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ID1110801900

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    Plenarprotokoll 11/108 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 108. Sitzung Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Grunenberg 7415A Tagesordnungspunkt I: Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1989 (Haushaltsgesetz 1989) (Drucksachen 11/2700, 11/2966, 11/3119) Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes — Drucksachen 11/3204, 11/3231 — Dr. Vogel SPD 7415B, 7453 C Dr. Dregger CDU/CSU 7426 B Kleinert (Marburg) GRÜNE 7432 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 7438 C Dr. Kohl, Bundeskanzler . . . . 7443A, 7454B Jungmann SPD 7454 C Dr. Geißler CDU/CSU 7457 A Frau Wieczorek-Zeul SPD 7461 C Austermann CDU/CSU 7465 B Wüppesahl fraktionslos 7467 A Namentliche Abstimmung 7469 D Ergebnis 7471D Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes — Drucksachen 11/3205, 11/3231 — Waltemathe SPD 7470 A Dr. Rose CDU/CSU 7473 C Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 7475 D Hoppe FDP 7477 D Wischnewski SPD 7479 C Dr. Stercken CDU/CSU 7481 C Verheugen SPD 7484 B Genscher, Bundesminister AA 7486 A Einzelplan 07 Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz — Drucksachen 11/3207, 11/3231 — in Verbindung mit Einzelplan 19 Bundesverfassungsgericht — Drucksachen 11/3217, 11/3231 — Dr. de With SPD 7490 D von Schmude CDU/CSU 7493 B Häfner GRÜNE 7494 D Kleinert (Hannover) FDP 7496 C Diller SPD 7498 A Engelhard, Bundesminister BMJ 7499 B Einzelplan 23 Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit — Drucksachen 11/3219, 11/3231 — Esters SPD 7501 B Borchert CDU/CSU 7503 D II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 Frau Eid GRÜNE 7506 A Frau Folz-Steinacker FDP 7507 B Klein, Bundesminister BMZ 7508 D Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen — Drucksachen 11/3221, 11/3231 — Büchler (Hof) SPD 7511B Dr. Neuling CDU/CSU 7513 D Dr. Knabe GRÜNE 7516A Hoppe FDP 7517 B Hiller (Lübeck) SPD 7518 C Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMB . . 7519D Namentliche Abstimmung 7539 D Ergebnis 7540 A Einzelplan 16 Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit — Drucksachen 11/3216, 11/3231 — Waltemathe SPD 7523 A Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 7525 C Frau Garbe GRÜNE 7529 B Dr. Weng (Gerlingen) FDP 7531A Schäfer (Offenburg) SPD 7532 D Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . 7535C Namentliche Abstimmungen . . 7539B, 7539C Ergebnisse 7540B, C, D Nächste Sitzung 7540 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 7541* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1988 7415 108. Sitzung Bonn, den 22. November 1988 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    *) Endgültiges Ergebnis und Namensliste 109. Sitzung, Anlage 2 **) Endgültiges Ergebnis und Namensliste 109. Sitzung, Anlage 3 Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bahr 22. 11. Dr. Bangemann 25. 11. von Bülow 23. 11. Dr. Dollinger 25. 11. Duve 24. 11. Dr. Ehrenberg 22. 11. Dr. Emmerlich 22. 11. Frau Fischer 24. 11. Francke (Hamburg) 24. 11. Dr. Haack 24. 11. Dr. Hauff 25. 11. Dr. Hornhues 22. 11. Graf Huyn 24. 11. Dr. Jenninger 25. 11. Frau Kelly 25. 11. Dr. Klejdzinski 24. 11. Dr. Köhler 24. 11. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Lenzer 24. 11. Lutz 22. 11. Meyer 25. 11. Dr. Müller 25. 11. Frau Pack 25. 11. Pfuhl 24. 11. Dr. Pick 22. 11. Rappe 22. 11. Regenspurger 24. 11. Rühe 22. 11. Dr. Scheer 24. 11. Schmidt (München) 25. 11. Schröer (Mülheim) 22. 11. Spranger 24. 11. Todenhöfer 22. 11. Vosen 23. 11. Dr. von Wartenberg 24. 11. Weirich 22. 11. Weiß (München) 22. 11. Würtz 24. 11. Dr. Zimmermann 23. 11.
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    Rede von Dr. Alfred Dregger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, zu Beginn der Debatte hatte ich die Hoffnung, daß wir eine harte, akzentuierte, aber faire Auseinandersetzung würden führen können. Als Sie dann zum Schluß Ihrer Rede auf Bundesländer eingingen, dabei Namen von Personen nannten, die hier nicht anwesend sind, die sich hier nicht äußern können — —

    (Zurufe von der SPD: Warum eigentlich nicht?)

    — Weil der Deutsche Bundestag nicht dazu da ist, die Probleme von Niedersachsen oder von RheinlandPfalz zu lösen.

    (Lachen und Zurufe bei der SPD)

    Dafür sind die Parlamente von Bremen, von Hamburg,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Von NordrheinWestfalen!)

    von Niedersachsen, von Nordrhein-Westfalen zuständig. Wenn Sie schon die Absicht haben, so etwas hier zur Sprache zu bringen, dann gehört es zumindest zur Fairneß, das vorher mitzuteilen,

    (Lachen bei der SPD)

    damit sich Betroffene darauf vorbereiten können.

    (Walther [SPD]: Wie naiv sind Sie eigentlich? — Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Die vorbereitete Spontaneität!)

    Insgesamt war die Rede des Oppositionsführers eine Mischung von Dichtung und Wahrheit. Obwohl ich eine poetische Ader an ihm nie habe entdecken können, überwog ohne Zweifel die Dichtung. Aber die Rede enthielt auch einige Sätze, die richtig sind.

    (Jahn [Marburg] [SPD]: Gott, wie gütig!)

    In der Tag, der Erdölpreisverfall ist unserer wirtschaftlichen Entwicklung entgegengekommen. Richtig!

    (Walther [SPD]: Das hat er gemerkt, Donnerwetter!)

    Auf der anderen Seite ist dadurch der Subventionsbedarf der deutschen Steinkohle gewachsen. Da wir darüber gerade verhandelt haben und verhandeln müssen, wäre es sehr angemessen gewesen, Herr Vogel — wenn Sie diesen Aspekt schon anschneiden — , die Konsequenzen für Kohlesubventionen nicht zu verschweigen. Das gilt um so mehr, als wir den Eindruck haben, daß die Revierländer im Augenblick nicht bereit sind, sich an der Lösung dieses großen Problems in angemessener Weise zu beteiligen,

    (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Dummes Zeug!)

    das ja gerade für die Energiewirtschaft der NichtRevierländer tiefgreifende Folgen hat.

    (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Sie wollen NRW kaputtmachen!)

    Herr Vogel, es gibt andere Herausforderungen als damals: den Dollarverfall und die Schuldenkrise der Dritten Welt. Daß sie gemeistert werden konnten, ist uns nicht in den Schoß gefallen. Dazu haben die Notenbanken und die Regierungen der großen Industrienationen beigetragen. Unsere Steuerentlastungspolitik z. B. hatte auch den Sinn, einen Beitrag zu leisten, nämlich zu verhindern, daß diese Entwicklungen in Protektionismus und anderen Gefahren enden würden. Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg und der Präsident der Bundesbank, Herr Pöhl, haben dazu ganz wesentliche Beiträge geleistet.
    Schlimm fand ich, Herr Vogel, daß Sie den Eindruck erwecken wollten, als ob wir soziale Gerechtigkeit als Neid diffamieren wollten.

    (Zuruf von der SPD: Das macht doch der Vorsitzende Ihrer Partei!)




    Dr. Dregger
    Soziale Gerechtigkeit gehört zu unseren Grundwerten.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen und Zurufe von der SPD)

    Ich bin der Meinung, daß wir soziale Gerechtigkeit seit Ludwig Erhard in einer Weise verwirklichen, wie es Ihnen noch nicht gelungen ist, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)

    In den Jahren 1987 und 1988 sind die Reallöhne der Arbeitnehmer um mehr als 8 % gestiegen, und dieser Anstieg hält in dieser Zeit an.

    (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Die Schlangen vor den Sozialämtern sind viel länger geworden!)

    Während Ihrer Zeit sind die Reallöhne gesunken. Ich finde, daß Geldwertstabilität die größte soziale Errungenschaft ist. Wir haben sie geschaffen und wiederhergestellt und nicht Sie.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)

    Meine Damen und Herren, wir haben auch nie den Beitrag der Gewerkschaften zu einer vernünftigen Politik herabgesetzt.

    (Zuruf von der SPD: Das ist neu! — Weitere Zurufe von der SPD)

    Diese Gewerkschaften, Herr Vogel, haben langfristige Tarifverträge geschlossen. Warum konnten sie es tun? Sie konnten es tun, weil sie Vertrauen in unsere Politik der Geldwertstabilität haben konnten. Sonst wäre das ja wohl nicht möglich gewesen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wer hat Ihnen denn den Blödsinn aufgeschrieben? — Weiterer Zuruf von der SPD: Reden Sie keinen Stuß!)

    Was die Würdigung der mittelständischen Wirtschaft angeht, brauchen Sie uns wohl keine Belehrungen zu erteilen.

    (Walther [SPD]: Was, was?)

    Meine Damen und Herren, wichtiger als Subventionen im Einzelfall ist sicherlich der Tarifverlauf, den wir durch die große Steuerreform eingeführt haben: den durchgehenden Tarif vom Eingangssteuersatz bis zum Spitzensteuersatz. Das war die beste mittelstandspolitische Maßnahme, die überhaupt möglich sein konnte.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Walther [SPD]: Das ist aber dünner Beifall!)

    Herr Vogel, Sie haben sehr viele Details vorgetragen und kritisiert. Die Alternativen und die Zukunftsvorstellungen der SPD sind dabei allerdings nicht erkennbar geworden.

