen. Normalerweise hat der Abgeordnete Vogel ja immer einen bestimmten Oberbürgermeister im Sinn, den er gerne zitiert. Den meine
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Bundeskanzler Dr. Kohlich dabei ausdrücklich mit — damit wir uns nicht mißverstehen.
Ich will dazu noch einmal sagen: Jetzt ist die Zeit zu handeln. Wir haben dies getan mit einem Sonderprogramm zur Eingliederung der Aussiedler, mit der Sprachförderung, mit dem, was die Bundesanstalt für Arbeit jetzt an Verbesserungen bringt, mit dem Garantiefonds für schulische, berufliche und gesellschaftliche Eingliederungsbeihilfen, mit dem, was die Jugendgemeinschaftswerke erhalten, und vieles andere mehr.Wir haben vor allem folgende wichtige Maßnahme getroffen: Der Bund stellt den Ländern über 1 Milliarde DM als Finanzhilfen für den Bau von 45 000 Wohnungen in 1989 und 1990 zur Verfügung. Bereits seit Anfang Oktober können die Bundesländer diese Förderungsmittel bewilligen.Meine Damen und Herren, ich habe ebenfalls gesagt — das wissen die Herrn Ministerpräsidenten aus dem Gespräch, das wir hatten — , daß die Bundesregierung, wenn sich die Zahlen so entwickeln, wie es möglicherweise geschieht — niemand weiß das genau — , selbstverständlich bereit ist, notwendige Entscheidungen über das jetzt Bewilligte hinaus zu treffen. Dieses Wort steht, und dieses Wort gilt.
Also kommt es jetzt nicht darauf an, zu streiten, wie man möglichst viel Kosten von einer Ebene auf die andere abschiebt, sondern wie man seiner nationalen Verantwortung wirklich nachkommt. Meine Bitte an Sie ist, daß Sie das tun.
Bei der heutigen Etatrede des Abgeordneten Dr. Vogel war bemerkenswert, wie wenig er über die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik gesprochen hat. Das hat seinen guten Grund, meine Damen und Herren; denn wenn er seine Rede von 1987
— oder 1986 — heute noch einmal gehalten hätte, wenn er sie nur gelesen hätte, hätte er zugeben müssen, daß er sich in einer ganz unwahrscheinlichen Weise getäuscht hat.
Wenn Sie hier gesagt haben, Herr Abgeordneter Vogel, wir hätten uns ja auch getäuscht, wir hätten ja nur 2,5 % angenommen, dann muß ich Ihnen sagen: Das ist doch ein gewisser Unterschied zu jenem Verelendungsgemälde, das Sie uns vor einem Jahr dargeboten haben.
Meine Damen und Herren, weiterer wirtschaftlicher Aufschwung, Expansion bei Stabilität, das ist kurzgefaßt das Markenzeichen der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung, die nun ins siebte Jahr geht. So dieEinschätzung des Sachverständigenrats, die er durchaus auch mit kritischen Anmerkungen zu unserer Politik ergänzt. Er schreibt: „Die Wirtschaft der Bundesrepublik bleibt auch im kommenden Jahr auf einem Expansionspfad", und er sieht insbesondere „gute Chancen, daß die Beschäftigung weiter steigt". Diese ermutigende wirtschaftliche Bestandsaufnahme steht in einem totalen Gegensatz zu jenem Zweckpessimismus, den Sie seit Jahr und Tag verbreiten.1988 — dies sind die Tatsachen — wird in die deutsche Wirtschaftsgeschichte wahrscheinlich als ein Jahr eingehen, in dem Stimmungsbilder und Prognosen zwar im Rekordtempo feilgeboten wurden, aber auch die wohl größte Fehlerquote seit langer, langer Zeit erreicht haben. Selten sind vorschnelle Worte, und zwar aus vielen Bereichen, nicht zuletzt auch aus dem Bereich der Wirtschaft, von den Tatsachen so schnell überholt worden.Meine Damen und Herren, zu diesem Rückblick gehört auch die Feststellung, daß die Bundesregierung in der damals psychologisch so schwierigen Situation — die Sie parteipolitisch ja sehr ausgenutzt haben — Maßnahmen getroffen hat, die sich als hilfreich erwiesen. Ich erinnere an die Verstärkung der Steuersenkung 1988 auf 14 Milliarden DM, an die zeitlich befristete Inkaufnahme eines höheren Haushaltsdefizits und an das Investitionsförderungsprogramm. Viele, nicht zuletzt auf Ihrer Seite, haben diese Initiativen aufs heftigste kritisiert. Ihre Kritik ist vom Schicksal der meisten Prognosen ereilt worden: Sie wurde von den Tatsachen widerlegt. Auch dies ist eine Erfahrung des Jahres 1988, die wir den Wählern, meine Damen und Herren, nicht vorenthalten sollten.
Im Blick auf die Zeit, die vor uns liegt, erscheint es mir wichtig, daß wir sagen können: Wachstum und Beschäftigung stehen auf einer breiten und soliden Grundlage; neben dem privaten Verbrauch sind insbesondere die Investitionen zum Konjunkturmotor geworden. — Wie wichtig dies ist, liegt auf der Hand, denn die Investitionen von heute sichern die Wettbewerbsfähigkeit und damit immer die Arbeitsplätze von morgen.Die deutsche Wirtschaft ist auf dem richtigen Weg. Die Unternehmen haben ihre Investitionsplanungen deutlich nach oben revidiert; die Zahlen zeigen dies. In diesem Jahr, meine Damen und Herren, wird der Anteil der realen Investitionen in Maschinen und Anlagen am Bruttosozialprodukt aller Voraussicht nach den höchsten Stand seit dem Jahre 1971, d. h. seit 17 Jahren, erreichen. Dies ist ein Stück Abschlagszahlung auf die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes, und es widerlegt auch das Geschwätz vom Standortnachteil Bundesrepublik Deutschland. Es lohnt sich offenkundig, in der Bundesrepublik Deutschland zu investieren.
Gleichzeitig — Graf Lambsdorff und Alfred Dregger sprachen davon — ist uns etwas gelungen, was Sie draußen fortdauernd unterschlagen, nämlich ein anhaltendes Wachstum mit einem hohen Maße an Preisstabilität zu verbinden. Wo gibt es vergleichbare Zah-
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Bundeskanzler Dr. Kohllen noch einmal in Europa? Nimmt man den Zeitraum seit 1986, so beläuft sich der Preisanstieg in diesen drei Jahren auf etwa 1 %. Meine Damen und Herren, wenn Sie hier auf die Geschichte der Bundesrepublik zurückblicken, müssen Sie schon 30 Jahre zurückgehen, um vergleichbare Ergebnisse zu sehen.Dieser Erfolg in Sachen Inflationsbekämpfung hat konkrete Folgen. Er hat zusammen mit dem anhaltenden Wirtschaftswachstum dazu geführt — das ist ganz anders, als Sie es hier darstellen wollten, Herr Vogel — , daß die Realeinkommen und damit der Wohlstand breiter Schichten der Bevölkerung spürbar zugenommen haben. In den drei Jahren seit 1986 haben die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte nach Abzug des geringen Preisanstiegs um nicht weniger als 130 Milliarden DM zugenommen. Das ist der stärkste Anstieg seit Beginn der 70er Jahre.Diese Entwicklung gilt nicht nur für Einkommensbezieher, sondern auch für die Rentner. Auch ihnen ist die positive Wirtschaftsentwicklung zugute gekommen. Waren die Renten von 1980 bis 1982 real um 3,2 % gesunken, so sind sie in den drei Jahren seit 1986 um 7 % gestiegen. Das ist Sozialpolitik für die breiten Massen unseres Volkes.
Das dokumentiert einmal mehr die Erfahrung — dies ist, glaube ich, eine der wichtigsten Erfahrungen aus 40 Jahren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland — , daß ein Mehr an sozialer Marktwirtschaft immer auch ein Mehr an Chancen für Einkommen und Renten, für Ersparnisse und Wohlstand eröffnet.
Was mir besonders wichtig erscheint: Diese Einkommen sind nicht finanzielle Zuwendungen, die der Staat an Bürger weitergibt, sondern sie sind das Ergebnis der Leistung der einzelnen Bürger. Diese Einkommen bedeuten auch, daß die Abhängigkeit von staatlichen Kassen nicht größer, sondern geringer geworden ist.
Es sind Einkommen aus eigener Arbeit. Sie erweitern den Spielraum des einzelnen; sie bedeuten mehr Freiheit. Das ist das Ziel unserer Politik.
Die Entwicklung der letzten zwölf Monate hat auch auf dem Arbeitsmarkt positive Veränderungen gebracht. Natürlich weiß ich auch, daß hier noch viel zu tun ist und daß das eines der wichtigsten Probleme bleibt. Dabei sollten wir uns, wenn wir über den Arbeitsmarkt reden, nicht nur von der Statistik leiten lassen. Wir sollten vielmehr die Gesichter der Betroffenen und ihre Familien sehen. Tatsache ist, daß wir beides zu berücksichtigen haben: die Erfolge und das, was noch zu tun ist.Im September hat die Zahl der im Arbeitsleben Befindlichen erstmals wieder die Grenze von 26,4 Millionen überschritten. Das bedeutet einen Zugewinn von 870 000 gegenüber 1983. Das bedeutet zugleich den höchsten Beschäftigungsstand seit 1980. Die Sachverständigen gehen für Ende nächsten Jahres von einerZahl in der Größenordnung von über 1 Million aus. Und was haben Sie uns hinterlassen, meine Damen und Herren — das soll man nicht vergessen!
Wem ist dieser Zuwachs an Arbeit und Beschäftigung zugute gekommen? Zunächst einmal kam er vor allem jenen zugute, die durch Kurzarbeit betroffen waren. Das waren bei uns in der Bundesrepublik im März 1983 eine Million. Es sind jetzt weniger als 100 000.
Das ist der niedrigste Oktober-Stand seit 1979.Der Zuwachs an Arbeit und Beschäftigung kam auch den jungen Leuten zugute. Wir haben durch gemeinsame Anstrengungen — Sie haben die Lehrstelleninitiative damals genug diffamiert — für mehr Lehrstellen gesorgt. Das war ein hervorragendes Ergebnis. Wir haben jetzt die Situation, daß viele Ausbildungsstellen noch offen sind. Wir werden uns in den nächsten Jahren noch mit Wehmut an die hohe Zahl von Lehrstellenbewerbern erinnern.
— Jetzt muß ich wirklich sagen: Bei der Überzahl von Lehrstellensuchenden haben Sie die Demographie nicht gelten lassen, und heute lassen Sie sie gelten, weil sie Ihnen gerade paßt.
Natürlich ist es so, daß die Demographie eine Rolle spielt; aber ebenso wahr ist, daß wir das Problem des Lehrstellenmangels gelöst haben, und zwar ohne Gesetze und ohne Abgaben, sondern mit dem guten Willen und der Unterstützung vieler Bürger.
Die Arbeitslosenquote für junge Arbeitnehmer unter 20 Jahren — das können Sie nicht so einfach auf die Demographie abschieben — lag zuletzt bei 5,3 %. Das sind fast 3 % weniger als die allgemeine Quote.Gemessen an internationalen Maßstäben, meine Damen und Herren, registrieren wir mit Blick auf die jugendlichen Arbeitslosen, daß wir innerhalb der EG mit die beste Entwicklung erreicht haben. Das ist kein Grund auszuruhen; aber es ist auch wahr, daß diese Tatsachen immer wieder bekanntgemacht werden müssen.
Die Arbeitslosenquote insgesamt ist auf 8 % zurückgegangen. Das ist jetzt der niedrigste Wert seit sechs Jahren; das ist jedoch alles andere als ein Wert, mit dem wir zufrieden sein können. Es gehört vieles für die Zukunft noch dazu.Dazu zählt beispielsweise auch die Frage, wie weit wir die Statistik etwas durchsichtiger und verständlicher machen.
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Bundeskanzler Dr. Kohl— Allein die Diskussion über einen Gegenstand ist für Sie eine Manipulation. Das ist bezeichnend für Ihr Demokratieverständnis.
Jeder, der ernsthaft mit führenden Repräsentanten etwa des Deutschen Gewerkschaftsbundes redet, und zwar nicht auf einer Kundgebung, sondern in einem normalen vernünftigen Gespräch,
wird ohne weiteres über die Tatsache sprechen können, daß es selbst in Arbeitsamtsbezirken mit hoher Arbeitslosigkeit Arbeitskräftemangel gibt. Sie können das bei jeder zuständigen Stelle in praktisch jeder Stadt unschwer erfahren.
Folglich muß doch bei der Darstellung des Problems etwas falsch sein.Wir sehen auch, wo die Probleme liegen. Wir sehen, daß wir viele Arbeitslose haben, die Opfer von strukturellen und regionalen Verwerfungen sind, ob das in der Schuhindustrie ist, oder im Bereich der Kohle, ob das im Bereich des Stahls ist oder bei der Werftindustrie. Wir kennen ja die Beispiele. Aber wir sehen auch umgekehrt — das läßt sich nicht leugnen — die Veränderungen. Wir sehen die Tatsache, daß eine größere Zahl von Frauen als früher ins Arbeitsleben strebt, weil sie jetzt eine Chance sehen — die sie vorher überhaupt nicht gesehen haben — , eine Arbeit zu bekommen.Wir sehen auch Einstellungen, die ganz und gar töricht sind, etwa im Umgang mit älteren Arbeitnehmern. Selbst in einem Arbeitsamtsbezirk, der nahezu Vollbeschäftigung aufweist wie der mittlere Neckarraum, werden Sie heute die größten Probleme haben, wenn Sie einen 52-, 53jährigen unterbringen wollen. Es ist ein absoluter Unsinn, daß Lebenserfahrungen so gering geachtet werden und die Chancen deswegen entsprechend so schlecht sind.
Ich glaube, daß sich alle Beteiligten — das gilt für die Politik genauso wie für die Tarifpartner, für Gewerkschaften und Unternehmen — mehr einfallen lassen müssen auf zwei wichtigen Feldern: der Flexibilisierung und der Qualifizierung. Die Tatsache, daß über 1 Million der Arbeitssuchenden keine berufliche Qualifizierung aufweisen können, zeigt doch das eigentliche Problem, das wir in der Zukunft haben werden. Hier müssen wir ansetzen, und hier müssen wir die notwendigen Entscheidungen herbeiführen.
Aber hier geht es nicht um Entscheidungen, die primär der Politik übertragen sind. Wenn wir ja sagen zur Tarifautonomie, dann haben die Tarifpartner bei Abschlüssen und bei innerbetrieblichen Vereinbarungen die notwendige Verantwortung wahrzunehmen.
Das andere Stichwort, das ich erwähnen möchte, gehört auch in diesen Bereich. Das ist die Flexibilisierung. Ich will besonders die Frage der Teilzeitarbeit ansprechen. Es ist nicht verständlich — obwohl jetzt bei uns die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen sind — , daß die Niederlande — das ist ein wirklich vergleichbares Land — 24 % und wir 12 % solcher Arbeitsplätze aufzuweisen haben. Hier herrscht in Personalbüros und, wie ich vermute, gelegentlich auch in Betriebsratsbüros noch sehr viel Denken in althergebrachten Bahnen.Die Flexibilisierung ist ja vor allem etwas, was berufstätige Frauen zugute kommt. Wer sich fortlaufend dazu bekennt, daß die Gleichberechtigung der Frau endlich Wirklichkeit werden muß, sollte sich auch darum kümmern, daß wir auf diesem Feld endlich vorankommen.
Ich begrüße es — das will ich ausdrücklich sagen —, daß gerade in allerjüngster Zeit auch im Kreis der Tarifpartner die Signale einer neuen Nachdenklichkeit und einer größeren Gesprächsbereitschaft auf diesem Feld deutlich zugenommen haben.Mir scheint auch das Verständnis dafür zu wachsen, daß ein Hochlohnland wie die Bundesrepublik Deutschland das erreichte Einkommensniveau nur sichern kann, wenn wir halt in der Lage sind, bei der Organisation der Arbeitszeit den veränderten technologischen und wirtschaftlichen Bedingungen besser Rechnung zu tragen. Wenn ich das sage — ich sage das vorsorglich, weil ich weiß, was ich von Ihrer Seite zu erwarten habe — , bedeutet das selbstverständlich nicht, daß soziale Absicherungen in Sachen Arbeitszeit zur Disposition gestellt werden sollen. Klar ist aber, daß wir insgesamt gesehen beweglicher werden müssen.
Wenn wir nicht beweglicher werden, werden wir unseren Platz als Exportnation Nummer eins auf die Dauer nicht halten können.Vor allem warne ich — da sehe ich bei den Gewerkschaften erfreulicherweise eine gute Entwicklung — vor pauschalen Konzepten. Was für ein kapitalintensives Großunternehmen der Industrie mit einem Mehrschichtbetrieb gut und sinnvoll sein mag, das paßt noch lange nicht für ein Handwerksunternehmen. Die Differenzierung auch im Blick auf die Regionen gibt uns hier, glaube ich, noch eine ganze Menge Chancen.Mit einem Satz: Es gibt noch vieles zu tun, nicht nur für die Tarifpartner, auch für die Politik. Wir haben die Aufgabe, vernünftige Rahmenbedingungen zu schaffen.Aber das werden wir nur tun können, wenn wir eine andere Priorität beachten. Das sind solide Staatsfinanzen. Ich sagte bereits, daß wir im laufenden Jahr auf Grund der besonderen Situation infolge der Turbulenzen an den Finanzmärkten ein höheres Haushaltsdefizit in Kauf genommen haben. Ich habe damals, vor einem Jahr, erklärt: das wird sich nicht wiederholen, das wird ein Ausreißer bleiben. Sie haben uns beschimpft, diffamiert und alles Mögliche nachgesagt. Wenn Sie fair sind, gehen Sie heute an dieses Pult und
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7450 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Bundeskanzler Dr. Kohlbekennen, daß alles, was Sie vorhergesagt haben, falsch war.
Ich habe damals gesagt — und der Kollege Stoltenberg hat es bei vielen, vielen Gelegenheiten deutlich gemacht —, daß die Nettokreditaufnahme des Bundes im Haushaltsjahr 1989 um mindestens 10 Milliarden DM zurückgeführt werden soll. Heute können wir feststellen, daß der Haushalt, der Ihnen zur Entscheidung vorliegt, dieser Vorgabe entspricht.
Ich will noch einmal darauf hinweisen, daß das Ziel einer wirksamen Ausgabendisziplin und einer Begrenzung der jährlichen Neuverschuldung für uns unverändert Gültigkeit hat. Sie haben mich hier zitiert, Herr Kollege Vogel, mit dem, was ich auf einem Parteitag in Aachen gesagt habe, und ich nehme das gerne auf: Nur wer das eigene Haus in Ordnung hält, kann auch etwa in der Weltpolitik oder in der Europapolitik seinen Beitrag leisten.
Weil dies so ist, halten wir dieses Haus Bundesrepublik Deutschland in Ordnung.
Meine Damen und Herren, diesem Ziel dient auch unsere Steuerpolitik. Auch das ist ja eine, wie ich finde, gute Entwicklung — das gilt nicht nur für Sie, sondern das gilt auch für viele in der Koalition — : Wieviel Ratschläge gab es denn, meine Damen und Herren, die Terminplanung hinsichtlich der Steuersenkungen zu verändern? Dieser Tage sagte mir einer von jenen, die es eigentlich wissen müssen: Daß jetzt die nächste Rate zum 1. Januar 1990 kommt, ist wie gemalt; besser hätte man es gar nicht machen können.Die Steuerreform 1990 trägt eben der gesamten Entwicklung Rechnung. Die nachhaltige Anhebung des Grundfreibetrags, die Besserstellung der Familien mit Kindern, die Beseitigung des sogenannten Mittelstandsbauchs — das alles sind Inhalte der Reform, die in die Zukunft weisen. Das ist hier von meinen Kollegen aus der Koalition schon deutlich angesprochen worden.Meine Damen und Herren, im Blick auf die EG und den europäischen Binnenmarkt in 48 Monaten sind die anderen Reformen unerläßlich. Ich nenne hier die Postreform, von Ihnen heftig bekämpft.
Ja, meine Damen und Herren, wenn es so weitergegangen wäre, wie Sie es bei der Post gemacht haben, wäre die Post in ein paar Jahren am Ende gewesen.
Sie haben den Personalumfang ausgeweitet undnichts, aber auch gar nichts für die Zukunftssicherunggetan. Sie haben die Arbeitsplätze bei der Post gefährdet.
Was haben Sie denn an Anpassungen bei den neuen Kommunikationstechnologien angesichts der veränderten Marktbedingungen gemacht?Und was haben Sie im Blick auf die Lohnnebenkosten getan, meine Damen und Herren, etwa im Zusammenhang mit dem Sozialversicherungssystem?
Nun, Herr Abgeordneter Vogel,
ziehen Sie durchs Land und machen Volksverhetzung in Sachen Gesundheitsreform.
— Doch, doch, das machen Sie.
Herr Abgeordneter Vogel, wenn Sie die Flugblätter lesen, die Ihre Partei draußen gegen Blüm, gegen mich und andere verteilt, dann müssen Sie erkennen, daß das unerträglich ist, und das muß hier einmal zur Sprache gebracht werden.
Die Art der politischen Auseinandersetzung, die Sie treiben, ist völlig unerträglich.
Sie haben uns dieses Erbe hinterlassen: Im Jahre 1970 haben wir in der Bundesrepublik — —
— Ja, meine Damen und Herren, ich weiß, Sie sind stark im Austeilen.
— Ich weiß, Sie sind stark im Austeilen, und wir sollen alles einstecken. Es ist unerträglich, was Sie im Zusammenhang mit der Gesundheitskostenreform — ich sage dies noch einmal — draußen im Lande betreiben.
Die Art und Weise Ihrer Darstellung hat nichts, aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7451
Meine Damen und Herren, ich bitte doch, die notwendige Ruhe wiederherzustellen.
— Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat das Wort.
Also, Herr Präsident, wenn ich das gerade sagen darf: Mir geht es hier jetzt wirklich nicht darum, den Ablauf der Debatte zu erschweren. Ich habe diesen Begriff wirklich aus der Empörung über das gebraucht, was ich jeden Tag draußen an Flugblättern lesen muß. Wenn es Ihnen um den Begriff geht, bin ich gerne bereit, diesen Begriff zu streichen, Herr Abgeordneter Vogel; damit habe ich kein Problem.
Aber ich erhalte den Vorwurf aufrecht, daß Sie Tag für Tag überall in der Bundesrepublik eine Propaganda machen, die von A bis Z unwahr und unrichtig ist, die nicht der Wahrheit entspricht.
Meine Damen und Herren, nach dieser wünschenswerten Klarstellung bitte ich, die notwendige Ruhe wiederherzustellen. Herr Bundeskanzler, fahren Sie fort.
Herr Abgeordneter Vogel,
ich will Ihnen noch einmal sagen: Ich habe, als ich Ihre Empörung bemerkt habe, sofort eine Richtigstellung vorgenommen. Ich möchte mir wünschen, daß Sie sich bei Ihren Bemerkungen einmal ebenso verhielten. Das gilt es noch einmal zu sagen.
— Meine Damen und Herren, ich weiß, Sie sind sehr stark im Austeilen. Aber Sie sind sehr schwach im Hinnehmen, wenn andere Ihnen einmal mit der gleichen Münze zurückzahlen.
Wenn wir hier eine Diskussion über die schriftlichen Zeugnisse Ihrer Kampagne aufnehmen würden, dann würde jeder sehen, was für Bezeichnungen hier angebracht wären.
Meine Damen und Herren, Sie haben uns das Gesundheitswesen in einem Zustand hinterlassen, bei dem es nicht bleiben konnte. Von 24 Milliarden DM im Jahr 1970 sind die Kosten auf 125 Milliarden DM in diesem Jahr gestiegen. Jeder von uns weiß, daß die Zukunftschancen der Bundesrepublik Deutschland entscheidend davon abhängen, ob wir fähig sind, Exportland Nummer eins zu bleiben. Wir werden das nur bleiben, wenn wir die Lohnnebenkosten eingrenzen. Aus diesem Grund muß jetzt — und ich bin dankbar, daß die Kollegen das ermöglicht haben —, in dieser Woche, die letzte Entscheidung im Deutschen Bundestag getroffen werden.Wir haben ein zweites Feld, Herr Abgeordneter Vogel, wo wir über Konsens oder Dissens nicht nur reden müssen, sondern wo wir uns darüber klar sein müssen, daß ein zerbrochener Konsens für die Zukunft der Bundesrepublik katastrophale Folgen hätte.
Ich spreche von der Energiepolitik. In den vergangenen zwei Wochen ist es nach schwierigen Verhandlungen gelungen, die notwendigen Vereinbarungen zu treffen, um die Förderung der deutschen Steinkohle für die nächsten drei Jahre auf eine tragfähige Grundlage zu stellen.
Ich meine den Einstieg in das neue System des Hüttenvertrags und die Absicherung der Verstromungsregelung. Auch hier wird ja in den Kohleländern zum Teil seitens der Sozialdemokratie ganz Unglaubliches behauptet. Weil dies so ist, müssen Sie sich anhören, was der Bund in diesem Bereich geleistet hat und leistet.Seit 1983 hat der Bund die deutsche Steinkohle mit insgesamt 33 Milliarden DM unterstützt. 1987 und 1988 hat der Bund für die deutsche Steinkohle jeweils über 7,5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Die wirtschaftlich notwendigen Anpassungsmaßnahmen im Kohlebergbau sind sozialverträglich gestaltet worden. Dazu gehören für die Arbeitnehmer die Verlängerung des Anpassungsgeldes bis 1994, die Unterstützung der Unternehmen bei der Durchführung des Kapazitätsabbaus durch Sonderhilfen. Allein für den Bundeshaushalt ist dies eine zusätzliche Belastung von weit über 1 Milliarde DM. Hierzu gehört die im Interesse eines sozialverträglichen Belegschaftsabbaus bis 1992 fortgeführte Subvention des Kokskohlenexports. Hierzu gehört die umfangreiche regionalpolitische Flankierung wie etwa die Maßnahmen zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen in den Arbeitsmarktregionen Aachen und Jülich. Der Hüttenvertrag, d. h. der Einsatz der deutschen Steinkohle in der Stahlindustrie, steht auch weiterhin auf einer soliden Grundlage. Erst kürzlich ist die Kokskohlenrunde beendet worden. Für 1988 wird von Bund und Land eine Rekordsumme von knapp 4 Milliarden DM zur Verfügung gestellt.Sie können doch beim besten Willen in der Debatte draußen nicht behaupten, daß der Bund hier seiner Verantwortung nicht gerecht geworden ist. Wir stehen gegenwärtig in schwierigsten Verhandlungen
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7452 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Bundeskanzler Dr. Kohlmit den revierfernen Ländern, und zwar mit dem klaren Ziel, daß die revierfernen Länder auch jetzt die Erhöhungen beim Kohlepreis mit in Kauf nehmen, daß sie ein Opfer für andere Länder bringen, auch wenn diese ihrerseits nicht das Notwendige bei der Kernkraft getan haben. In allem Ernst darf ich Ihnen von der SPD das sagen
und zugleich zu den Ländern, die von den Sozialdemokraten geführt werden.
— Entschuldigung; ich habe eben klar und deutlich gesagt: Wenn diese Bemerkung Sie beschwert, nehme ich sie zurück. Was wollen Sie eigentlich noch mehr?
Frau Abgeordnete, ich möchte Sie bitten, den Redner nicht mehr zu unterbrechen.
Ich wiederhole es erneut, wenn Sie es nicht gehört haben.
Ich habe klar und deutlich gesagt: Wenn diese Berner-kung Sie beschwert, dann nehme ich sie zurück.
Mehr kann ich doch nicht machen.
Ich habe darauf hingewiesen, daß diese wünschenswerte Klarstellung eine notwendige Voraussetzung für die Wiederherstellung der Ruhe ist.
Herr Bundeskanzler, würden Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier beantworten?
Gerne.
Bitte schön, Frau Abgeordnete.
Herr Kohl, ich glaube, das würde manches klären: Warum haben Sie eigentlich nicht die Kraft, sich einfach zu entschuldigen?
Aber, Frau MatthäusMaier, das ist doch gar nicht das Problem.
Ich habe klar und deutlich gesagt:
Wenn diese Bemerkung Sie beschwert, nehme ich sie zurück.
Wenn Sie wollen, wenn Ihnen das genügt: Ich hätte sie nicht zurückgenommen, wenn ich sie nicht bedauern würde. Das ist doch ganz selbstverständlich. Ich habe sie zurückgenommen. Ich gehöre wirklich nicht zu denjenigen, die eine beschwerende Bemerkung,
die andere unerträglich finden, nicht zurücknehmen können.
Ich bleibe bei meiner These in der Sache. Aber wenn diese Bemerkung Sie beschwert — ich sage es noch einmal — , nehme ich sie zurück. Aus!
Ich komme zu dem wirklich wichtigen Thema zurück. Ich sage mit Bedacht an alle Seiten des Hauses und auch an die Adresse der Bundesländer: Wir werden in der Kohlefrage in der Zukunft keinen Konsens bekommen, wenn wir nicht in der Lage sind, gerade auch in der Frage des — notwendigen — Zusammenhangs zwischen Kohleförderung und Kernkraft wieder einen Konsens zu finden. Meine Damen und Herren, es ist unerträglich — ich habe alle Sympathie für die Empfindungen von Ministerpräsidenten der Länder, die revierfern sind — , daß aus politischen Kreisen, die in den Bergbau-Ländern führend sind, etwa die Demonstrationen in den anderen Bundesländern organisiert werden, während gleichzeitig diese Bundesländer, und der Bund für die Steinkohle derartige Opfer bringen. Das ist ein völlig unerträglicher Vorgang.
Wer sagt, er sichere den Steinkohlebergbau an der Ruhr, und gleichzeitig zu Demonstrationen in Wackersdorf aufruft, muß wissen, was er tut. Das ist das Ende vernünftiger gemeinsamer Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland.
Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassend sagen: Wenn wir auf das Jahr 1988 zurückblikken, ist ohne weiteres die Bemerkung erlaubt, daß dies ein gutes Jahr war, daß es uns in den außenpolitischen Entwicklungen gute Fortschritte gebracht hat: im Bereich der NATO eine Stabilisierung des Bündnisses, erste wesentliche Schritte bei der Abrüstung —
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7453
Bundeskanzler Dr. Kohlich erinnere an das Inkrafttreten des INF-Vertrags —, die Gewißheit, daß die Abrüstung weitergehen wird, den Druchbruch bei den EG-Verhandlungen im Februar in Brüssel und im Juni in Hannover und die gute Chance, daß wir im nächsten Jahr unseren Zeitplan auf dem Weg bis zum 31. Dezember 1992 einhalten können. Die Gespräche in Moskau und die mit den Repräsentanten der Warschauer-Pakt-Staaten hier und anderswo haben gezeigt, daß es über die Abrüstung hinaus eine gute Chance für uns gibt, weiterzukommen, im besten Sinne des Wortes die Beziehungen auf breiter Front weiterzuentwickeln. Auch das wird bei dem Besuch von Generalsekretär Gorbatschow im nächsten Jahr bei uns in der Bundesrepublik Deutschland sicherlich eine Fortsetzung zum Guten erfahren.Wir haben eine wirtschaftspolitische Bilanz vorzulegen, die sich sehen lassen kann. Im Vergleich zu den anderen Ländern in Europa — abgesehen von einer Ausnahmestellung der Schweiz — nehmen wir einen Spitzenplatz ein. Das ist Ertrag der Arbeit von vielen Millionen Menschen. Ich denke an die Arbeit der Arbeitnehmer in den Betrieben. Ich denke an die Weit-schau von klugen Unternehmern. Hier wirkt — mit einem Wort — der gute Wille eines ganzen Landes, der das Land nach vorn bewegt hat.
— Was haben Sie eigentlich für eine Art zu reagieren? Ich habe eben über die Arbeitnehmer gesprochen. Sind denn die Gewerkschaften nicht mehr Teil der Arbeitnehmer? Sind Sie in Ihrer Gegnerschaft wirklich schon so weit, daß unsere Muttersprache nicht mehr trägt? Ich habe von Unternehmern gesprochen, und ich habe von Arbeitnehmern gesprochen. Wenn Sie wollen — wenn es Sie sonst beschwert — , spreche ich von Unternehmern, von Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften. Dann sind wir uns, glaube ich, völlig einig. Das ist doch wirklich inzwischen in die Nähe des Absurden geraten.
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal sagen: Wir gehen davon aus, daß dieser Kurs, der dem Frieden und der Freiheit unseres Landes dient, der im Inneren dem Wohlstand und der sozialen Gerechtigkeit dient, der richtige ist. Wir, die Bundesregierung und die sie tragende Koalition, sind entschlossen, ihn konsequent und mit dem notwendigen Mut auch dort, wo unpopuläre Entscheidungen zu treffen sind, weiterzuverfolgen. Dafür bitte ich Sie um Ihr Vertrauen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Vogel.
— Meine Damen und Herren, ich bitte die notwendige Ruhe herzustellen.
Herr Dr. Vogel, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Szene, die wir soeben erlebt haben und die durch die Unbesonnenheit des Bundeskanzlers herbeigeführt worden ist, war bedrückend.
— Ich wiederhole den Satz: Die Szene, die wir soeben erlebt haben und die durch die Unbesonnenheit des Bundeskanzlers ausgelöst worden ist, war bedrükkend.
Es ist ohne Beispiel, daß der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland dem Vorsitzenden der stärksten Oppositionsfraktion und seiner gesamten Fraktion Volksverhetzung vorwirft.
Das ist ein Wort, meine sehr verehrten Damen und Herren,
das an die Zeit vor 1933 erinnert.
Ich nehme zur Kenntnis — —
Herr Dr. Vogel, ich möchte Sie unterbrechen. — Meine Damen und Herren, ich glaube, daß sich dieses Haus keinen Gefallen tut, wenn es nicht mit der nötigen Ruhe die Erklärung des Abgeordneten Dr. Vogel zur Kenntnis nimmt.
Mehr als ein Zwischenruf zur gleichen Zeit ist unverständlich, meine Damen und Herren.
Ich danke Ihnen, Herr Präsident.Ich nehme zur Kenntnis, daß Sie nach wiederholter Aufforderung, Herr Bundeskanzler, den Ausdruck „Volksverhetzung" zurückgenommen haben. Ich nehme ebenso zur Kenntnis, daß die Unionsfraktion den Ausdruck „Volksverhetzung" mit stürmischem Beifall begleitet hat.
Ich warte darauf, daß sich auch der Vorsitzende dieser Fraktion zur Korrektur und zur Zurücknahme entschließt.
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7454 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. VogelHerr Bundeskanzler, ich habe heute morgen festgestellt, daß Sie zum Dialog nicht fähig sind.
Ihr Ausbruch hat diese Feststellung unterstrichen.Wir haben gegen die sogenannte Reform des Gesundheitswesens keine anderen Argumente eingesetzt als alle beteiligten Organisationen und Verbände.
Wenn Sie uns Volksverhetzung vorwerfen, gilt der Vorwurf allen anderen, die sich an dieser Diskussion beteiligen.
Herr Bundeskanzler, wir haben Verständnis dafür, daß Sie sich in Schwierigkeiten befinden und angesichts dieser Schwierigkeiten auch dünnhäutig reagieren. Aber ich sage Ihnen, Sie werden Ihre Schwierigkeiten durch solche maßlosen Ausbrüche nicht vermindern,
sondern das Amt des Bundeskanzlers beschädigen und das Klima in diesem Hause in unerträglicher Weise belasten.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Bundeskanzler.
Meine Damen und Herren, ich war lange genug Fraktionsführer in einer Regierungsfraktion und in einer Oppositionsfraktion. Ich weiß, wie man in einer konkreten parlamentarischen Situation versucht, aus seiner Sicht das Richtige zu tun. Ich habe also durchaus Verständnis für das, was Herr Kollege Vogel versucht hat.
Nur, Herr Kollege Vogel, es ändert ja nichts an den Tatsachen. Ich will noch einmal sagen: Wenn Sie der Ausdruck, den ich angewandt habe, beschwert, dann ziehe ich ihn zurück.
— Entschuldigung, ich habe auch mein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht; das muß Ihnen genügen.
Als zweites will ich allerdings sofort hinzufügen: Wenn Sie draußen im Lande weiterhin so fortfahren, Woche für Woche über Plakate, über Flugblätter in solchem Umfang eine Verfälschung der Wirklichkeit dieses Gesetzes vorzunehmen, dann bezeichne ich das weiterhin als einen Skandal und als eine wirklich schlimme Entwicklung des politischen Lebens.
Sie können gegen dieses Gesetz sein — das ist Ihr gutes Recht —, aber dann verwenden Sie bitte wenigstens Argumente, die zutreffend sind! Es ist eine schlimme Sache, wenn Sie sich hinter Verbänden verstecken. Ich habe, was die Ärzteschaft und einige ihrer Verbände betrifft, öffentlich Position bezogen; die sind aber hier nicht im Saal wie Sie. Sie sind der Parteivorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. So, wie Sie mir vorhalten, was innerhalb der CDU geschieht, sage ich Ihnen das, was ich für richtig halte, über das Verhalten der Sozialdemokratischen Partei.
Ich bedaure — ich sage dies noch einmal — , daß die Diskussion über die Gesundheitskostenreform bei Ihnen ein solches Niveau erreicht hat. Sie tragen dafür die Verantwortung.
Das Wort hat der Abgeordnete Jungmann.
— Herr Abgeordneter, ich würde Sie bitten, noch einen Moment zu warten, damit ich auch Ihnen die notwendige Ruhe verschaffen kann.
Das ist sehr nett, Herr Präsident. Nur, es ist ja bezeichnend: Diejenigen, die vorhin die Krakeeler bei dem waren, was mein Fraktionsvorsitzender gesagt hat, gehen jetzt heraus.
— Ich warte ab, Herr Kollege Rose, bis alle, die gehen wollen, den Saal verlassen haben.
Herr Abgeordneter Jungmann, Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte und das, was sich am Ende hier abgespielt hat, und gerade auch Ihr Zwischenruf beweisen, daß Sie aus dem, was sich vor 14 Tagen hier mit dem ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages und in bezug auf die Vorsichtigkeit von Wortwahlen abgespielt hat, nichts dazugelernt haben.
Herr Bundeskanzler, es ging überhaupt nicht darum, ob Sie den Begriff, den Sie gebraucht haben, zurücknehmen. Vielmehr geht es doch darum, ob Sie inhaltlich davon überzeugt sind, daß Sie den Begriff zu Unrecht gebraucht haben, und nicht nur pauschal zurücknehmen — und damit ist der Fall erledigt.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Union: Ich weiß, daß eine Debatte manchmal auch dazu beiträgt, daß sich die Gemüter erhitzen. Aber Argumente dürfen hier doch noch vorgetragen werden und dürfen nicht einfach niedergeschrien werden.Deshalb glaube ich — der Bundeskanzler hat das in seinem Auftritt hier deutlich gemacht — , daß der Fraktionsvorsitzende meiner Partei mit der Kritik, die
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7455
Jungmanner an der CDU/CSU geleistet hat, den Nerv getroffen hat.Herr Bundeskanzler, Sie haben diese Kritik als heuchlerisch bezeichnet. Ich frage Sie: Wie oft haben Sie eigentlich schon die Sozialdemokratische Partei belehrt und kritisiert? Sie haben dazu noch tote Sozialdemokraten — weil diese natürlich nur gute Sozialdemokraten sind — als Zeugen angerufen. Wie nennen Sie das dann, wenn Sie meine Partei in der Form, wie Sie es in der Vergangenheit immer wieder getan haben, kritisiert haben?Ich sage ganz offen: Die Rede von Otto Graf Lambsdorff hat sich wohltuend von dem Bild abgehoben, welches der Bundeskanzler hier entworfen hat.
Es steht auch einem Bundeskanzler gut an, eigene Fehler einzugestehen und sie nicht nur durch Ausbrüche zu übertünchen.Ich stimme Ihnen in dem zu, Herr Bundeskanzler, was Sie über die deutschstämmigen Bürger in der Sowjetunion und über Ihren Versuch — dazu tragen wir alle bei — gesagt haben, ihnen dort, wo sie leben, wo sie aufgewachsen sind, wo sie seit Generationen ihre eigentliche Heimat sehen, ein Leben unter menschenwürdigen Bedingungen zu garantieren. Wenn sie meinen, unter den derzeitigen Bedingungen dort nicht mehr leben zu können, dann nehmen wir Sozialdemokraten sie genauso wie Sie als Union mit offenen Armen auf. Darin lassen wir uns von Ihnen nicht übertreffen.
Wenn Sie meinem Fraktionsvorsitzenden vorwerfen, er habe hier im letzten Jahr ein Elendsgemälde gezeichnet, dann geben wir natürlich zu, daß sich die wirtschaftspolitischen Bedingungen — das hat Graf Lambsdorff hier auch ganz deutlich gesagt — gebessert haben. Nur, unter welchen Aspekten sich die wirtschaftlichen Bedingungen verändert haben und welche Auswirkungen das auf die Politik gehabt hat, haben Sie vergessen zu sagen. Dabei müssen sie berücksichtigen — —
— Otto Graf Lambsdorff hat gesagt, diese Politik sei seit 1973 angelegt. Von 1973 bis 1982 haben ja wohl die FDP und die SPD zusammen regiert. Daraus resultiert ein Teil der Erfolge, die Sie heute kassieren. Das ist auch ein Teil der „Erblast" , die Sie hier immer ansprechen, Herr Bundeskanzler.Wenn Sie in Ihrer Rede von dem angeblichen Elendsgemälde gesprochen haben, dann haben Sie immer nur den Teil der Bevölkerung hervorgehoben, der von Ihrer Politik positive Aspekte zu erwarten hat. Es gibt Sozialhilfeempfänger, es gibt Arbeitslose, es gibt Aussiedler, Übersiedler, Asylanten und Rentner, die von Ihrer Politik keinen positiven Einfluß auf ihre Situation verspüren. Die Genannten leben teilweise am Rande der Not. Das vergessen Sie. Es ist auch Aufgabe der Opposition, darauf hinzuweisen, daß es solche Dinge in dem reichen Land BundesrepublikDeutschland auch gibt. Es gibt Elend in diesem Land.
Das darf man auch hier im Deutschen Bundestag— trotz aller positiver wirtschaftlicher Entwicklungen — noch deutlich aussprechen.Daß die Politik der Bundesregierung in der Öffentlichkeit nicht die Zustimmung findet, die sich der Bundeskanzler immer erhofft und die er sich vielleicht auch von dem fernsehwirksamen Auftritt zwischen 11.45 und 12.40 Uhr, der negativ auf ihn zurückschlägt, erhofft hat, kommt nicht von ungefähr. Auch das Einstellen von noch so viel Geld für Öffentlichkeitsarbeit in den Bundeshaushalt wird die negative Wirkung nicht vertuschen können. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, gestern das ZDF-Politbarometer gesehen haben — —
— Ja, ich weiß; Sie lassen zwar Umfragen machen, aber Sie lesen nur die Ihnen genehmen Umfragen. Die Ihnen nicht genehmen Umfragen nehmen Sie einfach nicht zur Kenntnis. Natürlich kann man auch so Politik betreiben. Diese Umfrage hat deutlich gezeigt, daß die Gesundheitsreformpolitik, die Sie hier ja vorhin unter sehr komischen Aspekten angesprochen haben, beim Bürger eben nicht als kostensenkend eingestuft wird. Vielmehr sind 62 % der Bürger davon überzeugt, daß sich diese Gesundheitsreformpolitik, aber auch die Steuerreform nicht positiv auswirkt.
— Herr Kollege Glos, hören Sie doch einmal zu. „Durch eure Hetze. " Es ist die legitime Aufgabe der Opposition, Fehler und negative Auswirkungen der Politik der Regierung hier und da auch überpointiert deutlich zu machen. Wenn Sie das nicht vertragen können, müssen Sie sich aus der Politik zurückziehen.Im Bundeshaushalt — gerade im Kanzleretat für das Presseamt — sind rund 223 Millionen DM für Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt. Welche Wirkung diese Öffentlichkeitsarbeit hat, kann man ja an der von mir gerade zitierten Umfrage ersehen.Der Bundeskanzler hat zwar häufig eine glückliche Hand in der Personalpolitik gehabt, aber ob er diese glückliche Hand auch in Zukunft haben wird, wird sich noch erweisen. Aber bei der Öffentlichkeitsarbeit und bei der Auswahl Ihrer Pressesprecher, Herr Bundeskanzler, waren Sie nicht immer so vorzüglich in Ihren personalpolitischen Entscheidungen.
— Der Bundeskanzler hat mehrfach den Begriff „Propaganda" benutzt, und deswegen ist es wohl nicht ehrenrührig, wenn er durch Zwischenrufe hier noch einmal aufgenommen wird.
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7456 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
JungmannMeine Damen und Herren, der erste Regierungssprecher mußte wegen erwiesener Steuerhinterziehung sein Amt verlassen, der zweite hat bei der Presse auch nicht gerade den besten Ruf. Er mußte sich durch den Beauftragten für die Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung sagen lassen, daß die jetzige Organisation des Presseamtes unbefriedigend und in den Auswirkungen uneffektiv ist. Insbesondere — so der Rechnungshof — ist die Leitungsebene kopflastig; es hat sich ein Wasserkopf an der Spitze des Presseamtes aufgebaut. Fazit: Im Presseamt gibt es viele Häuptlinge, jedoch wenige Indianer, die arbeiten.Der Haushaltsausschuß hat sich in mehreren Sitzungen mit der Effektivität des Presseamtes befaßt. Nur ist das Ergebnis, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sehr mager, eigentlich Makulatur, denn das, was Sie dort an Ergebnissen gezeigt und als Beschlüsse gefaßt haben, wird eine Umorganisation in dem Sinne, wie sie im Bundesrechnungshofgutachten angesprochen ist, nicht mit sich bringen, denn es wird nicht in dem Bereich, den Sie als sogenannte politische Leitung ansehen, gestrichen, sondern nur im Bereich unterhalb der Abteilungsleiterebene. Herr Bundeskanzler, bisher hatte es keine Bundesregierung nötig, sich drei Pressesprecher zu leisten. Sie leisten sich gleich drei, einen Chef des Presseamts und zwei Stellvertreter, die dann auch im Koalitionsproporz verteilt worden sind. Das zeigt deutlich, welche Politik im Presseamt gemacht wird.Die öffentliche Wirkung ist an einigen Broschüren abzulesen, die das Presseamt verteilt. Ich erinnere nur an die Broschüre zur Einführung der Quellensteuer, deren erste Ausfertigung wieder eingestampft werden mußte, Herr Voss. Wir haben uns im Haushaltsausschuß sehr lange darüber unterhalten, und Sie haben dann auch zugeben müssen, daß einige Formulierungen etwas ungeschickt und mißverständlich gewesen seien. Deswegen mußte diese Broschüre neu gemacht werden. Wenn man sich dann das vom Presseamt aufgekaufte Handbuch „Die Bundesregierung 1988" einmal ansieht — 128 000 DM hat die Bundesregierung dafür ausgegeben — , dann kann man dort einige Passagen lesen, wie diese Regierung oder dieser Bundeskanzler regieren. Es ist dort zu lesen, daß Helmut Schmidt die Akten früher intensiv bearbeitet hat, und Helmut Kohl studiert sie heute intensiv. Gleichzeitig kann man feststellen, daß Bundeskanzler Helmut Kohl das Telefon als Regierungsinstrument entdeckt hat. Ich weiß nicht, ob das zur Erheiterung der Bevölkerung oder zum Verkaufen von Regierungspolitik beitragen sollte. Man sollte sich vorher solche Dinge einmal durchlesen, ehe man sie überhaupt kauft, in Druck gibt und an die Bevölkerung verteilt.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß die Bundesregierung zuviel Geld für Informationspolitik ausgeben muß, weil sie eine schlechte Politik macht, und mit diesem Geld und mit den Broschüren, die mit diesem Geld gedruckt werden, kaschieren will, welche schlechten politischen Reformen Sie eigentlich begonnen haben bzw. beenden wollen. Die Gesundheitsreform habe ich angesprochen, die Steuerreform ebenfalls. Wenn Sie sich bei der Rentenreform nicht besinnen, dann wird das dort ebenso sein. Ich bin davon überzeugt, daß weniger Geld in der Öffentlichkeitsarbeit und eine bessere Politik sehr viel wirksamer wären, und deshalb glaube ich, daß hier zuviel Geld ausgegeben wird, um schlechte Politik zu kaschieren.
Der Bürger läßt sich durch diese schönen, bunten Broschüren nicht von den eigentlich wichtigen Inhalten der Politik ablenken. Wie Sie schon richtig gesagt haben, ist 1990 Wahltag, aber zwischendurch, Herr Bundeskanzler, gibt es noch einige Landtags- und Kommunalwahlen in diesem Lande, und da können die Bürger ebenfalls ihre Meinung über diese Bundesregierung zum Ausdruck bringen.Lassen Sie mich zum Schluß noch etwas zu den Feierlichkeiten oder Gedenktagen, die im nächsten Jahr anstehen, sagen. Wenn wir die Auseinandersetzungen, wie sie gerade heute hier durch Sie, Herr Bundeskanzler, auch in Ihrer Rede geführt worden sind, im nächsten Jahr auch so weiterführen, wird das sicherlich nicht dazu führen, daß die Bürger dieser Republik in Scharen ihre Begeisterung zum Ausdruck bringen werden, indem sie an diesen Feierlichkeiten teilnehmen. Ich hoffe nur, daß die 28,9 Millionen DM — das ist eine Menge Geld: 28,9 Millionen DM, Herr Waffenschmidt — für Feierlichkeiten zum 40jährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland — Graf Lambsdorff hat hier auch schon einige kritische Anmerkungen gemacht — nicht dazu benutzt werden, die schlechte Politik der letzten drei Jahre zu kaschieren,
damit Sie 1990 mit einem Jubiläumsansatz in das Wahljahr gehen und sagen können: Friede, Freude, Eierkuchen, in dieser Republik ist alles in Ordnung.
— Es gehört auch dazu, Herr Bohl, daß man solche Zwischenbemerkungen, wie Sie sie immer machen, einmal unterläßt und zuhört. Ich spreche zum Einzelplan 04, und dazu gehört auch das Presseamt.Im wesentlichen ist zwar Herr Waffenschmidt dafür verantwortlich, aber dem Presseamt steht auch eine Menge Geld im Haushaltsansatz zur Verfügung. Deshalb spreche ich in diesem Zusammenhang darüber.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Lesen Sie das Buch von Ralph Giordano „Die zweite Schuld oder Die Last Deutscher zu sein". Veranstalten Sie nicht nur Jubelfeiern, sondern erinnern Sie sich auch daran, daß am 1. September 1939, also im nächsten Jahr vor 50 Jahren, der Einmarsch in Polen stattfand. Machen Sie auch dazu eine ordentliche Veranstaltung, damit die Bundesrepublik Deutschland auch nach außen hin bestehen kann.Schönen Dank.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7457
Meine Damen und Herren, wir treten nunmehr in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Beratung des Einzelplans 04 fortgesetzt. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Mittagspause.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt. Meine Damen und Herren, wir setzen die Beratung über den Einzelplan 04 fort.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Geißler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat in seiner Rede heute vormittag davon gesprochen, es gehe in einer Gesamtbilanz um die Bewertung der politischen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland. Darum geht es in der Tat bei einer Haushaltsdebatte, bei einer Debatte um den Etat des Bundeskanzlers. Es ist jedoch bemerkenswert gewesen, daß er im letzten Teil seiner Rede, als er auf die politischen Parteien zu sprechen kam und insbesondere Stellung bezogen hat — was sein gutes Recht ist — zur Christlich-Demokratischen Union, zur größten Regierungspartei, eine bestimmte Strategie verfolgt hat, eine Strategie, die zwar leicht durchschaubar war, die man aber, glaube ich, klarlegen muß. Denn der Kernpunkt dieser Ausführungen bestand darin, daß er eine Parallele herstellen wollte zwischen dem, was vor über einem Jahr in Kiel passiert ist, und in Hannover.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will dazu etwas sagen. Worin besteht nun eigentlich der Unterschied zwischen dem, was in Schleswig-Holstein passiert ist, und dem, was in Niedersachsen ist? — In Schleswig-Holstein hat ein Ministerpräsident, Mitglied der Christlich-Demokratischen Union, nicht der SPD, sondern der CDU, schwer gefehlt, was uns alle bedrückt und worunter meine Partei heute noch leidet. In Niedersachsen aber steht doch heute schon fest, daß alle Beschuldigungen gegen den Ministerpräsidenten Albrecht, der im Gegensatz zu den SPD-Genossen in Niedersachsen von Anfang an gegen die Spielbankkonzessionen gewesen war, zusammengebrochen sind.
Ich zitiere aus der „Zeit". In der „Zéit" vom 26. August 1988 wird gesagt: „Der Zeuge von Rath konnte seine Vorwürfe nicht untermauern. " Es wird weiter gesagt, daß die CDU von den Spielbanken nicht profitiert habe. Die Landeszeitungen in Niedersachsen, die „Cellesche Zeitung" und andere, sagen: Ministerpräsident Ernst Albrecht geht als eindeutiger Sieger aus dem dreitägigen Ringen um die Wahrheit in der Kasinoaffäre hervor. Dies ist die objektive Situation.
Das heißt, in Niedersachsen gibt es keine AlbrechtAffäre, und jeder Vergleich mit Kiel verbietet sich.
Es ist etwas ganz anderes im Gange. Die Sozialdemokraten wollen Barschel und Kiel zu einem flächendekkenden Modell der Diffamierung der Christlich-Demokratischen Union in Deutschland machen.
Das ist der Punkt. Darin liegt die Strategie. Weil ein CDU-Ministerpräsident in Schleswig-Holstein schlimme Geschichten gemacht hat und Ernst Albrecht ein CDU-Ministerpräsident ist, muß auch er schlimme Geschichten gemacht haben. Das ist ungefähr dieselbe Logik, als wenn man sagt: Eine Lokomotive pfeift, Hans-Jochen Vogel pfeift,
Hans-Jochen Vogel ist also eine Lokomotive.
Das ist ungefähr dieselbe Pseudologik, die schon die Sophisten angewandt haben, um eine üble und falsche Strategie zu entlarven.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Graf Lambsdorff.
Herr Kollege Geißler, warum denken Sie eigentlich, wenn jemand pfeift, zuerst an Lokomotive und nicht an Pfeife?
Das kann ich Ihnen genau sagen, weil das Bild einer Lokomotive zum SPD-Parteivorsitzenden paßt und weil eine Lokomotive auch eine Pfeife hat.
Was dahintersteckt, ist etwas ganz anderes! Wir erleben jetzt eine neue Form
des politischen Kampfjournalismus, ich will hinzufügen: eine bestimmte Form des Kampfjournalismus, der nicht mehr mit Behauptungen arbeitet,
denn diese Behauptungen könnten ja vor Gericht belangt werden, sondern eine nicht bewiesene Behauptung wird in Frageform gekleidet. Das haben wir bei dem gefälschten Brief von Uwe Barschel in „Pan-
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Dr. Geißlerorama" erlebt, wo der Inhalt dieses gefälschten Briefes der Öffentlichkeit bekanntgegeben und dann der scheinheilige Satz nachgeschoben wurde: Wir wissen nicht, ob dieser Brief gefälscht ist oder nicht, aber wir hoffen im Interesse der Demokratie, daß die Christlich-Demokratische Union möglichst bald herausfindet, ob er gefälscht ist oder nicht. Nach dieser Methode sind „Spiegel" und „stern" in Niedersachsen vorgegangen. Der Angeschuldigte soll sich rechtfertigen, ihm wird die Beweislast übertragen. Das heißt, es wird genau das getan, was in einem Rechtsstaat und in einer vernünftigen Presseauseinandersetzung nicht passieren sollte.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie von der Sozialdemokratischen Partei sollten kein Interesse daran haben, daß diese Form des Kampfjournalismus weiter Schule macht. Es müßte im Interesse aller Demokraten sein, daß man nicht unter Umgehung der presserechtlichen und bürgerlichen Rechtsordnung den Versuch unternimmt, die Beweislast umzudrehen und diejenigen, die angeschuldigt werden, durch eine falsche Fragestellung in ein schlechtes Licht zu rükken nach der Methode: Wo Rauch ist, ist auch Feuer, und irgendwie wird schon etwas Dreck am Stecken bleiben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich mache nur auf diesen Punkt aufmerksam, egal — —
Herr Abgeordneter Geißler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Penner?
Ja, wenn mir das nicht von der Redezeit abgezogen wird.
Es wird nicht.
Herr Kollege Geißler, ich habe nur eine Frage. Ist denn Herr Minister Hasselmann grundlos zurückgetreten?
Ich will Ihnen dazu folgendes sagen: Hans-Jochen Vogel hat ja Ernst Albrecht angegriffen. Hasselmann ist zurückgetreten, weil er ungefragt — das ist der Grund — in einem Untersuchungsausschuß eine Aussage gemacht hat, die nicht richtig gewesen ist. Wenn Hasselmann wegen einer solchen Aussage zurückgetreten ist, dann frage ich Sie, warum Herr Schnoor heute noch im Amt ist.
Ich komme auf den Kampfjournalismus zurück und frage mich — und das ist viel interessanter — : Was macht die Sozialdemokratische Partei, egal, ob nun die SPD hinter dem steckt, was „Spiegel" und „stern" da inszeniert haben, oder ob sie sich dahinter versteckt? Auf jeden Fall profitieren die Sozialdemokraten von dieser Form des Journalismus. Ich habe eine einfache Frage: Was wäre Schröder in Niedersachsen ohne „stern" und „Spiegel'? Er wäre eine politische Null.
Nichts wäre landespolitisch von der SPD in Gang gekommen!Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute morgen gab es eine heftige Auseinandersetzung aus Anlaß der Gesundheitsreform. Es gab wegen der Gesundheitsreform und den Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit hier in diesem Saal eine Diskussion. Nun will ich dazu folgendes sagen: Ich war von 1967 bis 1977 Gesundheitsminister in Rheinland-Pfalz. Ich habe bereits im Jahre 1973 eine Expertise über die Kostenexplosion im Gesundheitswesen — das werden einige noch wissen — veröffentlicht und habe damals darauf hingewiesen, 1972 oder 1973 gaben die gesetzlichen Krankenversicherungen der Bundesrepublik Deutschland 12 oder 13 Milliarden DM aus. Ich habe gesagt, wenn es in der Extrapolation so weitergeht, dann landen wir in 12 oder 15 Jahren bei 130 Milliarden DM. Genauso ist es eingetroffen.Jetzt frage ich die sozialdemokratische Partei — die Entwicklung im Gesundheitswesen war vorhersehbar, alle haben darauf hingewiesen, daß es so nicht weitergehen kann — : Was haben Sie eigentlich bis 1982 unternommen, um diese Kostenexplosion einzudämmen? Sie haben nichts getan, überhaupt nichts getan. Die jetzige Bundesregierung hat dieses Problem aufgegriffen, Herr Ehmke, und geht an die Reform des Gesundheitswesens heran.Jetzt lese ich in SPD-Flugblättern — das muß man einfach zur Kenntnis nehmen — :
„Ab 1. Januar 1989 dürfen Sie nicht mehr krank werden. Bisher waren Sie gesetzlich versichert." Damit wird den Leuten doch insinuiert, in der Zukunft seien sie nicht mehr versichert.
— Das ist doch ein SPD-Flugblatt.
Was Sie hier machen, ist ein Spiel mit den Urängsten des Menschen, ein politisches Spiel mit der Angst der Menschen vor Krankheit und Tod.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bundeskanzler hat dies mit einem Ausdruck bezeichnet, den er zurückgenommen hat. Jetzt will ich aber fragen — der Herr Vogel ist ja nicht da; dann wende ich mich an ihn in seiner Abwesenheit — : Was ist eigentlich mit Herrn Vogel los? Die CDU-Fraktion in NordrheinWestfalen fordert den Rücktritt des besagten Innenministers Schnoor. Dafür gibt es gewichtige Gründe, das
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7459
Dr. Geißlerist das selbstverständliche Recht einer parlamentarischen Opposition.Aber vor zwei Tagen lese ich, daß der SPD-Chef Hans-Jochen Vogel aus seiner Sicht unterstrich, die Amtsführung Schnoors könne aus Bonner Sicht nicht im geringsten in Zweifel gezogen werden.
Das ist ja sein gutes Recht. Jetzt geht es aber weiter: Unerträglich sei deshalb „die heuchlerische Hetze" aus den Reihen der Union, die aus der Geiselsituation nachträglich in „Roßtäuschermanier" — laut dpa — politisches Kapital schlagen wolle.
Wie glaubwürdig und wie ernst zu nehmen ist eigentlich die moralische Empörung des Fraktionsvorsitzenden und der gesamten SPD gegenüber dem Bundeskanzler,
der seinen Ausdruck wieder zurückgenommen hat? Ich will gar nicht die Frage stellen, was Herr Vogel jetzt mit dem tut, was er selber gesagt hat. Ich möchte etwas ganz anderes feststellen.Sie sprechen — Herr Vogel hat es in seiner Rede getan — von der Gefährdung der „moralischen Substanz der repräsentativen Demokratie" im Hinblick auf die Christlich-Demokratische Union und reden von der Verletzung der „primitivsten Regeln des Anstandes". Herr Vogel ist der Vorsitzende einer Partei, die — jetzt wollen wir das einmal klarstellen — gezeichnet ist vom HELABA-Skandal, Steglitzer Kreisel, Hafenstraße, Neue Heimat, Aachener Klinikum; in Bremen haben wir Genossenfilz. Da wird über Korruption im Landtag diskutiert; das weiß jedermann. Herr Vogel empört sich über den Bundeskanzler, und es ist keine zwei Tage her, da redet er von „heuchlerischer Hetze". Der Vorsitzende einer solchen SPD führt sich als moralischer Apostel auf. Da kann man den Kommissar Schimanski gleich zum Direktor einer Mädchenschule machen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt ein einfaches Sprichwort: Lügen haben kurze Beine. Die Sozialdemokratische Partei muß aufpassen und insbesondere Herr Vogel muß aufpassen, daß seine Argumentation bei dem, was er hier sagt, wahr bleibt, sonst wird sich nämlich der Volksmund eines Tages seiner bemächtigen, und dann wird es heißen: Lügen haben kurze Beine, kürzer sind dem Vogel seine.
