Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Wir setzen die Aussprache zum Haushalt 1993 fort:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1993
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Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1992 bis 1996
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind, wie gestern, zehn Stunden für die heutige Aussprache vorgesehen. — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann eröffnet die Rednerreihe heute morgen der Abgeordnete Thierse.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat gestern weniger einen Bericht zur Lage der Nation, schon gar nicht eine schonungslose Zustands- und Aufgabenbeschreibung gegeben, sondern vielmehr einen selbstbewußt-stolzen Rückblick auf die eigene Leistung, eine Beschwörung des Mutes von gestern. Die erstaunliche Gelassenheit des Bundeskanzlers — die mir als individuelle Tugend durchaus erstrebenswert erscheint —, diese joviale, gutgelaunte Gelassenheit kontrastiert allzusehr, so beobachte ich, mit der Wut derer, die die Folgen einer bestimmten Gelassenheit zu ertragen haben.Gestern waren mehrere hundert Betriebsräte aus ostdeutschen Unternehmen in Bonn, urn ihren Protest hierherzutragen. Sie haben eine kleine Statistik mitgebracht — Sie werden sie auch bekommen haben —, die durchaus repräsentativ sein dürfte. In 40 großen Unternehmen, die untersucht worden sind, sind seit Januar 1990 78,7 % der Arbeitsplätze, also vier Fünftel der Arbeitsplätze, vernichtet worden, verlorengegangen.Vorgestern hat das Statistische Bundesamt Vergleichszahlen für Ost und West veröffentlicht. Sie besagen unmißverständlich, daß der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft weitergeht. Zwischen März/April und Mai/Juni allein dieses Jahres ist die Produktion um weitere 5 % zurückgegangen. Die Arbeitslosigkeit steigt weiter; die Arbeitsproduktivität lag Ende 1991 bei 32 % der westdeutschen Arbeitsproduktivität. Das Arbeitnehmereinkommen liegt bei 52,7 % des Niveaus im alten Bundesgebiet — bei einem Preisniveau, das sich dem im westlichen Deutschland annähert.Eine weitere Zahl: Das aktuelle Wirtschaftswachstum beträgt in den alten Bundesländern gegenwärtig 0,6 %, in den östlichen Bundesländern 1,8 %. Das Bundeswirtschaftsministerium war in seiner Projektion der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bis 1996 von einem Wachstum von 2 bis 21/2 % im Westen und 9 % im Osten ausgegangen. Welche Differenz!Eine letzte Zahl: Die privatwirtschaftlichen Investitionen pro Kopf betragen gegenwärtig im Osten 5 900 DM, im Westen 9 700 DM, und damit wollen wir den Aufschwung Ost, die Angleichung der Lebensverhältnisse organisieren!Alle diese Zahlen besagen immer wieder nur eines: Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung ist gescheitert; sie hat verheerende Folgen im Osten Deutschlands angerichtet.
Dies ist der Hintergrund, der Untergrund für das, was in diesem Lande passiert. Nacht für Nacht brennt es in Deutschland. „Keine Gewalt" war unsere Losung im Herbst 1989, und jetzt dieser Ausbruch von Gewalt. Die friedliche Revolution ist zur Fratze der Aggressivität verkommen.Ich weiß, es sind wohl nicht dieselben Menschen, die vor drei Jahren friedlich auf die Straße gegangen sind und diejenigen, die jetzt gewalttätig sind; aber wir Ostdeutschen haben uns insgesamt in diesen drei Jahren verändert, wir sind nicht mehr die gleichen. Was geschieht unter uns? Was ist mit uns geschehen, wenn die Gewalt nicht nur mit schweigender, sondern mit lautstarker Zustimmung begleitet wird?Der Selbstbewußte und der Wohlhabende wird gegenüber Gegensätzen und Konflikten gelassener sein können als einer, dessen Selbstsicherheit durch
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8848 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Wolfgang Thiersesoziale Not, durch Zukunftsängste, durch Depressionen behindert ist. Die Menschlichkeit trägt sich leichter auf zwei Beinen spazieren; schon auf einem Bein macht sie mehr Mühe, und wenn man am Boden liegt, denkt man erst an sich und schlägt wohl auch um sich. Es hilft also nichts. Wir werden den Mitbürgern im Osten — und nicht nur da — auf die Beine helfen müssen, ihre Lebensbedingungen verbessern müssen — als Bedingungen des Wiedererlemens von Toleranz.Aber es ist nun auch nicht so trivial — um mich drastisch auszudrücken —, daß sich die Moral nach dem Fressen wie selbstverständlich einstellt. Außerdem verhungert keiner, auch nicht im Osten. Für die Hemmung — wenigstens die Hemmung, andere Menschen zu verbrennen — muß auch die Moral nicht vom Feinsten sein; es würde ja schon der gewöhnliche menschliche Anstand genügen. Es ist mehr im argen als die Sorge um das tägliche Brot. Das ist wohl das Schlimmste: die Zerstörung, die Außerkraftsetzung elementarster Normen des Humanen, einfachster Regeln des Anstandes.Aber gerade wegen der Irrationalität der Gewalttaten, die durch keine Erklärung rationalisiert oder gerechtfertigt werden können und dürfen, muß die öffentliche Reaktion auf sie rational sein. Toleranz ist nicht Laisser-faire, schon gar nicht gegenüber Gewalt.Deshalb muß gerade in der jetzigen und künftigen Debatte über Regelungen für das Zuwanderungsproblem unmißverständlich klar sein, daß es kein Zurückweichen vor rechtsradikaler Gewalt gibt.
Schon der bloße Eindruck könnte verheerende Wirkung haben. Wir dürfen nicht zulassen, daß die neuen Faschisten meinen, einen faktischen oder symbolischen Sieg feiern zu können; das wäre unerträglich.Eigentlich wäre deshalb ein Moratorium angemessen und nicht hektische Grundgesetzänderei. Der Versuch von CDU/CSU, wieder zu treiben, zu treiben, ist ein durchsichtiges und widerwärtiges parteitaktisches Manöver,
das Sie um gemeinsamer Anstrengungen zur Linderung des Zuwanderungsproblems willen unterlassen sollten. Sonst bestätigen Sie den Verdacht, daß es Ihnen um parteipolitische Vorteile geht.
Deshalb: Ohne taktische Winkelzüge und ohne populistisches Nachgeben gegenüber Volkesmeinung — ich glaube noch immer nicht, daß es die Mehrheit ist —, ohne Anbiederung muß sich der Rechtsstaat schützen und verteidigen. Der Rechtsstaat schützt und verteidigt sich nur dann, wenn und indem er die Schwächsten unter uns schützt und verteidigt.Es ist üblich geworden, vom Versagen der Politik zu sprechen. Wer will dieses Versagen bestreiten, auch wenn die Entlastungsfunktion solcher Schuldzuweisungen nicht zu übersehen ist? Das bestürzende Schwinden von Toleranz und Aufnahmebereitschaft ist, so denke ich, von Politik mit verschuldet — zunächst durch eine unverantwortliche Sprache. Wer von „Asylantenflut" spricht, bestätigt und bestärkt Bedrohungsängste und Abwehrreaktionen. Ich erinnere mich an die vorgestrige Rede des Finanzministers. Sein erster Einsparungsvorschlag war, zur Konsolidierung der Staatsfinanzen solle der Asylantenstrom eingeschränkt werden. Wer so redet, der bestätigt und bestärkt ausländerfeindliche Stimmung. Dies nenne ich feuergefährliches Reden.
Sodann: Wer gebetsmühlenartig wiederholt, eine Grundgesetzänderung sei die Lösung des Problems oder doch die unerläßliche, entscheidende Voraussetzung dafür, betreibt demagogische Verkürzung und erzeugt eine Erwartung, auf die die nächste Enttäuschung und Wut folgen werden. Wir müssen endlich begreifen, daß es eine schnelle und umfassende Lösung des Flüchtlingsproblems nicht geben wird, weil seine Ursache das dramatische Problem der Armut in der Welt ist.Wir Deutschen müssen uns deshalb über unseren Beitrag zur Lösung — nein, realistischer: zur Linderung — dieses eigentlichen Problems verständigen, d. h. darüber, welchen Anteil wir dazu im eigenen Land durch die Aufnahme von Armutsflüchtlingen beitragen wollen und, da das Armutsproblem der Welt nicht wirklich bei uns gelöst werden kann, welchen Beitrag wir zur Bekämpfung der Fluchtursachen vor Ort zu leisten bereit sind: durch mehr und andere Entwicklungshilfe, durch Änderung der Weltwirtschaftsbeziehungen und der Welthandelsbeziehungen. In beiden Teilen werden von uns einschneidende Opfer verlangt, nämlich die Bereitschaft und Fähigkeit, wirklich zu teilen, es sei denn — entsetzliche Alternative —, wir bauten eine neue Mauer um uns, um Westeuropa, um unseren Reichtum gegen die Armen der Welt zu verteidigen.Wenn wir diese eigentliche Dimension des Problems nicht begreifen, wird alles falsch sein, was wir tun werden.
Meine Damen und Herren, wir haben uns darauf einzustellen, daß es in unserem Lande eine noch länger währende Diskrepanz zwischen den verständlich ungeduldigen Wünschen nach gleichem Wohlstand, nach wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit, nach Gleichheit der Lebensverhältnisse im Osten Deutschlands einerseits und den objektiven ökonomischen und sozialen Möglichkeiten, diese Wünsche auch schnell zu erfüllen, andererseits geben wird. Diese Diskrepanz ist der soziale und psychische Konfliktstoff, der sich immer wieder neu entzünden kann. Die Brandstifter haben sich organisiert, sie sind unterwegs.Die deutsche Einigung wird deshalb nur dann auf friedliche Weise vollendet werden können, wenn wir
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8849
Wolfgang Thiersedie Chancen und Risiken der Einheit, ihre Gewinne und Opfer fair verteilen,
wenn die deutsche Einigung von der sichtbaren Anstrengung um soziale und menschliche Gerechtigkeit geprägt ist.Deshalb bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen: Überwinden Sie vertraute politisch-ideologische Gewohnheiten, die angesichts der bedrohlichen Größe und der Neuartigkeit der ostdeutschen Probleme zu Borniertheiten zu werden drohen bzw. schon längst dazu geworden sind.Es war ein schlimmer Fehler, in der dramatischen ökonomischen und sozialen Situation, in der wir uns befinden, die Solidaritätsabgabe auslaufen zu lassen.
Ich verstehe Ihre Angst vor einem Wortbruch, aber müßte nicht Ihre, unsere Angst vor der Erzeugung vermeidbaren menschlichen Leids viel, viel größer sein?
Also, entschließen Sie sich! Vereinbaren wir eine solidarische Ergänzungsabgabe zur sozial gerechten Finanzierung der deutschen Einheit! Reden wir über die Überwindung einer bornierten Eigentumsideologie, die die wirtschaftliche Entwicklung hemmende und menschenverachtende Wirkungen im Osten Deutschlands hat,
die durch noch so differenzierte, immer verwickeltere Verfahrensbeschleunigungsregelungen kaum abgemildert werden können. Diese Eigentumsideologie hat Folgen bis zur Absurdität.Ich erzähle Ihnen eine Geschichte aus Erfurt: Auf dem Platz, wo das schöne Erfurter Rathaus steht, sind einen Menge Häuser saniert worden. Dazwischen steht eines, das dem Verfall preisgegeben ist. Ursache: ungeklärte Eigentumsverhältnisse. Eine „Erbengemeinschaft" von 43 Erben, lebend in 18 Ländern, streitet um das Haus. Sie können sich vorstellen, dieses Haus hat keine Chance zu überleben.
— Nein, eben nicht. Die Beschleunigungsverfahren sind so umständlich, daß schnelle Entscheidungen nicht möglich sind.Reden wir z. B. über eine vernünftige Industriepolitik, die im Osten durch den Erhalt und die Sanierung strukturbestimmender Unternehmen Leuchttürme einer künftigen wirtschaftlichen Entwicklung entstehen läßt. Reden wir z. B. über eine solche Fördermaßnahme, wie degressive Lohnzuschüsse. Der Kollege Nitsch, Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender, hat sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht, lese ich. Daß dieser Vorschlag von der Opposition kommt, macht ihn doch nicht unvernünftig; ich bitte Sie!
Reden wir z. B. über Staatsbeteiligung an Industrieholdings im Osten Deutschlands. Reden wir überhaupt über notwendige steuernde Eingriffe des Staates, weil der Markt allein bisher weniger Aufbau als Ruin erzeugt hat — eine Einsicht, die auch der Kollege Geißler in Ihrer Fraktionssitzung formuliert hat, wie ich höre.
— Die Ergebnisse des Fehlens von Wirtschaftspolitik können Sie im Osten Deutschlands besichtigen. Das ist Ruin. Deswegen muß die Politik endlich wieder ihrer Verantwortung nachkommen.
Verschließen Sie sich — und auch wir uns — nicht besseren Einsichten, nur weil sie vom politischen Konkurrenten kommen. Die Deutschen leben zwar vielleicht nicht mehr über ihre Verhältnisse, aber die politischen Akteure bleiben sonst unter ihren Möglichkeiten und vor allem weit unter den Notwendigkeiten der geschichtlichen Aufgabe.
Als nächster spricht der Abgeordnete Professor Dr. Krause.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Thierse, wir kennen uns seit der Volkskammer, und wir haben damals gemeinsam auf der ostdeutschen Seite in Sachen Einigungsvertrag gekämpft. Wir haben mit unserer gemeinsamen Stimme in der Volkskammer in einer historischen Nacht erreicht, daß die deutsche Einheit stattfand. Damals hat Herr Gysi mit Tränen in den Augen formuliert: Wissen Sie überhaupt, was Sie beschlossen haben? Den Untergang der DDR! — Das haben Sie mit beschlossen, Herr Thierse. Ich bin dankbar, daß die SPD diesen Untergang mit beschlossen hat. Nun wollen wir doch nicht nach zwei Jahren so diskutieren, als ob die Wege der Industriepolitik der ehemaligen DDR im Ergebnis zu einem vernünftigen und auf Dauer sicheren Wirtschaftssystem hätten führen können.
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8850 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Dr. Günther Krause
— Ich werde gleich zu diesem Papier etwas sagen. Es ist aber nicht mein eigenes Papier, sondern das Papier der Abgeordneten aus Ostdeutschland.
Herr Krause, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Thierse?
Aber natürlich, wenn sie mir nicht von der Redezeit abgerechnet wird.
Nein.
Herr Krause, Sie haben behauptet, daß die DDR Industriepolitik betrieben hätte. Können Sie mir ein Beispiel für marktwirtschaftliche Industriepolitik nennen, die in der DDR stattgefunden hätte? Ich frage nur danach, damit klar ist, daß das, was wir Industriepolitik nennen, überhaupt nichts mit real-sozialistischer Planwirtschaft zu tun hat.
Herr Thierse, ich kann Ihnen in vielen Punkten Ihrer Diagnose zustimmen, die Sie eben hier vorgenommen haben. Sie haben aber keinen einzigen Therapiepunkt formuliert. Das will ich jetzt übernehmen. Es ist gut, daß wir über die Therapiepunkte jetzt aus der Regierungsverantwortung sprechen können.
Auf jeden Fall — aber das haben Sie ja, verehrte Kollegin Matthäus-Maier, gestern wieder in einer brillianten Form hier im Parlament vorgeführt — gehört dazu die Methode „Teile und herrsche! ". Dies ist eines der größten Probleme in der inneren Befindlichkeit, im Verständnis unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, eine Neidkampagne, als gehe es bei der deutschen Einheit nur um Finanzen. Es geht jetzt darum, daß ein Weltreich, der real existierende Sozialismus in Europa, zusammenbricht. Wir haben die Aufgabe, dieses Weltreich durch die deutsche Einheit geordnet so aufzufangen, daß aus dem System der ehemaligen DDR ein sicheres System in Deutschland entsteht. Das können wir nicht durch Formulierungen, wie Sie sie vorgeschlagen haben: Man streiche einfach im Bundesverkehrswegeplan alle Straßen in Westdeutschland — so haben Sie es gestern formuliert —
— aber natürlich —, und dann können wir die Finanzierung für die Aufgaben in Ostdeutschland realisieren. — Ich bezweifle, ob Sie mit dieser Politik in Ihrem Wahlkreis auftreten. Das bezweifle ich, wenn Sie wiedergewählt werden wollen.
Herr Professor Krause, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Matthäus-Maier?
Aber natürlich, das belebt ja die Debatte.
Herr Krause, wollen Sie zur Kenntnis nehmen — das ganze Haus hat es vorgestern gehört —, daß ich selbstverständlich nicht einen solchen Unsinn gesagt habe, daß man alle Neubauten oder Ausbauten im Westen streichen solle? Ich habe folgendes gesagt: Ich kann nicht verstehen, daß insbesondere von einem Minister aus Ostdeutschland ein Bundesverkehrswegeplan vorgelegt wird, der Ausgaben von etwa 100 Milliarden DM über zehn Jahre vorsieht, wovon etwa zwei Drittel in den Westen und nur ein Drittel in den Osten fließen sollen. Man kann doch bei den zwei Dritteln ein bißchen heruntergehen, um die Mittel für den Osten zu erhöhen. Ich kenne z. B. in meinem Wahlkreis ein Projekt, das allein 180 Millionen DM kostet, nämlich den Ennerttunnel, den da keiner will, den das Land Nordrhein-Westfalen nicht will und den Sie als ostdeutscher Minister hier durchpowern, obwohl Ihnen die 180 Millionen drüben für die Reichsbahn und für die Straßen fehlen.
Darauf will ich Ihnen ganz einfach antworten: Hätte es nicht die Schrumpfbahnpolitik der Bundesregierung der 70er Jahre gegeben, würde ich jetzt nicht —
— hören Sie bitte genau zu — vor der Aufgabe stehen, in Westdeutschland 30 %, bezogen auf das bestehende Eisenbahnnetz, neu zu bauen, da wir die über 30 Jahre verfehlte Verkehrspolitik in Westdeutschland jetzt reparieren müssen. Ein zweiter Punkt. Natürlich sind in den vergangenen Verkehrswegeplänen die West-Ost-Verbindungen in Westdeutschland nicht geplant, geschweige denn realisiert worden. Wir stehen nicht nur vor der Aufgabe, die Verkehrsinfrastruktur in den jungen Bundesländern aufzubauen, sondern wir müssen vor allem durch Neubau die West-Ost-Verbindungen in Westdeutschland — durch die westdeutschen Bundesländer — realisieren.
Ich würde akzeptieren, wenn Sie konkrete Einsparvorschläge, so wie Sie das gemacht haben, bringen. Allerdings habe ich es heute vermieden, hier die Liste an zusätzlichen Forderungen vorzutragen, die vor allem die SPD-regierten Bundesländer in Westdeutschland stellen. Es ist ein Umfang von 6 Milliarden DM.
— Das ist nicht unzutreffend. Das kann ich Ihnen nachweisen; ich werde es Ihnen zuschicken.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sprechen darüber, wie wir mit den Erblasten und natürlich auch mit Fehlern umgehen, die wir gemacht haben. Wer wird sich als Übermensch hinstellen und meinen, sein Lebensweg sei nicht von Fehlern geprägt? Ich will es heute vermeiden, aus Reden zu zitieren, wie die deutsche Einheit im Vorfeld betrachtet worden ist.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8851
Dr. Günther Krause
Wir sollten uns doch nicht anmaßen, es so darzustellen, daß es in der Politik Übermenschen gäbe, die in einer historischen Situation keinerlei Fehler hätten machen können.
Die Aussprüche zur Geraer Forderung von Erich Honecker 1985 und Ihre Stellung dazu kenne ich noch sehr genau. Deshalb sollten wir sagen, daß man sich manchmal selbst irrt. Das sollte kein Problem sein, wenn man den Irrtum dann beherzt beseitigt.
Nun will ich Ihnen sagen, in welchen Punkten wir uns geirrt haben.Erstens. Wir haben anonym über Investoren gesprochen, aber nicht über die Menschen, die investieren. Wenn Sie darauf hinweisen, daß ein Investor aus Westdeutschland an der Bürokratie scheitert, dann kann ich es nicht verstehen, warum gerade Sie das Recht zur beschleunigten Planung von Verkehrswegen zu verhindern versucht haben und warum gerade Sie gegen Investitionsmaßnahmengesetze sind.