    (Carstens [Emstek] [CDU/CSU]: So ist es!)

    Ich glaube nicht, daß das ein rhetorischer Mangel war, sondern denke, daß Sie solche Zukunftsvorstellungen und Alternativen nicht besitzen.

    (Walther [SPD]: Welche haben Sie denn?)

    Das ist sehr bedauerlich, weil wir ja in der Tat vor großen Herausforderungen stehen. Ich will nur einige nennen.
    Das Ungleichgewicht der Generationen, die zu geringe Zahl an Neugeborenen, der damit drohende Verlust an Jugend, an Innovationskraft, an Zukunft —

    (Frau Unruh [GRÜNE]: Alles verursacht durch Ihre Sozialpolitik!)

    Die Gefährdung der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen im nationalen, vor allem im europäischen, ja im gesamteuropäischen Rahmen und in weltweiten Zusammenhängen.
    Schließlich die Vollendung des europäischen Binnenmarkts bis 1992 — eine geradezu revolutionäre Veränderung für Wirtschaft, Gesellschaft, für Unternehmen und Gewerkschaften, für die europäische Staatenwelt und für die beiden anderen großen Wirtschaftsräume in Nordamerika und Südostasien.
    All das verlangt von uns Reformbereitschaft, Wandlungsfähigkeit, Kreativität, eine große nationale und zum Teil auch internationale Kraftanstrengung.
    Zuwarten, Verharren im reinen Verbalismus, das können wir uns nicht leisten. Wer jetzt schläft, verschläft seine Zukunft. Wir müssen handeln, wir müssen die Weichen stellen. Wir müssen sie jetzt stellen, und das tun wir.
    Seit dem Regierungswechsel im Oktober 1982, in nur sechs Jahren, haben wir allein an inneren Reformen mehr auf den Weg gebracht als Sie, meine Damen und Herren der SPD, in 13 Jahren zuvor.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Die haben überhaupt nichts auf den Weg gebracht!)

    Sie haben von Reformen vor allem geredet, wir machen sie.
    Zehn Erfolgstatsachen möchte ich nennen, ehe ich mich drei großen Aufgaben zuwende, die wir noch in dieser Legislaturperiode meistern müssen.
    Erstens. Frieden und Freiheit sind nach innen und außen gesichert. Im Verteidigungsbündnis der NATO, unserer Wertegemeinschaft westlicher Demokratien, ist die Bundesrepublik Deutschland ein verläßlicher und hochangesehener Partner.
    In Europa erstreben wir über den Binnenmarkt hinaus eine Wirtschafts-, Währungs- und Sicherheitsunion, eine politische Union der freien Staaten Europas, die zunächst zum gleichgewichtigen Gesprächspartner der Weltmächte und später zur friedenserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten werden kann. Unter der deutschen Präsidentschaft sind die Weichen für den Binnenmarkt gestellt worden. Alle unsere europäischen Partner haben die Führungskraft Helmut Kohls, des deutschen Bundeskanzlers, bei der



    Dr. Dregger
    Verwirklichung dieser Aufgabe ausdrücklich anerkannt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Mit der Sowjetunion und den Staaten Ost-Mitteleuropas stehen wir in einem aktiven, friedenssichernden Dialog. Die Reise von Bundeskanzler Kohl nach Moskau hat den deutsch-sowjetischen Beziehungen eine neue Qualität gegeben. Das ist von allen Seiten anerkannt worden, auch von der Opposition in diesem Haus.
    Bei allen Unterschieden, die uns von der Sowjetunion trennen; eines haben unsere Völker gemeinsam: Sie haben den Krieg im eigenen Land erlebt, und sie haben dabei schreckliche Verluste erlitten,

    (Beifall des Abg. Dr. Vogel [SPD])

    die größten Verluste an Gefallenen und Vermißten überhaupt, die Völker in diesen beiden Weltkriegen zugefügt worden sind. Diese Erfahrung hat unsere Völker geprägt und, wie ich glaube, auch ihre politische Führung. Angesichts des Furchtbaren, das hinter uns liegt, und angesichts der Gefahren, die es abzuwehren gilt, sollten Deutsche und Russen und die anderen Völker der Sowjetunion in der Lage sein, gemeinsam Friedenspolitik zu machen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Zweitens. Wir schaffen Frieden mit weniger Waffen. Wir haben den INF-Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion unterstützt, obwohl er nicht alle unsere Wünsche erfüllt. Wir haben ihn unterstützt, weil wir hoffen, daß er nur ein erster Schritt eines Abrüstungsprozesses ist, der auch uns, das geteilte Land an der Militärgrenze, entlastet.
    Uns geht es vor allem um die Abrüstung auch der Kurzstreckensysteme auf vereinbarte niedrige Obergrenzen. Sie können den potentiellen Angreifer nicht abschrecken, weil sie nur das Land des potentiellen Opfers erreichen können. Als Teil eines nicht unterbrochenen Abschreckungsverbundes, der Nordamerika und Europa zu einer strategischen Einheit macht, bleiben sie allerdings vorerst unentbehrlich.
    Vor allem geht es uns um die Beseitigung der militärischen Übermacht der Sowjetunion im Bereich der Panzerarmeen. Diese Übermacht begründet die Invasionsfähigkeit uns gegenüber. Auch darüber haben wir in Moskau gesprochen.
    Wir hoffen, daß beide Bündnissysteme die gewonnene prinzipielle Übereinstimmung über die Notwendigkeit auch asymmetrischer Abrüstung in konkrete Vereinbarungen umsetzen können. Wir werden dazu auch in Zukunft — wie in der Vergangenheit — unseren Beitrag leisten.
    Drittens. In der Deutschlandpolitik haben wir im Hinblick auf den Reiseverkehr große Fortschritte erzielt: Über 5 Millionen Reisen aus der DDR konnten wir im vergangenen Jahr zählen. 1,2 Millionen davon waren Reisende unterhalb des Rentenalters. Diese Entwicklung setzt sich fort. Wir haben die Grenze aus Stein und Stacheldraht durchlässiger gemacht. Die geteilte Nation verliert sich nicht aus den Augen. Wir bleiben im Kontakt.
    Dabei verzichten wir nicht darauf, das Unrecht der Teilung und die Verletzung der Menschenrechte in den anderen Teilen Deutschlands beim Namen zu nennen. Wir verzichten erst recht nicht darauf, für die Einheit Deutschlands einzutreten. Der Bundeskanzler hat das in nicht zu übertreffender Klarheit in seiner Eingangsrede in Moskau getan.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Der Widerspruch von Gorbatschow hat uns weder überrascht noch verunsichert. Denn, meine Damen und Herren, ich bin überzeugt davon: Die Zeit arbeitet für uns, wenn wir standhaft bleiben.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Sie arbeitet für uns, weil sie für die Freiheit arbeitet. Gorbatschow weiß, daß sich die Sowjetunion wandeln muß: zu mehr Freiheit hin, wenn auch nicht zu einer Freiheit in dem Ausmaße, wie wir sie kennen, daß sich die Sowjetunion wandeln muß zu mehr Freiheit hin, wenn sie wirtschaftlich nicht weiter verarmen, wenn sie ihren Menschen Hoffnung geben, wenn sie Weltmacht bleiben will. Wenn sich aber die Sowjetunion zu mehr Freiheit hin wandelt, dann werden auch die Honeckers und Ceauçescus diesen Wandel nicht stoppen können, auch wenn sie jetzt sowjetische Zeitschriften in ihren Ländern verbieten.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Wenn sich aber die kommunistische Welt zu mehr Freiheit hin wandelt, dann wird sie auch uns Deutschen das Freiheitsrecht auf nationale Einheit nicht vorenthalten können.

    (Carstens [Emstek] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

    Deswegen, lieber Kollege Brandt und lieber Kollege Bahr, unterstützen wir nicht Ihre Vorstellungen von zwei Friedensverträgen mit zwei Deutschlands. Es gibt nur ein Deutschland, und es kann nur einen Friedensvertrag für Deutschland als Ganzes geben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir wissen, meine Damen und Herren, daß wir unser Ziel nicht in einem Schritt, sondern nur in einem Prozeß erreichen können, der die Interessen aller Beteiligten, auch die der Sowjetunion, berücksichtigt. Dafür gibt es Lösungen; wir arbeiten daran.
    Viertens: offene Herzen und Solidarität. Herr Vogel hat dieses Thema schon angeschnitten. Über 200 000 Deutsche aus Polen, Rumänien und der Sowjetunion werden 1988 zu uns in die Bundesrepublik Deutschland kommen. In Moskau hat der Bundeskanzler Deutsche empfangen, die in ihrer Heimat bleiben wollen, was wir begrüßen und was wir unterstützen. Er hat auch einige empfangen, die jetzt auf dem Wege zu uns sind. Von beiden waren wir sehr beeindruckt. Meine Damen und Herren, alle Bundesregierungen haben sich dafür seit langem eingesetzt. Wir nehmen die Deutschen, die zu uns kommen, herzlich auf und bieten ihnen bei uns eine beständige Heimat.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Das verlangt von uns offene Herzen und Solidarität.
    Wir werben um diese Solidarität bei unseren Mitbür-



    Dr. Dregger
    gern. Sie haben ähnliches und Größeres bei der Aufnahme von Millionen von deutschen Heimatvertriebenen am Ende des Krieges schon einmal geleistet.
    Meine Damen und Herren, ich muß leider ein Wort zu Herrn Lafontaine sagen, dem stellvertretenden SPD-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten des Saarlandes. Ich fürchte, er wird in dieser Hinsicht als abschreckendes Beispiel in die Geschichte eingehen. Seine Einschätzung der Deutschen, die jetzt zu uns kommen, war herzlos. Sie übersieht die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland für die Deutschen eine ähnliche Funktion hat wie Israel für die Juden. Wie Israel die Heimat aller verfolgten und unterdrückten Juden ist, so ist die Bundesrepublik Deutschland die Heimat aller verfolgten

    (Schily [GRÜNE]: Herr Dregger, was reden Sie denn da! Das ist ja grausam, was Sie da erzählen!)

    und unterdrückten Deutschen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Sattheit und Wohlstand bei uns dürfen uns nicht verführen,

    (Schily [GRÜNE]: Ein Glück, daß Sie nicht Bundestagspräsident geworden sind!)

    rücksichtslos gegenüber den Deutschen zu sein, die unter Not und nationaler Unterdrückung zu leiden hatten. Auf diese Deutschen können wir im übrigen stolz sein. Sie haben durch Jahrhunderte hindurch — bei den Siebenbürger Sachsen waren es über 800 Jahre — ihre deutsche Sprache und Kultur bewahrt. Sie haben Einzigartiges für ihre Heimatgebiete und Gastländer geleistet. Sie waren in all diesen Jahrhunderten eine wertvolle Brücke zwischen diesen und uns.