Ich bin sehr dafür, daß wir so klar und deutlich reden. Es wird immer davon gesprochen, die Politiker sollten nicht so viele Sprechblasen absetzen und nicht wie die Bürokraten reden. Ich rede einmal so, daß es die Leuteverstehen. Also: Lügen haben kurze Beine, kürzer sind dem Vogel seine.
Für den Volksmund überall zu verwenden, was diese Frage anbelangt.
Nun spricht er in seiner Rede auch von der geistigmoralischen Erneuerung und stellt die Frage, wo denn die geistig-moralische Erneuerung geblieben sei, seit diese Bundesregierung, der Bundeskanzler zusammen mit den Freien Demokraten die Regierungsverantwortung 1982 übernommen hat. Da zitiert er irgendwelche Leute, ohne da groß Namen zu nennen,
die von programmatischer Ermüdung sprechen. Ich möchte einmal auf folgendes hinweisen. Seit die Christlich-Demokratische Union an der Regierung ist, zusammen mit den Freien Demokraten, ist das Bündnis — geistig-moralische Erneuerung! — wieder gefestigt, die Freiheit ist gesichert, die Abrüstung ist in Gang gebracht worden. Wir haben einen europäischen Durchbruch erzielt, der Bundeskanzler während seiner Präsidentschaft an vorderster Stelle. Vier Millionen Deutsche aus dem einen Teil Deutschlands haben den anderen Teil Deutschlands besuchen können. Wir haben den Zivildienst neu geordnet. Ich nenne weiterhin: Schutz der ungeborenen Kinder, eine neue Konzeption in der Familienpolitik, Anerkennung der neuen Arbeit — Pflegearbeit, Erziehungsarbeit, Familienarbeit — in der Rentenversicherung, Beantwortung der neuen sozialen Frage. Wir gehen an die Lösung eines neuen Problems heran, nämlich an das Problem der Pflegebedürftigkeit. Wir packen die Gesundheitsreform an, die Rentenreform, die Medienreform; wir haben die Steuerreform gemacht. Wir kümmern uns um neue Technologien. Wir gehen an den Umbau des Sozialstaates heran. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist geistig-moralische Erneuerung und programmatische Innovation durch die positive Arbeit und die positiven Ergebnisse des Bundeskanzlers und seiner Regierung und nicht durch fromme Sprüche in Akademien oder sonstwo.
Man muß sich die Frage stellen: Wo bleibt hier die Sozialdemokratische Partei? Ich habe eher den Eindruck, daß sie programmatisch und auch, was die Innovation anbelangt, vor sich hindümpelt. Zu den Punkten, die ich gerade genannt habe, hat die Sozialdemokratische Partei im wesentlichen nur nein gesagt und hat auch gar keine Alternativen entwickelt. Aussteigen, Verweigern und Technikfeindlichkeit, das sind die großen Irrtümer der Sozialdemokraten und auch, so muß ich sagen, der GRÜNEN und von Teilen des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Bei der SPD herrscht geistiger Ladenschluß.
Soll ich einmal zitieren, was Professor Kaiser, Mitgliedder Sozialdemokratischen Partei, zu Ihrer Technolo-
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Dr. Geißlergiepolitik gesagt hat? Ich will hier lieber nicht wiedergeben, was er an sehr klaren Äußerungen über Ihre Innovationskraft gesagt hat. Ich habe ja auf dem letzten Bundesparteitag im Hinblick auf dieses Zitat und das Nein der Sozialdemokratischen Partei zu allen neuen technologischen Entwicklungen, die wir in Gang gesetzt haben, gesagt: Wenn der alte Kaiser Wilhelm I. noch leben würde, dann wäre er der technologiepolitische Sprecher der Sozialdemokratischen Partei.
Denn zu seiner Zeit wurde das Automobil erfunden, und dann hat er gesagt: In fünf Jahren ist der Spuk vorbei. Ich setze aufs Pferd. —
Das fällt mir ein, wenn ich mir die Technologiepolitik der SPD betrachte.Ich habe nicht nur von der SPD, sondern auch aus der Bevölkerung wütende Protestbriefe und Anrufe erhalten. Die Leute haben sich beschwert. Sie haben sich aber über etwas ganz anderes beschwert. Sie haben nämlich geglaubt, ich hätte den Kaiser Wilhelm bei dem Vergleich mit der Sozialdemokratischen Partei verunglimpft.
Auch damit haben die Leute vielleicht recht.Ich möchte folgendes feststellen: Meine sehr verehrten Damen und Herren, wollte die Sozialdemokratische Partei in ihrem jetzigen Zustand auch nur eines dieser Reformwerke in Angriff nehmen — das ist ja die jetzige Situation —, dann würde sie drei Jahre lang innerparteilich darüber streiten, eine Kommission unter Vogel einsetzen, dann eine Oberkommission unter Lafontaine — auch das ist klar —, um anschließend auf dem Parteitag die Sache wieder zu vertagen, weil sie nicht die politische Kraft besitzt, auf die konkreten Herausforderungen dieses Landes und der Zukunft eine Antwort zu geben.
Das ist der Zustand der Sozialdemokratischen Partei.
Immer dann, wenn es schwierig wird und wenn es auch darum geht, den Bürgern Opfer abzuverlangen — wenn wir solche Reformwerke in Angriff nehmen, dann geht dies eben nur, wenn alle Einschränkungen hinnehmen —,
dann setzt sich bei den Sozialdemokraten der Widerstand starker Interessengruppen durch, und dann knickt sie ein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht nicht um Problemverwaltung wie in Nordrhein-Westfalen, sondern es geht um Problemlösung für die Bundesrepublik Deutschland. Klar ist auch, daß wir es in dieser Zeit des Umbruchs von einer Produktionsgesellschaft zu einer Wissens- und Informationsgesellschaft — das ist schon oft gesagt worden — , in der wir uns befinden, natürlich mit schwierigen Problemen zu tun haben, und daß falsche Propheten aufstehen.Die zukünftige Entwicklung ist durch die modernen Technologien gekennzeichnet. Den Menschen erscheint es so, daß sich die Zeitabläufe schneller vollziehen, als es früher der Fall war. Es gibt eine rasante technische Entwicklung. Dadurch rückt die Zukunft näher. Es hat jemand davon gesprochen, die Zukunft sei weniger prognostizierbar; das ist richtig. Dadurch tut sich die Zukunft auch als Raum der Einbildungen und als ein Raum der Bildung von Ängsten auf.Ich finde, wir sollten nicht dazu beitragen, diese Ängste zu schüren, gerade dann nicht, wenn es darum geht, große Probleme zu lösen. So muß z. B. das Problem der Gesundheitsreform gelöst werden. Es geht uns nicht um die Beseitigung des freiheitlichen Gesundheitswesens, sondern wir wollen es erhalten. Man kann es aber nur erhalten, wenn es finanzierbar bleibt.Ich halte es für unverantwortlich, den Menschen Angst zu machen. Wir glauben als christliche Demokraten an die moralische und geistige Kraft des Menschen, mit den Problemen der Gegenwart und der Zukunft fertig zu werden, genauso wie dies nach dem Krieg der Fall gewesen ist. Nach dem Krieg waren große Probleme vorhanden. Wir haben sie lösen können, weil wir nicht dem Protest und der Angst anheim-gefallen sind, sondern weil wir diesen Glauben an die geistige und moralische Kraft des Menschen bewahrt haben, und zwar in einem, wie ich meine, gesunden und richtigen anthropologischen Optimismus.Die ganze technische Entwicklung, die vielen Menschen Angst macht, ist im Grunde genommen nie anders zu beurteilen, als dies auch bisher der Fall war. Wir beten die technische Entwicklung und den wirtschaftlichen Fortschritt nicht an, aber wir dämonisieren ihn auch nicht. Wir wollen die Chancen des technischen Fortschritts für unser Volk nutzen, aber gleichzeitig seine Risiken begrenzen. Unsere Zukunft wird davon abhängen, ob wir in der Lage sind, auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten technologische Spitzenprodukte auf dem Weltmarkt abzusetzen. Wir müssen erstklassig bleiben; wir dürfen nicht zweitklassig werden. Dafür eignet sich eben nicht eine Konzeption des Aussteigens und der Technikfeindlichkeit, wie sie von den Sozialdemokraten und von den GRÜNEN propagiert wird.
Es ist klar, daß eine solche Politik auf Schwierigkeiten stößt. Wir befinden uns mitten in der Legislaturperiode. Diese Reformen verlangen von vielen Menschen Anstrengungen, zum Teil auch Einschränkungen. Deswegen haben wir auch in der Christlich-Demokratischen Union in der Diskussion, in der Auseinandersetzung an der Basis und in den Gesprächen mit den Menschen unsere Probleme; das wollen wir ganz offen zugeben.
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Dr. GeißlerAber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind ja an der Regierung, um die Dinge zu gestalten und um die Reformen durchzuführen, die ja längst hätten angepackt werden können. Es ist offenbar unser Schicksal, daß wir den Karren aus dem Dreck ziehen müssen, den andere in den Dreck hineingefahren haben,
und daß wir Probleme zu lösen haben, die, wenn sie früher angepackt worden wären, heute wesentlich geringere Opfer und Anstrengungen fordern würden.In der führenden Wochenzeitung „Die Zeit" vom 4. November 1988 ist im übrigen kürzlich folgendes festgestellt worden:In den meisten Legislaturperioden haben Regierungen zur Halbzeit Schwierigkeiten; die Wahlforschung nennt das den „Midterm-Effekt".— Halbzeiteffekt, auf deutsch gesagt.
Als Sie an der Regierung waren, ist das nicht anders gewesen. —In den Bundestagswahlen gelingt es den Regierungsparteien in der Regel, ihre Anhänger ... zu motivieren und zu mobilisieren, .. .
Sie können sich zur Zeit an den demoskopischen Ergebnissen erfreuen. Das können Sie gerne tun. Aber die Demokratie ist Gott sei Dank keine Demoskopie. Umfrageergebnisse sind keine Wahlergebnisse. Merken Sie sich das eine: Die Union wird in beiden Halbzeiten spielen.Wahlen haben wir in zwei Jahren. Dann erst, am Ende einer Legislaturperiode, wird Bilanz gezogen. Dann werden die Wählerinnen und Wähler feststellen, daß diese Regierung, daß dieser Bundeskanzler, um dessen Etat es heute geht, die Probleme nicht haben liegen lassen — wie Sie das gemacht haben —, sondern daß der Bundeskanzler die Probleme angepackt hat und daß wir den Mut gehabt haben, unpopuläre Entscheidungen durchzusetzen, weil sie für das Allgemeinwohl notwendig gewesen sind.
Das ist unsere Konzeption.Das eine ist auch klar: Die Gestaltung dieses wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Wandels, der weit über diese Legislaturperiode hinausreicht, wird der Wähler — davon bin ich überzeugt — wieder der Union anvertrauen, weil wir als große Volkspartei in der Lage sind, die damit verbundenen Spannungen auch auszuhalten, die damit verbundenen schweren Konflikte zu überwinden und sie auch auszusöhnen.Dazu ist nur eine Volkspartei in der Lage und eben nicht eine Klassenpartei. Das wird das große Thema sein.
— Ja, Sie sind eben eine Klassenpartei geblieben. Es gab ja einen, der einmal ausbrechen wollte. Aber der ist inzwischen „steingekühlt" wieder auf Null gebracht und befindet sich in der Vorbeugehaft der IG Metall. Sie haben das ja auf Ihrem letzten Parteitag erlebt.Das wird das große Thema sein: Was wird sich bei der Lösung der großen Probleme der Zukunft durchsetzen: das Allgemeinwohl oder der Lobbyismus, der Bürgersinn oder die Einzelinteressen? Ich möchte Ihnen versichern: Die Christlich Demokratische Union und dieser Bundeskanzler werden an der Seite des Allgemeinwohls und des Bürgersinnes stehen, weil wir nur so eine gute Zukunft für unser Volk und unser Land sicherstellen können.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben mit Interesse festgestellt, wie Herr Geißler als erster Redner der CDU nach dem Ausbruch des Bundeskanzlers von heute morgen reagiert hat.
Diese Rede jetzt war Zeugnis dafür, in welchem Zustand sich die CDU befindet und warum das so ist.
Im übrigen denke ich, daß die Bürger und Bürgerinnen, die einer solchen Debatte zuhören, über diese Art des Stils erschrecken. Deshalb werde ich mich an einem solchen Stil und an einer solchen Art der Auseinandersetzung nicht beteiligen.
Ich möchte deshalb zur Sache sprechen,
und zwar zu einer Sache, die in den nächsten Wochen ansteht, die dramatische Auswirkungen für alle Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik haben kann und die heute morgen mehrfach angesprochen worden ist. Es geht um die Frage der Auswirkungen des europäischen Binnenmarktes bis 1992 und nach 1992.Wir wissen, daß am 2. und 3. Dezember 1988 das Gipfeltreffen der EG-Regierungschefs unter griechischer Ratspräsidentschaft stattfindet. Ich finde es eigentlich unerträglich, daß vor diesem Hintergrund in der Debatte, die wir führen, bisher die Frage überhaupt keine Erwähnung gefunden hat, welche Perspektiven dort eigentlich angesprochen werden, worum es geht, und das, nachdem auf dem Gipfeltreffen in Hannover im Juni dieses Jahres von sehr vielen das Wort von der sozialen Dimension der Europäischen Gemeinschaft im Munde geführt worden ist.Ich will rückfragen: Was ist eigentlich aus diesen Versprechungen geworden? Auf unser Drängen hin hat die Bundesregierung damals diesen Aspekt der sozialen Dimension auf dem europäischen Gipfel in
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7462 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Frau Wieczorek-ZeulHannover angesprochen. Was ist denn eigentlich praktisch aus diesen Versprechungen geworden, und mit welchem Ziel soll denn auf dem europäischen Gipfel verhandelt werden? Die soziale Dimension, die Umweltdimension stehen als wichtige Tagesordnungspunkte an.
Was hat denn z. B. diese Bundesregierung praktisch getan, um dafür zu sorgen, daß es eine abgestimmte Aktion der EG-Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit gibt?
Was hat die jetzige Bundesregierung, was hat der Bundeskanzler dafür getan, daß die Menschen in der Bundesrepublik wissen, welches denn die wirklichen Auswirkungen des EG-Binnenmarktes auf die Branchen der Wirtschaft und auf die einzelnen Regionen in diesem Land sein werden?
Was tun Sie, Herr Bundeskanzler, um dafür zu sorgen, daß es neben dem EG-Weißbuch zum Binnenmarkt endlich auch ein Weißbuch zu der Frage gibt, wie sich die Sozialpolitik, wie sich die sozialen Rechte der Menschen parallel zum EG-Binnenmarkt entwikkeln sollen?
Einladungen zur nationalen Binnenmarktkonferenz von Ihnen, Herr Bundeskanzler, an die Adresse von Gewerkschaften oder auch der Arbeitgeberseite können kein Ersatz für die Entwicklung einer europäischen Sozialpolitik sein.
Abgesehen davon wüßte meine Fraktion sehr gern: Was soll denn eigentlich das Ziel einer solchen nationalen Binnenmarktkonferenz sein? Ist hier ein folgenloses Medienspektakel geplant, Öffentlichkeitsarbeit zum Nutzen der die Bundesregierung tragenden Parteien im Vorfeld der Europawahl? Geht es damm, innenpolitische Meinungsverschiedenheiten in der Wirtschafts-, in der Innen- und in der Sozialpolitik durch scheinbar harmonische Europaerklärungen zu überdecken? Dann wäre eine solche Konferenz überflüssig.Sinn macht eine solche Konferenz nur, wenn sie das Resultat hat, daß es verbindliche Verpflichtungen für die Arbeitgeberseite und für die Bundesregierung zur Sicherung der Mitbestimmung in der Europäischen Gemeinschaft, zu einer EG-Sozialcharta und zu einem abgestimmten Vorgehen gibt, die Arbeitslosigkeit in der Europäischen Gemeinschaft zu bekämpfen.Aber — und das ist unsere Sorge — : Eine Bundesregierung — und das beschäftigt uns ja in dieser Woche — , die ein derartig unsoziales Gesundheitsgesetz durchpauken will
und die Rentenpläne vorlegt, daß Menschen längerarbeiten sollen, ist wahrscheinlich ungeeignet, um inder Europäischen Gemeinschaft eine abgestimmteAktion zur Arbeitszeitverkürzung zu fördern bzw. eine EG-Sozialcharta zu verwirklichen.Ich habe vorhin nach den regionalen und sozialen Auswirkungen des EG-Binnenmarktes gefragt. Es gibt bisher überhaupt keine Information in dieser Frage. Wenn Sie sich einmal ansehen, welche Antwort die Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zu den Auswirkungen des Binnenmarktes gegeben hat, dann wird sehr deutlich, was eigentlich zu den beschäftigungspolitischen Wirkungen des EG-Binnenmarktes zu sagen ist.Da wird argumentiert, er hätte massive beschäftigungspolitische Wirkungen; Herr Kollege Lambsdorff und andere haben das heute morgen auch angesprochen. Aber diese Argumentation — genau wie das Dokument, auf das sich diese Argumentation bezieht, der sogenannten Cecchini-Bericht — hat eben massive Schwachstellen, und mit denen muß man sich beschäftigen. Denn all das, was dort zu den Beschäftigungswirkungen des Binnenmarktes gesagt wird, basiert auf Schätzungen aus den vier größten Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und den drei Beneluxstaaten; es sind Einschätzungen der Unternehmen selbst. Sie sagen überhaupt nichts zu der Frage, wo denn die Arbeitsplätze entstehen, in welchen Branchen, in welchen Regionen, oder welche Lasten und Vorteile einzelne Mitgliedstaaten zu tragen haben.Wer sagt denn im übrigen, daß das, was an neuem ökonomischen Handlungsspielraum geschaffen wird, sich automatisch in Beschäftigungspolitik umsetzt? Mitnichten!
In jedem Fall sagt auch die Antwort der Bundesregierung, daß in der Anfangsphase des Binnenmarkts eine beträchtliche Zahl von Arbeitsplätzen verlorengehen kann.Die Bundesregierung erwähnt aber an keiner Stelle, welches die Ersatzarbeitsplätze sein sollen, welche Qualifikationen dafür notwendig sein werden. Jeder weiß, daß wir eine revolutionäre Veränderung und Umwälzung in unserer Gesellschaft durch die Auswirkungen des Binnenmarkts erleben werden. Das hat auch Herr Dregger in seiner Rede heute angesprochen, ohne daß wir von seiten der Bundesregierung, des Bundeskanzlers irgendwelche Planungen haben, wie ein solcher Prozeß zu gestalten sei.Deshalb ist das erste, was man von dieser Bundesregierung, von diesem Bundeskanzler verlangen muß, daß ein Weißbuch dieser Bundesregierung vorgelegt wird, in dem offengelegt wird: Welches sind die Konsequenzen des Binnenmarkts für Arbeitsplätze? Welche Wirtschaftsstruktur wird betroffen? Wie wirkt sich der Binnenmarkt für die einzelnen Mitgliedsländer und für die Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland aus? Das wollen wir schwarz auf weiß wissen, damit nicht immer nur Behauptungen aufgestellt werden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7463
Frau Wieczorek-Zeul— Ja, es ist eben so: Ich merke, daß die Kollegen der CDU eher darauf eingestellt sind,
sich den aktuellen Problemen durch Bewunderung entsprechender Reden zu entziehen. Das hilft auf Dauer nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie müssen auf den Boden der Tatsachen zurückkommen.
Ich weiß, Herr Repnik, Sie kommen ja meist darauf zurück. Das gilt aber nicht für alle.
— Ja, natürlich. Die hat er in manchen Punkten auch verdient.
— Das werde ich Ihnen bei Gelegenheit erzählen.Auf jeden Fall sagt auch der Cecchini-Bericht, daß es eine zusätzliche, ergänzende nationale Beschäftigungspolitik geben muß. Auch in dieser Frage ist absolute Ebbe. Warum eigentlich erklärt die Bundesregierung nicht, daß sie zu dem Gipfel der europäischen Ratspräsidentschaft mit einem Programm für Arbeit und Umwelt geht, mit einem Programm zur Sanierung der Nordsee und des Mittelmeers und der europäischen Flüsse? Das wäre ein Programm, das Arbeit und Umwelt gemeinsam anpackt und eine Motivation auch für europäische Bürger und Bürgerinnen bringt.
Warum geht sie in diesen Gipfel nicht mit einem abgestimmten Vorschlag zum ökologischen Umbau der Industrie, damit die Aufheizung der Erdatmosphäre vermieden werden kann? Warum werden solche Vorschläge nicht gemacht? Es ist absolute Funkstille im Vorfeld dieses Gipfels.Mein Verdacht ist — das ist heute in der Debatte wieder deutlich geworden, und wir haben es ja auch die ganzen Monate über erlebt — , daß, statt sich Gedanken zu machen, wie ein soziales Europa aussehen soll, eine Reihe von Vertretern der Regierungsparteien den EG-Binnenmarkt heimlich doch als ein Eldorado für Angebotspolitik betrachtet und die Straße zu offenen Wirtschaftsgrenzen am liebsten als Schleichweg für unsoziale Politik nutzen möchten.
— Sie werden das schon an den konkreten Punkten sehen.Ich erinnere an zwei Bemerkungen. Heute hat der Kanzler die Äußerungen bei der 125-Jahr-Feier der Farbwerke Hoechst zum Teil korrigiert, zum Teil wieder aufgenommen, wir müßten bei den sozialen Standards in der Bundesrepublik heruntergehen, weil wir sie in der Europäischen Gemeinschaft nicht aufrechterhalten könnten. Diese Äußerungen laufen in eine solche Richtung. Es gibt Äußerungen von Herrn Lambsdorff in die gleiche Richtung. Dahinter stand und steht das Scheinargument des angeblichen Standortnachteils der Bundesrepublik Deutschland wegen angeblich zu hoher Lohnkosten und sozialer Leistungen. Es ist zum Teil korrigiert worden; ich habe es gesagt. Aber unterschwellig hat es auch der Kanzler wieder eingeführt. Er hat nämlich gesagt, wir müßten z. B. wegen dieser EG-Beziehung und der entsprechenden Wettbewerbssituation mehr Beweglichkeit und Flexibilisierung in bezug auf die Arbeitsorganisation haben.
— Ja, liebe Kollegen, wir werden diesen Punkt schon anpacken.
Die Realität sieht aber völlig anders aus. Die Bundesrepublik Deutschland hat in diesem Jahr einen Außenhandelsüberschuß von an die 70 Milliarden DM.
Das wird nach Vollendung des Binnenmarktes vermutlich noch mehr werden. Wer dann noch sagt, der Bundesrepublik Deutschland fehle es an Wettbewerbsfähigkeit wegen hoher Kosten oder wegen der Arbeitsorganisation, der redet wohl an der Realität vorbei. Das ist wohl absurd. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Errungenschaften
des Sozialstaates und die Qualität und Qualifikation der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in der Bundesrepublik sind unser Wettbewerbsvorteil, den wir entwickeln müssen,
statt umgekehrt eine Spirale abwärts zu beginnen, bei der die Konsequenz nur sein kann, daß auch andere Länder in ihren sozialen Standards gedrückt werden.Wir sagen an die Adresse derjenigen, die das vorhaben: Wer den Sozialstaat in der Bundesrepublik über den EG-Binnenmarkt aushebeln will, der setzt das gesamte politische Projekt der Europäischen Politischen Union und auch des Binnenmarkts aufs Spiel. Allein wird es den Binnenmarkt nicht geben. Er muß mit den Elementen verbunden sein, die ich hier genannt habe.
Wir werden auch nicht akzeptieren, daß sozusagen durch die Hintertür erworbene Rechte von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen ausgehebelt werden. Im übrigen — das sei noch einmal an die Adresse der CDU und FDP gesagt; diejenigen von Ihnen, die Europapolitiker sind, werden mir recht geben, wenn sie sich das eingestehen — : Wer so argumentiert, der trägt dazu bei, daß Europafeindlichkeit in der Bevöl-
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7464 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Frau Wieczorek-Zeulkerung der Bundesrepublik Deutschland entwickelt wird, der handelt antieuropäisch.
Deshalb nutzen die besten europäischen Worte überhaupt nichts, wenn man eine solche Praxis betreibt.
Es gibt keinen EG-Zwang, Elemente des Sozialstaats abzubauen oder soziale Standards bei uns zu senken. Es gibt nur konservative Politiker und Unternehmer,
die den EG-Binnenmarkt zum Vorwand für das Ziel nehmen, das sie schon immer vor Augen hatten, nämlich die Entrechtlichung von Arbeitsbeziehungen. Darum geht es für viele.
Das versuchen sie auf diesem Wege.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie ist eigentlich Ihre Position? Das wird auf dem Gipfel doch verhandelt. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Vieles, was wir hier im Streit behandeln, ist klein im Vergleich zu dem, worum es bei diesen Perspektiven geht. Schieben Sie es deshalb nicht einfach zur Seite und sagen Sie nicht: Das interessiert uns nicht! — Sonst werden Sie sich in fünf Jahren umgucken, welche Bedingungen Sie dann vorfinden.Wir jedenfalls erwarten einen verbindlichen Gesetzgebungsfahrplan für die Sozialpolitik der EG. Wir wollen, daß man parallel sieht, welche Fortschritte es wirtschaftspolitisch gibt und welche Fortschritte es in bezug auf Rechte von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen gibt. Wir wollen eine Parallele, ein Weißbuch zur Sozialpolitik, so wie es heute ein Weißbuch für den Binnenmarkt gibt.
— Ich merke mit Interesse, daß auf den Bänken der Koalitionsparteien ein Rotbuch gefordert wird. Dem schließe ich mich an. Das ist in Ordnung.Wir brauchen eine Sozialcharta, in der die sozialen Grundrechte für alle Menschen in der Europäischen Gemeinschaft gesichert werden. Solche Standards dürfen in keinem Land unterschritten werden. Ich sage noch einmal: Eine Argumentation ist absurd, die sagt: Mit niedrigeren Standards könnten wir anderen Ländern helfen. Auch da wird umgekehrt ein Schuh daraus. Wenn wir an unseren Standards festhalten, helfen wir den Menschen in Spanien und Portugal. Denn ein Absenken deutscher Standards würde nur bedeuten, daß unsererseits noch mehr Exportüberschüsse auf die Länder Spanien und Portugal zukämen und dort Arbeitsplätze abgebaut würden. Wir erwarten, daß der soziale Dialog, der in der Einheitlichen Europäischen Akte verankert ist, auch wirklich dazu genutzt wird, verbindliche Erklärungen und verbindliche Abstimmungen zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Regierungen zu entwickeln. Wir erwarten auch, daß z. B. bei der Festlegung von Normen die Gewerkschaften beteiligt werden. Wer Normen für Maschinen festlegt, der entscheidet nicht nur über Technik, Herr Geißler, sondern auch darüber, unter welchen Arbeitsbedingungen Menschen an diesen Maschinen arbeiten müssen. Deshalb ist die Frage der Gestaltung dieses Normungsprozesses so besonders wichtig; deshalb darf das nicht der Unternehmerseite überlassen bleiben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EG-Kommission hat eine Richtlinie für das kommunale Wahlrecht für Ausländer und Ausländerinnen vorgelegt. Das soll Teil eines Europas ohne Grenzen auch für Arbeitnehmer sein.
16 Millionen Menschen, darunter mindestens 8 Millionen Menschen, die aus EG-Mitgliedstaaten kommen, leben als Ausländer ohne Wahlrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Nun haben Sie die Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP. Bisher haben Sie gesagt: In den Bundesländern geht das nicht, weil das nur national oder EG-weit geregelt werden kann. Jetzt liegt die Richtlinie vor und mich würde interessieren: Wie ist denn die Haltung der Bundesregierung dazu? Was tut sie denn im Ministerrat, um dazu beizutragen, daß wir eine EG-einheitliche Gesetzgebung bekommen, die das kommunale Wahlrecht für Ausländer und Ausländerinnen überall in der Europäischen Gemeinschaft als Bürgerrecht verankert? Ich würde mich sehr freuen, wenn wir es schaffen könnten, eine solche Regelung zu verankern.
Letzter Punkt: Wir wollen auch nicht, daß die Europäische Gemeinschaft zur Flucht aus der Mitbestimmung genutzt wird. Uns würde interessieren: Wie ist denn eigentlich die Haltung der Bundesregierung zum Memorandum für eine europäische Aktiengesellschaft für den Fall, daß große Unternehmen europäisch fusionieren?
— Ja, Herr Lambsdorff, das sind die Sachen, über die wir diskutieren müßten, nicht solche Spiegelfechtereien, wie sie von manchen aufgeführt werden.
Nun gibt es drei Vorschäge, die in der Diskussion sind. Wir wollen wissen: Was will die Bundesregierung tun, um erstens, Herr Lambsdorff, zu gewährleisten, daß die paritätische Mitbestimmung dabei gesichert wird? Was will sie tun, um zweitens zu erreichen, daß nicht die nationale Mitbestimmung ausgehöhlt wird? Und, vor allen Dingen, was tut sie, damit endlich
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7465
Frau Wieczorek-Zeulgesetzliche Grundlagen für einen europäischen Betriebsrat geschaffen werden?
Wenn wir uns auf Punkte konzentrieren, die uns wichtig sind, dann schaffen wir das in der Europäischen Gemeinschaft immer. Wenn es nicht die Punkte sind, die uns interessieren, dann ist es offensichtlich etwas anderes.
Wir verlangen von der Bundesregierung eine Garantie für die Mitbestimmung auch für europäische Beratungen, damit sie nicht hier im Bundestag per Erklärung gesichert wird und dann klammheimlich über die Ratentscheidungen praktisch außer Kraft gesetzt wird.Wir wollen, daß der bekannte Vermummungstrick nicht funktioniert, daß die Bundesregierung in der Bundesrepublik für das soziale Europa plädiert und unter Ausschluß der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit in den EG-Ministerräten eben dieses soziale Europa torpediert und gleichzeitig ein Stück des Sozialstaats auf diese Art und Weise demontiert.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, nachträglich herzlichen Glückwunsch zu Ihrem gestrigen Geburtstag!
Dies wird allerdings das einzig Nette sein, was ich Ihnen sagen kann.
Sie haben ja die Gelegenheit genutzt, die Aussprache zum Kanzleretat vor allen Dingen dem Thema „EG-Politik" zu widmen,
wohl nicht wissend, obwohl Sie einige Zeit dem Europäischen Parlament angehört haben, welch positive Bilanz für diesen Bereich — Sie haben sich ja Sorgen im Hinblick auf das Jahr 1992 gemacht — diese Regierung vorzuzeigen hat. Ich möchte, ohne viele Worte zu machen, zu dem, was auf europäischer Ebene 1988 im Februar beim Brüsseler Gipfel erreicht worden ist, nur kurz sinngemäß Herrn Delors, den Präsidenten der EG-Kommission, zitieren, der nach dem letzten EG- Gipfel, nach der EG-Präsidentschaft unseres Bundeskanzlers, gesagt hat: Dieser Bundeskanzler hat als Präsident der EG in einem halben Jahr mehr geleistet als andere vor ihm in zehn Jahren. Ich glaube, das kann man nur unterstreichen, um zu zeigen, daß wir auch in diesem Bereich der europäischen Wirtschaftspolitik ein wesentliches Stück vorangekommen sind. Wir sollten die Zeit, die bis zum Jahre 1992 vor uns liegt, mit Zuversicht betrachten.Die Reise- und die Steuergrenzen sind durchlässiger geworden. Die Teuerungsrate in der EG ist gesunken. Die Europäische Gemeinschaft hat für Regional-, Sozial- und Forschungspolitik 1982 11,5 Milliarden DM ausgegeben und die Ausgaben 1987 auf 15,7 Milliarden DM gesteigert. Ich sage das auch deshalb, weil hier der Eindruck erweckt worden ist, der gemeinsame Markt könnte damit verbunden sein, daß es den Arbeitnehmern, den Arbeitern, der Bevölkerung im gemeinsamen Markt schlechter geht. Dies ist eindeutig nicht zutreffend.Lassen Sie mich zur Debatte über den Kanzleretat zurückkommen, der ja in erster Linie eine Diskussion über die Situation der politischen Führung — meistens der Regierung, seltener der Opposition — auslöst. Wir müssen dabei meines Erachtens auf die eindeutigen Fakten zurückkommen, die heute vorliegen und die in Gegensatz gestellt werden müssen zu dem, was wir zu Beginn unserer Regierungszeit übernommen haben. Ich sage dies hier so deutlich, weil man manchmal den Eindruck hat, daß über Aufgeregtheiten zu einzelnen verbalen Äußerungen — egal, von welcher Seite — diese Fakten zurückgedrängt worden sind. Für die Bürger sind aber Fakten wichtig.1982 — es tut fast weh, dies immer wiederholen zu müssen, weil man den Eindruck hat, manch einer, vor allen Dingen die Opposition, erinnere sich nicht gerne — schrumpfte die Wirtschaft, galoppierte die Inflation, stieg die Steuerlast, wucherten die Zinsen, explodierte die Arbeitslosigkeit, explodierten Kurzarbeit und Lehrstellenmangel. Die Geburtenzahlen sanken. Schwächere blieben ausgegrenzt. Kaufkraft, Renten und Reallöhne sanken gleichermaßen. Für Mütter galt ein Zweiklassenwahlrecht. Die Familien standen im Abseits der Regierungspolitik. Beim Umweltschutz und in der Landwirtschaftspolitik galt das Prinzip des Abwartens.1988 — dies wird auch 1989 gelten; wir reden ja über den Haushalt für das kommende Jahr — wächst die Wirtschaft im siebten Jahr weiter. Ich frage einmal: Was bedeuten eigentlich für einen normalen Bürger 3 % Wachstum? — Das sind 1 000 DM mehr in der Tasche, bei jedem einzelnen. Für eine Familie von vier Personen ist das leicht auszurechnen. Wer sagt denn, daß niemand weiß, was er damit anfangen soll?Kaufkraft, Reallohn, die Zahl derer, die Arbeit haben, und vor allem auch die Zahl der Geburten sind angestiegen. Für mich war es eine der erfreulichsten Tatsachen der Beratungen im Haushaltsausschuß, daß wir für das Jahr 1988 feststellen mußten, daß wir 300 Millionen DM mehr in diesem Jahr für Kindergeld ausgeben müssen, man könnte eher sagen: dürfen. Wir rechnen für das nächste Jahr damit, 625 Millionen DM zusätzlich, über die 13 bis 14 Milliarden DM hinaus, für Kindergeld auszugeben. Das heißt doch, daß der Optimismus in der Bevölkerung gewachsen ist, daß die Familien von dieser Regierung und der sie tragenden Mehrheit offensichtlich gut behandelt werden.
Die Zahl der Geburten steigt, die Zahl der Lehrstellen steigt, die Höhe der Renten steigt. Geld, Mieten und Strompreise sind stabil, auch wenn der Kollege Jahn mit seinem Mieterbund sich ständig anschickt,
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7466 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Austermanndas Gegenteil zu behaupten. Arbeitslose erhalten mehr und länger Hilfe als bisher. Die Kurzarbeiterzahlen sinken.Was an Schlagworten in der Vergangenheit eigentlich von Bedeutung war, erkennt man beispielsweise an den Antworten auf die Frage: Was erwarten eigentlich unsere Einzelhändler, die Mittelständer, die kleinen und mittleren Unternehmen, von den verbleibenden Wochen des Jahres? Da sagt der Hamburger Einzelhandelsverband: In den beiden letzten Monaten — November und Dezember 1988 — erwartet man 600 Millionen DM zusätzlichen Umsatz, 600 Millionen zusätzlichen Umsatz im November, 600 Millionen DM zusätzlichen Umsatz im Dezember. Ich glaube, deutlicher kann man nicht sagen, daß Wirtschaftspolitik, Steuerpolitik und effektive Arbeitsmarktpolitik den Bürgern im Lande helfen.
Ich möchte dies einmal, der sogenannten neuen Armut gegenüberstellen. Dieses Thema hat vor einiger Zeit eine Rolle gespielt; heute ist das Stichwort interessanterweise gar nicht gefallen. 1985 hat es einen großen Teil der Bevölkerung verunsichert; von Kaputtsparen und von Ellbogengesellschaft war die Rede. Heute kann man feststellen, wie das mit der Kaufkraft der Bevölkerung, mit der Steuerlast, die sinkt, und mit vielen anderen positiven Zahlen aussieht.
Man kann feststellen, daß die Mütter Erziehungsurlaub, Erziehungsgeld, Erziehungsrente erhalten. Ich will einmal sagen, wie viele Bürgerinnen in unserem Land das inzwischen betrifft: Bisher erhalten 3,7 Millionen Mütter — davon sind 2,2 Millionen vor 1912 geboren — deshalb eine höhere Rente, weil sie Kinder erzogen haben.Hier ist vorhin die Frage gestellt worden: Wie ist es eigentlich um die geistig-moralische Wende bestellt?Ich bin der Auffassung, auch die Frage, wie man Familien behandelt, wie man Kinder behandelt, wie man ältere Menschen, wie man Mütter behandelt, ist Gegenstand einer geistig-moralischen Erneuerung gewesen, gerade wenn man weiß, daß diese früher im Abseits gestanden haben.
Dies gilt übrigens auch für die Frage, wie wir werdendes Leben heute behandeln; dies gilt für die Frage, wie wir mit der Abrüstung umgehen, und dies gilt auch für die Frage, wie wir mit der Umwelt umgehen. Ich meine schon, daß die geistig-moralische Erneuerung für jeden Gutwilligen erkennbar ist.Meine Damen und Herren, dies steht ein bißchen im Widerspruch zu dem, was berichtet wird. Man stellt einen Unterschied zwischen dem Befinden der Bevölkerung und ihrer Befindlichkeit fest, insbesondere wenn man sich auf die Medien konzentriert, darunter ein paar Medien, die besonders Meinung machen in unserem Land. Ich sage dies deshalb mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge, weil zwei dieser Medien von tüchtigen Druckern in der Stadt Itzehoe in meinem Wahlkreis hergestellt werden. Nun kann sich der einzelne nicht dagegen wehren, was er dort drucken muß. Aber wenn man einmal gegenüberstellt, welche Themen in der Zeit von 1983 bis heute laut Meinungsumfragen im Bewußtsein der Bürger eine Rolle gespielt haben, dann stellt man schon ein Auseinanderklaffen zwischen Fakten und Bewußtsein fest.1983 — im ersten Jahr des Aufschwungs — spielten die Entlassung eines Generals und die Absage des Honecker-Besuchs eine Rolle. 1984 spielten andere Themen eine Rolle. 1985 — im dritten Jahr des Aufschwungs — dominierten ein Überläufer vom Verfassungsschutz, der Glykolweinskandal und SPD-Parolen von der „neuen Armut" die öffentliche Meinung. 1986 — im vierten Jahr des Aufschwungs — dominierten verständlicherweise Umweltkatastrophen die öffentliche Meinung. Die Auswirkungen der Affäre um die Neue Heimat spielten kurzfristig eine Rolle. 1987 — im fünften Jahr des Aufschwungs, im Jahr der gewonnenen Bundestagswahl — wurde der Wahlsieg von personellen Fragen überlagert, weniger von den Fakten. Erinnern Sie sich daran, daß zu Beginn dieses Jahres Rheinhausen eine Rolle gespielt hat. Ich hätte es in diesem Zusammenhang schon begrüßt, wenn hier erwähnt worden wäre, daß wir heute 41 Millionen t statt damals geschätzter 35 Millionen t Stahl produzieren. Das sagt auch etwas über die Entwicklung der Wirtschaft aus. Niemand sollte unsere Zeit später aus der Sicht manch eines Magazins beurteilen. Das Urteil wäre — im Gegensatz zur tatsächlichen Lage — verheerend.Ich will aber keine Medienschelte betreiben. Sicher machen auch wir einiges falsch, was die Darstellung unserer Politik angeht. Es geht aber meines Erachtens an der Sache vorbei, wenn man dem Bundespresseamt Vorwürfe machen wollte, denn man muß sich vor Augen führen, daß die massivste Kritik am Bundespresseamt vom Bundesverfassungsgericht geübt wurde, und zwar in bezug auf eine Zeit, die vor unserer Regierungsübernahme lag. Das Bundesverfassungsgericht hat sich auf den Standpunkt gestellt, daß das Presseamt damals mißbraucht wurde. Diese Zeit ist Gott sei Dank vorbei. Wenn Sie zur Kenntnis nehmen, daß wir heute im Bundespresseamt hundert Mitarbeiter weniger als damals haben, dann macht auch dies deutlich, daß wir eine andere Politik betreiben.Ich glaube, man kann heute feststellen, daß dieses Land auf einem guten Weg ist. Wir müssen erkennen, daß die SPD nirgendwo, wo sie an der Regierung ist, gezeigt hat, daß sie es besser kann. Deutlicher, als der Sachverständigenrat dies gestern in bezug auf das Land Nordrhein-Westfalen gesagt hat, kann man es nicht sagen. Der Sachverständigenrat hat Johannes Rau bescheinigt, das Ruhrgebiet stelle den besonders exemplarischen Fall einer falschen sektoralen und regionalen Strukturpolitik dar. Ich glaube, deutlicher kann man nicht sagen, wo falsche Politik gemacht wird und daß er und die SPD es einfach nicht verstehen, mit der Wirtschaft, mit dem Geld vernünftig umzugehen, von den Mompers, Spöris, Scharpings, Hiersemanns und Schröders ganz zu schweigen. Es ist mir nicht gelungen, festzustellen, wer in Hessen eigentlich der derzeitige SPD-Vorsitzende ist. Ich bitte, das zu entschuldigen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7467
AustermannMeine Damen und Herren, liebe Freunde, der Chef der größten Oppositionspartei sollte sich um seine Partei sorgen. Er sollte sich auch um den DGB sorgen, der nicht einmal mehr in der Lage ist, seine Kreisgeschäftsführer zu bezahlen, weil das Geld für Agitation gegen die Regierung verplempert wird. Er sollte sich nicht um die Zukunft unseres Landes sorgen, denn die gestalten wir.Lassen Sie mich abschließen. Es geht den Bürgern Ende 1988 besser als Ende 1987. Auf die Regierung und die sie tragende Mehrheit ist Verlaß. 1989 wird es das gleiche gute Zwischenurteil geben.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Entwurf dieses Haushalts hat ein wesentliches Merkmal, und zwar das Merkmal der Kontinuität. Kontinuiät seit 1982 bedeutet in diesem Zusammenhang das weitere Begehen der Sackgassen. Wenn Herr Austermann mit der Feststellung schließt, daß es dem Bürger 1988 besser ginge als 1987, dann kann man dazu analytisch nur bemerken, daß 1988 in der Bundesrepublik Deutschland sicherlich mehr zu verteilen ist als 1987, aber tatsächlich dieses mehr zu Verteilende bei einer immer geringeren Anzahl von Bürger/innen, nämlich vor allen Dingen Dividendenbeziehern, also Aktionären, in den Taschen landet.
Die Komplexität der Industriegesellschaft, die auch bei direkter Einwirkungsmöglichkeit von fortschrittlichen programmatischen Zielsetzungen, wie ich sie mit vertrete, nicht sofort verändert werden kann, ist sicherlich ein besonderes Problem für eine Opposition, die so weitreichende Korrekturen an den Vorgaben der herrschenden Politik fordert, wie ich es mache. Aber dennoch: Es gäbe und es gibt Handlungsspielräume.Dazu nur drei konkrete Beispiele: Wenn Sie das Tornado-Programm aufgeben würden, hätten Sie knapp 100 Milliarden DM nach augenblicklichen Preisen zusätzlich zur Verteilung für notwendige Maßnahmen im ökologischen Bereich und im Bereich der Arbeitsmarktpolitik. Wenn Sie die Steuerreform nicht in der Weise durchführten, wie beschlossen, also von unten nach oben verteilen, sondern für sinnvolle Maßnahmen in den beiden genannten Bereichen nutzten, gäbe es weitere 40 Milliarden DM sinnvoll umzuschichten. Darüber hinaus gibt es Umschichtungsmöglichkeiten im Haushalt, die in den einzelnen Debatten zu den Einzelplänen des Haushalts noch herausgeschält werden.Ein Beispiel für die Komplexität unserer Industriegesellschaft ist auch die hier relativ intensiv geführte Diskussion über die Fusion von Messerschmitt-Bölkow-Blohm und Daimler-Benz. Hier ging es nicht einmal mehr um nationale Interessen, sondern längst um die internationale Konkurrenzfähigkeit der Bundesrepublik und eines ihrer wichtigsten Konzerne gegenüber den USA, gegenüber Japan. Die Rahmenbedingungen sind so weit gediehen, daß in der Tat die Abhängigkeit auch der Politik bereits auf Grund dieser Strukturelemente ausgesprochen schwierig ist.Ich möchte Ihnen aber noch einen Vergleich vorhalten, und zwar den, den Sie immer am meisten scheuen, den Vergleich mit dem Osten. Der Staat im Westen gleicht sich immer mehr den Monopolen an — diese These stelle ich auf — , und die Monopole sind auch immer mehr in der Lage, Einfluß auf das zu nehmen, was der Staat im Westen an Handlung produziert. Das gilt auch und im besonderen für die Bundesrepublik Deutschland, so daß nicht zu Unrecht nicht nur die Frage, sondern längst die These aufgestellt wird, wer hier eigentlich regiert, die Monopole, die Wirtschaft, bestimmte Interessengruppen oder die Regierungskoalition. Die Frage ist dann weiter zu formulieren, ob die handelnden Akteure und Akteurinnen in der Regierung nicht längst zu Marionetten heruntergekommen sind.Unter dem Staatsmonopolkapitalismus im Osten haben wir es etwas anders: Dort gibt der Staat den Ton in den Fabriken an, ob die nun volkseigener Betrieb oder sonstwie benannt werden. Das ist der einzige wesentliche Unterschied. In jedem Fall steht ganz weit oben die betriebswirtschaftliche Sichtweise unter Vernachlässigung von rechtlichen Aspekten, von Grundfreiheiten und von ökologischen Gesichtspunkten. Hierin eingebettet zieht die Regierungskoalition, was nicht nur an diesem Haushalt ablesbar ist, verschiedene Einzelprojekte durch, die teilweise — für sich genommen — ein so gravierendes Ausmaß erreichen, daß jede Staatsbürgerin und jeder Staatsbürger in unserem Land davon betroffen sind.Die Rentenreform, die jetzt ansteht, ist ein weiteres Beispiel nicht nur für Frauenfeindlichkeit, weil die Ausfallzeiten zukünftig anders bewertet werden sollen, sondern für die weitere Vernachlässigung der Klientel, die Herr Austermann gerade als letzter Redner vor mir als von dieser Koalition besonders positiv bedient darstellte, nämlich der alten Mitbürger/innen in unserer Politik. Die sind nach der herrschenden Logik schlicht überflüssig und werden nach den zur Rentenreform vorliegenden Papieren auch so behandelt. Das Motto, das darin zum Ausdruck kommt, lautet: Jeder, der arbeiten kann, soll arbeiten, solange er kann. Zu diesem Zweck wird auch die Altersgrenze stufenweise auf 65 Jahre heraufgesetzt, obwohl wir wissen, daß nicht einmal 60 % unserer Bevölkerung diese Altersgrenze erreichen.Es gibt noch weitere Leitmotive, die man zur Kennzeichnung der Rentenreform anführen kann: Es gibt nur „Lebende oder Tote" — ältere Mitbürger/innen unter uns werden sich daran erinnern — oder die sehr flapsige Formulierung: „Arbeiten bis zum Umfallen." Das bereiten Sie zur Zeit mit der Rentenreform vor. Das werden wir Anfang des nächsten Jahres hier sicher noch sehr intensiv diskutieren.Das gleiche passiert bei der Gesundheitsreform. Wir werden sie am kommenden Freitag ausgiebig diskutieren.Einen weiteren Punkt möchte ich in Erinnerung rufen, weil er oft in Vergessenheit zu geraten droht,
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7468 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Wüppesahlnämlich die Steuerreform. Hier ist bei der Umverteilung ein so großes unsoziales Potential produziert worden, daß man es in der Erinnerung wachhalten muß. Vor allen Dingen muß man den Betroffenen vergegenwärtigen, was alles ihnen in diesem Zusammenhang aus den Taschen gezogen werden wird bzw. bereits aus den Taschen gezogen wird.Die Bundesregierung Kohl hat darüber hinaus die Nerven, die Massenarbeitslosigkeit inzwischen als Normalzustand ihrer Politik zu deklarieren. Sie bemühen sich, eine Form der Gewöhnung an die Massenarbeitslosigkeit in der Bevölkerung durch ihre Verlautbarungen und auch durch den CDU-Wirtschaftsrat und durch andere Gremien zu produzieren, die in der Tat unerträglich ist. Auch in diesem Haushalt finden sich keine entscheidenden Ansätze, um dieses Problems Herr zu werden.Weil Sie um die Problematik wissen und auch der Druck nicht nur von den Gewerkschaften und der Opposition in diesem Hause ständig wächst, bemühen Sie sich darum, die Arbeitslosenstatistik neu zu definieren. Ich sage: Sie versuchen, sie zu verfälschen. Diese Versuche haben sogar gefruchtet. Mit der 8. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz haben Sie die Mittel für Qualifizierungsmaßnahmen und für Jugendliche gesperrt. Sie haben rund 5 Milliarden DM in zwei Bereichen eingespart, die im Hinblick auf die Arbeitsmarktsituation sinnvollerweise zu fördern wären.Auch aus diesem Grunde möchte ich von dieser Stelle aus einen ausdrücklichen Aufruf an alle arbeitslosen Männer und Frauen in unserer Republik richten, sich bei den Arbeitsämtern zu melden, damit die Statistik auch wirklich so aussieht, wie sie aussehen müßte. Die Dunkelzifer bei den Arbeitslosen liegt zwischen 400 000 und 1 Million Mitbürgerinnen und Mitbürgern.Kommen wir zur Ökologie. Nicht nur mehrere 10 Milliarden DM, sondern wahrscheinlich an die 100 Milliarden DM werden für den Tornado verschwendet werden. Sie verpulvern nicht nur für die Verteidigungspolitik wahnsinnig viele und wertvolle Ressourcen, die unser Land hat, sondern, wie bereits ausgeführt, auch für den gesamten Bereich Arbeit und Soziales. Das Problem besteht nicht darin, daß wir etwa keine Mittel hätten, um eine sinnvollere Umweltpolitik zu betreiben, sondern es geht um die Frage, wie der politische Wille aussieht, um die vorhandenen Mittel sinnvoll zu verteilen.Was hat sich in der Umweltpolitik zwischen 1982 und 1988 eigentlich geändert? Verschiedene Vorredner/innen gingen bereits darauf ein. Nur ein einziges Beispiel: Die Emission von Stickoxiden hat sich erhöht. Sie haben in Ihren Propagandaschriften ständig behauptet, Sie gingen an diese Problematik heran. Aber das, was ich im Zusammenhang mit den Luftemissionen gesagt habe, gilt genauso für viele, viele andere Felder.Ich meine, dies wird in der Bevölkerung auch sehr bewußt gesehen und vor allem auch gespürt, und zwar nicht nur im Zusammenhang mit der Gesundheit, nicht nur bei dem alltäglichen Geschehen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit — am Arbeitsplatz, imVereinsleben oder in der Familie — , sondern es wird auch politisch erkannt. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als daß Sie auch für diesen Bereich eine entsprechende Quittung bekommen.
— Herr Präsident, ich wäre dankbar, wenn etwas mehr Ruhe einkehren könnte. Es ist mindestens schwierig, so zu sprechen. —Eine gute Umweltpolitik würde sich durch eine optimale Prävention auszeichnen. Diese Prävention wäre nirgendwo besser angesiedelt als im Wirtschaftsressort. Aber dort finden wir genau die umgekehrte Sichtweise: Subventionen für Bereiche unserer Industriegesellschaft, die die Umweltproblematik noch weiter verschärfen und die Umweltsituation, in der wir leben, verschlechtern.Herr Töpfer versucht zwar sehr geschickt, philosophisch die Umweltproblematik an den Bürger zu bringen — das gelingt ihm zur Zeit bedauerlicherweise noch viel zu gut — , aber was er tatsächlich will, ist lediglich, wieder Vertrauen in diejenigen zu gewinnen, die Umweltpolitik machen. Tatsächlich wird kein Umweltschutz betrieben, sondern es wird nur der Verkauf der sogenannten Umweltpolitik
etwas cleverer vorgenommen.
Herr Abgeordneter, wenn die Glocke erklingt, möchte ich gern etwas sagen. — Ich bitte die Damen und Herren Abgeordneten, ihre Plätze einzunehmen. In vier Minuten kommen wir zur namentlichen Abstimmung. — Bitte, Herr Abgeordneter.
Herr Töpfer ist auch nicht so plump wie z. B. sein Kollege Dick aus dem bayerischen Umweltministerium,
der Molkepulver in sich hineingeschüttet hat. Er ist bei der Vermarktung dieser Problematik für diese Regierung und ihre Klientel viel, viel cleverer.Ich denke, daß sich auch viele von Ihnen fürchterlich irren. Die Situation, der Alltag, in dem wir uns bewegen, ist schon sehr viel problematischer, als zum Teil sichtbar wird. In dem Maße, in dem wir heute Wald haben, werden wir ihn im Jahr 2000 nicht mehr haben. Das Ozonloch determiniert uns eine Katastrophe. Die vielen, vielen anderen kleinen Problemfelder, die für sich genommen bereits außergewöhnlich sind, Herr Carstensen, etwa das Nordseesterben, müßten eine völlig andere Sichtweise auch bei der Aufstellung dieses Haushalts produzieren. Denn dabei geht es nicht um ein paar Mark oder 10 Märker mehr in den Taschen von einzelnen Bürger/innen, sondern um die Existenz.Wenn Sie immer noch das Wachstum proklamieren und davon sprechen, wie großartig es sei, daß wir jetzt dreieinhalb Prozent Wachstum erwarten, dann bedeutet das doch im Klartext, daß gleichzeitig die chemische Industrie sieben Prozent Wachstum hat, daß der Sondermüll um 27 Prozent wächst, daß damit die Emissionen und die Abfallprobleme verbunden sind,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7469
Wüppesahlvon denen Sie ständig verbal vorgeben, sie beseitigen zu wollen. 47 Müllverbrennungsanlagen mit ihren ganzen Emissionsproblemen sind in der Bundesrepublik in Arbeit, 20 weitere sind beantragt, und diese Regierung läßt in diesem Haushaltsentwurf an keiner Stelle deutlich werden, daß sie auch dieses Problemfeld auf irgendeine Weise angehen will.
— Es ist, denke ich, wirklich problematisch, was Sie hier im Moment aufführen. —
Herr Abgeordneter, die Akustik ist im hinteren Teil dieses Provisoriums nicht sehr günstig. Ich bitte also, darauf Rücksicht zu nehmen. Im rückwärtigen Teil ist die Lautsprecherübertragung schlecht zu verstehen.
Das ändert ja nichts daran, daß die Kollegen dort hinten ruhig sein könnten.
Ein anderes Feld, auf dem genau dieselben Mechanismen deutlich werden, ist die Bildungspolitik. Herr Möllemann hat allen Ernstes die Brust, vorzuschlagen, daß es an den Universitäten, die überquellen — auf Grund einer Hochschulpolitik, die er mitzuverantworten hat — , Nachtschichten geben soll. In der Verwaltung des Mangels — es wird, ausgehend von einem Mangel, der von dieser Regierung künstlich selbst produziert wird, versucht, das den Studenten und Studentinnen mit Sachzwangargumenten beizubringen — sind Sie mit Ihrer Regierungspolitik in der Tat außerordentlich erfolgreich.
Im demokratischen Bereich können wir auch in unserem eigenen Hause extreme Beispiele für Ihre Unkultur feststellen. Das geht allerdings an mehrere Teile dieses Hauses. Als Sie z. B. vor dem Rücktritt des ehemaligen Bundestagspräsidenten Jenninger darüber gesprochen haben, wie damit umzugehen sei, wurden die GRÜNEN von solchen Gesprächen ausgeschlossen. Genauso bei der Rentenreform! Da werden die GRÜNEN in eine solche Gesprächsrunde nicht mit einbezogen, genausowenig wie ein unabhängiger Abgeordneter wie ich; das versteht sich geradezu von selbst. Genau dieses Selbstverständnis von demokratischer Kultur oder — besser gesagt — Unkultur spiegelt sich in allen möglichen anderen Politikfeldern wider, z. B. im Gebrauch des Strafrechts mit Symbolcharakter, etwa wenn Sie die Tätigkeit von Strafermittlungsbehörden in das Verdachtsstadium vorverlegen. Genauso übrigens benutzen die GRÜNEN inzwischen das Strafrecht in bestimmten Punkten mit Symbolcharakter. Ich denke an die Debatte, ob bei Vergewaltigung zwei oder drei Jahre Mindeststrafe festgesetzt werden sollen. Das ist natürlich völlig absurd für ein solches Instrument, das nur für Ausnahmesituationen aufgespart werden sollte.
Abschließend möchte ich noch auf die Bankrotterklärung, die mit dem Wechsel auf dem Posten des Bundestagspräsidenten zusammenhängt, eingehen. Mir ist klar, daß es ausgesprochen schwierig ist, zu Frau Süssmuth kritische Anmerkungen zu machen; sie ist sozusagen die „Konsensdame" hier im Haus. Trotzdem müssen wir feststellen, daß sie sich auch für
Argumentationsweisen gegenüber Minderheiten nutzbar machen ließ, ob in der AIDS-Problematik, ob beim Paragraphen 218, der Abtreibung, oder in der Drogenpolitik, wo zwar bestimmte Gedanken angerissen wurden, aber nichts diskutiert oder gar entschieden ist und wo die Gefahr außergewöhnlich groß ist, daß die bayerische Linie auf sämtlichen drei genannten Feldern in der Bundesrepublik Deutschland gesellschaftlich herrschend wird.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zum Schluß. Angesichts dieser wenigen Momente, die ich anführen konnte, ist es sicherlich klar, daß Sie, wenn keine erheblichen Veränderungen an diesem Haushaltsentwurf vorgenommen werden, auch von mir keine Zustimmung zu demselben erhalten werden.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 04, Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts, in der Ausschußfassung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP verlangen hierzu gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung. Das Verfahren ist bekannt. Ich eröffne die Abstimmung.Meine Damen und Herren, gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das die Absicht hat, sich an der Abstimmung zu beteiligen, und noch nicht abgestimmt hat? — Dies scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.Meine Damen und Herren, ich schlage dem Hause vor, mit den Beratungen der nächsten Einzelpläne fortzufahren, bis das Abstimmungsergebnis vorliegt.*) Dies ist aber nur möglich, wenn diejenigen Damen und Herren, die an den Beratungen teilnehmen wollen, ihre Plätze einnehmen.Meine Damen und Herren, ich rufe auf: Einzelplan 05Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes — Drucksachen 11/3205, 11/3231 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Rose HoppeWalthematheFrau VennegertsHierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/3326 bis 11/3331 vor.Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die Aussprache zwei Stunden währen. — Ich sehe, daß das Haus damit einverstanden ist. Es ist so beschlossen.*) Ergebnis Seite 7471 D
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7470 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Vizepräsident StücklenIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Waltemathe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Etat des Bundesministers des Auswärtigen beträgt ein knappes Prozent am Gesamthaushalt des Bundes. Das besagt aber nichts über den Stellenwert der Außenpolitik; Außenpolitik läßt sich weniger aus Zahlen ablesen. Deshalb werde ich in meinem kurzen Redebeitrag auch nicht auf den Einzelplan im einzelnen eingehen.Ich will einleitend nur sagen, daß globale Kürzungen im Sachmittelbereich durch Haushaltsgesetz insbesondere auch unsere Auslandsvertretungen und wichtige Bereiche der auswärtigen Kulturpolitik hart treffen.
Es ergibt auch keine Logik, wenn wir zunächst freiwillige Beiträge zu internationalen Organisationen — zu UNO-Organisationen usw. — anheben und anschließend durch Haushaltsgesetz durch eine 4%ige Kürzung das Geld wieder wegnehmen, das wir gerade draufgelegt haben.
Moderne Außenpolitik, meine Damen und Herren, soll einen Beitrag zur Fortsetzung von Politik mit friedlichen Mitteln liefern. Ihre Aufgabe besteht also darin, eigene Interessen bei der internationalen Zusammenarbeit wahrzunehmen, Menschenrechte als eine der wesentlichen Bedingungen des wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Austausches durchzusetzen und starres Blockdenken und Freund-Feind-Verhältnisse zu überwinden sowie die Austragung von Konflikten mit anderen als friedlichen Mitteln zu verhindern. Vor diesem Hintergrund wäre der Haushalt des Bundesaußenministeriums zu betrachten.Meine Damen und Herren, im Jahre 1989 wird das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland dann gesteigert werden können, wenn die richtigen Lehren sowohl aus dem 50. Jahrestag des Überfalls des deutschen Reichs auf Polen als auch aus dem 40. Jahrestag der Gründung zweier deutscher Staaten gezogen werden. Was Nationalismus und Faschismus anrichten können, darf nicht verdrängt werden. Was internationale Zusammenarbeit an Friedenschancen ermöglicht, gilt in den Vordergrund gestellt zu werden.
Es wird im Inland und im Ausland im Jubiläumsjahr daran zu erinnern sein, daß unsere Bundesrepublik als antifaschistischer Staat gegründet wurde und daß dieser antifaschistische Auftrag des Grundgesetzes Leitlinie für unsere politische Kultur sein muß. So mag die Neubegründung eines demokratischen Rechtsstaates vor 40 Jahren gefeiert werden. Feierlichkeit darf aber nicht zur Vertuschung dessen führen, daß wir auch zu be- und zu gedenken haben, daß in diesem Jahrhundert zweimal von Deutschland aus Weltkriege ausgelöst wurden, mit unendlichem Leid und unendlicher Vernichtung in anderen Völkern und im eigenen Volk.So befürworte ich ausdrücklich, wenn im Rahmen des 40jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland und seines Grundgesetzes auch Vertretungen im Ausland Einladungen aussprechen. Aber es darf sich da nicht um die üblichen Cocktailempfänge für die üblichen „very important persons" handeln, sondern es sollten einzelne Botschaften ausgesucht werden, die sorgfältig vorbereitete, würdige Veranstaltungen durchführen.