Ich sage Ihnen: Wir brauchen nicht nur Investitionsmaßnahmengesetze für den Verkehrswegebau, sondern vor allem im Umweltbereich, damit wir private Investitionen endlich abfließen lassen können und damit der in der Öffentlichkeit teilweise geäußerte Unsinn, daß private Investitionen nicht bereitständen, und die Verunsicherung aufhören. Die Bürokratie des Westens ist im Osten völlig falsch. Ich bitte, daß Sie mich unterstützen, neue Wege im Planungsrecht zu gehen.
Nun zu dem zweiten Punkt, bei dem wir etwas falsch gemacht haben.
— Das ist eine angenehme Frage. Ich denke, ich darf sie im Sinne einer Zwischenfrage beantworten.Das Volk muß schon wissen, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert. Ich denke, diese Regierung regiert mit zwei Kammern. Das akzeptieren Sie. Glücklicherweise hat es bei der Abstimmung über das Recht zur beschleunigten Planung ein fortschrittliches SPD-geführtes Bundesland gegeben, das im Bundesrat seine Jastimme gegeben hat. Das war Rheinland-Pfalz. Es ist schon verwunderlich, daß sich Herr Stolpe, der genau diese Investitionsprobleme kennt, bei der Abstimmung im Bundesrat nur der Stimme enthalten konnte, weil er ideologischem Druck standhalten mußte.
Ich denke, das müssen wir doch einmal aussprechen können. Wir sollten diese Schwächen unserer Auseinandersetzung über die Bewältigung der Aufgabe — wahrscheinlich der größten Aufgabe in der Nachkriegsgeschichte in Deutschland —, diese parteitaktischen Problemchen, die in den letzten zwei Jahren leider zu sehr in den Vordergrund getreten sind, endlich vernachlässigen und kreativ und im Wettstreit um die besseren Modelle ringen. Das ist mein Wille.
Wir haben in Ostdeutschland den entscheidenden Fehler gemacht, daß wir die Kapitalschwäche des ostdeutschen Menschen, der sich selbst als Investor betätigen will, nicht ausreichend ausgeglichen haben. Das ist der entscheidende Fehler.
— Wenn das Ganze nur mit einem Stichwort zu lösen wäre, dann wäre ich Ihnen für Ihr Konzept wirklich dankbar.
Ich nehme an, Sie werden aus unserem Erfurter Papier einiges übernehmen können.
— Herr Roth, aber nicht nur das Zauberwort „Industriepolitik". Das ist wirklich nicht annehmbar.Wir müssen uns darauf einstellen, daß wir in der Debatte über diesen Haushalt darüber nachdenken: Welche Rahmenbedingungen müssen wir für ost-oder westdeutsche Investoren schaffen, die in Ostdeutschland tätig werden wollen, damit das in Deutschland ausreichend vorhandene Kapital endlich wirklich fließen kann? Ein entscheidender Punkt bei dem wichtigen Motto „Wohlstand im Osten entwikkeln, Wohlstand im Westen sichern" ist der Solidarpakt. Ich spreche hier als Abgeordneter. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß der Solidarpakt bei der Lufthansa doch nichts anderes ist als ein Wohlstandssicherungsprogramm Deutschland , um die Standortprobleme lösbar werden zu lassen.
Wir brauchen in gesellschaftlicher Breite eine Diskussion über dieses Problem und vor allen Dingen die Lösung dieses Problems.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir über Eigentum sprechen, müssen wir auch darüber sprechen, wie wir in der Treuhandanstalt neue Wege gehen. Das ist für mich selbstverständlich. Die Wege der Treuhandanstalt sind in den letzten zwei Jahren permanent verbessert worden. Natürlich gibt es auch viel Kritik. Es gibt aber auch gute Ergebnisse, beispielsweise die Ansiedlung von VW in Zwickau. Deshalb wehre ich mich einfach dagegen, daß vor allem Frau Breuel, die wahrscheinlich eine der schwierigsten Aufgaben zu bewältigen hat, permanent nur kritisiert wird. Es gibt viel Kritik. Wir müssen aber auch sagen, daß es viel Positives gibt.Aus meiner Sicht ist die entscheidende Fragestellung diese: Wie kann — das funktioniert noch nicht ausreichend — ein Ostdeutscher, der, wie bekannt, kapitalschwach ist, zu Eigentum kommen, ohne daß er
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8852 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Dr. Günther Krause
sich jetzt das Kapital für diese Eigentumsbildung auf dem Kapitalmarkt während einer Hochzinsphase holen muß? Wir müssen andere Wege finden, als die Einnahmen und Ausgaben im Haushalt über die Treuhandanstalt fiskalisch anzurechnen und den Mittelstand von West nach Ost zu exportieren. Letzteres geht nur im Ausnahmefall. Wir müssen vielmehr den Weg einschlagen, der es ermöglicht, daß Mittelstand vor Ort durch die Menschen aufgebaut werden kann.
Das bedeutet — das haben wir in unser Erfurter Programm hineingeschrieben, ich bin mir, was meine Fraktion und auch die F.D.P. angeht, sicher, daß wir in der Haushaltsdiskussion diesen Punkt kreativ ausfüllen werden —, daß ein Unternehmen, welches in ostdeutscher Hand geführt werden kann, bei den heutigen Zinsen, wenn man den Kaufpreis für den Schrott des Sozialismus entrichten muß, von vornherein natürlich überhaupt nicht wettbewerbsfähig ist. Deshalb müssen Investitionen, für die Kredite am Kapitalmarkt geholt werden, sofort produktivitätssteigernd wirken, aber nicht der Kauf. Das ist unser Modell für den ostdeutschen Investor.Nun etwas zu Punkt eins: Entindustrialisierung. Ich muß hier nicht aus der Schule plaudern. Ich habe für Ihren damaligen SPD-Minister den Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ausgehandelt. Herr Romberg hat in seiner Verantwortung diesen Vertrag unterschrieben. Als er ihn unterschrieben hat, waren wir uns in Deutschland und in Deutschland (West) einig — das wird aus dem Vertrag nicht plakativ deutlich, aber in den Verhandlungen mehrfach angesprochen worden —, daß wir von einem Außenhandelsumsatz der neuen Bundesländer in Richtung Sowjetunion von rund 50 Milliarden DM ausgehen. Auch Herr Thierse wird das noch wissen.Wer hat denn vorausgesehen, daß ein so stabil geredetes System wie die ehemalige Sowjetunion mit ihren Satellitenstaaten wirtschaftlich in einer solchen katastrophalen Form zusammenbricht? Allerdings muß ich auch sagen, daß wir den Fehler gemacht haben, daß wir zu lange auf Instrumentarien gebaut haben, die dieser veränderten Situation nicht mehr entsprechen — sprich: Hermes.
Hier müssen wir uns neue und alternative Wege einfallen lassen, weil zwar Märkte da sind, aber die Finanzierung dieser Märkte nicht gesichert ist. Dieser wichtige Punkt sollte in unserer Auseinandersetzung eine entscheidende Rolle spielen.
Herr Professor Krause, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Roth?
Aber natürlich.
Ich will die Zwischenfrage stellen, damit nicht erneut die Legende entsteht, alle hätten sich in dieser Frage geirrt. Sind Sie bereit, verehrter Herr Minister, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir mehrfach — schon im letzten Winter — gesagt haben: Wenn man die Konvertibilität des Rubels so schnell einführt, wird der Ost-West-Handel völlig zusammenbrechen? Damals — nehmen Sie das weiter zur Kenntnis — haben die Damen und Herren der Koalition diese Warnungen nicht ernstgenommen. Nehmen Sie ferner zur Kenntnis, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister Möllemann schon immer gesagt hat, er habe alles unter Dach und Fach. Das ist die Realität; Sie haben sie nicht wahrgenommen.
Ich denke, das war eher ein Wortbeitrag. Wo war da eigentlich die Frage?
Auch ich wollte gerade fragen: Und wo ist die Frage?
Ich muß dazu nicht ja sagen, da ich weiß, was ich einmal im Vertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ausgehandelt habe. Herr Roth, wenn Sie meinen, dies sei der Weg, dann erklären Sie bitte der deutschen Bevölkerung, wo wir die Finanzmittel hernehmen sollen. Darüber können wir alle beide gut reden, möglichst in der Öffentlichkeit, damit jeder begreift, wer dann künftig für Steuererhöhungen Verantwortung tragen würde.
Wenn wir den Kurs des transferablen Rubels von 1 Rubel zu 2,33 DM — das war ja eben Ihr Vorschlag — weitergeführt hätten, ist folgendes zu bedenken. Der Rubel wird heute mittlerweile deutlich billiger gehandelt. Ich frage Sie, ob die Verschuldungspolitik, die Sie da im Auge haben, wirklich zum Wohle unseres Volkes gewesen wäre. Ich glaube, kaum. Deshalb haben wir verantwortlich richtig gehandelt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen — das ist im Erfurter Programm deutlich gemacht worden — sichern, daß wir durch einen guten Kompromiß von Privatisierung und von Sanierung, die bereits durch die Treuhandanstalt durchgeführt werden, nach meiner festen Überzeugung die Verantwortung der eingesetzten Vorstände und Aufsichtsräte in den Unternehmen erhöhen, die Sanierung betreiben. Dann kommen wir zu Wegen, wie wir nach dem Auflösen der Treuhandanstalt für die volkswirtschaftlichen Bereiche, die einen längeren Sanierungsprozeß benötigen — beispielsweise VEBA oder VW oder andere; Beispiele gibt es ja aus der westdeutschen Geschichte —, deutlich diese Neustrukturkonzeption sichern.Eines akzeptiere ich allerdings nicht. Permanent wird ein bestimmter Eindruck vermittelt. Das ist wirklich der Eindruck im Osten. Ich wohne ja 7 km von Rostock entfernt. Ich bin regelmäßig mit Arbeitnehmern dort im Gespräch. Es wird permanent der Eindruck vermittelt, als gäbe es volkswirtschaftlich sinnvolle Möglichkeiten, die alten Strukturen noch weiter zu subventionieren. Das ist der völlig falsche
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8853
Dr. Günther Krause
Weg. Dann würden wir ja Geld doppelt verschleudern.
Deshalb meine ich, wir müssen den aufgezeigten Weg gehen. Das bedeutet auch, in der Treuhandanstalt neu anzufragen.Daß natürlich Unternehmen, die in der Sanierung sind, sich nicht erst wegen jeder Investition von vorneherein das Ticket in der Treuhandanstalt holen müssen, sondern daß die unternehmerische Verantwortung der Vorstände und der Aufsichtsräte in den zu sanierenden Unternehmen selbständiger wird, das ist der richtige Weg des Übergangs. In diese Richtung müssen wir mit unserem Konzept Strukturpolitik als Mittel gegen Entindustrialisierung gehen, damit alles finanzierbar bleibt. Das wollen wir ja nicht nur, indem wir im Westen keine Straßen mehr bauen, sondern indem wir vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik machen.
— Ja, ich glaube, daß etwas weniger oder mehr natürlich immer relativ ist. Da haben die Menschen unterschiedliche Ansichten.
— Wir müssen doch nicht erregt reagieren. Ich mache doch nur kreative Vorschläge, verehrte Kollegin. Das ist doch angenehm.
Es gibt ein zweites großes Problem. Das bitte ich auch ernstzunehmen, weil wir aus meiner festen Überzeugung in der gesamten Qualifizierungs- und Weiterbildungspolitik nicht westdeutsche Wege gehen können, sondern neue Wege gehen müssen, die in Westdeutschland dann vielleicht auch eine gewisse Attraktivität finden. Im Osten war es üblich, daß häufig diejenigen, die keine SED-Genossen waren, ihre akademische Laufbahn sowohl im Studium als natürlich auch beim Erwerb von akademischen Graden im zweiten Bildungsweg erworben haben. Das Fernstudium hat in Ostdeutschland eine wesentlich größere Bedeutung gehabt als im Westen.Ich meine, daß in der jetzigen Situation, wo wir beispielsweise sehr, sehr viele arbeitslose Diplomingenieurökonomen haben, die das sozialistische Wirtschaftssystem beherrschen und kennen, für diese der Weg des Fernstudiums so neu ausgestaltet werden muß, daß in einem überschaubaren Zeitraum von drei bis vier Jahren statt ominöser Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften wir den Menschen eine Alternative anbieten und nicht etwa mit minderwertigen ABM-Maßnahmen oder letztendlich Finanzierung alter Strukturen nichts für die Entwicklung tun. Der entscheidende Punkt muß bei diesen Qualifizierungsmaßnahmen gerade für den akademischen Bereich sein, daß das Eintrittsalter endlich keine Rolle mehr spielt. Wir müssen Angebote für jeden in jedem Lebensalter machen, weil sonst die empfundene Arbeitslosigkeit der eigentliche Sprengsatz sein wird.Wir können nicht so tun, als ob der 52jährige, der 1989 unter vielen, vielen Risiken die kommunistische Diktatur gestürzt hat, diese etwa deshalb gestürzt hätte, damit er mit 55 Jahren in das Altersübergangsgeld geht. Das ist unser eigentliches Problem. Deshalb müssen wir vor allem in der Qualifizierung neue und alternative Wege gehen.Ich bitte hier um Unterstützung. Ich weiß natürlich, daß das eine Aufgabe der Länder ist. Aber da wir im Bundesrat dann bei entsprechenden Gesetzesinitiativen unbedingt die Unterstützung des Bundesrates brauchen, müssen wir diesen Weg neu gehen.Ich möchte etwas zur Kultur sagen. Es ist natürlich einfach — das ist auch Aufgabe der Opposition —, von der Regierung immer mehr Geld zu fordern. Ich mache im Rahmen der Haushaltsdiskussion einen anderen kreativen Vorschlag. Wir können ja einmal auflisten, welche Positionen für den Erhalt der Kulturlandschaften in den einzelnen westdeutschen Bundesländern in diesem Bundeshaushalt als Festpositionen enthalten sind. Wir können dann dagegenrechnen, wie wenig Positionen zugunsten der Kulturlandschaften in Ostdeutschland dem gegenüberstehen. Wir können dann die Einsparungen finden, indem wir über den Bundesrat vor allem bei den SPD-regierten Bundesländern — die haben ja, aus unserer Sicht natürlich traurigerweise, im Bundesrat hier in Westdeutschland noch die Mehrheit — nachfragen, ob nicht das Grundkonzept „Teilung kann durch Teilen überwunden werden" lösbar wird, indem wir einige Aufgaben zum Erhalt der Kulturlandschaft, die bisher und schon seit Jahren vom Bund übernommen werden, dorthin verlegen.Das scheint mir ein ganz entscheidender, ein ganz wichtiger Punkt zu sein. Wenn wir über Kultur sprechen, dann sind wir Ossis nicht etwa die Vertreter, die damit den sozialistischen Realismus meinen. Wir meinen vielmehr, daß die Kulturlandschaften Vorpommern und Sachsen auch aus nationaler Verantwortung in Deutschland in der Repräsentation entsprechender Kulturdenkmäler Platz finden müssen.
Wir müssen das Grundkonzept der deutschen Einheit „Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden" unter dem Blickwinkel diskutieren, daß von den Ländern Aufgaben übernommen werden, die in der gegenwärtigen Situation vielleicht doch besser von Ländern selbst realisiert werden können, damit wir im Bundeshaushalt Platz schaffen, um ganz wichtige kulturhistorische Aufgaben zu realisieren, die von den neuen Landschaften in Richtung Westen mitgekommen sind. Dann werden wir unsere Einsparziele genau über diesen Weg erreichen können.Lassen Sie mich nun zu dem Thema kommen, das die öffentliche Diskussion sehr beschäftigt hat. Ich habe nach wie vor den Eindruck, als ginge es bei der deutschen Einheit nur ums Geld. Es geht aber bei der deutschen Einheit nicht ums Geld. Es geht darum, daß wir nach dem Krieg unser deutsches Vaterland durch
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8854 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Dr. Günther Krause
die deutsche Einheit, durch eine klare Politik zur deutschen Einheit erreicht haben. Wir können eigentlich dankbar sein, daß bis zum heutigen Tag die Revolution friedlich ist.
Da gebe ich Herrn Thierse recht: Sie muß unbedingt friedlich bleiben. Deshalb müssen wir die speziellen Situationen der Menschen in Ost und West besser darstellen. Der größte Fehler, den wir bisher gemeinsam gemacht haben, war nur das Gerede ums Geld. Es geht um weitaus mehr als ums Geld.
Wurde denn in diesem Parlament 1949, 1950 nur über die Kosten diskutiert, die etwa der Aufbau dieser alten Bundesrepublik bis zum Jahre 1990 gekostet hätte? Es geht doch um Grundwerte. Es geht darum, wie wir die Vermögensstruktur in Ostdeutschland aufbauen. Es geht darum, wie wir sozial gleichberechtigt und gleich verteilt diese Aufgaben realisieren. Es geht darum, daß wir uns wirklich um die Vergangenheit kümmern, daß wir uns in die Situation des Menschen hineindenken, der in Ostdeutschland gelebt hat,
und ihn nicht mit Vorurteilen versehen. Es geht natürlich auch darum, daß sich meine ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger in die Situation eines westdeutschen Menschen auch in meinem Alter hineindenken, der in seiner Prägung, in seiner Schulbildung weniger auf die deutsche Einheit vorbereitet worden ist als vielmehr auf die Europäische Union. Beides ist wichtig. Wir müssen jetzt den Nachholbedarf, was diese anonyme Situation der 40 Jahre DDR ist, erst einmal verarbeiten. Deshalb stehe ich hier heute.
Herr Krause, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Matthäus-Maier?
Einen kleinen Moment!
Das Hauptproblem der deutschen Einheit ist zu diskutieren. Wir müssen auf beiden Seiten unsere Vergangenheit bewältigen, damit wir auch darüber sprechen, wie SED und SPD beispielsweise in Situationen Wahlkampfhilfen verabredet haben und wie andere, die in Ostdeutschland gelebt und das CDU-Abzeichen getragen haben, diffamiert worden sind.
Gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage?
Deshalb sage ich, Herr Thierse, wir müssen gemeinsam die Vergangenheit bewältigen — gemeinsam!
— So redet die SPD.
— Die Erbschaft ist zu bewältigen, Herr Roth.
Wenn Sie das nicht akzeptieren, wird es natürlich kompliziert. Es ist nicht in erster Linie eine materielle Aufgabe, sondern es ist eine Aufgabe, Verantwortung zu zeigen und unser Deutschland nach dem 3. Oktober 1990 aufzubauen.
Herr Kollege Krause, nachdem Sie, der ehemalige Kreissekretär der Blockpartei, wenn Sie wegen der ökonomischen Probleme in Schwierigkeiten kommen, so oft in diesem Hause auf andere Themen ausweichen
— das ist überhaupt nicht schäbig; wir reden hier darüber, wie wir den Osten aufbauen, und er weicht immer dann aus, wenn er nicht weiterweiß —,
stelle ich Ihnen die Frage: Wollen Sie mir zustimmen, daß wir, die wir den Staatsvertrag aktiv unterstützt haben, Sie aber bei seiner Verabschiedung — ich weiß das als Berichterstatterin meiner Fraktion — von Anfang an gebeten haben, von der unseligen Eigentumsregelung Abstand zu nehmen? Das hatte nichts mit Geld zu tun. Erinnern Sie sich daran, daß wir von Anfang an gesagt haben, wir brauchen einen Sanierungsauftrag der Treuhand? Das hatte nichts mit Geld zu tun.
— Ich stelle hier Fragen! — Erinnern Sie sich daran, daß wir Sie gebeten haben, eine Quotierung für Frauen einzuführen? Das hatte nichts mit Geld zu tun.
Frau Matthäus-Maier, Sie wissen, daß es angenehm ist, sich mit Ihnen zu streiten; es macht mir auch wirklich Spaß.Zum ersten: Es gab in der ehemaligen DDR hauptamtliche Kreissekretäre und ehrenamtliche Kreisvorsitzende. Ich war kein Kreissekretär, sondern Kreisvorsitzender.
Das hat der „Spiegel" bisher immer falsch veröffentlicht.
— Ich bekenne mich zu meinem Weg in der Ost-CDU; darüber diskutiere ich nicht. Bekennen Sie sich doch dazu, daß Sie mit der SED darüber gesprochen haben, wie sie die Wahlen gewinnt!
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Dr. Günther Krause
Was wollen wir uns denn hier ewig vorhalten?