    (Schily [GRÜNE]: Da können einem die Haare zu Berge stehen!)

    Herr Kollege Vogel, Sie haben die Äußerungen von Herrn Lafontaine korrigiert. Dafür bin ich Ihnen dankbar. Ich bin wie Sie der Meinung, daß Bund, Länder und Gemeinden mit den Bürgern diese Aufgabe zu erfüllen haben. Der Bund hat für den Wohnungsbau 750 Millionen DM zur Verfügung gestellt,

    (Zurufe von der SPD: Zuwenig!)

    mit dem Bemerken, daß wir weitere Mittel zur Verfügung stellen werden, wenn die Lage es erfordert.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Wann? — Jetzt schon!)

    Fünfte Erfolgstatsache: Europa hat wieder an Dynamik gewonnen. Brüssel im Februar, Hannover im Juni 1988 — unter deutscher Präsidentschaft, d. h. unter der Präsidentschaft von Helmut Kohl, ist der Durchbruch gelungen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Die Europäische Gemeinschaft wird 1992 zum größten Binnenmarkt der Erde, mit 320 Millionen Einwohnern, mit neuen Wachstums- und Beschäftigungschancen, mit guten wirtschaftlichen und politischen Perspektiven. Wir müssen sie nutzen. Und das heißt auch hier wieder: Wir müssen handeln.
    Sechstens. Seit sechs Jahren, d. h. seit der Regierungsübernahme von Helmut Kohl, haben wir wieder eine florierende Wirtschaft.

    (Carstens [Emstek] [CDU/CSU]: So ist es!)

    Das reale Wachstum erreichte im ersten Halbjahr 1988 mit fast 4 % ein stolzes Ergebnis. Seit 1982 summiert sich dieses Plus auf rund 12 % real. Und die Preise sind stabil.
    Die solide und erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik kommt allen Bürgern zugute, den Arbeitnehmern ebenso wie den Unternehmern, den Rentnern ebenso wie den Sparern. Allein in den beiden Jahren 1986 und 1987 stieg das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte um real 8,5 %.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    Im ersten Halbjahr dieses Jahres hielt der Anstieg mit real 4 % an.
    Seit 1983 — auf dieses Thema sind Sie eingegangen, Herr Vogel, Sie haben das aber nicht gesagt —, seit dem Tiefpunkt, sind weit über 850 000, fast 900 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden, nicht neue — neue waren es viel mehr — sondern zusätzliche Arbeitsplätze, über die alte Zahl hinaus, davon ein großer Teil in Zukunftsindustrien.
    Die Kurzarbeit ist drastisch zurückgegangen, die Jugendarbeitslosigkeit erheblich gesunken.

    (Zuruf von der SPD: Nicht wahr!)

    Nahezu alle Jugendlichen finden wieder eine Lehrstelle.

    (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Was ist mit denen, die in den letzten Jahren keine gefunden haben?)

    Die Zahl der Erwerbstätigen erreichte im September 1988 mit über 26,4 Millionen einen neuen Höchststand. Aller Voraussicht nach werden wir im nächsten Jahr die Arbeitsplatzverluste ausgeglichen haben, die Anfang der 80er Jahre unter der Regierungsverantwortung der SPD entstanden waren.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das ist dann gewiß ein großer Erfolg, mit dem wir uns aber nicht zufriedengeben. Wir müssen die Zahl der Arbeitsplätze weiter vermehren, da die Nachfrage in den letzten Jahren erheblich gestiegen ist: mehr junge Menschen, mehr Frauen, mehr Ausländer und jetzt die Deutschen, die von ihrem verfassungsmäßigen Recht auf Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch machen. Wir arbeiten daher mit Nachdruck daran, die Zahl der Arbeitsplätze über die von uns zusätzlich geschaffenen fast 900 000 hinaus zu vermehren. Das geht nicht wie in einer Planwirtschaft mit staatlichen Maßnahmen. Und auch Planwirtschaften haben dabei ja keine Erfolge, sondern allenfalls Scheinerfolge.

    (Jungmann [SPD]: Was soll das?)

    Mehr Arbeitsplätze, das heißt mehr internationale Wettbewerbsfähigkeit. Das aber heißt mehr Qualifizierung, mehr Ausbildung in Berufen, die nachgefragt werden, mehr Forschung und Entwicklung,

    (Zuruf von der SPD: Richtig!)




    Dr. Dregger
    engere Zusammenarbeit von Universitäten und Wirtschaft, wie es z. B. in der neuen Universität in Ulm in vorbildlicher Weise geschieht.

    (Jungmann [SPD]: Da waren Sie gerade?)

    Ausbildung, Qualifizierung, Forschung und Entwicklung, das sind die guten Karten, die wir haben und die wir einsetzen müssen.
    Siebter Punkt: Solidarität mit unseren Bauern. Unsere Bauern haben unter der Überproduktion zu leiden, die alle fortschrittlichen Agrarnationen heimsucht. Die Bauern sind für uns nicht nur Agrarproduzenten, sondern auch Landschaftspfleger und mittelständischer Kern der ländlichen Räume.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb lassen wir sie nicht im Stich.

    Nicht von allen EG-Ländern unterstützt, teilweise im Gegenteil behindert, kämpfen wir für auskömmliche Preise durch Produktionsbegrenzung, durch Anpassung der Produktion an den Bedarf. Flächenstilllegung, Produktionsaufgaberente, Extensivierung der Produktion, d. h. weniger Dünger, Quotenregelung bei der Milchproduktion, all das sind deutsche Ideen und Erfolge in der EG. Das Strukturgesetz in dessen Mitte die flächenmäßige Verteilung von über 1,1 Milliarden DM und die Einführung der Förderobergrenze gegenüber Agrarfabriken stehen, ist ein weiterer Schritt.
    Der Agraretat liegt heute 60 % über dem Stand vor der Regierungsübernahme. Er hat sich damit völlig anders entwickelt als die anderen Haushalte, deren Ausweitung zum Zwecke der Konsolidierung stark begrenzt wurde.
    Achtens. Familien haben bei uns wieder Zukunft. Mit einer Reihe von Maßnahmen — beispielsweise Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub, steuerlicher Familienlastenausgleich und Baukindergeld — wird die wirtschaftliche Situation der Familien spürbar erleichtert. Nach dem jetzigen Stand betragen die familienpolitischen Entlastungen, für die sich vor allem die CDU und die CSU eingesetzt haben, im Zeitraum 1985 bis 1990 rund 16,6 Milliarden DM jährlich. Leistungen für Kinder sind die wichtigste und die beste Zukunftsinvestition.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wichtiger als alle materiellen Dinge, kostbarer als alles andere sind die Menschen.

    (Frau Unruh [GRÜNE]: Hört sich auch gut an! — Weiterer Zuruf von den GRÜNEN: Wirtschaftsinteressen!)

    Neuntens: für gesunde Umwelt. Während die SPD über Umweltschutz über ein Jahrzehnt vor allem redete, haben CDU und CSU zusammen mit der FDP im Interesse unserer natürlichen Lebensgrundlagen gehandelt: Einführung des Katalysatorautos,

    (Zuruf von der SPD: Siehe Wald!)

    strenge Gesetze für die Luftreinhaltung, für Boden- und Gewässerschutz, Reaktorsicherheit — und nun als große Aufgabe: Schutz der Ozonschicht.
    Einige Ergebnisse unserer erfolgreichen Umweltpolitik: jährlich 2 000 Tonnen weniger Bleiemissionen, Verminderung des Schwefeldioxidausstoßes bis 1995 auf ein Drittel des Standes von 1982, 15 000 Tonnen weniger Phosphor in Wasch- und Reinigungsmitteln in den beiden letzten Jahren.
    Viel bleibt zu tun, insbesondere an der europäischen Front. Wir sind die Vorreiter des Umweltschutzes in Europa.

    (Kolbow [SPD]: Die Herrenreiter seit ihr!)

    Im Rahmen der EG werden wir weiterhin nichts unterlassen, was möglich ist, um unsere Partner für weitere Umweltinitiativen zu gewinnen, wenn möglich, auch unsere osteuropäischen Partner; denn der Wind weht, wohin er will.
    Was uns der Umweltschutz bedeutet, zeigt aber auch seine ressortmäßige Verselbständigung. Wie die CSU den ersten Landesminister für Umwelt — es war der heutige bayerische Ministerpräsident Max Streibl — stellte, so hat die Union auch den ersten Bundesminister für Umweltschutz gestellt; es ist der heutige hessische Ministerpräsident Walter Wallmann.
    Zehntens. Die Bundesrepublik Deutschland nimmt heute wieder einen Spitzenplatz unter den großen Industrienationen der Welt ein. Wir sind zur Zeit die Exportnation Nummer eins mit einer breiten Angebotspalette von Maschinen und Anlagen, Autos und Elektronik, Technik und Konsumgütern. Unsere außenwirtschaftliche Leistungsbilanz ist positiv. Für Forschung und Entwicklung werden 1988 rund 60 Milliarden DM von Staat und Wirtschaft ausgegeben, ein Rekordergebnis für unsere Zukunftssicherung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Unruh [GRÜNE]: Ein Rekordergebnis von Sozialhilfeempfängern!)