Dabei stelle ich mir vor, daß beispielsweise in Polen ehemalige Zwangsarbeiter, die vom Nazi-Deutschland ausgebeutet wurden und schwer gelitten haben, einzuladen sind. Oder ich stelle mir beispielsweise vor, daß anderswo Emigranten und politisch Verfolgte der Hitlerzeit eingeladen und besonders geehrt werden und dazu Gelegenheit gegeben wird.An den Bundesminister des Auswärtigen sind hohe Anforderungen zu stellen, wenn es darum geht, die in seinem Etat in diesem Zusammenhang im Jahre 1989 zur Verfügung stehenden 1,5 Millionen DM für wirklich würdige Feierlichkeiten zwischen Jubel und Trauer zu verwenden. Deshalb erwarte ich, daß klare Vorgaben seitens des Hauses an die in Frage kommenden diplomatischen Vertretungen gegeben werden.Meine Damen und Herren, ich hätte auch erwartet, daß in einem anderen, finanziell ebenfalls als eher geringfügig zu bezeichnenden Fall die Koalition mehr Sensibilität an den Tag gelegt hätte. Lion Feuchtwanger mußte, wie viele andere Kulturschaffende auch, in der Nazizeit emigrieren und fand Aufnahme in den USA. Die Villa Aurora in Los Angeles, seit 1943 der Wohnsitz des Ehepaares Feuchtwanger, wurde von Martha Feuchtwanger, die im vergangenen Jahr verstorben ist — Lion Feuchtwanger war bereits 1958 verstorben — , mit der großen Bibliothek von 36 000 Bänden an die Universität von Südkalifornien vererbt. Nun geht es darum, die Villa Aurora, die seit 1943 Treffpunkt zahlreicher deutscher Künstler im Exil war, u. a. von Thomas Mann, Franz Werfel, Alfred Döblin, Bertolt Brecht und anderen, zu einer Begegnungs- und Forschungsstätte auszugestalten. Richtig ist, daß die Universität von Südkalifornien Eigentümerin ist und daß es in Deutschland eine private Trägerinitiative gibt. Richtig ist ferner, daß die rechtlichen Verhältnisse, über die die Bundesrepublik Deutschland beteiligt werden kann, noch nicht endgültig abgeklärt sind. Richtig ist außerdem, daß mangels Eigentümerschaft die Bundesrepublik Deutschland nicht als einzige zur Finanzierung der Gebäudeherrichtung und der laufenden Betriebskosten herangezogen werden kann. Aber es ist doch wohl ebenso richtig, daß ein kulturelles Erbe, das auf das andere Deutschland von damals hinweist, uns verpflichtet, nicht Pfennigfuchserei zu betreiben, sondern uns eher großzügige Mitfinanzierung abverlangt.
Schon heute, meine Damen und Herren, steht fest, daß in den kommenden Jahren ein Betrag von insgesamt etwa 15 Millionen US-Dollar benötigt wird. Ein deutscher Beitrag von 10 Millionen DM, verteilt auf zehn Jahresraten, ist vom Auswärtigen Amt als not-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7471
Waltemathewendig und angemessen bezeichnet worden. Ein solcher Betrag, nämlich zehnmal eine Million DM in den Haushalten 1989 bis 1998, ist doch wohl noch aufzubringen, wenn wir auswärtige Kulturpolitik und unsere Lehren aus dem Erbe des dunkelsten Kapitels unserer Geschichte richtig verstehen.
Ich bin enttäuscht darüber, daß es bei den Beratungen des Haushaltsausschusses ausgerechnet am 9. November 1988 nicht gelungen ist, einen entsprechenden Beschluß zustande zu bringen. Am gleichen Tag sind ohne weiteres 2,1 Millionen DM im Etat des Presse- und Informationsamtes bereitgestellt worden, um einen deutschen Pavillon in Disney World in Florida zu finanzieren.
Das ist sicherlich wichtig. Aber ich kann nur hoffen, daß es alsbald doch noch eine Einigung gibt, für die Lion-Feuchtwanger-Stiftung eine kultur- und demokratisch-politisch richtige Voraussetzung herbeizuführen.Die Lehre aus der Vergangenheit ziehen — das gilt auch für unser Verhalten gegenüber der rassistischen Politik in Südafrika. Sind wir noch in der Tradition des Darüber-hinweg-Sehens, oder haben wir inzwischen gelernt hinzuschauen, wenn es sich um ein menschenverachtendes Regime handelt? Ist klare Menschenrechtspolitik dann von Übel, wenn sie unsere Geschäfte stört, oder sind wir bereit und in der Lage, auf Geschäfte zu verzichten, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden? Die Unterdrückten in Südafrika fordern eine Boykottpolitik gegen die südafrikanische Regierung. Warum gehen wir auf diese Forderung nicht ein?
Wir begrüßen es, wenn in Namibia und Angola jetzt durch UNO-Vermittlung Wege eröffnet wurden, Fremdbestimmung abzulösen und zu menschenwürdigeren Verhältnissen zu gelangen. Wir tragen die Lasten für entsprechende UN-Bemühungen gern mit, einschließlich eines eher bescheidenen Beitrages zu den Beobachtern für ordnungsgemäße Wahlen in Namibia. Das allein genügt allerdings nicht als glaubwürdige Politik gegenüber dem südlichen Afrika.Meine Damen und Herren, nach 15 Jahren Diktatur in Chile ist durch Einigkeit der dortigen Opposition endlich die Tür zu einem Demokratisierungsprozeß einen Spalt breit geöffnet worden. Es ist auch zu begrüßen, daß erstmalig am 29. September 1988, sechs Tage vor dem Plebiszit in Chile, der Bundestag eine gemeinsame Haltung eingenommen und eine gemeinsame Delegation entsandt hat.Es ist nicht gut, wenn nunmehr der Generalsekretär der CDU die Gemeinsamkeit aufkündigt und einseitig nur auf eine Seite der chilenischen Opposition setzt. Die Diktatur wird nur überwunden werden, wenn die Demokraten in Chile gemeinsam dafür sorgen. Unsere Aufgabe in den demokratischen ParlamentenEuropas ist es nicht, schon jetzt Beiträge zur Spaltung der chilenischen demokratischen Opposition zu liefern.
Wir begrüßen es ausdrücklich, Herr Minister, daß Sie im Fall Chile einschließlich der schlimmen Vorwürfe gegen die dortige deutsche Siedlung Colonia Dignidad einen Weg verfolgen, den wir lange gefordert haben und den wir mittragen können.Meine Damen und Herren, ich habe mich auf einige Beispiele beschränkt. Ich gehe davon aus, daß Moral allein noch keine Politik ist, daß aber im politischen Handeln moralische Grundsätze im Einzelfall sichtbar werden müssen. Gerade in einem Jahr trauriger und positiver Jubiläen — beides — muß deutsche Außenpolitik diese Grundsätze beachten.Wir gehen davon aus, daß die Grundsätze moderner Außenpolitik und internationaler Zusammenarbeit bei der Ausbildung und Dienstverrichtung der im auswärtigen Dienst beschäftigten Damen und Herren beachtet werden. Wir halten es für richtig, wenn in einem Gesetz über den auswärtigen Dienst die Aufgabenstellung beschrieben wird. Wir fordern die Bundesregierung auf, einen Entwurf für ein solches Gesetz alsbald vorzulegen. Das Gesetz wird gewiß auch einige Ungereimtheiten des öffentlichen Dienstrechtes zu korrigieren und die soziale Absicherung der Ehepartner von im Ausland ihren Dienst Leistenden zu regeln haben. Es darf auf der einen Seite nicht zu einer Sonderbesoldung kommen; aber auf der anderen Seite müssen die besonderen Belastungen und Nachteile, die nur im Auslandsdienst auftreten, ausgeglichen werden. Sie können sicher sein, daß wir uns einer zügigen parlamentarischen Beratung eines solchen Gesetzentwurfes nicht versagen werden.Danke schön.
Ich gebe das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt. Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 429 ihre Stimme abgegeben. Davon ungültige Stimmen keine. Mit Ja haben 245 gestimmt, mit Nein haben 184 gestimmt. Enthaltungen keine.Von den Berliner Abgeordneten haben 21 ihre Stimme abgegeben. Ungültige Stimmen keine. Mit Ja haben 13, mit Nein 8 gestimmt. Enthaltungen keine.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 426 und 21 Berliner Abgeordnete; davonja: 243 und 13 Berliner Abgeordnetenein: 183 und 8 Berliner AbgeordneteJaCDU/CSUDr. Abelein AustermannBauer Bayha Dr. Becker
Dr. BiedenkopfBiehleDr. Blank
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7472 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Vizepräsident StücklenDr. Blens Dr. BlümBöhm Börnsen (Bönstrup)Dr. Bötsch BohlBohlsen Borchert BreuerBühler Carstens (Emstek) Carstensen (Nordstrand) Dr. CzajaDawekeFrau Dempwolf DörflingerDossDr. DreggerEchternachEigenEngelsbergerDr. FaltlhauserDr. Fell Fellner Frau FischerFischer Francke (Hamburg)Dr. FriedmannDr. FriedrichFuchtelFunk
Ganz
Frau GeigerGeisDr. GeißlerDr. von Geldern GersteinGerster
GlosDr. GöhnerDr. Götz GröblDr. GrünewaldGünther Dr. Häfele HarriesFrau Hasselfeldt HaungsHauser Hauser (Krefeld) HedrichFreiherr Heereman vonZuydtwyckFrau Dr. Hellwig HelmrichDr. HennigHerkenrathHinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger Hörster Dr. HoffackerFrau Hoffmann Dr. HüschGraf HuynJägerDr. Jahn
Dr. JobstJung
Jung
KalbDr.-Ing. KansyDr. KappesFrau KarwatzkiKiechleKlein
Dr. Köhler Dr. KohlKolbKossendey KrausKreyKroll-SchlüterDr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. LammertLattmannDr. LaufsLenzerFrau LimbachLink
Link LinsmeierLintnerDr. Lippold LouvenLowack MaaßFrau MännleMagin MarschewskiDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. MöllerMüller
Müller
NelleNeumann NiegelDr. OlderogOswald Frau PackPesch PfeffermannPfeiferDr. PingerDr. PohlmeierDr. ProbstRawe ReddemannRepnikDr. Riedl
Dr. RiesenhuberFrau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Dr. RoseRossmanithRoth
RüheDr. RüttgersSauer
Sauer
Sauter
Dr. Schäuble ScharrenbroichSchartz
SchemkenScheu SchmidbauerSchmitz
von SchmudeDr. Schneider Freiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schroeder SchulhoffDr. Schulte
Schwarz
Dr. Schwarz-SchillingDr. SchwörerSeehoferSeesing Seiters Spilker Dr. SprungDr. Stark
Dr. StavenhagenDr. SterckenDr. StoltenbergStrube StücklenFrau Dr. SüssmuthSussetTillmannDr. TodenhöferDr. Uelhoff UldallDr. UnlandVogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Vondran Dr. VossDr. WaffenschmidtDr. WaigelGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarnkeDr. WarrikoffDr. von WartenbergWeiß Werner (Ulm)Frau Will-FeldFrau Dr. WilmsWilzWimmer
WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. WittmannWürzbach Dr. Wulff Zeitlmann ZinkBerliner AbgeordneteFrau Berger BuschbomFeilckeKalischKittelmann LummerDr. Mahlo Dr. Neuling Dr. Pfennig Schulze
StraßmeirFDPFrau Dr. Adam-Schwaetzer BaumBeckmannCronenberg Eimer (Fürth)EngelhardDr. FeldmannFrau Folz-Steinacker FunkeGallusGattermann Genscher GriesGrünbeck GrünerFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. HirschDr. Hitschler Dr. Hoyer IrmerKleinert
KohnDr.-Ing. LaermannDr. Graf Lambsdorff Mischnick Möllemann NeuhausenNoltingPaintnerRichterRindRonneburger Schäfer
Frau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. SolmsDr. Thomae TimmDr. Weng Wolfgramm (Göttingen) Frau WürfelBerliner AbgeordneteHoppe LüderNeinSPDFrau Adler Dr. Ahrens AmlingAndresAntretter Dr. ApelBachmaierBecker Frau Becker-Inglau BindigFrau BlunckDr. Böhme Börnsen (Ritterhude) BrandtBrückBüchler Büchner (Speyer)Dr. von BülowFrau Bulmahn Buschfort Catenhusen Frau Conrad ConradiDaubertshäuserDillerDreßlerDr. Ehmke
ErlerEstersEwenFrau FaßeFischer
Frau Fuchs
Frau Fuchs
Frau GanseforthGanselGerster
Frau Dr. GötteGrafGroßmann HaarFrau HämmerleFrau Dr. Hartenstein HasenfratzDr. Hauff Heistermann HeyennHiller
Dr. HoltzHuonkerIbrüggerJahn
Dr. JensJung JungmannKiehmKirschner Kißlinger Dr. KlejdzinskiKolbowKoltzschKoschnick
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7473
Vizepräsident StücklenKretkowski Kühbacher KuhlweinLambinusLeidingerLennartzLohmann
Frau Matthäus-MaierDr. Mertens Müller (Düsseldorf) Müller (Pleisweiler) Müller (Schweinfurt) MünteferingNagelNehmFrau Dr. NiehuisDr. NieseNiggemeier Dr. NöbelFrau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo OpelDr. Osswald PauliDr. Penner Peter PfuhlPorznerPurpsReimannFrau Renger ReschkeReuterRixeRothSchäfer SchanzSchluckebier Schmidt
Frau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. Schmude SchreinerSchützSeidenthal Frau Seuster SielaffSieler
SingerFrau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. SoellFrau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. SperlingStahl SteinerFrau SteinhauerStieglerDr. StruckFrau Terborg TietjenFrau Dr. Timm Toetemeyer Frau Traupe UrbaniakVahlbergVerheugenVoigt WaltematheFrau Dr. WegnerFrau Weiler Weisskirchen Dr. WernitzWestphalFrau WeyelDr. Wieczorek Wieczorek Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspützvon der Wiesche Wimmer WischnewskiDr. de With WürtzZanderZeitlerBerliner AbgeordneteEgertHeimannFrau LuukStobbeDr. VogelWartenberg
DIE GRÜNENFrau Beck-OberdorfFrau Beer BrauerDr. BriefsDr. Daniels EbermannFrau Flinner Frau Garbe HäfnerFrau Hensel Frau HillerichHossHüserKleinert
Dr. Knabe Kreuzeder Frau KriegerDr. Lippelt Dr. MechtersheimerFrau NickelsFrau Oesterle-Schwerin Frau RockFrau SaiboldSchilyFrau SchoppeStratmann Frau TeubnerFrau Unruh Frau VennegertsFrau Dr. VollmerVolmerWetzelFrau Wilms-KegelFrau WollnyBerliner AbgeordneteFrau Olms SellinFraktionslos WüppesahlDamit ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses angenommen.Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rose.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Die Beratungen über den Etat des Auswärtigen Amts standen auch in diesem Jahr ganz im Zeichen der Bemühungen, noch mehr zum Frieden und zur Gerechtigkeit in der Welt beizutragen. Auf diesem Feld der Politik ging es erneut ein gutes Stück voran.Natürlich bieten die großen Staatsbesuche mehr Spektakuläres. Ein Treffen am Kamin im Weißen Haus oder in den Gemächern des Kreml ist allemal gut für Schlagzeilen. Unser Herr Bundeskanzler und unser Außenminister haben das vor kurzem wieder glänzend unter Beweis gestellt.An den Politikern liegt es, die Weichen zu stellen. Im Zeitalter der Besuchsdiplomatie sind die persönlichen Kontakte wichtig; denn der Erdball ist klein geworden. Damit aber alles so erfolgreich ablaufen kann, braucht es einen effektiven Dienst im Hintergrund. Die Besuchsreisen der Staatsmänner müssen vorbereitet sein, die Konferenzen müssen reibungslos ablaufen, die Verhandlungsergebnisse müssen vorzeigbar ausgefeilt werden.Um all das kümmert sich unser auswärtiger Dienst, der damit im deutschen Interesse und im Interesse einer weltweiten Kooperation tätig ist. Dafür sollte uns das Beste gerade gut genug sein.
In diesem Sinne wurden auch Haushaltsschwerpunkte gesetzt.Der Haushalt 1989, so wie er nunmehr vorliegt, sieht erhebliche Verbesserungen vor. Das gilt sowohl für den operationellen Teil wie besonders auch für den personellen. Alle diese Verbesserungen kommen dem Aufgabenbereich des Auswärtigen Amts selbst, aber auch den über 200 Vertretungen des Bundes im Ausland zugute. Sie entsprechen der vom Bundestag erhobenen Forderung nach strukturellen Reformmaßnahmen, die es ermöglichen sollen, die stark vermehrten Aufgaben gerade im Feld der auswärtigen Beziehungen zu bewältigen. Im Haushaltsausschuß selbst haben wir hierfür einen Stufenplan gefordert. Es ist gelungen, mit dem Haushalt 1989 eine weitere Stufe hinzuzufügen.
Hierin kommen wichtige Schwerpunkte der aktuellen Außenpolitik zum Ausdruck wie insbesondere die Abrüstungsverhandlungen, das Bemühen um eine noch intensivere Zusammenarbeit im westlichen Bündnis und vor allem das deutsch-französische Verhältnis. Bei letzterem dürfen wir erfreut festhalten, daß das diesjährige Silberjubiläum den goldenen Wert der Adenauer-de-Gaulle-Beziehungen bestätigt hat.
Doch nicht bloß um die klassischen Aufgaben der Konferenzdiplomatie geht es beim modernen auswärtigen Dienst. Es geht vielmehr auch um die Notwendigkeit der internationalen Bewältigung von Umweltproblemen. Es geht um die Wirtschaftsförderung. Es
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Dr. Rosegeht um die Entwicklungspolitik. Einen unverzichtbaren Rahmen der Außenpolitik stellt außerdem die auswärtige Kulturpolitik dar.
Einen Bereich möchte ich besonders erwähnen, weil er im Augenblick am dringendsten einer Hilf eleistung bedarf. Das ist der Konsular- und Sichtvermerksbereich. Jeder weiß, daß die Zahl der ausländischen Sichtvermerksbewerber sprunghaft gestiegen ist. Aber auch die bei uns für nötig gehaltene Ausdehnung der Sichtvermerkspflicht für Deutschlandreisewillige trug zum Anschwellen der Arbeit bei.Darüber hinaus ist uns die Aussiedlerproblematik bekannt. Ohne daß bei uns geworben würde, hat sich ein enormes Anwachsen der Zahl von Aussiedlern deutscher Volkszugehörigkeit ergeben. In Moskau durften z. B. im Jahre 1986 rund 700 Personen ausreisen. 1987 waren es schon ca. 14 000, und 1988 werden es voraussichtlich 46 000 Menschen sein. Irgendwie können wir ja stolz sein,
daß alle diese Menschen ihre Hoffnung und ihre Zukunft bei uns in der Bundesrepublik suchen. Aber ebenso muß die Feststellung erlaubt sein, daß die bisherigen Lebensumstände keine Chance zum Verbleib in der jetzigen Heimat ermöglichen. Der real existierende Sozialismus hat seinen Lack verloren.
Für uns ist es eine nationale Aufgabe, diese Deutschen würdig bei uns aufzunehmen und sie schnell einzugliedern. Wir müssen daher auch unsere Auslandsvertretungen in die Lage versetzen, die ersten, die wichtigsten Schritte mit Anstand zu bewältigen.
Deshalb haben wir im Haushaltsausschuß, und zwar einvernehmlich zwischen allen politischen Gruppierungen, gerade in diesem Sektor über den Regierungsentwurf hinaus zusätzliche Stellen vorgesehen.
Sie sind zwar mit einem kw-Vermerk versehen — sie können also künftig wegfallen — , weil die Aussiedlerproblematik höchstwahrscheinlich nicht ewig dauern wird. Es wären insgesamt politische Umstände zu begrüßen, die es unseren deutschen Landsleuten ermöglichten, in der althergebrachten Heimat menschenwürdig und zukunftsfroh zu leben.
Ich kann deshalb nur unterstreichen, daß es entscheidend ist, mit unseren östlichen Nachbarn ein Klima des gegenseitigen Vertrauens zu entwickeln. Die vielen Folgekonferenzen der KSZE oder KVAE mögen alle ihre Berechtigung haben; denn sie dienen dem friedlichen Gespräch. Noch wichtiger ist jedoch die Vertiefung der bilateralen Beziehungen zu jedem einzelnen Land, das bis vor kurzem hinter dem schrecklichen Eisernen Vorhang verschwunden war. Nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen — 1955 schon mit der Sowjetunion, dann mit Rumänien und allen anderen sozialistischen Staaten, zuletztmit Albanien —, nach der ersten Kontaktaufnahme also, kommt es jetzt darauf an, die Chancen der Zeit zu erkennen. Es ist gut, daß weitere Generalkonsulate eröffnet wurden und werden, z. B. jenes in Kiew. Es ist aber noch viel erfreulicher, wenn jetzt ein deutsches Generalkonsulat im ungarischen Fünfkirchen errichtet wird, weil dieses im Hauptsiedlungsgebiet der deutschen Minderheit liegt.
Um deren kulturelle und wirtschaftliche Interessen wird es sich besonders kümmern müssen. Daß in Ungarn inzwischen auch die Errichtung von drei deutschsprachigen Gymnasien vereinbart worden ist, ist geradezu sensationell zu nennen.
Es ist ein nachahmenswertes Beispiel für eine aufgeschlossene Nationalitätenpolitik in all diesen osteuropäischen Ländern.
Hoffnungsfroh, meine Damen und Herren, stimmt es in diesem Zusammenhang, daß nicht bloß in Ungarn, sondern praktisch auch in allen anderen sogenannten Ostblockländern die kulturelle Zusammenarbeit vertieft wird. Dabei kommt dem Goethe-Institut eine Schlüsselrolle zu. War seine Gründung vor Jahren schon in Bukarest erfolgt, so ergab sich vor kurzem auch in Budapest die Möglichkeit und jetzt sogar — aus Anlaß des Bundespräsidentenbesuchs und des Besuchs des Herrn Bundesaußenministers — in Sofia.Besonders erfreulich ist es, daß beim Besuch des Bundeskanzlers in Moskau verabredet wurde, ebenfalls Verhandlungen über einen Austausch von Kulturinstituten aufzunehmen. Ähnliche Entwicklungen scheinen sich in Prag und in Warschau abzuzeichnen. Bis zur Freiheit des Geistes, wie sie bei uns selbstverständlich ist und wie sie am letzten Freitag bei der Mitgliederversammlung der Goethe-Institute in München wieder reklamiert wurde, wird zwar noch ein langer Weg sein. Doch es liegt auch an uns, es liegt auch an der Bundesregierung, wie wir „Glasnost" einfordern. Bei zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung sollten wir auch diese unsere Interessensphären deutlich mitbestimmen.
Um gleich beim Kulturaustausch mit der Sowjetunion zu bleiben: Der Bundeskanzler-Besuch in Moskau hat noch etwas gebracht, nämlich ein Dreijahresprogramm, das jährlich rund 1 000 junge Sowjetbürger zum Studium, zur Aus- und Fortbildung, insbesondere im Managementbereich, sowie zu Informationsreisen in die Bundesrepublik Deutschland einlädt. Der Haushaltsausschuß hat diese Besuchskonsequenzen voll honoriert und die erforderlichen Mittel zusätzlich eingestellt. Da wir von der Überzeugungskraft der Bundesrepublik ausgehen, halten wir den Austausch von jungen Menschen für das Wesensmerkmal von vertrauensbildenden Maßnahmen.
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Dr. RoseIch durfte dies auch als Vorsitzender der DeutschTschechoslowakischen Gesellschaft in Bayern feststellen, seit eine mit gutem Leben erfüllte Partnerschaft zwischen meiner Heimatuniversität Passau und der Alma mater in Prag besteht.Gerade deshalb und weil ich von weiteren ähnlichen Bemühungen weiß, habe ich an die Bundesregierung die Frage: Wie soll es weitergehen im Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarstaaten, soweit es die auswärtige Kulturpolitik betrifft? Gibt es schon ein abgestimmtes Konzept oder wird es bald erarbeitet, vielleicht auch in Zusammenarbeit mit den einschlägigen Parlamentsgremien, also mit dem Unterausschuß Auswärtige Kulturpolitik,
dessen Vorsitzender, Herr Professor Hornhues, in dieser Richtung sehr intensiv arbeitet? Hat die Bundesregierung, Herr Außenminister, ein zukunftsweisendes Programm für die Errichtung weiterer Goethe-Institute oder gar für die Entsendung von DAAD-Lektoren oder Deutschlehrern in unsere östlichen Nachbarstaaten?Ich muß etwas bemerken, was uns aus der Sicht des Haushaltsausschusses nicht sonderlich angenehm aufgefallen ist. Der bisherige Ablauf war immer ein unwürdiges Hinterherrennen und Gefeilsche um Planstellen. Wir wären deshalb dankbar, wenn es ein ausgewogenes und vorher abgestimmtes Konzept gäbe, um diese wesentlichen Aufgaben der künftigen deutschen Außenpolitik in einem Zug zu verwirklichen.
Denn selten gibt es so viele vielversprechende Möglichkeiten der Vertrauensbildung und der Zusammenarbeit wie auf diesem Feld.Über die osteuropäischen Länder habe ich deshalb etwas mehr gesprochen, weil hier momentan eine besondere Aufgabe ist und hoffentlich bleiben wird und vor allem die Voraussetzungen von unserer östlichen Nachbarseite getroffen werden. Das soll aber nicht bedeuten, daß wir nicht auch mit unseren westlichen Nachbarn eine ähnlich gute Zusammenarbeit auf dem Feld der gesamten Außenpolitik und besonders der auswärtigen Kulturpolitik haben. Es soll auch nicht bedeuten, daß es nicht Anforderungen gibt, um so manches Institut, so manche deutsche Schule, so manchen DAAD-Lektor beispielsweise in Spanien, wo eine zunehmende Nachfrage nach Deutsch-Unterricht zu verzeichnen ist, oder in anderen Ländern ermöglichen zu können. Wir werden ja im Zusammenhang mit dem Zusammenwachsen Europas noch besonders gefordert werden. Als wir vor kurzem mit einer Delegation in Rom waren, haben wir gehört, daß bei der Europawahl des Jahres 1984 in Italien eine Wahlbeteiligung von 80 % festzustellen war. Das zeigt, daß andere Länder auf dem Weg zu Europa gedankenmäßig vielleicht schon viel weiter vorangekommen sind und daß wir uns auch diesen Fragen besonders widmen müssen. Das geschieht unter anderem mit Institutionen, die uns helfen, diese Zusammenarbeit zwischen den Ländern zu verwirklichen.Und nun noch zu einigen weiteren Feldern, in denen die deutsche Außenpolitik dazugewonnen hat. Ich meine all jene Gebiete, in denen durch die günstige Entwicklung der internationalen Beziehungen zur Entschärfung von Konflikten beigetragen wurde. Der Haushaltsausschuß hat auch hier schnell reagiert.So wurde nachträglich ein erheblicher freiwilliger Beitrag für die internationale Hilfsaktion für die nach Afghanistan zurückkehrenden Flüchtlinge vorgesehen. Wer jemals die Problematik im pakistanischen Grenzgebiet um Peshawar in Augenschein nehmen konnte oder gar wie Kollege Peter Würtz und ich in Kabul war, wird die zusätzlichen Millionen verschmerzen. Ähnlich geht es bei den 106 Millionen DM Pflichtbeitrag für die Friedenstruppen der Vereinten Nationen im Iran-Irak-Konflikt beziehungsweise in Namibia. In Namibia zeichnet sich zwar immer noch nicht das Ende der jetzigen Lage ab, und die Verhandlungen um Angola scheinen festzustecken. Daß aber die Deutschen am ehemaligen Südwestafrika besonderes Interesse haben, versteht sich von selbst. Ein zusätzlicher freiwilliger Beitrag von 5 Millionen DM passierte deshalb den sonst so gestrengen Haushaltsausschuß.
Ich hoffe nur, daß es zu einer baldigen und echten Befriedung in Namibia kommt. Unter einer echten Befriedung verstehe ich auch die Vermeidung von Fehlern, die Notsituationen wie ein neues Flüchtlingsoder Aussiedlerproblem mit sich bringen können.
Denn dieses Schicksal, meine Damen und Herren, haben die 100 000 Weißen und darunter die 30 000 Deutschstämmigen nicht verdient.Lassen Sie uns vielmehr zusammen helfen, daß deutsche Außenpolitik ein Synonym für Friedensliebe und Friedensgarantie wird und bleibt. Dann ist jede einzelne Mark beim Auswärtigen Amt gut angelegt, und wir können dem Haushalt des Einzelplans 05 damit auch inhaltlich voll zustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lippelt.
: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch der Außenminister will heute das Geld für sein Ministerium haben. Bevor Sie es ihm hier mit Mehrheit geben — wir werden es ja nicht verhindern können — , sollte die Öffentlichkeit, sollte das Haus doch wissen, wozu er es eigentlich verwendet. Es ist nicht ganz so, wie Herr Rose sagt. Er meinte: Wir haben hier und da noch gut etwas drauf-tun können. Das ist auf der einen Seite richtig. Auf der anderen Seite muß man aber sagen: Sie werden es ihm nicht nur zur Unterhaltung von Botschaften und von Goethe-Instituten rund um die Welt geben, nicht nur zur Aufrechterhaltung der genuinen Aufgaben von Diplomatie und auswärtiger Kulturpolitik. Sie geben es ihm in steigendem Maße für Rüstungsausga-
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Dr. Lippelt
ben, die auch in diesem Einzelplan 05 wieder dick versteckt sind.Ich habe vor einem Jahr darauf hingewiesen, daß die Ausgaben für NATO-Verteidigungshilfe, für Ausstattungshilfe, für Rüstungssonderhilfe zusammen schon 10 % des Gesamtvolumens des Einzelplans 05 ausgemacht haben. In diesem Jahr ist festzustellen, daß sie trotz all dieser lobenswerten kleinen Zusatzgaben, die Herr Rose eben aufgezählt hat, inzwischen einen Anteil von fast 12 % erreicht haben, mit steigender Tendenz. Sieht man genauer hin, so erkennt man: Die Steigerung geht im wesentlichen darauf zurück, daß die Rüstungssonderhilfe mehr als verdoppelt wird. Um den Kriegsschiffbau treibenden Werften einen Auftrag von weiteren 1,15 Milliarden DM aus Griechenland zu verschaffen, wird eine verdeckte Exportsubvention von mehr als 450 Millionen DM gegeben, teils in Geld — das läuft über den Einzelplan 05 —, teils in gebrauchten Panzern und Starfightern — das läuft dann über den Einzelplan 14 —, womit Platz für neue Rüstungsaufträge im Inland geschaffen wäre.
Herr Außenminister, wir appellieren dringend an Sie: Lassen Sie diese Verfälschung der genuinen Aufgaben der Außenpolitik nicht weiter zu! Schmeißen Sie Aufgaben solcher Art aus Ihrem Einzelplan hinaus!
Wie sehr sich die Außenpolitik prostituiert, zeigt sich an einem ganz kleinen Detail. Ausstattungsbeihilfe, d. h. Hilfe zur Ausbildung und Ausstattung von Polizei in Ländern der Dritten Welt, damit dort die Regime, einerlei, wie sie aussehen, stabilisiert werden, ist bisher über den Einzelplan 05, zu einem geringen Teil auch über Einzelplan 23 abgewickelt worden. Dort beispielsweise wurde bisher die Ausstattungshilfe für Guatemala finanziert. Nun haben die Entwicklungspolitiker im vorigen Jahr zu Recht gesagt, sie wollten die Entwicklungshilfe nicht mehr durch Polizeiausbildung diskreditiert sehen. Sie haben diese Haushaltsposten bei sich herausgestrichen. Wo kommt er unter? Im Einzelplan 05: eine Steigerung von 56,5 auf 60 Millionen DM. Herr Außenminister, sollte, was der Entwicklungspolitik recht ist, der Diplomatie, der Außenpolitik nicht billig sein?
Zweitens. Vornehmste Aufgabe der Außenpolitik muß ja wohl sein — darüber werden wir uns hier im Hause alle einig sein —, das friedliche Zusammenleben der Menschen und Gesellschaften zu gewährleisten. Äußerer Friede hat den inneren Frieden zur Voraussetzung. Deshalb wird unsere Forderung an die Instrumente der Außenpolitik, an die Botschaften immer sein, sich auch um die Verwirklichung der Menschenrechte in den jeweiligen Ländern zu kümmern. Wir wissen, wie schwierig das ist, insbesondere in südamerikanischen Diktaturen oder gar in islamischen Theokratien. Trotzdem, so denken wir, muß diese Aufgabe wirklich Priorität haben vor den Aufgaben, die aus dem Bereich der Wirtschaft an die Außenpolitik herangetragen werden.
Wir GRÜNEN haben schon im vorigen Jahr statt der rund 50 Polizeireferenten an den Botschaften der Bundesrepublik die Einführung von Menschenrechtsreferenten gefordert. Die Bundesrepublik produziert Jahr für Jahr zu hohe Leistungsbilanzüberschüsse. Eine Verbesserung der Wahrnehmung von Wirtschaftsinteressen bedeutet also lediglich, daß die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte noch vergrößert werden. Eine Wahrnehmung von anderen Interessen bedeutet eine Zunahme an Schutz von Menschenrechten.Ich will das etwas konkreter machen: Wir haben in diesem Hause mehrfach sehr deutlich über die Morderei gesprochen, die sich Golf-Krieg nannte. Wir sind alle sehr froh darüber, daß der Iran und der Irak endlich den Weg zu Friedensverhandlungen finden. Wir haben aber gleichzeitig gesehen, daß das Morden im Innern weitergeht. Über den Versuch der Ausrottung der Kurden im Nordirak haben wir hier des längeren debattiert. Heute möchte ich die Verhältnisse im Iran ansprechen, und zwar, weil Sie, Herr Bundesminister, sich demnächst auf den Weg nach Teheran machen werden. Da fällt dann doch wohl folgendes auf: Während uns über amnesty international die Nachrichten von steigenden Zahlen von Hinrichtungen erreichen, begonnen im August, weitergehend bis heute, Nachrichten, die gerade dieser Tage durch einen Bericht des UNO-Beauftragten Galindo Pohl noch einmal zusammenfassend bestätigt werden, sind unsere Zeitungen voll von den Erwartungen unserer Wirtschaft. „Süddeutsche Zeitung", 11. August: „Wiederaufbau in Iran und Irak kostet Milliarden". „General-Anzeiger" : „Die deutschen Firmen in den Startlöchern". „FAZ", 14. September: „Industrie erwartet Milliardenaufträge im Iran". Auf der 14. Industriemesse in Teheran sind mehr als 70 deutsche Unternehmen vertreten gewesen. Dies findet statt, während zugleich jene Mordwelle durch die Gefängnisse des Landes geht.
Herr Außenminister, um recht verstanden zu werden, wir begrüßen, daß Sie diese Reise machen. Unsere Kriterien für die Bewertung von Erfolg und Mißerfolg in der Außenpolitik müssen und werden aber andere sein als steigende Zahlen in der Außenhandelsstatistik. Unser oberstes Kriterium muß die steigende Zahl von Entlassungen aus den Gefängnissen und das Ende der Hinrichtungen sein.
Wir GRÜNEN bringen heute parallel zur SPD einen Antrag ein, mit dem wir uns energisch für die Reform des auswärtigen Dienstes einsetzen. Ich möchte hier ganz klar sagen: Natürlich geht es auch uns um die Berücksichtigung von inzwischen immer stärker hervortretenden Benachteiligungen im Dienst im Ausland. Es wird uns aber noch mehr um eine Diskussion der inneren Reform des auswärtigen Dienstes gehen. Der auswärtige Dienst muß über die Vertretung sogenannter nationaler Interessen der Bundesrepublik
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Dr. Lippelt
hinaus, die oft nur Interessen eines Teiles der Wirtschaft sind, zur Vertretung der allgemeinen humanitären Interessen werden. Nur dann verdient er seinen Namen.Drittens. Im Abstand zweier Wochen und bei nochmaliger Lektüre und Reflexion der damals gehaltenen Reden noch einige Bemerkungen zur Moskau-Reise des Kanzlers. Der Bundeskanzler hörte sich in Moskau die Sorgen der sowjetischen Seite über die militärische und wirtschaftliche Westintegration an, die die jetzt zusammen in Angriff zu nehmende Politik gemeinsamer europäischer Lösungen in der Tat schwer behindert. Dann reist er zurück, und es geht hier weiter wie bisher.In der Nuklearen Planungsgruppe versucht man etwas hinhaltenden Widerstand gegen den sofortigen Beschluß der nuklearen Nachrüstung. In Hamburg vor der NATO-Versammlung bekräftigte man die Politik des konventionellen/nuklearen Waffenmix. So wird man in Kürze die nukleare Nachrüstung haben und sich hinter den Notwendigkeiten des weiteren Ausbaus der westeuropäischen militärischen Kooperation verstecken.Trotz all der frommen Sprüche in Fragen Ost-WestWirtschaftskooperation führt nichts an der Tatsache vorbei, daß ab 1992 in einem Gemeinsamen Markt die nationalen Produktionsinteressen der Zwölf Vorrang vor den Interessen all jener haben werden, die jenseits der Zollgrenzen stehen.Erinnern wir uns nun, daß das am meisten ins Auge fallende Ergebnis des Gemeinsamen Marktes in seiner bisherigen Form die Steigerung der Agrarproduktion zu einer Überversorgung des Marktes ist; erinnern wir uns, daß die Agrarländer Osteuropas historisch in Deutschland auch einen Absatzmarkt für ihre Agrarprodukte gefunden hatten. Wer nun die Finanz-, Verschuldungs- und Modernisierungsprobleme der osteuropäischen Wirtschaften kennt, wer dazu berücksichtigt, daß die historischen Möglichkeiten des Gebietes gerade durch Entwicklungen nach 1945 abgeschnitten worden sind, der wird verzweifeln über die Selbstgerechtigkeit, mit der man hier meint unbekümmert weiter westintegratorische Politik fortsetzen zu können, und dies geradezu noch zur Grundlage für eine darauf aufbauende Ostpolitik erklärt, so der Kollege Rühe in der letzten Diskussion. So kommt kein gemeinsames europäisches Haus zustande.Die strukturellen Probleme, die in der weiteren Herausbildung einer Wohlstandszitadelle im Westen und im Verschuldungsproblem in Osteuropa bestehen, versteht die Bundesregierung nicht politisch aufzuarbeiten. Im Gegenteil: Sie erweckt für den nachdenklichen Beobachter den Eindruck, als sei ihr dieses Gefälle durchaus recht; denn sie hat ja noch Ansprüche politischer Art, Ansprüche aus der deutschen Geschichte.Nochmals: Auch wir GRÜNEN haben solche Ansprüche. Diese Ansprüche richten sich aber auf offene, demokratische Gesellschaften. Sie lassen sich nur durch die Anerkennung des territorialen Status quo verwirklichen; alles andere wäre Abenteurerpolitik.
Deshalb jetzt meine letzte Bemerkung: Diese Problematik sammelt sich wie in einem Fokus in der Frage der deutsch-polnischen Beziehungen. Der Staatssekretär Waffenschmidt bereitet das nächste Jahr vor als ein Jahr der Feiern rund um die Uhr, der Befeierung von 40 Jahren Bundesrepublik. Herr Waltemathe hat darüber gesprochen. Wenn die Feiern so richtig auf dem Höhepunkt sind, wird man plötzlich bemerken, daß man im 50. Jahr des Überfalls auf Polen steht.Die Polen erwarten einen politischen Durchbruch. Sie haben um so mehr Recht zu dieser Forderung, als nach dem Moskau-Besuch mit der erlaubten Equipe von Vertretern der deutschen Wirtschaft das Gespenst Rapallo am Horizont aufgetaucht ist. Es wird weiter umgehen, mit jedem Tag, um den der Bundeskanzler seinen Polenbesuch weiter auf die lange Bank schiebt.
Irgendwann ab Mitte nächsten Jahres kommen wir dann in die Nähe des 50. Jahrestages des Überfalls auf Polen. Nach der Erfahrung mit der Bundesregierung in ihrem Umgang mit solchen Jubiläen kann es dann nur noch furchtbar peinlich werden.
Woran hakt es letztlich so sehr? Ist nicht auch hier ganz klar, daß der Bundeskanzler ein politisches Wort zum territorialen Status quo wird sagen müssen? Kommen nicht statt dessen stellvertretend Fragen des Einsatzes für die deutschstämmigen Polen, juristische Fragen der Namensbezeichnung und all diese Dinge so sehr in den Vordergrund, weil man Tätigkeitsnachweise braucht, um aus dem innerhalb der CDU aufgebrochenen Konflikt über die Bindewirkung der Warschauer Verträge — ja oder nein — herauszukommen?Genau da beginnen die zentralen Probleme unserer West-Ost-Beziehungen. Wir brauchen keine Integration, um dann vom sicheren Standpunkt aus Ostpolitik zu machen. Wir brauchen den Mut zum Ansatz einer West und Ost integrierenden Europapolitik. Aber dazu bedarf es einer politischen Klarheit über die Grundlage, von der man dann ausgehen kann und will, über den territorialen Status quo in Europa.An dieser Klarheit läßt es die Bundesregierung mangeln. Je länger sie sich nicht zu solcher Klarheit durchringt, um so größer wird die Gefahr, daß ein historischer Moment verpaßt wird. Denn wir können nicht mehr warten, bis irgendwo am zeitlichen Horizont die Möglichkeit der Revision des jetzigen Status quos, sprich: die Wiedervereinigung auftaucht. Die grenzübergreifenden ökologischen Probleme werden immer dringender; und sie sind grenzübergreifend. Aus Außenpolitik muß gerade hier in Europa eine ökologisch orientierte Weltinnenpolitik werden. Da bleibt keine Zeit mehr zu weiterem Warten.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Waltemathe hat in seinem Bei-
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Hoppetrag die Relativierung des Einzelplans 05 durch die Kürzung im Haushaltsgesetz beklagt, mit Recht. Dennoch muß auch dieser Einzelplan, von dem wir alle gemeinsam wissen, welche Aufgaben er hat und welcher finanziellen Unterstützung er dafür bedarf, seinen Anteil an der maßvollen linearen Kürzung in der Haushalts- und Finanzpolitik erbringen. Deshalb müssen wir das, was hier zu Recht beklagt wird, so glaube ich, auch solidarisch tragen.Nun haben Sie das Feuchtwanger-Haus in Ihrer Debatte angesprochen. Dazu kann ich nur sagen: Als ich für meine Fraktion von den Initiatoren ins Wort genommen wurde, habe ich mit Zustimmung meiner Fraktion sofort positiv darauf geantwortet und unser Engagement für dieses so wichtige, fast einmalige Objekt zugesagt. Herr Waltemathe, das Projekt soll also im gemeinsamen Zusammenwirken Wirklichkeit werden und muß daher finanziell abgesichert sein. Nur, die Durchführung ist natürlich erst dann möglich, wenn die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind. Deshalb sage ich mit Ihnen, mit allen — das gilt auch für den Kollegen Rose — ja zu dem Objekt. Aber Durchführung und Finanzierung sind, wie gesagt, erst dann möglich, wenn alle Voraussetzungen dafür vorliegen.
Herr Hoppe, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Rose?
Aber bitte, Herr Kollege. Vizepräsident Westphal: Bitte.
Herr Kollege Hoppe, stimmen Sie mit mir darin überein, daß wir, wenn ein Projekt finanziell noch nicht ganz abgesichert ist, in bezug auf die finanziellen Voraussetzungen noch ein bißchen Zurückhaltung üben, daß wir aber, wenn wir von seinem Inhalt überzeugt sind und ihm, wie geschehen, inhaltlich zugestimmt haben, grünes Licht für dieses Projekt gegeben haben?
Ich sage ja. Angesichts der in Ihrer Frage liegenden Zustimmung, die Sie hier für Ihre Fraktion ja auch noch einmal öffentlich bekunden, sind wir gemeinsam in dem Feuchtwanger-Boot. Danke an alle Fraktionen.
Ich darf aus den Beiträgen meiner Vorredner das Fazit ziehen, daß das Gesetz über den auswärtigen Dienst durch diese Debatte eine neue Schubkraft bekommen hat. Das wird dem Gesetzentwurf guttun. Wir können jetzt, so glaube ich, darauf hoffen, daß wir mit dem Entwurf auch hier im Bundestag bald zu einer weichen und für den Dienst bekömmlichen Landung kommen.
Meine sehr verehrten Kollegen, wir stehen in den Ost-West-Beziehungen gegenwärtig an einer Wendemarke. Die Gespräche des Bundeskanzlers in Moskau und die Nachbetrachtung in freundschaftlicher Atmosphäre in den Vereinigten Staaten haben dies bestätigt, wie mir scheint. Die Möglichkeiten, die die von Moskau verordnete Neuorientierung eröffnet und die von kooperativer Verständigungsbereitschaft geprägt werden soll, gilt es jetzt behutsam, aber konsequent auszuloten. Die neue Politik Generalsekretär Gorbatschows ist natürlich von sowjetischen Interessen und von inneren Zwängen beeinflußt. Sie hätte sich jedoch schwerlich ohne eine Politik des Westens, die auf Dialogbereitschaft und Vertrauensbildung setzt, entwickeln können.Oberstes Ziel unserer Politik muß die Schaffung einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in Europa sein. Zugleich müssen wir darauf drängen, weitere Abrüstungsschritte zu tun. Wir Deutschen haben auf Grund unserer Geschichte eine besondere Verantwortung für den Frieden. Unsere Politik muß deshalb aktive Friedenspolitik sein.
Aber, meine Damen und Herren, Friede ist nicht allein durch Abrüstungsvereinbarungen zu erzielen.
— Aber allein reichen sie noch nicht aus. — Deshalb will ich sagen, Karl Jaspers hatte 1958 den Dreiklang eines echten Friedens so formuliert:Kein äußerer Friede ist ohne den inneren Frieden der Menschen zu halten. Friede ist allein durch Freiheit, Freiheit allein durch Wahrheit.Um einen solchen echten Frieden zu erreichen, bedürfen wir der Friedensfähigkeit, die Regierungen ebenso wie jeder einzelne.Im Ost-West-Verhältnis zeichnen sich neue, ermutigende Entwicklungen ab. Der Dialog der Großmächte hat eine neue Qualität und eine lange nicht gekannte Dichte erreicht. Die Auswirkungen des neuen Denkens scheinen nicht ohne positiven Einfluß auf viele lange schwelende Konfliktherde zu bleiben. Vielleicht ist auch Frieden ansteckend. Ich wünsche es uns allen.
Auch für die deutsche Frage könnte dies positive Auswirkungen haben. Sie kann nur im europäischen Rahmen und im Einverständnis mit unseren Nachbarn gelöst werden. Eine dauerhafte Friedensordnung in Europa ist andererseits ohne die Lösung dieser Frage undenkbar. In dem oft zitierten gemeinsamen europäischen Haus kann es keinen Stacheldraht und keine trennenden Mauern geben.
Diese Friedensordnung wird aber keinen zuverlässigen Bestand ohne die USA und Kanada haben. Für beide wird deshalb nicht nur eine Dachkammer einzurichten sein.Ein entscheidendes Element der europäischen Friedensordnung wird aber die Europäische Gemeinschaft darstellen. Die EG hat direkte Beziehungen zu den RGW-Staaten, mit Ausnahme Rumäniens, aufgenommen. Es wird jetzt darauf ankommen, die Dynamik, die durch den Besuch des Bundeskanzlers und von Bundesaußenminister Genscher in Moskau und durch den beabsichtigten Gegenbesuch von Generalsekretär Gorbatschow in Bonn in die deutsch-sowjetischen Beziehungen gekommen ist, für weitere Fort-
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Hoppeschritte auch auf den Gebieten zu nutzen, die in unserem Interesse liegen. Die vereinbarte Ausarbeitung eines gemeinsamen politischen Dokuments für die Perspektiven der künftigen Zusammenarbeit wird hierzu Gelegenheit bieten.Die zähe Politik der kleinen Schritte hat zu Erfolgen geführt, und so war es möglich, in Moskau mehrere Abkommen zu unterzeichnen, die Berlin pragmatisch einbeziehen. Andere Abkommen — ich verweise hier insbesondere auf die beiden Schiffahrtsabkommen — sind wegen des nach wie vor bestehenden grundsätzlichen Dissenses zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland in der Berlin- und Deutschlandpolitik noch nicht zu einem Abschluß gekommen.Berlin aber bleibt für uns — Präsident Reagan hat es beim jüngsten Besuch von Bundeskanzler Kohl in Washington wiederholt — der Lackmustest der Entspannungspolitik. Berlin muß an allen Fortschritten teilhaben. Sein Potential muß in alle Verträge einbezogen werden.
Hier gilt es, Briefkästen zu öffnen, und das heißt, Moskau muß zu einer fairen Handhabung des Viermächteabkommens bereit sein. Die dogmatische sowjetische Isolationspolitik gegenüber Berlin muß in einer Phase des Friedens und der Zusammenarbeit endlich ins Frühlingserwachen mit einbezogen werden.
Wer Perestroika und Glasnost proklamiert, muß sich auch in der Berlin-Frage öffnen. Wir können uns nicht damit zufriedengeben, nur in Bereichen Fortschritte zu erzielen, die für die Sowjetunion von Interesse sind, sondern wir werden auch dort auf Verbesserungen drängen, wo es um unsere nationalen Anliegen geht. Deshalb ist es wahrlich an der Zeit, daß die Sowjetunion das absurde Theater beendet und nicht mehr behauptet, die in Berlin ansässigen. Bundesbehörden seien dort illegal. Wer die ökonomische und politische Zusammenarbeit sucht, sollte sie mit den kompetenten Fachleuten nicht nur über ihre Postfächer pflegen, sondern muß auch die Einrichtungen akzeptieren, in denen sie tätig sind.Meine Damen und Herren, Verbesserungen muß die Reformpolitik auch für die Deutschen in der Sowjetunion und in den anderen osteuropäischen Staaten bringen. Dies gilt nicht nur für die wirtschaftliche Lage, sondern auch für die Entfaltung des kulturellen und religiösen Lebens.
Seit einiger Zeit steigt die Zahl der Deutschen, denen eine Aussiedlung in die Bundesrepublik gestattet wird. Wir fordern niemanden zur Aussiedlung auf. Wir begrüßen jedoch, daß einer zunehmenden Zahl von Aussiedlungswilligen eine Übersiedlung in die Bundesrepublik ermöglicht wird. Dies ist auch ein Ergebnis unserer auf Vertrauensbildung begründeten Politik des Dialogs mit unseren östlichen Nachbarn. Die Deutschen, die erst jetzt zu uns kommen können, haben ein Anrecht auf unsere materielle und moralischeUnterstützung bei der Eingliederung in das ihnen in vielfältiger Hinsicht noch fremde Vaterland.Meine Damen und Herren, um auf dem Feld der Außenpolitik bei den immer noch bestehenden unterschiedlichen Vorstellungen die eigenen Interessen nicht zu beschädigen, bleiben alle Parteien aufgefordert, klare Positionen zu beziehen. Nur so werden wir für die anstehenden politischen Lösungen handlungsfähig bleiben.
Das Wort hat der Abgeordnete Wischnewski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die heutige Haushaltsdebatte zum Anlaß nehmen, um dem Auswärtigen Amt und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die gute Zusammenarbeit zu danken. Damit meine ich die gute Zusammenarbeit vor allen Dingen in den doch verhältnismäßig vielen Punkten, in denen es Übereinstimmung gibt.
Damit meine ich auch alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter draußen in der Welt. Nicht alle haben draußen eine schöne Aufgabe zu erfüllen.Heute besteht für mich Anlaß, Stellung zu nehmen zu den außenpolitischen Aktivitäten eines hohen Repräsentanten der Koalition, der in sehr starkem Maße der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland geschadet hat. Herr Dr. Geißler ist Generalsekretär der größten Regierungspartei. Seine Reise nach Lateinamerika muß deshalb auch unter diesem Gesichtspunkt gesehen werden, insbesondere nachdem der Herr Bundeskanzler in dieser Woche erklärt hat, Herr Dr. Geißler sei ausdrücklich auch in seinem Auftrag gereist. Dann muß hier dementsprechend die Sache behandelt werden.Wir kritisieren nicht, daß der Generalsekretär der CDU in seiner Eigenschaft als stellvertretender Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Internationale seinen politischen Freunden in Lateinamerika Unterstützung gewährt. Das möchte ich ausdrücklich sagen. Dies halte ich für einen selbstverständlichen Vorgang der Solidarität. Wir kritisieren vielmehr, daß sich Herr Dr. Geißler als einer der wichtigen Repräsentanten dieser Koalition in unverantwortlicher Weise in den schwierigen Demokratisierungsprozeß eines Landes einschaltet und dabei die unverzichtbare Solidarität der Demokraten in diesem Land gefährdet.
Wir kritisieren, wenn ein Repräsentant dieser Koalition demokratisch gewählte Präsidenten von Staaten, mit denen die Bundesrepublik Deutschland freundschaftliche und gute Beziehungen unterhält, zutiefst beleidigt und damit die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu diesen Staaten in unverantwortlicher Weise gefährdet.
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7480 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
WischnewskiWir kritisieren, daß Dr. Geißler die Lage in einem der von ihm besuchten Länder völlig falsch darstellt
und insbesondere die schweren Verstöße in diesem Land gegen die Menschenrechte zu bagatellisieren versucht.Dr. Geißler war im vergangenen Monat in Chile, in Venezuela und in El Salvador. Viele seiner Parteifreunde meinten, er hätte lieber zwischen SchleswigHolstein, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz hin- und herfahren sollen. Aber das ist nicht unsere Angelegenheit; das ist die Angelegenheit der Kollegen von der CDU. Zu diesen drei Aufenthalten muß ich ein paar Bemerkungen machen.Am 5. Oktober 1988 erreichte die Solidarität der Demokraten in Chile einen ersten Erfolg im Kampf gegen die Diktatur. Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages haben sich darum bemüht, in guter Zusammenarbeit diesen ersten Schritt des Nein zu Pinochet zu unterstützen. Aber allen war klar, daß das nur ein erster Schritt sein konnte und daß es darauf ankam, die Solidarität der Demokraten in dieser schwierigen Stunde zu erhalten. Das bedeutet, daß keinerlei Anlaß besteht, sich in unverantwortlicher Weise in schwierige personelle Fragen einzuschalten.Die Christdemokraten in Chile haben drei Kandidaten. Mir sind alle drei bekannt, Patricio Alwyn, Gabriel Valdes, Eduardo Frei. Es ist nicht die Aufgabe eines deutschen Politikers zu sagen, wer der geeignete Kandidat ist, sondern es ist die Aufgabe der gesamten Opposition, aller 16 Parteien, darum bemüht zu sein, einen gemeinsamen Kandidaten zu finden,
denn das Finden des gemeinsamen Kandidaten ist von entscheidender Bedeutung.
Herr Dr. Geißler, das möchte ich hier korrekterweise sagen, hat mir heute früh gesagt, die Berichterstattung darüber entspreche überhaupt nicht den Tatsachen. Dies war für mich Anlaß, mich vor Ort zu erkundigen. Ich möchte sagen: Dies ist mir weitgehend vor Ort ausdrücklich bestätigt worden.Es gibt eine gemeinsame Erklärung der drei Präsidenten der Internationalen, der christlich-demokratischen, der liberalen und der sozialistischen, überall dort, wo es darum geht, für die Demokratie einzutreten, zu sehen, wie man zu Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit kommt. Daran muß ich heute erinnern. Es geht nicht, meine verehrten Kollegen und Kolleginnen, um kleinkarierte parteipolitische Vorteile, es geht um die Überwindung einer Militärdiktatur, es geht um die Erreichung der Demokratie, es geht um die Solidarität der Demokraten. Es ist gut, wenn die Einigkeit, die in dieser Frage im Deutschen Bundestag bestanden hat, so schnell wie möglich im Interesse der Demokraten in Chile wiederhergestellt werden kann.
Dann war Herr Dr. Geißler anschließend in Venezuela
und hat sich in Venezuela am Wahlkampf beteiligt. Ich glaube, es ist sein gutes Recht, sich am Wahlkampf in Venezuela zu beteiligen.
Ich habe keine Bedenken dagegen. Allerdings, in welcher Art und Weise das erfolgt ist — da möchte ich sagen: Wenn man sich ernsthaft um Außenpolitik bemüht, gehört in der Tat ein bißchen mehr Fingerspitzengefühl dazu, als das Auftreten von Dr. Geißler in Venezuela gezeigt hat.
Nun aber zur entscheidenden Frage, zu seinem letzten Aufenthaltsort, zu El Salvador. Ich möchte dem Präsidenten Duarte meinen Respekt sagen, insbesondere in seiner schwierigen gesundheitlichen Lage, und ich will ihm nicht den guten Willen absprechen — das möchte ich hier ausdrücklich erklären —,
aber die Politik wird gemessen nicht an dem Wollen, sondern an den Ergebnissen. Und wie sehen denn die Ergebnisse christlich-demokratischer Politik in El Salvador aus? Die wirtschaftliche Lage in diesem Land ist katastrophal, trotz größter Hilfen von seiten der Vereinigten Staten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland. Die Christlich-Demokratische Partei ist gespalten, es gibt für die kommenden Wahlen zwei christlich-demokratische Präsidentschaftskandidaten. Im Parlament hat während der christlich-demokratischen Regierung die rechtsradikale ARENA die absolute Mehrheit gewonnen. Waffenstillstandsverhandlungen, wie sie im Abkommen von Esquipulas vorgesehen sind, finden in diesem Lande nicht statt, es gibt nicht einmal eine Vereinbarung über eine Feuerpause. Der Präsident der Menschenrechtskommission dieses Landes ist ermordet worden. Die Menschenrechte werden vielfach mit Füßen getreten. Die Todesschwadronen morden fast jeden Tag; diesen Todesschwadronen fallen fast täglich viele Menschen zum Opfer.Was sagt Herr Dr. Geißler dazu? Jetzt zitiere ich wörtlich: „Die Soldaten haben Angst und schießen halt auch; dann kommen unschuldige Menschen ums Leben. "
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer mit Menschenleben und mit Menschenrechten in derartiger Weise umgeht, der soll sich bitte nicht mehr auf das christliche Menschenbild berufen.
So kann man damit nicht umgehen!
Der Kampf für die Menschenrechte ist eine tägliche harte Auseinandersetzung, auch vor Ort, da kommt man mit einer Ansprache im Deutschen Bundestag nicht zurecht. Da gibt es viele Aufgaben in vielen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7481
WischnewskiLändern zu lösen, in dieser Hinsicht gibt es auch viele Aufgaben in El Salvador zu lösen.Und bei dieser Gelegenheit hat Herr Dr. Geißler die Präsidenten einiger Länder, mit denen wir freundschaftlich verbunden sind, aufs Tiefste beleidigt: den Präsidenten von Costa Rica, den Präsidenten von Equador, den Präsidenten von Peru und den Vizepräsidenten von Argentinien. Er hat sie „die Dreckskerle von der Sozialistischen Internationale" genannt. Wer so spricht, der fügt der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland erheblichen Schaden zu und sollte in der Tat lieber zu Hause bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Welcher Vorgang liegt dem zugrunde? Eine Delegation der FMLN, der Guerillabewegung aus El Salvador, ist durch eine Reihe von lateinamerikanischen Staaten gereist, um sie zu bitten, bei der Regierung von El Salvador für Waffenstillstandsverhandlungen einzutreten, um den Krieg zu beenden, wie sie im Vertrag von Esquipulas vorgesehen sind, aber leider nicht durchgeführt werden. Dabei beruft er sich auch darauf, daß u. a. der Comandante Villalobos empfangen worden ist. Ich würde dringend empfehlen, sich einmal dessen Lebensweg anzuschauen. Villalobos war christlich-demokratischer Studentenführer an der Universität von Salvador. Und weil er verzweifelte, weil auf seinem Weg die soziale Gerechtigkeit nicht zu erreichen ist, ist er nun diesen Weg gegangen, wie z. B. die Kinder des von mir hochgeschätzten christlich-demokratischen Politikers Morales Ehrlich eine Zeitlang bei der FLMN waren. Man sollte vorsichtig sein und nicht nur in Schwarz-Weiß malen,
sondern sollte sich die Situation so anschauen, wie sie ist.Übrigens, bei dieser Gelegenheit möchte ich folgendes sagen: Auch der von mir hochgeschätzte — ich hoffe auch von Ihnen hochgeschätzte — Erzbischof von San Salvador hat die Leute der FLMN empfangen und hat mit ihnen Gespräche geführt. Ich darf daran erinnern, daß sein Vorgänger ermordet worden ist.Wenn ich dieses hier sage, dann aus dem einfachen Grunde, weil wir Außenpolitik so bitte nicht machen können. Herr Dr. Geißler ist nicht irgendein Privatmann,
sondern er trägt auch besondere Verantwortung für diese Koalition.Mir geht es darum, daß wir uns alle gemeinsam darum bemühen, in diesen Ländern für die Wiederherstellung des Friedens, für die Herstellung oderWiederherstellung der Demokratie und für die Wahrung der Menschenrechte auch unter schwierigsten Umständen einzutreten. Da sollten wir auch unter uns zur Zusammenarbeit bereit sein und sollten nicht glauben, wir werden viel gewinnen, wenn wir unseren parteipolitischen Streit statt hier draußen in der Welt austragen.Ich bedanke mich sehr herzlich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Stercken.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf mich zunächst einmal an den Kollegen Wischnewski wenden. Er weiß, daß die Reise einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses auf meine Veranlassung schon im Mai entschieden worden ist, daß wir lange vorgeplant haben, weil wir glaubten, daß ein solcher Beweis der Solidarität deutscher Demokraten angesichts der zu vermutenden Situation in Chile der konstruktivste Beitrag sein könnte, den wir zu leisten vermöchten.