Zum zweiten: Weil ich darüber spreche, was die eigentlichen Probleme der Bewältigung unserer beider Vergangenheiten sind, will ich Ihnen dazu eins sagen — das wird mir Wolfgang Schäuble bestätigen können —: Wir mögen bitte aufhören, nur immer darüber zu reden, wie der Mensch in der ehemaligen DDR seine Vergangenheit bewältigt. Wir haben in Ost und in West Probleme der Vergangenheitsbewältigung. Das macht die Schwierigkeiten des Begreifens der Aufgabe der deutschen Einheit aus. Deshalb diskutieren wir nur über das Geld, und das ist unser Hauptproblem.
Weiterhin — auch das wird mir Wolfgang Schäuble bestätigen können —: Im Entwurf des Einigungsvertrages, der damals übrigens einen Tag vor dem Entwurf der Bundesregierung auf den Tisch kam, gab es den Länderfinanzausgleich. Die SPD hat damals immer erklärt: Das Konzept „Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden" ist nicht das richtige Konzept; es muß der Fonds Deutsche Einheit erhöht werden, es muß der Bund in eine Verschuldung hineingetrieben werden.
Wenn wir nicht begreifen, daß wir mit der deutschen Einheit eine Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden zu bewältigen haben, dann wird es schwierig. Wir konnten den Länderfinanzausgleich durchsetzen.Zur Frage nach dem Eigentumsrecht: Es haben sehr viele SPD-regierte Bundesländer am Verhandlungstisch gesessen. Ein Mann, den ich wirklich verehre, weil ich ihn als einen sehr anständigen und fairen Verhandlungspartner kennengelernt habe, ist Herr Clement. Wir haben in der Runde alle Szenarien hin und her diskutiert, welche Gefahr bestehen könnte, wenn wir die Regelung Entschädigung vor Rückgabe als Bestandteil des Einigungsvertrages aufnähmen, und zwar hinsichtlich des verfassungsrechtlichen Bestandes des Einigungsvertrages. Das ist die ganze Wahrheit, warum diese Regelung in dieser Form in den Einigungsvertrag hineingekommen ist.
— Die Frage des Bezahlens, lieber Wolfgang Bötsch, wurde da kaum diskutiert. Es war die Frage, daß die ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger den 3. Oktober mit einem Berufsabschluß erleben. Das hat nämlich der Einigungsvertrag geregelt. Hätten wir bloß einen Beitritt realisiert, wären wir alle ohne Berufsabschluß Bürgerinnen und Bürger der Freiheit geworden. Bürgerinnen und Bürger der Freiheit zu werden war unser Anliegen, allerdings nicht ohne Berufsabschluß.Im Bereich der Wirtschaftspolitik bekenne auch ich Fehler, natürlich. Allerdings bin ich für den Verkehr verantwortlich. Die Euphorie zur Zeit hinsichtlich des Umdenkens im Planungsrecht zeigt mir, daß es richtig war, daß ich mich in der Öffentlichkeit eine Zeitlang habe beschimpfen lassen. Aber nun ziehen wir endlich nach, und ich denke, daß wir gute Erfolge erreichen werden.Ich meine, die Frage des Solidarpakts und die Frage der wirtschaftlichen Entwicklung in Ost und West muß im Zusammenhang gesehen werden. Ich bin der festen Überzeugung — das sollten wir unseren westdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auch so sagen —, daß die Stabilisierung der Probleme des westdeutschen Wirtschaftssystems durch die deutsche Einheit und durch den Markt zwei Jahre funktioniert hat. Leider hat diese Stabilisierung zu Tarifverträgen geführt, die nicht der wirklichen Situation entsprechen. Deshalb ist es in der gegenwärtigen Situation wichtig, über einen Solidarpakt zu reden, damit wir die Wachstumsprozesse im Westen sichern und im Osten wesentlich höheres Wachstum als bisher realisieren.Es wird so viel über die Wirtschaftskuh gesprochen. Ich denke, die Analogie ist ganz richtig. Ich denke aber, es ist falsch, zu behaupten: Man muß die westdeutsche Wirtschaftskuh füttern, damit die Milch in den Osten gereicht wird. Diese Darstellung ist zu einfach. Sie ist richtig, weil wir natürlich Milch für die Defizite des Sozialismus brauchen. Zusätzlich brauchen wir aber die Initiative zur Arbeitsplatzsicherung mit Tarifpartnern. Wir müssen auch darüber sprechen, wie wir das Bruttosozialprodukt umverteilen. Wir müssen auch über die Probleme und Aufgaben sprechen, die finanziell bisher deshalb nicht darstellbar waren, weil die Treuhandanstalt ihre D-Mark-Eröffnungsbilanz beispielsweise nicht vorgelegt hat. Diese Dinge müssen wir in der Diskussion ebenso akzeptieren.Richtig ist, daß der Solidarpakt die eigentliche politische Herausforderung der nächsten Monate sein wird. Wenn es uns nicht gelingt, Wohlstand im Osten zu entwickeln, im Westen zu sichern und vor allen Dingen als Maßstab für die Arbeitsplatzpolitik zu verstehen, dann wird es nicht nur der Politiker sein, der in der Regierungsverantwortung versagt hat, sondern dann müssen wir auch den Tarifpartnern entsprechende Verantwortung zutragen.Ich möchte das bekräftigen, was der Bundeskanzler hier gestern formuliert hat, daß in den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst die Dinge in diesem Jahr nicht so optimal gelaufen sind, wie wir uns das alle gewünscht haben. Jeder Prozentpunkt, der in Westdeutschland oben draufgesetzt wird, wird nicht den Wohlstand auf Dauer sichern, sondern wird die desolate Situation des Transfers in das Bezahlen nicht getaner Arbeit in den Osten und die Probleme der westdeutschen Wirtschaft eher verschärfen.Insofern, denke ich, haben wir mit unseren zweieinhalb Seiten, die wir mittlerweile als Erfurter Papier bezeichnen, nicht etwa ein Konzept vorgelegt — wir sind keine Planwirtschaftler und können nicht die nächsten zehn Jahre in Mark und Pfennig ausdrükken —, sondern wir wollen in der Diskussion zum jetzigen Haushalt erreichen, daß in der politischen Gestaltung der Mensch als Investor, wenn er im Osten geboren ist oder wenn er aus dem Westen in den Osten kommt oder wenn er sich etwas im Osten kauft und
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Dr. Günther Krause
dies vom Westen aus betreiben will, in den Mittelpunkt des Konzepts des wirtschaftlichen Aufschwungs gestellt wird.Ich bin sicher, daß es dann möglich sein wird, in unserem Volk endlich damit aufzuhören, über Geld zu reden, um sich statt dessen zu freuen, daß wir die deutsche Einheit erreicht haben.Vielen Dank.
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Lühr.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich den letzten Diskussionsbeitrag von Herrn Krause und die darin abgelaufene Kontroverse sehe, muß ich sagen: Es war von beiden Seiten eine Art, die dem Stil dieses Hauses nicht gerecht wird. Ich werde mich in meinem Diskussionsbeitrag befleißigen, solche Art von Polemik auszulassen.
Aber eines möchte ich der SPD natürlich auch einmal anbieten. Man muß in der Tat über diese Probleme reden, aber ohne Polemik, sondern in aller Sachlichkeit. Denn es ist wichtig, daß wir diesen Teil unserer gemeinsamen Geschichte aufarbeiten.Wir wollen aber heute nicht so sehr gegenseitige Schuldzuweisungen bezüglich der Vergangenheit betreiben, sondern mehr darüber reden, was jetzt und in der Zukunft zu tun ist. Darauf möchte ich mich beschränken.
In dieser Haushaltsdebatte, meine Damen und Herren, wird erstmals richtig deutlich, daß die Probleme der neuen Bundesländer auch die der alten sind. Wenn wir über Ostdeutschland reden, reden wir über Deutschland als Ganzes. Nichts, was in Ostdeutschland passiert, bleibt ohne Auswirkungen auf ganz Deutschland. Wir sind uns hier alle sicher einig, daß für die Angleichung der Lebensverhältnisse der wirtschaftliche Aufschwung der Schlüssel ist.Die deutsche Einheit ist aber mehr als nur der wirtschaftliche Aufschwung im Osten Deutschlands. Deutsche Einheit heißt vor allem innere Vereinigung. Viele Umfragen zeigen: Deutschland-Ost und -West sind heute weiter voneinander entfernt als in den Tagen der Begeisterung über die wiedererlangte staatliche Einheit.Es gibt in der Bevölkerung Ängste, die aber in Ost und West sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Es droht das Auseinanderfallen Deutschlands in zwei Neidgesellschaften: die eine im Westen, in der die Menschen sagen, wir tun schon mehr als genug für euch da drüben, die andere im Osten, in der die Menschen sagen, ihr tut noch nicht genug für uns. Dabei geht es nicht nur immer um Geld, es geht darum, wie Deutsche mit Deutschen umgehen.Worin bestehen diese Ängste? Im Osten ist es die Sorge um die nackte Existenz, um den Arbeitsplatz, um die Wohnung, um die innere Sicherheit, und es ist die neue Angst vor einer völlig undurchschaubaren überwuchernden Bürokratie. Im Westen ist es die Angst, daß sich Deutschland mit der gigantischen Aufgabe der Vollendung der deutschen Einheit übernommen haben könnte. Es ist die Angst, was an persönlicher Belastung und persönlichem Verzicht abverlangt wird. Kurz, es ist die Angst, Abstriche am eigenen Wohlstand machen zu müssen. Gemeinsam ist allen die Angst vor unkontrollierbar massenhafter Zuwanderung von Ausländern unter Mißbrauch des liberalen Asylrechts, wie es im Grundgesetz verankert ist.Wie kann man diese Ängste in Ost und West abbauen? Sicherlich zuallererst, indem man in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens aufeinander zugeht, den Konsens sucht, tolerant miteinander umgeht und Geduld füreinander aufbringt. Das ist eine Aufgabe für alle, die in der Gesellschaft Verantwortung tragen, natürlich für politische Parteien in erster Linie, aber ebenso für Gewerkschaften, Kirchen und Arbeitgeberverbände.Es kommt darauf an, nicht übereinander, sondern viel mehr miteinander zu reden. Für uns Politiker bedeutet das, unnötige Ängste durch gezielte sachliche Information abzubauen. Deshalb wiederhole ich meine Aufforderung an alle in diesem Hohen Hause, daß die Politiker der alten Bundesländer verstärkt in Ostdeutschland Präsenz zeigen, um sich zum einen ein reales Bild von der wirklichen Lage der Menschen dort zu machen und zum anderen möglichst viele direkte Informationen weiterzugeben. Im Umkehrschluß müssen wir ostdeutsche Politiker verstärkt hier im Westen Deutschlands auftreten, um oftmals vorhandene Irritationen und Unverständnis über die Situation in Ostdeutschland abzubauen.Ich möchte hier die Gelegenheit nehmen, meinem Fraktionsvorsitzenden für seinen beispielhaften Einsatz in dieser Frage zu danken, der sich in der parlamentarischen Sommerpause drei Wochen in Ostdeutschland aufgehalten hat und mit sehr konkreten Vorschlägen, die wir in dieser Debatte auch diskutieren sollten, zurückgekommen ist. Er hat diese Vorschläge in der „Herbstoffensive Ost" niedergeschrieben.
Für die Vollendung der deutschen Einheit gibt es kein Lehrbuch. Deshalb gehören zu diesem Experiment, was die deutsche Einheit ist, auch Fehler. Es gehört sich aber auch, daß Fehler zugegeben werden und wir alle aus ihnen lernen. Fast alle haben den schlechten Zustand der Wirtschaft der DDR unterschätzt. Unterschätzt wurden auch die eigenen Fähigkeiten, die Probleme mit den im Westen gebräuchlichen Mitteln der Sozialen Marktwirtschaft zu lösen. Die Probleme sind natürlich so lösbar. Aber die Vollendung wird länger dauern, und sie wird mehr kosten, als wir alle es gedacht haben. Der Zusammenbruch des Osthandels, die allgemein verschlechterte weltwirtschaftliche Situation tun ihr übriges.Nicht alle Entscheidungen in dieser Koalition haben die F.D.P. glücklich gestimmt. Dazu gehört u. a., daß es uns nicht gelungen ist, unseren Koalitionspartner davon zu überzeugen, daß das Niedrigsteuergebiet
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8857
Uwe Lührfür Ostdeutschland der beste Weg für einen schnellen Aufschwung Ost sein würde.
Wir müssen uns auch der Frage stellen, ob die enormen Finanztransfers von West nach Ost den neuen Bundesländern nun wirklich in dem Maße zugute kommen, wie sie es sollten. Denn ein wesentlicher Teil dieser Mittel fließt unmittelbar über das Steueraufkommen zurück in die alten Bundesländer, weil Ostdeutschland eben noch nicht der Produktionsstandort, sondern vornehmlich Absatzmarkt ist. Das kann und darf auf Dauer so nicht bleiben. Ziel muß es sein, den neuen Bundesländern durch Investitionen, durch Produktion vor Ort auf die Beine zu helfen. Das heißt, kurz gesagt: weniger Geld in den konsumtiven Bereich, mehr Geld für die Investitionsförderung.
Die tragende Säule für diese Entwicklung muß ein leistungstarker Mittelstand sein. Deshalb unterstütze ich alle Fördermaßnahmen, die dies bewirken und die neuen Bundesländer zu einem attraktiven Investitions- und Produktionsstandort machen.Die Bundesregierung hat, so meine ich, rechtzeitig entscheidende Schritte unternommen. Ein entscheidender Schritt war die Initiative des Bundeswirtschaftsministers zur Strategie „Aufschwung Ost" im Frühjahr 1991. Ich möchte noch einmal die zentralen Punkte dieser Strategie in Erinnerung rufen, die für das wirtschaftliche Handeln der Bundesregierung auch heute bestimmend sind und sein müssen.Das sind: Förderung der privaten Investitionstätigkeit durch zusätzliche Anreize sowie massive öffentliche Investitionen, Auf- und Ausbau der Infrastruktur, Forcierung der Privatisierungs- und Reprivatisierungspolitik der Treuhand, Entwicklung neuer Strategien für sanierungsfähige Treuhandbetriebe, massive Förderung des Osthandels, regionalpolitische Flankierung durch Sonderprogramme für Krisenregionen, Investitionen in Wohnungs- und Städtebau, insbesondere Sanierung und Modernisierung der Bausubstanz sowie der Einsatz des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums zur sozialen Abfederung der unvermeidlichen Folgen des Strukturwandels.Von Anfang an war klar, daß die Mehraufwendungen für den Aufschwung Ost im Rahmen eines gesamtpolitischen Gesamtkonzepts solide finanziert werden mußten, um die Stabilität der westdeutschen Wirtschaft nicht zu gefährden. Die Umsetzung des vom Wirtschaftsminister initiierten Subventionsabbaukonzepts vom Februar 1991 im Volumen von ca. 10 Milliarden DM ab 1992 war ein wichtiger Schritt. Ich glaube, auf diesem Weg eines konsequenten Subventionsabbaus müssen wir weitermachen.
Positive Auswirkungen, meine Damen und Herren, zeigen sich beim Soforthilfeprogramm „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost". Speziell die 5,34 Milliarden DM aus der kommunalen Investitionspauschale warèn ein wirksames Instrument zur beschäftigungswirksamen Umsetzung dieser Mittel. DiesesInstrument sollte neu aufgelegt werden, und die Signale dazu sind ja sehr deutlich.Eine Vielzahl zusätzlicher Maßnahmen wurde eingeleitet, um die Chancen beim Aufschwung Ost zu verbessern. Ohne sie einzeln aufzuzählen, sage ich, daß sie im Rahmen der Investitionsförderung, der Mittelstandsförderung, des Infrastrukturaufbaus, der Absatzförderung ostdeutscher Produkte angesiedelt waren.Die konsequente Fortführung der Strategie „Aufschwung Ost" sind die von Bundesminister Möllemann im Januar vorgelegten Leitlinien zum „Aufschwung Ost", die aus den Erfahrungen des ersten Jahres neue Prioritäten gesetzt haben. All diese Aktivitäten der Bundesregierung sind hervorragende Rahmenbedingungen für die Attraktivität des Investitionsstandorts Ost und damit des Wirtschaftstandortes Deutschland.Ausgesprochen kontraproduktiv für den Erhalt, die Sicherung bzw. Neuentstehung von Arbeitsplätzen hat sich die Lohnpolitik der Tarifpartner in diesem Jahr speziell für Ostdeutschland ausgewirkt. Das Abkoppeln der Löhne im Osten von der Produktivitätsentwicklung hat zu zusätzlicher Arbeitslosigkeit durch weiter verringerte Wettbewerbsfähigkeit für die dortigen Betriebe geführt. Natürlich müssen Löhne und Gehälter im vereinigten Deutschland so schnell wie möglich in Übereinstimmung kommen, aber nicht auf Teufel komm raus, sondern sozialverträglich und gesamtwirtschaftlich vernünftig. Es ist hohe Zeit, im gesamtstaatlichen Interesse hier zur Vernunft zurückzukehren.Der vom Bundeskanzler initiierte Solidarpakt ist zu begrüßen. Die Bereitschaft aller Beteiligten zur Kompromißfähigkeit ist die Voraussetzung dafür. Es geht um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Es geht uns, es geht allen um die Zukunft des geeinten Deutschland. Nationaler Konsens ist notwendig, weil der Wirtschaftsstandort Deutschland im Wettbewerb mit anderen Wirtschaftsstandorten in Europa steht. Bei allen investitionsfördernden Maßnahmen geht schon jetzt eine Vielzahl von Investitionen an Ostdeutschland vorbei nach Polen, in die Noch-Tschechoslowakei und nach Ungarn.In den Zeiten eines gewaltigen wirtschaftsstrukturellen Umbruchs halten wir auch AB-Maßnahmen für ein geeignetes Mittel, diesen Prozeß vorübergehend sozial abzufedern. Aber — das muß deutlich gesagt werden — der wahre Arbeitsbeschaffer ist und bleibt der wirtschaftliche Mittelstand und nicht der Staat mit seinen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Deshalb müssen bei AB-Maßnahmen die Mittel dort radikal gekürzt werden, wo AB-Maßnahmen zu Verhinderern eines aufstrebenden Mittelstandes werden.
Statt dessen sind sie verstärkt dort einzusetzen, woanders als mit staatlicher Unterstützung gegenwärtigganze Aufgabenbereiche nur unzureichend wahrge-
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8858 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Uwe Lührnommen werden können wie in einigen Bereichen der Sozialarbeit, im Umweltbereich und in der Kultur.
Gezielt kann man damit auch die Situation von Frauen in Ostdeutschland verbessern, die jetzt überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Wir müssen auch verhindern, daß die jetzt 50- bis 60jährigen zu den Verlierern der deutschen Einheit werden, denn sie haben im vereinigten Deutschland kaum eine Chance auf einen Arbeitsplatz. Diese Menschen, die die Teilung am längsten zu ertragen hatten, haben das, so meine ich, nicht verdient. Hier können in begrenztem Umfang Beschäftigungsgesellschaften einen wichtigen Dienst leisten, indem sie diesen Menschen einen würdevollen Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand ermöglichen.Aber noch mehr Aufmerksamkeit müssen wir dem Problem der Jugendlichen widmen. Die Ereignisse von Rostock und anderswo haben uns alle erschüttert. Die eigentliche Ursache liegt nicht in der Asylproblematik, sondern es sind viel tiefergehende wirtschaftliche, soziale und psychologische Gründe. Der Verlust an Werten, die Lust am Krawall, Gewaltbereitschaft, der Haß auf Ausländer: All das hat seine Ursache in einem tiefen Frust, in Enttäuschung, in Orientierungslosigkeit, die sich auf diese Art und Weise ein Ventil sucht.Es ist kein Wunder, wenn in einem Stadtteil wie Lichtenhagen fast 50 % Arbeitslosigkeit herrscht, wenn sich die Menschen auf 65 Quadratmeter ihrer sterilen Plattenbauwohnungen auf die Nerven gehen und die letzten Freizeitzentren für Jugendliche geschlossen werden. Hier muß die Politik ansetzen und mit gezielter Unterstützung der Kommunen das Problem an der Wurzel packen.Da wir über den Wirtschaftsstandort Deutschland oder Ostdeutschland sprechen: Solche Ausschreitungen, solche Randale sind natürlich auch nicht gerade fördernd für die Investitionstätigkeit ausländischer Unternehmer. Sie schrecken vor diesem Gewaltpotential zurück.