    Die wirtschaftlichen und finanziellen Rahmendaten für diese Erfolge unserer Bundesrepublik Deutschland haben wir gesetzt, und zwar insbesondere durch die große Steuerreform, die wir in drei Stufen 1986, 1988 und 1990 verwirklichen. Die Steuerreform ist ein großes, kühnes und sozial ausgewogenes Werk.

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Wir entlasten vor allem die kleinen und mittleren Steuerzahler um netto über 40 Milliarden DM jährlich. Dabei sind die geringfügigen Verbrauchsteuererhöhungen abgezogen, die wir, wie angekündigt, beschlossen haben.
    Die Opposition hat diese Steuerentlastung, die vor allem den kleinen und mittleren Steuerzahlern zugute kommt, erbittert bekämpft.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Mit Recht!)

    Inzwischen hat sie ihre eigenen Pläne zurückgenommen.
    Alle Voraussagen der Opposition haben sich als falsch erwiesen, auch im Hinblick auf die Finanzen der Gemeinden, die ja angeblich vor dem Ruin standen. Die Steuereinnahmen der Gemeinden sind trotz der Steuerentlastung nicht zurückgegangen. Sie haben sich in diesem Jahr weiter erhöht, im ersten Halbjahr 1988 um 8,9 %, bei der Gewerbesteuer sogar um mehr als 11 %. Das Haushaltsdefizit der Gemeinden



    Dr. Dregger
    wird in diesem Jahre etwa 2 Milliarden DM betragen. 1981 lag es ohne Steuerentlastung der Bürger bei 10 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, Sie haben sich auf allen Feldern so geirrt, daß Sie wirklich nachdenklicher werden sollten.
    Drei große Aufgaben stehen in den nächsten Monaten vor uns: Am Freitag wollen wir die Gesundheitsstrukturreform verabschieden. Es geht um die Sicherung unseres freien Gesundheitswesens. Seit 1960 sind die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung von 9 Milliarden DM auf 125 Milliarden DM gestiegen; sie haben sich vervierzehnfacht. Die Belastungen mußten von den Beitragszahlern und der Wirtschaft je zur Hälfte getragen werden. Der Durchschnittsbeitrag zur Krankenkasse ist von 1970 bis heute von 74 DM auf 360 DM pro Monat gestiegen. Diese Kostenexplosion zu Lasten der Beitragszahler und der Wirtschaft muß gebremst werden, wenn wir unser freiheitliches und leistungsfähiges Gesundheitswesen erhalten wollen. Das wollen wir. Deshalb haben wir den Mut und die Kraft zur Reform.
    Unser Strukturgesetz verfolgt vier zentrale Ziele:
    Erstes Ziel: Die Leistungen der Solidargemeinschaft „Krankenversicherung" sollen überall dort, wo es geht, durch Festbeträge auf das medizinisch Notwendige konzentriert werden. Das medizinisch Notwendige soll zu 100 % erstattet werden. Wer anderes oder mehr will, muß das selbst finanzieren.
    Zweites Ziel: Durch den Abbau der vorhandenen Überversorgung wird der Spielraum für neue Aufgaben gewonnen. Es soll mehr für die Vorsorge und die Bekämpfung der großen Volkskrankheiten getan werden. Insbesondere soll denen geholfen werden, die zu Hause aufopferungsvolle Pflegearbeit leisten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Hilfe zur Pflege der Angehörigen zu Hause: Das ist wichtiger, sozialer und notwendiger als die Erstattung jeder Ausgabe für Zwecke, die über das medizinisch Notwendige hinausgehen.
    Drittes Ziel: Die Beiträge sollen auf niedrigerem Niveau langfristig stabilisiert werden, damit die Beitragszahler — Versicherte und Unternehmen — nicht überfordert werden, denn steigende Sozialbeiträge und zu hohe Steuern behindern die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
    Viertes Ziel: Solidarität und Eigenverantwortung sollen stärker miteinander verbunden werden. Nach hundert Jahren punktueller gesetzgeberischer Eingriffe in die Krankenversicherung wird das neue Recht der Krankenversicherung jetzt im Fünften Buch des Sozialgesetzbuches zusammengefaßt. Es soll am 1. Januar 1989 in Kraft treten. Meinen herzlichen Glückwunsch allen Kolleginnen und Kollegen, die sich dieser Aufgabe gewidmet haben, insbesondere Norbert Blüm, dem zuständigen Ressortminister.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD und den GRÜNEN)

    Rentenreform für Sicherheit im Alter,

    (Frau Unruh [GRÜNE]: Oh Gott!) das ist eine der großen und schwierigen Reformaufgaben, schwierig vor allem deshalb, weil das Verhältnis zwischen künftigen Beitragszahlern und künftigen Rentnern aufs schwerste gestört ist.


    (Frau Unruh [GRÜNE]: Reformieren Sie es doch!)

    Inzwischen hat der Bundesarbeitsminister den Reformentwurf vorgelegt.

    (Frau Unruh [GRÜNE]: Der nichts taugt!)

    Durch die von uns vorgesehenen Maßnahmen wird das gegenwärtige System ohne gravierende Mehrbelastungen für Beitragszahler und Wirtschaft und ohne unzumutbare Eingriffe für die Rentner bis weit über die Jahrhundertwende hinaus gesichert.

    (Frau Unruh [GRÜNE]: Nehmen Sie die Beamten mit rein!)

    Das von uns reformierte System ist auch in der Lage, sich künftigen Veränderungen und Belastungen anzupassen. Der Staat wird in fairer Weise in die Mitverantwortung genommen. Seine Leistungen an die Rentenversicherung sollen sich nicht mehr allein an dem Anstieg der Bruttoverdienste ausrichten, sondern zusätzlich an der Veränderung des Beitragssatzes.
    Für uns Christliche Demokraten und Christlich-Soziale ist ein Reformschritt der wichtigste: Für nach 1986 geborene Kinder soll ein zweites und drittes Kindererziehungsjahr rentenbegründend und rentensteigernd anerkannt werden.

    (Frau Unruh [GRÜNE]: In 30 bis 40 Jahren!)

    Alle Kindererziehungsjahre sollen künftig aus der Rentenversicherung finanziert werden. Meine Damen und Herren, nicht unsere heutigen Beiträge, sondern die künftigen Beiträge der künftigen Beitragszahler, also der heutigen Kinder, sichern unsere künftigen Renten. Wer Kinder zur Welt bringt und sie erzieht, leistet den entscheidenden Beitrag zur Rentenversicherung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FPD — Frau Unruh [GRÜNE]: Wer bezahlt denn Ihre Pension? — Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das gilt nur für die, die einen Arbeitsplatz finden, Herr Kollege!)

    Deshalb ist es notwendig, die Kinderkosten neben den Beitragskosten als Grundlage der Rentenleistungen anzuerkennen.
    Wir haben das erste Kindererziehungsjahr durchgesetzt, wir setzen jetzt das zweite und dritte durch. Unser Ziel ist es, Frauen, die Mütterarbeit leisten, den Frauen gleichzustellen, die Erwerbsarbeit leisten. Ich danke der FDP, daß sie diese unsere Anliegen aufgenommen hat. Wir suchen den Konsens auch mit der Opposition.

    (Zuruf von der SPD: Wird schwierig!)

    Es wäre schön, wenn wir uns in dieser wichtigen Zukunftsfrage der deutschen Nation in einer gemeinsamen Lösung finden könnten.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr schwierig, Herr Kollege!)




    Dr. Dregger
    Zur Postreform: Wir sind stolz auf die Bundespost. Damit wir es bleiben können, müssen wir sie den Herausforderungen der Zukunft anpassen. Die Bundespost ist das größte öffentliche Unternehmen Europas. Sie erbringt die unterschiedlichsten Leistungen, von der Briefbeförderung bis zur Informations- und Kommunikationstechnik. Wir wollen diese Bundespost in leistungsfähige staatliche Unternehmen mit eigenen Vorständen aufgliedern, damit sie fähig bleibt, kundennah der Entwicklung entsprechend zu handeln. Wir wollen vor allem dafür sorgen, daß die Deutsche Bundespost und die deutsche Wirtschaft insgesamt in der rasanten Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik nicht zurückfallen, sondern sich im internationalen Wettbewerb behaupten.
    Wir haben unsere Reform durch eine Regierungskommission, in der auch die Opposition vertreten war, vorbereiten lassen, in der aller Sachverstand zur Sprache kam. Der Postminister hat seine Vorstellungen mit allen Beteiligten — das sind sehr viele — erörtert und abgestimmt. Das bedeutet nicht, daß wir diese Reform als einzige im allgemeinen Einvernehmen verabschieden können. Aber wir sind zum Handeln verpflichtet, und wir werden handeln, auch in dieser dritten großen Reformaufgabe, die in dieser Legislaturperiode noch vor uns steht.
    Meine Damen und Herren, in meiner Erwiderung auf den Oppositionsführer habe ich zehn Erfolgstatsachen unserer Bilanz und drei der Zukunftsaufgaben, die wir in dieser Legislaturperiode noch lösen werden, vorgetragen.

    (Frau Unruh [GRÜNE]: Das werden wir in der nächsten Legislaturperiode ändern!)