Ich habe auch als Präsident des Interparlamentarischen Rates dafür sorgen können, daß fast alle parlamentarischen Delegationen, die Sie in Chile getroffen haben, auf diese Weise ermutigt werden konnten, dies zu tun.Ich sage dies, weil ich in diesem Augenblick auf die Fülle der Vorhaltungen und Überlegungen, die Sie hier vorgetragen haben, nicht eingehen kann. Ich bin der Meinung, daß der Auswärtige Ausschuß, der diese Debatte schon begonnen hat, sie gemeinsam mit Herrn Dr. Geißler, der unserem Ausschuß angehört, führen sollte. Ich werde ihn bitten, dies zu tun. Dies scheint mir eine Chance zu sein, den Dialog zu versachlichen. Ich möchte das jetzt hier nicht mit einigen Worten abwürgen, zumal Sie Ihre Überlegungen auch auf andere Länder bezogen haben.Ich wollte hier zum Haushalt reden, meine Damen und Herren, zu einem Haushalt, mit dem Außenpolitik in diesem Lande erst ermöglicht wird. Ich habe mir deshalb die folgende Frage gestellt: Auf welche Übereinstimmungen bezieht sich die Außenpolitik, die wir mit dieser Finanzierung ermöglichen wollen? Es wäre verhältnismäßig leicht, wenn ich mich dabei auf eine internationale Übereinstimmung beziehen könnte; denn keines der Länder, mit dem ich mich gleich beschäftigen will, hat irgendwelche Vorbehalte gegenüber den Grundsätzen der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland angemeldet. Ich finde, daß das in einem Augenblick außerordentlich wichtig ist, wo sich dieses Parlament mit der Frage beschäftigt, inwieweit Übereinstimmungen in fundamentalen außenpolitischen Fragen es diesem Staat erleichtern, eine Politik, die hier als Friedenspolitik, als Politik der Entspannung qualifiziert worden ist, zu betreiben.Ich verbinde dies wie Sie mit dem Dank an alle diejenigen, die draußen nicht nur ihre Pflicht tun, sondern die sich bei unseren zahlenmäßig teilweise nicht allzu schwachen Besuchen auch als unsere Gastgeber
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7482 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. Sterckenbezeichnen dürfen. Wir haben, glaube ich, dies in diesem Geschäftsjahr in sehr extensiver Weise ausgenutzt. Herr Bundesminister des Auswärtigen, wir kennen Ihren Erlaß an die Missionen, mit Parlamentariern besonders pfleglich umzugehen. Es ist Ihnen gelungen, Ihre Mitarbeiter davon zu überzeugen.
Leider ist die Bewertung, die die deutsche Außenpolitik erfährt, mit Erwartungshaltungen an sie, an uns alle verbunden, denen wir kaum in dem Umfang, in dem dies zu erkennen ist, Rechnung tragen können. Ich möchte auch dies als eine kleine Fußnote anfügen, denn die Überlegungen, was Deutsche zu internationaler Politik beitragen könnten, gehen weit über die Möglichkeiten hinaus, über die wir tatsächlich verfügen.Ich darf meiner Freude Ausdruck geben, daß gerade im deutsch-amerikanischen Verhältnis eine Kontinuität deutlich geworden ist. Die Gespräche, die schon mit dem gewählten Präsidenten Bush geführt worden sind, haben zu dem Ergebnis geführt, daß die Einstellung der Amerikaner zur Allianz, speziell auch zu der Rolle der Deutschen in der Allianz, zum KSZE- Prozeß, zur Abrüstung sich nicht geändert hat, sondern in der Person von Präsident Bush, glaube ich, auch vom persönlichen Umgang her eine besonders große zusätzliche Glaubhaftigkeit erfahren hat. Die Politik mit ihm ist im Bündnis und im Verbund der Bereiche zu gestalten, in denen wir auf Abrüstungsentscheidungen hoffen.Daß für uns auf Grund der gegebenen Machtverhältnisse der konventionelle Bereich die größte Disparität aufweist, verursacht eben, daß wir uns nun nicht in Teilbereichen separaten Überlegungen hingeben können, sondern daß wir alles immer im Zusammenhang, so wie es die Amerikaner gerade wieder deutlich gemacht haben, mit der konventionellen Überrüstung sehen müssen. Auch Betrachtungen, die heute hier angestellt werden, beschränken sich auf bestimmte Rüstungsbereiche und vergessen, daß es zwischen allen diesen Bereichen einen inneren Zusammenhang gibt, daß bestimmte, teilweise nicht so sonderlich populäre Maßnahmen im Rüstungsbereich eben erst dadurch erforderlich geworden sind, daß sich die Sowjetunion im konventionellen Bereich eine so gewaltige und durch nichts zu rechtfertigende Überrüstung zugelegt hat.Ich empfehle daher, wie schon Herr Dr. Dregger am heutigen Morgen, Standhaftigkeit und Entschlußkraft in diesen beiden Bereichen, gewitzt durch unsere Erfahrungen im Mittelstreckenbereich. Dies ist angebracht, um weiterhin — wie ich hoffe, in unser aller Namen — erfolgreich zu sein.
Ich möchte im Hinblick auf die Amerikaner noch einen Gedanken hinzufügen dürfen, der heute morgen auch schon zum Ausdruck gekommen ist, als Graf Lambsdorff von der „Trutzburg Europa" sprach. Dies ist — wie jeder weiß, der im Augenblick in den Vereinigten Staaten Diskussionen führt — ein ganz zentrales Thema und für die Amerikaner eine gewaltige Sorge, die sie gegenüber dem Binnenmarkt entwikkeln. Wir haben alle Veranlassung, auch in unseren parlamentarischen Gesprächen, unseren amerikanischen Freunden deutlich zu machen, daß von der Bundesrepublik Deutschland solche protektionistischen Überlegungen keine Unterstützung erfahren.Das Urteil über unsere Beziehungen zur Sowjetunion ist auch in der heutigen Debatte schon verhältnismäßig einheitlich ausgefallen, so daß ich mir ersparen kann, es, wie ich es beabsichtigte, zu qualifizieren.Aber lassen Sie mich doch einen Gedanken einfügen, Herr Kollege Hoppe, weil auch Sie die Frage des gemeinsamen Hauses hier eben aufgegriffen haben. Wir sollten, um die eigenen Leistungen nicht unter den Scheffel zu stellen, die Ausdehnung eines Begriffs auf Gesamteuropa als Anspruch anstreben, mit dem wir außerordentlich erfolgreich gewesen sind, nämlich dem einer Friedensordnung, die wir uns im Rahmen der europäischen Union gegeben haben. Wenn man sagt, wir müßten etwas Neues schaffen, damit Staaten im Frieden miteinander leben könnten, dann, glaube ich, darf ich Sie daran erinnern, daß wir dies schon zwischen Ländern zu leisten vermochten, die vor etwas mehr als vier Jahrzehnten noch miteinander in Kriege verwickelt waren.Die europäische Friedensordnung ist nicht ein Phantom, sondern sie ist etwas, was wir schon heute zwischen zwölf und möglicherweise später zwischen weiteren europäischen Staaten miteinander pflegen.
Wir werden in diesen Tagen von vielen aufmerksamen und sachkundigen Beobachtern gemahnt, die Entwicklung in der Sowjetunion zwar mit großen Erwartungen und Hoffnungen zu verbinden, aber dabei den kühlen Verstand nicht zu verlieren. Zu diesen Mahnern gehört Leszek Kolakowski, dessen Kenntnisse und dessen Erfahrungen wir in diesem Bereich ja schon wiederholt in Anspruch genommen haben.Zu der Wirtschaft, die andauert, sagt er: „Wenn man den Markt abschafft und Preise ,plant', kennt am Ende niemand mehr den wirklichen Wert einer Ware. " Dies bleibt als Qualifikation des Marxismus-Leninismus bestehen. Mit ihm kann man einem solchen System keine Effektivität verleihen.An anderer Stelle finden wir eine etwas marginale Anmerkung: „Dort, wo niemand ein Kopiergerät ohne Sondergenehmigung benutzten darf, ist der Fortschritt der Wissenschaft lahmgelegt. " Auch hier ist uns deutlich: Es handelt sich um das System, das zu ändern wäre, wenn es zu größerer Effektivität kommen sollte.Aber schließlich und endlich sagt er dann: „Mögen die Reformen noch so halbherzig sein, sie haben Kräfte freigesetzt, die über die Absicht der Herrschenden hinausgehen. " Hier, meine ich, ist an uns alle die Frage gestellt, die wir sicherlich auch in unserer Ausschußarbeit noch intensiver bedenken wollen: Welche Auswirkungen hat das alles für die Beziehungen der Sowjetunion zu den Staaten des Warschauer Paktes, etwa zur DDR?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7483
Dr. SterckenIch gestehe Ihnen, daß ich gelitten habe, als an der Brust Ceausescus der Karl-Marx-Orden prangte.
Ich kann in diesem Augenblick nicht verstehen, daß ein Deutscher Veranlassung sieht, Präsident Ceausescu auszuzeichnen. Ich leide darunter, daß seine Systematisierungspolitik keine Interpretation erfahren hat, die die Menschen, die im Lande leben, von ihren Sorgen befreit. Es geht nicht darum, Parlamentarier davon zu überzeugen, daß sie meinen, das würde alles so nicht kommen, sondern es geht darum, daß sich die Menschen zu Zehntausenden in Bewegung setzen, weil sie das Vertrauen zu ihrer Regierung verloren haben.
Ich denke auch an die Auswirkungen, die die Entwicklung in der Sowjetunion etwa für die Lebensverhältnisse der deutschen Minderheit in der Sowjetunion haben könnte.Ich frage mich, Herr Kollege Wischnewski, ob wir nicht gut beraten wären, die Einheit der Demokraten nicht nur in Chile zu demonstrieren, sondern beispielsweise auch einmal das gemeinsame Interesse des Deutschen Bundestages an Kasachstan zu bekunden und mit einer Delegation die Verhältnisse der Deutschen dort zu untersuchen.
Ich bitte also, einmal zu bedenken, ob nicht auch die Parlamentarier einen konkreten Beitrag leisten können, um die Politik der Bundesregierung in dieser Frage zu unterstützen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Professor Ehmke?
Bitte schön.
Würden Sie es als Zeichen der Zustimmung zu dem auffassen, was Sie gesagt haben, wenn ich Ihnen mitteile, daß eine Delegation unserer Fraktion noch in diesem Jahr nach Kasachstan fahren wird?
Ich bin darüber nicht unterrichtet gewesen. Aber im Sinne des Plädoyers von Herrn Kollegen Wischnewski wäre es vielleicht bedenkenswert, hier die Solidarität der Demokraten einzusetzen, wenn es um die Wahrung solcher Interessen geht. Ich schließe mich ja solcher Argumentation an, wie Sie sehen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Voigt?
Bitte schön.
Herr Stercken, da ich diese Delegation leiten werde,
möchte ich Ihnen und den anderen Kollegen aus der CDU/CSU und auch der FDP anbieten, Sie vorher über das Ziel unserer Reise und unsere Kontaktpersonen zu unterrichten. Ich möchte Sie fragen, ob Sie dieses Angebot annehmen und ob wir gegebenenfalls auch Anregungen von Ihrer Seite mit aufgreifen können.
— Die GRÜNEN sind natürlich eingeschlossen.
Wir sind ja in den nächsten Tagen durch permanente Abstimmungen gehalten, in Bonn zu verweilen. Wir können diese Zeit sicherlich nutzen, um Ihre Anregungen und Überlegungen zu bedenken.
Herr Abgeordneter, es gibt noch jemanden, der eine Zwischenfrage stellen will, den Abgeordneten Schäfer.
Ich sehe, meine Redezeit läuft schon auf Null zu, Herr Präsident.
Ich gestehe Ihnen noch eine zusätzliche Minute zu. Aber es interessiert uns alle, was von da drüben kommt.
Bitte, Herr Kollege Schäfer.
Herr Kollege Stercken, sind Sie mit mir nicht der Meinung, daß es erfreulich ist, daß die SPD nach Kasachstan fährt, nachdem die deutschsowjetische Parlamentariergruppe bereits vor zwei Jahren dort gewesen ist? Ich bin sehr erfreut darüber.
Die Antworten können kurz sein. Aber Sie haben noch eine Minute Redezeit.
Sie sehen, wenn man einmal eine gute Idee in dieses Hohe Haus bringt — —
Das Licht leuchtet jetzt auf. Darf ich annehmen, daß ich jetzt noch zwei Minuten Redezeit habe?
Sie können noch eine Minute weitersprechen.
Also habe ich jetzt noch zwei Minuten.Ich wollte gerade darauf eingehen, wie die interparlamentarische Zusammenarbeit angesichts der bevorstehenden Beratung der Zusatzabkommen zum deutsch-französischen Vertrag erfolgen kann. Heute mittag haben die Berichterstatter aus der Assemblée Nationale und aus dem Deutschen Bundestag über ihre Berichterstattung in beiden Parlamenten am 1. Dezember 1988 nachgedacht. Wir werden die gegenseitigen Argumente in die Berichterstattung der jeweiligen Häuser einbeziehen.Ich muß leider zum Schluß kommen. Ich bitte Sie, bei den Einlassungen zur Außenpolitik, zu dem Haushalt, der jetzt zur Erörterung steht, deutlich zu machen, daß nicht nur Sozialpolitik Politik für den Menschen ist. Außenpolitik — das ist besonders in den
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7484 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. SterckenEinlassungen zum Ausdruck gekommen, die sich mit den Rechten der Menschen als einer zentralen Aufgabe für Außenpolitik befaßt haben — ist eine Politik für den Menschen, die seine existentiellen Bedürfnisse vorab sichern muß. Ich erkenne darin nicht — um wieder auf eine aktuelle Vorhaltung einzugehen — eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten.Meine Damen und Herren, halten wir das in diesem Bundestag fest: Wenn wir uns mit den Menschenrechten auf diesem Planeten beschäftigen, ist das nicht eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten irgendeines Landes, mit dem wir die Beziehungen auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen und der Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen unterhalten.
Außenpolitik dient also dem Menschen — sagen wir das immer —, dient dem Frieden der Menschen, dient ihrer Freiheit, dient ihrem Wohlstand. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie einem Haushalt zu, der es ermöglicht, dem Dienst an dieser schweren Aufgabe gerecht zu werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Verheugen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wäre verführerisch, sich jetzt am Wettlauf nach Kasachstan zu beteiligen.
Aber ich will das nicht tun, sondern mich noch einmal mit der Frage beschäftigen, wie es eigentlich um das Instrument unserer Außenpolitik, nämlich den auswärtigen Dienst, bestellt ist. Selbst die beste Außenpolitik, wenn wir sie denn hätten, braucht ja ein Instrument zu ihrer Realisierung. Und je wichtiger die Außenpolitik eines Landes ist — ich denke an unsere Situation; wir sind ein Land mit großen sicherheitspolitischen und wirtschaftspolitischen Interessen außerhalb der eigenen Grenzen; da ist die Außenpolitik von allergrößter Bedeutung — um so wichtiger ist eben auch das Instrument.
Nun haben wir seit 20 Jahren eine Diskussion darüber, daß dieses Instrument, nämlich der auswärtige Dienst der Bundesrepublik Deutschland, reformbedürftig ist. Wir stellen seit 20 Jahren die Frage, ob dieser Dienst mit seinen hohen Belastungen für die Bediensteten und ihre Familien heute noch die gut qualifizierten und einsatzbereiten jungen Menschen für sich gewinnen kann, auf die er bei der Erfüllung seiner Aufgaben angewiesen ist.
Wir haben eine ganze Reihe von negativen Erfahrungen sammeln müssen,
zumal in der vergangenen Legislaturperiode. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen — im Auswärtigen Ausschuß alle — sind jetzt zu dem Ergebnis gekommen, daß die Reform des auswärtigen
Dienstes nur noch durch einen Eingriff des Gesetzgebers verwirklicht werden kann. Das ist eine Auffassung, der sich nach langem Zögern, das ich verstehen kann, auch der Bundesaußenminister angeschlossen hat. Ich muß allerdings fragen, ob dieses Gesetzgebungsvorhaben in den letzten beiden Jahren mit dem notwendigen Nachdruck betrieben worden ist.
Sie hatten, Herr Bundesminister, in der Debatte über die Regierungserklärung am 20. März 1987 dieses Gesetz angekündigt. Wir haben nun den konkreten Schritten erwartungsvoll entgegengesehen. Wir haben bereits in der Haushaltsdebatte des vergangenen Jahres das Gesetz angemahnt; das hat auch Frau Kollegin Dr. Hamm-Brücher getan. Der Auswärtige Ausschuß hat die Bundesregierung am 2. Dezember 1987 aufgefordert, den Entwurf bis Ende März 1988 vorzulegen.
Der Bundeskanzler hat uns im Februar 1988 im Auswärtigen Ausschuß eingeräumt, das sei nun eine Chefsache und liege bei ihm; er werde es in Angriff nehmen. Da haben wir alle angenommen, er meinte Ostern 1988 und nicht Ostern 1989. Wir müssen den Bundeskanzler nun dringend auffordern, seine Richtlinienentscheidung, die er uns angekündigt hat, nun endlich auch mit Nachdruck in die Tat umzusetzen.
Die Bundesregierung darf sich nicht darauf verlassen — —
Herr Kollege, Sie gestatten eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Geiger?
Sehr gerne.
Bitte schön, Frau Geiger.
Herr Kollege Verheugen, könnten Sie mir vielleicht Auskunft darüber geben, wie Ihre Innenpolitiker über das Gesetz denken?
Ja, das kann ich sehr gerne tun. Im weiteren Verlauf, Frau Kollegin, werde ich die Grundlinien darlegen, die in der Bundestagsfraktion der SPD einstimmig — mit Zustimmung der Innenpolitiker und nicht zuletzt der Haushaltspolitiker — beschlossen worden sind.
Sonst würde ich hier nicht so fröhlich stehen, wie ich das im Augenblick kann, wenn wir das nicht so hätten.
Also, wir werden uns auch nicht — das wollte ich sagen — mit irgendeinem Gesetz zufriedengeben dürfen, vielleicht einem, in dem sich die beteiligten Ressorts auf den allerkleinsten gemeinsamen Nenner einigen und sich so aus der Affäre ziehen. Vielmehr brauchen wir ein Gesetz, das eine umfasende und solide Grundlage für den auswärtigen Dienst ist, eine Zusammenfassung und Bereinigung aller wesentli-
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Verheugenchen, für die Praxis des auswärtigen Dienstes wichtigen auslandsbezogenen Vorschriften.Und wenn die zeitliche Verzögerung etwas Gutes hatte, dann eben das, daß wir uns damit noch einmal intensiv befassen und deutlicher machen konnten, daß es gar nicht darum geht, das deutsche Beamtenrecht hier für den Auslandsdienst auf den Kopf zu stellen. Es geht vielmehr darum, die allgemeinen Prinzipien des Dienstrechts in ihrer ganzen Tragweite endlich auf den gesamten auswärtigen Dienst anzuwenden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Esters?
Ich muß auch mal nach links sehen, ja.
Bitte schön, Herr Esters.
Herr Kollege Verheugen, würden Sie mir bestätigen, daß wir uns in der Meinung einig sind, daß wir ein Gesetz über den auswärtigen Dienst haben wollen, daß dies aber kein Besoldungserhöhungsgesetz sein kann?
Ja. Ich darf den Herrn Kollegen darauf aufmerksam machen,
daß, da ich ausnahmsweise ein Manuskript vor mir liegen habe, auf einer der kommenden Seiten steht: Wir wollen kein Besoldungsgesetz machen, sondern ein Reformgesetz. Ich komme noch zu diesem Punkt.
Das Auswärtige Amt hat uns im vergangenen Jahr eine Dokumentation zur Verfügung gestellt, die von Abgeordneten einer Koalitionsfraktion bestellt worden war, und zwar über die Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen dem Bundesinnenministerium und dem Auswärtigen Amt bei der Regelung der auslandsdienstbezogenen Fragen.Ich muß sagen: Die Auflistung des Ressortverkehrs mit sehr beeindruckenden und nicht widerlegten Zitaten bringt mich zu folgendem Urteil: Das Bundesinnenministerium ist offenbar nicht fähig oder nicht bereit, die Besonderheiten des auswärtigen Dienstes zu erkennen und entsprechend zu handeln. Diese Dokumentation zeigt, daß — aus welchen Gründen auch immer — der Bundesminister für Verfassung und effiziente Verwaltung nicht einmal in seinem eigenen Haus ein ordnungsgemäßes Verwaltungsverfahren durchsetzen konnte.
Das ist nicht nur der übliche Kleinkrieg zwischen zwei Bundesressorts — dann wäre es uns ja egal —, sondern das ist ein Kleinkrieg, der auf dem Rücken der Bediensteten ausgetragen wird, und zwar mit Folgen, die im Einzelfall geradezu erschütternd sind — wir haben darüber ja im Ausschuß gesprochen. Das läßt allerschwerste Zweifel aufkommen, ob derDienstherr seine Fürsorgepflicht überhaupt erfüllen will.Im Verlauf des Entscheidungsprozesses innerhalb der Bundesregierung sind unter Berufung auf Experten des Bundesinnenministeriums Veröffentlichungen erschienen, die die alten Klischees vom Cocktail-Diplomaten beleben wollten und mit unvollständigen Besoldungsdaten Stimmung gemacht haben.Dem ist zweierlei entgegenzuhalten. Erstens: Die Mehrzahl der Dienstorte im Ausland ist nicht von Cocktailparties oder Golfspielen oder so etwas geprägt, sondern von Lebensbedingungen, die besonders für Familien mit Kindern außerordentlich hart sind. Sie brauchen ja bloß an die Krisen- und Notstandsgebiete in der Welt zu denken. Zweitens: Die Mehrzahl der Bediensteten im Ausland gehört nicht zu den oberen Rängen der Diplomatie, und gerade im mittleren und gehobenen Dienst sind die Belastungen oft extrem.Wir jedenfalls wollen dieses Spiel zwischen den zwei Häusern nicht länger mitmachen. Wir wollen uns nicht noch jahrelang mit Unklarheiten auseinandersetzen, sondern wir wollen jetzt Klarheit darüber, ob uns die Bundesregierung ein Gesetz vorlegen wird, das klare Zweckbestimmungen und Bemessungskriterien schafft und dafür sorgt, daß die gesetzlichen Vorgaben dann in der sachnäheren Kompetenz des Auswärtigen Amtes ausgeführt werden.Die Diskussion über die Reform des auswärtigen Dienstes ist alt und hat in den Ergebnissen bisher nicht sehr weit geführt. Wenn wir jetzt ja wohl in allen Fraktionen zu der Meinung gekommen sind, wir brauchen das, so möchte ich klarstellen, daß dies keine Diskussion sein darf, die sich auf Besoldungsfragen reduziert. Es geht nicht um ein Besoldungsgesetz, sondern darum, daß eine flexible, an den tatsächlichen Problemen orientierte Regelungsbefugnis für das Auswärtige Amt selbst geschaffen wird.Wer die heutige Praxis an den Auslandsdienstorten untersucht, muß zu dem Eindruck kommen, daß unsere Auslandsvertretungen in Absurdistan liegen. Dieser Dienst ist im Vergleich zu anderen Ländern mit ähnlicher Bedeutung und ähnlichen Interessen personell nicht üppig ausgestattet. Da sollten die Bediensteten ihre Zeit nicht mit völlig überflüssigen bürokratischen Tätigkeiten vertun müssen.Der entscheidende Unterschied zwischen der Tätigkeit im auswärtigen Dienst und der Tätigkeit in allen anderen Behörden liegt darin: Der auswärtige Dienst verlangt von seinen Angehörigen und deren Familien die Bereitschaft zur Tätigkeit im Ausland während des gesamten Berufslebens und zum häufigen Wechsel der Dienstorte zwischen Ausland und Inland oder auch nur im Ausland. Das gibt es sonst nirgendwo. Daraus ergeben sich gerade für die Frauen und die Familien besondere Belastungen, die geregelt werden müssen.Es ist doch ein Unding und hinkt unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit meilenweit hinterher, daß der Ehepartner eines Angehörigen des Auswärtigen Dienstes auf seine eigene Berufstätigkeit verzichten muß, wohl aber als unbezahlte Hilfskraft für die Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen
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Verheugenwird, dafür nicht bezahlt wird und dabei nicht einmal sozial gesichert ist.
Ich bedaure, daß es nicht möglich war, daß alle Fraktionen zu dieser Debatte einen gemeinsamen Antrag eingebracht haben, der nicht nur die Forderung nach dem Gesetz erhebt, sondern bereits die Grundlinien dieses Gesetzes darlegt. Der Gang unserer Initiative in den beiden Regierungsfraktionen läßt mich für den weiteren Gang der Geschäfte nur Böses ahnen. Ich kann Sie, Herr Bundesaußenminister, nur dringend bitten, all Ihren Einfluß geltend zu machen, das Gesetz so einzubringen und durchzubringen, wie es die Ihrer Obhut anvertrauten Bediensteten brauchen.Wir werden uns, Herr Bundesminister, bei der heutigen Abstimmung der Stimme enthalten. Verstehen Sie das als eine Art Bewährungsauftrag, wobei das Gesetz für den auswärtigen Dienst für künftiges anderes Verhalten keine allein hinlängliche, aber eine notwendige Bedingung ist.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe Anlaß, mich bei dem Hohen Hause, bei allen Fraktionen und auch beim Auswärtigen Ausschuß und beim Haushaltsausschuß dafür zu bedanken, daß in der Vorbereitung dieses Haushalts für das Jahr 1989 ein so hohes Maß an Verständnis für die Belange des auswärtigen Dienstes, vor allen Dingen für die Mitarbeiter und ihre Sonderbelastungen deutlich geworden ist. Ich sehe darin eine Anerkennung der Arbeit meiner Mitarbeiter. Ich sehe darin aber auch eine Anerkennung der Lasten, die die Familien, die Ehegatten und die Kinder, im auswärtigen Dienst zu tragen haben.Wir haben schon in den letzten Jahren durch eine Reihe von Verbesserungen Schritte für eine umfassende Reform des auswärtigen Dienstes vorwegnehmen können. Auch das wäre ohne eine breite Unterstützung nicht möglich gewesen. Aber es bleibt das Ziel, das Gesetz über den auswärtigen Dienst zu schaffen. Es ist natürlich ein hohes Maß an Befriedigung im auswärtigen Dienst festzustellen, daß die Bundesregierung in ihrer Absicht, dieses Gesetz in dieser Legislaturperiode nicht nur vorzulegen, sondern auch zur Verabschiedung zu bringen, auf die Unterstützung aller Fraktionen rechnen kann.
Meine Damen und Herren, wir wollen bei der Vorlage dieses Gesetzes in der Tat nicht eine Sonderbesoldungsordnung für den auswärtigen Dienst schaffen, sondern ein Gesetz, das den spezifischen Belangen der im auswärtigen Dienst Beschäftigten gerecht werden kann und das im übrigen unbürokratisch Regelungen ermöglicht, wo heute noch ein großer bürokratischer Aufwand nötig ist. Ich habe bei Ihnen, Herr Kollege Verheugen, festgestellt, daß Ihre Tätigkeit im Auswärtigen Amt noch immer eine nachfolgende positive Wirkung hinterlassen hat.
Meine Damen und Herren, wir werden die Reform der Arbeit im auswärtigen Dienst nicht nur als eine nationale Aufgabe ansehen, sondern wir wollen gleichzeitig in enger Zusammenarbeit mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft dafür sorgen, daß wir auf der einen Seite effektiver, auf der anderen Seite aber auch fürsorglicher für unsere Mitarbeiter tätig sein können. Ein guter Anfang ist die Zusammenarbeit zwischen den auswärtigen Diensten der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs.
Wenn wir als eine Art Pilotprojekt demnächst zwei Botschaften errichten werden, die gemeinsame Botschaften der Bundesrepublik und Frankreichs sind, dann ist das nicht nur als eine Rationalisierungsmaßnahme zu verstehen, sondern auch als ein neues Verständnis in gemeinsamer Interessenwahrnehmung von Nachbarn und europäischen Partnern.Ich komme damit zu einem Thema, das heute durch fast alle Reden hindurchgegangen ist, nämlich zum Thema Europa. Es kann auch gar nicht anders sein, daß die Entwicklung in Europa unsere Öffentlichkeit und damit das Parlament als Ort der Aussprache über die Probleme unseres Landes zunehmend beschäftigt. Die Herstellung des europäischen Binnenmarktes — darauf hat Herr Kollege Stercken zu Recht hingewiesen — stellt viele Fragen für unsere Partner in der Weltwirtschaft. Die Hauptfrage, die überall gestellt wird, ob in Washington oder Tokio, ob in Moskau oder in Entwicklungsländern, ist: Wird sich diese Europäische Gemeinschaft bei Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes nach außen stärker abschließen? Wird sie offenbleiben, oder wird sie, was ich für wünschenswert halte, noch offener werden, weil niemand mehr als sie selbst auf Offenheit angewiesen ist?
Ich glaube, daß wir mit guten Gründen sagen können: Diese Gemeinschaft wird offener sein.Aber wir sollten uns davor hüten, anzunehmen, daß wir die Zukunftsprobleme unserer Europäischen Gemeinschaft nur dann lösen könnten, wenn wir ausschließlich den Binnenmarkt im Auge hätten. Zum Binnenmarkt gehört auch der gemeinsame Technologieraum; denn wir werden das Maß an sozialen Leistungen und das Maß an Verantwortung gegenüber den Staaten der Dritten Welt, das an uns zu Recht angelegt wird, nur dann erfüllen können, wenn unsere Europäische Gemeinschaft durch gemeinsame Nutzung aller technologischen und wirtschaftlichen Ressourcen Spitze im weltweiten Wettbewerb bleibt. Deshalb ist die Herstellung des gemeinsamen Technologieraums eine notwendige Ergänzung zum Binnenmarkt, ja eigentlich ein integraler Bestandteil dieses Binnenmarktes.Hierher gehört auch, Frau Kollegin, was Sie heute in der Aussprache über den Haushalt des Bundeskanzlers zum Ausdruck gebracht haben, die Schaffung eines europäischen Sozialraumes. Diese Europäische
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Bundesminister GenscherGemeinschaft versteht die Bundesregierung nicht als eine Rückschrittsgemeinschaft, sondern als eine Fortschrittsgemeinschaft. Die Bundesregierung wird sich nicht daran beteiligen, wenn irgend jemand auf die Idee käme, bei Gelegenheit des gemeinsamen Binnenmarktes oder des gemeinsamen Sozialraumes Europa soziale Errungenschaften in der Bundesrepublik Deutschland rückgängig zu machen.
Dabei wissen wir, meine Damen und Herren, daß wir hier vor großen gesellschaftlichen Problemen stehen, die nicht Probleme sind, die allein in den Ministerräten zu entscheiden sind, und die nicht Probleme sind, die allein im Europäischen Parlament zu entscheiden sind. Die Haltung der europäischen Gewerkschaften z. B. zu den Fragen der Übernahme von Mitverantwortung im betrieblichen Bereich und gesamtwirtschaftlich ist gänzlich unterschiedlich, so daß die Frage der Mitbestimmung auch ein Thema der Diskussion der gesellschaftlichen Kräfte in der Europäischen Gemeinschaft sein wird. Die Bundesregierung wird an dem festhalten, was an Mitbestimmung bei uns geschaffen worden ist. Aber wir können nicht damit rechnen, daß die Vertreter der Arbeitnehmer in allen Staaten der Europäischen Gemeinschaft dieselbe Haltung zur Mitbestimmung einnehmen, wie sie bei uns von beiden Sozialpartnern heute eingenommen wird.
Herr Minister, Sie gestatten eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Wieczorek-Zeul. — Bitte schön.
Ich möchte nachfragen, welche Haltung die Bundesregierung im Ministerrat am 18. November 1988 zu dem Statut einer europäischen Aktiengesellschaft und zur Sicherung der Mitbestimmung bezogen hat. Daß die anderen andere Positionen haben, ist bekannt.
Frau Kollegin, wir werden uns dafür einsetzen, daß das, was wir im deutschen Recht erreicht haben, nicht aufgegeben werden muß. Wir haben nicht die Mehrheit im Ministerrat, und wir können auch nicht die Einheit der gewerkschaftlichen Auffassungen in den verschiedenen Staaten der Europäischen Gemeinschaft herstellen.
Diese Einheitlichkeit der Auffassungen der Gewerkschaften im europäischen Bereich wird auch noch auf andere Weise auf die Probe gestellt werden. Zum Beispiel gibt es zur Frage des Ladenschlusses und zur Frage der Flexibilisierung der Arbeitszeiten höchst unterschiedliche Auffassungen.
Ich glaube, sosehr der Deutsche Gewerkschaftsbund in der Frage der Mitbestimmung durchaus seine Verdienste dabei hat, daß wir hier ein hohes Maß an sozialem Fortschritt erreicht haben, so sehr hat der Deutsche Gewerkschaftsbund Anlaß, sich in der
Frage der Flexibilisierung, aber auch in verschiedenen anderen Bereichen der Wirtschaft an dem zu orientieren, was andere Gewerkschaften sagen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten WieczorekZeul?
Ich möchte jetzt wirklich ohne Unterbrechung fortfahren dürfen.
— Das ist doch der Punkt. Das ist doch dasselbe.Meine Damen und Herren, deshalb macht es durchaus einen Sinn, daß wir mit einer nationalen Europakonferenz den Versuch unternehmen, einen nationalen Konsens auch mit den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften über unser künftiges Verhalten bei der Herstellung des gemeinsamen Binnenmarktes herbeizuführen. Die Sorge, die bei unseren Partnerstaaten, vor allen Dingen in den Vereinigten Staaten und Japan — —
— Herr Kollege Ehmke, ich möchte fortfahren können, ohne daß ich durch Fragen unterbrochen werde.
— Daß ich der Beantwortung der Frage des Herrn Kollegen Ehmke nicht ausweichen will, Herr Kollege, ergibt sich schon daraus, daß ich sie doch gar nicht kenne.
Meine Damen und Herren, es wird aber auch wichtig sein, daß wir bei der Herstellung des Binnenmarktes, des Technologieraumes, des Sozialraumes, übrigens auch des Währungsraumes uns der Tatsache bewußt sind, daß die EFTA-Staaten in Europa daran interessiert sind, diese Schritte mit uns vollziehen zu können.Es wird in Europa eine Diskussion darüber geführt, ob eine Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft jetzt angemessen sei oder nicht und wer als neues Mitglied in Frage komme. Die Europäische Gemeinschaft muß für neue Mitglieder offen sein, die die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft erfüllen.
Ob ein beitrittswilliger Staat die Voraussetzungen erfüllen kann, Vollmitglied mit allen Rechten und Pflichten zu sein, muß dieser Antragsteller entscheiden, das können nicht wir entscheiden. Deshalb sind wir offen für solche Anträge und werden uns diesen Anträgen gegenüber offen verhalten. Ich bin nicht der Meinung, daß es richtig wäre, wenn wir sagen würden, daß wir bis zur Herstellung des Binnenmarktes sozusagen eine geschlossene Tür für neue Mitglieder
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Bundesminister Genscherhaben. Das soll keine Einladung sein, sondern das ist eine Erklärung der Offenheit.Nun wird die Frage nach der Einheit Europas und nach der Auswirkung des gemeinsamen Binnenmarktes aber nicht nur in den marktwirtschaftlichen Staaten der Welt und in EFTA-Staaten gestellt, sondern hier ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß uns diese Frage auch von den europäischen Mitgliedstaaten des RGW gestellt wird.Ich denke, daß wir hier Rechenschaft ablegen müssen, welche Auswirkungen die Schaffung dieses Binnenmarktes für unser Ziel der Herbeiführung einer europäischen Friedensordnung hat. Ich verwende betont den Begriff europäische Friedensordnung für das ganze Europa — vom Atlantik bis zum Ural —, weil ich dem Eindruck entgegentreten möchte, daß das Verständnis, daß Europa mehr als die Europäische Gemeinschaft ist, eine erst jüngst gewonnene, durch den Begriff vom europäischen Haus, den Gorbatschow in die Diskussion eingeführt hat, ins Bewußtsein gedrungene Vorstellung ist. Der Begriff der europäischen Friedensordnung, die Forderung nach einer Friedensordnung für das ganze Europa, vom Atlantik bis zum Ural, ist im Harmel-Bericht des westlichen Bündnisses vom Jahre 1967 enthalten.
Wir haben die Schlußakte von Helsinki und den KSZE-Prozeß immer als eine Kursbestimmung hin zu einer solchen europäischen Friedensordnung verstanden. Das kann nicht nur eine Friedensordnung sein, die sich mit Fragen der militärischen Sicherheit befaßt. Vielmehr gehört zu einer Friedensordnung auch der innere Frieden in Europa. Deshalb haben wir den humanitären Fragen in der Schlußakte eine solche Bedeutung zugemessen. Deshalb messen wir den Menschenrechten eine solche Bedeutung zu. Deshalb sind für uns die Fragen der Zusammenarbeit in allen Bereichen von entscheidender Bedeutung.Die Ankündigung Gorbatschows, daß die Sowjetunion das Ziel habe, ein gemeinsames europäisches Haus zu schaffen, ist — darin liegt ihre politische Bedeutung — die erste konstruktive Reaktion auf das seit 1967 vom Westen vorgelegte Angebot.
Das ist ihre politische Bedeutung. Der Westen wäre schlecht beraten, wenn er in dem Augenblick, in dem die erste konstruktive Reaktion kommt, auf ein solches Angebot nunmehr negativ reagieren würde.
Meine Damen und Herren, hier geht es vielmehr darum, daß wir unseren Entwurf einer europäischen Friedensordnung, eines gemeinsamen europäischen Hauses erarbeiten. Beides kann dasselbe meinen, es muß aber nicht dasselbe meinen. Der Begriff des gemeinsamen europäischen Hauses bietet sich deshalb zur Verwendung an, weil er bildhaft ausdrücken kann, was wir meinen. Es muß nämlich ein Haus mit offenen Türen und Fenstern mit der Gelegenheit für Menschen sein, sich frei zu begegnen, für Ideenaustausch und für einen Güteraustausch. Das ist unser Verständnis.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns mit diesem Bild befassen, sollten wir keine neue künstliche Diskussion führen, als sei der Prozeß der Einigung in der Europäischen Gemeinschaft ein Gegensatz zu dem Ziel, im größeren Europa zu einem neuen Verhältnis der Staaten zueinander zu kommen.
— Herr Kollege Mechtersheimer, zu den Realitäten in Europa gehört, daß die Staaten der Europäischen Gemeinschaft demokratische Staaten sind, die durch gemeinsame Ideale und Wertvorstellungen verbunden sind. Zu den Realitäten Europas gehört auch, daß die Jahrzehnte der Trennung aus dem einen Europa nicht zwei gemacht haben, übrigens auch nicht aus einer deutschen Nation zwei deutsche Nationen. Es besteht ein Europa und eine deutsche Nation.
Das gehört zu den Realitäten, von denen wir ausgehen, von denen übrigens nicht nur wir ausgehen. Honecker spricht von der deutschen Nation, und von der Einheit Europas spricht man heute lauter — auch in den Amtsstuben der Staaten des Warschauer Paktes — , als das früher der Fall war.Aber was ist nun die Bedeutung der Einigung in der Europäischen Gemeinschaft? Die Bedeutung liegt darin, daß sich diese Europäische Gemeinschaft für die Sowjetunion und ihre Verbündeten zunehmend als ein attraktives Modell der demokratischen Zukunftsgestaltung erweist. Das ist die Bedeutung unseres Einigungsprozesses. Wir haben mit der Einigung in der Europäischen Gemeinschaft vielleicht den größten Sieg der europäischen Geschichte erreicht, ohne daß ein Menschenleben dabei verlorengegangen ist und geopfert werden mußte. Es ist ein Sieg über nationale Egoismen, es ist aber auch ein Beispiel dafür, wie freie Gesellschaften miteinander leben können, wie sie nationale Egoismen überwinden können und daß unser gesellschaftliches Modell die größere Attraktivität hat. Alles, was heute in den Staaten des Warschauer Pakts — in dem einen lauter, in dem anderen leiser, in dem einen intensiver, in dem anderen zurückhaltender — diskutiert wird, ist in Wahrheit die Grundfrage, wie unter Aufrechterhaltung der Grundvorstellungen sozialistischer Staaten möglichst viel an marktwirtschaftlichen und freiheitlichen gesellschaftichen Vorstellungen in die eigene Ordnung übernommen werden kann.
Heute geht es darum, diese Attraktivität zu erhöhen.Meine Damen und Herren, wenn Sie an die beginnenden 80er Jahre zurückdenken, als in den Vereinigten Staaten ein Buch über den Niedergang Europas erschien, war die Europäische Gemeinschaft eben kein attraktives Modell. Heute ist es weltweit ein attraktives Modell, aber vor allen Dingen auch für die Findung Europas und für die Zusammenarbeit zwi-
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Bundesminister Genscherschen West und Ost. Da wollen wir diese Kraft nun allerdings einsetzen.Das bedeutet, daß wir auch hier eine andere Realität nicht aus den Augen verlieren dürfen, nämlich daß wir sicherheitspolitisch zwar Fortschritte erzielt haben. Ein großer Fortschritt für mich war der erfolgreiche Abschluß der Konferenz über vertrauensbildende Maßnahmen in Stockholm. Ein großer Fortschritt ist das INF-Abkommen. Aber noch immer stehen sich enorme Militärpotentiale in Europa gegenüber, und noch immer gibt es Überlegenheiten in weiten Bereichen auf der anderen Seite. Deshalb ist vereinbarte Abrüstung notwendig. Solange es sie nicht gibt, ist es notwendig, die eigene Verteidigungsfähigkeit auch als eine der Grundlagen der eigenen Sicherheit zu erhalten.Deshalb, Herr Kollege Lippelt, ist es auch erforderlich, daß die Bundesrepublik Deutschland als eines der leistungsfähigen Länder dafür Sorge trägt, daß die weniger leistungsfähigen Länder in unserem westlichen Bündnis ihre militärische Verantwortung erfüllen können. Das ist der Grund für die Hilfeleistungen, die wir an die Türkei, die wir an Griechenland und an Portugal erbringen.Was vollzieht sich denn in Wahrheit im westlichen Bündnis, was vollzieht sich in der Europäischen Gemeinschaft? Im Grunde vollzieht sich in der Europäischen Gemeinschaft mit den Strukturfonds, über die wir uns verständigt haben, nicht nur unter deutschem Vorsitz, sondern unter aktiver deutscher Teilnahme und aktivem Beitrag eine Art europäischer Lastenausgleich, weil wir wissen, daß der Gemeinsame Markt nur dann funktionieren kann, wenn wir die strukturellen Nachholbedürfnisse der bestimmten Länder oder bestimmter Regionen in der Europäischen Gemeinschaft erfüllen.
Wenn wir jetzt im Verteidigungsbereich diesen Ländern, soweit sie Mitglied des westlichen Bündnisses sind, durch Hilfe in diesem Bereich die Lage erleichtern, ihre Verantwortung zu erfüllen, dann haben die auch weiter Mittel für die soziale und strukturelle Entwicklung, und wir leisten zugleich einen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit.
Ich glaube, wenn wir das in diesem Verständnis sehen, dann wird uns deutlich, daß es heute wirklich darum geht, auf der Grundlage gesicherter Verteidigung, für die die Bundeswehr einen wichtigen Beitrag leistet — deshalb werde ich nicht müde festzustellen, daß der Dienst in der Bundeswehr Friedens- und Freiheitsdienst ist —,
eine Politik aktiver Rüstungskontrolle und Abrüstung zu betreiben. Wir tun als Bundesregierung alles, was in unseren Kräften steht, damit auch die Gegensätze, die es auf der westlichen Seite noch gibt, für den Abschluß der Konferenz in Wien und für die Aufnahme der Verhandlungen über die konventionelle Stabilität endlich überwunden werden können. Es ist völlig müßig, daß im Westen eine Diskussion darübergeführt wird, wie ernst es Gorbatschow meint oder nicht meint. Meine Damen und Herren, die Ernsthaftigkeit von Abrüstungswillen kann man am besten am Verhandlungstisch feststellen.
Man muß diesen Verhandlungstisch nur erreichen, und das liegt im elementaren Interesse unserer Bundesrepublik Deutschland.
Gerade in den letzten Stunden haben sich einige Schritte vollzogen, die mich jetzt zuversichtlicher machen, als ich mich noch vor einigen Tagen dazu geäußert hätte. Das heißt, es besteht noch immer eine reale Chance, daß wir in diesem Jahr die Wiener Konferenz beenden und damit auch die Eröffnung für die Verhandlungen über die konventionelle Stabilität eröffnen können, die nun einmal das Kernproblem europäischer Sicherheit ist.Gleichzeitig geht es darum, daß wir in der Zusammenarbeit vorankommen und daß wir erkennen, daß in den neuen Entwicklungen — ich sage noch einmal: unterschiedlich weit fortgeschritten, von den einen zögernder, von den anderen aktiver betrieben —, in den Staaten des Warschauer Pakts eine Chance für das gesehen wird, was der Bundespräsident zu recht als systemöffnende Zusammenarbeit bezeichnet. Ich kann mich denjenigen nicht anschließen, die der Meinung sind, daß derjenige, der nun das Signal für ein solches neues Denken, auch für das Überprüfen alter Klischees in den sozialistischen Ländern gegeben hat — ich meine Gorbatschow — , für gefährlicher gehalten werden muß als die, die in der Vergangenheit eine Politik betrieben haben, die uns die wahrlich nicht leichte Entscheidung abgenötigt hat, uns hier z. B. zum NATO-Doppelbeschluß zu bekennen und ihn auch durchzusetzen.Wer glaubt, daß derjenige, der über Neues nachdenkt, gefährlicher sei, der hat eigentlich — ich muß es schon so sagen — ein beachtliches Maß an Mißtrauen in die eigene Standfestigkeit, in die eigene Überzeugungskraft, in die Attraktivität des eigenen Systems.
Ich habe es neulich gesagt, ich wiederhole es hier: Es müßte schlimm um die Einheit der westlichen Demokratien, um ihre Vitalität bestellt sein, wenn wir die Angst vor der Sowjetunion brauchten, um unsere Gemeinschaft aufrechtzuerhalten.
Deshalb sollten wir darangehen, Feindbilder abzubauen, Versuche zu unternehmen, die Lage in Europa durch Zusammenarbeit zu verbessern. Ich bin besonders dankbar dafür, daß man heute in der Debatte auch großen Wert gelegt hat — Herr Kollege Rose, Sie haben länger darüber gesprochen — auf die kulturelle Zusammenarbeit, auf die Errichtung von Kulturinstituten, auf die Pflege der nationalen Identität. Natürlich haben wir dazu eine Grundkonzeption. Wann
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7490 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Bundesminister Genscherman es verwirklichen kann, das ist nicht eine autonome Entscheidung des Auswärtigen Amtes, auch nicht des Deutschen Bundestages, auch nicht der Bundesregierung, sondern der Entwicklung, wie wir sie haben.Nehmen wir ein Beispiel: Vor zwei, drei Jahren bestand nicht die Chance der Errichtung von Kulturinstituten in den Ländern, wo wir uns jetzt über die Errichtung verständigt haben. Wir haben seit einiger Zeit mit der Sowjetunion einen Ausschuß für humanitäre Fragen. In diesem Ausschuß für humanitäre Fragen haben wir bis zum September dieses Jahres ausschließlich über Ausreiseprobleme für Sowjetbürger deutscher Nationalität gesprochen. Seit September dieses Jahres sprechen wir dort über die Frage der Bewahrung der kulturellen und der nationalen Identität sowjetischer Staatsangehöriger deutscher Nationalität. Bei ihrer Religionsausübung ergeben sich neue Formen der Zusammenarbeit. Auch das ist ein Ergebnis des KSZE-Prozesses.Deshalb, glaube ich, sind wir gut beraten, wenn wir konsequent und im Bewußtsein dessen, daß die Kraft der Freiheit sich noch immer durchgesetzt hat und die überzeugendere politische Kraft war, an die Arbeit gehen, um diese europäische Friedensordnung zu schaffen, um das gemeinsame europäische Haus zu bauen.Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher: Wenn wir das konsequent tun, dann wird dieses europäische Haus humaner sein, als das ganze Europa es in den letzten Jahrzehnten gewesen ist, und dafür zu arbeiten lohnt sich.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über die Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN, die ich nach der Reihenfolge der Drucksachennummern aufrufe.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3326? Ich bitte um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Antrag mit der Mehrheit der Fraktionen der Regierungskoalition abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3327? Ich bitte um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen der Fraktionen der Regierungskoalition und der SPD abgelehnt.
Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 11/3328? Ich bitte um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dies ist wiederum abgelehnt mit der Mehrheit der Fraktionen der Regierungskoalition.
Dann kommen wir zum Antrag auf Drucksache 11/3329. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Sie machen es mir aber schwer; wechselnde Mehrheiten. Das heißt, dieser Antrag ist mit der Mehrheit der Regierungskoalition und der SPD abgelehnt.
Jetzt kommen wir zum Antrag auf Drucksache 11/3330. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das ist mit der gleichen Mehrheit wie bei Drucksache 11/3329 gewesen.
Jetzt kommen wir zum Änderungsantrag auf Drucksache 11/3331. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Das ist dieselbe Mehrheit wie eben zuvor.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Einzelplan 05. Wer dem Einzelplan 05, Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes, in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Einzelplan angenommen mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen, bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion und Gegenstimmen der Fraktion DIE GRÜNEN.
Ich rufe nun auf: Einzelplan 07
Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz
— Drucksachen 11/3207, 11/3231 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Diller von Schmude
Dr. Weng Kleinert (Marburg)
Einzelplan 19
Bundesverfassungsgericht
— Drucksachen 11/3217, 11/3231 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Schroeder Würtz
Kleinert
Zum Einzelplan 07 liegen Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/3339 und 11/3340 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Beratung dieser Einzelpläne eine Stunde vorgesehen. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann kann ich die Aussprache eröffnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gustav Heinemann hat mit der ihm eigenen trockenen Kürze den Satz geprägt: „Rechtspolitik ist positiver Verfassungsschutz. " Nun wird der Bundesminister der Justiz sagen: Da ist ja einiges geschehen. Natürlich kann er einiges aufzeigen. Sein Haus ist nach wie vor fleißig und auch produktiv, und seinen Mitarbeitern sei öffentlich gedankt für ihre stets faire und sachliche Arbeit im Rechtsausschuß des Bundestages auch der Opposition gegenüber.Aber werten müssen wir an Gustav Heinemanns Wort die politische Leistung des Bundesjustizministers, ob er Wertzeichen gesetzt hat und welche. Tun wir das, stellen wir fest, daß diese Bundesregierung
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7491
Dr. de Withauch im Bereich der Rechtspolitik eine Menge schuldig geblieben ist.
Da gibt es den Tod der Robben, die langsame Erstikkung der Nordsee, nach wie vor das Waldsterben.
Zu einem Vorschlag aber zur Einführung des Staatsziels Umweltschutz im Grundgesetz vermochte sich die Bundesregierung bislang nicht aufzuraffen. Im Rechtsausschuß kam es zunächst zu einem unwürdigen Kompetenzgerangel zwischen dem Justiz- und dem Innenressort und dann zu dem kläglichen Hinweis, das sei Sache des Parlaments. Natürlich kann nur der Bundestag mit einer Zweidrittelmehrheit das Grundgesetz ändern. Aber war es nicht der Bundeskanzler, der in seiner Regierungserklärung statuiert hat, daß das Staatsziel Umweltschutz im Grundgesetz verankert werden müsse? Der entsprechende Entwurf der SPD liegt seit der letzten Legislaturperiode vor. Regierung und Koalition haben versäumt, hier ein sichtbares Zeichen zu setzen.
Da gab es in der vergangenen Legislaturperiode weiter einen Entwurf der SPD, die Bestrafung der Vergewaltigung auch auf entsprechende Handlungen in der Ehe auszudehnen, denn Vergewaltigung ist Vergewaltigung. Da haben Sie, Herr Minister Engelhard, vor fast genau einem Jahr, nämlich am 7. November 1987, erklärt, daß auch Sie mit dem Zweiklassenrecht der Vergewaltigung — in der Ehe straflos, außerhalb strafbar — Schluß machen wollten. Sie mußten jedoch später eingestehen, daß Sie sich in der Koalition nicht einigen konnten, insbesondere wegen des Widerstands der CSU, die auch durch Abwesenheit glänzt.
— Sie werden schon noch hören, wie interessant es ist.Mag es sich hier auch — das sei eingestanden — nur um eine relativ einfache gesetzestechnische Änderung des Strafgesetzbuches handeln — Sie, Herr Minister, hätten auch hier eine Wegmarke setzen können. Die Frauen hätten es Ihnen gedankt. Aber schlimm genug: Die Koalition hat unseren Gesetzesantrag im Rechtsausschuß ersatzlos abgelehnt.
Die SPD-Fraktion hat nach sorgfältiger Vorbereitung im Sommer dieses Jahres ein Anhörungsverfahren durchgeführt
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Sollen die halt heiraten."
— Welche Antwort für einen Liberalen, Herr Kleinert! Der Deutsche Juristentag Ende September dieses Jahres hat die Auffassung der SPD in breiter Front bestätigt. Welch eine Ohrfeige für den Bundesminister der Justiz! Rechtspolitik als positiver Verfassungsschutz muß auch für Minderheiten gelten. Es wäre gut gewesen, Herr Kleinert, wenn Sie bei dieser Arbeitsgruppe anwesend gewesen wären, denn dann hätten Sie heute hier so nicht geredet. Mit Gustav Radbruch muß ich sagen: Der Justizminister trägt die Verantwortung für die Gesetze, die wir hier mit ihm schaffen, m i t uns a 11e n. Er trägt die Verantwortung eigentlich nur für die Gesetze, die er nicht einbringt, und ich füge hinzu: Die trägt er auch, allein. Daran muß er sich messen lassen.Der eben zitierte Gustav Radbruch hat sich nicht gescheut, kommentierend zur Strafjustiz Stellung zu nehmen, wenn damit beispielhaft Unbehagen beim Namen zu nennen war, über das ein freiheitlich sozialer Rechtsstaat generell besorgt sein muß. Für einen amtierenden Justizminister, das sei eingeräumt, ist das freilich sehr, sehr schwierig, noch dazu, wenn es sich um Verfahren im Bereich der Landesjustiz handelt. Ich gestehe freimütig, daß auch ich in der Fragestunde des Bundestages hin und wieder zu der Formel gegriffen habe, ein Kommentar verbiete sich, da es sich um ein schwebendes Verfahren handele oder die Bundesregierung rechtskräftige Urteile nicht zu kommentieren pflege.
Aber, Herr Hüsch, es gibt Situationen, bei denen man sich nicht hinter diesen Formeln verstecken sollte. Eine solche hat es gegeben, als es um die Memminger Prozesse von Frauen ging, denen Abtreibung vorgeworfen wurde. Rita Süssmuth hat es gewagt, hierzu in aller Vorsicht und mit allem Respekt ihr Unbehagen auszudrücken. Der Justizminister schwieg. Und dieser Prozeß — alle unangebrachten Bemerkungen weggelassen, gegen die auch ich mich wehre — markiert einen höchst gefährlichen Schnittpunkt für den Rechtsstaat,
bei aller erforderlichen Legalität einen Schnitt in die Legitimität zutiefst verletzter Fraulichkeit und einen Schnitt in den Fortbestand gefährdeter Ehen.Darf die Staatsgewalt die rigide Anwendung des Strafverfolgungsprinzips über wohlverstandene
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7492 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. de WithMenschlichkeit setzen? Ergeben sich aus der Anwendung gesetzlicher Regelungen nicht Zweifel am gerechten Maß der Verfolgung im Blick auf in unendliche Zwangslagen geratene Frauen?Der Bundesminister der Justiz hat in diesem Jahr einen Diskussionsentwurf über das Insolvenzrecht vorgelegt und am vergangenen Freitag einen Referentenentwurf zum Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht.
In beiden Fällen hatte die SPD ihre Anträge schon seit geraumer Zeit im Bundestag eingebracht, in beiden Fällen handelt es sich um seit langem fällige Reformvorhaben, die noch in die Zeit der sozial-liberalen Koalition reichen. Und in beiden Fällen sagen wir, Herr Minister, Unterstützung zu. Beim Insolvenzrecht werden allerdings noch eine Reihe von Fragen abzuklären sein. Wir vermissen, um das etwas abgewandelt auszudrücken, dort das „soziale Öl" . Wir wissen, daß für die Frage der Sterilisation eine befriedigende Antwort kaum geboten werden kann, aber wir fordern Sie auf, Herr Minister, möglichst bald entsprechende Entwürfe vorzulegen. Geschieht dies nicht, sehe ich nicht, wie wir in dieser Legislaturperiode — und wir sind willens, das zu tun — diese umfangreichen Vorhaben noch zu einem Abschluß bringen können.Eingebracht hat der Bundesminister der Justiz das sogenannte Artikelgesetz der Bundesregierung zur inneren Sicherheit. Die erste Lesung hat stattgefunden. Was ich damals ausgeführt habe, ist noch immer richtig und nicht entkräftet. Dieser Entwurf stellt die Wende im Strafgesetzbuch, in der Strafprozeßordnung und im Versammlungsrecht hin zum Gesinnungs- und Verdachtsstrafrecht, zur Durchbrechung des Legalitätsprinzips und zum Sonderstrafrecht für bestimmte Tätergruppen dar.Mit der Einführung der Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftätern werden drei wichtige Prinzipien unseres Strafrechts und damit der Rechtsstaatlichkeit verletzt: das Prinzip der strafprozessualen Gleichbehandlung aller Straftäter, das Legalitätsprinzip und der Grundsatz der Öffentlichkeit.Die strafrechtliche Einführung eines Vermummungsverbotes erfolgt gegen den Rat aller ernstzunehmenden Experten und Praktiker.
Sie ist überflüssig, da die Polizei schon jetzt, und zwar unter Abwägung aller Begleitumstände, in der Lage ist, gegen vermummte Demonstranten vorzugehen. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Sie machen eh nur mit zusammengekniffenen Zähnen mit. Für polizeitaktische Erwägungen läßt die Neuregelung keinen Raum.Die geplante — inzwischen auch vom Bundesrat abgelehnte — Schaffung eines Straftatbestandes der Befürwortung von Gewalt führt zum Gesinnungsstrafrecht. Ich bin gespannt, wie Sie sich da entscheiden. Der neue Haftgrund der Wiederholungsgefahr bei Landfriedensbruch bedeutet nichts anderes als die Einführung der polizeilichen Vorbeugehaft.
Die SPD-Fraktion wird diesen Gesetzentwurf strikt ablehnen. Bedauerlich bleibt, daß sich die FDP zur Unterstützung dieser durch und durch illiberalen und rechtsstaatlich höchst bedenklichen Novelle hergibt, auch wenn wir zur Kenntnis genommen haben, daß einige Liberale im Bundestag eine andere Auffassung gezeigt haben. Den Bundesminister der Justiz aber scheint das nicht zu rühren.Es könnte noch manches angebracht und an Gesetzesvorhaben angemahnt werden. Mir liegt aus aktuellem Anlaß etwas anderes am Herzen.Wir sind beim Gedenken des 50. Jahrestages des Judenpogroms am 9. November 1938 unversehens mit einer schwierigen Situation im Bundestag konfrontiert worden. Uns ist schmerzlich bewußt geworden, wie dünn das Eis noch ist. Wir haben gefragt: Wo waren damals die Justiz, die Staatsanwaltschaft und die Gerichte? Als Juristen können wir die Scham zweimal nicht verbergen.Kurz vor dem 9. November hat nun der neu ernannte bayerische Staatsminister des Innern im Zusammenhang mit Ausländern das Wort „durchrasst" gebraucht. Er hat es auf Aufforderung der SPD — wenn auch gewunden — wieder zurückgenommen.Gerade jetzt erleben wir aber wieder innerhalb der CSU eine Debatte über die Änderung des Grundrechts auf Gewährung von Asyl. Heute haben wir vom Bundeskanzler gehört, wie gut es uns geht. In der Westend-Synagoge in Frankfurt hat der Bundeskanzler zum 9. November Worte gefunden, die wir alle unterschreiben können. Daneben aber läuft die von der Wortwahl her schon schlimme Debatte weiter. Da ist von der „ungebremsten Ausländerschwemme" die Rede. Da wird die Gefahr einer Preisgabe „der geschichtlich gewachsenen nationalen Identität" — gemeint der Deutschen — an die Wand gemalt. Und da ist das böse Wort vom „Bevölkerungsgulasch" gefallen. Wäre es da nicht an der Zeit, daß auch der Bundesminister der Justiz, der frisch gewählte Vorsitzende der CSU und nicht zuletzt der Bundeskanzler sich erheben und die Sache beim Namen nennen?
Herr Abgeordneter, — — Dr. de With : Ich bin gleich fertig.
In einem sozialen Rechtsstaat sollten demokratische Parteien das Ausschöpfen des Wählerreservoirs dort begrenzen, wo das Einfangen von Randgruppen den Grundkonsens berührt, insbesondere aber den Ewiggestrigen willkommenen Anlaß zum Ausländerhaß gibt.
Als hätte ich es geahnt! Mir ist soeben eine Agenturmeldung in die Hand gefallen — —
Herr Abgeordneter, das geht leider nicht. Sie sind weit über die Zeit hinaus, und die Kollegen wollen auch noch reden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7493
Es dauert noch eine halbe Minute. Ich nehme an, Herr Diller ist damit einverstanden.
Als hätte ich es geahnt! Mir ist soeben eine Agenturmeldung in die Hand gefallen, in der es heißt:
„Schlesier" kritisiert „Kristallnacht" -Gedenkfeiern
Dort wird wörtlich folgendes ausgeführt:
Da sitzen sie alle friedlich beisammen, Weizsäcker, Honecker, Diepgen, Sindermann, Willy Brandt, Kohl, protestantische und katholische Bischöfe, Gewerkschafter und Arbeitgeberführer, verkleiden sich als Juden und dreschen einmütig auf ihr Volk herunter.
Weiter unten heißt es in dieser Agenturmeldung aus dem Blatt, in dem der CDU-Mann Hupka häufig Artikel schreibt:
Bundespräsident Richard von Weizsäcker habe mit der Bemerkung, die Deutschen hätten die Verantwortung ihrer Geschichte auf sich zu nehmen, und es werde ihnen nicht gelingen, sich mit der Geschichte auszusöhnen, den christlichen Grundsatz der Vergebung verletzt.
Und wörtlich geht es in dem Artikel weiter:
Aber selbst die Vergebung würde doch voraussetzen, daß wir die Tat begangen haben, gegen Recht und Gesetz verstoßen haben. Davon kann aber, bis vielleicht auf eine Handvoll Greise, die der auf der ganzen Welt von jüdischen Organisationen betriebenen und von der deutschen Regierung unterstützten Fahndung noch entgangen sein mögen, bei den heute lebenden Deutschen keine Rede sein.