Ich stellte eingangs fest, daß eine gemeinsame Angst vor der massenhaften Zuwanderung von Ausländern unter Mißbrauch des Asylrechts bei den Bürgern in Ost und West besteht. Jeder Tag zählt. Die Bevölkerung erwartet ein entschlossenes Handeln der Politiker. Die Koalitionsfraktionen sind bereit, mit der SPD-Fraktion einen Konsens herbeizuführen, der auch die Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes unter Beibehaltung des subjektiven Rechts auf politisches Asyl beinhaltet. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD, die Signale vom Petersberg waren in der Tat gut. Ich verstehe aber nicht, warum die SPD-Fraktion jetzt auf einen Sonderparteitag warten muß.
— Hören Sie mir doch bitte erst einmal zu! — Herr Klose und seine Fraktion stehen schon jetzt in der Verantwortung und können sich aktiv beteiligen, denn auch Ihre Fraktion besteht aus frei gewählten Abgeordneten, die nur ihrem Gewissen verpflichtetsind, und bekanntlich gibt es kein imperatives Mandat.
Deshalb blockieren Sie bitte nicht, sondern lassen Sie uns alle sehr schnell befriedigende Lösungen in dieser Frage finden!Es geht auch nicht um mehr Geld bei einem weiteren Problem, das immer wieder beklagt wird: die bürokratischen Hemmnissse in den neuen Bundesländern. Es zeigt sich, daß sich unser föderaler Staat mit seinen verschiedenen Zuständigkeits- und Verwaltungsebenen in einer Zeit, in der schnelle, unbürokratische Entscheidungen gefragt sind, oftmals als Hindernis erweist. Deshalb müssen auch hier alle Beteiligten gemeinsame Handlungswege erarbeiten, um wichtige Entscheidungen schneller durchzusetzen. Die Installation von zusätzlichen Mittelinstanzen in einigen ostdeutschen Bundesländern ist zunehmend ein Instrument bürokratischer Verhinderung von Entscheidungsabläufen.Kritisiert wird auch die mangelnde Entscheidungsfreudigkeit der kommunalen Verwaltungen in Ostdeutschland. Ich möchte hier gerne eine Lanze für die kommunalen Verwaltungen in Ostdeutschland brechen. Sie sind besser als ihr Ruf. Der Arbeitsaufwand ist gegenwärtig um ein Vielfaches höher als in vergleichbaren Kommunen in Westdeutschland. Deshalb brauchen die Kommunen nach wie vor Hilfe zur Selbsthilfe.Es gibt eine Reihe administrativer Hemmnisse. Diese müssen beseitigt werden, weil sie den Aufschwung blockieren. Die mangelhafte personelle und räumliche Ausstattung in den Ämtern für Vermögensfragen und auf den Grundbuchämtern sind ein unerträglicher Zustand.
Nicht das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" ist das Problem, sondern die bürokratische Organisation der Entscheidungsvorgänge. Nahezu 80 % aller vorliegenden Rückgabeansprüche könnten schneller und unbürokratischer bearbeitet werden. Das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz bietet dafür alle Voraussetzungen. Nur, es muß jetzt auch angewandt werden.Es gibt aber auch in Ostdeutschland eine Reihe Reserven. Diese liegen z. B. im kommunalen Bereich in der Privatisierung nicht hoheitlicher kommunaler Aufgaben wie z. B. im Bereich Wasser und Abwasser. Hier ist es sehr schnell möglich, privates Kapital zu mobilisieren. Nicht alles in diesen Fragen muß der Staat finanzieren.Auch in der Vereinfachung von Richtlinien und Vorschriften für die neuen Bundesländer liegen Reserven. Herr Krause, hat dazu gesprochen. Wenn es uns gelingt, die Planungsverfahren zu vereinfachen, wäre das natürlich auch eine Chance für die alten Bundesländer, auch hier den Abbau von Bürokratie voranzutreiben. Ich begrüße deshalb die Aussage des Bundeskanzlers, entscheidende Vereinfachungen für Ostdeutschland vorzubereiten. Das muß sicherlich ein ganz wesentlicher Bestandteil des vor uns stehenden Solidarpakts sein.
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Uwe LührSicher dürfen wir die großen Probleme speziell in Ostdeutschland nicht herunterreden. Bloß: Nur zu lamentieren, wie von Herrn Thierse soeben vorgeführt, hilft auch nicht. Die Menschen in Ostdeutschland haben nach wie vor große Hoffnung. Deshalb ist es nötig, auch die positiven Signale zu erwähnen, und es gibt sie.Eine Vielzahl von Investitionsprojekten befindet sich in der notwendigen Planungsphase. Erste neue Betriebe wie z. B. die in Bau befindliche modernste Zuckerfabrik Europas in Könnern in der Nähe von Bernburg entstehen. Der Bau der Raffinerie in Leuna ist ein Hoffnungssignal für eine ganze Region. 82 730 Firmenneugründungen seit 1990 allein in Sachsen-Anhalt zeigen, daß auch viel Initiative und Leistungsbereitschaft in Ostdeutschland vorhanden ist.
Es ist notwendig, auch die Arbeit der Treuhandanstalt weiter zu verbessern. Entsprechende Vorschläge werden von der F.D.P. in absehbarer Zeit auf den Tisch gelegt werden.
— Nein, Herr Roth. Ich sagte: in absehbarer Zeit. Das sind bei mir kurze Zeiträume.Verwahren müssen wir uns gegen pauschale Kritik an der Arbeit der Treuhand. Sie leistet hervorragende Arbeit. Ich begrüße es — das resultiert aus der gestrigen Beratung mit den Personalräten aus Ostdeutschland —, daß diese künftig verstärkt in die Privatisierungsentscheidungen der Treuhand einbezogen werden sollen.Meine Damen und Herren, auch wir Ostdeutschen haben viel in das vereinte Deutschland eingebracht, u. a. einen reichen Schatz kultureller Werte und Güter. Diese zu erhalten und für künftige Generationen zu sichern muß ein vordringliches nationales Anliegen aller Deutschen sein.
Der Verfall in 40 Jahren SED-Herrschaft ist teilweise erschreckend. Deshalb müssen wir in dieser Haushaltsdebatte darüber sprechen, wie ein drohender Kulturkollaps in Ostdeutschand verhindert werden kann.Wir haben die Pflicht, aber auch die Chance, die größte uns Deutschen gestellte Aufgabe zu bewältigen. Aber dazu müssen wir den Menschen noch mehr als bisher ehrlich sagen, welche Anforderungen an uns alle gestellt sind und daß wir mehr Geduld dafür brauchen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Schumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn es um den ausbleibenden Aufschwung im Osten ging, machte es sich immer gut, die Erblasten des Sozialismus dafür im vollen Umfang verantwortlich zu machen.
Auch die dauernde Auseinandersetzung zwischen den etablierten Parteien über die reale Einschätzung der Lage muß immer wieder herhalten. Herr Bundesverkehrsminister Professor Krause hat ja auch eben Beispiele dafür geliefert. Ich glaube jedoch, so etwas funktioniert nicht auf Dauer. Die Menschen wollen Entwicklungen und Fortschritte sehen, die es ohne Zweifel gibt, aber sie wollen sie noch spürbarer sehen.
Ich glaube, einige erinnern sich auch daran, daß auf den Tag genau vor fünf Jahren Erich Honecker hier in Bonn war und von allen etablierten Parteien hoffähig empfangen wurde und auch so wieder abreiste. Wir sollten auch darüber und über die gemeinsame Vergangenheit nachdenken und vielleicht etwas mehr in die Zukunft schauen.Es wird von den Menschen im Osten nicht verkannt, daß in den letzten beiden Jahren gewaltige Transferleistungen von West nach Ost geflossen sind. Gerechterweise muß man aber auch dazusagen, wieviel davon wieder im Westen angekommen ist. Inzwischen sind die Märkte Ostdeutschlands fest im Griff der großen und allmächtigen Handelsketten, die allesamt ihren Sitz in den alten Bundesländern haben und zum größten Teil ihre Ware auch von dort beziehen. So ist der Aufschwung Ost ein Konsumtionskreislauf mit Gewinn und Zuwachsraten der Handelsketten, Banken, Versicherungen und einiger Großunternehmen geworden. Herr Lühr hat in seinen Ausführungen dafür eben auch eine Bestätigung gegeben.Wen wundert es da, wenn die Ostdeutschen zunehmend den Glauben an die Selbstheilungskräfte des Marktes verlieren und die Marktwirtschaft in Frage stellen! Gestern war in der „FAZ" zu lesen, daß inzwischen nur noch 44 % der Ostdeutschen eine gute Meinung von der Marktwirtschaft haben. Nach der Wende waren es 77 %. Es kann doch nicht das Ziel der Politik und vornehmlich der Wirtschaftspolitik gewesen sein, bei der Bevölkerung im Osten den Wunsch nach staatlicher Reglementierung zu wecken.Hauptursache dafür ist die zunehmende Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile aus der Arbeit. Die Menschen verstehen immer weniger die beispiellose Vernichtung von Arbeitsplätzen, vor allem im industriellen Bereich und auch in der Landwirtschaft. So können auch die Erfolgsmeldungen der Treuhandanstalt über Investitionszusagen und gesicherte Arbeitsplätze nicht darüber hinwegtäuschen, daß inzwischen in der Industrie drei von ehemals vier Arbeitsplätzen vernichtet sind.Die Konferenz ostdeutscher Betriebs- und Personalräte hat gestern eine Umfrage veröffentlicht; Herr Thierse hat heute die Zahlen schon genannt. Unsere eigenen Recherchen und Gespräche mit Betriebsräten und Leitungen ergaben ein gleiches Bild. In vielen Betrieben ist die Stammbelegschaft auf eine kritische Marke reduziert, so daß selbst wenn sich die Auftragslage bessert die Produktion nicht wieder aufgenommen werden kann. Das betrifft ehemalige Großbetriebe genauso wie den hier verheißungsvoll in den Mittelpunkt gerückten Mittelstand.Der Zorn vieler Belegschaften in den Betrieben richtet sich verständlicherweise gegen die Treuhand als unmittelbar ausführendes Organ. Wir sollten es
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Dr. Fritz Schumann
jedoch nicht versäumen, nach der politischen Verantwortung zu fragen, wenn fehlende Wirtschafts- und Strukturkonzepte eine aktive Wirtschaftspolitik verhindern und die Privatisierung als alleinige Sanierungsmöglichkeit gesehen wird. Hinter Privatisierung verbirgt sich eben in nicht wenigen Fällen die private Aneignung von Immobilien und freien Grundstücken. Eine Belegschaft stört in diesem Prozeß.Die PDS/Linke Liste fordert deshalb im Rahmen der Wirtschaftspolitik eine echte Umkehrung des Treuhandauftrages. Privatisierung als vorrangige Aufgabe der Treuhandanstalt unterwirft Sanierung allein betriebswirtschaftlichen Kriterien. Gesamtgesellschaftliche oder gar individuelle Folgeerscheinungen werden dabei völlig vernachlässigt.Die Finanzierung der Sanierung von Betrieben durch die Treuhandanstalt ist bisher völlig unzureichend. Auch den als sanierungsfähig eingestuften Betrieben wurde bisher finanzielle Unterstützung weitestgehend verweigert. Zu einer ungünstigen Ausgangslage der Betriebe kommt für die noch existierenden Treuhandbetriebe noch ein zweijähriger Entwicklungsverlust hinzu, was zu einer weiteren Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe maßgeblich beigetragen hat. Medienwirksam wurden am 7. September von Frau Breuel diesbezüglich wenn schon kein Kurswechsel so doch verstärkte Anstrengungen angekündigt: „Investitionen für einen schnellen Umstrukturierungs- und Sanierungsprozeß sollen beschleunigt und dafür im September eine erste internationale Anleihe aufgenommen werden." Darüber hinaus sollen zu Anfang 1993 — man höre — in einer Treuhandtour für Ostdeutschland in den alten Bundesländern privatwirtschaftliche und öffentliche Aufträge für Treuhandbetriebe gesucht werden. Bisher hat die Treuhandanstalt dem Problem der Absatzmöglichkeiten kaum Aufmerksamkeit geschenkt.Wir fordern deshalb: Im Mittelpunkt wirtschaftspolitischer Aktivitäten muß der Erhalt und der Ausbau wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze stehen. Das verstehen wir vorrangig unter „Sanierung", und das sollte auch im Haushalt sichtbar werden.Zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit schlagen wir vor, erstens die Mittel im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" zur Umgestaltung und Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen zu erhöhen und zweitens .Arbeitsplatzsubventionen vorzusehen.Zunächst zu den Mitteln im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe. Der Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft sieht zur Förderung der betrieblichen Investitionen und der wirtschaftsnahen Infrastruktur Ausgaben für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" in Höhe von 4,1 Milliarden DM für 1993 vor. Es wird vorgeschlagen, die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe bedeutend zu erhöhen, nach unseren Vorstellungen um mindestens eine Milliarde DM.Dabei gehen wir von folgendem aus: Die hochentwickelte und aus der Sicht der Bundesregierung so erfolgreiche Wirtschaft der Bundesrepublik sollte nicht weiter über drei Millionen Menschen von derMöglichkeit, arbeiten zu können, ausgrenzen. Arbeit ist ein Grundrecht der Bürgerinnen und Bürger. Der Staat sollte seiner Verpflichtung im Grundgesetz nach sozialem Ausgleich nachkommen und die Vollbeschäftigung als gleichrangiges Ziel des Stabilitätsgesetzes verwirklichen. Als ein Mittel dazu sehen wir die Erhöhung der Möglichkeiten im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" .Während wir für eine Mittelerhöhung in den alten und den neuen Ländern sind, schlagen wir eine Erhöhung für die neuen Länder mit der Maßgabe vor, daß sich der Bundesminister für Wirtschaft zugleich im Planungsausschuß dafür einsetzt, erstens, die Mittelvergabe an die Zahl der zu schaffenden und umzugestaltenden Arbeitsplätze weitaus stärker als bisher zu koppeln, und zweitens, Treuhandbetriebe in die Fördermaßnahmen der Gemeinschaftsaufgabe einzubeziehen.Auf dieser Grundlage könnten in den Ländern und Regionen die konkreten Erfordernisse an Beschäftigung und wirtschaftliche Entwicklung verflochten und konkrete Lösungen erreicht werden. Dieses Ziel ist aber ohne mehr Investitionen nicht zu verwirklichen. Die Bruttoanlageinvestitionen haben 1991 in den neuen Ländern 72 Milliarden DM erreicht. In den alten Ländern waren es 570 Milliarden DM. Bezogen auf die Zahl der Einwohner waren die Investitionen in den neuen Ländern nur etwa halb so hoch wie im früheren Bundesgebiet. Das heißt, die Investitionen in den neuen Ländern hätten statt der getätigten 72 Milliarden DM 140 Milliarden DM betragen müssen, allein um zu verhindern, daß sich der Abstand in der Kapitalausstattung je Kopf der Bevölkerung vergrößert. Der hohe Nachholbedarf in der Kapitalausstattung, unter anderem für den ökologischen Umbau der Wirtschaft, ist dabei noch nicht einmal berücksichtigt. Die Wirtschaftspolitik hat also hier keine Lösung gebracht.Zu den Arbeitsplatzsubventionen: Zur Sicherung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze in den neuen Ländern sollten für einen Übergangszeitraum Arbeitsplatzsubventionen gewährt werden. Die im Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft enthaltenen Mittel zur Förderung der betrieblichen Investitionen und wirtschaftsnahen Infrastruktur im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" reichen nicht aus, um die Massenarbeitslosigkeit zu überwinden. Es wird vorgeschlagen, Mittel für Arbeitsplatzsubventionen bereitzustellen.Die Vergabe von Lohnsubventionen sollte an die noch nicht privatisierten Wirtschaftsunternehmen der Treuhand und an Firmen mit Stammsitz in den neuen Ländern, also vor allem an kleinere und mittlere Betriebe, also zur Förderung des Mittelstandes und an das private Handwerk erfolgen.Bei diesem Vorschlag lassen wir uns von folgendem leiten: Die Förderung der betrieblichen Investitionen berücksichtigt unzureichend das Erfordernis, in den neuen Ländern Arbeitsplätze umzugestalten und wettbewerbsfähig zu machen. Aus der Gestaltung der Fördermaßnahmen erfolgt zwangsläufig eine relativ stärkere Unterstützung von Betriebsstätten mit hohem
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Dr. Fritz Schumann
vergegenständlichten Kapitalanteil und relativ weniger Arbeitsplätzen. Nicht wenige Mittel der investiven Förderung fließen auch zurück, wie uns und Ihnen sicher auch bekannt ist.Um der Vernichtung von vorhandenem Produktionspotential entgegenzuwirken, sollten zeitlich befristete, rückläufige Lohnsubventionen gewährt werden. Die Beschäftigten der begünstigten Bereiche und Betriebe sollten eine Grundförderung als Prozentsatz der tariflichen Grundvergütung erhalten. Bei arbeitsmarktpolitischen Problemgruppen können zusätzliche Sonderregelungen vorgesehen werden. Lohnkostenzuschüsse sind auch in den alten Ländern ein akzeptiertes arbeitsmarktpolitisches Mittel.Wir fordern die Bundesregierung auf, den ostdeutschen Unternehmen die Chance zu wirtschaftlichem Erfolg durch staatliche Zuschüsse zu geben. Zur Zeit wird über Leben und Tod von Betrieben nach Geschmack eines Treuhandsachbearbeiters entschieden. Für den Staat und damit den Steuerzahler wird der jetzt eingeschlagene Weg der Finanzierung von immer mehr Arbeitslosigkeit letztlich nicht nur so teuer, daß dafür das Geld nicht mehr aufzubringen ist, auch politische Instabilität kann wohl nicht das Ziel vernünftig denkender Menschen sein.Danke schön.
Als nächster spricht der Abgeordnete Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir erleben diese Woche eine Woche der pauschalen Fehlereingeständnisse, ohne daß mal einer konkret benannt wird. Und ohne Polemik, Herr Lühr — ich sehe ihn gar nicht mehr —
— Das scheinen Sie offenbar als das Bessere zu empfinden, Herr Schäuble.
Ohne Polemik: Die Worte von Herrn Krause verlangen doch einigen Widerspruch. Ich folge Ihnen, Herr Krause, daß der neuralgische Punkt nicht das Fehlen von Geld ist, sondern ich glaube, eher Gedächtnisschwund. Dafür ist Ihre Rede ein klassischer Beleg. Ich glaube, daß Phantasie- und Konzeptlosigkeit momentan die Schlüsselbegriffe dieser Mangelsituation sind, in der wir uns befinden. Und offenbar haben Sie völlig verdrängt, ähnlich wie Herr Diestel, daß Sie damals mit rasanter Geschwindigkeit, von Ihrem heutigen Freund und damaligen Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble
souffliert, einen Einigungsvertrag ausgehandelt haben, der völlig an den souveränen Volksvertretungen vorbeigeschlenzt worden ist, einen Einigungsvertrag, der immerhin ein ganzes Volk zu Habenichtsen gemacht hat, der unsere Vergangenheitsaufarbeitung verstellt hat, Herr Krause, und der unsere Erfahrungen zertrümmert hat, bevor wir sie überhaupt sortieren
konnten und, Herr Krause, der natürlich auch das Selbstwertgefühl vieler Menschen verletzt hat, die sich heute in dieser Ambivalenz zwischen Aggression und Resignation befinden.
Herr Abgeordneter Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäuble?
Herr Kollege Schulz, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir im Jahre 1990 vor und nach jeder Verhandlungsrunde bei den Verhandlungen über den Vertrag zur deutschen Einheit den gemeinsamen Ausschuß beider Parlamente für deutsche Einheit mit dem Verhandlungsstand, mit den Vorlagen für die nächsten Verhandlungsrunde befaßt haben, und sind Sie bereit, deswegen Ihre Aussage, daß der Einigungsvertrag an den Volksvertretungen „vorbeigeschlenzt" worden sei, unter diesem Gesichtspunkt noch einmal zu überprüfen?