    Wer diese Bilanz unvoreingenommen prüft, wird sie unabhängig davon, wie er die eine oder andere politische Frage beurteilen mag, eindrucksvoll finden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Bundesrepublik Deutschland ist heute das europäische Erfolgsland schlechthin. Unsere Partner in Europa und in der Welt sehen in uns in vielen Bereichen die Nummer eins. Diese Einschätzung kann unsere Mitbürger und auch uns mit Genugtuung erfüllen. Wir wollen das in unseren Kräften Stehende tun und wollen alle, die bereit sind, daran mitzuwirken, beteiligen, damit es so bleibt.
    Im Namen der CDU/CSU-Fraktion bedanke ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen von der FDP für die gute Zusammenarbeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Helmut Kohl, dem Bundeskanzler, und seinen Ministern spreche ich Dank und Anerkennung für die herausragenden Leistungen aus, die sie in den letzten sechs Jahren für das Wohl unseres Volkes erbracht haben.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Abgeordneter Kleinert (Marburg).

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Hubert Kleinert


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Haushaltsdebatten im Bundestag als dem Ort der politischen Generalauseinandersetzung folgen für gewöhnlich einem eingeschliffenen Ritual: Die Regierung, ganz besonders diese Regierung, verkündet mit anmaßender Selbstgerechtigkeit diverse Erfolgsbilanzen. Wie mühsam und hohl das klingen kann, haben wir gerade eben gehört. Die Oppositionsparteien attackieren die Regierung, legen die Finger in die Wunde der Widersprüche und versichern, wenn sie nur das Sagen hätten, dann würde alles besser, und zwar gleich. Dabei erscheint die politische Auseinandersetzung leicht reduziert auf die Frage des bloßen Austauschs von Parteien und Personen. Es tritt in den Hintergrund, was eigentlich ganz vorn stehen muß, nämlich die Frage, was Politik heute zu leisten hat und was Politik real leisten kann.
    In diesem Herbst ist die Versuchung besonders groß, beim Kratzen an der Oberfläche des politischen Personalkarussells stehenzubleiben; denn die ganzen vermeintlichen Erfolgsbilanzen, die wir gerade gehört haben, sollen ja nur vergessen machen, wie sehr es mittlerweile bröckelt und wie sehr es bröselt im Fundament der Regierungsmacht des Herrn Kohl. Was vor gut einem Jahr in Schleswig-Holstein mit jener Zerstörung der politischen Kultur dort seinen Anfang genommen hat, hat sich fortgesetzt durch den Lauf der Roulettekugel in den Spielbanksälen von Niedersachsen bis Rheinland-Pfalz. Die ganzen Bekundungen nach Schleswig-Holstein, nun sollte alles anders werden — was ist denn daraus geworden? Allein das Beispiel Niedersachsen zeigt, wie sehr der Verfall der politischen Kultur mittlerweile weitergegangen ist.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Und die GRÜNEN in Nordrhein-Westfalen?)

    Doch nicht die Skandale und Skandälchen der Bonner Regierungsparteien und ihrer Statthalter in den Ländern sollen im Vordergrund dieses Beitrags stehen; im Vordergrund stehen soll die Auseinandersetzung mit den wesentlichen politischen Themen, um die es heute geht. Keine Seite des Bundestags wird es heute mehr wagen, die grundsätzliche Bedeutung des ökologischen Themas in Zweifel zu ziehen. An Bekundungen ökologischer Nachdenklichkeit in Sonntagsreden und in Seminarvorträgen besteht mittlerweile kein Nachholbedarf mehr. In diesem einen Punkt hat sich seit dem Einzug der GRÜNEN in den Bundestag wahrlich etwas geändert: Es wird ungleich mehr als damals über Ökologie und Umweltpolitik geredet.

    (Frau Garbe [GRÜNE]: Aber nur geredet!)

    Die Probleme sind zum großen Teil inzwischen wohlbekannt. Viele — auch hier — sind in Sachen Umweltrhetorik mittlerweile durchaus geübt.
    Doch eines hat sich kaum geändert, meine Damen und Herren: die politische Praxis. Sie hat sich kaum geändert. Alle spektakulären Fototermine des Umweltministers, alle Hubschrauberflüge und alle Strandinspektionen des Herrn Töpfer an den immer neuen Brennpunkten der ökologischen Krise, all seine versammelte Nachdenklichkeit in umweltpolitischen Sonntagsreden können über eines nicht hinwegtäu-



    Kleinert (Marburg)

    schen: über die dürftige Praxis regierungsamtlicher Umweltpolitik.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

    Gewiß, es gibt da und dort Detailverbesserungen. Das soll gar nicht bestritten werden. Aber die Waldschäden nehmen zu, die Müllberge nehmen noch stärker zu, die Stickoxide nehmen weiter zu, das Trinkwasser ist gefährdet, die Nordsee stirbt, und die Klimakatastrophe wird immer wahrscheinlicher.
    Erst in diesen Tagen haben wir die deprimierende Bilanz der jüngsten Waldschadenserhebung hören müssen. Obwohl die Witterungsbedingungen in diesem Jahr ungewöhnlich günstig waren, sind die Waldschäden schlimmer geworden. Trotz anderslautender Vorhersagen der Regierung hat der Ausstoß von Stickoxiden weiter zugenommen. Hauptverursacher für diesen Anstieg ist der wachsende Lkw-Verkehr. Was tut nun die Bundesregierung dagegen? Die Bundesregierung tut gar nichts.

    (Zuruf von der FDP: Stimmt doch gar nicht! — Zuruf von der CDU/CSU: Starker Satz!)

    — Nichts, nichts tun Sie. — Was hat die Regierung unternommen, als die Nordseekatastrophe durch das Robbensterben tagtäglich in alle Wohnzimmer flimmerte? Was hat sie unternommen? Herr Töpfer hat im Sommer von 20 Milliarden DM gesprochen, die zur Sanierung der Nordsee gebraucht würden, 20 Milliarden DM! In diesem Bundeshaushalt finden sich ganze 7 Millionen DM.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch!)

    Das sind 0,03 %. Mit diesen 7 Millionen DM soll, wie es heißt, zur Reinhaltung der Nordsee ein Demonstrationsvorhaben zur kostengünstigen Ölentsorgung in den bundesdeutschen Seehäfen gefördert werden. Das ist alles, was Sie uns zu bieten haben,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch!)

    alles an Konsequenz aus dem, was wir alle mit der Nordseekatastrophe mitbekommen haben, was die Öffentlichkeit mitbekommen hat, als Herr Töpfer mit Hubschrauberflügen und spektakulären Strandinspektionen großes Ballyhoo veranstaltet hat. Das ist alles, was in diesem Bundeshaushalt als Konsequenz übrigbleibt.
    Was wird getan, um die wachsenden Müllberge zu beseitigen? Ich will Ihnen sagen, was getan wird: Das Problem wird ins Ausland verschoben. Der Müll wird in die Dritte Welt oder in Ostblockländer exportiert. Müllimperialismus könnte man das nennen, was das Konzept dieser Bundesregierung ist. Die Devise lautet: möglichst weg damit, möglichst kein Aufhebens, möglichst weg mit dem Dreck, aber nicht heran an die Quellen, nicht heran an die Hauptverursacher des demnächst drohenden Müllnotstands. Denn dann müßten Sie ja den Konflikt mit der chemischen Industrie und mit anderen mächtigen Freunden dieser Regierung suchen, und so weit reicht die ökologische Nachdenklichkeit des Herrn Töpfer nicht.
    Politisch überlebt diese Regierung längst nicht mehr deshalb, weil ökologische Risiken und ökologische Gefahren in der Gesellschaft noch nicht bekannt genug wären; Sie leben mittlerweile eher vom politischen Gegenteil, Sie leben davon, daß die Menschen am Übermaß der Nachrichten und Berichte über ökologische Probleme fast zu ersticken drohen und daß jeder und jede in diesem Land mittlerweile weiß oder doch sehr genau spürt, daß der großen öffentlichen Konjunktur umweltpolitischer Themen kaum jemals wirkliche politische Konsequenzen folgen, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Die Folge davon ist ein wachsendes Gefühl von Ohnmacht und Überforderung, und Sie wundern sich dann hinterher, daß demnächst niemand mehr von der Bonner Politik wirkliche Lösungen erwartet.
    Es gibt eben nicht nur eine Krise der Umwelt, sondern auch eine Krise der Umweltpolitik. Wirksame Veränderungen sind bis heute in keinem der wesentlichen Bereiche von Umweltpolitik erreicht worden, in der Energiepolitik nicht, in der Luftreinhaltung nicht, nicht im Gewässerschutz und nicht im Trinkwasserschutz, nicht bei der Chemisierung und nicht bei der Vergiftung, nicht beim Müll und beim Landschaftsverbrauch und auch nicht beim Natur- und Artenschutz.
    Der Sozialwissenschaftler Ulrich Beck hat 1986 den Zustand der Umweltpolitik mit dem Begriff „politisches Vakuum" gekennzeichnet. Er schreibt in seinem Buch „Risikogesellschaft" dazu weiter — ich zitiere:
    Die Gefährdungen wachsen, aber sie werden politisch nicht umgemünzt in präventive Risikobewältigungspolitik. Mehr noch, es ist unklar, welche Art von Politik und politischen Institutionen dazu überhaupt in der Lage ist. Zugleich entsteht mit dieser Kluft ein Vakuum an politischer Kompetenz und Institutionalität, ja sogar an Vorstellungen darüber. Die Offenheit der Frage, wie die Gefährdungen politisch zu handhaben sind, steht in krassem Mißverhältnis zu dem wachsenden Handlungs- und Politikbedarf in der Gesellschaft.
    Diese Feststellungen treffen auch zwei Jahre nach Erscheinen dieses Buches haargenau auf die Realität des Jahres 1988 und den Zustand der Umweltpolitik zu. Die Frage, ob irgend jemand in dieser Regierung umweltpolitisch guten Willen hat oder nicht, ist deshalb auch gar nicht so interessant. Vorzuwerfen ist dieser Regierung etwas ganz anderes. Vorzuwerfen ist dieser Regierung in erster Linie, daß in ihrer Politik nicht einmal eine Ahnung davon deutlich wird, welche grundsätzlich neuen Probleme mit der ökologischen Frage heute anstehen und welche grundsätzlich neuen Probleme damit aufgeworfen sind.
    Worum es dabei geht, hat kein anderer als der CDU- Kollege Biedenkopf unlängst vorsichtig, aber in der Grundtendenz erstaunlich zutreffend dargestellt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle aus einem Referat des Kollegen Biedenkopf zitieren, das er vor der Konferenz des Instituts für Ökologie und Unternehmensführung e.V. in Bonn im September gehalten hat. Herr Biedenkopf sagte:



    Kleinert (Marburg)

    Ich halte dafür, daß die Beibehaltung einer Wirtschaftspolitik, die auf quantitatives Wachstum festgelegt ist und sich deshalb für berechtigt hält, quantitatives Wachstum auch mit staatlichen Mitteln zu fördern, mit dem anderen an Bedeutung gewinnenden Ziel unvereinbar ist, die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ökologisch verträglich zu gestalten und den Konsequenzen begrenzter Ressourcen für die Gesellschaft Rechnung zu tragen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

    Ich zitiere weiter — Originalton Biedenkopf — :
    Wir werden deshalb — davon bin ich überzeugt — unser bisheriges Wachstumsziel überprüfen müssen.

    (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, das ist die vorsichtige Wortwahl eines Mitglieds der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der trotz seiner Außenseiterrolle in seiner Partei sicher Rücksichten nehmen muß, die ich hier nicht nehmen muß. Ich erlaube mir deshalb, den gleichen Sachverhalt etwas drastischer auszudrücken. Etwas drastischer ausgedrückt heißt das: Man kann nicht Umweltpolitik machen, ohne an die heiligen Kühe der Wirtschafts- und Finanzpolitik heranzugehen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Man kann nicht über ökologische Wenden philosophieren und gleichzeitig über Wachstumsraten daherschwadronieren, als hätte man von ökologischen Folgekosten noch nie etwas gehört.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Das ist das eigentliche Dilemma der Umweltpolitik dieser Regierung. Eine Umweltpolitik, die vor den wirtschaftlichen Grundstrukturen Halt macht, wird den Wettlauf zwischen den kleinen Fortschritten einerseits und den großen neuen Problemen andererseits niemals gewinnen können. Solange die industriellen Hauptverursacher der Umweltprobleme mit Samthandschuhen angefaßt werden, solange nicht endlich wirksame Instrumente eingesetzt werden, um Investitionen aus umweltgefährdenden in umweltfreundliche Produktionszweige umzulenken, solange die Möglichkeiten nicht genutzt werden, über eine ökologisch ausgestaltete Steuerreform auf die wirtschaftliche Entwicklung Einfluß zu nehmen, so lange wird jede Umweltpolitik den Problemen bloß hinterherlaufen.
    Mit viel Aufwand und noch mehr Peinlichkeiten hat die knappe Mehrheit dieser Koalition vor der Sommerpause eine Steuerreform durchgedrückt, die nichts bewirken wird außer einer weiteren Umverteilung von unten nach oben. Wenn auch nur ein Teil der Energien, die dabei verbraucht worden sind, zur ökologischen Umgestaltung des Steuersystems eingesetzt worden wäre, dann wenigstens hätten die Umwelt und die Mehrheit der Menschen etwas davon gehabt, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

    In Ihrer Politik triumphieren jenseits aller schönen Sonntagsreden immer die alten Prioritäten. Die alten ökonomischen Muster wie Wachstum, Rentabilität und Weltmarktkonkurrenz triumphieren über ökologische Teilwahrheiten. Die fundamentale Einsicht, daß die Dynamik der Industriegesellschaften immer stärker auch eine Dynamik ökologischer Zerstörung ist, hat die Bonner Koalition nicht erreicht.

    (V o r sitz : Vizepräsident Cronenberg)

    Sie glauben noch immer, mit einem eigenen Ministerium, das ein paar Gesetze und ein paar schärfere Grenzwerte durchsetzen kann, sei die Sache erledigt, und ansonsten könne man alles beim alten lassen. Das, meine Damen und Herren, wird schiefgehen!

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Umweltpolitik muß aus dem Getto isolierter Ressortverwaltung ausbrechen, und Umweltpolitik muß endlich zu einer ökologischen Wirtschafts-, Finanz- und Strukturpolitik werden. In dem Dreieck von ökologischer Verträglichkeit, sozialer Gerechtigkeit und Finanzierbarkeit muß eine Wirtschaftspolitik nach neuen Prioritäten so angelegt sein, daß vorrangiges Kriterium die Umweltverträglichkeit ist.
    Die Entwicklung und die Umsetzung einer solchen Ökonomie, die die ökologische Verträglichkeit in den Mittelpunkt rückt, die Entwicklung sanfter Technologien und die dazu nötigen Veränderungen in den Produktionsstrukturen, aber auch bei den Verbrauchern, das sind die großen politischen Aufgaben des ökologischen Umbaus, um die es heute geht.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der Abg. Frau Conrad [SPD])

    Wenn man Ihre Politik an solchen Zielen mißt, dann wird man nicht einmal kümmerlichste Ansätze finden. Im Gegenteil: Bedenkenlos sollen mit der Gentechnologie neue, nicht mehr rückholbare Risiken erzeugt werden. Sie wollen, daß die großindustrielle Verwertung dieser hochgefährlichen Technologie demnächst beginnen kann.
    Wenn man sich das alles ansieht, was auf diesem Gebiet läuft, dann kommt man an der Vorstellung nicht vorbei: Bonner Regierungspolitik hat bis heute aus allen gelehrten Debatten um die Fragwürdigkeit eines überholten wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Fortschrittbegriffs nichts, aber auch gar nichts gelernt.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Während die Diskussion um sinnvolle Instrumente der Technikfolgenabschätzung in Bonn seit Jahren vor sich hindümpelt, ist sie mittlerweile längst von einer Realität überholt, die eine Vielzahl neuer Gefahrenquellen hervorgebracht hat. Es geht dabei wirklich nicht um Pessimismus und dumpfe Zukunftsängste; aber allein die Bedenkenlosigkeit, mit der vor 20 und vor 30 Jahren alle maßgeblichen Kräfte den Weg in die sogenannte friedliche Nutzung der Atomenergie beschritten haben, sollte heute wenigstens nach Tschernobyl Anlaß genug zu größerer Vorsicht sein.
    Aber auch das hat offenbar nicht zu tieferen Einsichten geführt. Man muß das Gefühl haben, Tschernobyl ist in diesem Hause längst wieder vergessen; denn auch heute soll regierungsamtlich all das wieder



    Kleinert (Marburg)

    für vernünftig und für richtig erklärt werden, was Wissenschaftler als Fortschritt anpreisen und was neue profitable Kapitalanlagen verspricht. Dafür ist die Gentechnologie nur ein Beispiel.
    Meine Damen und Herren, sehr kurz sind die Beine regierungsamtlicher Politik auch da, wo es um die Zukunft des Beschäftigungssystems und der Sozialsysteme geht. Ja, es ist noch schlimmer: Die Umverteilungswirkungen Ihrer Politik gerade in diesen Bereichen gehören zu den schrecklichsten Konsequenzen der Politik, über die wir heute reden.
    Sicher, Herr Vogel, einmal mehr ist beschäftigungspolitische Tatenlosigkeit dieser Regierung zu beklagen, wenn es um den Haushaltsentwurf und wenn es um die Frage geht, was denn nun eigentlich den mehr als 2 Millionen Arbeitslosen angeboten werden soll. Diese Tatenlosigkeit ist eine kalkulierte Tatenlosigkeit. Natürlich bleibt es ein sozialpolitischer Skandal, wenn auch in diesem Haushalt keine Initiativen zu ökologisch und sozial sinnvollen Investitionen zu finden sind.
    Aber wer hier mit Recht das Thema Massenarbeitslosigkeit anspricht, darf nicht nur die absichtsvolle Enthaltsamkeit der Bundesregierung in diesen Fragen anprangern. Wir müssen uns mit den Fragen der Arbeitslosigkeit, mit der ganzen Zukunft des Beschäftigungssystems und mit der Problematik der Umgestaltung sozialer Sicherungssysteme noch auf grundsätzlichere Weise beschäftigen, als es vorhin anklang.
    Eines kann als gesichert angesehen werden: Mit der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik der Regierung wird sich am Zustand der Massenarbeitslosigkeit bis zum Jahre 2000 gar nichts ändern. Selbst wenn Sie ein Wachstum von 2,5 % unterstellen, gäbe es im Jahre 2000 ungefähr so viele Arbeitsplätze wie heute, wenn sich sonst nichts ändert. Das bedeutet, daß auch im Jahre 2000 die Zahl der arbeitslosen Menschen mindestens so hoch wäre wie heute. Unter diesen Voraussetzungen will Norbert Blüm das Rentenalter ab 1995 sogar wieder heraufsetzen, was diese Probleme nur verschärfen würde. Wenn das Wachstum niedriger sein sollte, wären die Probleme noch dramatischer, und wenn die Möglichkeiten des Zugangs von Frauen zum Erwerbsleben tatsächlich verbessert werden sollen, dann wird das das Problem aufwerfen, daß weitere Millionen von Erwerbsarbeitsplätzen angeboten werden müssen.
    Für all diese langfristigen Zukunftsprobleme hat diese Regierung nicht nur keine Antworten, all das ist für diese Regierung gar kein Grund zur Besorgnis; das wissen wir aus vielen Zeugnissen. Die konservativen Politikstrategen verstehen solche Zukunftsaussichten überwiegend sogar als Chance, jene sozialstaatlichen Hindernisse zu beseitigen, die der vollen Durchsetzung ihrer Art von Flexibilisierung heute noch entgegenstehen.
    Wenn man aber nach Lösungen sucht, dann kommt man zunächst an einer grundsätzlichen Feststellung nicht vorbei: Die gerechte Verteilung der Arbeit und die Frage der Arbeitszeitverkürzung sind die entscheidenden politischen Hebel in dieser Frage. Wer radikale Arbeitszeitverkürzungen will, muß dabei auch das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit politisch neu bestimmen. Deswegen wollen wir GRÜNE den Arbeitsbegriff ausweiten.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wir wollen, daß Tätigkeiten wie Hausarbeit, wie Kindererziehung, wie Kümmern um Pflegebedürftige in der Gesellschaft als Arbeit anerkannt werden.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Diese Anerkennung ist nötig, und sie ist die Voraussetzung, wenn der Anspruch auf individuelle Entfaltungsmöglichkeiten unterschiedlicher Arbeits- und Lebensbedürfnisse in der Gesellschaft möglich werden soll. Das ist das eine.
    Wer politisch wirksam Massenerwerbslosigkeit bekämpfen will, der muß für radikale Arbeitszeitverkürzungen eintreten. Dazu gibt es keine Alternative. Daß dabei differenzierte Lohnausgleichsmodelle notwendig sind, haben die GRÜNEN in ihrem Sindelfinger Wirtschaftsprogramm schon 1983 vorgeschlagen.