Ich glaube, der Bundestag muß Manns genug sein, ein deutliches Wort gegen solche Schriften zu sagen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete von Schmude.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Justizhaushalt zeichnet sich wie auch in den Vorjahren durch ein bescheidenes Volumen aus. Ganze 0,15 % beträgt der Anteil des Einzelplans 07, gemessen am Gesamthaushalt. Auch das Wachstum nimmt sich 1989 mit 2,9 % im Vergleich zu der sonst üblichen Steigerungsrate recht sparsam aus. Ein Personalkostenanteil von mehr als 90 % der Ausgaben und die Tatsache, daß fast 60 % der Ausgaben durch eigene Einnahmen gedeckt werden, zeigen schon, daß es hier beim Einzelplan 07 nichts an Subventionen zu verteilen gibt, sondern daß hier Dienstleistungen für den Bürger erbracht werden.Dazu trägt auch unser Patentamt bei. Hier werden in den kommenden Jahren ganz erhebliche Investitionen erforderlich. 32 000 Anmeldungen werden jährlich offengelegt. Deshalb sind kürzere Bearbeitungszeiten bei Anmeldungen und Auskünften nicht nur wünschenswert, sondern für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zwingend notwendig. DerAufbau einer elektronischen Datenbank tritt nun in die entscheidende Phase. Wir stellen dafür 1989 13,2 Millionen DM im Bereich der Datenverarbeitung und der Patentdokumentation bereit. Mit weiteren rund 250 Millionen bis 280 Millionen DM ist in den Folgejahren für den Aufbau der Datenbank zu rechnen. Daneben muß die Gebäudesanierung aus Gründen des Brandschutzes, aber auch um zeitgemäße Arbeitsplätze zu schaffen, dringend vorangetrieben werden. Rund 100 Millionen DM werden wir dafür aufwenden müssen. Wir werden in diesem Zusammenhang sorgfältig prüfen, ob und in welchem Umfang Gebührenerhöhungen auch im Hinblick auf das ebenfalls in München ansässige Europäische Patentamt zur Dekkung dieser Investitionen mit herangezogen werden.Zu den politischen Schwerpunkten des Justizhaushalts, meine Damen und Herren, gehören die Reformvorhaben. Die Erfassung und Erforschung der Rechtswirklichkeit bilden die Grundlage für Gesetzesvorhaben.
— Sie wollten noch viel mehr streichen, Herr Diller. Ich denke an die 10 000 DM für die Wehrstrafgerichtsbarkeit. —
Wichtige Bereiche stehen im Vordergrund. Dazu gehören u. a. die Untersuchung über die Berufssituation, Karriereverläufe und Karrierechancen von Frauen im Justizdienst oder die Projekte über die Verschuldungssituation und die Schuldnerberatung sowie über den Verbraucherschutz im Versicherungswesen. Der Bundesregierung ist ausdrücklich zu danken, daß sie diese Reformen der Rechtspflege und des Rechts sorgfältig und umfassend vorbereitet.
Hektik, meine Damen und Herren, wäre der Bedeutung der anstehenden Gesetzesvorhaben absolut unangemessen. Wir lehnen Gesetze, Herr de With, die mit der heißen Nadel gestrickt werden, ab. Gründliche Vorarbeit zahlt sich aus; das sehen wir jetzt bei der Neuordnung des Entmündigungs-, Vormundschafts- und Pflegerechts.Die Bedeutung, die wir den Reformen beimessen, wird auch dadurch unterstrichen, daß wir gegenüber dem Vorjahr erneut höhere Haushaltsmittel bereitstellen. Mit 1,68 Millionen DM wird, selbst wenn man weit in die 70er Jahre zurückgeht, ein neuer Höchststand erreicht.Die Ausweisung zusätzlicher Planstellen erfolgt auch im Hinblick auf neue Aufgaben im Umweltbereich und im Bereich der Gentechnologie sowie im Hinblick auf die arbeitsaufwendiger gewordene Betreuung und Leitung von Beratungsgremien. Der diesbezügliche eindrucksvolle Aufgabenkatalog des Ministeriums kann wohl als recht umfassend gelten. Er beinhaltet selbst so schwierige Bereiche wie das Thema geschlechtsneutrale Gesetzessprache.Die unter Federführung des Justizministeriums stehende interministerielle Arbeitsgruppe wird hoffentlich bald zu Ergebnissen kommen. Wer den Haushalt
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7494 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
von Schmudeheute liest, wird feststellen, daß Beamtinnen je nach Geschmack in der Gruppe A 11 als Amtmann, Amtsfrau oder sogar Amtmännin aufgeführt werden.Das Bild der Rechtspolitik, meine Damen und Herren, wird nicht nur durch Reformvorhaben, sondern auch durch die Pflege des Rechtsbewußtseins geprägt. Das Justizministerium wird sich dieser wichtigen Aufgabe weiterhin mit herausragenden Aktivitäten stellen.So ist u. a. zum 40. Jahrestag des Bestehens des Grundgesetzes eine Broschüre „40 Jahre freiheitlicher Rechtsstaat" vorgesehen, ferner ein verfassungsrechtliches Kolloquium sowie eine Festveranstaltung „40 Jahre dritte Gewalt unter dem Grundgesetz" .Ohne Rechtsbewußtsein — das wissen wir — kann es keinen Rechtsfrieden geben. Gesetze, die verfassungsgemäß zustande gekommen sind, müssen in einem Rechtsstaat durchgesetzt werden.
Zögerliches Handeln oder Untätigkeit wie etwa in Hamburg in Sachen Hafenstraße
verwässern das Rechtsbewußtsein und bedeuten letztendlich die Kapitulation vor dem freiheitlichen Rechtsstaat. Uns sollte eigentlich, lieber Herr Kollege Stiegler, die Sorge, so wie Herr de With es ausgedrückt hat, um den Bestand des Rechtsstaates gemeinsam sein.Das Ansehen der Justiz kann jedoch auch durch unüberlegtes Handeln von Verfassungsorganen Schaden nehmen. Ich denke hier an die neue Landesregierung in Schleswig-Holstein, die mit der zwangsweisen Entlassung des Generalstaatsanwalts Teschke ein halbes Jahr vor dessen regulärer Pensionierung ein schlimmes Beispiel geliefert hat.
— Ich bin Ihnen für den Zwischenruf dankbar. Das ist leider kein Einzelfall. In Schleswig-Holstein hat es nämlich auch 30 Richter und Staatsanwälte gegeben, die mit ihrer Dienstbezeichnung in den Zeitungen öffentlich gegen Kernkraft protestiert haben und dafür disziplinar gemaßregelt wurden. Sie sind mit ihrem Widerspruch beim höchsten deutschen Gericht gescheitert. Am selben Tag hat der neue SPD-Justizminister Klingner diese disziplinare Maßnahme wieder aufgehoben. Das ist ein schlimmes Beispiel, was hier deutlich wird.
Es muß, meine Damen und Herren, das gemeinsame Anliegen aller demokratischen Parteien bleiben, das Rechtsbewußtsein in der Bevölkerung zu stärken. Anderenfalls würde auch die Sicherheit beeinträchtigt werden. Daß uns dieser Bereich Anlaß zur Sorge gibt — ich sage das mit großem Ernst — , wird durch verstärkte Ausgaben im baulichen Bereich sowie durch die Anschaffung zahlreicher besonders geschützter Fahrzeuge quer durch alle Einzelhaushalte deutlich.Zur Pflege des Rechtsbewußtseins gehört selbstverständlich auch die Darstellung der Justizgeschichte, insbesondere während der Zeit des Dritten Reiches. Wir begrüßen deshalb die von der Bundesregierung geplante Ausstellung zum Thema „Justiz im Nationalsozialismus", die von 1989 bis 1992 als Wanderausstellung in allen Bundesländern gezeigt werden soll.
Die rückhaltlose Auseinandersetzung mit der Rolle der Justiz im Dritten Reich und deren Ursachen ist bisher zu kurz gekommen. Die Justiz war in besonders bedrückender Weise in das nationalsozialistische System verstrickt.Die Bundesländer haben sich bereit erklärt, zu dem von uns zusätzlich in den Haushalt eingestellten Betrag von 500 000 DM für diese Ausstellung einen eigenen Finanzbeitrag in Höhe von 100 000 DM zu leisten. Dies unterstreicht, daß Bund und Länder das Projekt als gesamtstaatliche Aufgabe ansehen. Zu dieser Mitverantwortung hatten sich die Länder auch im vorigen Jahr bekannt, als es nämlich darum ging, an der Deutschen Richterakademie in Trier eine Stätte zur Mahnung und Erinnerung an die Justizverbrechen im Dritten Reich einzurichten.Ergänzend dazu soll 1989 im Palais des Bundesgerichtshofes eine dem Anlaß angemessene Erinnerungstafel zum Gedenken an die Opfer der NS-Justiz angebracht werden.Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich mich bei den Mitberichterstattern für die gute Zusammenarbeit und bei den Mitarbeitern des Justizministeriums für die ausgezeichnete Vorarbeit bedanken.Die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem Einzelplan 07 zu. Es spricht auch nichts dagegen, daß die Opposition genauso verfährt.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Häfner.
Herr von Schmude, viel war es gerade nicht, was Sie da an Leistungen vorweisen konnten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Jubelfeiern zum 40jährigen Jubiläum dieser Republik werfen ihre Schatten voraus, sie werfen sie auch auf den Haushalt des Bundesjustizministers. Ein eigener Haushaltsansatz soll der Vorbereitung einer Feier dienen: „40 Jahre dritte Gewalt unter dem Grundgesetz".Ich frage mich, was da gefeiert werden soll. Ich habe vielmehr den Eindruck, man sollte einen anderen Titel
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Häfnerwählen: 40 Jahre staatliche Gewalt zur Aushöhlung des Grundgesetzes.
— Nun hören Sie erst einmal zu, Herr Marschewski.Herr Minister, Recht ist nicht etwas, was von oben verfügt werden kann. Recht beruht nicht auf Willkür, auf Herrschaft von oben, sondern auf der Übereinkunft von Menschen, auf der freien Vereinbarung. Darum müssen auch alle an dem Prozeß dieser Rechtsvereinbarung teilhab en können. Demokratie heißt also nicht nur, daß wir gleich sind vor dem Recht, sondern heißt auch, daß wir als Gleiche das Recht überhaupt erst zustande bringen. Das bedeutet zugleich, daß sich Recht im Laufe der Zeit entwickeln muß und daß das Recht nicht um seiner selbst willen da ist, sondern zum Schutz der Menschen, zum Schutz der Würde des Menschen, der Freiheit der Person und zur Sicherung der sozialen Gleichheit.Die Rechtspolitik dieser Bundesregierung aber ist auf etwas völlig anderes gerichtet: auf den ständigen und rücksichtslosen Abbau von Bürger- und Freiheitsrechten. In einer Zeit, in der immer mehr Bürgerinnen und Bürger gegen die Politik dieser Regierung protestieren — aus guten Gründen; ich will nur vier davon nennen:erstens Nordseesterben, Waldsterben, Ökologie; zweitens den Bereich Atom- und Chemiewaffen, Tiefflieger, Jäger 90, den ganzen Rüstungsbereich; drittens den Atombereich selbst, Schneller Brüter, WAA, AKW; viertens die Gentechnologie — , in einer Zeit also, in der immer mehr Menschen aufwachen und sich hiergegen wenden, sucht die Bundesregierung nicht nach Wegen einer neuen Rechtsfindung, die diesen Bedenken der Bevölkerung Rechnung tragen, sondern produziert eine Horrorliste von Gesetzen, die jeden mit Strafe bedrohen, der in diesem Land noch von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung, Demonstration usw. Gebrauch machen will.Wir haben heute über den Haushalt eines Ministers zu befinden, der mit dem Artikelgesetz und den Sicherheitsgesetzen in der Maske des Biedermanns und des Staatsdieners einen Anschlag auf die Grundrechte, die Rechtsordnung und auch den inneren Frieden in diesem Land unternimmt.Das eigentlich Schlimme dieser Gesetze ist ja, daß sie sich ihre Begründung selbst schaffen. Ich meine ganz ernst, was ich hier sage. Das heißt, durch das Artikelgesetz und die Sicherheitsgesetze — dem die FDP inzwischen ebenfalls zugestimmt hat, wie ich der Zeitung entnehme — wird dasjenige erst hervorgerufen und verstärkt, wogegen sich diese Gesetze angeblich richten. Bedenken Sie: Protest entsteht nicht aus Jux und Dollerei, sondern aus der Erfahrung staatlichen Unrechts und der absoluten Ohnmacht, dagegen vorzugehen.Das berüchtigte Artikelgesetz, das unter Ihrer Federführung, Herr Justizminister, ausgetüftelt wurde, treibt gezielt weite Teile der politisch aktiven Bevölkerung in die Illegalität,
macht es nahezu unmöglich, vom Demonstrationsrecht noch Gebrauch zu machen. Wer in Zukunft zu Demonstrationen geht, steht mit einem Bein im Gefängnis. Schon wenn er mit einem Schal hingeht, gilt das als Vermummung, der Schal ist ein „zur Vermummung geeigneter Gegenstand" ; ein Motorradhelm erst recht,
obwohl Motorradfahrer doch durch Gesetz zum Tragen des Helms verpflichtet sind. Sie wissen das.Diese Maßnahmen verfolgen in meinen Augen das Ziel, die Opposition in der Bundesrepublik einzuschüchtern. Die Verfassungswidrigkeit ist diesen Vorhaben in meinen Augen deutlich auf die Stirn geschrieben. Sie widersprechen den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, dem Brokdorf-Urteil und dem Volkszählungsurteil.Herr Minister, ich will nur weniges aufzählen: So z. B. der § 130b — pures Gesinnungsstrafrecht. Hier werden nicht mehr Taten bestraft, sondern Meinungen verfolgt. Literatur, auch die deutsche Klassik, landet auf dem Tisch des Staatsanwalts. Wollen wir dies, wollen Sie dies? Ist dies einem demokratischen Staat angemessen? Haben Sie vergessen, wohin solche Zensurparagraphen in der Geschichte und in der Gegenwart geführt haben und führen?Das Vermummungsverbot, die Ausweitung des Haftgrundes Wiederholungsgefahr, die vorbeugende Inhaftnahme, das Verbot der passiven Bewaffnung — all dies kommt in der Tat einer Horrorliste gleich und stellt den Übergang vom Rechtsstaat in das Feind- und Gesinnungsstrafrecht dar. Es ist nämlich eine Errungenschaft unseres Rechtsstaates, daß die Polizei nicht alles darf, daß Ermittlungen und Eingriffe erst im Rahmen einer vollzogenen Tat und der Tatschuld möglich sind.
Dies soll jetzt praktisch in das Gegenteil verkehrt werden. Mit der Unterstellung einer abstrakten Gefährlichkeit, die im Einzelfall niemals nachgewiesen werden kann und auch gar nicht nachgewiesen werden muß, wird jeder zum Objekt dieser Gesetze, der sich auch nur einem Verdacht aussetzt; er kann vorbeugend inhaftiert werden.Die gleiche Tendenz zum Rechtsabbau findet sich übrigens auch in anderen Bereichen. Ich kann dies aus Zeitgründen nur noch andeuten: etwa den Abbau der Verfahrensrechte im Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz oder bei der „Entlastung" der Finanzgerichtsbarkeit, bei der so eine Art Als-ob-Gesetz nun, nach anfänglich zeitlicher Befristung zum Dauerzustand werden soll, weil man zu einer wirklichen Reform mit der Einführung einer dritten Instanz unfähig ist.
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HäfnerAm schlimmsten aber ist das Mißverhältnis zwischen Worten und Taten in den wenigen Bereichen, in denen wir auf Grund der Koalitionsvereinbarung und Ihrer vollmundigen Ankündigungen wenigstens der Richtung nach sinnvolle Vorschläge erhoffen konnten. Beispiel: Verwaltigung in der Ehe. Es ist in meinen Augen ein himmelschreiender Skandal, daß rechtlich noch immer zwischen Vergewaltigung innerhalb und außerhalb der Ehe unterschieden wird. Frauen sind kein Besitz, auch nicht in der Ehe.
Das Vorhaben, die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen, ist inzwischen erst einmal kläglich begraben worden. Und ich fürchte, daß mit der Weglobung von Frau Süssmuth hier auch nichts mehr kommen wird.Genauso ist es mit dem Vorhaben, den Umweltschutz ins Grundgesetz aufzunehmen, einem der Vorhaben, mit denen Sie sich seinerzeit gebrüstet haben. Es ist beerdigt worden, so wie wir die Nordsee, so wie wir die Wälder in meiner Heimat nun auch bald beerdigen können.Ich möchte zum Abschluß noch kurz etwas zu unseren Anträgen sagen.
Einige sind Ihnen schon bekannt, z. B. der Antrag mit dem wir endlich die Abschaffung und Streichung der Wehrstrafgerichtsbarkeit im Haushalt verlangen. Das versteht sich von selbst.Ich werde hier nur noch einen Antrag inhaltlich vorstellen, da für die Vorstellung der anderen angesichts der kärglichen Zeit für die kleinen Fraktionen die Zeit fehlt. Den zugehörigen Sachverhalt kann ich hier allerdings nur noch mit Entrüstung vortragen. Es geht um das Ölbild für den Generalbundesanwalt Rebmann. Sie wissen, daß die Mittel für dieses Ölbild vom Haushaltsausschuß im letzten Jahr auf Antrag meiner Fraktion gestrichen worden sind. In diesem Jahr wurden sie wieder eingestellt, und zwar deshalb, weil das Ölbild — entgegen dem Bundestagsbeschluß —
inzwischen bereits gemalt wurde. So kann man mit dem Haushalts- und Entscheidungsrecht des Parlaments nicht umgehen. Das Verstecken dieses Etatpostens im Titel „Erwerb beweglicher Geräte" und das Erkaufen der hierfür benötigten 10 000 DM ausgerechnet durch die Verbilligung einer Gedenktafel für die Opfer der NS-Justiz, das ist für mich in der Tat nicht nur eine unzumutbare Brüskierung des Parlaments, sondern ein echter Skandal.Wir bitten Sie daher, unserem Antrag auf Streichung dieses Postens sowie den weiteren Anträgen zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir befinden uns wieder einmal — und das hat man soeben besonders schmerzlich empfunden — in der Situation, daß im Rahmen einer solchen Haushaltsdebatte einerseits — und das ist verdienstvollerweise von Herrn von Schmude wahrgenommen worden — über den Haushalt und über das, was hier zum Finanzwesen des Bundes interessiert, gesprochen werden soll, daß dies aber, zum anderen, als Generaldebatte über die wirklich wichtigen und zum Teil ja sehr grundsätzlichen Fragen aus allen Häusern benutzt wird. Und dafür werden wir dann hier mit sechseinhalb oder viereinhalb — abzüglich Minister — so bedient, wie das im Fernsehen auch zu sein pflegt, in dem man nämlich mit 1,10 — sagt der Redakteur — schon hervorragend bedient ist. Auf diese Weise wird das Volk, als ob man ein Kaleidoskop drehte, über Fragen aufgeklärt, die gelegentlich vielleicht doch etwas mehr Gründlichkeit verdient hätten.
Dies vorausgeschickt, möchte ich zum Haushalt auf das Bezug nehmen,
was Herr von Schmude ausgeführt hat. Ich möchte dem Bundesminister der Justiz, Hans Engelhard, sehr herzlich dafür danken — zugleich aber auch, naturgemäß, allen seinen Mitarbeitern, die das häufig noch bedeutend direkter betrifft als den Minister persönlich —,
daß er in der Tradition des Hauses geblieben ist und dieses Haus mit bemerkenswerter Sparsamkeit führt. Es gibt ja wohl wirklich wenig Gelegenheit, im Haushaltsausschuß erregte Debatten zu führen. Nicht zuletzt deshalb, vermutlich, haben wir soeben die Peinlichkeit erlebt, Herr Häfner, daß Sie sich hier über Gemälde, welcher Art auch immer, Gedanken machen.
Wir haben uns schon untereinander verständigt, wer als nächster gemalt gehört. Aber dazwischen liegen noch ein paar Wahlvorgänge, Frau Kollegin. Wir werden dann jedenfalls nicht die geringsten Einwendungen erheben.
Es gibt übrigens — wenn ich das an der Stelle einfügen darf — mit solchen Gemälden — es können auch Fotografien sein — sehr schwierige Vorgänge. Im Oberlandesgericht zu Braunschweig hängt das Foto eines früheren Chefpräsidenten, der später Senatspräsident am Volksgerichtshof geworden ist. Ich
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Kleinert
habe in letzter Zeit verhältnismäßig viel Briefwechsel wegen dieses Fotos gehabt, und ich habe dabei sehr unterschiedliche Ansichten zu der Frage kennengelernt, ob man es nun wegen der späteren Entwicklung dieses Mannes einfach abhängen und sozusagen verdrängen sollte und ob es überhaupt neben den Bildern der vom Nazi-Regime verfolgten Präsidenten hängen sollte oder ob es nicht richtiger wäre, solche Bilder in der Reihe der Jahre, wie sie nun einmal der Justiz zugewachsen sind, hängen zu lassen, damit wir uns alle mit jedem einzelnen Stück unserer Geschichte und den sie auch bei dem kleinen Oberlandesgericht Braunschweig verkörpernden Personen immer wieder auseinandersetzen.Ich habe mich nach Abschluß dieser Korrespondenz, übrigens im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Justiz, der wegen einer Gedenkveranstaltung einbezogen war, dazu bekannt, daß man solche Bilder hängen lassen soll.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Häfner?
Es ist, glaube ich, nach den Ereignissen der letzten 14 Tage keineswegs ein anekdotisches Thema, sondern es geht um die Frage, die Herr de With auf andere Weise aufgegriffen hat: ob und wie wir uns unserer Vergangenheit zu stellen haben. Und an welchem Beispiel ich dies hier darstelle, überlassen Sie bitte mir, und kritisieren Sie anschließend.
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage, Herr Kollege Kleinert? Sagen Sie bitte ja oder nein!
Nein. Wegen des Hinweises der SPD-Fraktion, daß das Thema schon ausgeschöpft sei, Herr Häfner, kann ich leider jetzt nicht weiter darauf eingehen.Ich möchte den nächsten Dank anschließen — und da wird die Sache schon erheblich wichtiger — : Ich danke dem Herrn Minister Engelhard nicht nur für eine sparsame Haushaltsführung, sondern auch für eine sparsame Gesetzgebung. Denn es gibt hier doch gar niemanden, der nicht am Wochenende und in den sitzungsfreien Wochen bei dieser und jener Versammlung seinen Unmut über die Gesetzesflut freudig und reichlich Ausdruck verliehe, hier jedoch seine Gesetze wieder und wieder einklagte und anmahnte.Wenn man dann nicht einen Bundesjustizminister hätte, der all diesen Ansinnen mehr oder weniger wichtiger, mehr oder weniger modernistischer Art gleichmäßig standhaft — und zwar auf Grund fester Prinzipien — widerstünde und nur auf die wirklich wichtigen Dinge einzugehen bereit wäre, dann würden wir genauso furchtbar fortfahren, wie das z. B. teils mit, teils ohne wichtige Gründe in den Jahren zwischen 1970 und 1980 der Fall gewesen ist.Tacitus sagt dazu: Corruptissima re publica plurimae leges.
Das heißt im deutschen Text — die Lateiner konnten das ja sehr schön verkürzen — : Nicht etwa der korrupte sondern der verdorbene Staat — das scheint mir eine Vorstufe zu sein, manchmal durchdringt es sich auch — hat die meisten Gesetze. Er weist geradezu darauf hin, was für eine Wechselwirkung hier besteht: indem nämlich keineswegs der Staat, der erst einmal verdorben ist, sich deshalb besonders viele Gesetze gibt, sondern indem viele Gesetze zur Verderbnis des Staates beitragen können; zum Exempel: durch zusätzliches Anspruchsdenken der Bürger, etwa durch eine zu große Einengung bürgerlicher Freiheiten und dergleichen mehr.
Wir haben es jetzt nicht mehr nötig, den § 240 des Strafgesetzbuches — so sprach der Bundesjustizminister — zu ändern, weil wir uns auf eine sehr wichtige Instanz stützen können, nämlich die Rechtsprechung, die klargestellt hat, was angeblich so unklar war. Also werden wir nicht jenen folgen, die uns einreden wollen, hier müßten wir ein zusätzliches Gesetz machen. Die sichere Folge wären weitere Ausuferungen.Wir sind der Meinung, daß das Äußerste versucht werden sollte, das Insolvenzrecht noch in dieser Legislaturperiode so weit voranzubringen, daß es entweder schon jetzt oder alsbald in der nächsten Legislaturperiode verabschiedet werden kann.In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Sache hinweisen, die in allen rechtlichen Zusammenhängen eine erhebliche Bedeutung hat, nämlich daß wir viel mehr auf die Interessenlage der Rechtsuchenden und ihrer unmittelbaren Vertreter, der Rechtsanwälte, achten sollten, und daß ein vor Beginn eines Prozesses unterschriebener Vergleich in allen rechtlichen Bereichen — das gilt sowohl für die vorhin erwähnte Finanzgerichtsordnung wie für das bürgerliche Recht wie auch für das Verwaltungsrecht — zur Gerichtsentlastung viel besser ist als das ständige Herumbasteln an Symptomen, z. B. durch die Erhöhung von Streitwertgrenzen.Solche durchgängigen Gedanken kann man verfolgen, aber nur, wenn man nicht in Einzelfall-Hektik verfällt, sondern die großen Aufgaben, wie z. B. all das, was uns jetzt im anwaltlichen Standesrecht aufgegeben ist, vor Augen behält. Das Ziel müssen Beiträge der viel größer gewordenen Anwaltschaft zur rechtzeitigen friedlichen Beilegung von Konflikten und nicht durch fadenscheinige Verfahrensrechtsänderungen zahlenmäßig reduzierte Konflikte vor den Gerichten sein, sowie schließlich eine dramatisch verringerte Zahl der Richter. Das ist allerdings ein Fernziel einer solchen Entwicklung und nicht etwa eine augenblickliche Forderung. Mit der dann erst möglichen Qualitätssteigerung und dem besseren finanziellen Ausgleich für diese Qualitätssteigerung wird es uns in Zukunft vielleicht leichter gemacht, an der ei-
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nen oder anderen Stelle generalklauselmäßig auf den Richter zu bauen, anstatt alles selbst regeln zu wollen.Über diese Dinge lassen Sie uns weiter und mit möglichst langem und zukunftsweisendem Atem miteinander sprechen, aber nicht in Einzelheiten — mal ist es der, mal jener — die Sache forcieren, die dann am Wochenende als übertrieben dargestellt wird. Dann sind wir auf dem Wege, in der Gesetzgebung so sparsam zu sein, wie der Bundesjustizminister in seinem Haushalt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Diller.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, daß ich als Haushälter abweichend vom sonstigen Brauch zu ein paar Dingen Stellung nehme, die in den Berichterstattergesprächen und in den Ausschußdiskussionen eine Rolle spielten. Dabei will ich mich nicht lange mit dem Ärgernis aufhalten, daß CDU/CSU und FDP, von dem Groll des Generalbundesanwalts über ein Jahr genervt und offenbar zermürbt, den Beschluß des Haushaltsausschusses von 1987 aufheben ließen, um dem Generalbundesanwalt doch noch zu einem Porträt zu verhelfen.
Möge er damit glücklich sein, auch nach seiner Pensionierung in den Räumen der Bundesanwaltschaft wenigstens durch ein teures Gemälde ständig mahnend gegenwärtig zu sein. Soll damit — damit greife ich Ihren Zwischenruf auf — aus der Staatskasse nachträglich bezahlt werden, was mit oder ohne Einverständnis, was im oder ohne Auftrag des Generalbundesanwalts schon längst durch künstlerische Hand geschaffen ist? Und warum sind CDU, CSU und FDP beim Ölportrait so spendabel, Herr von Schmude, während sie an die Finanzierung höchst sensibler Aufgaben wie einer Ausstellung „Justiz im Nationalsozialismus" und einer Gedenktafel für die Opfer der NS-Justiz mit spitzem Bleistift herangehen, um Streichungen vorzunehmen, die heute vornehm verschwiegen werden? Ihr Handeln im Ausschuß hat bei uns zu Recht Empörung auslösen müssen.Möge die Ausstellung „Justiz im Nationalsozialismus" durch die angestrebte finanzielle Beteiligung der Länder doch noch einen würdigen Rahmen erhalten und alle wichtigen Dokumente zeigen können. Möge die Ausstellung auch inhaltlich nichts verschweigen, nichts beschönigen, sondern offen und im Klartext Schuld und Schuldige beim Namen nennen.
Wer in diesem recht knapp dotierten Einzelplan, Herr von Schmude, nach Einsparungsmöglichkeiten sucht, der möge eine Diskussion aus dem Jahre 1982 aufgreifen. Damals wurde die Bundesregierung mit der Bundesratsdrucksache 144/82 gebeten, zu prüfen, ob man nicht auf Millionen von Doppelspeicherungen von Justizdaten beim Kraftfahrtbundesamt einerseits und beim Bundeszentralregister andererseits verzichten und sich damit arbeitstäglich — man stelle sich das vor — mehr als 10 000 überflüssige Anfragen ersparen könne. Damalige Berechnungen gingen von einem Einsparpotential von 45 Millionen DM auf allen Ebenen aus.Experten geben im übrigen mit ihrem Hinweis auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 1983 zu bedenken, daß nicht nur wirtschaftliche Überlegungen gegen eine Doppelspeicherung von strafrechtlichen Entscheidungen sprechen, bei denen ein Straßenverkehrszusammenhang gegeben ist. Bevor man in Flensburg und Berlin überflüssige elektronische Datenverarbeitungskapazitäten aufbaut, sollte die Regierung endlich ihre seit sechs Jahren andauernde Untätigkeit beenden und dem Haushaltsausschuß eine sachgerechte Konzeption vorlegen.Hunderte von Millionen DM — Kollege von Schmude hat das angesprochen — sollen demnächst in den Aufbau einer zukunftssicheren EDV beim Deutschen Patentamt investiert werden, damit dort das sogenannte papierlose Patentamt Wirklichkeit wird. Japan ist uns hier durch die Investition von 2 Milliarden DM schon ein weites Stück voraus, einer Summe, die dort im übrigen durch zwei drastische Gebührenerhöhungen finanziert werden konnte. Ich denke, auch in der Finanzierung kann man von Japan lernen, nicht nur in der Technik, zumal der Vergleich der laufenden Einnahmen und Ausgaben seit Jahren eine rückläufige Selbstfinanzierungsquote zeigt.Aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Deutschen mit dem Europäischen Patentamt erwächst im übrigen zunehmend sozialer Sprengstoff. Das beginnt beim Vergleich der Diensträume, setzt sich in der Stellenplansituation fort und gipfelt in dem Skandal, daß man für gleichartige Tätigkeiten bei dem einen Amt ein Mehrfaches netto verdienen kann, nur weil „Europa" auf dem Türschild steht. Hier ist das Ministerium zu mehr gefordert, als nur durch das Aushandeln von Übergangsquoten für Prüfer einer Massenabwanderung hochqualifizierter Mitarbeiter zum Europäischen Patentamt vorzubeugen. Europäische Gehälter müssen wieder Bodenhaftung bekommen, denke ich, und dürfen sich nicht immer schneller von hiesigen Gehältern entfernen.
Unser Antrag, die Wehrstrafgerichtsbarkeit aus dem Haushalt ersatzlos zu streichen, fand leider keine Mehrheit. Ich meine, wir sollten diesem Geisterhaushalt — seit 1984 sind alle Ausgaben ständig qualifiziert gesperrt gewesen — ein Ende bereiten, indem wir auf die Ausschöpfung der Ermächtigung nach Art. 96 Abs. 2 des Grundgesetzes verzichten. Dem Antrag der GRÜNEN, der uns heute zur zweiten Lesung vorliegt, stimmen wir zu, ohne — das betone ich ausdrücklich — uns die Begründung zu eigen zu machen; denn die ist wirklich skandalös.
Kritisieren müssen wir die Tatsache, daß CDU/CSU und FDP bei ihrer Suche nach Einsparmöglichkeiten ausgerechnet, Herr Kollege von Schmude, Herr Kol-
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Dillerlege Weng, den Titelansatz „Kosten für Reformaufgaben im Justizbereich" um 20 % kürzen. Wollen Sie denn wirklich, daß Ihr Minister noch langsamer vorankommt, weil er keinen externen Sachverstand mehr finanzieren kann? Die Erschließung externen Sachverstandes durch Gutachten und Kommissionen ist notwendig, weil durch die personellen Engpässe im Ministerium — ich zitiere den Herrn Staatssekretär — dringend notwendige, zum Teil auch vom Deutschen Bundestag vorgegebene Vorhaben nicht oder nicht zeitgerecht abgewickelt werden können. Dies mußte er mir gegenüber eingestehen. In seiner Stellungnahme räumt er ein, daß derzeit 16 Vorhaben nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung vorankommen — sie stehen auf der Liste, die ich hier in der Hand halte — , darunter die so wichtige Strukturanalyse der Rechtspflege, die Insolvenzrechtsreform, das Umwelthaftungsrecht, die konzeptionelle Aufbereitung des Themas „Biotechnologie und gewerbliche Schutzrechte" und die Ratifizierungen von Protokollen zur Europäischen Menschenrechtskonvention sowie von UN-Menschenrechtspakten, insbesondere dem Antifolterübereinkommen.Weitere 15 Vorhaben — sie stehen auf dieser Liste, die ich jetzt hochhalte — könne das BMJ, so der Staatssekretär, überhaupt nicht bearbeiten, darunter die Gesamtreform des Strafverfahrensrechts, die Regelungen des ärztlichen Heileingriffs, die Überprüfung des strafrechtlichen Sanktionssystems. Immerhin, dieser Bericht hat die Koalition so beeindruckt, daß dem Ministerium in letzter Minute zwei Richterstellen mehr bewilligt wurden.Streichen bei den Sachmitteln, Aufstocken des Personals beim gleichen Fragenkomplex, das nenne ich Hü- und Hott-Politik, die keine klaren politischen Leitlinien der Koalitionsfraktionen erkennen läßt. Das beklagenswerte Ergebnis: In der Rechtspolitik wird auf der Stelle getreten. Mein Kollege Hans de With hat es deutlich gemacht. Aber wen wundert dies bei dieser politischen Führung? Den Haushalt des Bundesjustizministers lehnen wir deshalb ab.Eine letzte Bemerkung zu dem zweiten Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN. Auch diesen Antrag lehnen wir ab; denn er hat nichts im Justizministerium zu suchen. Hier geht es nicht um Rechtstatsachenforschung, sondern bestenfalls um Tatsachenforschung, und das kann man anders finanzieren.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz, Herr Engelhard.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht wird sich mancher hier im Raume noch der ersten Lesung des Justizetats am 8. September dieses Jahres erinnern, als der Moloch Innenpolitik die gesamte zur Verfügung stehende Zeit verschlang und ich die Ehre und das Vergnügen hatte, hier — wenn auch nur in der gebotenen Kürze — als Erst- und Letztredner für die Rechtspolitik aufzutreten. Ich erwähne das Thema deshalb, weil beachtet werden sollte, daß man, dem Rang der Rechtspolitik und unserem Selbstverständnis entsprechend, diesmal den Etat hinter dem Etat des Kanzlers und dem des Auswärtigen Amtes plaziert hat. Das hier festzustellen halte ich für wichtig.
Ich danke an dieser Stelle sehr herzlich den Mitgliedern des Haushaltsausschusses, insbesondere den Berichterstattern unseres Etats. Wir haben mit unseren Anliegen bei allen Schwierigkeiten der Durchsetzung einzelner Projekte großes Verständnis gefunden. Ich sehe es nicht immer nur von jenen Punkten, wo man sich durchgesetzt oder wo man sich nicht durchgesetzt hat. Mit dem, was durchgesetzt wurde, wird gleichzeitig für die Mitarbeiter des Ministeriums für die weitere Arbeit ein Stück Motivation geschaffen, weil sie sich verstanden fühlen; das ist ein wichtiger Punkt.Herr Kollege Diller hat speziell zu dieser Frage einiges angesprochen. Wir sind dem Umfange nach ein kleiner Haushalt; wir sind fast ein reiner Personalhaushalt. Weil Verwaltungsarbeit im Detail sehr wenig anfällt, ist das Kernstück unseres Bedarfs, das Rückgrat des Betriebs, der höhere Dienst, der Volljurist, weil wir ein Rechtsetzungsministerium sind, weil wir als Begleiter des Gesetzgebers gefordert sind und darin unsere Hauptarbeit liegt.Dies hat in der Vergangenheit in der Tat zu beträchtlichen Schwierigkeiten geführt. Es ist vielleicht ganz gut, wenn einer der Berichterstatter, wie es der Herr Kollege Diller hier getan hat, einmal auflistet, wie die Klage des Bundesministeriums der Justiz und seines Staatssekretärs lautet, welche Vorhaben nur mit zeitlicher Verzögerung und welche in einer Legislaturperiode wie dieser überhaupt nicht angepackt werden können, weil Engpässe vorhanden sind, weil es nicht mehr möglich ist, jeweils jemanden zu den notwendigen und wichtigen Veranstaltungen in Akademien, also überall dort hinzuschicken, wo wir gefordert sind, da er bei der Arbeit im Hause abgeht. Es ist wichtig, das einmal ganz offen anzusprechen.Meine Damen und Herren, wir haben in dieser Legislaturperiode eine ganze Reihe von wichtigen Dingen auf den Weg gebracht oder sind, wo dies noch nicht geschehen konnte, dabei, sie auf den Weg zu bringen. Ich erwähne die Insolvenzrechtsreform.
Der Qualität dieses Entwurfs nach ist es von Anfang an ein Referentenentwurf. Aber weil die Abstimmung innerhalb der Bundesregierung in der Kürze der Zeit noch nicht möglich war, ist es bis heute ein Diskussionsentwurf. Ich glaube, wenn jetzt im Bundesarbeitsministerium wichtige und drängende Themen bewältigt sind, wird dort genügend Kapazität vorhanden sein, sich auch dieser Frage so nachdrücklich zuzuwenden, daß wir sehr bald zu einem Referentenentwurf und sodann zu einem Regierungsentwurf kommen können, so daß es mit Ihrer aller Hilfe möglich sein wird, noch in dieser Legislaturperiode nichts
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Bundesminister Engelhardunversucht zu lassen, um dieses wirklich gelungene Werk ins Bundesgesetzblatt zu bringen.
Meine Damen und Herren, in diesen Tagen ist der Referentenentwurf eines Betreuungsgesetzes versandt worden. Das ist eine wichtige Sache. Sie wissen, daß wir für diesen Plan, die Entmündigung abzuschaffen und Vormundschaft und Pflegschaft in einem neuen Rechtsinstitut zusammenzufassen und einer grundlegenden Neuregelung zu unterziehen, quer durch das Land, allerorten und allenthalben Beifall und Zustimmung bekommen haben.
Auch hier bitte ich Sie nachdrücklich um Ihre Unterstützung, weil bei den weiteren Beratungen natürlich deutlich werden wird, daß durch dieses Gesetz ein finanzieller Mehrbedarf entsteht, der von den Ländern getragen werden muß. Aber in einer Zeit, in der die Menschen älter werden, in der immer mehr ältere Menschen zum Ende ihrer Tage in die Situation geraten, nicht mehr selbst, ganz allein ihre Angelegenheiten bestimmen und in der Hand halten zu können, ist der Gesetzgeber aufgerufen, auch mit der Lampe des Grundgesetzes in so manchen bisher nicht so erleuchteten Winkel des geltenden Rechts hineinzuleuchten. Das ist ein wichtiges Thema, das in dieser Legislaturperiode bewältigt werden muß.Ich nenne ein drittes Vorhaben, was Freunde der Tiere mit der Kurzbezeichnung „Tier als Sache" benennen. Das ist ein wirkliches Thema. Wir müssen klarmachen, daß das Tier im privaten Rechtsverkehr zwar durchaus als Sache gewertet wird, daß wir das Tier aber ansonsten — auch rechtlich — nicht als einen toten Gegenstand verstehen, sondern es als ein Mitgeschöpf begreifen.
Da haben wir ein Problempapier an die Länder auf den Weg geschickt und um Stellungnahme gebeten. Ich hoffe, daß das jetzt allmählich zügig weitergeht, weil allenthalben natürlich Ministerien in solchen Fragen manchmal allzu zuwartend, allzu abwägend sind. Man muß sich eine solche Sache gut anschauen. Aber ich frage: Was ist dagegen einzuwenden, wenn der Gesetzgeber ganz konkret würde und wenn — das schlage ich vor — etwa bei der Heilbehandlung, wenn ein Tier verletzt worden ist, die Behandlungskosten durchaus den Wert des Tieres überschreiten könnten? Bei einem Hund, der kein Rassehund ist, der praktisch keinen materiellen Wert darstellt, dürfen die Behandlungskosten nicht auf den Wert begrenzt werden, der dem Wert des Hundes im Geschäftsverkehr entspricht. Nein, für ihn muß so viel aufgewendet werden können, wie jeder verständige Tierhalter dafür ausgeben würde.Wir sehen weiter im Zwangsvollstreckungsrecht vor, daß die Pfändung eines Haustieres, wenn es nicht Erwerbszwecken dient, untersagt ist.Das sind Themen, die drängend sind,
denen wir uns zuwenden müssen. Ich glaube, daß demgegenüber manches andere Thema, das heute hier angesprochen wurde, durchaus zurücktreten kann.
Meine Damen und Herren, in einer Haushaltsdebatte ist es der gute Brauch, und es bleibt im guten Stil, Herr Kollege de With, wenn Sie das, was Ihnen an der Rechtspolitik nicht bequemt, sehr deutlich beim Namen nennen. Nur sind solche Geschosse zuweilen aus jenem Holz geschnitzt, aus dem man auch Bumerangs macht, und darauf sollte man sehr sorgfältig achten.
Wenn Sie die Frage der Staatszielbestimmung „Umweltschutz" ansprechen, dann bitte ich Sie doch nicht zu übersehen, daß wir aufeinander zugehen müssen.
Ohne daß ich dazu einen Auftrag hatte, habe ich einen Vorschlag vorgelegt, auf den man sich meines Erachtens, aber nicht nur nach meiner Einschätzung, durchaus verständigen könnte. Darüber und über vieles andere einmal nachzudenken wird die Aufgabe der weiteren Monate sein. Ich glaube, in einer so zentralen Frage können wir zusammenkommen.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich bei den Berichterstattern, die wichtige Vorhaben des Bundesministeriums der Justiz zur Bewältigung der Vergangenheit angesprochen haben. Ich sehe es als Aufgabe auch meines Amtes an, spätestens jetzt, im Jahre 1988, einen Beitrag zur Aufklärung jenes großen Dunkelfeldes der Justiz im Nationalsozialismus zu leisten. Deshalb auch ein Forschungsauftrag zum Thema des Volksgerichtshofs, deshalb die Ausstellung, die im Frühjahr des nächsten Jahres in Berlin eröffnet wird, deswegen das Mahnmal auf dem Gelände der Richter-Akademie in Trier.
Ich denke, daß gerade auch wir gefordert sind, wo wir im kommenden Jahr 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland feiern, und zu diesem Feiern haben wir allen Grund. Da wird es schwer sein, diese Feier mit jemanden wie dem Abgeordneten Häfner zu begehen. Er hat heute von „40 Jahren Gewalt"
und davon gesprochen, daß das Strafrecht in diesem Land ein Feind- und Gesinnungsstrafrecht ist. Es fragt sich, wie man hier eigentlich eine gemeinsame Ebene soll betreten können.Aber was — und darauf, meine Damen und Herren, lege ich Wert — mit jenen Feiern Hand in Hand gehen wird und muß, das ist immer erneut die Rückerinnerung an die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Hier sind wir immer gefordert. Da mag jener 9. November 1938 nach dem Kalender jetzt natürlich schon Vergangenheit sein; als Aufgabe des
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Bundesminister EngelhardNachdenkens, des Sich-Erinnerns bleibt er eine lebendige Wirklichkeit, der wir uns immer und immer wieder stellen müssen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über die Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3339? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der GRÜNEN auf Drucksache 11/3340? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 07. Wer dem Einzelplan 07, Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz, in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Haushalt ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 19, Bundesverfassungsgericht, in der Ausschußfassung ab. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das ist einstimmig angenommen.
Ich rufe auf: Einzelplan 23
Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit
— Drucksachen 11/3219, 11/3231 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Ersters Borchert
Frau Seiler-Albring Frau Rust
Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/3372 und 11/3373 vor.
Der Ältestenrat schlägt eine Stunde Beratungszeit vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Esters.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die diesjährige Beratung des Einzelplans 23 war für uns im Haushaltsausschuß alles andere als vergnügungssteuerpflichtig. Wenn die Koalitionsfraktionen die parlamentarische Verantwortung für den Haushalt des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit übernehmen, können sie dabei — da bin ich ganz sicher — kein gutes Gefühl haben. Noch nie war die Glaubwürdigkeitslücke zwischen den politischen Ankündigungen der Bundesregierung und den mit dem Einzelplan 23 verfolgten Zielen so groß wie in diesem Jahr. Hier ist in der Tat Gefahr im Verzuge.
Der Etat des BMZ weist für 1989 rund 7,1 Milliarden DM aus.
Frau Präsidentin, spielen Sie mit der Elektronik? Es leuchtet hier immer etwas.
Nein, keineswegs.
Hier leuchtet immer „Präsident" auf.
Wenn das beim Einzelplan 02 vorgekommen wäre, dann hätte ich gesagt: Hier hat man vor, die IuKMedien-Kommission in die Wüste zu schicken. Aber jetzt klappt es ja offensichtlich.Der Etat weist also 7,1 Milliarden DM aus. Das sind rund 700 Millionen DM weniger, als in der ursprünglichen mittelfristigen Finanzplanung vorgesehen waren. Rechnerisch liegen die Mittel des Einzelplans um 4,3 % über den in 1988 verfügbaren Mitteln. Wegen der im Gesamthaushalt ausgebrachten globalen Minderausgaben und der einzelnen Sperren im Haushaltsgesetz sind jedoch bereits jetzt Kürzungen im Entwicklungsetat in Millionenhöhe unvermeidbar.
In Wirklichkeit dürfte die Steigerungsrate des Einzelplans 23 nach Jahren der Stagnation deshalb lediglich bei rund 3,5 % liegen. Demgegenüber steigt der Gesamthaushalt in diesem Jahr um rund 5,4 %.
Der Bundeskanzler und der Bundesfinanzminister haben noch am 7. September 1988 hier erklärt, es sei besonders wichtig, dem fatalen Zusammenwirken von Bevölkerungsexplosion, Armut und Umweltzerstörung in weiten Teilen der südlichen Erdhälfte Einhalt zu gebieten. Von diesen Einsichten und Ankündigungen ist in diesem Einzelplan leider nur sehr wenig wiederzufinden. Was sind die Bekenntnisse des Bundeskanzlers denn wert, wenn der Anteil der deutschen Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt in diesem Jahr bei weiterhin sinkender Tendenz den Tiefstand von 0,38 % erreichen wird?
Wohlgemerkt: 1981, unter Bundeskanzler Helmut Schmidt, hat dieser international gültige Maßstab 0,48 % betragen.
Dieser deutliche Abstieg unserer Leistungen ist kein Ruhmesblatt für die Bundesrepublik Deutschland.
Er markiert eine Provinzialisierung der Entwicklungspolitik,
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Estersdie einer reichen Industrienation unwürdig ist.
Wir fordern deshalb die Mehrheit dieses Hauses auf, in dritter Lesung unserem Entschließungsantrag zuzustimmen, den Einzelplan 23 zu Lasten des Einzelplans 14 um eine Milliarde DM zu erhöhen.
Im Zuge der Beratungen des Haushaltsausschusses ist mehr als deutlich geworden, wo diese Mittel fehlen. An erster Stelle ist hier der Europäische Entwicklungsfonds zu nennen. Ich habe keinen Zweifel, daß sich die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition in ihrer Bereitschaft, die europäische Sache zu stärken, von niemandem übertreffen lassen werden. Gemessen an dem, was der Kanzler und der Finanzminister vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Toronto und der Tagung von Weltbank und IWF in Berlin angekündigt haben, gemessen aber vor allem an den drängenden Sorgen der Entwicklungsländer darf der Entwicklungshaushalt 1989 nicht wie ein schäbiger Pflichtbeitrag für den Klingelbeutel der internationalen Solidarität wirken.
Ich will dem zuständigen Ressortminister nicht unterstellen, daß er sich kein besseres Ergebnis gewünscht hätte. Wir begrüßen ausdrücklich, daß es endlich gelungen ist, die Zinskonditionen für die bilaterale finanzielle Zusammenarbeit deutlich zu verbessern. Den meisten Entwicklungsländern wird das allerdings nur dann nützen, wenn wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und unsere Finanzierungsbeiträge im wesentlichen für Projekte und Programme einsetzen, die zur eigenständigen Entwicklung dieser Länder beitragen.
Wir stimmen auch den von der Bundesregierung beschlossenen Schuldenerleichterungen für die ärmsten Entwicklungsländer zu. Wir wissen allerdings, daß die bis 1987 erlassenen Schulden in einer Gesamthöhe von 4,2 Milliarden DM zum überwiegenden Teil, nämlich in Höhe von 3,6 Milliarden DM, zur Zeit der sozialliberalen Koalition erlassen worden sind. Der Beitrag dieser Regierung ist also kaum des Aufhebens wert, das darüber in der Öffentlichkeit veranstaltet wird.
Diese Zugeständnisse des Bundesfinanzministers hat allerdings der Bundesminister Klein teuer erkaufen müssen. Erstmals soll der BMZ Aufgaben übernehmen, die bislang unstreitig vom BMF oder von der Bundesbank wahrgenommen wurden. Wer auch immer im BMF oder bei der Bundesbank auf die Idee gekommen ist oder sie sich hat einreden lassen, durch Öffnung eines zusätzlichen Fensters beim Währungsfonds eine Konkurrenz zu Weltbank und IDA zu schaffen, deren entwicklungspolitischer Nutzen weder in den Entwicklungsländern noch bei uns erkennbar ist, der muß für die Finanzierung dieses überflüssigenExperiments, bitte schön, in seinem Etat selbst aufkommen.
Es kann nicht angehen, daß dem BMZ entwicklungsfremde Aufgaben des IWF aufgezwungen werden.
Der ohnehin geringe entwicklungspolitische Gestaltungsspielraum im Einzelplan 23 wird dadurch noch stärker eingeschränkt. Dies liegt nicht in unserem nationalen Interesse. Wir werden deshalb alles tun, damit diese Fehlentwicklung spätestens im Haushalt 1989 rückgängig gemacht wird, und ich hoffe sehr, daß die Kolleginnen und Kollegen der Koalition hier mit von der Partie sind, liebe Ulla.
Noch gravierender ist, daß aus dem Einzelplan 23 erstmals Zinssubventionen für die Umschuldung von Handelsschulden gewährt werden sollen. Diese vom BMF und vom Bundeswirtschaftsminister gegen den erbitterten Widerstand des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit durchgepaukte Entscheidung
widerspricht allen ordnungspolitischen Grundsätzen dieser Regierung.
Sie ist das blanke Gegenteil von Subventionsabbau und führt auf Sicht, wenn diese Fehlentscheidung nicht noch in letzter Minute verhindert wird, zur totalen Ausplünderung der deutschen Entwicklungshilfe.
Ich weiß sehr wohl, daß zur Zeit in den Erläuterungen von einer Begrenzung auf 16 Länder die Rede ist. Ich bin aber ganz sicher, daß damit ein Tor geöffnet wird und daß aus allen möglichen, u. a. auch aus gesamtpolitischen, Gründen vieles in der Zukunft möglich sein wird, was wir uns heute noch nicht denken können. Die Beteiligung der deutschen Wirtschaft und der deutschen Banken, die der Herr Bundeskanzler aufgefordert hat, sich bei der Lösung der Verschuldungskrise zu engagieren, haben wir uns in dieser Form allerdings nicht vorgestellt. Wir werden dem deutschen Steuerzahler zu erklären haben, was dieser Vorgang in Wirklichkeit bedeutet: die Sozialisierung von Verlusten, die unsere Exportwirtschaft selbst zu verantworten hat.
Ich bin den Kolleginnen und Kollegen der Koalition dafür dankbar, daß sie im Haushaltsausschuß wenigstens dafür gesorgt haben, daß sowohl der Selbstbehalt der privaten Unternehmen von 10 % als auch jegliche Rüstungs- sowie polizeiliche und militärische Ausrüstungsgeschäfte von einer Zinssubventionierung ausgeschlossen sind.
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EstersNoch besteht die Hoffnung, daß die Mehrheit des Haushaltsausschusses dem von der Regierung verfolgten Kurs auf Dauer nicht folgt. Wir haben deshalb auch die entsprechenden neuen Titel qualifiziert gesperrt. Ich hoffe, daß wir im kommenden Jahr noch einmal in Ruhe die Konsequenzen der hier eingeschlagenen Politik beraten können. Ich hoffe vor allem, Herr Minister, daß damit eine noch größere Gefahr von Ihrem Haus in letzter Minute abgewendet werden kann.Gefährdet wäre auch die Gemeinsamkeit unserer Entwicklungspolitik, wie sie im Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. März 1982 zum Ausdruck kommt. Wir stehen nach wir vor zu diesem Beschluß und erwarten, daß er nicht ohne Not von der Koalition aufgekündigt wird.Wir bekennen uns dazu, daß eine wirksame Entwicklungspolitik auch finanzielle Opfer erfordert. Ich erinnere hier an den Antrag meiner Fraktion aus dem Jahre 1985, durch den die Bundesregierung aufgefordert wurde, dem Deutschen Bundestag Lösungsvorschläge zur zukünftigen Verwendung von Tilgungs- und Zinsrückflüssen aus der Finanziellen Zusammenarbeit vorzulegen. Ich erinnere ferner daran, daß der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 18. März 1987 zugesagt hat, Rückflüsse aus der Kapitalhilfe schrittweise wieder zur Finanzierung neuer Maßnahmen einzusetzen.Im vergangenen Jahr habe ich darauf hinweisen können, daß das Bundesfinanzministerium durch haushaltstechnische Tricks, Herr Dr. Carl, verhindert hat, daß die angenommenen 100 Millionen DM in 1988 auch kommen. Es kommen in Wirklichkeit rund 31 Millionen DM. Wir haben mit unserer Annahme recht gehabt: Sie haben den BMZ damals finanztechnisch ausgetrickst. Ich hoffe, daß dies bei dem diesjährigen Ansatz von 120 Millionen DM nicht erneut geschieht.Enttäuschend ist, daß die Bundesregierung und die Koalition trotz jahrelanger Beratungen auch in diesem Jahr nicht die Kraft aufgebracht haben, die Bremser im Bundesministerium der Finanzen in die Schranken zu weisen.
Der Beschluß, mit dem Sie die Lösung des Problems erneut auf das nächste Jahr vertagt haben, gehört für mich gewiß nicht zu den Sternstunden des parlamentarischen Budgetrechts.
Der Haushaltsausschuß ist sich darüber einig, daß für die Lösung der Rückflußproblematik 1990 ein neuer Titel mit der Zweckbindung eingeführt wird, in geeigneten Fällen aus Rückflüssen den Aufbau entwicklungswichtiger Kapitalvermögen in Entwicklungsländern zu finanzieren. Wir erwarten, daß dadurch die Bildung revolvierender Fonds nach dem Vorbild des ERP-Sondervermögens ermöglicht wird, die in erster Linie zur Finanzierung von Inlandskosten der Entwicklungsländer beitragen sollen.Aus Zeitgründen kann ich im Moment nicht auf den Bereich zurückkommen, der mir eigentlich noch am Herzen liegt, nämlich das enorme Absinken der Privatinvestitionen in den letzten Jahren in den Ländern der Dritten Welt, auch nicht auf den Bereich, der mit der Geschäftspolitik der DEG in Köln zusammenhängt. Hier sieht es im Augenblick, Herr Minister, so aus, daß das Institut auf der Basis der neuen Geschäftspolitik für eine Finanzierung aus dem Einzelplan Ihres Ministeriums überflüssig wird. Hier eröffnet sich dem Kollegen Weng, Frau Seiler-Albring, ein enormes Betätigungsfeld für den Bereich der Privatisierung.
— Es ist nett von Ihnen, daß Sie ihm das sagen wollen.Der Einsatz des Haushaltsausschusses für den Einzelplan 23, Herr Minister, hat in diesem Jahr, was bei Haushältern nicht selbstverständlich ist, auch persönliche Gründe. Wir spüren, glaube ich, alle, daß der Bundesminister Klein dringend parlamentarische Unterstützung braucht, damit sein Haushalt nicht mit Ausgabetiteln gefüllt wird, deren Bewirtschaftung durch den Bundesminister der Finanzen, durch die Deutsche Bundesbank oder durch den Bundesminister für Wirtschaft erfolgt.Ich könnte mir im nächsten Jahr, Herr Minister Klein, sehr gut eine Initiative vorstellen, die auch vom ganzen Deutschen Bundestag getragen werden könnte. Überzeugen Sie den Bundeskanzler und dann gemeinsam mit ihm den Bundesfinanzminister davon, daß es im Rahmen der 40-Jahr-Feiern im Jahre 1989 eine international nicht zu überhörende Geste wäre, wenn das ERP-Sondervermögen ein zweites Fenster bekäme. Wir würden unseren Partnern in den Ländern der Dritten Welt verständlich machen, in welcher Weise wir bereit sind, die Hilfe, die wir beim Wiederaufbau unseres Landes nach den Grauen des zweiten Weltkrieges erhalten haben, an andere weiterzugeben. Eine solche Initiative für ein zweites Fenster im ERP-Sondervermögen zugunsten der Entwicklungsländer, finanziert aus Zins- und Tilgungsleistungen, also aus Rückflüssen, würde der Bundesrepublik Deutschland weltweit und erst recht in der eigenen Bevölkerung mehr Ansehen einbringen, als alle Feierlichkeiten im nächsten Jahr zusammengenommen.Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir die Gründung feiern und dabei der Weltöffentlichkeit verschweigen, daß dieses Vermögen — das ERP-Sondervermögen — heute immer noch nach dem Gesetz aus dem Jahre 1953 „dem Aufbau der kriegszerstörten deutschen Wirtschaft" dient. Hier kann man sich ein Politikfeld vorstellen, Herr Minister, in dem das Gemeinsame über dem Trennenden stehen könnte.
Das Wort hat der Abgeordnete Borchert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin, ich habe den
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7504 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
BorchertZwischenruf nicht verstanden, sonst wäre ich gleich gern darauf eingegangen.
— Will ich gerne machen.Lieber Herr Kollege Helmut Esters, wir werden trotz Ihrer Ausführungen dem Etat des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit gutem Gefühl zustimmen,
weil, wie ich glaube, in diesem Etat eine Reihe wichtiger Punkte auf den Weg gebracht worden ist.
Ich will mich jetzt nicht an der Zahlenspielerei beteiligen, denn in den Zahlen ist eines nicht deutlich geworden: die Maßnahmen, die außerhalb des Etats von der Bundesregierung in diesem Jahr beschlossen worden sind und die sich in den folgenden Jahren mit Sicherheit im Etat niederschlagen werden. Die Bundesregierung hat den ärmsten Ländern, vor allen Dingen den hochverschuldeten armen Ländern in Afrika, zusätzlich 3,3 Milliarden DM Schulden erlassen. Damit steigt der Schuldenerlaß auf insgesamt über 7,5 Milliarden DM,
der bereits verwirklicht oder vorgesehen ist und damit zukünftige Haushalte erheblich belastet. Der Beschluß dafür ist gefaßt. Durch diese Schuldenstreichung werden gerade die ärmsten Staaten, die ja häufig die Hälfte ihrer Exporterlöse für den Schuldendienst aufbringen müssen, erheblich entlastet.Darüber hinaus sind durch eine Reihe weiterer Maßnahmen — ich erwähne nur die Kapitalerhöhung der Afrikanischen Entwicklungsbank, die Wiederauffüllung des Afrikanischen Entwicklungsfonds, das Sonderprogramm für die hochverschuldeten Länder in Afrika, erhebliche Anstrengungen unternommen worden, um mehr Finanzmittel gerade in die ärmsten Länder Afrikas zu leiten. Diese Maßnahmen öffnen für die betroffenen Länder neue Perspektiven zur Überwindung ihrer Schuldenprobleme.
Ich meine aber, daß die finanzielle Hilfe von außen in den Entwicklungsländern mit einer Wirtschaftspolitik einhergehen muß, die im eigenen Land die Kapitalbildung ermöglicht, Wachstumskräfte freisetzt und attraktive Investitionsbedingungen schafft und damit die Kapitalflucht in diesen Ländern eindämmt. Aber wir müssen uns dabei fragen: Reagieren wir auf solche Reformvorhaben in den Entwicklungsländern bereits ausreichend? Ich meine, wir müssen die Eigenanstrengungen der Länder gezielt unterstützen, indem wir reformbereiten Ländern etwa zusätzliche Mittel der Finanziellen Zusammenarbeit zur Verfügung stellen.
Das bedeutet, wir müssen Abschied nehmen, Frau Kollegin, von dem System der starren Länderquoten und flexibel auf die Entwicklung in den Ländern reagieren;
denn damit schaffen wir Anreize für Reformbemühungen und ermutigen die Länder, auf diesem Weg fortzufahren.
— Vielen Dank, Herr Kollege. — Hilfreiche Instrumente sind hierbei etwa Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe, Stärkung der privatwirtschaftlichen Kräfte und Förderung des Handwerks etwa dadurch, daß Kleinkredite für solche Branchen verfügbar sind. Diese Instrumente müssen wir gezielt weiter ausbauen.Auf dem letzten Wirtschaftsgipfel in Toronto im Juni dieses Jahres haben sich die Industrieländer verpflichtet, den hochverschuldeten Ländern, vor allem in Afrika, zu helfen. Die Bundesregierung hat hieraus sehr schnell die Konsequenzen gezogen. Sie hat sich zu dieser Verpflichtung bekannt und die Konditionen erheblich verbessert. Der Kollege Esters hat darauf bereits hingewiesen.Mit diesem Beschluß ist in der Finanziellen Zusammenarbeit der Zuschußanteil erheblich gewachsen. Der größte Teil der Empfängerländer kommt in den Genuß der günstigsten Kreditkonditionen. Damit erhalten auch diese Länder über günstigere Konditionen wieder eine Perspektive zur Überwindung ihrer Probleme.