Ich bin gerne bereit, meine Aussage zu überprüfen, Herr Schäuble. Aber ich bin selbst Mitglied dieses Ausschusses Deutsche Einheit gewesen, und ich weiß, daß dieser Vertrag ein Beamtenwerk war. Dieser Ausschuß hatte nicht den geringsten Einfluß darauf. Sie haben sicherlich ein Kunststück zustande gebracht, daß Sie 40 Jahre Rechtsgebungsgeschichte der Bundesrepublik in kürzester Zeit in, einen Band gepreßt haben. Aber ich glaube, daß es die Menschen in der DDR — so hieß das ja wohl — völlig überfordert, dieses komplizierte Regelwerk, das hier in der Bundesrepublik entstanden ist, in derartiger Kürze und Rasanz aufzunehmen. Eine Volksvertretung hat einem Vertrag zugestimmt, dessen Entstehung sie in keiner Weise verarbeiten und verdauen konnte.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage? — Ja.
Herr Kollege Schulz, sind Sie dann auch bereit, dem Plenum zu bestätigen, daß an der Verhandlungsdelegation der damaligen DDR unter der Führung von Staatssekretär Günther Krause alle Fraktionen der Volkskammer beteiligt waren? Und sind Sie, zweitens, bereit, dem Deutschen Bundestag auch zu bestätigen, daß der Zeitdruck für die Verhandlungen im wesentlichen darin bestand, daß die Menschen in der damaligen DDR nach der Öffnung der Mauer nicht mehr unter den Verhältnissen der damaligen DDR weiterleben wollten, was sich insbesondere in einer dramatisch ansteigenden Zahl von Übersiedlern ausgedrückt hat?
Herr Dr. Schäuble, ich bin nicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß an der Verhandlungsdelegation des Herrn Dr. Krause alle Fraktionen beteiligt waren. Das ist nicht der Fall. Unsere Fraktion ist nicht beteiligt gewesen. Vielleicht ist es eine kleine Frak-
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tion gewesen, aber von der Kreativität durchaus beachtlich, denke ich.Der zweite Teil: Die Menschen aus der damaligen DDR und den heutigen neuen Bundesländern kommen nach wie vor zur D-Mark, und zwar dort, wo sie mehr D-Mark verdienen können. Sie wissen genau so gut wie ich, daß diese Binnenwanderung, das, was damals als Republikflucht immerhin noch so schlimm benannt worden ist, anhält, und daß nach wie vor Regionen ausbluten, weil das Humankapital, die jungen Menschen, dort nicht bleiben, weil sie Perspektivlosigkeit vor Augen sehen.Das zweite Moment sehen Sie als sehr dringend an. Sie hatten ja zwei Argumente, ein außenpolitisches und ein innenpolitisches Argument. Das außenpolitische Argument — ich bin auch gern bereit, mit Ihnen darüber zu diskutieren — ist ebenso haltlos wie das innenpolitische Argument. Ich glaube — um meine Meinung dazu zu sagen —, es ging in diesem Moment eher um die Chance, Ihre Macht zu konsolidieren. Denn ich glaube, die Regierung Kohl — ich kann das nicht so gut einschätzen wie sie — war im Sommer 1989 auf einem Tiefpunkt, und es stand eine Machtablösung eher hier in der Bundesrepublik bevor. Ihnen ist die deutsche Einheit eigentlich wie ein überreifer Apfel in den Schoß gefallen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Krause? — Ja, bitte schön.
Würden Sie es akzeptieren, daß damals Herr Konrad Weiß, der Ihrer Fraktion angehört hat, versucht hat, in einer würdigen Form bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag die Interessen Ihrer Fraktion zu vertreten — —
— und in der Delegation war, so daß Ihre Behauptung vielleicht doch überdenkenswert ist, es wäre niemand aus Ihrer Fraktion beteiligt gewesen?
Nein, ich nehme es nicht zurück. Ich weiß, daß Konrad Weiß für den kulturellen Bereich eine Zuarbeit geliefert hat. Das ist richtig.
— Sie haben die Frage an mich gestellt, ob ich bereit bin, das zu überprüfen. Dazu bin ich natürlich sofort bereit, wenn es der Fall ist, daß in dieser Weise eine Beteiligung stattgefunden hat.
Aber es ändert überhaupt nichts an meiner Aussage,daß wir zu der Substanz dieses Einigungsvertrages sogut wie nichts haben beitragen können oder ändern können.
— Wenn Sie mir erlauben würden, meine Rede zu beginnen, würde ich das auch tun, Herr Graf Lambsdorff.Gestern waren Betriebsräte und Gewerkschafter aus verschiedenen Treuhandbetrieben in Bonn, um gegen den Niedergang ihrer Betriebe zu protestieren. Sie haben uns erzählt, daß Herr Möllemann ihnen zugesichert hat, heute in seiner Haushaltsrede auf ihre Forderung einzugehen, und insbesondere die Forderung nach Mitbestimmung bei der Privatisierung zu unterstützen.Die optimistischen Prognosen, denen zufolge der Aufschwung Ost ständig unmittelbar bevorsteht, begleiten uns nun schon seit zwei Jahren. Aber die Lage ist unverändert schlecht, und was die Industrie angeht, wird sie immer noch schlechter. Nach den jetzt vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Zahlen ist das Bruttoinlandsprodukt der neuen Bundesländer im zweiten Halbjahr 1991 gegenüber dem Vergleichszeitraum 1990 noch einmal drastisch um 11,4 % geschrumpft. Es werden Jahre vergehen, bis Ostdeutschland nur den Stand des Sozialprodukts der DDR von 1989 wieder erreichen kann.Die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind alles andere als günstig für einen Aufschwung in Ostdeutschland. Von einer Wachstumsrate von 10 kann keine Rede sein. Hierzu trägt auch die Hochzinspolitik der Bundesbank in erheblichem Maße bei. Auch wenn die Verantwortung der Bundesregierung mit ihrer Schuldenpolitik für diese Politik offensichtlich ist, habe ich doch erhebliche Zweifel, ob diese mit starrem Blick auf die Geldmenge fixierte Geldpolitik den Auftrag des Bundesbankgesetzes angemessen umsetzt.Der Abbau von Arbeitsplätzen wird unbeirrt fortgesetzt, und immer noch ist die Arbeitsplatzbilanz negativ. Immer noch gehen Monat für Monat mehr Arbeitsplätze verloren als neue entstehen.Auf zwei Konsequenzen dieser Entwicklung möchte ich Sie hinweisen. Erstens. Je länger dieser Zustand andauert, desto mehr qualifizierte Menschen werden die ostdeutschen Länder noch verlassen, desto schwieriger und komplizierter wird der Aufbauprozeß werden.Zweitens. Es ist schon absehbar und auch schon verschiedentlich vorgerechnet worden, daß die Angleichung der Wirtschaftskraft von Ost- und Westdeutschland nicht in ein paar Jahren zu bewältigen ist, sondern einen Zeitraum, der weit über das Jahr 2000 hinausreicht, in Anspruch nehmen wird. Es handelt sich um eine Generationsaufgabe.Vom Aufschwung Ost ist nichts zu sehen. Ein Grund dafür, der immer wieder genannt wird, sind die unklaren Eigentumsverhältnisse und die verwirrenden Eigentumsregelungen. Die Folge davon ist jedoch nicht nur, daß Grundstücke und Gebäude häufig blockiert sind, für Investitionen nicht zur Verfügung
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stehen, sondern ebenfalls, daß die Bürger im Osten größtenteils zu Habenichtsen gemacht worden sind. Selbst wenn Sie über Eigentum verfügen, ist es oft mit dem Stempel „Eigentumsverhältnisse ungeklärt" markiert und steht somit als Sicherheit für Bankkredite nicht zur Verfügung. Daran scheitern viele gute Ideen für Projekte und Existenzgründungen.Vergleichbare Probleme haben auch viele kleine und mittlere Unternehmen, die unterkapitalisiert sind und deswegen vorhandene Fördermittel nicht optimal in Anspruch nehmen können. Wir halten deswegen die Einrichtung eines staatlich geförderten Risikokapitalfonds für dringend notwendig, der privates Kapital für Investitionen im Osten mobilisiert.Von den Treuhandunternehmen bleibt nach ihrer Privatisierung häufig viel zuwenig übrig. Die Privatisierungsbilanz der Treuhandanstalt ist zudem offenbar mit Vorbehalt zu lesen. Wenn die Treuhandchefin erklärt — so der „Spiegel" —, von den vertraglich zugesagten Arbeitsplätzen würden 20 % bis 30 % von den Käufern schlicht nicht beibehalten, dann werden aus 1,3 Millionen zugesagter Arbeitsplätze im Handumdrehen nur noch etwas mehr als 900 000. Die von der Treuhand privatisierten Unternehmen bilden ein beängstigend schwaches Rückgrat der ostdeutschen Volkswirtschaft.Meine Damen und Herren, eine Politik der Investitionsförderung mit der vielbesagten Gießkanne ohne deutliche regionale und strukturelle Schwerpunktbildung, ohne ausreichende Förderpräferenz bewirkt nicht, was sie bewirken soll, ist ineffizient, deshalb zu teuer und auf die Dauer nicht durchzuhalten. Wir müssen hier bald zu einer Konzentration der Kräfte auf die besonders benachteiligten Regionen, auf die Förderung von Infrastrukturen und auf Investitionen in eine zukunftsweisende ökologische Wirtschaft, auf Forschung und Entwicklung auf diesem Felde sowie auf Produktinnovation kommen.Es zeichnet sich aber bereits ab, daß die Bundesregierung, indem sie nun das Aufschwung-Ost-Programm in die verschiedenen Einzelpläne integriert, eine unauffällige Beerdigung dieses Programms vorbereitet. Nach unserer Überzeugung muß es jedoch darum gehen, dieses Programm auf die Förderung der ostdeutschen gewerblichen Wirtschaft zu konzentrieren. Nach Aussagen des mittelständischen Unternehmerverbandes fehlen 45 000 mittelständische Betriebe in Ostdeutschland — das ist sicher eine verheerende Konsequenz einer gescheiterten, angeblich sozialistischen Wirtschaftspolitik —, und für die wenigen mittelständischen Betriebe, die wir in den neuen Ländern haben, sieht es nicht gut aus. So läßt z. B. der Wirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern, ein Mittelständler, den begehrten Schnaps seines Rostocker Betriebes mittlerweile in Hamburg produzieren und unterhält in Rostock nur noch eine Handelsfiliale. Das ist ein geradezu symbolisches Beispiel für die eigentlich nur als Ladentisch fungierende verlängerte Werkbank.Meine Damen und Herren, wenn die Bundesregierung ihre eigenen Erklärungen ernst nimmt — was sie offenbar leider nicht tut —, müßte sie schleunigst darangehen, ein Konzept für einen ökologischen Wirtschaftsstrukturwandel zu entwickeln und inihren Förderinstrumenten zu verankern. Mit ihren Beschlüssen zur CO2-Reduktion und der Klimakonvention von Rio hat sie sich auf eine radikale Abkoppelung des Energieverbrauchs vom Wirtschaftswachstum verpflichtet. In ihrer tatsächlichen Politik schert sie sich aber wenig darum. Dabei wäre es jetzt, in der Zeit der Umstrukturierung, dringend geboten, diesen Strukturwandel zukunftsorientiert, d. h. ökologisch, zu gestalten.Nur umweltverträgliche Arbeitsplätze werden in Zukunft auch wettbewerbsfähige Arbeitsplätze sein. Die Regionen, die im ökologischen Wirtschaften vorn sind, werden mit ihrem Know-how in dieser Schlüsseltechnologie besondere Wettbewerbspositionen auf den Weltmärkten gewinnen. Das ist der entscheidende Punkt. Das beste Förderkonzept kann nur greifen, wenn die ostdeutsche Wirtschaft für ihre Produkte auch Märkte gewinnt. Hier liegt eindeutig das Hauptproblem. Viele Unternehmen haben lange auf eine Erholung der Ostmärkte gesetzt, auf Hermes-Kredite, auf die Wiederbelebung von Kompensationsgeschäften. Doch es wird immer deutlicher, daß die Lösung der Probleme nicht in erster Linie hier zu suchen ist.Das bedeutet: Auf Dauer werden nur die Unternehmen überleben, die auf den Märkten im Westen, in der alten Bundesrepublik, in der EG und darüber hinaus, Tritt fassen und Marktanteile erobern können. Hier sind die Unternehmen hauptsächlich selbst gefordert, für Qualitätssteigerungen, Produktinnovationen und Marktnähe zu sorgen.Doch das alles nützt wenig, wenn die Politik den Ostunternehmen, wo immer möglich, nicht eine Bresche in den westlichen Markt schlägt. Wir wissen, daß die westdeutsche Industrie ohne weiteres in der Lage ist, mit den bestehenden Produktionskapazitäten ganz Ostdeutschland mitzubeliefern. Wir vermuten auch, daß die Bundesregierung unter einem Solidarpakt nicht die freiwillige Aufteilung der Märkte zwischen west- und ostdeutschen Anbietern versteht. Kaum ein Gedanke wäre absurder als der, von den westdeutschen Unternehmen zu erwarten, daß sie freiwillig auf Marktanteile zugunsten ostdeutscher Arbeitsplätze verzichten. Weil das so ist, muß die Politik nachhelfen. Unausgeschöpfte Möglichkeiten dafür gibt es, z. B. bei den öffentlichen Beschaffungen. Hier fordern wir seit langem die Einführung von Local-content-Klauseln, desgleichen bei den öffentlichen Förderungen von Investitionen. Auch hier muß von den Investoren ein bestimmter Anteil der geförderten Investitionen aus ostdeutscher Produktion beschafft werden.Vor einigen Tagen forderte Professor Hankel in einem Beitrag für das „Handelsblatt" ein langfristig konzipiertes Programm der Export- und Entwicklungsfinanzierung mit einer strikten „Buy in East Germany"-Klausel, ein Vorschlag, der auch vom alten und neuen BDI-Präsidenten Tyll Necker kommt: Osteuropahilfe mit Ostprodukten. Es ist auch viel vernünftiger, in Ostdeutschland produzierte Waren zu kreditieren, die in Osteuropa schon auf Grund der früheren Handelsbeziehungen benötigt werden, als den Ländern Kredite zu gewähren, die sie ohnehin kaum zurückzahlen können. Aber offenbar hat die
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Bundesregierung aus dem schiefgelaufenen Wohnungsbauprogramm für die abziehende Rote Armee nichts gelernt.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht der Bundesminister für Wirtschaft, Herr Möllemann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Mit Skepsis, Maß und Balance hat alles Nachdenken über die öffentlichen Dinge zu tun", schreibt Joachim Fest in seiner kleinen Schrift „Der zerstörte Traum — Vom Ende des utopischen Zeitalters". Die Bürger in den neuen Bundesländern haben erlebt, wie die Utopie einer sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zusammengebrochen ist. Viele haben aktiv daran mitgewirkt, das Zwangsregime abzuschütteln. Sie haben sich großen Gefahren ausgesetzt, ohne zu wissen, ob die Revolution friedlich abläuft und welche Umwälzungen über sie hereinbrechen. Niemand konnte ahnen, daß der Weg schon innerhalb eines Jahres in die deutsche Einheit führen würde.Die deutsche Einheit zu gestalten ist eine einzigartige Herausforderung und Chance für alle Deutschen. Diese faszinierende Aufgabe hat zunächst eine Aufbruchstimmung ausgelöst und neue Kräfte freigesetzt. Die deutsche Einheit hat aber auch Erwartungen und Hoffnungen geweckt, die wieder gedämpft worden sind. Zu sehr waren in den neuen Ländern die Infrastruktur und die Kapitalausstattung der Wirtschaft heruntergekommen. Zu groß war der Abstand zum Weltstandard. Zu weit hatte die Kommandowirtschaft Eigeninitiative und verantwortliches Handeln zurückgedrängt. Die private Eigentumsordnung war zerstört. Eine auf demokratische und marktwirtschaftliche Grundsätze ausgerichtete Verwaltung gab es nicht mehr. Das ganze Ausmaß dieser schwierigen Ausgangsbedingungen wurde erst nach und nach sichtbar.Die Währungsumstellung war für die Menschen, die Bargeld und Sparguthaben hatten, für die Arbeitnehmer und Rentner, die D-Mark-Bezüge erhielten, ein hoffnungsvoller Einstieg. Für die Wirtschaft war sie ein Aufwertungsschock. Die folgenden Lohnsteigerungen von mehr als 20 % jährlich verschärften das Wettbewerbsproblem und den Rückgang der Produktion, insbesondere der im internationalen Wettbewerb stehenden industriellen Produktion. Solche schockartigen Kostensteigerungen hätten jede leistungsfähige Volkswirtschaft in eine schwere Krise gestürzt.Der Bund hat den neuen Bundesländern und ihren Kommunen eine finanzielle Anfangsausstattung gewährt und das in Westdeutschland bewährte soziale Netz auf die neuen Länder übertragen. Er hat Altlasten übernommen, sich am Verwaltungsaufbau beteiligt und vor allem ein ganzes Paket an Maßnahmen finanziert, um Wettbewerbsnachteile auszugleichen und den wirtschaftlichen Aufschwung einzuleiten. Einzelne wirtschaftliche Erfolge sind inzwischen eingetreten. Aber von einem selbsttragenden Wachstumsprozeß sind die neuen Bundesländer noch weit entfernt.
Gut zwei Jahre nach der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und knapp zwei Jahre nach dem Einigungsvertrag hat die deutsche Wirtschaft als Ganzes eine kritische Phase erreicht. Das Wachstum in Ostdeutschland fällt geringer aus als erwartet. In Westdeutschland stagniert die Wirtschaft. Die meisten Konjunkturindikatoren zeigen nach unten. Die erwartete Entlastung über den Export ist noch nicht greifbar.Es besteht die Gefahr einer anhaltenden Überforderung des gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögens. Die Summe der Ansprüche ist erheblich über das Verteilbare, also über den Wert der produzierten Güter und Dienstleistungen, hinausgegangen.In den neuen Bundesländern haben sich die Ansprüche völlig von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gelöst. Die angestrebte schnelle Angleichung an westdeutsche Sozial- und Lohnstandards könnte nur durch ein Zurückstecken dieser Standards in Westdeutschland erreicht werden. Letzteres ist nicht eingetreten. Im Gegenteil, auch in Westdeutschland gingen die Lohnsteigerungen deutlich über den Produktivitätszuwachs hinaus. Die staatlichen Leistungen zugunsten der neuen Bundesländer wurden nur zu einem geringen Teil durch Ausgabenkürzungen im Westen finanziert,
hauptsächlich durch zusätzliche Verschuldung. Die hartnäckigen Versuche, liebe Kolleginnen und Kollegen, die einfache Grundregel außer Kraft zu setzen, wonach nicht mehr verteilt werden kann als produziert wird, haben zu steigenden Preisen, zu hohen Lohnstückkosten und zu hohen Zinslasten geführt.
Die internationale Wettbewerbsfähigkeit auch der westdeutschen Wirtschaft ist gefährdet. Ein weiteres Abgleiten der westdeutschen Konjunktur würde nicht nur den Transferleistungen für Ostdeutschland die Basis entziehen, sondern auch die Investitionen in Ostdeutschland blieben dann weitgehend aus.
Das wäre eine fatale Entwicklung, durch die viele Menschen in Hoffnungslosigkeit gestürzt würden. Wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Zerreißproben wären die Folge.Meine Damen und Herren, die Warnlampen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sind nicht zu übersehen. Jetzt kommt es darauf an, eine Negativspirale zu verhindern und die Wachstumskräfte zu mobilisieren. Der selbstzerstörerische Verteilungskampf muß durch den gemeinsamen Willen ersetzt werden, die Konjunkturschwäche schnell zu überwinden, die neuen Bundesländer wieder aufzubauen, die wirtschaftlichen Chancen der Deutschen Einheit zu
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Bundesminister Jürgen W. Möllemannnutzen und damit die sozialen und ökologischen Bedingungen zu verbessern.Daraus ergeben sich konkrete Folgerungen für die Politik, aber auch für die gesellschaftlichen Gruppen:Besonders dringend ist die Überwindung der Konjunkturschwäche. Wir brauchen wieder Wachstum. Voraussetzung für Investitionen in den neuen Bundesländern sind expandierende Unternehmen. Deshalb müssen die Wettbewerbsbedingungen der Unternehmen verbessert werden. Ein wichtiger Schritt dahin ist die von mir mehrfach geforderte und von Herrn Kollegen Dr. Waigel skizzierte vorgelegte Unternehmensteuerreform. Auch wenn über einige Details noch gesprochen werden muß, wichtig ist, daß Einigkeit darin besteht, diese Reform jetzt sofort in Angriff zu nehmen.