    (Frau Garbe [GRÜNE]: Sehr weitsichtig!)

    Da braucht uns niemand etwas Neues beizubringen.
    Frauen und Männern muß der gleichberechtigte Zugang zur Erwerbsarbeit ermöglicht werden. Deswegen braucht es auch unterschiedliche Formen von Teilzeitarbeit; das ist nicht das Problem. Das Problem ist die Frage der sozialen Absicherung dieser unterschiedlichen Formen von Teilzeitarbeit, und dafür treten wir ein.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Die Politik muß den Frauen den Weg zeigen, auf dem dieser Zugang auch tatsächlich erleichtert werden kann. Man darf nicht nur davon reden. Es muß auch endlich wirksam politisch etwas umgesetzt werden. Die GRÜNEN haben dazu in ihrem Antidiskriminierungsgesetz schon vor zwei Jahren entsprechende Vorschläge unterbreitet.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Das Problem ist auch nicht die Frage der flexibleren Ausgestaltung von Arbeitszeitregelungen. Wir wollen, daß das Recht, flexiblere Arbeitszeiten zu haben, von dem Menschen und seinen Bedürfnissen ausgeht. In diesem Sinne sind wir nicht gegen Flexibilisierung von Arbeitszeitregelungen. Das Problem liegt ganz woanders. Das Problem liegt bei einer Flexibilisierungsstrategie, die sich lediglich für mehr Wochenendarbeit und für verlängerte Maschinenlaufzeiten stark macht. Eine solche Flexibilisierungsstrategie wird nicht mehr Freiheit für den einzelnen hervorbringen, sie wird am Ende eher das Gegenteil von mehr Freiheit für den einzelnen hervorbringen, denn sie wird den einzelnen in größerem Maße als heute den Unternehmenszwecken und den Bedürfnissen der Maschinerie unterordnen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Deshalb sind auch nicht die Überlegungen zur Arbeitszeitverkürzung und manche seiner unbequemen Wahrheiten an die Adresse der Gewerkschaften für mich das Problem, das man mit den jüngsten Überlegungen von Oskar Lafontaine haben muß. Ich kann nichts Schlimmes daran finden, wenn jemand poli-



    Kleinert (Marburg)

    tisch den Anspruch stellt, die soziale Ausgestaltung des Modernisierungsprozesses zu betreiben, so wie Lafontaine den Anspruch stellt. Daran kann nichts Schlimmes sein. Denn, um das Wort eines berühmten Gelehrten dieser Republik aufzugreifen, der gemeinhin zur Linken gerechnet wird: Es kann ja wohl nichts Unanständiges sein, über die Reform des Kapitalismus nachzudenken.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wenn nun freilich unter dieser schönen Überschrift am Ende nur die praktische Umsetzung dessen verstanden wird, was auch ohne den Versuch steuernden Eingriffs in die wirtschaftliche Entwicklung sozial sowieso stattfinden würde, dann muß sich Oskar Lafontaine am Ende schon fragen lassen, worin sich sein Modernisierungskonzept sozialpolitisch — nicht ökologisch — von dem unterscheidet, was wir von Späth und von anderen bereits seit längerem angeboten bekommen, und das muß im Zentrum einer solchen Diskussion stehen.
    Meine Damen und Herren, wer sich mit der Sozialpolitik dieser Regierung beschäftigt, wird um zwei Glanzstückchen des Reformeifers im Kabinett des Dr. Kohl nicht herumkommen, d. h. um die zwei Vorhaben, die in diesen Tagen besondere Bedeutung beanspruchen, nämlich die sogenannte Gesundheitsreform und die künftige Rentenfinanzierung.
    Was in diesen Tagen die Koalitionsmehrheit mit aller Gewalt in Marathonsitzungen zur Neuregelung der Gesundheitspolitik hier über die Bühne bringen will, hat mit Reform wenig, aber verdammt wenig zu tun.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Denn statt den Zusammenhang von Rekordgewinnen in der Pharmaindustrie mit Suchtgefahren in der Gesellschaft aufzugreifen, statt die Fragwürdigkeit bestimmter Entwicklungen der Apparatemedizin zu thematisieren, statt über ärztliche Gebührenordnungen nachzudenken und der Frage des Krankheitsbegriffs in einer verdreckten und vergifteten Umwelt nachzugehen, statt all dies zu tun, was nötig wäre, reduziert sich das, was großspurig unter der Überschrift „Strukturreform des Gesundheitswesens" daherkommt, auf eine Strafaktion für Kranke und auf die schleichende Einführung einer Zweiklassenmedizin.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Auch die bisher bekanntgewordenen Vorschläge zur Rentenreform beweisen, daß hier bestenfalls der Weg der Flickschusterei vorgeschlagen wird. Statt angesichts der veränderten Alterspyramide und der Probleme wachsender Altersarmut den Weg einer grundlegenden Neuordnung anzupeilen, schlagen Sie Flickwerk vor. Mir ist allerdings schleierhaft, wieso die Sozialdemokraten dabei diesen Weg mitgehen wollen.
    Statt in die Richtung einer steuerfinanzierten einheitlichen Grundsicherung zu denken, auf der aufbauend dann eine durch Pflichtbeiträge finanzierte Zusatzrente gezahlt wird, statt in diese Richtung einer grundlegenden Neuordnung zu denken, soll weiter herumlaviert werden mit demnächst fast unbezahlbaren Beitragssätzen und ohne Aussicht, Altersarmut jemals wirksam verhindern zu können. Meine Damen und Herren, Sie werden damit Probleme nicht lösen, sondern nur weiter verlängern.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Was sich in der Umwelt- und Sozialpolitik als Politik der kurzen Beine herausstellt, hat sich in einer wirtschaftspolitischen Kernfrage der letzten Wochen noch viel drastischer als Kapitulationserklärung der Politik vor den Interessen der mächtigen Konzerne herausgestellt. Ich meine damit das Verhalten der Bundesregierung zur geplanten Großfusion von Daimler-Benz und MBB.
    Ausgerechnet im fünfzigsten Jahr seit Hitlers Überfall auf Polen entsteht in der Bundesrepublik wieder eine gigantische Waffenschmiede. Es entsteht ein Rüstungskonzern, der dem vielbemühten freien Wettbewerb schon deshalb entzogen ist, weil nach dem heutigen Stand ca. 60 % der Beschaffungstitel aus dem Rüstungshaushalt an diesen Superkonzern gehen würden.
    Und was macht die Bundesregierung? Die Bundesregierung liefert noch das Geld dazu und die ideologische Rechtfertigung obendrauf. Die ganzen Herrschaften, die sich sonst als Gralshüter der Marktwirtschaft aufspielen, haben sich hier zu bloßen Handlangern der Interessen der großen Konzerne degradieren lassen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Herr Lambsdorff hatte sich dabei noch eine ganz originelle politische Begleitmelodie ausgedacht. Er hat zunächst die Backen ganz gehörig aufgeblasen und sich als oberster Kritiker der geplanten Großfusion aufgespielt, am Ende aber die Rolle eines politischen Knallfrosches übernommen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Nach einer Woche des schlagzeilenträchtigen Ballyhoos war er nämlich mit seinen Bedenken bereits wieder am Ende. Es ist schon grotesk, wenn man diesen Vorgang mit dem ansonsten so verbreiteten Geschwätz vom freien Spiel der Kräfte vergleicht und ihn dazu in Beziehung setzt.
    Als die Frage von Markteinführungshilfen für alternative Energieerzeuger anstand, bekam die Regierung ordnungspolitische Bedenken und warnte vor drohender Wettbewerbsverzerrung.

    (Lachen bei den GRÜNEN)

    Ich zitiere aus einer Vorlage des Finanzministeriums:
    Die Bundesregierung hält zusätzliche Förderungsmaßnahmen für den falschen Weg.
    Also, wenn es um die Förderung neuer umweltfreundlicher Energiearten geht, scheitert diese Förderung an ordnungspolitischen Bedenken. Dann ist von Wettbewerbsverzerrungen die Rede. Wenn aber ein solcher Superkonzern entsteht, dann sind diese Bedenken der Gralshüter der Marktwirtschaft wie weggeblasen. Das ist die politische Realität in der Bundesrepublik heute.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Frau Garbe [GRÜNE]: Wie ein Chamäleon!)