— Auch in den schwarzafrikanischen Ländern, Herr Kollege. Bei der Umschuldung von verbürgten Handelsschulden sind für 16 afrikanische Länder Zuschüsse zu Zinszahlungen eingeräumt worden mit dem Ziel, die Zinslasten um 50 % zu reduzieren.Der Kollege Esters hat bereits darauf hingewiesen, daß wir im Haushaltsausschuß verbindlich beschlossen haben, daß der Selbstbehalt, der ja im Bürgschaftsfall von den Exporteuren zu leisten wäre, und Forderungen aus Rüstungslieferungen und aus militärischen und polizeilichen Ausrüstungen nicht unter den Zuschußanteil fallen.Dieses neue Instrument wie auch die Beiträge zur erweiterten Strukturanpassungsfazilität hat der Haushaltsausschuß qualifiziert gesperrt, um diese Instrumente und deren Zuordnung zum Einzelplan 23 noch einmal intensiv zu diskutieren und möglicherweise für den Haushalt des Jahres 1990 daraus dann andere Konsequenzen zu ziehen.Der Umweltschutz muß stärker als bisher Bestandteil der Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern werden. In der bilateralen Hilfe der Bundesrepublik sind für alle Entwicklungsprojekte Umweltverträglichkeitsprüfungen vorgeschrieben. Ich meine,
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Borchertdies muß auch in die multilaterale Zusammenarbeit übernommen werden.Die Bundesregierung hat nach dem Gipfel in Toronto, bei dem sie die besondere Bedeutung der Umweltschutzmaßnahmen betont hat, 150 Millionen DM zusätzlich für den Schutz tropischer Regenwälder zur Verfügung gestellt. Wir erwarten, daß auch für die kommenden Jahre spürbar erhöhte Mittel für Maßnahmen des Umweltschutzes, vor allen Dingen zum Schutz der tropischen Regenwälder und für die Forstentwicklung, eingesetzt werden.Bei den Beratungen im Haushaltsausschuß haben wir die Mittel für Maßnahmen der personellen Zusammenarbeit maßvoll erhöht. Bei der gegebenen Haushaltslage sind diese Ansätze angemessen. Wir erwarten jedoch von der Bundesregierung, daß sie die steigende Bedeutung der Maßnahmen zur Entwicklung personeller Ressourcen in den Entwicklungsländern auch in Zukunft angemessen berücksichtigt. Ihre Absicht, einheimische Fachkräfte für entwicklungswichtige Aufgaben einzusetzen und entsprechend weiter zu fördern, weist in diese Richtung. Die personelle Zusammenarbeit muß vor allem Hilfe für die Entwicklung personeller Ressourcen in der Dritten Welt werden. Besonders unterstreichen möchte ich im Bereich der personellen Zusammenarbeit die Bedeutung etwa von Lehrerprogrammen in afrikanischen Ländern, mit denen wir ja gute Erfahrungen gemacht haben.Die Neustrukturierung der Titel „Maßnahmen zur Förderung des Handwerks" und „Förderung von Partnerschaften" ist ein wichtiger Ansatz im Haushaltsplan 1989. Durch eine Umorganisation im Ministerium sind die Voraussetzungen für die Partnerschaftsförderung im Bereich der privatwirtschaftlichen Zusammenarbeit geschaffen und verbessert worden. Damit können die bewährten Partnerschaftsprogramme etwa mit Handwerkskammern und anderen Organisationen weitergeführt und ausgeweitet werden.
Die bisher entwickelten Ansätze zu einer eigenständigen Projektdurchführung dürfen aber jetzt nicht durch administrative Abwicklungsformen erschwert werden. Ich meine, die für den Titel zu erarbeitenden Richtlinien müssen Durchführungsformen im Rahmen von Regierungsabkommen in gleicher Weise vorsehen wie die Förderung durch Zuwendungsbescheide. Gerade in diesem Bereich erscheint es mir nötig, die Identifikation der deutschen Träger mit den Problemen des Partners im Interesse langfristiger Erfolge zu steigern.Beim Wiedereinsatz der Rückflüsse aus der Finanziellen Zusammenarbeit, über die wir in den vergangenen zwei Jahren ja bereits intensiv diskutiert haben, ist für den Haushalt 1989 sichergestellt, daß der Betrag von 120 Millionen DM zu Beginn des Haushaltsjahres zur Verfügung steht und daß das Ministerium mit diesen Mitteln arbeiten kann. Wir werden über den Einsatz im Haushalt 1990 erneut zu diskutieren haben. Der Haushaltsausschuß hat den Auftrag gegeben, für den Haushalt 1990 eine Bruttolösung vorzusehen, bei der die Rückflüsse auf der Ausgabenseite eingestellt werden, damit die Diskussion über die Verfügbarkeit der Mittel beendet wird.Wir werden dann auch über eine weitergehende Verwendung zu diskutieren haben. Wir können dabei auch gern über die Fondslösung diskutieren. Ich bin der länderbezogenen Fondslösung gegenüber nach wie vor sehr skeptisch, Herr Kollege.Lassen Sie mich noch auf einen Punkt eingehen, der uns, glaube ich, alle bedrückt. 12 Millionen Flüchtlinge — der größte Teil in Ländern der Dritten Welt als Folge von Krieg, Bürgerkrieg und Menschenrechtsverletzungen — stellen an die Entwicklungspolitik besonders hohe Anforderungen. Der überwiegende Teil der Flüchtlinge flieht heute aus Entwicklungsländern in Entwicklungsländer. Ich meine, es ist unsere Aufgabe, alle Möglichkeiten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu nutzen, um Fluchtursachen zu vermindern und die Flüchtlingsaufnahmeländer in der Dritten Welt wirkungsvoll zu entlasten.
Wir müssen unsere Anstrengung zur Lösung des Weltflüchtlingsproblems verstärken und unseren Einfluß geltend machen, um eine noch bessere internationale Koordinierung der Maßnahmen sicherzustellen.In den vergangenen zehn Jahren sind die Haushaltsansätze für wirtschaftliche Zusammenarbeit kontinuierlich gesteigert worden. Von 1975 bis heute sind die Baransätze um über 100 % gestiegen. Gleichzeitig ist die Zahl der Großprojekte zurückgegangen. Die Zahl kleiner Projekte hat bei gestiegenen Qualitätsanforderungen zugenommen.Ein höheres Mittelvolumen, eine größere Zahl von Projekten bei gestiegenen Qualitätsanforderungen wird von einer nach wie vor gleichen Zahl von Mitarbeitern im Bundesministerium abgewickelt. Daß diese Aufgabe bewältigt werden kann, ist, meine ich, ein Beweis für die Leistungsbereitschaft und die Motivation der Mitarbeiter im BMZ.
Für diese Leistung möchte ich mich bei allen Mitarbeitern im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit sehr herzlich bedanken. Ohne ihr Engagement wäre diese Abwicklung, glaube ich, nicht möglich.
Ich möchte Ihnen, Herr Minister Klein, und Ihren Mitarbeitern für die gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung und bei der Beratung in diesem Jahr danken. Ich meine, daß die Motivation aller Mitarbeiter die wichtigste Voraussetzung zur Lösung der Aufgaben ist, die sich der Entwicklungspolitik in den nächsten Jahren stellen.Mit dem Haushalt 1989 werden die Mittel für die wirtschaftliche Zusammenarbeit weiter erhöht, die entwicklungspolitischen Instrumente den veränderten Rahmenbedingungen angepaßt und damit die Effizienz der Hilfe weiter erhöht. Das sind für uns gute Gründe, um dem Haushalt zuzustimmen.
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7506 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
BorchertVielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Eid.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Die Haushaltsdebatte gibt uns Gelegenheit, die momentan besonders umstrittenen Punkte der Bonner Entwicklungspolitik zu behandeln. An erster Stelle möchte ich auf das neuerdings festzustellende Interesse der Bundesregierung für Ökologiefragen in der Dritten Welt eingehen. Das hat der Kollege Borchert ja auch noch einmal demonstriert.Gerade anläßlich der kürzlich stattgefundenen IWF- und Weltbank-Jahrestagung in West-Berlin haben Bundeskanzler Kohl und auch Sie, Herr Minister Klein, in eindringlichen Bekenntnissen ihren unermüdlichen Einsatz zum Schutz der tropischen Regenwälder bekundet. Der entscheidende Glaubwürdigkeitstest für diese Lippenbekenntnisse zum Schutz der Umwelt steht kurz bevor. Noch nie war die Aufmerksamkeit der bundesdeutschen Öffentlichkeit so auf eine Einzelentscheidung im Exekutivdirektorium der Weltbank gerichtet wie bei dem anstehenden zweiten Energiesektorkredit für Brasilien.
Die verheerenden ökologischen und sozialen Zerstörungen durch das brasilianische Energieprogramm, für das dieser Kredit vorgesehen ist, stehen außer Frage. Die Vernichtung der Regenwälder in Brasilien würde um einiges beschleunigt — mit katastrophalen Auswirkungen auf das Weltklima; Tausende Menschen würden aus ihren Dörfern vertrieben.Welche Position wird die Bundesregierung beziehen? Im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat der Parlamentarische Staatssekretär Köhler am 9. November weitreichende Zusagen bezüglich des weiteren Entscheidungsverfahrens gemacht. Er hat zugesagt, daß sich die Bundesregierung erst dann endgültig festlegen wird, nachdem der Bundestag diesen Brasilien-Kredit an Hand unseres Antrages, nämlich „Kein weiterer Energiesektor-Kredit an Brasilien" ausführlich behandelt hat. Die vorherige parlamentarische Beratung soll auch bei eventueller Dringlichkeit gesichert sein. Der Kollege Pinger hat sich in diesem Fall für eine Sondersitzung des AWZ ausgesprochen.
Die Regierungsfraktionen müssen wissen, daß ihr Engagement für die tropischen Regenwälder jegliche Glaubwürdigkeit verliert, wenn sie es in diesem Fall unterlassen, die Bundesregierung zu einer ablehnenden Haltung zu bewegen.
Der vorliegende Etatentwurf für das BMZ macht deutlich, daß die Entwicklungshilfe-Gelder zunehmend als Ersatz für die Schuldendienstzahlungen aus der Dritten Welt eingesetzt werden. Dabei ist für uns der entscheidende Punkt, daß die BMZ-Mittel nicht für dauerhafte Entschuldungsschritte — also zur Entlastung der Schuldnerländer — verwendet werden. Vielmehr geht es der Bundesregierung bei diesen neuen Haushaltstiteln darum, die Ansprüche der Gläubiger zu befriedigen.
Erstes Beispiel: Die Finanzierung der Erweiterten Strukturanpassungsfazilität dient ausschließlich dazu, die Liquidität des IWF sicherzustellen.
Die zahlungsunfähigen Staaten — vor allem in SubSahara-Afrika — können nämlich ihre Schulden an diese Institution nicht mehr zurückzahlen.
Wenn nun im BMZ-Haushalt die Gelder für die Erweiterte Strukturanpassungsfazilität aufgebracht werden sollen, halten wir es nur für logisch, daß dann auch aus diesem Ressort die Vertreter der Bundesregierung in den IWF entsandt werden.Zweites Beispiel: die Zinszuschüsse bei den Hermes-Krediten bei gewissen afrikanischen Staaten. Diese Länder sind auf lange Sicht zahlungsunfähig. Es gibt keine andere Lösung, als ihnen die Hermes-Kredite restlos zu erlassen.
Wenn nun auf Teile der Zinsen verzichtet wird, sollte damit nicht der Entwicklungshilfe-Haushalt belastet werden. Denn es handelt sich dabei um die absehbaren Folgekosten einer im Ansatz verfehlten Exportförderung durch die Hermes-Bürgschaften, bei denen weder entwicklungspolitische noch ökologische Kriterien irgendeine Rolle spielen.
Die Leistungen müssen also vom Wirtschafts- oder Finanzministerium oder — besser noch — von der ertragsstarken bundesdeutschen Exportwirtschaft übernommen werden.
Drittes Beispiel: Nach Presseberichten versucht das Finanzministerium derzeit, die Schadenszahlungen für Hermes-Bürgschaften an Dritte-Welt-Länder auf den BMZ-Haushalt abzuwälzen. Dabei geht es um Milliardenbeträge. 1987 hatte der Bundeshaushalt ein Gesamtdefizit von 1,5 Milliarden DM aus den Exportbürgschaften zu verkraften; die Tendenz ist steigend. Nach Meinung der GRÜNEN hilft da nur eins: Das gesamte System der Hermes-Bürgschaften sollte privatisiert werden.
Auch die ausstehenden Risiken müßten von der Privatwirtschaft übernommen werden.
Die schamlose Verwendung der Entwicklungshilfe für die Interessen der eigenen Wirtschaft muß ein Ende finden, Herr Minister. Die GRÜNEN haben folgende Anträge in die zweite und dritte Lesung des Haushalts 1989 eingebracht. Mit ihnen wollen wir die von uns gewünschte grundlegende Neuorientierung für die Bonner Entwicklungspolitik exemplarisch aufzeigen:
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Frau EidErstens. 1989 steht uns eine neue Propagandawelle aus dem BMZ bevor. Dieses Ministerium ist so in die Defensive geraten und bei der eigenen Bevölkerung so diskreditiert, daß sein Ansehen mit großem Werbeaufwand wieder aufpoliert werden muß.
Jeder Anlaß ist dazu recht. 1989 ist es das 40jährige Bestehen der Bundesrepublik, das dem BMZ zusätzlich 200 000 DM wert ist. Wir fordern, daß dieses Geld an die Nicht-Regierungsorganisationen und die Dritte-Welt-Basisgruppen für ihre regierungsunabhängige Öffentlichkeitsarbeit gegeben wird.
Zweitens. Wir fordern die Rückzahlung des Eigenkapitals der DEG an die Bundesregierung zur entwicklungspolitischen Verwendung.
Da die DEG in Zukunft privatwirtschaftlich ohne jegliche entwicklungspolitische Vorgabe arbeiten soll, ist auch ihr Kapital von der Privatwirtschaft aufzubringen.Drittens. Wir fordern die Streichung des bundesdeutschen Beitrags für die erweiterte Strukturanpassungsfazilität, weil es dabei um eine verdeckte Liquiditätsspritze für den IWF geht.Viertens. Wir fordern die Wiederaufnahme der Entwicklungshilfe für Nicaragua, insbesondere jetzt nach den gewaltigen Hurrikan-Schäden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Zeit für eine grundlegende Neuorientierung der bundesdeutschen Beziehungen zur Dritten Welt mit dem Ziel einer umfassenden Durchsetzung der Menschenrechte und des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen ist reif. Das große Engagement der bundesdeutschen Öffentlichkeit anläßlich der IWF/Weltbank-Tagung in Berlin hat gezeigt: Immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft lehnen die aggressive Durchsetzung wirtschaftlicher Eigeninteressen unter dem Deckmantel einer angeblich karitativen Entwicklungshilfe ab. Zusammen mit ihnen setzen wir uns für gerechte weltwirtschaftliche Strukturen ein, weil wir nicht die rücksichtslose Wohlstandssicherung auf Kosten anderer, sondern das gemeinsame Wohlergehen in der einen Welt im Blick haben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Folz-Steinacker.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir in der heutigen Haushaltsdebatte den Einzelplan 23 des BMZ beraten, können wir dies nicht tun, ohne erneut auf die Massenarmut und Unterentwicklung in den Ländern der Dritten Welt hinzuweisen. Wir stehen in der moralischen Verantwortung, den Menschen in diesen Ländern bei ihrem Kampf gegen Hunger, Armut und soziale Rückständigkeit zu helfen. Nord-Süd-Politik ist keine Frage von Almosen. Sie muß vielmehr Teil einer weltweiten, auf Frieden und Stabilität ausgerichteten Politik sein. Die FDP wird auch weiterhin für eine Politik eintreten, die die Menschen der Dritten Welt bei der eigenständigen und selbstbestimmten Entwicklung ihrer Länder und der Erreichung eines menschenwürdigen Daseins unterstützt, die den äußeren und inneren Frieden und die Geltung der Menschenrechte weltweit sichert und die die wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen allen Staaten fördert.
— Aber eine gute Sprechblase.Wir sind uns bewußt, daß es für Entwicklungszusammenarbeit kein Patentrezept gibt.Der fortschreitende Differenzierungsprozeß zwischen den Entwicklungsländern erfordert, die Ziele und Strategien der Zusammenarbeit am Bedarf, den Ressourcen und Werten der jeweiligen Länder zu orientieren.Entwicklungszusammenarbeit darf darüber hinaus nicht auf die Bereitstellung finanzieller Mittel beschränkt bleiben. Entscheidend für den Entwicklungserfolg eines Landes ist vielmehr die Schaffung der dafür erforderlichen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen.Der eingeleitete Prozeß des Abbaus entwicklungshemmender Strukturen sowie der Mobilisierung von Marktkräften und Eigeninitiativen in den Entwicklungsländern muß daher ganz nachhaltig fortgesetzt werden. Nur durch ein Mehr an Freiheit und Eigenverantwortung für den einzelnen sowie weniger Staat und Bürokratie lassen sich die Voraussetzungen für eine eigendynamische Wirtschaftsentwicklung schaffen.
— Vielen Dank, Herr Kollege.So kommt zum Beispiel der Europäischen Gemeinschaft eine ganz wichtige Rolle zu. Die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes bis 1992 darf nicht nur zur Stärkung der Wirtschaftskraft der EG führen, sondern muß auch zusätzliche Chancen für die Entwicklung der Dritten Welt eröffnen.Diese Chancen können jedoch nur dann genutzt werden, wenn die Europäische Gemeinschaft nach außen offen bleibt.
Den Gefahren von Protektionismus und Abschottungstendenzen, wo immer sie auch auftreten, muß daher wirksam begegnet werden. Die Nichtdiskriminierung einzelner Handelspartner, das grundsätzliche Verbot nichttarifärer Handelshemmnisse sowie der Grundsatz umfassender Ausgewogenheit sollten in den Drittlandsbeziehungen der Europäischen Ge-
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7508 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Frau Folz-Steinackermeinschaft maßgebend sein. Notwendig ist ein konstruktiver Beitrag der Europäischen Gemeinschaft bei der bevorstehenden Halbzeitkonferenz der laufenden Verhandlungsrunden des GATT in Montreal.
— Herr Kollege, hören Sie gut zu. Insbesondere im Agrarbereich muß eine wirksame Verringerung der Exportsubventionen bei Nahrungsmitteln erfolgen.
In jeder meiner Reden ist das eingebunden, Herr Kollege. — Nur so werden sich die marktorientierten Reformen in den Entwicklungsländern voll entfalten und die Chancen dieser Länder im Welthandel verbessern können.Die EG ist bereits heute ein ganz wichtiger Partner der Staaten der Dritten Welt. Die Lomé-, die Mittelmeerabkommen sowie die Kooperationsverträge mit den ASEAN-Staaten, den Staaten Lateinamerikas und dem Golf-Kooperationsrat sind hierfür gute Beispiele. Es ist zu begrüßen, daß mit den gerade begonnenen Verhandlungen über die Erneuerung des AKP/ EWG-Abkommens — Lomé IV — die bewährte Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten dynamisch fortentwickelt werden soll. Das gilt vor allem für die handelspolitische Zusammenarbeit und die Unterstützung von Strukturanpassungsbemühungen der AKP- Staaten.Darüber hinaus ist es dringendst erforderlich, die Bereiche Bevölkerungspolitik und, liebe Kollegin, Umweltschutz in das neue Abkommen aufzunehmen.Meine Damen und Herren, wenn ich nunmehr den Blick auf den Haushalt 1989 richte, so darf ich zunächst feststellen, daß damit auch weiterhin ein notwendiger finanzieller Beitrag im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt geleistet werden kann. Unter Berücksichtigung der Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses ergibt sich beim Einzelplan 23, für den ich heute spreche, für das Haushaltsjahr 1989 ein Baransatz von über 7,1 Milliarden DM. Das entspricht einer Steigerungsrate von 4,3 % gegenüber dem zur Verfügung stehenden Soll des Vorjahres.
Unter Einbeziehung der für einen Wiedereinsatz vorgesehenen Tilgungsrückflüsse erhöht sich die Steigerungsrate sogar — „sogar" ist vielleicht nicht der passende Ausdruck — auf 4,5 %. Ich hätte mir gewünscht, daß es mehr wäre.
Dies ist ein „erfreuliches" Ergebnis, das den Stellenwert unserer Entwicklungspolitik deutlich macht.Im Zuge der parlamentarischen Beratungen konnte auf Initiative der Bundestagsfraktionen von CDU/ CSU und FDP, die in vielen Bereichen auch von denFraktionen der Opposition mitgetragen wurde — wofür wir uns bedanken —,
eine wesentliche Verbesserung gegenüber dem Regierungsentwurf erreicht werden.
— Was möchten Sie denn jetzt hören?Dadurch konnten eine noch stärkere Schwerpunktbildung in entwicklungswichtigen Sektoren vorgenommen und mit einer Erhöhung der Verpflichtungsermächtigungen die Voraussetzungen für einen erweiterten Handlungsrahmen in den künftigen Haushaltsjahren geschaffen werden. Ich denke, wir werden uns darüber noch länger unterhalten müssen.Ich darf an dieser Stelle ganz ausdrücklich begrüßen, daß die Bundesregierung in einem weiteren Schritt eine Erhöhung der für einen Wiedereinsatz bestimmten FZ-Tilgungsrückflüsse vorgenommen hat. Ebenfalls sollte die Verbesserung der FZ-Konditionen angesprochen werden. Leider habe ich nicht mehr genug Zeit, um dazu Stellung zu nehmen.Damit hat die Bundesregierung einer parlamentarischen Forderung entsprochen. Dennoch bleibt die Bundesregierung aufgefordert, auch in den künftigen Haushaltsjahren eine weitere schrittweise Erhöhung dieses Ansatzes vorzusehen.Meine Damen und Herren, unter Berücksichtigung der in diesem Haushaltsjahr gewonnenen Erfahrungen ist gleichzeitig zu prüfen, ob das gegenwärtige haushaltsmäßige Verfahren der beabsichtigten entwicklungspolitischen Zielsetzung gerecht wird.Meine Damen und Herren, die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Einzelplan 23 zu. Wir erwarten, daß Sie, Herr Minister Klein, und Ihr Haus die für 1989 bereitgestellten Mittel und Verpflichtungsermächtigungen wirksam und unter Beachtung ökologischer Gesichtspunkte zur Unterstützung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Dritten Welt einsetzen.
Hierbei haben Sie, Herr Minister, und Ihre Mitarbeiter unsere volle Unterstützung.
Das Wort hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Klein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Haushalt des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit 1989 wird insgesamt 7,109 Milliarden DM betragen. Das sind 4,6 % mehr als im laufenden Jahr. Im Rahmen der bilateralen Finanziellen und Technischen Zusammenarbeit, für die 4,473 Milliarden DM im Einzelplan 23 angesetzt wurden, sind je gut 40 % für Afrika und Asien vorgesehen, knapp 14 % für Lateinamerika, der Rest für Europa
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7509
Bundesminister Kleinund Ozeanien. Über die Hälfte unserer Mittel, genau 51,74 %, gehen an die ärmsten und ärmeren Entwicklungsländer.Doch die Zahlen allein, in denen sich das Engagement der Bundesrepublik Deutschland für die 3,8 Milliarden Menschen in der Dritten Welt nur statistisch ausdrückt, vermitteln ein unzulängliches Bild. Ich halte die Beschlüsse der Bundesregierung zur deutschen Entwicklungspolitik, auf die auch mein Kollege Borchert dankenswerterweise hingewiesen hat und die im Laufe dieses Jahres gefaßt wurden, sich aber im wesentlichen erst ab 1989 auswirken werden, für mindestens ebenso entscheidend.Erstens. Streichung von weiteren 3,6 Milliarden DM Schulden ärmerer und ärmster Entwicklungsländer. Damit das niemand anmahnen muß, füge ich hinzu, daß 4,2 Milliarden DM Schulden in den vorausgegangenen zehn Jahren bereits unter meinen Vorgängern erlassen wurden. Aus den Reaktionen der betroffenen Länder, die dadurch um ein Schuldendienst-Soll im kommenden Jahr von 80 Millionen DM — das realistischerweise zu erwartende Ist wäre wohl nur halb so hoch — entlastet werden, wissen wir, daß diese deutsche Maßnahme vielfach Hilfe in höchster Not, Deblockierung anderweitig zugesagter, aber wegen Zahlungsrückständen nicht überwiesener Mittel, einen Beitrag zur Lösung des Schuldenproblems und zur Schaffung neuer Spielräume auch in der Umweltpolitik bedeutet.Zweitens. Verbesserung der Kreditbedingungen für die im Rahmen der Finanziellen Zusammenarbeit gewährten Entwicklungsdarlehen. Neben Zuschüssen für die ärmsten Entwicklungsländer wird es künftig für einen kleinen Kreis bereits fortgeschrittenerer Länder der Dritten Welt Kredite zu sogenannten Standardkonditionen geben, für die Masse unserer Partner aber IDA-Konditionen, also die von der Entwicklungsagentur der Weltbank eingeräumten Bedingungen (0,75 % Zinsen, 10 Freijahre, 40 Jahre Laufzeit).
Drittens. Erhöhung der Mittel für forstwirtschaftliche Maßnahmen zur Rettung des tropischen Regenwaldes bereits im laufenden Haushaltsjahr. Wir haben den Ansatz von 108 Millionen DM auf über eine Viertelmilliarde DM angehoben. Das sind keine Lippenbekenntnisse, Frau Kollegin Eid, sondern konkrete Maßnahmen.
Somit ist auch die Größenordnung für das kommende Haushaltsjahr programmiert. Dadurch ist die Bundesrepublik Deutschland — unseren Beitrag zu multilateralen Leistungen nicht mitgerechnet — an den weltweit eingesetzten Entwicklungshilfegeldern für Forstmaßnahmen
überproportional, mit 15 %, beteiligt. Umfang und Geschwindigkeit der Vernichtung des tropischen Regenwaldes sind allerdings so gigantisch, daß außergewöhnliche Anstrengungen zwingend sind. Und weilnur global koordinierte Gegenmaßnahmen Wirkung versprechen, fügen wir unser Engagement in den Rahmen des Tropenwaldaktionsplans der FAO ein.
Zusammen mit den zuständigen Mitarbeitern meines Hauses habe ich deshalb bereits die notwendigen Schritte mit dem FAO-Generaldirektor und seinem Stab in Rom vereinbart.Die neu gefaßte Erläuterung zu Tit. 86 601 ermöglicht sinnvollerweise für Umweltschutzprojekte künftig auch Zuschüsse aus der Finanziellen Zusammenarbeit über den Kreis der ärmsten Länder hinaus.
Viertens. Schrittweise Lösung der Rückflußproblematik. Bei einer noch nicht sehr großen, aber wachsenden Zahl von Ländern der Dritten Welt, die auf Grund ihres Entwicklungsstandes noch geraume Zeit auf Zufuhr konzessionärer Mittel angewiesen sein werden, übersteigen inzwischen die Zins- und Tilgungsleistungen die Neuzuweisungen. So selbstverständlich Kredite im Normalfall zurückzuzahlen sind, so problematisch ist diese Entwicklung angesichts der von den betroffenen Ländern nur teilweise selbst zu verantwortenden Verschuldung. Im laufenden Haushaltsjahr waren 100 Millionen DM Rückflüsse im Einzelplan 23 eingestellt, die aber auf Grund einer unzulänglichen haushaltstechnischen Konstruktion nur zu etwa einem Drittel verfügbar wurden.
Für 1989 sind 120 Millionen DM aus Rückflüssen vorgesehen. Gleichzeitig wurde Vorsorge getroffen, daß über diesen Betrag in voller Höhe von Beginn des Haushaltsjahres an verfügt werden kann.
Alle diese Beschlüsse sind mit entscheidender Unterstützung des Bundeskanzlers gefaßt worden. In seiner Regierungserklärung, auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Toronto, bei der Jahrestagung von Weltbank und IWF in Berlin und gegenüber dem Diplomatischen Corps in Bonn hat er diese Maßnahmen der Bundesrepublik Deutschland zugunsten der Entwicklungsländer auch öffentlich vertreten.Erlauben Sie mir an dieser Stelle auch ein Wort der Würdigung und des Dankes an den Haushaltsausschuß, insonderheit an die Berichterstatter für den Einzelplan 23, und an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Mit Sachkunde, Vor-Ort-Erfahrung und eigenen gestalterischen Vorstellungen haben Mitglieder aller Fraktionen des Hohen Hauses dabei mitgewirkt, das Instrumentarium der deutschen Entwicklungszusammenarbeit den neuen oder neu erkannten Herausforderungen anzupassen.Wenn Kolleginnen und Kollegen der Opposition auf ihren Anteil an dieser erfolgreichen Politik verweisen, widerspreche ich nicht. Im Gegenteil: Ich zögere nie, auch Ihre konstruktiven Beiträge öffentlich zu
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7510 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Bundesminister Kleinwürdigen. Das tue ich, Herr Kollege Esters, ungeachtet Ihres pflichtgemäßen rhetorischen Stirnrunzelns.
Dieser Grundübereinstimmung aller demokratischen Kräfte ist wesentlich der wachsende publizistische Zuspruch zu danken, den die Entwicklungszusammenarbeit findet und für den ich mich bei dieser Gelegenheit einmal bei den engagierten Journalistinnen und Journalisten bedanken möchte.
Ein ebenso herzlicher Dank gilt den Kirchen, den politischen Stiftungen und den NichtRegierungsorganisationen für ihre hingebungsvolle Arbeit in der Dritten Welt und ihre informierende und bewußtseinsbildende Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland.Gestatten Sie mir schließlich, von dieser Stelle aus auch den Mitarbeitern des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu danken, die bei der Erarbeitung des Haushalts wie bei seiner organisatorischen und praktischen Umsetzung trotz größter Personalknappheit Außergewöhnliches geleistet haben.
Meine Damen und Herren, wiewohl der Bundesfinanzminister und seine Beamten in diesem Prozeß naturgemäß oft eine Kontrahentenrolle zu spielen haben, wäre das jetzt erzielte Ergebnis ohne ihre verantwortungsbewußten und kenntnisreichen Anstrengungen nicht denkbar gewesen.Natürlich könnte ich mir ein höheres Haushaltsvolumen zur Erfüllung der weltweiten Aufgaben des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit vorstellen. Aber die Gestaltung der Einzelpläne ist — wem sage ich das, Herr Kollege Esters — ein mühsamer Prozeß des Interessenausgleichs. Mit der Schaufenster-Milliarde der SPD ist hier nichts zu bewirken.Natürlich beklage ich das Absinken unserer ODA- Quote, also des staatlichen Aufwands für die Entwicklungszusammenarbeit in Relation zum Bruttosozialprodukt. Ich räume auch ein, daß gerade angesichts eines so erfreulich gestiegenen Bruttosozialprodukts unser Einsatz für die Dritte Welt nicht nachlassen sollte. Aber die ODA-Quote ist nur eine, wenn auch international angewandte Bemessungsgrundlage für diese Arbeit. Schuldenstreichungen, Konditionenverbesserungen, Wiedereinsatz von Rückflußmitteln und vervielfachte Umweltschutzausgaben — die sich allesamt in der ODA-Quote nur minimal niederschlagen — stellen für zahlreiche Entwicklungsländer wesentlich wirksamere Hilfen dar als einfach nur erhöhter Geldeinsatz. Ich stimme mit der Kollegin Folz-Steinacker dabei voll überein, daß es in der Entwicklungszusammenarbeit kein global gültiges Patentrezept gibt. Aber mir liegt viel daran, unsere oft von bürokratischem Regelwerk verlangsamten Abläufe in der Entwicklungszusammenarbeit zu beschleunigen, die umfangreichen Erfahrungen, über die Ministerium und Durchführungsorganisationen verfügen, noch zielorientierter einzusetzen und über manche liebgewordene, aber ineffiziente Routine nachzudenken.Das schließt die Straffung unserer langwierigen Gutachterverfahren ein, die intensivere Berücksichtigung soziokultureller Gegebenheiten, die bessere Koordinierung mit und unter den Nicht-Regierungsorganisationen, den verstärkten Einfluß auf multilaterale Einrichtungen der Entwicklungszusammenarbeit, die raschere Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in legislativen und exekutiven Entscheidungsprozessen, doch auch eine Flexibilisierung der erstarrten Rahmenplanung.Mit Ausnahme eines guten halben Dutzends von Entwicklungsländern, die noch an marxistisch-staatsdirigistischen Wirtschaftsmodellen festhalten, ist in ganz Afrika, in ganz Asien, in ganz Lateinamerika eine Welle der Strukturanpassungen im Gang. Wir begrüßen und unterstützen das.Gleichzeitig sollten wir aber erkennen, daß viele dieser staatlichen Wirtschaftsstrukturen ein Ergebnis unserer vorrangig auf staatliche Partner ausgerichteten Entwicklungshilfe der letzten drei Jahrzehnte sind. Um den Aufbau der Privatwirtschaft zu fördern, genügt deshalb nicht ein mehr oder weniger bescheiden ausgestatteter Sektortitel. Wir müssen ganz neue Formen der Zusammenarbeit entwickeln.
Ein zweites, zur Dritten Welt hin geöffnetes Fenster im ERP-Sondervermögen, Herr Kollege Esters, oder die Errichtung revolvierender Entwicklungsfonds in einzelnen, dafür geeigneten Partnerländern wären Wege, die in diese Richtung weisen.
Ebenso notwendig erscheint mir, die Gießkanne in der Gießkanne in Frage zu stellen.Daß wir uns mit unserer Entwicklungszusammenarbeit aus keinem noch so kleinen Partnerland zurückziehen können, liegt angesichts der weltweiten Interdependenz auf der Hand. Daß wir aber in vielen Ländern der Dritten Welt agieren, als wären wir das dortige Entwicklungsministerium, indem wir an 30, 40, 50 verschiedenen Projekten und Projektchen beteiligt sind, macht wenig Sinn. Eine Konzentration auf die Lösung von Schlüsselproblemen wäre wirksamer.
Ganz besonders wichtig ist mir schließlich, die Armutsbekämpfung nicht als bloße Caritas oder als ideologisch motivierte Sonderaufgabe zu sehen, sondern durch Weckung und Unterstützung der Selbsthilfekräfte der armen und ärmeren Bevölkerungsschichten den armen und ärmeren Bevölkerungsschichten einen eigenständigen Platz in den Volkswirtschaften ihrer jeweiligen Länder erringen zu helfen.Dies alles, meine Damen und Herren, erfordert auch Geld, vor allem jedoch vorurteilsfreie Nachdenklichkeit und vertrauensvolle Zusammenarbeit.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7511
Bundesminister KleinIch danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über die Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN.
Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3372 zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Mit den Stimmen der Koalition abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3373? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung mit den Stimmen der SPD und der Koalition abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 23. Wer dem Einzelplan 23 — Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit — in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan 23 ist mit den Stimmen der Koalition angenommen.
Ich rufe auf: Einzelplan 27
Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen
— Drucksachen 11/3221, 11/3231 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Nehm Dr. Neuling
Hoppe
Kleinert
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3374 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Kein Widerspruch. So beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Büchler.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Fraktion betrachtet mit Sorge die politische Entwicklung des innerdeutschen Ministeriums. Wir müssen feststellen, daß immer mehr operative Aufgaben vom Ministerium zum Bundeskanzleramt hin verlagert werden. Beispiel für diese Entwicklung war kürzlich die öffentlich geführte Auseinandersetzung zwischen Bundesminister Schäuble und Herrn Staatssekretär Hennig. Hier wurde für jedermann sichtbar — wir haben das nochmal nachgelesen — , daß das innerdeutsche Ministerium über die Ergebnisse der Verhandlungen, z. B. über die Erhöhung der Transitpauschale, nicht unterrichtet war. Die Zurechtweisung des Parlamentarischen Staatssekretärs Hennig durch den Chef des Bundeskanzleramts trifft nicht nur die Person, sondern auch das Ministerium selbst. Ich kritisiere damit nicht die Arbeit in dem Ministerium, denn wir können sehr wohl zufrieden sein und müssen es auch anerkennen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums arbeiten hervorragend mit uns zusammen und arbeiten im Interesse der Sache wirklich vorzüglich.Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt den Haushaltsentwurf des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen aus einer Reihe von Gründen ab. Wir erkennen zwar an, daß die Bundesregierung in den vergangenen Jahren die sozialliberale Deutschlandpolitik mehr oder weniger fortgeführt oder, besser gesagt, verwaltet hat, neue Impulse sind allerdings nicht vorhanden, sind ausgeblieben. Mehr noch, in den letzten Jahren geht die Entwicklung der Deutschlandpolitik — das wird bei der Betrachtung des innerdeutschen Haushalts deutlich — in eine falsche Richtung. Das innerdeutsche Ministerium verabschiedet sich zusehends mehr aus der operativen Planung und Durchführung der Deutschlandpolitik. Wir Sozialdemokraten stellen fest, daß der Trend vom Auftrag des Ministeriums wegführt, die deutschlandpolitische Aufgabe der Bundesregierung wahrzunehmen.Das Ministerium entwickelt sich immer mehr zu einer Institution, die den Vertriebenenverbänden zuarbeitet und besonders in der Forschungsförderung und Öffentlichkeitsarbeit ideologische Ziele verfolgt.
— Da habe ich etwas ganz anderes gesagt.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Man will den rechten Rand der Union durch finanzielle Zuwendungen bei der Stange halten. Ein typisches Beispiel haben wir heute in der Ausgabe der „Schlesier-Zeitung" lesen können. Wir sollten sie uns gemeinsam ansehen. Dies ist wieder eine Sache, die wirklich von höchster Brisanz ist. Ich glaube, Frau Minister, wir müssen bei der Förderung der Vertriebenen darauf achten, daß so etwas in einer Zeitung, die wir mit unterstützen, nicht ermöglicht wird.
— Wir haben das letzte Mal darüber gesprochen. Ich sage aber dennoch: Wenn man Verbände so unterstützt, dann muß man bitte auch offene Worte dazu sagen dürfen.
Es stellt sich allmählich die Frage, ob das Ministerium in seiner jetzigen Konstruktion überhaupt noch eine sinnvolle Aufgabe hat. Das innerdeutsche Ministerium hat seine Existenzberechtigung auch dann verloren, wenn es sich weiter und noch viel mehr aus der operativen Deutschlandpolitik zurückzieht. Zur Zeit ist nicht gewährleistet, daß dieses Ministerium in der Deutschlandpolitik wirklich maßgebend mitwirkt.
Ich möchte dies an Hand des Haushaltsentwurfs untermauern. Die Förderung der Arbeit von Flücht-
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7512 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Büchler
lings- und Vertriebenenverbänden soll zum Jahr 1989 auf 5,4 Millionen DM steigen, also eine Steigerung von 20 % erfahren. Ich weiß natürlich, daß dieser Steigerung ein Beschluß des Bundestages zugrunde liegt, die mitteldeutsche Kulturarbeit zu fördern. Aber wir fragen uns insgesamt, was diese Politik soll. Die Förderung der Arbeit der Vertriebenenverbände gehört nach unserer Auffassung nicht in dem Maße in das Ministerium für innerdeutsche Beziehungen, sondern ist Hauptsache des Innenministeriums und soll es auch bleiben.
Dort wird diese Aufgabe vorwiegend wahrgenommen, und so sollte es auch bleiben.Das innerdeutsche Ministerium bekommt durch die Vertriebenenförderung zwar neue Aufgaben; das sehe ich ja ein. Diese führen aber — und das ist das Bedauerliche dabei — weg von der Aufgabenstellung des Ministeriums. Vertriebenenförderung im innerdeutschen Ministerium kann sogar zu außenpolitischen Verwicklungen führen. Ich sage das im Hinblick auf die geplanten Jugendreisen nach Polen. Ich glaube, dies gehört eindeutig in das Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Dort ist es gut angesiedelt. Dort sollte es angesiedelt sein.
Ich möchte in diesem Zusammenhang klarstellen, daß die SPD nicht gegen die Förderung der Heimatpflege und der Kulturarbeit der Vertriebenen ist. Brauchtum, Heimatsprache, Kunsthandwerk usw. aus diesen Ländern gehören ganz wesentlich zu unserer Tradition und zu unserem Selbstverständnis, und wir bekennen uns dazu. Aber wir müssen die Aufgabenteilung sehr genau beachten und auch richtig einordnen. Für die gerade genannten Aufgaben ist nach unserer Auffassung hauptsächlich das Innenministerium zuständig.Auch bei der deutschlandpolitischen Forschung haben wir Kritik zu üben: Hier haben Sie den Ansatz von 6,2 Millionen DM auf 9,1 Millionen DM erhöht. Das sind 60 %. Wenn man sich die Projekte anschaut, die gefördert werden und die zur Forschung freigegeben werden sollen, kann man an Hand der Liste feststellen, daß eine ganze Reihe von Ihnen nahestehenden Wissenschaftlern unterstützt werden sollen. Das ist das, was wir bedauern: Sie wollen hier den rechten Kreisen in den Universitäten Schützenhilfe geben.
— Nein, wir wollen sie nicht überprüfen. Aber die sagen auch öffentlich ihre Meinung. Dagegen ist nichts zu sagen. Ich wende mich nur dagegen, daß einseitig mit Geldern Politik gemacht wird, die die Bundesregierung zwar zu verwalten hat, die aber von den Steuerzahlern kommen. Das muß man in diesem Zusammenhang doch sehen.
Es gibt viele Aufträge; wir können sie der Reihe nach durchsehen.Es wird überhaupt nicht erkennbar, welchem Ziel die Forschungsförderung des Ministeriums dient. Bei manchen Vorhaben drängt sich der Verdacht auf, daß die Forschungspolitik gegen die operative Deutschlandpolitik des eigenen Ministeriums arbeitet. Wir sind nicht gegen die Forschungsförderung. Das ist gar keine Frage. Man hätte es auf der bisherigen Basis belassen können. Um etwas anderes geht es in diesem Zusammenhang gar nicht.Wir stellen uns in der Forschungsarbeit vor — das sage ich, damit das klar ist — , daß wirklich deutschlandpolitische Forschung für die Zukunft betrieben wird, daß die praktischen Felder der Zusammenarbeit erforscht werden, damit der Politik etwas an die Hand gegeben wird.
Es kann auch erforscht werden, wie die zwei deutschen Staaten mit den Drittländern im gemeinsamen Interesse operieren können. Darum geht es eigentlich. Damit hätte das innerdeutsche Ministerium wieder einen Ansatz von politischer Gestaltungsmöglichkeit. Das wollen wir nach vorn bringen. Es müssen Wissenschaft-Foren geschaffen werden, auf denen die einzelnen Fragen diskutiert werden, damit man weiß, wie in den einzelnen Ländern gedacht wird und wo wirklich Felder der Zusammenarbeit gegeben sind.Natürlich kann eine bessere Anwendung der Forschungsergebnisse dazu beitragen, daß wieder Politik in diesem Ministerium gemacht wird und daß vor allem im Bundeskanzleramt in Zukunft die handwerklichen Fehler vermieden werden. In den letzten zwei, drei Jahren sind wiederholt handwerkliche Fehler in der Deutschlandpolitik gemacht worden, die wir alle miteinander teuer bezahlen müssen.Der nächste Punkt, der uns besonders am Herzen liegt, betrifft die Streichung der Mittel für RIAS-TV. Wir bleiben dabei, was wir im Zusammenhang mit unserem Antrag im innerdeutschen Ausschuß gesagt haben. Die GRÜNEN haben einen Antrag vorgelegt, der wortwörtlich bei uns abgeschrieben wurde. Herr Heimann hat die Vorarbeit geleistet. Wir haben nichts dagegen, wir stimmen dem Antrag zu. Ich brauche ihn hier nicht weiter zu begründen. Ich kann mir all das, was ich hier zur Begründung zu sagen hätte, ersparen. Uns geht es darum, daß RIAS-TV kein Stadtsender als solcher bleibt. Er muß seinen deutschlandpolitischen Auftrag erfüllen, wenn seine Existenz überhaupt einen Sinn haben soll.Man muß prüfen, wer den Sender kontrolliert. Kontrollrechte müssen her, wenn der Sender schon mit öffentlichen Mitteln finanziert werden soll. Man muß auch die Konkurrenzsituation zu anderen Medienunternehmen mit in diese Betrachtung einbeziehen.
Das sind unsere Vorschläge. Ich sage dies auch ganz deutlich.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7513
Büchler
Ich sagte schon: Die Deutschlandpolitik muß effektiver gemacht werden.
Wir wollen die operative Funktion des Ministeriums zurückgewinnen. Wir haben für die einzelnen Maßnahmen, die wir vorschlagen, entsprechende Streichungen bei anderen Titeln vorgeschlagen. Wir wollen natürlich dafür Sorge tragen, daß für die Städtepartnerschaft entsprechende Haushaltsmittel eingesetzt werden.
Es sollen Diskussionsforen entstehen. Städtepartnerschaften zwischen den deutschen Städten hüben und drüben sind eben nicht zu betrachten wie Städtepartnerschaften zwischen Städten in Frankreich und der Bundesrepublik oder Großbritannien und der Bundesrepublik. Hier sind andere Maßgaben zu beachten, hier stellen sich andere Aufgaben. Deshalb sage ich: Hier müßte ein Ansatz im Haushalt gefunden werden. — Haben Sie mir 15 Minuten gegeben?
Ich habe Ihnen zehn Minuten gegeben. Dann hat Ihr Kollege nur noch fünf Minuten.
Das ist ganz klar; er hat dann noch fünf Minuten. 15 Minuten sind beantragt.
Das heißt also, hier müssen wir aktiv werden. Das gilt auch für die Pflege der Denkmäler, auch drüben in der DDR. Wenn wir Möglichkeiten haben, gemeinsame Denkmäler zu pflegen und auch wiederherzustellen, sollten wir bereit sein, dafür Unterstützung zu geben.
Deswegen glaube ich, daß man vom innerdeutschen Ministerium aus sehr viel mehr operativ machen könnte, wenn man wollte.
Die Kulturbegegnungen nehmen zu — Gott sei Dank, das ist gut so — , aber es fehlt an Mitteln vor allem für diejenigen Begegnungen, die nicht so offiziell sind, an Mitteln, die bereitgestellt werden müssen, damit diese Arbeit vorangetrieben werden kann.
Die Zeiten ändern sich. Sie bauen auf unserer Politik auf. Sie haben diese Politik endgültig übernommen. Leider bleiben Sie dabei stehen und denken nicht weiter. Das ist das Handicap, das Sie dabei haben. Die Welt ändert sich, und auch die CDU/CSU ist aufgefordert, über die Probleme der Welt nachzudenken — auch wenn es Ihnen ein bißchen schwerfällt. Das schadet nichts, wenn man darüber nachdenkt, wie sich Entwicklungen vollziehen können.
Wir stellen mit Bedauern fest, daß die jetzige Regierung als erste Regierung der Nachkriegszeit die Förderung des Zonenrandgebietes massiv abbaut. Das innerdeutsche Ministerium hat eine Wächterfunktion, damit die Zonenrandförderung nicht unter die Räder gerät. Es muß auch darüber wachen, daß andere Ministerien ihre Aufgaben im Zonenrandgebiet nicht vernachlässigen. Hier hat das innerdeutsche Ministerium gänzlich versagt. Kollege Hiller wird dazu noch einiges sagen.
Zusammenfassend stelle ich für die SPD-Bundestagsfraktion folgendes fest. Zielgerichtete Deutschlandpolitik erfordert eine klare Aussage der Aufgaben des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen. Es heißt zwar immer, das Ministerium nehme die deutschlandpolitische Verantwortung der Bundesregierung wahr, Frau Minister, es hat sich aber mehr und mehr aus der operativen Politik ausschalten lassen.
Längst ist diese beim Bundeskanzler angesiedelt. Wenn das Ministerium diesen Trend in seiner Haushaltsplanung noch verstärkt und sich mehr und mehr Aufgaben zuwendet, die mit dem Auftrag nur noch wenig zu tun haben, ist dies zu bedauern.
Wir sind für eine Stärkung des Ministeriums, vor allem der politischen Aufgaben. Der vorliegende Haushalt wird dem nicht gerecht. Daher lehnen wir diesen Haushalt ab.
Das Wort hat der Abgeordnete Neuling.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst mit einem — — 13 Minuten hatte ich, Frau Präsidentin; hier stehen elf Minuten. Es geht unheimlich zügig hier. Ich bitte doch, auf 13 Minuten zu stellen.
Zwölf Minuten hatten Sie.
Dann bitte ich doch, auf zwölf Minuten zu stellen und nicht gleich auf elf. — Ich fange bei zwölf Minuten an.Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst mit einem Dank beginnen, einem Dank an den Kollegen Nehm dafür, daß er einen Neuling, nämlich den Dr. Neuling, ausgesprochen fair in die Berichterstattung innerhalb des Haushaltsausschusses eingearbeitet hat. Dies ist einen Dank wert.
Ich komme nun zu den Fragen der innerdeutschen Beziehungen und der angeblichen Überflüssigkeit dieses Ministeriums. Wir haben hier von 1982 auf 1989 eine Steigerung von 440 Millionen DM auf rund 1,2 Milliarden DM festzustellen; das entspricht 170 % oder einer durchschnittlichen Steigerungsrate von 20 % . Damit wird deutlich, daß die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl bei der Deutschland- und Berlinpolitik einen eindeutigen Schwer-
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Dr. Neulingpunkt gesetzt hat, und wir unterstützen diese Politik ausdrücklich.Ich möchte die Gelgenheit benutzen, um einige Grundsätze in der Berlin- und Deutschlandpolitik darzustellen. Die Deutschland- und Berlinpolitik erlebt ohne Zweifel eine neue Renaissance. Dies ist für mich auch ein Ausdruck dafür, daß die Dauer der Teilung Berlins, Deutschlands und Europas — übrigens auch in vielen Warschauer-Pakt-Staaten — nicht zu einer inneren Akzeptanz dieser Teilung geführt hat. Im Gegenteil, die Menschen wollen diese Teilung nicht; sie wollen sie nicht in Berlin, nicht in Deutschland und nicht in Europa. Für mich ist diese Entwicklung im Grunde genommen auch ein Sieg vieler Millionen Menschen über Bürokraten und engstirnige Ideologen. Den Menschen wird immer stärker die menschenverachtende Perfektion an der innerdeutschen Grenze und die Absurdität einer Mauer in Berlin bewußt, einer Mauer, die, davon bin ich überzeugt, vor der Geschichte keinen Bestand haben wird.
Und in diese Entwicklung, wo wir eigentlich ein Mehr an Gemeinsamkeit haben sollten, kommen Vorschläge aus der SPD — dazu hätte ich eigentlich ein paar Worte heute erwartet — , die in ihrer Wirkung die deutsche Teilung zementieren. Ich möchte den Verfasser nicht nennen; es wäre — wie heißt das so schön? — eine Schleichwerbung für falsche Thesen. Beides ist unangebracht.Zum Stichwort Anerkennung Ostberlins als Hauptstadt der DDR hätte ich gern gehört: Wie ist denn die Meinung der SPD-Fraktion dazu?Ich sage dazu nur eines ganz deutlich: Mit einer endgültigen rechtlichen Teilung Deutschlands würde der freie Teil Berlins seine rechtlichen und politischen Grundlagen verlieren, er würde zu einem Vorort von Ost-Berlin ohne jegliche Perspektive degenerieren. Heute dagegen steht der freie Teil Berlins im wahrsten Sinne des Wortes für die Faszination von Freiheit schlechthin. Berlin als Ganzes ist das Symbol der Hoffnung für die Überwindung der Teilung unseres Vaterlandes. Und diese Symbolfunktion muß bis zu einer Lösung im Rahmen einer europäischen Friedensordnung voll erhalten bleiben.
Es wäre ein verhängnisvoller historischer Fehler — gerade im Hinblick auf eine anzustrebende gesamteuropäische Friedensordnung — , wollte man die Teilung psychologisch, formal oder materiell vertiefen und zementieren. Im Gegenteil! Wir müssen gerade als Deutsche Verbundenheit und Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Staaten in Deutschland vertiefen und fördern, um so wirksamer als eine politische Klammer zwischen West- und Osteuropa fungieren zu können. Gerade wir in Deutschland müssen darauf achten, daß bei der Gestaltung einer europäischen Friedensordnung im Interesse einer Überwindung der Teilung Deutschlands der Blick eben nicht auf Westeuropa eingeengt wird, sondern darüber hinaus auf Europa als Ganzes gerichtet bleibt.
Um es mit einem Schlagwort zu formulieren: Berlin als Ganzes bewahren und Europa als Ganzes mitgestalten, führt uns zum strategischen Ziel der Überwindung der Teilung Deutschlands, um im Bild zu bleiben, zu einem Deutschland als Ganzes. Hierzu hätte ich gern eine Stellungnahme gehört und nicht nur zu im Grunde genommen Kleingkeiten im Etat. Darum geht es bei einer generellen Aussprache.
— Wir diskutieren über Politik, Sie diskutieren vielleicht über Titel. Aber die Zeit ist mir zu schade, um mich mit Ihnen auf eine solch kleinliche Diskussion einzulassen.
— Die Methoden, Frau Kollegin finanzpolitische Sprecherin, für eine derartige Politik liegen in einem Höchstmaß an Zusammenarbeit der beiden Staaten, einer Vernetzung von beiderseitigen Infrastrukturen und einem Mehr an menschlichen Begegnungsmöglichkeiten.Mit dem vorliegenden Haushalt des Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen, verehrter Herr Kollege, wird diese Politik mit außergewöhnlichem Erfolg umgesetzt.
Und hierzu gebe ich Ihnen einige Beispiele.Erstens. Die deutsch-deutsche Kooperation im Umweltschutz aus gemeinsamer Verantwortung für die Umwelt und als zusätzliche Schubkraft für den innerdeutschen Handel gleichermaßen: Im Rahmen der Haushaltsberatungen — jetzt kommen wir zu einem praktischen Beispiel — haben wir nämlich bewußt einen projektbezogenen Haushaltstitel in seiner Zweckbestimmung dahingehend umgewandelt, daß er von einer reinen projektbezogenen Anwendung generell für grenzübergreifende Umweltschutzprojekte im Zonenrandgebiet verwendet werden kann. Hiermit wird ein politisches Signal gesetzt, daß möglichst viele Umweltschutzprojekte unter Einbindung von regionalen kleinen und mittleren Unternehmen
im Zonenrand durchgeführt werden sollen.
Damit wollen wir ein Stück Gemeinsamkeit auf diesem höchst sensiblen Gebiet verwirklichen und für mehr Deutsche erlebbar machen.
Mit in diese Bilanz gehört natürlich auch, daß nach den Gesprächen zwischen Kanzleramtsminister Schäuble und Generalsekretär Honecker Gespräche über die Reinhaltung der Elbe aufzunehmen sind.
Dies ist ein bemerkenswerter Fortschritt für alle Deutschen in Ost und West.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7515
Dr. NeulingEine große Herausforderung liegt letztendlich auch in dem nun folgenden Gebiet einer gemeinsamen deutsch-deutschen Kooperation im Umweltschutz: in der zwingend erforderlichen Entschwefelung von zahlreichen Kohlekraftwerken in der DDR. Insgesamt kann eine verstärkte deutsch-deutsche Umweltschutzkooperation meines Erachtens eine zusätzliche Schubkraft von hoher Qualität und Quantität im innerdeutschen Handel entwickeln.Lassen Sie mich abschließend zu diesem Thema noch etwas sagen, weil wir gerade hierüber mit dem Innerdeutschen Ministerium diskutiert haben: Die nachfolgenden Generationen — übrigens in „Deutschland Ost" und „Deutschland West" — werden uns nicht danach fragen, ob wir bei der Rettung der Wälder, der Seen und der Flüsse in der Mitte Europas immer mit Nachdruck die Systemunterschiede betont haben. Nein, sie werden uns danach fragen und danach beurteilen, was wir gemeinsam ganz konkret zum Schutz und zum Erhalt der Umwelt heute getan haben.
Der Etat 1989 setzt hier einen deutlich positiven Akzent.Ein weiteres wichtiges politisches Ziel gerade im innerdeutschen Ministerium, die Einheit der Nation trotz staatlicher Teilung für immer mehr Deutsche erlebbar zu machen, ist der innerdeutsche Reise- und Besuchsverkehr.
Die jüngsten Entwicklungen — hier einige Zahlen — unterstreichen die überaus erfolgreiche Politik, die gerade in diesem Einzeletat zum Ausdruck kommt. Die Zahl der Reisenden im Reiseverkehr aus der DDR unterhalb des Rentneralters explodierte förmlich in den letzten vier Jahren von ca. 100 000 in 1985 auf über 1,3 Millionen heute. Die entsprechende Zahl der Reisenden im Rentenalter steigerte sich auf über 5 Millionen in 1988. Im Transitverkehr hat sich die Anzahl der Reisenden insgesamt — nach einer Phase der Stagnation zwischen 1977 und 1982 — mit über 35 % auf jetzt über 31 Millionen Reisende pro Jahr gesteigert. Darin kommt ein wichtiges Ziel in unserer innerdeutschen Politik zum Ausdruck: mehr menschliche Begegnungen. Das bedeutet eben auch ein Stück der Überwindung der Teilung Deutschlands.Die Erhöhung des Begrüßungsgeldes schlägt sich mit über 250 Millionen DM im Etat nieder. Das ist eine Verfünffachung des Ansatzes seit 1985. Mit der Entscheidung über diesen Etat werden zusätzlich 33 Millionen DM für Fahrpreisverbilligungen im innerdeutschen Reiseverkehr beschlossen. Damit ist sichergestellt — was mich als Berliner natürlich besonders interessiert — , daß die Berliner Senioren voll in die Ermäßigung für Eisenbahnfahrten durch die DDR einbezogen werden.
Mit in die Bilanz gehört sicherlich auch, daß die neu vereinbarte Transitpauschale, weit in die 90er Jahre hineinreichend, eine wichtige Grundlage für die Entwicklung des Besuchs- und Reiseverkehrs im innerdeutschen Bereich legt. Hierbei gehört es zu den Besonderheiten der Deutschlandpolitik, daß beide Seiten ein Verhandlungsergebnis als Erfolg darstellen können. Für Berlin ist es insbesondere wichtig, daß wir einen neuen Transitübergang im Süden dieser Stadt damit bekommen werden.Zu den positiven Ereignissen deutsch-deutscher Begegnungen gehört auch die Entwicklung der innerdeutschen Städtepartnerschaften. In den letzten beiden Jahren wurden 43 Partnerschaften unterzeichnet bzw. ratifiziert. Wir sind der Meinung, daß die Ausfüllung natürlich durch die Städte selber erfolgen soll und nicht durch das Bundesministerium. Das ist doch völlig logisch. Wir wollen nicht, daß es zu mehr Begegnungen von Funktionären kommt; wir wollen vielmehr, daß diese Städtepartnerschaften mehr Möglichkeiten der Begegnungen gerade für die Bewohner in den jeweiligen Städten bieten. Das ist doch das Ziel unserer Politik, das wir damit verfolgen wollen.
In diesem Zusammenhang noch ein kurzes Wort zum Rias: Alte Kamellen, neu vorgetragen, verbessern nicht die Argumente, die vermutlich von der grünen Seite kommen.
Die verfassungsrechtliche Seite — das ist klar — spricht eindeutig für den RIAS. Ich sage noch einmal: Die Koalitionsfraktionen stehen voll hinter dem RIAS, ob nun im Hörfunk oder im Fernsehen. Wir werden die weitere Entwicklung selbstverständlich mit der gebotenen Sorgsamkeit, die im Haushaltsausschuß üblich ist, verfolgen.
Als mögliche Felder für weitere Projekte gerade für das Innerdeutsche Ministerium bieten sich an: Verstärkung eines deutsch-deutschen Jugendaustausches, Organisation eines breiten Zeitungsaustausches, Erschließung des Umfeldes von Berlin, wie z. B. die Mark Brandenburg und Mecklenburg, für den Wachstumsmarkt Tourismus — ein wichtiger Punkt gerade für Berlin — , Ausbau Berlins als ein Ort für internationale Ost-West-Konferenzen. Im übrigen verweise ich auf die Reagan-Initiative respektive auf das Aide-Memoire der drei Schutzmächte bzw. der drei Alliierten in Richtung Moskau.Ich komme abschließend zu folgender Bewertung: Die volle Einbeziehung Berlins — ein wichtiger Punkt im West-Ost-Dialog — muß sichergestellt werden. Dazu hat der Kollege Hoppe dankenswerterweise in aller Ausführlichkeit heute morgen bereits Stellung genommen. Die formale und materielle Einbeziehung Berlins beim Ausbau der Ost-West-Beziehungen zum unverzichtbaren Bestandteil seiner Politik zu erklären, dafür sind wir dem Bundeskanzler sehr denkbar, denn nur auf dieser Basis wird sich Berlin und kann sich Berlin weiterentwickeln.Insgesamt können wir sagen: Gerade für die Deutschlandpolitik gilt: Wer Entwicklung in der Geschichte beeinflusssen will, muß fest in seinen Grundsätzen sein, oftmals einen langen Atem haben und von der Idee bzw. einer Vision überzeugt sein. Die Berlin-und Deutschlandpolitik dieser Bundesregierung, wie
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7516 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. Neulingsie sich im vorliegenden Einzelplan ausdrückt, ist ein gutes, weil erfolgreiches Beispiel hierfür. Ich bitte um Zustimmung zu diesem Einzelplan.Recht herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Knabe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! In diesem Haus gibt es wohl über alle Fraktionen hinweg ein übereinstimmendes Interesse an einer Verbesserung der deutsch-deutschen Beziehungen als Beitrag zum Ost-West-Dialog. Dieses Interesse gründet sich auf der Sorge um die Erhaltung des Friedens und dem Wissen, daß man die Umwelt nicht als isolierter Einzelstaat, sondern nur gemeinsam lebensfähig erhalten kann.Aber was trägt der Bundeshaushalt hierzu bei? Nach sorgfältiger Prüfung bestreite ich entschieden, daß der Entwurf der Regierung diesem Zwecke dient. Nach wie vor erlaubt sich die Regierung den Luxus eines Ministeriums, das sich im wesentlichen auf Ideologieverbreitung und Propaganda beschränkt.