Meine Damen und Herren, diese Steuerreform allein reicht aber nicht. Die Qualität des Standorts Deutschland muß insgesamt verbessert werden, um mehr Investoren zu gewinnen. Deshalb muß die Reform des Steuersystems weitergehen. Die Gewerbekapitalsteuer und die Vermögensteuer müssen aus meiner Sicht abgeschafft werden, weil sie auch dann zu zahlen sind, wenn ein Unternehmen keine Erträge erwirtschaftet.
Selbstverständlich brauchen die Kommunen einen Ausgleich, sei es über die Mehrwertsteuer, sei es über die Mineralölsteuer.Meine Damen und Herren, die Prüfungs- und Genehmigungsverfahren für Investitionen müssen verkürzt werden — und nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Westdeutschland.
Die Genehmigung einer größeren chemischen Anlage dauert in Belgien 13 Monate, in Japan 20 Monate und bei uns 70 Monate. Das Gentechnikgesetz und die zugehörigen Rechtsverordnungen müssen novelliert werden, damit die deutsche Biotechnologie eine Chance auf dem Weltmarkt bekommt.
Die Schul- und Studienzeiten müssen verkürzt werden, damit Hochschulabsolventen mit 25 und nicht erst mit 30 Jahren in den Beruf hineinkommen
und ihr Innovationspotential früher in die Wirtschaft einbringen können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hilft alles nichts, wir müssen kurzfristig eine Antwort darauf geben, wie die Finanzierung der deutschen Einheit zu bewältigen ist.
— Frau Kollegin, Sie reden hier über alles, worüber Sie reden wollen. Ich glaube nicht, daß Ihnen einer den Mund verbieten kann.Wir brauchen Vertrauen in die Finanzentwicklung. Der vorgelegte Haushalt und die mittelfristige Finanzplanung sind dafür eine gute Grundlage. Die Nettoneuverschuldung ist in den letzten beiden Jahren kräftig gestiegen. Gemessen am Bruttosozialprodukt war sie aber nicht höher als zu Beginn der 80er Jahre. Wenn es einen Grund für eine höhere Verschuldung gibt, dann ist das wohl die Jahrhundertaufgabe und -chance, die deutsche Einheit zu vollziehen. Trotzdem, wir sind an der Grenze der Belastungsfähigkeit.
Die Zinslast im Bundeshaushalt steigt weiter und schränkt unsere Handlungsmöglichkeiten ein. Eine Vielzahl von Haushaltsrisiken kann zu stärkeren Belastungen führen. Das gilt insbesondere bei einer ungünstigen Entwicklung der Konjunktur. Deshalb sind klare Signale erforderlich.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wieczorek?
Ich möchte den Gedanken zu Ende führen. Dann tue ich das gerne.Das Tempo der zusätzlichen Verschuldung muß gebremst werden. Auf allen Ebenen, also bei Bund, Ländern und Gemeinden, auch bei allen Nebenhaushalten, müssen die Ausgaben eingeschränkt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir werden uns im Haushaltsverfahren zwischen erster und dritter Lesung mit Ruhe, aber auch großer Entschlossenheit damit zu befassen haben, die öffentlichen Ausgaben zu durchforsten. Ich setze darauf, daß das nicht nur hier geschieht, sondern auch in den Ländern und in den Kommunen.
Ich finde es nicht akzeptabel, wenn Bundesländer mit einer im Vergleich zu anderen Ländern wirklich boomenden, kräftigen Wirtschaft wie in Bayern den Vorgaben des Finanzplanungsrates, nicht mehr als 3 %ige Zuwächse, einfach nicht entsprechen wollen. Wer soll es denn tun, wenn nicht solche Länder? Ich appelliere deswegen an die Bayerische Staatsregierung, aber auch an die anderen Länderregierungen, diese Eckwerte einzuhalten.
Ich will klar sagen, meine Damen und Herren: Dieses Ziel, die Konsolidierung der Staatsfinanzen, ist so wichtig, daß wir bei Bund und Ländern, wenn es gar nicht anders geht, wenn die gezielte Kürzung das Ergebnis nicht bringt, den gleichen Weg werden gehen müssen, wie wir ihn mit großem Erfolg Anfang der 80er Jahre gegangen sind, nämlich die Belastung der Wirtschaft mit Steuern zu senken — das machen wir jetzt — und gleichzeitig kräftig zu sparen — ob-
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Bundesminister Jürgen W. Möllemannwohl manche das als einen Widerspruch empfinden —, und zwar am besten durch gezielte Aktionen. Notfalls muß man Bund und Ländern auch den Weg über ein Haushaltsstrukturgesetz offenhalten, wenn kein anderer Weg gangbar ist.Meine Damen und Herren, die Diskussion um eine Zwangsanleihe, eine Deutschland-Anleihe, eine Ergänzungsabgabe und ähnliche Vorschläge ist erfolgt. Sie muß möglichst schnell durch eine klare Orientierung beendet werden.
Die Zeiten, in denen die Bundesregierung ohne Gefahren für die gesamte Wirtschaftsentwicklung zusätzliche Belastungen übernehmen konnte, sind vorbei. Jede zusätzliche Kreditaufnahme drückt die Kapitalzinsen noch oben und verhindert eine Zinssenkung. Jede zusätzliche Kreditaufnahme verschiebt die Belastungen in die Zukunft.Liebe Kolleginnen und Kollegen, da es also offenbar nötig ist, für längere Zeit höhere Beträge für die neuen Bundesländer bereitzustellen — und jeder, der sich vormacht, das sei nicht so, täuscht sich —, setze ich mich für folgende eindeutige Rangfolge in den Beratungen, die vor uns stehen, ein:Erstens. Einsparungen in allen öffentlichen Haushalten und Privatisierung der öffentlichen Unternehmen, Beteiligungen, aber auch Leistungen.Zweitens. Umschichtung weiterer Mittel von West nach Ost.Drittens. Soweit es sich um konjunkturbedingte Defizite handelt, müssen sie hingenommen werden.Viertens. Nur als Ultima ratio kann eine Steuererhöhung in Betracht gezogen werden, dann jedoch als saubere Finanzierung, die die Steuerpflichtigen nach ihrer Leistungsfähigkeit heranzieht.Über ein geeignetes Gesamtpaket sollten wir im Rahmen des Solidarpaktes, der sich auch mit der Finanzierung der Einheit beschäftigen muß, Einvernehmen erzielen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den neuen Bundesländern verläuft die wirtschaftliche Umstrukturierung trotz vieler hoffnungsvoller Entwicklungen noch nicht befriedigend. Insgesamt ist die Anzahl der Beschäftigten um rund vier Millionen zurückgefallen; die Entlassungen übersteigen immer noch die Neueinstellungen.Im letzten Jahr lagen die Ausgaben in den neuen Bundesländern mit knapp 360 Milliarden DM fast doppelt so hoch wie das Bruttosozialprodukt mit 195 Milliarden DM. Die Schere zwischen Nachfrage und wirtschaftlicher Leistung wird sich in diesem Jahr, insbesondere auf Grund der Lohn- und Rentensteigerungen, weiter öffnen. Die Abhängigkeit vom Westen nimmt also weiter zu.Auch der Abstand in der Kapitalausstattung vergrößert sich noch; denn die Investitionen je Erwerbstätigen lagen 1991 in Ostdeutschland nur bei 60 % des Niveaus in Westdeutschland. Das bedeutet: Beschäftigung, Produktion und Produktivität müssen in den neuen Bundesländern massiv verbessert werden, bevor die wirtschaftliche Leistungskraft gegenüber dem westdeutschen Niveau aufholt. Das bedarf einer großen Kraftanstrengung aller verantwortlichen Gruppen und der Menschen in den neuen Bundesländern, aber vor allem auch einer anhaltenden Unterstützung aus Westdeutschland; das bedarf eines Solidarpaktes.Der Aufbau der Infrastruktur und die Sanierung von Umweltschäden werden noch über viele Jahre ein Schwerpunkt der westlichen Hilfe sein müssen. Die neuen Länder und Kommunen müssen in großem Maße und entschlossen Infrastrukturaufgaben auf Private übertragen, insbesondere im Wasser- und Abwasserbereich, bei der Abfallbeseitigung und im öffentlichen Personennahverkehr. Meine Damen und Herren, sie können das nicht alles aus eigener Leistungskraft. Ich hoffe, daß nicht westliche Berater ihnen zuraten — nur damit Parteiposten in entsprechenden städtischen Einrichtungen vergeben werden können —, das alles zu kommunalisieren.
Die Effizienzsteigerung der Verwaltung — darüber wurde hier gesprochen, dazu hat mein Kollege Hermann Otto Solms sehr dezidierte Vorschläge gemacht — ist eine vordringliche, sogar die vordringliche Aufgabe, damit insbesondere die Eigentumsfragen schneller geklärt und die Planungs- und Genehmigungsverfahren vereinfacht und beschleunigt werden können.Bei diesem Thema hat man manchmal das Gefühl, als sei man in der Rolle des Sisyphus: Wir kommen nicht schnell genug voran und schieben Verantwortlichkeiten zu sehr von einer Ebene auf die andere. Wenn es denn mit Blick auf den Solidarpakt eine vordringliche Aufgabe gibt, dann die, hier endlich den Knoten durchzuhauen.Das schwierigste Feld, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Unterstützung der wirtschaftlichen Erneuerung im Zusammenspiel mit den Ländern, den Investoren, den Tarifparteien und der Treuhandanstalt. Ohne Zweifel muß die Investitionsförderung durch Investitionszuschüsse und -zulagen, durch ERP-Darlehen und das Eigenkapitalhilfeprogramm auf hohem Niveau fortgesetzt werden.Ostdeutsche Unternehmensgründer, die nicht die gleiche Eigenkapitalausstattung haben wie die in Westdeutschland, die Schwierigkeiten mit der Besicherung haben, wollen wir daher mit einem neuen, zusätzlichen Instrument fördern. Mir scheint das notwendig zu sein; Günther Krause hat vorhin darauf hingewiesen.
Außerdem muß Ostdeutschland vorläufig ein Niedrigsteuergebiet sein. Die Sonderabschreibungen und die Aussetzung der Gewerbekapital- und Vermögensteuer müssen, so wie die anderen Fördermaßnahmen, zunächst bis 1996 verlängert werden. Die Abschreibungsvorteile sollen mit der Steuerreform noch verstärkt werden.Es gibt weitere Forderungen. Gestern — als Björn Engholm rügte, daß ich nicht auf der Regierungsbank
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Bundesminister Jürgen W. Möllemannsaß — war ich nicht — wie er vermutete — mit der Pflege meines Images beschäftigt, sondern im Gespräch mit Betriebsräten und danach mit Karl Schiller und Tyll Necker,
um diese Diskussion vorzubereiten. Ich finde nicht, daß das kritikwürdig ist. Im Gespräch mit Schiller und Necker wurde deren Vorschlag einer Mehrwertsteuerpräferenz noch einmal präsentiert. Es gibt erhebliche Bedenken gegen diesen Vorschlag, gute Argumente dagegen, aber er wird mit Leidenschaft verfochten; wir werden im Rahmen des Gesprächs über den Solidarpakt darüber zu reden haben.Sowohl aus regionalpolitischen als auch aus sozialpolitischen Gründen muß versucht werden, liebe Kolleginnen und Kollegen, sanierungsfähige Betriebe und zumindest einen Teil der Beschäftigten über die Durststrecke des industriellen Umbaus zu bringen. Das Ziel, die Unternehmen zu privatisieren und sie zuvor — damit das möglich ist —, begleitend nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen, zu sanieren, ist richtig. Dabei ist es nötig, daß sich die Treuhandanstalt noch entschlossener um Sanierung bemüht und als Eigentümerin den Unternehmungen die erforderlichen zeitlichen und materiellen Spielräume gibt, um die notwendigen Modernisierungskonzepte durchzuführen.
Ich begrüße deswegen die Erklärung von Frau Breuel vom Montag, in der sie diese Absicht vorgetragen hat.
— — Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hat doch überhaupt keinen Zweck: Sie wissen, daß die Bundesregierung die Arbeit der Treuhand bei jeder sich bietenden Gelegenheit positiv gewürdigt hat. Aber es wäre doch unvernünftig, zu negieren, daß es in der praktischen Arbeit — wie bei der Bundesregierung, wie bei der Opposition — Stärken und Schwächen gibt. Uns muß es darum gehen, daß die Arbeit der Treuhand Akzeptanz findet. Sie hat in der Bevölkerung der neuen Länder — wie die AllensbachUmfrage ausweist — leider nur 6 % Zustimmung; das muß uns unruhig machen. Deswegen muß man auch vertretbare Verbesserungsvorschläge, neue Akzentsetzungen aufnehmen und umsetzen, und zwar in partnerschaftlicher Weise, wie wir es in der Vergangenheit getan haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Vorredner hat offenbar ebenfalls mit Betriebsräten gesprochen. Es trifft zu, was Sie, Herr Kollege Schulz, gesagt haben: Die schmerzhaften Einschnitte bei der Privatisierung und Sanierung sind für die Belegschaften oft nur sehr schwer zu verkraften, weil sie sehr häufig zu sehr hohen Anteilen abgebaut werden. Um so wichtiger, um so vernünftiger ist es, die Arbeitnehmer und ihre Vertreter, also die Betriebsräte, frühzeitig in die Überlegungen mit einzubeziehen, ihnen die Gelegenheit zu geben, ihre Belange zu artikulieren. Das berührt nicht die Eigentümerrechte und die Pflichten der Treuhandanstalt, aber es macht einfach Sinn, wenn man in Umbruchprozessen — wie wir es in Westdeutschland doch auch tun — rechtzeitig mit den Betriebsräten spricht. Ich halte es für vernünftig, wenn auch die Treuhandanstalt das tut.Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine entscheidende Mitverantwortung, sowohl für den Strukturumbruch in Ostdeutschland als auch für die Konjunktur in ganz Deutschland, tragen die Tarifparteien. In Deutschland fehlen mehr als fünf Millionen Arbeitsplätze. Nachdem die Tarifpartner — erfreulicherweise — über viele Jahre eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik betrieben haben, lösten sich die Lohnvereinbarungen in den letzten beiden Jahren von dieser vernünftigen Regel. In den neuen Bundesländern wurde das Ziel verfolgt, die Löhne in großen Schritten pauschal an das westdeutsche Niveau anzugleichen. Dadurch ist eine Lohn-Produktivitäts-Lücke von rund 64 % entstanden. Auch die in Westdeutschland stark gestiegenen Lohnstückkosten können auf Grund des scharfen internationalen Wettbewerbs nur teilweise über höhere Preise weitergegeben werden. Die Folgen sind verringerte Absatzchancen, eine nachlassende Investitionstätigkeit, unsichere Arbeitsplätze bis hin zu Freisetzungen in einzelnen Betrieben und Sektoren.Ich hoffe, daß die Tarifparteien vertretbare Wege finden, sich an den gesamtwirtschaftlichen Möglichkeiten zu orientieren. Den Arbeitnehmern in ganz Deutschland ist mehr damit gedient, wenn sie ihren Arbeitsplatz behalten oder einen neuen Arbeitsplatz bekommen können, als wenn sie bei zu schnell steigenden Löhnen zunehmend mit Arbeitslosigkeit konfrontiert werden.
Den Beschäftigten in Westdeutschland wird schon viel Sicherheit geboten, wenn sie das erreichte Einkommensniveau und den Lebensstandard jetzt halten können. Die Verständigung auf eine an der wirtschaftlichen Leistungskraft orientierte Lohnpolitik und auf eine restriktive Fiskalpolitik ist natürlich auch ein wichtiges Signal an die Bundesbank. Damit wäre dann der Weg für die dringend nötige Senkung der Leitzinsen zu ebnen.Die wirtschaftliche Situation, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine wichtige Grundlage unserer Debatten und Handlungen in der Zukunft. Aber wir dürfen dabei allein nicht stehenbleiben. Viele Ängste, Sorgen und Zweifel haben andere Ursachen. An die Stelle der Zwänge, der Einbindung und der Gängelung durch das alte System sind vielfach noch keine neuen gesellschaftlichen Strukturen getreten. Die neuen rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge sind nur schwer zu verstehen. Westdeutsche Verwandte, Freunde, Kollegen und Politiker nehmen die Nöte der Bürger in den neuen Ländern oft nur distanziert wahr. Nicht nur einige Jugendliche zweifeln an ihren Lebenschancen, am Staat und an den Politikern. Die aufflackernde Gewalt ist ein Ventil der Unzufriedenheit und der Wut dieser Menschen.
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8868 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Bundesminister Jürgen W. MöllemannDie Probleme können nicht vorrangig von der Polizei gelöst werden. Die in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Verantwortlichen müssen mit entschlossenem Handeln die Ursachen der Konflikte beseitigen. Wir alle müssen stärker aufeinander zugehen. Wir müssen so die deutsche Einheit endlich begreifen. Es ist Zeit für einen neuen Konsens. In einer gemeinsamen Anstrengung haben Politik und Tarifpartner, Regierung und Opposition, Arbeitgeber und Gewerkschaften 1990 die Rahmenbedingungen für die Einheit geschaffen und dabei auch Fehler gemacht. Wir müssen auch jetzt zusammenstehen, um gemeinsam aus diesen Fehlern zu lernen, zu verbessern, zu gestalten, was ja nach wie vor die spannendste Phase unserer Geschichte ist.Wolfgang Schäuble hat ein besonderes Verdienst an jenem parteiübergreifenden Konsens, der 1990 zur deutschen Einigung führte. Wenn er jetzt für Vorschläge eintritt, die aus seiner Sicht in diesem kritischen Jahr 1992 zu einem neuen Miteinander führen könnten, dann sehe ich hier bei aller Skepsis in der Sache die Fortsetzung seines großen Engagements für die deutsche Einheit.
Wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber zu einem neuen Konsens über Investivlöhne wie über ein zukunftssicherndes Miteinander bei der Modernisierung der Produktion und der Arbeitswelt finden, dann müssen auch Bund und Länder, dann muß die Politik insgesamt zu einem übergreifenden Konsens bereit sein.Wenn diese Debatte über den Haushalt 1993 zu Ende ist, wenn die legitime Kritik der Opposition zur Sprache gekommen ist, müssen wir uns zu einem neuen Anlauf zusammenfinden, gerade, was das Verfahren angeht.
Die demokratische Debatte muß in jedem Fall stattfinden. Wenn es uns gelingt, daß über Vorschläge debattiert wird, die wir angesichts einer wahrhaft historischen Herausforderung gemeinsam erarbeitet haben, wenn das Gesamtpaket zum neuen Konsens auf dem Tisch liegt, dann können Bürger und Medien auch ein klareres Bild gewinnen und durchaus kritisch das Für und Wider abwägen.Lassen Sie uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Solidarpakt gemeinsam versuchen, gemeinsam für die Zukunft der Bürger im vereinten Deutschland.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Roth.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser Debatte haben wir eine einzige entscheidende Aufgabe: Wir müssen Lösungen und Perspektiven bieten; wir dürfen nicht im dumpfen Streit zwischen den Parteien hier im Parlament steckenbleiben.Ich könnte mich sehr lange und intensiv mit den Irrtümern und mit den Fehleinschätzungen der Bundesregierung und der beiden Koalitionsparteien beschäftigen. Ich könnte Ihnen mit vielen Zitaten zeigen, daß Sie sich von Anfang an, seit dem wirtschaftlichen und sozialen Einigungsprozeß, prinzipiell geirrt haben, was die Zukunft betrifft.Die Bundesregierung redete 1990 auch in diesem Parlament vom Wirtschaftswunder Ost, das nunmehr komme, wenn die Marktwirtschaft pur schnell eingeführt werde. Sie redete dann 1991— abgeschwächt — vom Aufschwung Ost, der eintreten werde, wenn die Instrumente des Wirtschaftsministers und des Finanzministers wirkten.Heute redet der Wirtschaftsminister anders.
Das begrüße ich. Er redet in manchen Passagen so wie ich vor zwei Jahren. Das begrüße ich doppelt.
— Auf Ihren Zwischenruf hin will ich Ihnen einiges sagen. Es wird oft behauptet, wir alle hätten uns hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung geirrt. Ich sage noch einmal: Wir haben uns nicht geirrt, sondern Sie haben uns damals unsere Argumente bezüglich einer drohenden Wirtschaftskrise in Ostdeutschland, bezüglich der Dauerkrise, nicht abgenommen.