    Kleinert (Marburg)

    Die großen Fragen des ökologischen Umbaus und der sozialen Zukunftsentwürfe bleiben in der Politik dieser Regierung weitgehend ausgespart. Während allüberall über Zukunft und Zukunftssicherung nachgedacht wird, regiert in Bonn eine Politik des politischen Werbefeldzuges. Von der gesellschaftlichen Wirklichkeit längst überholt, wird ein Weiterwursteln in lange ausgetretenen Politikpfaden praktiziert. Gelegentlich fällt dann einmal auf, wie weit die Bonner Realitätsverdrängung schon weg ist von der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Jüngstes Beispiel war im Sommer die peinliche Veranstaltung zum Flugbenzin. Dann wird hektisch nach Beruhigungspillen für eine aufgebrachte Öffentlichkeit gesucht, aber nur, damit es dann hinterher erst recht so weitergehen kann wie zuvor.
    Ulrich Beck, den ich vorhin schon einmal zitiert habe, hat diesen wachsenden Abstand der offiziellen Politik zur Gesellschaft so zugespitzt — ich zitiere — :
    Die gesellschaftlichen Institutionen werden zu Konservatoren einer sozialen Wirklichkeit, die es immer weniger gibt. Frei nach Brecht könnte man sagen: Wir geraten immer mehr in eine Situation, in der die Regierungen sich gezwungen sehen können, das Volk abzuwählen, und die Verbände vielleicht nicht umhinkönnen, ihre Mitglieder zu entlassen.
    Die bestehenden Institutionen sind nicht einmal mehr im Ansatz in der Lage, auf die heutigen Probleme angemessen zu reagieren. Das ist der Hintergrund dafür, daß es in der Gesellschaft einen tief sitzenden Bruch gegenüber den Institutionen und gegenüber der offiziellen Politik heute gibt und daß sich diese Tendenzen verstärken. Das hat nicht nur positive Aspekte, sondern bringt auch die Schwierigkeit mit sich, daß aktiver Veränderungswille heute Probleme hat, einen gesellschaftlichen Ort zu finden, weil man zunehmend weniger glaubt, daß die große Politik überhaupt noch etwas bewegen kann außer ihrer eigenen Bestandserhaltung.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Das ist auch der Grund, weshalb in der Gesellschaft Einstellungen um sich greifen, die sagen: Laßt die Politiker doch machen, was sie wollen, es juckt uns nicht, und es ist am Ende doch belanglos. So denken mittlerweile viele. Ich halte diese Entwicklung nicht nur deshalb für gefährlich, weil sie letztlich auch bei uns Spuren hinterläßt. Sie ist vor allem deshalb gefährlich, weil in Wirklichkeit die Anforderungen an Politik in einer Zeit der ökologischen Risikogesellschaft und der tiefgreifenden sozialen Umbrüche größer sind als jemals zuvor. Deshalb wird es um so folgenreicher sein, wenn die Politik der Gesellschaft hoffnungslos hinterherhechelt und ansonsten nur noch unangenehme Skandalgerüche verbreitet, wie das für die Politik zutrifft, für die diese Regierung steht.

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    Wir brauchen eine grundlegende Neuorientierung der Politik und der politischen Institutionen. Dafür werden andere Mittel als die einer pragmatischen Reformpolitik nicht zur Verfügung stehen. Aber diese
    Mittel müssen endlich gebündelt eingesetzt werden, damit ein neues Gefüge entstehen kann in der Beziehung zwischen Arbeit, freier Zeit und sozialer Absicherung und damit eine neue Ökonomie durch ein neues ökologisches Leitbild als grundlegendes Kriterium entstehen kann.
    Meine Damen und Herren, am ersten Tag dieser Haushaltsdebatte kann nicht ganz über das hinweggegangen werden, was in der letzten Sitzungswoche im Bundestag vorgefallen ist. Herr Jenninger ist zurückgetreten. Die persönliche Seite dieses unglückseligen Auftritts ist damit abgeschlossen. Darum kann es also nicht gehen.
    Gefragt werden muß aber schon danach, was dieser Auftritt im Bundestag und in der Bundesrepublik des Jahres 1988 bedeutet hat und was er bedeuten wird im Blick auf die zahlreichen Veranstaltungen, die für das kommende Jahr geplant sind. Eines kann dabei mit Sicherheit gesagt werden: All diejenigen, die mit Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985 ein Kapitel bundesdeutscher Vergangenheit abgeschlossen und ein neues aufgeschlagen sahen, sind widerlegt. Die Last mit der Vergangenheit ist noch lebendiger, als viele es wahrhaben wollten. Der Bundestag muß sich deshalb mit diesen Themen beschäftigen, bevor im nächsten Jahr die offiziellen Feierlichkeiten anstehen.
    Theo Sommer hat in diesem Zusammenhang in der „Zeit" von der — ich zitiere — „Fühllosigkeit des guten Gewissens" gesprochen. Er sieht diese Fühllosigkeit in Jenningers — und jetzt zitiere ich Sommer —„kaltherzigen Zitaten über hakennasige jüdische Blutschänder" . Er sieht diese Fühllosigkeit ebenso in den Sätzen eines Berliner „ taz " -Autors, der geschrieben hat, die Disco sei bereits abends um acht „gaskammervoll" gewesen.
    Es ist zu einfach, solche Dinge als rhetorische oder sprachliche Entgleisung abzutun.

    (Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Sie entgleisen hier doch auch!)

    Denn das Gemeinsame an beiden Äußerungen ist, daß beide ein erschreckendes Maß an Unbetroffenheit zum Ausdruck bringen, welche letztlich — ob gewollt oder nicht — Verbrechen bagatellisiert.
    Diese Art Umgang mit Sprache in der Bundesrepublik macht schon heute eines deutlich: Wer glaubt, im Frühjahr 1989 anläßlich des 40. Gründungstags der Bundesrepublik ein biedersinniges Freudenfest feiern zu können, wird von der Last der Vergangenheit eingeholt werden.
    Und wenn das Problem eines solchen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik heute angesprochen ist, dann muß auch jenes fürchterliche Wort von der „durchrassten Gesellschaft", wie wir es aus dem Munde von Herrn Stoiber hören mußten, hier aufgegriffen werden.
    Sicher, Herr Stoiber hat dieses schreckliche Wort wieder zurückgenommen. Aber ein maßgeblicher Repräsentant einer Landesregierung und wichtiger Funktionär einer Koalitionspartei kann einen solchen Begriff auch dann nicht einfach ungeschehen machen, wenn er sich korrigiert hat.



    Kleinert (Marburg)

    Wieso kann ein maßgeblicher Politiker in einem Gespräch über Ausländerpolitik ein solches Wort überhaupt gebrauchen? Beweist diese Fähigkeit zu einem solchen Begriff aus dem Wörterbuch des Unmenschen nicht doch, wie sehr mindestens im Unterbewußten auch heute noch etwas mitgeschleppt wird aus unseligen Traditionen? Verweist dies nicht auch auf vielleicht doch ganz tiefsitzende Ängste und schreckliche Ressentiments, die bis heute weiter wuchern und die an ganz unselige Zeiten erinnern?
    Es gibt noch andere Beispiele für die Aktualität der Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit. Was ist eigentlich davon zu halten, wenn in einer Antwort des Bundesinnenministers auf eine Kleine Anfrage der GRÜNEN im Herbst 1988 die Formulierung auftaucht — ich zitiere — : „Faschismus ist ein politischer Kampfbegriff, den vor allem Kommunisten verwenden"?

    (Zuruf von der SPD: Unglaublich!)

    Was ist davon zu halten, wenn es in einem Entwurf für ein neues Ausländerrecht aus dem Hause des Herrn Zimmermann heißt, Ausländer gefährdeten — Zitat — „die Homogenität der Gesellschaft ... die gemeinsame deutsche Geschichte, Tradition, Sprache und Kultur " .

    (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist Rassismus, etwas vornehmer ausgedrückt!)

    Meine Damen und Herren, wenn man nur die Sprache berücksichtigt, die da zum Ausdruck kommt, dann müßte man meinen, im Innenministerium hätte sich eine rechtsradikale Kampftruppe eingenistet.

    (Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

    Fühllosigkeit in der Sprache kann man dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Späth bei seinen Vorschlägen zur Änderung des Asylrechts nicht vorhalten. Bei ihm liegt das Problem in der Sache. Späth propagiert ganz offen die Einschränkung des Asylrechts. Er beweist damit nicht nur seine Gegnerschaft zu einer Politik der offenen Grenzen. Er zeigt auch, wie wenig er von dem besonderen historischen Zusammenhang begriffen hat, in dem gerade in der Bundesrepublik nach der Erfahrung des Faschismus das Asylrecht entstanden ist.
    Dieser Zusammenhang verpflichtet in der Bundesrepublik zu einem Höchstmaß an Liberalität und Toleranz im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen, aus anderen Rassen und mit anderer Hautfarbe.
    Wer wirklich Konsequenzen aus jener Vergangenheit ziehen will, hat deshalb nicht auf rechtes Stammtischgeschwätz zu schielen, sondern er muß die eigentliche Aufgabe in der praktischen Umsetzung jener multikulturellen Gesellschaft sehen, von der neuerdings sogar Heiner Geißler spricht. Das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft muß gegen Angst, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Nationalismus und gegen Ausländerhaß gesetzt und durchgesetzt werden. Das wäre eine der entscheidenden Konsequenzen aus jener Geschichte, die uns neulich hier erneut eingeholt hat.
    Danke schön.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)