Ideologisch wird mit diesem Ministerium für innerdeutsche Beziehungen immer noch die Möglichkeit der Einverleibung der DDR in die Bundesrepublik signalisiert. Wenn im Haushalt des innerdeutschen Ministeriums sogar die Förderung von Jugendfahrten nach Polen auftauchen, dann wird es schon sehr bedenklich. Wir haben nichts gegen Jugendfahrten nach Polen, aber sehr viel gegen die Einbindung der Begegnung junger Menschen unter dem Begriff „innerdeutsche Beziehungen".
Statt die begrüßenswerte Realität einer kosmopolitischen Kultur und Wertorientierung in der Bundesrepublik zu fördern, möchte das Ministerium mit riesigem Propagandaaufwand erreichen, daß den Menschen immer wieder ein Ehrfurchtsschauder über den Rücken läuft, wenn die Nationalhymne erklingt.Die Überflüssigkeit des Ministeriums wird aber auch in der Arbeitsteilung innerhalb der Bundesregierung sichtbar. Für das Kanzleramt ist das innerdeutsche Ministerium kaum mehr als der Hofnarr an früheren Fürstenhöfen. Frau Wilms ist mir dafür zu schade.
Herr Schäuble macht die Politik. Nichts ist also zeitgemäßer als die seit Jahren von uns erhobene Forderung nach Auflösung des innerdeutschen Ministeriums. Das gilt nicht für den entsprechenden Bundestagsausschuß, da der die parlamentarische Kontrolle der Regierungsaktivitäten aller Ministerien ausführt. Die jahrzehntelangen Bemühungen von Staatssekretär Rehlinger um Gefangene und Ausreisesuchende in der DDR möchte ich genauso anerkennen — aber braucht man hierzu ein ganzes Ministerium?Wie teuer den steuerpflichtigen Bundesdeutschen die Aufrechterhaltung dieses Propagandaapparates zu stehen kommt, wird bei den konkreten Verwendungszwecken deutlich. Hier werden Etatmittel in schamloser Weise verschleudert, als gäbe es sonst keine Finanzknappheit.
Die Flüchtlings- und Vertriebenenverbände erhalten traumhafte Mittelsteigerungen. Die prozentuale Steigerung von 1988 auf 1989 beträgt 30 %, nimmt man 1984 zum Ausgangspunkt, sogar 83,2 %. Noch unverfrorener werden die Berufsvertriebenen im Etat von Herrn Zimmermann gefördert.
Hier steigen die Mittel um 42,4 %. Vielleicht haben selbst CDU-Abgeordnete übersehen, daß hier ein national-chauvinistisches Klientel und sein Funktionärskörper bedient wird.
Wir müssen hier feststellen, daß die Funktionäre immer wieder angeben, im Namen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu sprechen. Ich bestreite das. Eigentlich müßten wir diese Mittel an die Eigenmittel binden, die die Verbände selbst aufbringen. Das ist bei allen anderen Angelegenheiten so: Jeder Verband muß Eigenmittel aufbringen, und die werden entsprechend aufgestockt. Hier fehlt das.
Die politische Dimension der Haushaltspolitik wird aber erst deutlich, wenn man das mit den Ausgaben für Umwelt- und Naturschutzverbände vergleicht: zweistellige Millionenbeiträge für das organisierte Verbandswesen auf dem nationalen Sektor gegenüber 314 000 DM für das Umweltengagement.
Auch das ist eine bittere Wirklichkeit der Regierungspolitik.
— Aber nicht bei den Vertriebenenverbänden, Herr Lintner.
Überhaupt scheint sich die Umweltpolitik auch in den deutsch-deutschen Beziehungen einzig und allein auf schöne Worte zu beschränken.
— Na, sehr bescheiden; sagen wir einmal: sehr bescheiden.Im innerdeutschen Ministerium und im Umweltministerium sind kaum Mittel für solche konkreten Um-
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Dr. Knabeweltschutzmaßnahmen eingesetzt. Die Entsalzung der Werra schleppt sich endlos hin. Es gibt nur etwas für Pilotanlagen in der DDR, die man jetzt nachträglich im Haushalt untergebracht hat.Wir werden dagegen einen Antrag für die Einrichtung eines Umweltswings und eines Umweltfonds zur Minderung grenzüberschreitender Emissionen durch DDR-Kraftwerke einbringen.Der DDR soll damit ein verwendungsgebundener zusätzlicher Kreditrahmen nach dem Muster des Swing zinsfrei eingeräumt werden, mit dem ihr Mittel zur ökologischen Modernisierung der Energiewirtschaft offenstehen. Ein Teil des Kredits kann dann als Kompensation zurückgezahlt werden.Zusätzlich soll ein Umweltfonds eingerichtet werden. Das sind verlorene Zuschüsse für solche DDR- Kraftwerke, die unmittelbar zu einer erheblichen Belastung der grenznahen Gebiete der Bundesrepublik und Westberlins beitragen.Wir hoffen hier auf eine konstruktive Ausschußberatung unseres Antrages, der die vielen ökologischen Leerstellen der Umweltpolitik der Bundesregierung jedenfalls an dieser Stelle auffüllen könnte.Auf die fehlgeleitete Konzeption der deutschlandpolitischen Bildung hat meine Kollegin Karitas Hensel im vorigen Jahr eingehend hingewiesen. Nur noch einmal: Wir haben 37 Millionen DM für die deutschlandpolitische Bildung gegenüber 19 Millionen DM für die gesamte politische Bildung der Bundesrepublik. Das ist eindeutig ein Mißverhältnis.Abschließend ein Lob an die SPD. Sie haben den Antrag eingebracht, die Mittel für das RIAS-Fernsehen einzufrieren bzw. zu streichen. Das finde ich sehr vernünftig. Wir unterstützen das. Konsequenterweise müßten Sie bei den Mehrheitsverhältnissen im Hause bereit sein, eine Normenkontrollklage einzureichen. Denn nur damit werden wir diesen Staatsrundfunk, einen staatlich geförderten Rundfunk, der auch in die Bundesrepublik über Kabel eingespeist werden kann, verhindern. Das wollen die GRÜNEN vermeiden. Wir hoffen hier auf starke Unterstützung durch unsere Freundinnen und Freunde — das darf ich diesmal sagen — von der SPD.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Büchler trat zunächst ans Pult und wirkte wie ein Fürsorger für das innerdeutsche Ministerium; denn er wollte es mit Kompetenzen und Zuständigkeiten füllen. Er erklärte dann anschließend, daß sie die Mittel für das Ministerium und den Haushalt ablehnen.Ich muß sagen: Wer dann zur Begründung soviel von Forschung spricht, Herr Kollege, der sollte sich einmal selber erforschen. Denn das könnte die Debatte entkrampfen. Sich zunächst als Fürsorger hierher zu stellen und anschließend dem Kollegen Knabe zuzustimmen, wenn er das Ministerium abschaffen will, das entlarvt doch die ganze seltsame Situation.
— Ach, Ihr Beifall, als er das gesagt hat, war rein zufällig.Lieber Herr Büchler, dann knüpfen Sie, was das Thema RIAS angeht, an die Debatte im innerdeutschen Ausschuß an. Ihre Ausführungen dazu sind in der Tat deckungsgleich mit dem, was wir da diskutiert und abgestimmt haben.Ich darf nur sagen: Wir reden hier heute über den Haushalt. Im Haushaltsausschuß hat die grüne Fraktion den Antrag gestellt. Wir haben ihn mit der Koalition abgelehnt. Die Kollegen der SPD haben sich dort der Stimme enthalten.Meine Damen und Herren, wir haben — das darf ich jetzt einmal sagen — die Mittel doch deshalb bewilligt, weil es bei der Einführung des RIAS-Fernsehens darum geht, den Hörfunkbereich des Senders um das Medium Fernsehen zu erweitern. Dies halten wir nun allerdings für ein legitimes Anliegen. Es ist nur konsequent, daß RIAS seinen Programmauftrag durch die Nutzung des wirksamen Mediums Fernsehen verwirklichen und deshalb notwendigerweise ergänzen will. Ohne dieses Medium verlöre der Hörfunk allein zwangsläufig an Wirksamkeit.
Der Programmauftrag auch vom RIAS-Fernsehen wird — das versteht sich von selbst — der gleiche sein wie beim RIAS-Hörfunk: die Bevölkerung der DDR umfassend und aktuell über die Ereignisse in Deutschland und in der Welt zu informieren.Wenn ich sage „die Bevölkerung der DDR", dann erkläre ich — das habe ich auch an anderen Stellen gesagt, und ich wiederhole es hier; das ist unsere gemeinsame Auffassung —, daß die jetzige Sendefrequenz allenfalls für die Fingerübungen ausreicht. Wir müssen die Sendefrequenz ausdehnen, damit wir den Auftrag erfüllen können. Einen Berlinsender brauchen wir nicht. Wir brauchen RIAS-Fernsehen wie RIAS-Hörfunk, um den Auftrag — Information für die DDR — erfüllen zu können. Das darf ich noch einmal ausdrücklich sagen.
Angesichts der positiven Veränderungen im Ost- West-Dialog und der spürbaren Aufbruchstimmung in Europa nimmt es kein Wunder, daß ein besonders waches Interesse für die Fragen der Deutschlandpolitik in beiden deutschen Staaten festzustellen ist. Dabei geht es nicht um spektakuläre Aktionen, sondern um eine schrittweise Überwindung der Teilung. Es bleibt das Ziel unserer Politik, Grenzen überflüssig zu machen. Dazu gehört auch, daß Relikte der Menschenrechtswidrigkeit wie Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl verschwinden. Bei Verwirklichung der
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HoppeMenschenrechte in der DDR würde sich auch die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter erübrigen.
Wenn die DDR — wie sie sagt — neu an die WestOst-Beziehungen herangehen will, so muß sie endlich auch die Beseitigung der Altlasten in Angriff nehmen, die noch aus der Abgrenzungsphase des Jahres 1980 stammen. Ich werde nicht aufhören, die DDR hieran zu erinnern. Der erhöhte Zwangsumtausch muß rückgängig gemacht werden, insbesondere im Hinblick auf unsere Rentner, die vor 1980 von dem Zwangsumtausch freigestellt waren. Diese unsoziale Maßnahme muß endlich aus der Welt.
Die Erfolge, die wir in der Deutschlandpolitik tatsächlich erzielen konnten, müssen wir immer vor dem Hintergrund dessen sehen, was noch nicht erreicht worden ist. Dennoch können wir vermerken, daß von vielen Bürgern in beiden Staaten die bereits eingetretenen Verbesserungen als Bereicherung ihres Lebens empfunden werden.Zu diesen positiven Entwicklungen zählt die Ausweitung des innerdeutschen Reiseverkehrs. Besonders erfreulich ist, daß in erheblichem Umfang auch junge Menschen eine Reiseerlaubnis erhalten. Mit einer Drosselung dieser Praxis täte sich die DDR-Führung wahrlich keinen Gefallen.Zu den positiven Entwicklungen zählt die Bereitschaft der DDR, nunmehr über Maßnahmen zur Sanierung der Elbe zu verhandeln. Für das kommende Jahr ist deshalb als Schwerpunkt in den deutsch-deutschen Beziehungen Umweltschutz angesagt.Gerade in einer Phase der verstärkten internationalen Zusammenarbeit bleibt die DDR aufgefordert, ihren konstruktiven Beitrag zu leisten. Man hat allerdings den Eindruck, daß die Führung der DDR Schwierigkeiten hat, sich auf diese neue Entwicklung einzustellen.
Mit ihrer Abschottungspraxis, die sich in der Pressezensur sogar schon gegen den großen Bruder richtet, wird sie sich aber nur selbst beschädigen.Mit der Aufnahme der offiziellen Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe bietet sich der Platz Berlin nun verstärkt für eine Kooperation an. Berlin kann hier seine traditionelle Attraktivität auf den Feldern Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur anbieten.Meine Damen und Herren, unser politisches Handeln müssen Berechenbarkeit, Wille zur Verständigung und Entspannung sowie klare deutschlandpolitische Zielvorstellungen bestimmen. Das erfordert Disziplin und das richtige Gefühl für Proportionen.Erfolgreich werden wir aber nur sein, wenn wir unsere Ziele beharrlich verfolgen. Nur das, was wir der DDR mit letzter Konsequenz abverlangen, wird sie zu leisten bereit sein. Nur so kommen wir zu einer Politik des wahren Interessenausgleichs zum Nutzen der Menschen in unserem geteilten Land, und dann müssen wir uns nicht den Vorwurf gefallen lassen, allenfalls großzügige Zahlmeister gewesen zu sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Hiller.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nachdem der Kollege Büchler schon eine allgemeine Einschätzung des Haushalts gegeben hat,
möchte ich mich dem speziellen Problem der Zonenrandförderung und einem weiteren Gebiet zuwenden.Je mehr man im Zonenrandgebiet die Nähe der DDR erreicht, um so bedrückender wird das Bild auch heute noch, mehr als 40 Jahre nach Kriegsende. Der Wohlstand in diesen Gebieten nimmt ab, auch durch Abwanderung, die Probleme nehmen zu. Dies alles wird sich verstärken, nachdem die Bundesregierung das Zonenrandgebiet zum Verlierer der Steuerreform gemacht hat — übrigens ebenso, wie sie die Berlinförderung abgeschafft hat.
Die Streichung der Investitionszulage ebenso wie die Kürzung der Berlinhilfe sind der Bankrott der im Zonenrandgesetz festgelegten deutschlandpolitischen Bestimmung des von den Sozialdemokraten geschaffenen Zonenrandförderungsgesetzes.
Nur einmal zur Sache, weil Sie hier ja widersprechen, zumindest verbal: Die Neuregelung der Zonenrandförderung, die von fast allen Abgeordneten von CDU/CSU und FDP — auch denen aus dem Zonenrandgebiet — verabschiedet worden ist, verschlechtert die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Zonenrandgebiet drastisch. Die Aufhebung des Investitionszulagengesetzes wird durch die angekündigte Erhöhung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe nicht aufgefangen.
Auf die regionale Investitionszulage hatte jeder einen Rechtsanspruch; das gibt es jetzt nicht mehr.
Investitionszuschüsse können im Rahmen vorhandener Mittel gewährt werden — in Zeiten knapper Kassen ein Damoklesschwert. Die regionale Investitionszulage war nicht zu versteuern. Einnahmen aus Investitionszuschüssen sind Einkünfte und daher steuerpflichtig. Was mich an dieser Tatsache am meisten bedrückt, ist — wir haben ja schon über die Funktion und den Sinn des Ministeriums gesprochen — , daß es hier in der Öffentlichkeit keinen Protest gegeben hat.
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Hiller
Die deutschlandpolitische Verantwortung in diesem Zusammenhang war noch nicht einmal ein Lippenbekenntnis.
Diese Maßnahmen werden gerade die mittelständischen Unternehmen im Zonenrandgebiet schwächen — das ist ja etwas, was Sie früher auch beklagt haben —, und das alles nur deswegen, weil die Bessergestellten subventioniert werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lintner?
Bitte sehr.
Herr Hiller, können Sie bestätigen, daß eine steuerstundende Investitionsrücklage neu eingeführt worden ist und diese Rücklage insbesondere für mittelständische und handwerkliche Betriebe in Betracht kommt, weil eben dort nicht der sogenannte Primäreffekt erforderlich ist?
Das kann ich Ihnen alles gern bestätigen. Nur, in den Kammergebieten des Zonenrands wird diese Tatsache so gewertet, daß sie die Verschlechterung, die durch Sie herbeigeführt worden ist, in keiner Weise kompensieren kann.
Da müssen Sie diese Papiere aus der Wirtschaft eben ganz genau lesen.
Meine Damen und Herren, im Zonenrandgebiet gilt auch: Denen, die der Förderung bedürften, werden die Mittel entzogen, und denen, die bereits genug haben, wird zusätzlich gegeben. Aber das kann doch nicht alles aus deutschlandpolitischer Verantwortung geschehen. Wir wollen den Menschen helfen, die von der Teilung betroffen sind, und die wohnen auch bei uns im Zonenrandgebiet.
Wir werden protestieren, wenn sich die Bahn und die Post weiter aus dem Zonenrandgebiet zurückziehen, besonders im Zusammenhang mit der sogenannten Strukturreform der Deutschen Bundespost;
dazu werden wir noch Gelegenheit haben.
Wir werden auch dagegen protestieren, daß Sie nur für die Verkehrserschließung zwischen den Metropolen etwas tun, aber das Zonenrandgebiet letztlich abhängen.
Nun komme ich zu einem Komplex, wo Sie ganz gewaltige Zuwachsraten verzeichnen. Ich kann in Lübeck feststellen, daß die Zahl der Müllaster immer größer wird und mittlerweile die größte Sondermülldeponie Europas entsteht.
Auch dazu habe ich bisher kein Wort der Ministerin oder des Staatssekretärs gehört. Sie finden das in Ordnung, da der hessische Umweltminister inzwischen gesagt hat, daß diese Deponien nicht nur in Schönberg, sondern auch in der Nähe Berlins bei uns nicht mehr genehmigungsfähig wären.
In Sonntagsreden und vor Fernsehkameras ist der Umweltminister des Bundes manchmal mit einer richtigen Analyse zu hören. Nur, bei den Taten ist Null angezeigt, ebenso wie beim innerdeutschen Ministerium.
Können wir unser Giftmüllproblem in der Art lösen, daß wir unseren Wohlstandsdreck unseren Brüdern und Schwestern bringen? Das darf doch wohl nicht wahr sein. Es wäre gut, wenn das zuständige Ministerium zu diesem Thema etwas sagen würde.
Im übrigen muß man hier nicht nur das Ministerium angreifen. Ich muß den gleichen Vorwurf allen Politikern der CDU/CSU und der FDP machen, die in dieser Hinsicht nichts getan haben. Sie sagen, im Haushalt werden für den Umweltschutz zusätzlich Mittel ausgebracht. Aber Sie tragen dazu bei, daß wir das größte Problem in der DDR schaffen. Wir müssen schon jetzt die Mittel einwerben, um diese Deponien später zu sanieren. Es ist ein Bankrott für eine ökologische Politik im Sinn der Deutschlandpolitik, wenn wir unseren Müll in die DDR bringen.
Ich sage: Hier ist eine befremdliche Allianz der Bundesregierung mit den DDR-Behörden im Sinn dieser Deponiestrategie inzwischen vorhanden.
Darüber sollten Sie nachdenken.
Wir wollen mehr Zonenrandförderung und weniger Müll in das Zonenrandgebiet bringen, damit diese traurige Bilanz der Bundesregierung endlich aufhört.
Aus diesen Gründen lehnen wir auch diesen Haushalt, den Sie uns vorgelegt haben, ab.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Bundesministerin Frau Dr. Wilms.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn es der Opposition absolut nicht gefällt, sage ich ihr heute abend noch einmal mit großer Deutlichkeit: Diese Bundesregierung hat die Deutschlandpolitik seit 1982 wieder in den Mittelpunkt ihrer politischen Arbeit gestellt. Sie ist erfolgreich gewe-
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Bundesminister Frau Dr. Wilmssen; sie hat Erfolge gehabt. Die Menschen in Deutschland sind einander wieder nähergekommen.
Die Vorhersage, daß wir 1988 mehr als 5 Millionen Reisen von Ost nach West haben werden
und daß dabei über 1,2 Millionen jüngere Menschen dabei sein würden, hätten selbst Sie, Herr Büchler, 1982 in das Reich der Utopie verwiesen.
Wir haben es erreicht.
Die Ratschläge, die wir — bei mancherlei Gemeinsamkeit — von Ihnen gelegentlich bekommen, waren nicht immer hilfreich. Wären wir ihnen gefolgt, dann wären z. B. zu Beginn des Jahres 1969 nicht Gespräche mit der DDR über die Elbverschmutzung aufgenommen worden, ohne daß wir unsere Position zur Feststellung der Elbgrenze ändern müssen, daß heißt, ohne daß wir unsere Ablehnung einer jeden Kopplung von Umweltfragen und Grenzfrage bei der Elbe aufgeben.Wir haben dies durch Solidität und Verläßlichkeit in unserer Deutschlandpolitik erreicht. Wir haben dazu im Haushalt die notwendigen finanziellen Hilfen bereitgestellt. Haushaltsmäßig sind die Weichen für eine weitere Vertiefung der innerdeutschen Beziehungen gestellt. An uns soll eine weitere Entwicklung in diesem Bereich nicht scheitern.
Ich glaube, heute ist an zwei wichtige Besuche der jüngeren Zeit für die Deutschlandpolitik zu erinnern. Der Besuch von Bundeskanzler Kohl in Moskau hat noch einmal deutlich gemacht, daß es für die Deutschen möglich sein muß, die Teilung ihres Vaterlandes friedlich zu überwinden und in gemeinsamer Freiheit zueinander zu finden. Der Bundeskanzler hat im Kreml unüberhörbar auch zum Ausdruck gebracht, daß Berlin und sein bedeutendes Potential voll in die Entwicklung der West-Ost-Beziehungen ebenso wie in die innerdeutschen Beziehungen einbezogen werden muß. Berlin bleibt für die Bundesregierung Gradmesser des erreichten Standes der Beziehungen. Aber die Bundesregierung legt auch größten Wert darauf, daß der Viermächtestatus von Berlin erhalten bleibt, weil dies ein Stück Freiheit für Berlin ist.
Meine Damen und Herren von der SPD, es ist nicht mit dem Status von Berlin zu vereinbaren, daß sich der Kollege Bahr heute mit dem Verteidigungsminister Keßler der DDR in Ost-Berlin traf und dieser in voller Uniform erschien.
Das ist mit dem Viermächtestatus von Berlin nicht zu vereinbaren.
Das ist wirklich eine Tangierung der Freiheitsmöglichkeiten, die Berlin hat.Der Kollege Schäuble hat in Ost-Berlin bei seinem kürzlichen Besuch darauf hingewiesen, daß es in letzter Zeit auch in den innerdeutschen Beziehungen gelegentlich Vorfälle und Entwicklungen gegeben hat, die die innerdeutschen Beziehungen ungünstig beeinflussen können.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Frau Bundesminister, sind Sie der Meinung, daß es mit dem Status von Berlin auch nicht vereinbar war, daß der seinerzeitige französische Ministerpräsident Ost-Berlin besucht hat und beim Bankett Herr Keßler übrigens auch in Uniform dabei war?
Man kann sicher sehr unterschiedlicher Meinung sein, ob das richtig ist. Aber das haben wir mit den Franzosen zu diskutieren. Mit Ihnen jedoch haben wir zu diskutieren, wie ein Mitglied dieses Hohen Hauses in Ost-Berlin auftritt.
— Ihre Zwischenrufe waren gelegentlich schon etwas geistvoller, Frau Kollegin.
Dabei sollten Sie auch bleiben. Das ist ein bißchen unter Niveau.
— Sie nehmen das Argument, daß sich Herr Keßler in voller Uniform mit Begleitung mit Herrn Bahr trifft, also nicht ernst. Das ist allerdings eine sehr erstaunliche Bemerkung. Die werden wir uns merken und sicher noch häufiger zu Gehör bringen. Das ist eine sehr beachtliche Feststellung.Meine Damen und Herren, ich finde es sehr gut, daß wir im kommenden Jahr mit der DDR in Expertengespräche über die Reinhaltung der Elbe eintreten können. Unser Wunsch wäre es — das ist ein sehr dringender Wunsch —, daß auch der Zeitungs- und Zeitschriftenaustausch in vollem Umfang möglich wird. Ich glaube, im Zeitalter der vollen Kommunikation ist das einfach eine Notwendigkeit.Meine Damen und Herren, der Einzelplan 27 wird nach dem vorliegenden Entwurf um 8,6 % auf rund 1 196 Millionen DM erhöht. Herr Büchler, ich staune
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7521
Bundesminister Frau Dr. Wilmsimmer, mit welcher Keßheit Sie hier auftreten und sagen, daß dieses Haus keine Bedeutung hat. Wissen Sie, wann das keine Bedeutung mehr gehabt hat? Anno 1982,
als nämlich der Etat dieses Hauses 439 Millionen DM unter der Leitung Ihrer Parteifreunde hatte. Da war das Haus wirklich am Ende und hatte keine Zukunftsperspektive mehr. Damals haben Sie einen Trümmerhaufen hinterlassen. Ich bin sehr froh, daß es uns in den Jahren seither gelungen ist — auch mit Hilfe meiner beiden Amtsvorgänger von unserer Partei —, dieses Haus wieder zu Bedeutung und Ansehen in der gesamten politischen Arbeit der Bundesregierung zu bringen.
Meine Damen und Herren, besonders deutlich und besonders nachhaltig wollen wir den innerdeutschen Reiseverkehr stärken. Wir haben dafür 66 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Deshalb sind mir Ihre Anmerkungen, wir täten nichts für die operative Politik, sowieso völlig schleierhaft.
Wir haben die Aktivitäten hinsichtlich des Kulturabkommens verstärkt und werden das auch künftig tun.Wir fördern auch Städtepartnerschaften. Allerdings muß ich hier mit allem Nachdruck sagen: Dies ist in erster Linie Sache der Kommunen, und wir wollen die einzelnen Kompetenzen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sorgfältig auseinanderhalten.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hier auch sagen, daß wir sehr froh darum sind, daß die Bildungsarbeit weiter verstärkt werden kann, daß die innerdeutschen Reisen, in die DDR und nach Berlin, verstärkt werden können. Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sind es unserer Jugend schuldig, ihr Kenntnisse von der Situation in Deutschland zu vermitteln. Ich verstehe überhaupt nicht, wie Sie das in einer solch polemischen Manier hier abhandeln können.Wir können eine pluralistische Förderung aller entsprechenden Organisationen, die in der Bildungs- und Förderungsarbeit tätig sind, nachweisen. Wir werden auch weiterhin Wert auf den Pluralismus in der Förderung legen.Herr Büchler, falls Sie es noch nicht gewußt haben, sei es Ihnen jetzt gesagt: „Der Schlesier", eine Zeitung, die auch ich nicht schätze — das sage ich mit allem Nachdruck — , wird von uns nicht unterstützt.
So wird es auch bleiben.
Die deutschlandpolitische Forschung, die Sie auch so in den Mittelpunkt Ihrer Betrachtung gestellt haben, halte ich für unbedingt erforderlich, um zu sorgfältigen und wissenschaftlich untermauerten Analysen, Urteilen, Entwicklungsperspektiven zu kommen.Auch hier können wir auf eine sehr pluralistische Forschungsförderung verweisen. Ich glaube, es gibt eine Reihe von Institutionen, die Ihnen nahestehen und von uns die Förderung gerne entgegennehmen. Und wir werden das auch in Zukunft weiter so halten.
Die Förderung des Zonenrandgebiets ist angesprochen worden. Ich möchte hier noch einmal sehr nachdrücklich betonen, daß ich an Ihrer Stelle, meine Kollegen der SPD, auch in der Frage ein bißchen leiser wäre; denn zu Ihrer Zeit war die Förderung des Zonenrandgebietes nicht so, wie sie heute ist. Wir haben z. B. im Etat des BMB damals einen Ansatz von 100 Millionen DM für die kulturelle und soziale Zonenrandförderung vorgefunden. Inzwischen haben wir 128 Millionen DM.Wir werden im Zuge der Steuerreform die Bildung steuerstundender Rücklagen, die gerade für mittelständische Betriebe wichtig ist, nur im Zonenrandgebiet einführen, so daß wir heute feststellen können, daß im Verhältnis zu anderen Wirtschaftsgebieten das Zonenrandgebiet immer noch im Vorteil ist. Es sei auch gesagt, daß die Handwerkskammern, Kollege Hiller, diese neue Art der Förderung ausgesprochen begrüßen.
Ich könnte Ihnen dies nachweisen.
Frau Ministerin, gestatten Sie noch einmal eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Bitte sehr, Herr Büchler.
Frau Minister, ganz klar, die Handwerkskammern müssen sich nun damit zufriedengeben.
Aber ist Ihnen nicht klar, daß die Investitionszulage das Förderungsinstrument war, das Kaufkraft in das Zonenrandgebiet hineingebracht und damit den Abstand zwischen Ballungsräumen und Zonenrandgebiet vermindert hat? Ist Ihnen dieser große Unterschied nicht klar?
Herr Kollege Büchler, ich kann noch einmal sagen, daß im Zuge der Steuerreform die Präferenz für das Zonenrandgebiet und für Berlin erhalten bleibt und daß es nicht ganz statthaft ist — das wissen Sie genauso gut wie ich — , hier mit absoluten Beträgen zu hantieren, sondern daß es auf die Relation der Förderung ankommt.Ich sage noch einmal: Es ist unsere Politik, daß wir mittelständische handwerkliche Betriebe fördern. Das geschieht jetzt auch durch die große Steuerreform.
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7522 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Bundesminister Frau Dr. WilmsLassen Sie mich, meine Damen und Herren, auch noch einige Worte zum RIAS sagen, weil es hier einen Antrag der GRÜNEN gibt, dem sich wahrscheinlich die Kollegen der SPD anschließen werden. Ich glaube, das ist auch für die Öffentlichkeit ganz wichtig.Erstens. Alle — ich betone: alle — Bundesregierungen haben seit den 50er Jahren RIAS Berlin als einen wirkungsvollen Beitrag der USA für Berlin und für Deutschland als Ganzes begrüßt,
gemeinsam finanziert und die Finanzierung im Laufe der vielen Jahre fortentwickelt.
Zweitens. Die Gefahr erheblicher Wettbewerbsnachteile für die Printmedien, von denen da gesprochen wird, ist eine Behauptung, die inzwischen — das haben Sie, verehrter Herr Kollege Knabe, vielleicht noch nicht wahrgenommen — durch vorläufige Gerichtsentscheidungen widerlegt ist. Auch dies sollten Sie sich zu Gemüte führen.Es gibt die wiederholte Kritik, das Prinzip der Staatsferne und der Überparteilichkeit werde verletzt. Meine Damen und Herren, dies wird auch durch häufige Wiederholungen deshalb nicht richtig.Der Intendant des RIAS — Herr Knabe, vielleicht waren Sie in dieser Sitzung — hat im innerdeutschen Ausschuß sehr überzeugend die politische Ausgewogenheit des Senders dargelegt. Ich glaube, Sie hätten da sicher einige sehr interessante, Ihnen bis dahin vielleicht unbekannte Informationen bekommen.Als letztes lassen Sie mich sagen, daß das RIAS-Fernsehen sowohl ein Aufsichtsgremium der USA als auch einen deutschen Beirat hat, der sich aus Mitgliedern der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammensetzt. Dieser Beirat wurde von den USA berufen, und die Bundesregierung hat, da es sich um eine amerikanische Einrichtung handelt, auf die Zusammensetzung und Arbeit des Beirats keinen Einfluß. Aber wir werden uns — ich bin sehr froh, daß Herr Kollege Hoppe das in dieser deutlichen Form dargestellt hat — wie auch der Bundespostminister mit darum bemühen, daß die Ausstrahlungsmöglichkeiten von RIAS-Fernsehen in der nächsten Zeit erweitert werden können, so daß wir wirklich die Menschen in der DDR mit den Sendungen erreichen.Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Schluß, den Kollegen und Kolleginnen im Haushaltsausschuß, aber insbesondere — ich betone dies sehr nachdrücklich — den Herrn Berichterstattern, meinen herzlichen Dank auszusprechen. Sie waren wie immer anregende und fördernde Kritiker. Ihre Anregungen helfen uns. Ich hoffe, daß Sie uns auch weiterhin mit kritischer Sympathie begleiten.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell ist vereinbart worden, daß die Abstimmungen zum Einzelplan 27 und damit auch die namentliche Abstimmung zum Änderungsantrag der GRÜNEN auf Drucksache 11/3374 verschoben wird. Diese Abstimmungen sollen zusammen mit dem Einzelplan 27 gegen 22 Uhr stattfinden.Meine Damen und Herren, ein Versuch, die namentlichen Abstimmungen heute wegen der Verkehrslage generell zu verlegen — der Verkehr steht praktisch, und der Fahrdienst ist nicht mehr in der Lage, seinen Aufgaben nachzukommen — , ist mißlungen. Ich bitte deshalb die Fraktionen, über ihren Rundspruch bekanntzugeben, daß man sich wegen der Verkehrslage sehr frühzeitig ins Plenum begeben muß, weil man andernfalls an der namentlichen Abstimmung nicht teilnehmen kann.
— Dieses, hochverehrter Herr Geschäftsführer Bohl, befreit Sie und Ihre Kollegen aber nicht, an derselben teilzunehmen. Meine fürsorgliche Bemerkung sollte in diesem Sinne verstanden werden.Meine Damen und Herren, nachdem sich auf den von mir gemachten Vorschlag kein Widerspruch erhebt, ist das so beschlossen: Die namentliche Abstimmung über den Einzelplan 27 findet um 22 Uhr zusammen mit dem Einzelplan 16 statt.Nun kommen wir zuEinzelplan 16Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit— Drucksachen 11/3216, 11/3231 —Berichterstatter:Abgeordnete Waltemathe Schmitz
Dr. Weng Frau VennegertsEs liegen auch hier Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN sowie Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor. Es handelt sich hier um die Drucksachen 11/3368 bis 11/3371 sowie 11/3415.Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat eine Vereinbarung dahin gehend getroffen, daß eine Debattenzeit von 90 Minuten angesetzt wird. — Ein Widerspruch gegen diese Vereinbarung erhebt sich im Hause nicht, so daß ich dies als beschlossen feststellen darf.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Waltemathe das Wort.Die übrigen Damen und Herren werden gebeten, wenn sie der Debatte nicht beiwohnen wollen, entweder den Saal zu verlassen oder zumindest die Gespräche einzustellen. — Dies war eine ernstgemeinte Aufforderung. —
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7523
Vizepräsident Cronenberg— Herr Staatssekretär, wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie auch die Beratungen zum nächsten Einzelplan nicht allzusehr durch intensive Gespräche stören würden. — Danke schön.Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte natürlich niemanden, den Saal zu verlassen, weil jetzt eine großartige Rede kommt.Glaubt man nämlich den Veröffentlichungen und den Auftritten des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, so müßte die Umweltpolitik einen ganz hohen Stellenwert im Rahmen der Gesamtpolitik der Bundesregierung einnehmen.
— Es ist die Frage, wer diesen Auftritten und Veröffentlichungen glaubt. — Die Show läuft, aber ein Blick hinter die Kulissen zeigt, daß die zahlreichen Aufführungen Unterhaltung sind und mit Realität jedenfalls nicht viel zu tun haben.Erste Bemerkung. Der Einzelplan 16 ist nach wie vor der zweitkleinste Einzeletat im Bundeshaushalt. Von insgesamt rund 290 Milliarden DM entfällt gerade gut eine halbe Milliarde DM auf das Haus Töpfer. Das sind reichlich 1,7 Promille; ich bin aber ganz wohlwollend und sage: Das sind knapp 1,8 Promille.
Sicher wird darauf hingewiesen werden, daß im Forschungshaushalt und über ERP-Kredite einiges hinzuzuzählen wäre, was nicht in dem Einzelplan 16 steht, aber was auch in den Umweltbereich fließt. Das will ich auch gar nicht bestreiten. Aber trotz enorm wachsender Umweltprobleme wächst der Umwelthaushalt nach den Vorstellungen der Koalition um Null Komma nichts. Daß im Jahre 1989 die Grenze von einer halben Milliarde DM überhaupt überschritten wird, hat nur einen einzigen Grund: Herr Töpfer hat von Herrn Wallmann 5 000 t Strahlenmolke geerbt, die nach Wallmanns Aussage innerhalb von drei Monaten nach Tschernobyl kein Problem mehr darstellen sollten. Nun strahlt die Molke in Güterwaggons in Straubing und Meppen weiterhin still vor sich hin und soll mit einem Aufwand von knapp 40 Millionen DM entsorgt werden. Das sind ja nur 8 DM pro kg. Nach der offiziellen Begründung ist das aber gut angelegtes Geld, nicht etwa, weil hinterher so wertvolle Molke entstanden sein wird, sondern damit man im Falle eines nochmaligen Falles experimentell nachgewiesen haben wird, was dann zu tun wäre. Dafür werden also 40 Millionen DM aufgewendet mit der Folge, daß der Haushalt des Bundesumweltministers auf über 500 Millionen DM ansteigt.Zweite Bemerkung. Für anderes ist nach den Vorstellungen der Bundesregierung kein Geld vorhanden. Der Sommer ist vorbei; die Algenblüte in Nordsee und Ostsee ist verdrängt, und das Robbensterben war offensichtlich ein einmaliger Betriebsunfall. Der Bundesumweltminister hat sich zwar — nicht nur medienwirksam — mit einem Robbenbaby photographieren lassen — wobei wir alle hoffen, daß das nicht der letzte Heuler war — , sondern er hat auch internationale Konferenzen durchgeführt und internationale Zusagen gemacht. Er hat sogar einen 10-Punkte-Katalog vorgelegt, der zwar nicht ausreichend ist, aber immerhin in die richtige Richtung zeigte. Finanziell hingegen entpuppten sich alle seine Ankündigungen als leere Versprechungen. Spätestens im Gespräch mit dem Bundesfinanzminister fiel der Bundesumweltminister völlig auf den Bauch und erzielte eine hundertprozentige Nullösung.Dritte Bemerkung. Vor knapp 20 Jahren — es war noch die Zeit der großen Koalition — fand in München ein großer Kongreß unter dem Motto „Rettet unsere Städte jetzt!" statt. Damals ging es darum, daß unsere Städte und Dörfer zu veröden drohten durch die gigantomanischen Neubauprojekte auf grüner Wiese auf der einen Seite und den Verfall vorhandener Bausubstanz auf der anderen Seite. Aus dem Ergebnis dieses Kongresses ist letzten Endes das Städtebauförderungsgesetz als große G emeinschaftsanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen entstanden. Einerseits enthielt es ein neues, zeitgemäßes Instrumentarium für die Sanierung heruntergekommener Stadtteile und für die Vermeidung künftiger Sanierungsgebiete, andererseits enthielt es aber auch klare Finanzierungsinstrumente. Bei allen Mitnahmeeffekten, manchen Fehllösungen und vereinzelten Übertreibungen können wir heute, eine Generation später, feststellen, daß die Gemeinschaftsaufgabe „Städtebauförderung" einen großen Beitrag dazu geleistet hat, unsere Städte und Dörfer wieder lebenswerter zu machen.Heute, 20 Jahre später, müssen wir uns große Sorgen um die Sanierung all dessen machen, was mit Wasser zusammenhängt. Das Nord- und Ostseesterben ist nur ein Symptom am Ende einer Kette verschmutzter Flüsse, verfehlter Chemiepolitik und intensiver Landwirtschaft. Die ökologische Situation der Nordsee ist bereits im Jahre 1980 im Gutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen beschrieben worden. Damals soll es angeblich fünf vor zwölf gewesen sein. Der Sommer 1988 hat allen vor Augen geführt, daß Nichtstun und Aussitzen keine Rezepte sind, den großen Zeiger der Uhr aufzuhalten.Vierte Bemerkung. Alle Fraktionen dieses Bundestages haben im Sommer dieses Jahres konkrete Maßnahmen gefordert, an deren Finanzierung sich der Bund beteiligen sollte. Das Bundesumweltministerium selbst hat in einem Berichtsentwurf — es war kein Regierungsbericht, aber es war der Entwurf zu einem Regierungsbericht — vom 15. Juli 1988 dargelegt, daß im Bereich der kommunalen Abwasserbeseitigung in den nächsten 15 Jahren insgesamt knapp 100 Milliarden DM erforderlich werden, nämlich über 32 Milliarden DM für den weiteren Ausbau von Flächenkanalisationen, überwiegend im ländlichen Raum, mit dazugehörigen mechanisch-biologischen Kläranlagen, knapp 50 Milliarden DM für die Sanierung alter Kanalnetze und veralteter Kläranlagen und ca. 15 Milliarden DM für — wörtlich — „Maßnahmen zur Umsetzung der fortgeschriebenen ersten Abwasserverwaltungsvorschrift vor allem im Hinblick auf die Begrenzung von Phosphor und Ammoniumstickstoff sowie für Nord- und Ostsee gesetzten Ziele der Hal-
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Waltemathebierung des Nährstoffeintrages bis 1995 im Bereich der Abwasserbeseitigung".Meine Damen und Herren, es ist völlig klar, daß Kommunen und Länder in ihrer Kompetenz erheblich finanziell werden antreten müssen, und klar ist auch, daß die kommunalen Gebühren, und d. h. letzten Endes jede Bürgerin und jeder Bürger, einen erheblichen Finanzierungsbeitrag werden leisten müssen. Aber ebenso klar ist, daß die kürzerfristigen Maßnahmen — ich nenne mal nur die 15 Milliarden DM im Bereich der Klärwerke — nicht ohne Hilfe des Bundes aufgebracht werden können.
Fünfte Bemerkung. Der Bund traut sich zwar ohne weiteres zu, in den nächsten 12 bis 15 Jahren 100 Milliarden DM für einen unsinnigen Jäger 90 aufzubringen, aber für eine Beteiligung an notwendigen Investitionen im Umweltbereich, die unser Wasser und damit unsere Lebensgrundlagen sichern, ist keine müde Mark im Bundeshaushalt vorhanden.
Die Koalitionsfraktionen, offensichtlich wissend, daß der Bundesumweltminister keinerlei Durchsetzungskraft gegenüber dem Bundesfinanzminister besitzt
— gerade Sie, Herr Kollege Schmidbauer — haben zwar im Fachausschuß, füge ich jetzt mal hinzu, wo Sie ja Sprecher waren, bis in den Oktober dieses Jahres hinein den Eindruck erweckt, daß das Budgetrecht ja schließlich beim Parlament liegt
und daß deshalb die Koalitionsfraktionen eine Korrektur des Regierungsentwurfs des Bundeshaushalts herbeiführen würden.
Sie haben sogar im Fachausschuß einen zwar unzulänglichen Teilbeschluß, aber immerhin einen Beschluß gefaßt, wonach in den nächsten fünf Jahren ein Kreditprogramm für kommunale Klärwerke und ihre Nachrüstung in Höhe von 3 Milliarden DM aufgelegt werden sollte, was vom Bund mit fünf Jahresraten von je 240 Millionen DM für Zins und Tilgung finanziert werden sollte. Aber am Schluß haben dieselben Koalitionsfraktionen im Haushaltsausschuß gegen entsprechende Pläne gestimmt, nachdem sie am schleswigholsteinischen Landesvorsitzenden und Bundesfinanzminister gescheitert sind.
Sechste Bemerkung. Wir Sozialdemokraten sehen nicht tatenlos zu, wenn andere tatenlos sind. Wir beantragen zum ersten für die nächsten fünf Jahre jeweils 500 Millionen DM als Bundesanteil für ein Klärwerkeprogramm.
Wenn gleiche Summen — 500 Millionen DM pro Jahr — auch von den Ländern und jeweils auch von den Kommunen aufgebracht würden, könnten in den nächsten fünf Jahren 7,5 Milliarden DM investiert werden. Kollege Weng, das wäre erst die Hälfte dessen, was Herr Töpfer in seinem Berichtsentwurf vom 14. Juli 1988 als notwendig bezeichnet hat.
Es gibt keinerlei vernünftigen Grund, diesen Antrag der SPD-Bundestagsfraktion abzulehnen; denn das Geld — das haben wir nachgewiesen — ist im Bundeshaushalt vorhanden, ohne daß irgendwelche Schulden aufgenommen werden müßten.
Zum zweiten beantragen wir für ein Saar-MoselProgramm einen Betrag von 50 Millionen DM. Damit greifen wir erneut auf, was der Bundesumweltminister und frühere rheinland-pfälzische Umweltminister Töpfer selbst für notwendig erachtet und was der Bundesrat sowohl 1987 als auch im Jahre 1988 beschlossen und gefordert hat. Im erwähnten Bericht des Bundesumweltministeriums heißt es dazu, daß allein im Saarland zur Umsetzung des im „Deutsch-Französischen Aktionsprogramms zur Sanierung von Saar und Mosel" die jährliche Investitionsrate um 100 Millionen DM für einen Zeitraum von zehn Jahren zu erhöhen sei. Das macht schon mal 1 Milliarde DM aus. Die Verminderung der Ammoniumbelastung um ca. 50 verlange außerdem im Saarland eine Investition von 200 Millionen DM in fünf Jahresraten zu je 40 Millionen DM. Dieselben Beträge, nämlich 200 Millionen DM in fünf Jahren bzw. 40 Millionen DM pro Jahr, werden in Rheinland-Pfalz für denselben Zweck benötigt.
Ausdrücklich ist im Bericht des Umweltministers zum Stichwort Mosel/Saar darauf hingewiesen worden, die Maßnahmen seien auch im Hinblick auf die Nord- und die Ostsee beschleunigt durchzuführen.Unser dritter Antrag bezieht sich auf den Zuschuß des Bundes bei den erheblichen Kosten für eine Altlastensanierung im Bodenbereich. Auch diese Maßnahmen beziehen sich letztendlich auf das Lebenselixier Wasser, da bekanntlich verseuchte Böden zu verseuchtem Grundwasser führen.Meine Damen und Herren, ich habe nur einen der Hauptschwerpunkte von Umweltpolitik — schlechter gesagt: von fehlender Umweltpolitik — aufgegriffen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kühbacher?
Das gestatte ich.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Kühbacher.
Herr Kollege Waltemathe, habe ich Sie richtig verstanden, daß der rheinland-pfälzische Minister Töpfer nichts für das Saarland tun will?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7525
Ob der rheinland-pfälzische Umweltminister, der zur Zeit noch Wilhelm heißt, etwas für das Saarland tun will, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß der inzwischen zurückgetretene rheinland-pfälzische Ministerpräsident Vogel etwas für das Saarland und für Rheinland-Pfalz — —
— Der am 9. Dezember — etwa um diesen Zeitpunkt
— zurücktretende Ministerpräsident von RheinlandPfalz hat in einer Presseerklärung dargestellt, was Sie alles durchsetzen würden. Er hat auch Herrn Töpfer in Anspruch genommen. Ich stelle nur fest: Im Bundeshaushalt findet sich keine einzige Mark, noch nicht einmal ein Pfennig für ein Saar-Mosel-Programm wieder.
Ich habe gesagt, daß Herr Töpfer rheinland-pfälzischer Umweltminister war, bevor er Bundesumweltminister wurde.
Die Probleme im Zusammenhang von Ozonloch und Klimaverschlechterung, der Lärmbelästigung, der Entsorgung nuklearer Abfälle usw. dürfen nicht vernachlässigt werden. Es wird von uns nicht bestritten, daß Umweltpolitik auch intensive internationale Zusammenarbeit voraussetzt. Aber der Hinweis auf internationale Notwendigkeiten darf uns nicht veranlassen, auf das Kehren vor der eigenen Tür zu verzichten. Viele Umweltprobleme sind hausgemacht. Wir müssen selbst und sofort Hand anlegen, um die schon eingetretenen Schäden zu reparieren und künftige Schäden durch Umweltvorsorge zu vermeiden.
Dies, meine Damen und Herren, ist nicht allein mit Geld getan. Das weiß ich. Aber ich weiß auch, das ohne finanzielle Anstrengungen die besten Gesetze nichts nützen.
Der Minihaushalt des Bundesumweltministers und seine mangelnde Durchsetzungsfähigkeit, das einzufordern, was aus zwingenden Gründen benötigt wird, mögen uns für die parteipolitischen Auseinandersetzungen freuen. Ich freue mich auch, daß ich Herrn Göhner sehe, der den eigenen Anträgen im Fachausschuß nicht zugestimmt hat. Das mag uns aus parteipolitischen Gründen ja freuen, daß das Ganze so ist, wie ich es geschildert habe, aber die Bürgerinnen und Bürger freut das keineswegs, denn alle haben unter den Versäumnissen zu leiden, und künftige Generationen werden uns allen gemeinsam zu Recht die Versäumnisse von heute vorhalten — auch der Opposition. Ich schließe uns da mit ein.
Wenn Haushaltsberatungen die Stunde des Parlaments sind, so ist dieses Haus heute aufgefordert, das
Versagen der Bundesregierung im Umweltbereich zu korrigieren.
Herr Minister Dr. Töpfer, wenn ein Schüler völlig unzureichende Leistungen erbringt, bleibt er meistens sitzen. Bei einem Minister müßte man bei vergleichbarem Sachverhalt eigentlich Versetzung fordern.
Im übrigen bedanke ich mich trotzdem für die gute Zusammenarbeit mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Ihres Hauses bei der Vorbereitung des Haushaltsplans. Das schmälert überhaupt nicht meine Feststellung, daß Ihre Leistungen im politischen Bereich völlig unzureichend sind
und daß Sie umweltpolitisch keine einzige Mark in den Bundeshaushalt haben einstellen können, weil Sie sich beim Bundesfinanzminister nicht haben durchsetzen können.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmitz, Baesweiler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Waltemathe, Sie haben sich zumindest zum Schluß für die gute Zusammenarbeit bedankt. Ich möchte das hier als Mitberichterstatter auch tun. Nur, ich habe den Sinn Ihrer Rede nicht ganz begriffen.
Sie haben krampfhaft versucht, irgendeine Linie aufzubauen, mit deren Hilfe Sie dem Bundesminister oder der Bundesregierung nachweisen könnten, er oder sie sei untätig gewesen.
Sie sind im Kern immer auf das gestoßen, was Ihre alte Erblast aus Ihrer alten Koalition ist. Darüber haben wir uns beim letzten Mal
eindeutig auseinandergesetzt.
— Ich weiß, Herr Baum, daß auch Sie das reizt.
Aber das, was Sie damals gemacht haben, war ja auch nicht alles so vollkommen.
Sie hatten ja auch einen Partner.
Sie hatten ja auch einen Partner ohne ein Umweltministerium. Vielleicht hätten Sie es verhindern können. Ich weiß es nicht.
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7526 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dies ist Veranlassung genug, um eine Zwischenfrage zu bitten.
Aber sicher, selbstverständlich.
Bitte sehr, Kollege Wieczorek.
Herr Kollege Schmitz, habe ich recht, wenn ich annehme, daß Sie auch die Molke als Nachlaß der Regierung Schmidt darstellen wollen?
Darüber sind wir uns im klaren: Da liegt der Zeitpunkt fest.
Ich werde dies nicht als Erblast der Regierung Schmidt bezeichnen. Nur über eines müssen wir uns im klaren sein: Hätten auch Sie als Opposition versucht, diese Frage in Ihrer Verantwortung mit uns konstruktiv zu lösen, hätten wir heute längst einen Teil der Probleme gelöst.
Die Polemik, mit der Sie versuchen, das Problem anzugehen, hat der Sache nicht gedient. Wir sind jetzt auf dem richtigen Weg.
Die Molke wird dekontaminiert
und wird gleichzeitig in dem Aggregat, das aufgebaut wird, entsprechend behandelt. Damit ist das Problem auch für Sie alle gelöst.
Meine Damen und Herren, ich möchte weiter fortfahren. Der Etat des Bundesumweltministers steigt gegenüber dem Vorjahr immerhin um 14,4 %, Herr Kollege Waltemathe.
Damit ist die Dekontaminierung immer noch nicht drin, und zum dritten Mal seit der Einführung des Bundesumweltministeriums im Juni 1986 liegt der Zuwachs für den Umweltschutz erheblich über den durchschnittlichen Steigerungsraten des Gesamthaushalts.
Dies unterstreicht erneut die Bedeutung, die diese Koalition und die von ihr getragene Bundesregierung dem Umweltschutz beimißt. Herr Kollege Lennartz, Ihr Lachen ist decouvrierend,
aber kein konstruktiver Beitrag. Gegenüber dem Regierungsentwurf hat der Haushaltsausschuß die Steigerungsrate von 11,8 % auf insgesamt 14,4 % erhöht.
Ich meine, das ist ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann.
Hier einige Eckwerte: Der Schwerpunkt des Zuwachses liegt erneut beim Personal, und das ist auch richtig so. Denn gute Umweltpolitik ist personalintensiv; darüber sind wir uns im klaren. Der Bundesumweltminister erhält für das Ministerium und den nachgeordneten Bereich insgesamt 232 neue Stellen, davon 166 Stellen für das neue Bundesamt für Strahlenschutz.
Das ist ein Personalzuwachs um 20,5 %, also gut ein Fünftel, und das, obwohl der Haushaltsausschuß in der Fortführung der sparsamen Haushaltspolitik die Zahl der Stellen im Bundeshaushalt insgesamt nicht ausgeweitet, meine Damen und Herren, sondern leicht zurückgeführt hat. Das muß man im Zusammenhang sehen. Regierung, Haushaltsausschuß und Koalition haben also ohne Ausweitung des Haushaltsvolumens die Stellen zugunsten des Umweltschutzes deutlich umgeschichtet. Das wird von Ihnen einfach nicht wahrgenommen. Dies werden wir in den nächsten Jahren fortsetzen. Beim Ministerium hat der Haushaltsausschuß die Zahl der neuen Stellen von 20 auf 46 erhöht, und zwar gegen die Stimmen der Opposition, lieber Herr Kollege Waltemathe, gegen Ihre Stimmen. Die Zahl der Mitarbeiter im Ministerium steigt um 8,3 % von derzeit 554 auf rund 600 Mitarbeiter.
Der Herr Abgeordnete Waltemathe möchte eine Zwischenfrage stellen.
Ich möchte das jetzt im Zusammenhang fortsetzen.
— Gut, weil Sie es sind!
Sind Sie bereit, mir zu bestätigen, daß wir einen erheblichen Stellenzuwachs beim Umweltbundesamt, das Sie mit Recht als nachgeordneten Bereich bezeichnet haben, gefordert haben, und nicht unbedingt die Notwendigkeit gesehen haben, das Ministerium aufzublähen,
und daß wir deshalb den Einsatz dieser Stellen im Ministerium abgelehnt, aber für das Umweltbundesamt gefordert haben? Können Sie mir das bestätigen?
Das bestätige ich. Nur, wir haben hier andere Prioritäten gesetzt.Mit 46 neuen Stellen wird der Bundesumweltminister in die Lage versetzt, vor allem die drängenden Aufgaben beim Gewässerschutz, beim Sonderabfall, bei der Entsorgung nuklearer Abfälle wirksamer anzugehen. Die dramatische Entwicklung bei Nord- und Ostsee, der Notstand bei der Sondermüllentsorgung und die Vorgänge um die Hanauer Firmen Transnuklear und Nukem haben unmittelbar im Haushalt ihren Niederschlag gefunden. Wir haben hier auch gehandelt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Deut-
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lich verbessert wurde dadurch auch die Infrastruktur des Ministeriums. Dies ist deswegen erforderlich, weil die Mitarbeiter dieses Hauses bis an die Grenze des für sie Zumutbaren belastet sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Opposition hat ihre Kritik — und deswegen, Herr Kollege Waltemathe, wiederhole ich das noch einmal — immer wieder auf die Höhe des Umweltetats konzentriert. Auf den ersten Blick mag der Umweltetat mit seinen 441 Millionen DM recht klein erscheinen. Aber es ist falsch, wie dies SPD und GRÜNE tun, vernünftige Umweltpolitik ausschließlich an der Höhe des Umweltetats zu messen. Die Qualität einer Umweltpolitik ist in erster Linie daran zu ersehen, ob man in der Lage ist, das Verursacherprinzip durchzusetzen. Es kann zwar sein, daß es hier einen Streit in der Sache gibt, daß dies von Ihrer Seite aus ganz anders gesehen wird. Wer aber das Verursacherprinzip ernst nimmt und dafür eintritt, muß dafür Sorge tragen, daß sich die Kosten der Umweltbelastung im Budget und in den Bilanzen der Verursacher niederschlagen und nicht beim Bundesumweltminister. Sie wollen das Gegenteil. Die Aufwendungen für den Umweltschutz dürfen nicht dem Staat zur Last fallen, sondern müssen vor allen Dingen von der Wirtschaft getragen werden. Das heißt, diejenigen, die daran verdienen, müssen sich an der Beseitigung von verursachten Schäden beteiligen. Nur über die Kosten, die sich in den Preisen niederschlagen, führt der Weg vom Verursacherprinzip zum Vermeidungsprinzip. Das haben Sie offenbar noch nicht begriffen.
Wer dagegen — wie die SPD und die GRÜNEN — eine Finanzierung über die öffentlichen Haushalte fordert, der hat bereits bei der Durchsetzung dieses Prinzips kapituliert, schlicht und einfach kapituliert, und hat sich auf das Gemeinlastprinzip zurückgezogen.
Sie wissen genau, daß das Gemeinlastprinzip dazu führt, daß der kleine Mann auf der Straße belastet wird.
Das wollen Sie doch offenbar.Konkret heißt das folgendes: Verursacherorientierte Umweltpolitik ist erfolgreich, wenn Industrie und Gewerbe — wie bereits geschehen — rund 50 Milliarden DM in die Luftreinhaltung investieren, ohne da nur eine einzige Mark aus Bundesmitteln des Bundesumweltministers dafür aufgebracht zu werden brauchte. Allein dieses Beispiel zeigt, daß verursacherorientierte Umweltpolitik allen Versuchen weit überlegen ist, dies notdürftig mit zusammengestrickten Beschäftigungsprogrammen zu gestalten.Ein Sonderprogramm „Arbeit und Umwelt", wie es die SPD fordert, ist ein alter Hut. Jeden Tag die alte Platte bringt uns nicht weiter.
Immer wieder wird versucht, dies hervorzuziehen. Es ist volkswirtschaftlich unsinnig und schafft, auf Dauer gesehen, keinen einzigen neuen Arbeitsplatz. Es würde das Verursacherprinzip auf den Kopf stellen und im Wege von Subventionen diejenigen belohnen, die die Umwelt am meisten belasten, ohne daß auf Dauer — ich wiederhole das — ein einziger Arbeitsplatz zusätzlich geschaffen würde. Deswegen, meine Damen und Herren, lehnen wir Ihre Art des Umweltschutzes in dieser Form ab.Lieber Herr Schäfer, ich bin ja gerne bereit, Ihnen einmal einige Beschlüsse vorzulesen, die Sie in Münster gefaßt haben. Dann würden Ihnen die Augen übergehen und dem Verbraucher erst recht.Meine Damen und Herren, würde sich die SPD mit ihren wirtschaftspolitischen Vorstellungen vom Münsteraner Parteitag durchsetzen, so wäre zu befürchten, daß die Umweltpolitik durch Verteilungskonflikte gelähmt würde, die wirtschaftspolitisch falsche Weichenstellung würde erheblichen Schaden anrichten. Deswegen sind wir nicht dafür, daß wir dies machen.
Meine Damen und Herren, die konsequente Anwendung des Verursacherprinzips muß sich auch für den Schutz von Nord- und Ostsee bewähren.
Der Haushaltsausschuß hat sich mit dem Schutz von Nord- und Ostsee eingehend befaßt.
Lieber Herr Kollege Waltemathe, jetzt will ich Ihnen etwas sagen: Hätten wir von seiten der Koalition und auch von seiten der Bundesregierung nicht darauf gedrängt, daß wir einen vernünftigen Bericht über die Frage der Sanierung von grenzüberschreitenden Gewässern bekommen,
dann hätten Sie heute einen Teil ihrer Rede gar nicht halten können.
Ich bin ja froh, daß Sie diesen Bericht gelesen haben, daß Sie zumindest etwas Aufklärung darüber bekommen haben, was wir in den nächsten Jahren noch vor uns haben. Ich hoffe, Sie begleiten uns dabei anständig.Ich füge gleich folgendes hinzu: So zu tun, als sei dies ausschließlich Sache des Bundes,
und die Länder und Gemeinden sollen draußen vorbleiben, davor kann ich nur warnen. Auf der einen Seite fordern die Länder Kompetenzen im Natur- und Gewässerschutz, und auf der anderen Seite wollen sie
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sich auf Kosten des Bundes sanieren, insbesondere Nordrhein-Westfalen, das Saarland und dann schließlich auch noch das Land, das Sie im Norden zwischenzeitlich — leider Gottes, muß ich dazu sagen — regieren.
Die Diskussion dieses Berichtes hat erneut gezeigt, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß wir die zusätzlichen Forderungen, die hier aufgestellt worden sind, so nicht akzeptieren. Der Schutz von Nord- und Ostsee und der Schutz unserer Flüsse sind Aufgaben, die uns vor große Herausforderungen stellen. Wir sind der Meinung, daß dieses neue Programm, das aufgelegt worden ist, als Strukturhilfeprogramm im wesentlichen mit dazu beitragen muß, auch die Reinigungsstufen bei Städten und Gemeinden so zu gestalten, daß sie keinen Eintrag in die Flüsse vornehmen. Deswegen bin ich der Meinung, dies ist eine Bewährungsprobe für die Länder, ob sie im Stande sind, dies zu machen.
— Das war ja wohl kein ernstzunehmender Einwurf. Angesichts der Tatsache, daß auch das Land Nordrhein-Westfalen einen steuerlichen Zuwachs von über 2 Milliarden DM in diesem Jahr erhält, ist die Behauptung, daß wir den Ländern das Geld wegnehmen, absurd. Herr Schäfer, das, was Sie behaupten, ist schlicht und einfach absurd.Deswegen erwarten wir von den Ländern, daß sie das Strukturhilfeprogramm so gestalten, daß hier wesentliche Umweltschutzmaßnahmen mitfinanziert werden müssen und auch finanziert werden können und es nicht dazu dient, Haushaltsdefizite zu kaschieren oder auszugleichen.Meine Damen und Herren, wir haben noch ein weiteres getan. Der 10-Punkte-Katalog und die im Strukturhilfegesetz veranschlagten Millionen und die 10 Millionen DM, die wir im Haushaltsausschuß zusätzlich für ein Gewässerrandschutzprogramm zur Verfügung gestellt haben, eröffnen in der Kombination mit dem Extensivierungsprogramm des Landwirtschaftsministers mit absoluter Sicherheit die Chance
— es ist ja Ihr Bier, nicht meines — , einen Schritt in Richtung Gewässersanierung zu tun. Hätten Sie früher etwas getan, hätten wir heute die Probleme nicht.
Auch beim Schutz der Nord- und Ostsee ist es erforderlich, daß wir die internationalen Beziehungen, die diese Problematik berühren, auch einmal darauf abklopfen, ob die anderen Länder bereit sind, etwas zu tun.