Ich stelle hier fest: Die wirtschaftspolitische Kompetenz in dieser Frage hat nicht bei der Regierung gelegen, sondern bei der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Wir haben von Anfang an die klareren Analysen gehabt und auch die besseren Antworten formuliert.
Die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland ist in tiefen Widersprüchen. In Westdeutschland hat man es nicht geschafft, den drohenden konjunkturellen Abschwung aufzuhalten. Man könnte ja das, was hier geschieht, als ganz normale Konjunkturschwäche deuten, die eben nach sieben oder acht Jahren einer positiven Konjunktur vorkommt.Aber unter heutigen Bedingungen sehe ich die Lage etwas kritischer, weil zusätzlich zum Abschwung West die anhaltende Krise der ostdeutschen Wirtschaft kommt, die auf Stabilisierung von außen und auf westliche Finanzierung des Wiederaufbaus angewiesen ist.Ich stimme meinem Vorredner übrigens auch in folgendem Punkt zu: Es macht überhaupt keinen Sinn — diese Überlegung ist teilweise im Osten, aber auch im Westen zu hören —, die beiden Seiten gegeneinander auszuspielen. Das weitere Blühen der west-
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Wolfgang Rothdeutschen Wirtschaft ist eine wichtige Voraussetzung des Erfolgs in Ostdeutschland.
Nach einer Halbierung der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Ostdeutschland während der letzten zwei Jahre gibt es zwar an der einen oder anderen Stelle eine gewisse Besserung, z. B. im Dienstleistungssektor, bei Handel, Banken und Versicherungen. Aber ich stelle die Frage, ob eine Wirtschaft gesunden kann, bei der nur Geldgeschäfte, Restaurants und Fremdenverkehr einigermaßen blühen.Wir müssen erkennen: Die Entindustrialisierung, die mit der Währungsunion begonnen hat, setzt sich immer noch weiter fort. Nach wie vor verlieren wir Arbeitsplätze im Bereich der Industrie, und zwar mehr, als neue hinzukommen. Das ist die Realität.Wir alle wissen aber, daß es im Osten auf Dauer nur gutgehen kann, wenn es dort eine exportfähige industrielle Basis gibt. Das Wort von der Dienstleistungsgesellschaft hat in der Vergangenheit sehr viele Mißverständnisse hervorgerufen. Eine moderne Dienstleistungsgesellschaft ohne moderne Industrie hat keine Zukunft. Das müssen wir erkennen. Das ist das Problem in Ostdeutschland.
Vor allem müssen wir die Lage realistisch einschätzen. Nächste Woche soll im Bundeskanzleramt ein Gespräch zum Solidarpakt stattfinden. Für mich ist entscheidend, daß wir bei diesem Gespräch, falls es stattfindet, von einer klaren und eindeutigen Bestandsaufnahme ohne Schönfärberei ausgehen können. Die Sozialdemokraten können nicht zu einem Plausch ins Kanzleramt gehen, wie es in Vergangenheit drei- oder viermal geschehen ist.
Ich habe einen Vorschlag: Wir brauchen jetzt gar kein gesondertes Papier zu erarbeiten, sondern wir nehmen die 12 Punkte, die die ostdeutschen CDU-Abgeordneten erarbeitet haben, und sagen: Das ist das Ausgangsmaterial; damit kann man etwas anfangen.
Ich hoffe, daß es den CDU-Kollegen in ihrer eigenen Fraktion nicht zu sehr schadet, wenn ich sage, daß ich etwa 80 bis 90 % der dort formulierten Punkte übernehmen kann. Wenn Sie es schaffen, daß Ihr eigener Bundeskanzler das zur Gesprächsgrundlage macht, dann werden Sie sehen, daß Herr Engholm, Herr Klose und die anderen mit großer Freude ein Gespräch über dieses Thema beginnen werden. Das wäre ein guter Start zum — im doppelten Sinne —Solidarpakt.
Worum geht es in Ostdeutschland instrumentell, von den Maßnahmen her? Ich möchte vier Punkte ansprechen. Ich bitte aber meine Kollegen, dann nicht zu sagen: Das hast du vergessen, und jenes hast du vergessen. Ich habe in der Tat nicht die Zeit, die Dinge so komplex darzustellen, wie es notwendig ist.Das erste Thema habe ich schon angesprochen: die Industrie. Wir brauchen handfestere Instrumente zur Industrieförderung und zur Erhaltung und Erneuerung vorhandener Industriestrukturen in Ostdeutschland. Die Gruppe der ostdeutschen CDU-Abgeordneten hat die Erhöhung der Investitionszulage auf 25 % vorgeschlagen.Wir haben in unserem Petersberger Papier 20 % vorgeschlagen, aber alternativ verbesserte Abschreibungsbedingungen, Herr Bundesfinanzminister, jedoch nur für den industriellen Sektor, für das Handwerk und für industrienahe Dienstleistungen. Ich kann nicht verstehen, warum die Deutsche Bank, wenn sie in Ostdeutschland ein Bankgebäude errichtet, genau die gleiche Förderung vom Staat bekommt wie derjenige, der eine Industrieanlage baut. Das geht nicht auf. Ich hoffe, daß wir in solchen Fragen zusammenarbeiten können.
Das Handwerk würde ich übrigens drin lassen, und das gleiche gilt für industrienahe Dienstleistungsbereiche.Das war, wie gesagt, ein Aspekt unserer Petersberger Erklärung, von der leider — so muß ich sagen — nur die beiden Themen Blauhelme und Asyl öffentlich diskutiert wurden.Das zweite ist: Wir brauchen eine grundlegende Änderung der Treuhandstrategie. Die Treuhandpolitik des absoluten Vorrangs der Privatisierung um jeden Preis vor der Strukturerneuerung und Sanierung ist gescheitert; wir haben ja soeben das Eingeständnis gehört.Wir brauchen in den kritischen Bereichen Braunkohle, Maschinenbau und Teilen der Elektroindustrie dauerhafte Aufträge.Ich kann gar nicht verstehen, daß Frau Breuel am Montag eine Pressekonferenz machte und sagte, zum 1. Januar 1994 sei alles erledigt. Ich halte diese Bemerkung für grotesk. Wenn sie meint, wir bräuchten andere Rechtsformen, z. B. Industrieholdings, die dann die Kerne der ostdeutschen Industrie weiter hegen und pflegen, dann wäre das vielleicht eine Alternative; aber davon hat sie nicht gesprochen. Die Strukturprobleme in Ostdeutschland sind ohne die Erneuerung industrieller Kerne nicht zu erhalten.Hier schildere ich als einer, der auch in Aufsichtsräten in Ostdeutschland mit tätig ist, eine Erfahrung: Wenn ich meine Löhne nicht mehr bezahlen kann und zur Treuhand gehe, dann kriege ich schnell eine Überweisung. Wenn ich aber eine neue Investition vorhabe oder z. B. nur einen Vertreter nach Amerika schicken will, damit er an Stelle des alten russischen Marktes den amerikanischen Markt erschließt, dann kriege ich kein Geld, dann ist Sendepause. Das heißt, ich bekomme ständig Sterbehilfe, aber keine Innovationshilfe. Und das ist falsch.
Hier muß eine Kursänderung her, und es muß eine Weisung in diese Richtung geben. Herr Bundeswirtschaftsminister, da müssen Sie sich mit Ihrem Kollegen, der jetzt in den Reihen seiner Fraktion Platz genommen hat, einigen.
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Wolfgang RothDie dritte Sache sehe ich genauso wie die ostdeutschen CDU-Abgeordneten. Wir brauchen eine nachhaltige, dauerhafte Finanzierung kommunaler Infrastrukturinvestitionen für Wohnungserneuerung und Stadt- und Dorferneuerung, und zwar über einen langfristigen Zeitraum; mindestens fünf Jahre würde ich veranschlagen.Ich stimme Ihrem Papier ausdrücklich zu: Die Investitionspauschale, die gewährt worden ist, war bisher das wirksamste Arbeitsplatzinstrument für Ostdeutschland.
Sie sollte wieder aktiviert werden. Ich freue mich, daß sie im Petersberger Papier genauso positiv erwähnt wird wie in Ihrem Papier. Wir kommen also auch in diesem Punkt zusammen.Der vierte Punkt ist der Osthandel. An dieser Stelle kann ich es dem Herrn Wirtschaftsminister nicht ersparen, seine Äußerungen einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Sie haben dreimal in diesem Jahr erklärt, jetzt sei die Sache mit der Sowjetunion bzw. mit der GUS über den Berg; Sie hätten feste Absprachen; jetzt laufe es an; dann könne man sogar über die Erhöhung des Rahmens für Hermes-Burgschaften über 5 Milliarden DM hinaus reden.Realität ist aber, daß nichts geklappt hat. Der Hintergrund ist relativ klar: Welcher GUS-Betrieb könnte schon beim derzeitigen Rubelkurs bei konvertibler Währung und ohne Devisen — wenn er Devisen hat, sind sie äußerst knapp — im Westen im großen Stil einkaufen? Das geht nicht mehr. Ich behaupte auch, daß das Hermes-Instrumentarium auf Grund dieser Situation allmählich nicht mehr greift.Unter diesem Aspekt vertrete ich die Meinung, daß der Vorschlag von Otto Wolff von Amerongen ernsthaft geprüft werden muß, einen Transferrubelfonds einzuführen und etwas dem Vergleichbares zu machen, was beim ERP-Sondervermögen bzw. beim Marshall-Plan gemacht worden ist. Wir können auf den Osthandel nicht in dem Umfang verzichten, wie es geplant ist.
In einer der beiden Firmen, deren Aufsichtsrat ich angehöre, haben wir jetzt die Weisung von der Treuhandanstalt bekommen, alle Aufträge aus der GUS bzw. alle entsprechenden Planungen zu streichen und den Betrieb nur noch mit dem Rest aufrechtzuerhalten. Das führt nun dazu, daß von ursprünglich 6 000 Beschäftigten weniger als 500 übrigbleiben, weil eben kein Auftrag mehr eingegangen ist.Meine Frage lautet: Liegt es nicht in unserem Interesse, in einer Übergangsphase über einen Fonds Devisen bereitzustellen und die Russen zu verpflichten, Rubel in diesen Fonds einzuzahlen, der dann in anderer Weise verwendet werden kann? Das ist eine Idee, über die ich ernsthafter diskutieren möchte, als das bisher geschehen ist.
Herr Kollege Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Möllemann?
Gern.
Vielen Dank.
Herr Kollege, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß von den 5 Milliarden DM Hermes-Plafond mittlerweile nun doch 3 Milliarden DM in Anspruch genommen sind? Würden Sie mir bitte erläutern, wie ein Mitglied der deutschen Bundesregierung, wenn eine schriftliche Vereinbarung, unterschrieben von Wirtschaftsminister Netschajew und von Finanzminister und Ministerpräsidenten Gaidar, hier förmlich ausgehändigt wird, anders vorgehen soll, als zu glauben und zu akzeptieren, daß die darin enthaltene Verabredung eingehalten wird? Die Kritik, die Sie geäußert haben, müßten Sie also an andere richten.
Würden Sie schließlich zur Kenntnis nehmen, daß wir im Bundeskabinett am 23. dieses Monats über die Themenpalette, die Sie soeben angesprochen haben, einschließlich des Vorschlags von Otto Wolff beraten werden?
Mich freut es sehr, daß Sie das sagen. Ich habe auch gehört, daß Sie vom Bundeskanzler den Auftrag bekommen haben, ein entsprechendes Konzept vorzubereiten. Vielleicht reden Sie auch mit uns; wir haben die eine oder andere Idee. Wenn nach gemeinsamen Anstrengungen etwas dabei herauskommt, soll mir das völlig recht sein.Im übrigen haben Sie dreimal in einer Pressekonferenz gesagt, die Sache sei über den Berg. In Wahrheit war sie nicht über den Berg. Ich muß sagen, da wäre ein etwas bescheideneres und nüchterneres Auftreten notwendig; man sollte nicht immer gleich die Tannenbäume anzünden. Das will ich doch gesagt haben.
Aber ich akzeptiere Ihren Einwand. Wenn wir da weiterkommen, ist mir das völlig recht, und zwar im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ostdeutschland.Zur Diskussion über die Finanzierung: Sie wissen, daß ich seit jeher für die Ergänzungsabgabe, für einen entsprechenden Zuschlag zur Einkommensteuer, bei Einkommen von über 60 000 DM bei Ledigen und von über 120 000 DM bei Verheirateten bin. Das ist die sauberste, intelligenteste und klarste Finanzierungsmöglichkeit. Ich habe Herrn Möllemann so verstanden, als wolle auch er eine saubere Finanzierung, wenn sie notwendig ist, ohne daß er zu diesem Vorschlag Stellung genommen hat.Herr Schäuble hat einen anderen Vorschlag gemacht, der von vielen aus der Wirtschaft, aus der Wissenschaft und auch aus unseren Reihen sofort als absolut falsch bezeichnet worden ist.Ich habe diese Solidaranleihe für eine diskutable Grundlage gehalten. Ich will auch sagen, warum: Wenn jemand 10 000 DM zeichnen und diese Summe für zehn Jahre festhalten muß — ohne Zinsen —, dann bedeutet das, daß man ein Solidaropfer von etwa 10 000 DM entgangener Zinsen und Zinseszinsen erbracht hat. Dies ist immerhin ein Beitrag. Man kann das Instrument rechtfertigen, wenn man es an Investitionen bindet. Wenn ich die ostdeutschen Abgeordneten richtig verstehe, wäre es beispielsweise für diesen Kommunalfonds gedacht gewesen.
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Wolfgang RothAber die Diskussion ist, wie gesagt, in eine andere Richtung gegangen. Ich wollte dies nur noch einmal erwähnen; denn ich bin der Meinung: In der Zukunft sollten wir nicht gleich am ersten Tag, nachdem ihr etwas vorgeschlagen habt oder wir etwas vorgeschlagen haben, sofort sagen, das sei des Teufels und völlig falsch. Eines ist immer richtig: Man kann dem Osten nicht helfen, ohne daß es manchem im Westen weh tut. Das ist die Wahrheit.
Wer diese Wahrheit nicht ausspricht, der geht an der Wirklichkeit vorbei.In diesem Zusammenhang muß Gerechtigkeit herrschen. Bisher haben weitgehend die kleinen Leute das finanziert, was im Osten überhaupt vorangekommen ist. Die Großen und Größten haben in vielem sogar profitiert. Das geht nicht so weiter. Aber darüber kann man dann im Detail reden.Meine westdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger äußern sich, oft auch in Versammlungen — sie erleben es selber — dahin, daß sie genug bezahlt hätten. Sie fragen, ob das immer so weitergehen solle, und meinen, das sei ein Faß ohne Boden.Wenn wir nicht rechtzeitig die Investitionen finanzieren, die im Osten notwendig sind, dann werden wir für das Rentensystem, für Sozialhilfe und für vieles andere auf Jahrzehnte Transferzahlungen leisten müssen. Das heißt: Wer nicht rechtzeitig investiert, wird später bestraft. Auch hier gilt der Satz von Gorbatschow. Ich vermisse den Ansatz, daß man zu Investitionen ja sagt und Transferzahlungen nach Möglichkeit schrittweise abbaut. Diese Wahrheit habe ich in Richtung der Westdeutschen gesagt..Mit gleichem Ernst sage ich in Richtung der Ostdeutschen kritisch eine zweite Wahrheit: Wir können in dieser kritischen Phase nicht auf die Förderung der westdeutschen Industrie und Wirtschaft verzichten. Im Gegenteil, wir müssen auch jetzt genau aufpassen, daß der Standort West erhalten und verbessert wird. Wer das eine gegen das andere ausspielt, wird einen Fehler machen.Unser Problem im Westen hat zwei unterschiedliche Aspekte: Einerseits handelt es sich um das mehr kurzfristige Konjunkturproblem, andererseits um ein Strukturproblem.
Ich glaube übrigens, daß beide Aspekte mit einer Hochzinspolitik nicht gut angegangen werden können. Deshalb ist es ganz wichtig, daß die Bundesregierung endlich Vertrauen schafft in ihre zukünftige Finanzplanung, so daß sich die Bundesbank mit der Zinsabrüstung bewegt.Strukturinnovationen bedeuten immer langfristige Kapitalbindung; hohe Zinsen bedeuten eine übermäßige Verteuerung der langfristigen Kapitalbindung. Insofern hat die Hochzinspolitik nicht nur eine konjunkturell problematische Seite, sondern genauso eine strukturell problematische Seite.Wir haben in Deutschland auch langfristige Standortprobleme. Aber ich glaube, die Diskussion darüber hat eine falsche Tendenz. Es wird oft gesagt, die Löhne seien zu hoch, und die Kosten seien zu hoch.Wollen wir im Lohnniveau ernsthaft mit Portugal oder mit Südostasien konkurrieren?
Das ist doch absurd. Wir sind ein Hochlohnland und werden es bleiben müssen, nicht zuletzt wegen der Situation in der EG. Wir können das gar nicht ändern.
— Verehrter, ich komme darauf gleich zurück. Der Mc-Kinsey-Chef in Deutschland, Henzler — ein guter Mann, außerdem Schwabe —, sagte vor einiger Zeit, wir hätten in der letzten Zeit die ganze Debatte zu kostenorientiert und zu wenig markt- und innovationsorientiert geführt bzw. — ich komme auf Ihren Zwischenruf zurück — zu wenig produktivitätsorientiert.
Es gibt also Starrheiten.An einer Stelle stimme ich Ihnen ausdrücklich zu: Wir müssen uns, was das Planungsverfahren anbetrifft und was die Entbürokratisierung anbetrifft, auch in Deutschland endlich bewegen. So geht das nicht weiter.
Man kann nicht über Innovationen von Produkten reden, die erst fertig sind, wenn die Japaner damit schon drei Jahre am Markt sind. Man kann nicht auf der einen Seite ja zum Hochlohnland sagen und auf der anderen Seite bei der Produktivitätsorientierung zögern und falsche Entscheidungen treffen. Wir werden hier intensiv arbeiten müssen.
Für mich sind auch einzelne Abschnitte der Deregulierungskommission nicht tabu. Auch darüber wird zu reden sein.
Dasselbe gilt für das Steuersystem, auch für das Unternehmensteuersystem. Sie wissen, mein Kollege Jochen Poß hat einen Vorschlag für eine aufkommensneutrale Unternehmensteuerreform mit einem Steuersatz von 45 % ausgearbeitet. Das ist ein Konzept, das wir noch nicht zu Ende beraten haben, mir aber insgesamt tragfähig erscheint.Sie haben nun etwas anderes vorgeschlagen, was dem aber ziemlich nahekommt. Die F.D.P. will gleich wieder draufsatteln und das für die gesamte Einkommensteuer einführen. Das ist völlig undenkbar und nicht finanzierbar. Aber wir sollten an dieser Stelle durchaus ohne Befangenheit eine Lösung suchen, so daß wir den Streit, den wir damals bei der Mehrwertsteuer gehabt haben, im Bundesrat nicht wieder in dieser Form bekommen. Die Leute können nicht mehr akzeptieren, daß wir in diesen Fragen keine Lösung finden. Ich bin also der Auffassung: Produktivitätsorientierte Wirtschaftspolitik ist richtig.
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Wolfgang RothMeine allerletzte Bemerkung: Ich möchte daran erinnern, daß wir mit eines der reichsten Länder sind und daß wir leistungsfähige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben. Wir haben große Probleme in der Wirtschaftspolitik, aber ich glaube, wir haben auch große Fähigkeiten und ausreichende Erfahrung, wie man kritische Phasen bewältigt. Ich finde, wir sollten es anpacken. Wir sollten Pessimismus überwinden und optimistisch sein. Wir können das in der Bundesrepublik Deutschland schaffen.Aber dafür müssen Sie sich kräftig bewegen. Ich hoffe, Sie tun das.
Nun hat der Kollege Michael Glos das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Ich habe heute sehr bewußt zugehört und mir auch über jene Kollegen meine Gedanken gemacht, die jetzt an vorderster Front Politik machen müssen und mit unserem System vorher noch wenig Erfahrung sammeln konnten.Der Kollege Thierse hat den Zustand sicher sehr gut beschrieben; aber er hat ein paar Fehler gemacht. Er hat den Abbau von Arbeitsplätzen und den großen Zusammenbruch zu sehr auf die Marktwirtschaft geschoben, statt die eigentlichen Ursachen zu nennen. Die Ursachen der Misere in Ostdeutschland liegen eindeutig in der Vergangenheit; sie liegen im Kommunismus und im Sozialismus.