Es kann nicht sein, daß z. B. gesagt wird: Wir sind in der Tschechoslowakei Oberliger, oder: Wir sind in der DDR Oberliger, und infolgedessen haben wir mit dem Problem nichts zu tun. Wir begrüßen es daher, daß dieBundesregierung unter Helmut Kohl und Bundesumweltminister Töpfer in der internationalen Zusammenarbeit große Erfolge vorzuweisen haben. Die Reise der Delegation nach Moskau, bei der das Umweltschutzabkommen mit der Sowjetunion unterzeichnet wurde, hat deutlich gemacht, daß wir angesichts der grenzüberschreitenden Gefährdung unserer Umwelt und den in der Tat hohen Umweltbelastungen in Osteuropa einen ganz wichtigen Schritt getan haben. Daraus ist ein positives Signal sicherlich auch für die übrigen Ostblockstaaten zu ersehen. Deswegen begrüßen wir es auch, daß sich in der Zusammenarbeit mit der DDR eine Möglichkeit ergibt, in ersten Haushaltsansätzen für Einzelfälle Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen, wenn es um Pilotprojekte betreffend umweltbelastende Produktion innerhalb der DDR geht.
Wir sind im Hauhaltsausschuß der Meinung gewesen, beim Investitionstitel des Bundesumweltministers zur Verminderung der Umweltbelastungen einen Haushaltsvermerk einzufügen, der dies ermöglicht.
Auch dies ist, meine ich, ein erster neuer Schritt in die richtige Richtung. Ich finde, daß Sie auch das einmal würdigen sollten.
Lassen Sie mich das einmal in aller Deutlichkeit sagen.
— Sie haben Anträge gestellt, Frau Vennegerts, die sich schlicht und einfach von einer Milliarde zur anderen hin bewegt haben, ohne daß Sie eine konkrete Begründung dazu geliefert haben.
— Wir wollen das nicht weiter fortsetzen; es war ohne eine konkrete Begründung.Deswegen sind wir der Meinung, daß wir hier gerade auch im Verhältnis zur DDR auf dem richtigen Weg sind. Hier sind Chancen; ich gestehe zu: Es gibt auch Risiken. Das muß vernünftig miteinander abgesprochen werden. Deswegen, meine Damen und Herren, verfahren wir nicht ausschließlich nach dem Motto „Leistung und Gegenleistung", sondern wir bieten hier etwas an. Nur eines ist auch sicher: Wir erwarten eine kooperative Zusammenarbeit auch von den Ländern, die Anrainerstaaten der Ost- und Nordsee sind.
Deswegen ist dies richtig. Ich halte es für richtig, daßwir, wenn es uns nützt, die Belastungen von seiten derDDR und anderer Staaten durch einen entsprechen-
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den Einsatz bundesdeutscher Haushaltsmittel mit entschärfen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend folgendes sagen. All das Gerede von seiten der Opposition
entbehrt wirklich jeder Grundlage, weil sie der Bundesregierung und diesem Bundesumweltminister kein geschlossenes Konzept gegenüberstellen kann.
— Das haben Sie ja eben mitbekommen.Deswegen kann ich Ihnen nur ankündigen, bevor Sie weiter diesen Bundesminister und bevor Sie weiter diese Bundesregierung, Herr Lennartz, wüst beschimpfen — das kann ich bei Ihnen nur sagen — : Sie werden von uns daraufhin geprüft werden, ob Sie konkrete Alternativen vorlegen können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bundesumweltminister hat auch in schwierigen Jahren der EG-Präsidentschaft gute Arbeit geleistet. Dafür bedanken wir uns. Er hat unsere volle Unterstützung.
Der Umweltschutz wird in den kommenden Jahren bei der Verteilung sowohl von personellen als auch von finanziellen Ressourcen weiterhin Vorrang haben. Die Schwerpunkte im Haushalt 1989 sind richtig gesetzt. Deswegen stimmen wir von seiten der CDU/ CSU-Fraktion diesem Haushalt, diesem Bundesminister und dieser Bundesregierung ausdrücklich zu, ob Sie es wollen oder nicht.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Garbe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Tagen und Monaten, wo sich die 40. und 50. Jahrestage häufen und Irrationalität, Blindheit und Skrupellosigkeit sowie Brutalität einer anderen Zeit in Erinnerung rufen, die wir Deutschen gestaltet und ertragen haben, lohnt es sich, an die Beschlüsse einen anderen Gradmesser anzulegen als den der jährlichen Bilanz.Ich möchte die Frage aufwerfen, Herr Schmitz und meine sehr verehrten Damen und Herren von den Koalitionsparteien, wie Sie Ihren Haushalt nunmehr verabschieden wollen und ob er eine rationale Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit ist. Ich möchte die Frage aufwerfen, ob Ihre Haushaltsbeschlüsse jene mitfühlende Wärme produzieren werden, die diese Welt wieder zum Haus für viele Mitgeschöpfe werden lassen kann.Ich darf hier die Gedanken eines Tierschützers von der Insel Wangerooge zitieren:Es klopft abends an der Tür. Ich denke, was ist eswohl diesmal: ein verölter Seevogel, den ich totspritzen muß, ein todkranker Seehund, der dieNacht im Keller nicht übersteht, oder vielleicht ein gestrandeter Tümmler, der frisch tot angetrieben wurde? Seit acht Jahren lebe ich hier, pflege und töte Tiere. Anfangs kamen noch die Tränen, wenn ich einem verölten Vogel mit dem Stein den Schädel zertrümmerte, um ihn so schnell wie möglich von seinen fürchterlichen Qualen zu erlösen. Was geblieben ist? Eine unsägliche Trauer, eine ohnmächtige Wut, die im letzten Winter 60mal hochkam. Doch es kommt noch besser. Verreckende Seehunde am Strand ... Immer diese Hilflosigkeit. Es wird nicht besser, nur schlimmer. Kaum jemand hilft einem — die Schreibtische sind weit weg ... Wenn ich wüßte, wer das alles zu verantworten hat, ich würd's ihm ins Gesicht schreien, doch der Aufschrei würde nur in endlosen Bürogängen verhallen.Meine sehr verehrten Damen und Herren von den Koalitionsparteien, mit diesem Haushalt hier machen Sie sich zu Schreibtischtätern.
Oder haben die 85 000 Unterschriften von den Sammelpetitionen zur Verbesserung der Lage von Nord-und Ostsee Wirkung gezeigt? Nein! Dieser Haushalt bleibt irrational und kalt, wo es um Mitgefühl für die geschundene Mit- und Umwelt ginge.
Dieser Haushalt bleibt da brutal, wo es um die Fragen geht: Werden wir unseren Kindern eine lebensfähige und lebenswerte Umwelt erhalten?„Wenn der Planet zürnt: Wüste, Flut und Stürme" — Sie haben es sicherlich alle im November im „Bild der Wissenschaft" gelesen. Die Eingriffe, die wir durch den enormen Energieverbrauch und durch den enormen Chemikalieneinsatz global bewirken, sind so gewaltig, daß die natürlichen Gewalten zurückschlagen. Nicht nur Ozonloch und Wärme, sondern Sintfluten, Dürren und Verwüstungen sind durch die bisherige Politik vorprogrammiert.
Das ist irrational. An dieser Irrationalität soll mit den von Ihnen beschlossenen Haushaltsvorgaben offensichtlich nicht gerüttelt werden.
Was ist mit den 100 000 ungeprüften Altchemikalien? Wird denn jetzt aus weiser Vorsorge heraus gehandelt? Werden die Altstoffe überprüft? 20 Chemikalien pro Jahr können abschließend bearbeitet werden. Für mehr reichen die Kapazitäten nicht. Aber ein Aktionsprogramm, um auf Nummer Sicher zu gehen, nämlich die vermutlich umwelt- und gesundheitsschädlichen Chemikalien aus dem Verkehr zu ziehen, die Prüfung nunmehr mit allen Mitteln zu beschleunigen — das sucht frau vergebens.
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7530 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Frau GarbeDerweilen dürfen wir Jahr für Jahr die Meldung entgegennehmen, daß die Belastungen unserer Organe oder der Muttermilch mit den giftigsten Verbindungen im Steigen begriffen sind. Den lebensmittelrechtlichen Bestimmungen genügt die Muttermilch schon lange nicht mehr.Ist das rational, was Sie uns jetzt im Haushalt vorlegen? Die Zunahme der Mittel im Verteidigungshaushalt beträgt das Dreifache dessen, was den gesamten Umwelthaushalt ausmacht. An dieser Relation hat sich durch die Haushaltsplanberatung absolut nichts geändert. Die Umwelt bleibt ein Winzling, das Militär der Riese.
Sie haben noch nicht das begriffen, was nun auch im Osten dämmert, die Erkenntnis nämlich, daß wir selber unser größter Feind sind.Wie verhält sich nun der Umwelt-, Naturschutz- und Reaktorsicherheitsminister in dieser Situation?
Ob in schonungsloser Feuerwehrpositur oder in schönfärberischer Bestandsaufnahme, der Umweltminister sagt, wo es langgeht. Er redet nicht nur, er macht auch Worte: Erstens. Wir sind besser als die anderen. Zweitens. Wir versuchen das Möglichste. Drittens. Uns sind die Hände gebunden.
Viertens. Wir ergreifen alle notwendigen Maßnahmen. Fünftens. Handeln müssen jetzt die anderen.
Damit ist bereits eine Menge bewegt worden. Die Leute im Lande zumindest sind bewegt worden, Sie, Herr Minister Töpfer, jetzt als tatenlosen Glaubensminister zu durchschauen.Mindestens 15 Milliarden DM sollten einmal zur Rettung der Nordsee mobilisiert werden. Als wir aber ein Bund-Länder-Programm forderten, um die Nährstoff- und Schadstoffeinträge in Flüsse und Meere drastisch zu reduzieren — Kosten für den Bund 1,4 Milliarden DM jährlich —, war dafür kein Geld da.
Diese Summe, die Sie nicht zu bewilligen bereit waren, erhält ihre Bedeutung durch die Beträge, die lokker vom Hocker fließen, wenn es um andere Dinge geht. Ich möchte wie Herr Kollege Waltemathe nur andeuten: Jäger 90. Oder denken Sie an die Airbus-Milliarden, die Ihnen die Schaffung des sternigen Limousinen-Rüstungsimperiums wert waren. Da sitzen die Milliarden locker. Wenn es aber um die Umwelt geht, werden Sie knauserig.
Angesichts roter Listen, Ozonloch, Waldsterben, Robbensterben, Klärschlammverseuchung, Grundwasserverseuchung mit Nitraten und Pestiziden und Sorgen über Sorgen mit der ungeklärten Entsorgung aller Arten von Müll — sei es Atom- oder Chemiemüll — vermag ich nicht zu erkennen, daß Sie hier einen Weg rationalen Handelns und rationaler Ressourcenallokation eingeschlagen hätten.Statt die Energieverschwendung einzudämmen, feiern Sie jetzt die Investitionssumme von 20 Milliarden DM, die durch die Großfeuerungsanlagen-Verordnung mobilisiert worden sind. Aber das Anwachsen der Stoffströme, der schadstoffbelasteten Gipsberge sowie der steigende Kalkeinsatz kann doch wohl nicht als umweltfreundliche Wohltat gefeiert werden, so überfällig die Reduzierung der Schwefeldioxidemissionen auch war.Wir sind aufgeschlossen gegenüber der Umwelttechnologie; das habe ich immer wieder betont. Aber das, was Sie feiern als Wachstumsbranche, als grünen Unternehmenszweig — wie er inzwischen ja schon tituliert wird —, ist unserer Meinung nach nur rational im Rahmen eines Umbaukonzepts zu einer umweltgerechteren Kreislaufwirtschaft. Dieser Haushalt signalisiert aber keinen Umbau. Er signalisiert vielmehr Zubau, und zwar ökologisch schädlichen Zubau.Wir haben einen umfangreichen Haushaltsantrag für ein Bund-Länder-Programm zum Schutz des Grundwassers und zur Sicherung der Trinkwasserversorgung eingebracht. Es ist bekannt, daß zig Milliarden in den nächsten Jahren investiert werden müssen, um die Kanalisationssysteme zu modernisieren. Es ist bekannt, daß zig Milliarden in die Sanierung unserer Grundwasservorkommen investiert werden müssen. Es ist bekannt, daß 70 000 Altlasten auf ihre Sanierung warten. Von der Bundesregierung sind hier nur Pfennigbeträge zu erwarten.Wir sind mit unseren Haushaltsvorstößen gescheitert, denn die Bundesregierung geht den umgekehrten Weg. Statt eines Bund-Länder-Programms nimmt sie die Kommunen finanziell aus, so daß in puncto Umwelt auf allen Ebenen die umfassenden Maßnahmen ausbleiben müssen. Diese Art von Rationalität ist eine, die eben nicht auf Nachhaltigkeit setzt, sondern auf kurzfristige Vorteile zielt. Sie ist von Unverantwortlichkeit gegenüber Umwelt, Mitwelt und Nachwelt geprägt, wie es Hartmut Bosse charakterisieren würde.Wen wundert es da, daß unsere Anträge, die Umweltverträglichkeitsprüfungen durch Sammlung von Know-how zu unterfüttern, bei Ihnen auf Eis liegen? Wen wundert es, daß keine weiteren Mittel bereitgestellt werden, um wichtige Relikte von Natur zu sichern? Sie schmieren lieber die Atomindustrie weiter durch ein strahlendes Bundesamt.Sie haben es nicht fertiggebracht, meine Herren und Damen, sich haushaltsmäßig für einen Umbau stark zu machen, der ökologisch und sozial motiviert wäre. Und schon gar nicht sind Sie auf unsere Konzeptionen eingegangen, die nicht nur Umbau postulieren, sondern eine Revitalisierung auf ihre Fahnen geschrieben haben. Eine Renaturalisierung der Natur, eine Revitalisierung der Umwelt — für solche Argumentation, für eine Umweltpolitik mit Zukunft, die auf Erhalt und Wiedergewinn unserer Lebensgrundlagen setzt, haben wir bei Ihnen kein offenes Ohr gefunden.
Meine sehr verehrten Herren und Damen der Koalitionsparteien, wir können diesen Haushalt der wach-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7531
Frau Garbesenden Sorgen und der Entsorgungslüge deshalb nur ablehnen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Weng.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Bereich des Umweltministeriums hat die Koalition beim Haushalt des Jahres 1989 erneut wichtige politische Schwerpunkte gesetzt. Ich sage dies auch und gerade deshalb — das ist ja auch nach der Rede, die wir gerade gehört haben, wieder deutlich geworden — , weil von seiten der Opposition in diesem Bereich falsche Eindrücke erweckt werden. Die Forderung nach dem für die Umwelt Wünschenswerten im Zusammenhang mit dem Bundeshaushalt berücksichtigt eine Reihe von Tatsachen nicht. Ich meine, es steht einem Parlament an, sich auf der Basis von Tatsachen zu unterhalten und zu diskutieren.
Zum ersten: Die Kompetenzen des Bundes über die Gesetzgebung hinaus sind relativ gering. Deswegen macht hier auch ein Vergleich des Umwelthaushalts z. B. mit dem Verteidigungsetat wirklich keinen Sinn. Vergleichen müßte man die volkswirtschaftliche Leistung für Umweltprobleme, die Investitionen, die, durch Gesetzgebung veranlaßt, im Umweltbereich vorgenommen werden und deren Umfang den des Verteidigungsetats, den natürlich allein der Bund verantwortet, bei weitem übersteigt. Ich habe hier zwar keine konkreten Zahlen. Aber eine vorhin genannte Zahl von mehr als 50 Milliarden DM allein im Bereich der Großfeuerungsanlagen macht deutlich, daß der Umfang der Investitionen hier unvergleichlich größer ist als der, der für Verteidigung aufgewendet wird.
Die Kompetenz über die Gesetzgebung hinaus sind also relativ gering. Manches Bundesland — darunter sind auch SPD-regierte Bundesländer — und eine ganze Zahl von Gemeinden in unserem Land wären gut beraten, gesetzliche Auflagen schneller zu erfüllen, als dies seither geschieht.
Dann wäre ein Teil der bestehenden Probleme heute schon gelöst.
Das heißt nicht, meine Damen und Herren, daß Gesetze nicht geändert werden müssen, daß an vielen Stellen Verbesserungen — auch Verschärfungen — bestehender Gesetze auf Grund der ersichtlichen Notwendigkeiten kommen müssen. Dies ist aber nicht Teil der Haushaltsberatungen.Zum zweiten: Viele Probleme im Umweltbereich, die uns sehr große Sorgen machen — ich denke hier z. B. an das Ozonloch,
ich denke an die wachsende Sorge im Zusammenhang mit den Kohlendioxidemissionen und dem zu befürchtenden Treibhauseffekt, von dem an vielen Stellen gesprochen wird — , sind keine nationalen Probleme.
Diese Dinge können nur dann in Ordnung kommen, wenn internationale — und zwar international wirksame — Vereinbarungen getroffen werden. Hier stehen wir mit unseren Forderungen, mit unserer Bereitschaft, als Bundesrepublik tätig zu sein, weltweit an der Spitze. Deswegen ist der Zwischenruf von wegen Abwiegeln absolut unsinnig. Wir sind bereit, viel zu tun, wesentlich mehr zu tun als alle uns umgebenden Länder.
Wir sind sogar bereit, für andere Länder das eine oder andere zu tun.
Aber wer hier den Eindruck erweckt, als wäre die Bundesrepublik allein in der Lage, die weltweiten Probleme zu lösen, lügt die Leute draußen an.Das gilt auch für die Fragen der Luftreinhaltung. Denken Sie an die Entschwefelung und die Entstikkung der Großfeuerungsanlagen, an die Fragen im Zusammenhang mit bleifreiem Benzin und Katalysator-Autos in unserem Land. Wir haben zumindest in Europa in diesen Fragen eine führende Position. Neuerdings sind wir sogar bereit, bei Kraftwagen mit kleinerem Hubraum die Forderung nach dem 3-WegeKatalysator im nationalen Alleingang zu verwirklichen, nachdem die EG im Unterschied zu dem, was damals beim Gesetzgebungsverfahren hier gegeben war, inzwischen signalisiert hat, daß sie einem solchen nationalen Alleingang nicht widersprechen wird.Auch hier ist nicht das Wünschenswerte erreicht — das Wünschenswerte zu definieren ist immer einfach —, aber doch eine ganze Menge im Vergleich zu anderen. Auch hier ist die Arbeit natürlich nicht zu Ende. Gerade im Bereich der Umweltpolitik ist Stillstand Rückschritt und ist schneller Fortschritt an vielen Stellen dringend erforderlich. Nur, wir von seiten der Koalition messen die Ergebnisse am Möglichen, am Erreichbaren, nicht am Wünschenswerten. Am Möglichen gemessen, können sich die Ergebnisse unserer Arbeit wirklich sehen lassen.
Denken Sie drittens an die ständig weiter verschmutzten Meere. Gemessen an unserem — sicher immer noch nicht ausreichenden — Reinigungsstandard der Abwässer ist das, was unsere Nachbarländer in die Nordsee einleiten, worauf wir ja keinen Einfluß haben, enorm viel wert. Dort ist die Bereitschaft, in
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7532 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Dr. Weng
Umweltfragen so konsequent, wie wir es tun, zu handeln, einfach nicht ausgeprägt; sie ist zumindest nicht so ausgeprägt wie bei uns. Da können wir nur verhandeln. Wir können fordern, wir können bitten, und wir können — ich habe es zuvor gesagt — auch in gewissem Maß unterstützen, was wir neuerdings zu tun bereit sind.Ich nenne in der Kürze der Zeit wenigstens einiges von dem, was wir durch unsere Haushaltsentscheidungen vorangetrieben haben und womit, wie ich glaube, auch in Anlehnung an die Äußerungen des Kollegen Schmitz deutlich gemacht werden kann, daß die Haushaltspolitik der Koalition hier einen tatsächlichen Fortschritt im Umweltbereich bewirkt und daß im Rahmen der uns als Haushälter zur Verfügung stehenden Möglichkeiten natürlich auch unter dem Aspekt ordnungsgemäßer Finanzierung, den die Opposition hier gern unerwähnt läßt, tatsächliche Fortschritte, und zwar wichtige Fortschritte, erreicht worden sind.
Künftig dürfen auch umweltschonende Pilotprojekte in der DDR mit Haushaltsmitteln unterstützt werden. Künftig werden also umweltbelastende Emissionen aus der DDR mit unserer Hilfe verringert werden können. Daß ein solches Pilotprojekt in der DDR selber Konsequenzen nach sich ziehen soll und daß wir natürlich hoffen, daß das Einfluß auf künftige Umweltgestaltung und damit Konsequenzen z. B. für Probleme des Grenzflusses Elbe hat, bemerke ich zusätzlich. Das ist eine grundsätzliche Entscheidung von enormer Bedeutung. Ich sage das auch mit Blick auf das, was von der SPD wieder zur Frage der Reinigung grenzüberschreitender Gewässer und zur Frage von Länderaufgaben gesagt worden ist. Wir als Bund können aus unserer Finanzkraft nicht all diese Aufgaben ohne die dazu erforderliche Finanzausstattung übernehmen.
Wenn Sie der Auffassung sind, Frau Kollegin Blunck, daß wir die Aufgaben übernehmen sollten, dann sorgen Sie dafür, daß die nötige Finanzausstattung zu uns kommt; dann können wir darüber diskutieren.
Ein weiterer Punkt. Der Bund unterstützt ja schon seither Naturschutzverbände und auch Gebietskörperschaften beim Ankauf von Natur- und Landschaftsschutzgebieten mit gesamtstaatlich repräsentativer Bedeutung. Dies haben wir seinerzeit erkämpft. Auch das Fortbestehen dieses Programms haben wir erkämpft. Es war vom Aussterben bedroht. Wir sind froh, daß es heute sogar mit verbesserter Finanzausstattung erhalten bleibt. Aber gleichzeitig geben wir dem Umweltminister jetzt ein Instrument in die Hand, indem er eine Verbesserung ökologischer Aspekte im Bereich der Stillegung landwirtschaftlich genutzter Flächen erreichen kann. Leider ist es im Rahmen des EG-Flächenstillegungsprogramms nicht möglich, eine Staffelung der Zuschüsse nach ökologischer Bedeutung der jeweiligen Flächen vorzunehmen. Diese Tatsache muß nach unserer Auffassung für den Landwirtschaftsminister eine Aufgabe sein. Er muß sich in der EG darum bemühen, hier etwas zu erreichen, und Verbesserungen anstreben.
Der jetzigen Situation aber, Herr Kollege Bohl — das hat mit dem Wombat nichts zu tun — , haben wir durch Einstellung von 10 Millionen DM beim Umweltministerium dadurch Rechnung getragen, daß der Umweltminister künftig für Flächenstillegungen zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen darf, wenn sich die stillgelegten Flächen an Flußufern befinden. Meine Damen und Herren, diese Stillegungen werden dazu führen, daß die Einsickerung von Schadstoffen — insbesondere von Nitraten, aber auch von anderen Schadstoffen — in die Gewässer einschneidend verringert wird.
Wir haben — auch das ist schon angesprochen worden — weit über das im übrigen Haushalt eingehaltene Maß zusätzliches Personal zur Verfügung gestellt, auch und insbesondere in den wichtigen Forschungsbereichen. Wir haben der Regierung zusätzlich den Auftrag gegeben, die Forschungen mit Umweltaspekten, die im Augenblick in anderen Haushalten angesiedelt sind, nach Möglichkeit dem Umweltministerium zuzuordnen, um künftig konzentrierte Schlagkraft des Ministeriums noch besser zu erreichen.Meine Damen und Herren, unsere haushaltsbegleitende Unterstützung gilt einem politisch wichtigen Thema ebenso wie einem engagierten Fachminister. Wer die Haushälter der Koalition umweltpolitisch an der Sache mißt und nicht am Feldgeschrei der Opposition,
der weiß, daß wir hier im Bereich des Ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wichtiges erreicht und Wichtiges geleistet haben.Vielen Dank.
Nun hat das Wort der Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Etwas mehr als zwei Jahre nach der Gründung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ist diese Haushaltsdebatte Anlaß für eine erste Zwischenbilanz. Trotz gewisser Verbesserungen bei einzelnen Schadstoffen hat sich der Zustand unserer Umwelt insgesamt verschlechtert. Die volkswirtschaftlichen Schäden durch Umweltbelastungen nehmen zu und liegen nach vorsichtigen Schätzungen bei über 100 Milliarden DM pro Jahr. Das ist die ökonomische Schadensbilanz.Die ökologische Bilanz ist nicht besser. Trotz gewisser Verbesserungen, z. B. bei den Schwefeldioxidemissionen, geht das Waldsterben unvermindert auf hohem Niveau weiter. Die Stickoxidemissionen,
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Schäfer
Waldkiller erster Güte, sind heute so hoch wie nie zuvor in der Industriegeschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Sie liegen heute um 50 % höher, als diese Bundesregierung vor drei Jahren prognostiziert hatte.
Erst knapp 7 °A) der Pkw erfüllen die strengen US-Abgasnormen.
Bei den Lkw ist die Lage noch trostloser. Ihre Abgase verpesten weiter ungefiltert unsere Umwelt. Der Zustand unserer Meere und unserer Flüsse ist ebenfalls weiter kritisch.
Robben- und Fischsterben sowie die Algenblüte in Nord- und Ostsee zeigen die katastrophale Zuspitzung dieser Lage trotz aller bisher ergriffenen Maßnahmen in diesem Bereich.Außer großen Reden, meine Damen und Herren, liegt bisher kein konkreter Beschluß der Bundesregierung zum Schutz von Nordsee und Ostsee vor.
Weder das von uns geforderte Aktionsprogramm noch die von uns verlangte Konzertierte Aktion wurde von den Regierungsparteien aufgegriffen.
Zur ökologischen Bilanz gehört: Die Belastung unserer Böden mit Agrarchemikalien und sonstigen Schadstoffen führt zur schleichenden Vergiftung von Trinkwasser und von Nahrungsmitteln. Erst heute hat der Präsident des Umweltbundesamtes, von Lersner, darauf hingewiesen, daß Jahr für Jahr rund 31 000 t Pestizide in der Bundesrepublik versprüht werden.
Das Ticken dieser Zeitbombe ist für jeden zu vernehmen, der es hören will. Durchgreifende Maßnahmen, Herr Töpfer, beispielsweise Atrazinverbot, beispielsweise Stickstoffabgabe, sind bislang von Ihnen nicht ergriffen worden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte schön. Vizepräsident Cronenberg: Bitte sehr.
Herr Schäfer, wie erklären Sie sich vor dem Hintergrund Ihrer totalen Katastrophenbilanz, daß Ihr Parteifreund Matthiesen für das Ruhrgebiet in einer Intensivuntersuchung festgestellt hat, daß sich die Schadstoffbelastung in der Luft in den lezten 20 Jahen um mehr als 50 reduziert hat und daß dies ausgesprochen positive Auswirkungen auf die Befindlichkeit und Gesundheit der Menschen gerade im Ballungsraum Ruhrgebiet gehabt hat — so die Presseerklärung aus diesem Jahr?
Meine Damen und Herren, ich habe die Lage der Natur beschrieben, wie sie ist, wie jeder von Ihnen sie in allen Dokumentationen des Umweltbundesamtes und auch in Stellungnahmen von Herrn Töpfer nachlesen kann.
Es war Herr Töpfer, der in Berlin die Lage der Natur vor Naturschutzverbänden als so desolat wie nie zuvor beschrieben hat.
Ich wundere mich, daß Sie in diesem Punkt von Herrn Töpfer abweichen.Zur Sache selbst:
Ich habe darauf hingewiesen, daß in Teilbereichen die Schadstoffbelastung zurückgegangen ist, beispielsweise was die Schwefeldioxidemissionen angeht, beispielsweise was die Staubbelastung durch Kohlekraftwerke angeht. Aber richtig bleibt, daß die Stickoxidbelastung zugenommen hat — entgegen Ihrer Prognose. Richtig bleibt, daß sich der Zustand der Natur insgesamt verschlechtert hat.
— Ich bleibe bei der Bestandsaufnahme, der Schadensbilanz:
Immer mehr Tier- und Pflanzenarten sterben aus. Unsere Landschaft wird ärmer und eintöniger.Ich sage noch einmal — der Gesamtbefund dürfte unstrittig sein — : In allen Teilbereichen des Umweltschutzes wachsen die Probleme schneller als die politischen Fähigkeiten, sie zu lösen. Die von Ihnen, Herr Töpfer, ergriffenen Maßnahmen reichen vielfach noch nicht einmal aus, den Status quo der Belastung zu erhalten, geschweige denn zu spürbaren Verbesserungen zu gelangen. Wahrheit ist, meine Damen und Herren: Wir leben ökologisch über unsere Verhältnisse.
Die Ursachen für das Versagen Ihrer Politik, Herr Töpfer, sind vielfältig. Sie betreiben Umweltpolitik?Metadaten/Kopzeile:
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Schäfer
immer noch als bloßen Reparaturbetrieb, als Katastrophen- und Krisenbewältigung.
Wirkliche Vorsorge in dem Sinne, daß Anreize für von vornherein umweltschonendes Produzieren und Verhalten geschaffen werden, findet bei Ihnen praktisch nicht statt.
Dafür ein einziges Beispiel: Wir müssen heute mindestens 15 Milliarden DM für Investitionen in verbesserte Kläranlagen ausgeben und handeln uns damit neue Probleme in Form von mehr und höherbelasteten Klärschlämmen ein, die wiederum teuer verbrannt werden müssen, weil sie auf unseren Feldern nicht mehr ohne Gefahr für Grundwasser und Lebensmittel ausgebracht werden können. Wieviel effektiver, meine Damen und Herren, wäre es gewesen, rechtzeitig durch Verbote sowie wirtschaftliche Anreize zum Gebrauch umweltverträglicher Wasch- und Reinigungsmittel,
durch eine Begrenzung des Einsatzes von Düngemitteln und Pestiziden, durch geschlossene Wasserkreisläufe in der Industrie die Belastung unserer Abwässer vorbeugend zu verringern!
Wann, meine Damen und Herren, wann, Herr Töpfer, begreifen Sie in der Wirklichkeit Ihrer Politik — nicht in Ihren Reden — endlich, daß der nachsorgende Umweltschutz meist der teuerste und zudem der am wenigsten wirksame ist? Die ökologischen Zielsetzungen müssen — dies ist die eigentliche Aufgabe der Umweltpolitik — endlich auf allen Ebenen Bestandteil unseres ökonomischen Handelns werden. Das ist die Herausforderung, vor der moderne, zukunftsgerechte Umweltvorsorgepolitik steht.
Außer in Reden ist bei Ihnen von der Koalition in Ihrer praktischen Politik auf alle Feldern nur Fehlanzeige, meine Damen und Herren. Dies ist die bittere Wahrheit.Das Umsteuern kann nur gelingen, wenn die Kosten der Umweltzerstörung in den Preis der entsprechenden Güter eingehen. Nur dann wird sich umweltschädliches Produzieren und Konsumieren nicht mehr besser rechnen als umweltverträgliches Verhalten. Wir müssen marktwirtschaftliche Instrumente pro Umwelt einsetzen. Sie reden zwar viel von Marktwirtschaft; in der Wirklichkeit Ihrer Politik haben Sie nicht ein einziges wirksames marktwirtschaftliches Instrument pro Umweltschutz durchgesetzt.
Wir Sozialdemokraten wollen daher eine ökologische Steuerreform, die der entscheidende Baustein einer neuen Phase einer wirklich vorsorgenden Umweltpolitik wird.Wer ökologische Kriterien zum festen Bestandteil der wirtschaftlichen Entscheidungen machen will, muß freilich auch in allen politischen Entscheidungen die ökologische Grundorientierung durchsetzen. Ein Umweltminister, Herr Töpfer, der sich auf seine begrenzten Ressortzuständigkeiten zurückzieht, kann keine ökologische Erneuerung der Volkswirtschaft einleiten.
Umweltpolitik, verehrter Herr Töpfer, die die geschilderten Unzulänglichkeiten, die Sie in Ihren Reden immer wieder beschwören, überwinden will, darf nicht einseitig auf Konsens und Harmonie fixiert sein. Umweltpolitik und ein Umweltminister, der die ökologische Erneuerung erreichen will, muß sich einmischen: Er muß sich einmischen in die Steuerpolitik. Er muß sich einmischen in die Agrarpolitik. Er muß sich einmischen in die Verkehrspolitik. Er muß sich einmischen in die Wirtschaftspolitik. Er darf sich nicht, wie Sie es tun, auf seine begrenzten Ressortzuständigkeiten als Umweltminister zurückziehen, anschließend durch die Lande ziehen, den desolaten Zustand der Natur beklagen und in der Wirklichkeit seiner Politik nichts Effektives zu einer Umsteuerung einleiten.
Das ist der Widerspruch Ihrer Politik: Reden und Handeln, Schein und Sein fallen bei Ihnen auseinander.
Wer die Umweltpolitik national und international voranbringen will, muß konfliktbereit und konfliktfähig sein. Ein Umweltminister, Herr Töpfer, der „jedermanns Liebling" sein will, hat sich das falsche Amt ausgesucht. In diesem Amt sind nicht symbolische Gesten und mißglückte Schauauftritte verlangt, sondern entschiedenes Eintreten pro Umwelt.
Von einem Umweltminister, Herr Töpfer, der sein Amt im Interesse der Umwelt wahrnimmt, muß man z. B. erwarten, daß er sich mit dem Finanzminister anlegt, wenn es darum geht, notwendige Mittel für die Beschleunigung dringend erforderlicher Investitionen im Gewässerschutz zu mobilisieren.Von einem Umweltminister, der sich pro Umwelt einsetzt, muß man verlangen, daß er Widerspruch ein' legt, wenn die steuerliche Förderung der Umweltschutzinvestitionen und der rationellen Energieverwendung ersatzlos wegfällt.Von einem Umweltminister, der sich pro Umwelt in seiner Politik verhalten will, muß man verlangen, daß er endlich etwas tut, um die ökologisch und ökonomisch widersinnige Intensivlandwirtschaft in ihre Schranken zu verweisen, auch wenn er dabei mit dem Landwirtschaftsminister in Widerspruch gerät.Von einem Umweltminister, der sich pro Umwelt in der Wirklichkeit seiner Politik einsetzt, muß man verlangen, daß er widerspricht, wenn aus den Reihen der Bundesregierung der blühende Unsinn verbreitet
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7535
Schäfer
wird, zur Abwehr der Klimakatastrophe sei ein massiver Ausbau der Kernenergie notwendig.
Von einem Umweltminister, der öffentlich davon redet, man müsse eine Zukunft ohne Kernenergie im Interesse der nach uns kommenden Generationen erfinden, muß man verlangen, daß er sich, wenn er glaubwürdig sein will, gegen ökonomisch unsinnige und ökologisch verhängnisvolle Projekte wie den Schnellen Brüter in Kalkar und die Wiederaufarbeitung in Wackersdorf ausspricht, statt diese Dinosaurierprojekte gegen alle vernünftigen Einwände einfach durchzuboxen.Meine Damen und Herren, wirklich bedeutende Vorhaben auf dem Gebiet des Umweltschutzes müssen gegen den Widerstand anderer Interessen durchgesetzt werden. Aber wem sage ich das? Meine Kollegen von der Umweltpolitik in der CDU/CSU-Fraktion, in der FDP-Fraktion und bei den GRÜNEN sehen das ähnlich. Dies gilt national, dies gilt EG-weit, dies gilt international.Das gilt für ein wirksames Umwelthaftungsrecht, wo Sie, Herr Töpfer, schon die Federführung verloren haben. Dies gilt für eine durchgreifende Reform des Chemikaliengesetzes. Dies gilt für die Verankerung des Umweltschutzes als Staatsziel im Grundgesetz ohne einschränkende Klausel, ohne Wenn und Aber, anders als sie in dem Engelhard-Entwurf enthalten ist.Eine solche Umweltpolitik erfordert den ganzen Mann. Herr Töpfer, wenn Sie diese Aufgaben wirklich ernst nehmen, ist Ihr voller Einsatz gefordert. Sie wollen aber, wie man in den Zeitungen lesen kann, demnächst eine zusätzliche Aufgabe übernehmen, die sicher ebenfalls Ihre ganze Kraft in Anspruch nehmen wird.
Sie wollen Spitzenkandidat im Saarland werden. Schreckt Sie eigentlich nicht das Beispiel von Norbert Blüm? Norbert Blüm hat sich doch offenkundig übernommen. Wenn Sie das Umweltministerium künftig nur mit einer Hand führen, werden Sie weiter an Einfluß verlieren. Die Umweltpolitik wird Schaden nehmen. Aber die hinlänglich bekannte Personalnot der CDU läßt wohl keine andere Lösung zu, als den Bundesumweltminister in das ebenso zeit- und kraftraubende wie erfolglose Abenteuer einer Spitzenkandidatur im Saarland zu stürzen.Meine Damen und Herren, der Umweltpolitik schadet es jedenfalls, wenn das Amt des Bundesumweltministers als Warte- und Profilierungsposten für Kandidaten bei Landtagswahlen mißbraucht wird. Die Umweltpolitik in der Bundesrepublik braucht Beharrungsvermögen und Kontinuität. Anders kann man einer Aufgabe, die von den Bundesbürgern neben dem Abbau der Massenarbeitslosigkeit und neben der Friedenssicherung zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben gezählt wird, nämlich Umweltvorsorgepolitik zu betreiben, nicht gerecht werden.Der Haushalt, den Sie heute vorlegen, zeigt, daß Sie, Herr Töpfer, Ihrem eigenen Anspruch in der Wirklichkeit Ihrer Politik, auch was die Wirklichkeit dieses Haushalts angeht, nicht gerecht werden können. Wir können einem solchen Umwelt-Alibi-Haushalt deswegen nicht zustimmen.
Als letztem Redner erteile ich nunmehr dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit das Wort.
— Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie auch noch in der letzten Viertelstunde die notwendige Geduld aufbringen würden, in Ruhe zuzuhören.
Herr Minister, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich am Ende der Beratung meines Haushalts zunächst meinen sehr herzlichen Dank aussprechen: Danken möchte ich den Berichterstattern aller Fraktionen für viele konstruktive Gespräche. Ich möchte dem Haushaltsausschuß dafür danken, daß wir sehr viel Unterstützung bei der Diskussion der so außerordentlich wichtigen Fragestellungen, die ich eingebracht haben, erfahren haben. Dem Umweltausschuß möchte ich dafür danken, daß wir auch die Fragen der Haushaltswirksamkeit der Umweltpolitik sehr ausführlich erörtern konnten. Ich glaube, die Diskussionen reichen weit über die aktuelle Fragestellung dieses Haushalts hinaus.
Meine Damen und Herren, ich möchte dafür danken, daß bei der Beratung dieses Haushalts im Haushaltsausschuß wichtige zusätzliche Impulse gegeben worden sind. Ich möchte jedoch in ganz besonderer Weise dafür danken, daß der Personalhaushalt meines Ministeriums deutlich ausgeweitet werden konnte. Ein Personalhaushalt, der im gesamten Geschäftsbereich über 20 % mehr Stellen hat, ist eine gute Voraussetzung dafür, daß wir eine dem Verursacherprinzip entsprechende Umweltpolitik betreiben können.
Ich glaube, genauso herzlich ist dafür zu danken, daß wir im Zusammenhang mit der Arbeit für Naturschutzgebiete mit gesamtstaatlicher Repräsentanz zusätzliche 10 Millionen DM bekommen konnten. Alles dies sind Hinweise darauf, daß wir auch von diesem Hohen Hause bei der besseren Ausstattung unserer Umweltpolitik unterstützt worden sind.Meine Damen und Herren, natürlich ist eine solche Gelegenheit auch gut dafür zu nutzen, deutlich zu machen, was getan worden ist. Ich will das nur sehr knapp mit den Hinweis darauf tun, daß wir etwa im Chemikalienbereich nun mit der Vorlage der Eckpunkte der Chemikaliengesetznovelle den Gesamtbereich der Bestimmungen über die Altstoffkonzeption, über die Novelle des Chemikaliengesetzes, über die Störfallverordnung und über die entsprechende
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7536 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Bundesminister Dr. TöpferAusgestaltung der Emissionen in Wasser und Luft abgeschlossen haben.In dieser Situation möchte ich darauf aufmerksam machen, daß wir in der Luftreinhaltung bei den Kleinfeuerungsanlagen und durch die Verminderung von SO2 im leichten Heizöl weitergekommen sind und daß wir auch im Gewässerschutz wesentlich vorangekommen sind, gerade auch mit Blick auf Nord- und Ostsee.Dies war eigentlich der Schwerpunkt, vorgesehen für meine Haushaltsrede. Aber eine Haushaltsrede muß nach einer solchen Diskussion abgeändert werden. Sie muß nicht wegen Ihrer Rede geändert werden, Herr Abgeordneter Waltemathe. Sie haben eigentlich das gesagt, was Sie im letzten Jahr auch gesagt haben.
Ich muß Ihnen sagen: Sie haben diesmal vergessen, darauf aufmerksam zu machen, daß mein Ministerium zwei Parlamentarische Staatssekretäre hat. Das haben Sie in der Tat diesmal vergessen.
Ansonsten ist das allerdings insgesamt so geblieben.Ich möchte vor allem auf die Dinge eingehen, die in den Reden der Oppositionssprecher selbst als Begriff nicht vorgekommen sind:Erstens. Ich habe genau zugehört — vielleicht habe ich es allerdings überhört —, aber den Begriff „Verursacherprinzip" habe ich nicht gehört.
Das ist doch außerordentlich bemerkenswert, denn eine Umweltpolitik, die nicht an die allererste Stelle die Frage nach der Durchsetzung des Verursacherprinzips stellt und dann fragt, was im Haushalt ist, wird dem Anspruch auf den Umbau einer Volkswirtschaft unter ökologischen Gesichtspunkten mit Sicherheit nicht gerecht werden können.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielleicht darf ich das ganz kurz zu Ende führen. Ich komme dann sofort auf die Frage zurück.
Das Verursacherprinzip ist also offenbar eine nicht mehr nachvollziehbare Größenordnung.
Ich komme zum zweiten Wort, das in der Rede des Abgeordneten Schäfer genannt wurde. Er hat von „Marktwirtschaft" gesprochen. Bei den ganzen Beispielen, die er gebracht hat, habe ich mich gefragt: Wie sollen die sich eigentlich in Haushaltsmitteln in meinem Haushalt niederschlagen, wie soll sich ein
Verbot in einem Haushalt niederschlagen, wie sollen sich marktwirtschaftliche Instrumente im Haushalt niederschlagen? Sie bestehen ja gerade darin, daß wir für die Unternehmen den eigenen Anreiz schaffen, eine entsprechende Umweltpolitik zu betreiben.
— Ich komme sofort darauf zurück.
Was ich z. B. in der ganzen Diskussion über marktwirtschaftliche Instrumente und über die Maßnahmen zur Sanierung von Nordsee und Ostsee überhaupt nicht gehört habe, meine Damen und Herren, war der Begriff „Abwasserabgabengesetz" . Den habe ich in der ganzen Diskussion nicht gehört!
— Ich wußte, daß ich Ihnen die Freude noch einmal machen konnte!
Herr Abgeordneter Schäfer, vielleicht haben Sie das Abwasserabgabengesetz nicht erwähnt, um sich mit Ihrem Hinweis auf das Saarland nicht selbst im Wege zu stehen. Fragen Sie doch bitte mal bei dem Kollegen Leinen im Saarland nach, wie er dort das Abwasserabgabengesetz durchsetzt, und dann kommen Sie wieder und fragen mal nach, was wir mit einer Novelle des Abwasserabgabengesetzes tun! Dies ist der Punkt.
Jetzt selbstverständlich bitte gern die Zwischenfrage.
Herr Waltemathe zu einer Zwischenfrage. Ich bitte um Aufmerksamkeit.
Herr Bundesminister, da Sie nach eigenen Worten zugehört haben: Ist Ihnen entgangen, daß ich in diesem Jahr beispielsweise auf das Robbensterben und die Algenblüte, was meines Wissens 1987 alles noch nicht sichtbar war, sowie auf Ihren Zehn-Punkte-Katalog vom Jahre 1988 abgestellt habe? Sind Sie bereit, meine Rede von 1987 mit der von heute zu vergleichen, um dann festzustellen, daß ich heute nicht die gleiche Rede gehalten habe?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich bin selbstverständlich gern bereit, das zu vergleichen. Ich habe genau das zu wiederholen, was ich gesagt habe: daß bei veränderten Beispielen ansonsten dieselben Beiträge geliefert worden sind wie im letzten Jahr.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7537
Bundesminister Dr. TöpferIch kann mich darauf nur beziehen und bleibe gern dabei.
Gestatten Sie denn auch noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer ?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Er würde es mir nicht nachsehen, wenn ich es nicht täte.
Herr Umweltminister, Sie haben moniert, Sie hätten nirgendwo in den Reden der Opposition das Verursacherprinzip wahrnehmen können. Jetzt frage ich Sie: Welches Prinzip kommt denn in der Umweltpolitik zum Tragen, wenn umweltschädliches Produzieren und umweltschädliche Produkte durch den Preis verteuert und umweltfreundliche Produkte durch den entsprechenden Preis billiger werden? Welches Prinzip, wenn nicht das Verursacherprinzip, kommt denn hier zum Tragen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Schäfer, ich bin Ihnen ja herzlich dankbar, daß Sie das Beispiel noch einmal aufgreifen. Ich frage einmal bei Ihnen zurück, wo denn diese von Ihnen geforderte Politik irgendwo eine Mark in meinen Haushalt brächte. Diese Frage habe ich Ihnen gestellt.
Wenn ich Sie ernst nehme und die Politik betreibe, die Sie gefordert haben, ist genau der Nachweis, wie groß der Haushalt des Bundesumweltministers ist, nicht ein Qualitätsnachweis dafür, ob wir diese Politik erfüllt haben oder nicht. Dies ist exakt mein Punkt!
Deswegen habe ich gern aufgegriffen, daß der Abgeordnete Schäfer das marktwirtschaftliche Prinzip angesprochen hat. In der Tat: Dies habe ich sehr nachhaltig getan.
Meine Damen und Herren, ich bin wirklich der Überzeugung, daß wir die Umweltpolitik entscheidend darauf ausrichten müssen — ich weiß, daß es darüber mit Ihnen überhaupt keine Diskussion gibt, weil Sie derselben Meinung sind — , daß wir mit klaren Vorgaben in Gesetzen diejenigen zwingen, umweltpolitische Maßnahmen zu ergreifen, die diese Umwelt belasten und die damit am besten in der Lage sind, dies abzubauen. Genau darum geht es.
Ich frage bei Ihnen nach, gegen welchen Widerstand wir etwa eine Störfallverordnung verabschiedet haben. Dann frage ich bei Ihnen nach, gegen welchen Widerstand wir etwa Verwaltungsvorschriften nach dem Wasserhaushaltsgesetz zu erlassen haben. Ich frage bei Ihnen nach, nach welchen Überlegungen wir denn etwa eine Altstoffkonzeption durchzusetzen haben. Dies ist nicht angekündigt, das ist gemacht, meine Damen und Herren. Von daher gesehen bin ich
der Meinung, daß wir dieses sehr klar herausstellen sollten.
Sie sagen, Sie hätten dauernd das Verursacherprinzip angesprochen. Meine Damen und Herren, wir haben ein Zehn-Punkte-Programm für die Nordsee vorgelegt. Sie sagen, wir hätten da von 20 Milliarden DM gesprochen und würden nicht sagen, wie sie finanziert werden. Wir haben sehr genau gesagt, wie sie finanziert werden! Wir haben nämlich zum einen gesagt, daß ein wesentlicher Teil dessen auf Grund der Novelle der entsprechenden Verwaltungsvorschriften durch die Industrie zu zahlen ist.
Ich hoffe doch, daß Sie derselben Meinung sind.
Ich habe zum zweiten darauf hingewiesen, meine Damen und Herren, daß wir durch die entsprechenden Maßnahmen auch eine Mitfinanzierung durch unsere Bürger erwarten.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wenn wir auf Grund dieses Zehn-Punkte-Programms einen Kubikmeter Abwasser um 50 bis 80 Pfennig teurer werden lassen müssen, dann sind diese 50 bis 80 Pfennig von unseren Bürgern abzuverlangen, weil sie für viele andere Dinge 50 bis 80 Pfennig ausgeben, die ungleich weniger bedeutsam sind als die bessere Klärung eines Kubikmeter Abwassers.
Das ist das Verursacherprinzip, wie wir es verstehen.
Wir haben also exakt nicht das getan, was uns hier vorgeworfen wird. Wir haben exakt nicht Wechsel ausgestellt, die wir nicht beglichen haben, sondern wir haben sehr genau hinzugefügt, wie wir diese Dinge zu finanzieren in der Lage sind.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen weiteren Punkt aufgreifen, der vorhin eine Rückfrage ausgelöst hat: unsere internationalen Verpflichtungen. Wir haben Umweltpolitik noch nie mit dem Hinweis belegt, wir wollten durch die internationale Handlungsnotwendigkeit ein Alibi für eigenes Nichtstun finden. Noch nie haben wir das getan. Wenn es denn eines Beweises dafür bedürfte — —
Einen Augenblick, Herr Minister. Ich möchte Sie unterbrechen, um Ihnen ein bißchen mehr Ruhe zu verschaffen, damit Ihnen zugehört werden kann.
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7538 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Vizepräsident WestphalMeine Damen und Herren, wir alle wissen um die Schwierigkeit einer letzten Rede.
Deswegen ist Rücksicht, glaube ich, für uns alle ein gutes Gebot.
Ich wäre dankbar, wenn Sie sich die Rede des Ministers, die die letzte Rede des Abends ist, in Ruhe anhören würden. Das gilt auch für die Kollegen, die da hinten unter dem Baldachin stehen.
Bitte, fahren Sie fort, Herr Minister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, ich wollte darauf aufmerksam machen, daß es wohl nicht ganz zufällig ist, daß wir weltweit und vor allen Dingen europaweit und auch bei unseren östlichen Nachbarn in hohem Maße als Gesprächspartner und Vertragspartner für die Umweltpolitik gesucht werden. Wir werden von ihnen gesucht, weil wir durch unsere Entscheidungen Umwelttechnologien vorangetrieben haben,
und wir werden gesucht, weil wir durch eine stabile Wirtschaft in der Lage sind, dort zu helfen, wo Umweltpolitik notwendig ist.
Deswegen ist das, was wir hier getan haben, eben nicht geredet, sondern getan.
Meine Damen und Herren, ich wäre wirklich einmal daran interessiert, daß irgend jemand von der Opposition mit uns in diese internationalen Verhandlungen käme, um wenigstens einmal einen Eindruck davon zu gewinnen, in welch hohem Maße
die Politik dieser Bundesregierung und — so füge ich deutlich hinzu — die Umweltpolitik insgesamt in der Bundesrepublik Deutschland als Maßstab für das, was international zu tun ist, geschätzt werden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wer spät kommt, darf früh fragen.
Herr Minister Töpfer, darf ich das als eine Einladung an meine Fraktionskollegin Garbe verstehen, daß sie Sie bei den nächsten internationalen Verhandlungen begleiten darf?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Schily, die Frau Abgeordnete Garbe ist in hohem Maße
eingebunden gewesen und natürlich auch aus Ihrer Sicht kompetent, sie hat bis hin zu den Beratungen beim Bundesgesundheitsamt exakt alles das mitgemacht, was wir etwa bei der Frage von Schadstoffen in Lebensmitteln zu beraten hatten. Sie war nie ausgeschlossen. Wir sind in der umweltpolitischen Leistung nämlich so überzeugend, daß wir sie selbst in der Entwicklung jedem vorstellen können. Genauso ist es gelaufen.Zurück zu der Aussage! Auch im internationalen Bereich warte ich immer noch auf einen Beleg dafür, daß am Widerstand der Bundesrepublik Deutschland irgendwo eine geforderte Maßnahme gescheitert wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben uns immer und immer wieder als Ankurbler internationaler Umweltpolitik verstanden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in dem Zusammenhang auch deutlich machen, daß es wirklich dringend notwendig wäre, diese Gemeinsamkeit, die wir an anderen Stellen immer wieder beschwören, Herr Abgeordneter Schäfer, dann einmal sichtbar werden zu lassen, wenn wir hier stehen.Man hat vorhin mit einiger Skepsis die Einrichtung eines Bundesamtes für Strahlenschutz betrachtet. Meine Damen und Herren, wenn wir denn eine Gemeinsamkeit haben sollten, sollten wir sie gerade dort haben, wo wir radioaktive Abfallstoffe zu beseitigen haben, denn, Herr Abgeordneter Schäfer, in diese Entwicklung sind wir alle gemeinsam hineingegangen, und wir werden sie gemeinsam zu bewältigen haben. Ich bin jedenfalls der Überzeugung, daß uns dieses Bundesamt für Strahlenschutz in hohem Maße die Chance geben wird, auch diese Aufgabe so zu bewältigen, daß Umwelt und Mensch keine Schäden davontragen werden.
Dies ist wichtig genug, um es an dieser Stelle einmal zu erwähnen.Ich darf zusammenfassen, Herr Präsident, meine Damen und Herren:Erstens. Auch durch die Unterstützung dieses Hohen Hauses und des Haushaltsausschusses ist der Haushalt des Bundesumweltministers dort verstärkt worden, wo es notwendig war. Wir haben im personellen Bereich Zusätze bekommen, die notwendig sind.
Ich darf darauf hinweisen, daß wir in den vergangenen Wochen und Monaten in der Durchsetzung des Verursacherprinzips dort, wo es dringlich war, engagiert und mit gutem Erfolg vorangekommen sind, im Chemikalienbereich, bei der Luftreinhaltung und im
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Bundesminister Dr. TöpferGewässerschutz. Wenn ich „Verursacherprinzip" sage, so meine ich damit, daß wir die Qualität einer Umweltpolitik eben nicht an den Mitteln, die im Haushalt stehen, ablesen und nicht daran ablesen, Herr Kollege Schäfer, daß wir uns irgendwo querlegen, sondern daß wir konstruktiv zu einer Lösung der Probleme beitragen.
Meine Damen und Herren, in diesem Sinne werden wir weiter Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland machen, beispielgebend auch für viele, die außerhalb unserer Republik wissen, daß wir auf diesem Gebiet noch mehr tun müssen.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache und möchte Sie zunächst über die Abstimmung unterrichten, die wir vor uns haben und dazu brauche ich Ihre Aufmerksamkeit. Wenn jeder zugehört hat, ist es nachher einfacher. Wir haben insgesamt vier namentliche Abstimmungen vor uns, dazwischen liegen normale Abstimmungen per Handzeichen. Drei der namentlichen Abstimmungen befassen sich mit dem soeben abgeschlossenen Einzelplan 16. Hierzu gibt es zunächst einen Änderungsantrag der GRÜNEN und einen Änderungsantrag der SPD-Fraktion. Danach müssen wir zur Auszählung unterbrechen, weil erst die Abstimmungen über die Änderungsanträge ausgezählt sein müssen, bevor wir die Schlußabstimmung zum Einzelplan 16, die auch namentlich sein soll, durchführen können. Ich werde aber während der Zeit dieser Unterbrechung den noch nicht abgeschlossenen Einzelplan 27 aufrufen, zu dem es einen Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN gibt, über den namentlich abgestimmt werden soll. Nachher können wir zum Schluß auch noch eine offene Abstimmung über den gesamten Etat durchführen. Ich wäre für Ihre volle Aufmerksamkeit dankbar.Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über die Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN, die ich nach der Reihenfolge der DrucksachenNummern aufrufe.Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3368 ab. Hierzu hat die Fraktion DIE GRÜNEN namentliche Abstimmung verlangt. Ich eröffne die namentliche Abstimmung.Ich bitte alle Schriftführer, sich an den Auszählungen, die gleich anschließend stattfinden, zu beteiligen.Meine Damen und Herren, ist noch ein Abgeordneter im Saal, der seine Stimme nicht abgegeben hat, aber an der Abstimmung teilzunehmen wünscht? — Dann bitte ich, jetzt die Stimme abzugeben.Würden mir die Schriftführer dort hinten ein Signal geben? — Können wir abschließen? — Ich schließe die Abstimmung.* )*) Vorläufiges Ergebnis S. 7540 BIch bitte nochmals um Aufmerksamkeit. Ich wäre dankbar, wenn die Kollegen Platz nehmen, weil jetzt eine Reihe von nicht namentlichen Abstimmungen folgen. Ich wäre für Ihre Folgsamkeit dankbar.Wir setzen die Beratungen fort. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die restlichen Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN.Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3369 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Antrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion abgelehnt.Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3370 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist mit derselben Mehrheit abgelehnt worden.Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3371 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit derselben Mehrheit abgelehnt.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3415. Die Fraktion der SPD verlangt dazu namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Abstimmung.Ich darf auf folgendes aufmerksam machen: Wenn wir diese namentliche Abstimmung abgeschlossen haben, gibt es zu einem anderen Einzelplan eine weitere namentliche Abstimmung. Erst dann kommt es zu einer Unterbrechung.Ist noch ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete im Saal, die an der Abstimmung teilnehmen möchte?— Dann bitte ich jetzt, das Stimmrecht auszuüben. — Kann ich von den Schriftführern ein Zeichen haben?— Ich schließe die Abstimmung.* )
Ich brauche erneut Ihre Aufmerksamkeit. Ich unterbreche die Abstimmungen zum Einzelplan 16.Ich rufe nun den Einzelplan 27 auf, den wir bereits vorhin beraten haben, und komme dort zu den anstehenden Abstimmungen.Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3374. Die Fraktion DIE GRÜNEN beantragt hierzu namentliche Abstimmung.Ich eröffne die Abstimmung.Darf ich fragen, ob alle Kollegen, die an der Abstimmung teilzunehmen wünschen, teilgenommen haben? — Ich habe noch nicht abgeschlossen. Ich bitte aber, sich zu beeilen. — Kann ich jetzt davon ausgehen, daß alle Kollegen ihr Stimmrecht wahrgenommen haben? — Ich schließe die Abstimmung.* * )Ich mache darauf aufmerksam, daß wir jetzt die Sitzung für das Aufzählen der Abstimmungen unterbrechen, bis mir die Abstimmungsergebnisse vorliegen und ich sie bekanntgeben kann. Danach haben wir*) Vorläufiges Ergebnis S. 7540 C * *) Vorläufiges Ergebnis S. 7540 A
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7540 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988
Vizepräsident Westphalnoch zwei Abstimmungen vor uns, eine zu dem jetzt aufgerufenen Einzelplan 27 — diese ist offen — und eine, die abschließende, zum Einzelplan 16, die noch einmal namentlich ist. Dann ist unsere Abstimmungsreihe beendet.Ich darf nun noch einmal fragen: Sind alle Kollegen dabeigewesen und haben von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht, wenn sie dies wollten? —Es wird jetzt ausgezählt.Ich unterbreche die Sitzung.
Meine Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Wir haben die von den Schriftführern ermittelten Ergebnisse vorliegen, und anschließend kommen wir zu weiteren Abstimmungen.Wir waren, wie Sie sich erinnern werden, beim Einzelplan 27. Deswegen nenne ich Ihnen zuerst das Ergebnis der Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3374 zum Einzelplan 27.Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 407 ihre Stimme abgegeben. Es gab keine ungültigen Stimmen. Mit Ja haben 174, mit Nein 233 gestimmt. Es hat keine Enthaltung gegeben.Von den 17 Berliner Abgeordneten, die ihre Stimme abgegeben haben, war ebenfalls keine Stimme ungültig. Mit Ja haben 5 Kollegen, mit Nein 12 gestimmt. Enthaltungen hat es nicht gegeben.* )Damit ist der Antrag mit Mehrheit abgelehnt.Wir kommen nun zur Endabstimmung über den Einzelplan 27. Es handelt sich dabei um eine offene Abstimmung.Wer dem Einzelplan 27 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Einzelplan ist mit den Stimmen der Koalitionsmehrheit angenommen worden.Ich gebe Ihnen jetzt das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Änderungsanträge bekannt. Damit wir in der Reihe bleiben, rufe ich zunächst den Einzelplan 16 wieder auf.Dazu hat es den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3368 gegeben. 409 stimmberechtigte Mitglieder des Hauses haben ihre Stimme abgegeben. Keine Stimme war ungültig. Mit Ja haben 35, mit Nein 374 Abgeordnete gestimmt. Es') Endgültiges Ergebnis und Namensliste 109. Sitzung, Anlage 4hat keine Enthaltung gegeben. Von den 17 Stimmen, die von den Berliner Abgeordneten abgegeben worden sind, war keine ungültig. Mit Ja haben 2, mit Nein 15 gestimmt. Es hat keine Enthaltung gegeben.* ) Der Antrag ist damit abgelehnt.Zu dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3415 ebenfalls zum Einzelplan 16 haben von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses 412 ihre Stimme abgegeben. Es hat keine ungültige Stimme gegeben. Mit Ja haben 174, mit Nein 238 gestimmt. Es hat keine Enthaltung gegeben. 17 Berliner Abgeordnete haben ihre Stimme abgegeben. Davon war keine Stimme ungültig. Mit Ja haben 4, mit Nein 13 gestimmt. Enthaltungen hat es keine gegeben. *) Auch dieser Antrag ist abgelehnt.Wir kommen nun zur Schlußabstimmung über den Einzelplan 16. — Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit — .Hierzu hat die Fraktion DIE GRÜNEN namentliche Abstimmung beantragt. Ich eröffne die Abstimmung. —Ich darf die Kollegen, bevor sie den Raum verlassen, informieren, daß morgen im Laufe des Nachmittags vier namentliche Abstimmungen zwischen 17 und 20 Uhr anstehen. Ich nehme an, die Geschäftsführer werden uns einen Vorschlag für die Behandlung dieses Themas machen.Gibt es noch Abgeordnete, die an der Abstimmung teilzunehmen wünschen? — Gibt es im Vorraum noch Kollegen, die an der Abstimmung teilzunehmen wünschen? — Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich schließe die Abstimmung.Ich kann aber nicht die Sitzung schließen, weil erst das Ergebnis vorliegen muß. Ich wünsche Ihnen trotzdem einen schönen Abend.Meine Damen und Herren, der weise Rat unserer Mitarbeiter sagt mir, daß der Präsident auch morgen früh das Ergebnis bekanntgeben kann, wie über den Einzelplan 16 abgestimmt worden ist. Damit sind wir am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 23. November 1988, 9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.