Dann war der Herr Kollege Krause dran. Er ist von Ihnen, Frau Matthäus-Maier, sehr attackiert worden. Dabei komme ich zu einem weiteren Unterschied: Der Kollege Krause packt im Gegensatz zum Kollegen Thierse etwas an. Er ist ein Handwerker und nicht nur ein Mundwerker. Herr Thierse hat sich doch noch nicht einmal getraut, die SPD in Berlin zusammenzuführen und auf diese Art seinen Beitrag zum Wiederaufbau zu leisten.
Es wird in diesen Tagen auf der Suche nach Rezepten sehr viel Ludwig Erhard bemüht. In der Tat kann man von Ludwig Erhard viel lernen. Aber man darf nicht vergessen, daß auch Ludwig Erhard eine Forderung gestellt hat, die ihn am Schluß nicht sehr populär gemacht und möglicherweise sogar mit zu seinem Sturz geführt hat: Er hat das Maßhalten gefordert. Auch das dürfen wir nicht vergessen, wenn ständig neue Forderungen an den Haushalt insgesamt kommen.
Damit meine ich nicht nur die Forderungen zum Wiederaufbau unseres Landes.Wir müssen auch ganz deutlich sehen — das ist heute bei der Rede des Bundeswirtschaftsministers angeklungen —, daß wir in einer konjunkturell sehr schwierigen Situation sind. Der Investitionsboom hat fürs erste ein Ende erreicht. Branchen wie die Chemie verzeichnen kräftige Ertragseinbrüche. Der Maschinenbau meldet Umsatzrückgänge. Andere Bereiche, etwa die Datenverarbeitung, kämpfen mit Überkapazitäten. Da ist viel hausgemacht.Aber nicht alle Probleme sind hausgemacht. Für die deutsche Konjunktur spielt die weltwirtschaftliche Entwicklung auf Grund ihrer hohen Außenhandelsabhängigkeit eine herausragende Rolle. Da sieht es im Moment nicht sehr gut aus: In den USA läßt der Aufschwung noch immer auf sich warten. Japan kämpft mit den Folgen früherer Überhitzungserscheinungen. Unsere westeuropäischen Nachbarn, vor allem Großbritannien, haben Probleme. Die Reformanstrengungen in Osteuropa sind mit tiefen Wirtschaftseinbrüchen verbunden. Dies alles wirkt sich auf uns aus.Deshalb ist es klar, daß in diesem schwierigen Umfeld die Bundesrepublik Deutschland keine Insel der Glückseligen sein kann. Jetzt macht sich bemerkbar, daß Deutschland ein sehr teurer Standort ist. Dieses Problem wäre sehr viel früher aufgebrochen, wenn wir nicht den wiedervereinigungsbedingten Boom gehabt hätten. Die Lohnstückkosten sind im internationalen Vergleich hoch. Bei den Lohnzusatzkosten sind wir leider trauriger Weltmeister. Die Steuerbelastungen der Unternehmungen liegen höher als in wichtigen Konkurrenzländern. Hohe Energie- und Umweltkosten kommen hinzu.Die CDU/CSU-Fraktion hat sich schon länger sehr intensiv mit diesem Problem auseinandergesetzt. Ich nehme an, Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben unsere umfangreichen Unterlagen lesen lassen; denn viele von Ihren heutigen Rückschlüssen sind auch bei uns genannt. In diesem Zusammenhang darf ich Herrn von Kuenheim zitieren, der gesagt hat: „Die deutsche Volkswirtschaft ähnelt heute in fataler Weise dem gefesselten Riesen Gullliver, nur mit dem Unterschied, daß wir uns selber gefesselt haben." Darüber sollten wir nachdenken. Wir müssen uns fragen: Wo haben wir uns selbst gefesselt, und wo können wir uns wieder selber entfesseln?Gewerkschaften, Unternehmen und der Staat haben dazu beigetragen, daß die Arbeitszeit in Deutschland immer mehr verkürzt und gleichzeitig zementiert worden ist. Unser System ist ungeheuer starr geworden. Auf veränderte Gegebenenheiten auf den Weltmärkten können wir nicht mit der notwendigen Flexibilität reagieren. Wir brauchen deshalb Regelungen, die eine stärkere Auslastung unserer teuren Maschinen und Anlagen ermöglichen.Ein weiteres Beispiel für die Selbstfesselung ist die Länge der Genehmigungsdauer — das ist heute schon richtig angesprochen worden — und der bürokratische Aufwand, der bei der Durchführung von Investitionsvorhaben betrieben wird. Es hat 20 Jahre gedauert, bis der Flughafen München II endlich fertig war. Der steht in Bayern. Nur deswegen ist er überhaupt zu verwirklichen gewesen. In Hamburg hat man 20 Jahre
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Michael Glosüber einen Flughafen diskutiert und ihn dann schließlich aufgegeben.
— Gut, man hat viel Geld gespart. Durch die Wiedervereinigung ist jetzt Gott sei Dank eine andere Situation gegeben. Das wissen wir. Aber ich wollte an diesem Beispiel verdeutlichen, wie schwierig es heute ist, nötige Infrastrukturmaßnahmen letztendlich durchzusetzen.Es ist ganz klar — da muß ich Herrn Bundesminister Krause recht geben —: Mit den heutigen Gesetzen und mit unserer heutigen Bürokratie hätte es nach dem Kriege nie ein deutsches Wirtschaftswunder gegeben.
Wir alle müssen uns daranmachen, Gesetze und Regelungen zu verändern. Dazu brauchen wir den Bundesrat. Da freue ich mich, daß heute soviel Bereitschaft zur Zusammenarbeit geäußert worden ist.Ein anderes Beispiel, warum wir in der Konkurrenzfähigkeit unserer Volkswirtschaft etwas abgesackt sind, ist die Steuerpolitik. Alle Wettbewerberländer haben die steuerlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen nachhaltig verbessert. Häufig waren es sogar sozialdemokratische bzw. sozialistische Regierungen, die die Unternehmensteuern am weitesten senkten. Bei uns in Deutschland ist bei dem Thema bisher vor allem immer wieder eine Neiddebatte ausgebrochen. Herr Roth, insofern bin ich Ihnen heute dankbar, daß Sie gesagt haben, Sie wollten auch hier mit uns zusammenarbeiten, Sie seien zu besserer Einsicht bereit.Der Finanzminister hat ein mutiges Konzept zu einer weiteren Senkung von Unternehmensteuern und damit zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung vorgelegt. Darum geht es doch. Es geht doch überhaupt nicht darum, irgendwelche Geldsäcke zu begünstigen,
sondern es geht darum, Arbeitsplätze zu erhalten und zu schaffen und damit insgesamt unseren Standort Deutschland zu sichern.Ich finde es sehr eigenartig: Bei uns sind Sportler und Künstler angesehen. Diese Gruppen können sehr viel Geld verdienen, ohne daß sich jemand aufregt. Die dürfen sogar ihre Steuern dort entrichten, wo weniger zu zahlen sind als in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Personen sind trotzdem hoch angesehen. Aber bei uns wirtschaftlich erfolgreich zu sein ist verpönt. Der wirtschaftlich Erfolgreiche muß seine Gewinne verstecken. Er muß immer wieder als Popanz herhalten, wenn es gilt, Neidideologien zu befriedrigen.
Ich sage auch an unsere eigene Adresse: Wir müssen ganz vorsichtig sein mit der Wirkung unserer Vorschläge in der Öffentlichkeit.
Wir dürfen nicht weiteren Attentismus auslösen. Er beginnt nämlich jetzt schon beim privaten Wirtschaftsverhalten, beim Investitionsverhalten. Viele unserer Mitbürger zögern beim Kauf eines neuen Autos, bei der Kaufentscheidung für ein neues Eigenheim oder für gehobene Ausstattung.
Es kann natürlich bedeuten, daß wir damit möglicherweise die Konjunktur herunterreden. Jeder trifft täglich irgendwo Investitionsentscheidungen. Wenn aber angedroht wird, daß dem einzelnen immer tiefer in die Tasche gelangt wird, dann verhält er sich natürlich etwas vorsichtiger.
Das soll überhaupt nicht heißen, daß damit das Ende jeglicher Debatte in bezug auf mögliche Belastungen erreicht ist. Nur, glaube ich, müssen wir dabei in Zukunft — ich sage das selbstkritisch — vielleicht etwas vorsichtiger zu Werke gehen.Wenn sich Deutschland im Wettbewerb um mobile Investoren behaupten will, müssen wir Wettbewerbsnachteile gegenüber andern Ländern abbauen. Dabei muß klar sein, daß über den größten Kostenbrocken — das sind vor allen Dingen die Lohnkosten — in allererster Linie Arbeitgeber und Gewerkschaften entscheiden, die selbst immer wieder auf die grundgesetzlich garantierte Tarifautonomie verweisen.Herr Roth hat die Frage gestellt: Wie ist das mit der Verlagerung der Arbeitsplätze? Zu allen Zeiten hat es Verlagerungen von Fertigungen in Billiglohnländer gegeben. Das ist richtig. Es gab Zeiten, da war das sogar gewollt; sonst hätten wir noch mehr Gastarbeiter in unser Land kommen lassen müssen. Damals konnten wir uns diese Verlagerungen auch leisten. Nur, so meine ich, können wir sie uns derzeit nicht leisten.Sicher können wir kein Niedriglohnland werden, aber das Tempo der Verlagerung wird doch auch bei uns bestimmt.
Das Tempo der Verlagerung in den letzten Jahren war eindeutig zu hoch. Es war so hoch, weil vor allen Dingen die Lohnkosten so dramatisch angestiegen sind.
Der Appell an die Gewerkschaften — da haben Sie von der SPD Ihre Freunde sitzen —, an die Tarifpartner in bezug auf ein Maßhalten ist doch von Ihnen nur mit Hohngelächter begleitet worden. Sie tragen mit Verantwortung dafür, daß es im öffentlichen Dienst einen überflüssigen Streik gegeben hat.
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Michael Glos— Das war ein sehr überflüssiger Streik, weil nur von einer Seite zum Maßhalten aufgefordert worden ist. Die Warnungen kamen nur von einer Seite.
Ich befürchte — ich wünsche mir dies aber in keiner Weise —, daß das Beispiel der Lufthansa möglicherweise nicht das einzige Beispiel bleiben wird, wo man sich zusammensetzen muß, um den Konkurs von Unternehmungen durch ein Maßhalten im eigenen Unternehmen zu verhindern. Ich kann nur hoffen, daß dann die Gewerkschaften genauso kompromißbereit sein werden wie im Falle der Lufthansa.
— Herr Roth, ich würde es begrüßen, wenn Sie Ihre Freunde in den Gewerkschaften etwas stärker auf diese Tatsachen hinweisen.
Ein Zweites: Wir können den Wiederaufbau Ostdeutschlands nur finanzieren — da sind wir uns einig; das hat diese Debatte ergeben —, wenn wir mit einer Verringerung unseres Zuwachses an Wohlstand und möglicherweise mit einem Stück Umverteilung unseres Wohlstandes vom Westen in den Osten endlich ernst machen. Dazu brauchen wir vor allem Dingen auch die Länder und Gemeinden.Ich habe gestern in meiner Post einen Brief des ehemaligen Landrats des Landkreises Kitzingen gefunden, der jetzt in Thüringen an verantwortlicher Stelle — ich glaube sogar, in einer Bezirksregierung —Aufbauhilfe leistet. Er schreibt mir: „Alle Welt weiß doch, daß zahllose Kommunen im Westen ihre Einrichtungen perfektionieren, während in den neuen Ländern so vieles Notwendige fehlt. Warum schränkt man den Kapitalverbrauch der Kommunen nicht — wie früher erfolgreich praktiziert — für etwas drei Jahre durch eine Schuldendeckelung ein?"Ich will Ihnen jetzt nicht alles vorlesen, was der Mann geschrieben hat. Der Mann weiß Bescheid. Er war im Westen Landrat, er sieht jetzt drüben die Not. Der Bund hat das Nötige getan, um im Haushalt umzuschichten. Wären uns die Länder und Kommunen genauso gefolgt, hätten wir heute noch größere Spielräume für öffentliche Hilfen.
Die ostdeutsche Wirtschaft leidet u. a. unter dem Irrtum, durch rasche Lohnanpassung ohne Rücksicht auf die Produktivitätsentwicklung könne der Lebensstandard am schnellsten auf westdeutsches Niveau gehievt werden. Auch hierüber muß von allen Beteiligten nachgedacht werden. Deshalb begrüße ich nachhaltig den angestrebten Solidarpakt. Ich hoffe, daß dieser Solidarpakt zwischen Gewerkschaften, Unternehmungen und der öffentlichen Hand zustande kommt.Gefährlich ist allerdings die Vorstellung — davor möchte ich noch einmal warnen —, man könnte den staatlichen Korridor risikolos noch weiter ausdehnen und unsere wirtschaftlichen Probleme durch den Rückgriff auf die Kapitalmärkte lösen. Insbesondere jede weitere Erhöhung der staatlichen Kreditaufnahme — auch aus noch so ehrenhaften Gründen — engt nicht nur die Haushaltsspielräume für die Zukunft ein, sondern droht die Wachstumsdynamik von der Zinsseite her abzuwürgen. Die Bundesbank würde das auch nicht mitmachen. Aber selbst wenn die Bundesbank zuschauen würde, würden es die Weltkapitalmärkte letztendlich wieder korrigieren.
Die beobachten sehr kritisch, ob wir uns als Deutsche nicht überfordern.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich fasse zusammen: Was ist nötig? Erstens. Priorität beim Aufbau der neuen Bundesländer müssen private Investitionen haben. Da müssen wir noch einmal genau hinschauen, ob wir für den Mittelstand, der dort ansässig ist und sich dort entwickeln soll, nicht noch Zusätzliches tun können im Rahmen von Umschichtungen.
Zu den privaten Investitionen gehört — das wurde auch schon einmal gesagt — natürlich auch das Verhalten der Kommunen. Für mich z. B. ist es unverständlich, warum man gegen den Stromvertrag klagt. Mutwillig hat man, wie ich meine — beraten vom Westen, weil es möglicherweise um Posten in den Aufsichtsräten geht — diese Klage angestrengt. Wir könnten ein ganzes Stück weiter sein, wenn man nicht geklagt hätte. Ich bin überzeugt, das hätte sich auch anders lösen lassen.
Zweitens. Wir müssen endlich die steuerlichen Bremsen bei uns wegnehmen. Ich habe es schon gesagt: Wir dürfen das nicht ideologisch — keine Scheuklappen —, sondern müssen das ganz pragmatisch sehen.
Drittens. Unser Bürokratie- und Genehmigungsunwesen in Ost wie West muß entrümpelt werden. Wir brauchen Baugenehmigungs-, keine Bauverhinderungsbehörden.
Viertens. Der politische Boykott von technischen und wirtschaftlichen Großprojekten und neuen Technologien, wie er vor allen Dingen in SPD-geführten Bundesländern stattfindet, muß weg.Fünftens. Die Finanzierung des Aufbaus der neuen Bundesländer muß endlich als Aufgabe aller Gebietskörperschaften begriffen werden. Es darf nicht weiter so sein, daß sich das Sparen nur auf den Bund bezieht. Auch hier sind wir Politiker gefordert, das in unseren Wahlkreisen auch weiterzusagen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht damm, in einer Zeit des Wandels, in einer Zeit, in der es sehr viele Gefahren gibt — auch wirtschaftliche Gefahren —, den Standort Deutschland zu sichern und unser Vaterland gemeinsam wieder aufzubauen.
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Michael GlosDanke schön.
Nun hat der Finanzminister des Landes Thüringen, Herr Dr. Klaus Zeh, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir führen zur Zeit landauf, landab eine intensive Finanzdiskussion. Sie ist nicht ausschließlich durch die Haushaltsdebatte 1993 ausgelöst, sondern sie hat grundsätzlichen Ursprung. Es ist ein Spagat zu vollführen zwischen der Konsolidierung der Staatsfinanzen, der Steigerung der Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutschland und einer ausreichenden Finanzausstattung der jungen Bundesländer.Zwischen diesen drei Problemkreisen gibt es einen inneren Sachzusammenhang. Schaffen wir die Konsolidierung der Finanzen nicht, gefährden wir das Vertrauen in den Wirtschaftsstandort Deutschland. Überfordern wir den Standort Deutschland West, dann fehlt uns die Basis für die Finanzen des Standortes Ost. Ist die Finanzausstattung der jungen Bundesländer nicht ausreichend, bleibt der Standort Deutschland Ost weniger attraktiv für Investoren. Er bleibt damit am Finanztropf Deutschland West. Das würde den Standort auf lange Sicht überfordern.Diese Situation können wir nur meistern, indem wir den vom Bundesfinanzminister in seiner Eingangsrede angesprochenen Pakt der Vernunft und der Solidarität schließen. Wir brauchen einen Solidarpakt mit allen gesellschaftlich relevanten Gruppen. Dieses Solidarpaket sollte aus unserer Sicht möglichst bald geschnürt werden.Da ich bisher als ein Politiker hier zu Ihnen spreche, der aus dem Osten stammt, erlauben Sie mir, daß ich Ihnen zunächst einen ganz herzlichen Dank ausspreche.
Ich danke ganz ausdrücklich den Menschen in den alten Bundesländern ebenso wie der Bundesregierung und allen alten Bundesländern; ich danke auch deren Gemeinden für die bislang geleistete massive Aufbauhilfe.
Diese Hilfe geht weit über das Finanzielle hinaus. Ich kann auch getrost sagen, daß dies in der Geschichte ohne Beispiel ist. Nicht zuletzt mit Blick auf die unvergleichlich größeren Schwierigkeiten in Osteuropa — ich unterstreiche das — erkennen die Menschen in den jungen Bundesländern diese Aufbauhilfe dankbar an.Dabei ist eines klar: Die Hauptanpassungslast dieser Umstrukturierung müssen die Menschen in Ostdeutschland tragen. Sie haben schon Gewaltiges geleistet. Jeder einzelne in den jungen Bundesländern mußte all seine Lebensbereiche völlig neu ordnen. Ich meine, deshalb muß die wirtschaftliche Anpassung auch weiterhin sozial flankiert werden.Richtig ist auch: Die Zeitspanne der nötigen Anpassung ist schmerzlicher und länger, als erwartet. Ich weiß, wie sehr das viele Menschen im Osten und Westen unseres Vaterlands beunruhigt. Aber um so entscheidender ist, daß die Menschen in ganz Deutschland eine klare Perspektive haben. Im übrigen halte ich es mit jenen Menschen, die nicht so sehr über das lamentieren, was noch nicht geschaffen ist. Ich halte es mit denjenigen, die sich über das freuen, was alles schon geschafft worden ist.
Jeder, der es sehen will, erkennt doch, daß wir in unseren Städten und Dörfern beim gemeinsamen Aufbau Ost in nur zwei Jahren schon weit vorangekommen sind. Ich lade Sie, meine Damen und Herren, die es noch nicht gesehen haben, ganz herzlich ein: Schauen Sie es sich an.Das bedeutet aber: wir müssen gemeinsam weiter alle Anstrengungen unternehmen, damit sich der Aufschwung Ost fortsetzt.
Dies liegt im wohlverstandenen gemeinsamen Interesse; denn wir sitzen buchstäblich alle in einem Boot. Deshalb begrüße und unterstütze ich ausdrücklich die Initiativen zu einem Solidarpakt.
Trotz unserer Sorgen sind wir jungen Bundesländer auch zu einem eigenen Beitrag bereit. Nicht zuletzt mit Hilfe der Altländer unternehmen wir weiterhin alles, damit durch Investitionen neue Arbeitsplätze mit steigenden Einkommen entstehen können. Im Thüringer Haushalt sind z. B. 34,5 % für Investitionen geplant. Ich meine, nur so erreichen wir auf Dauer jene Steuerkraft, die zur Erfüllung unserer staatlichen Aufgaben nötig ist. Wir können dann auch von Transferzahlungen unabhängiger werden.Auch im Personalabbau hat Thüringen seine Hausaufgaben gemacht. Von ca. 110 000 Ende 1990 werden wir auf 80 000 Landesbedienstete Ende 1992 kommen. Ich glaube, das ist auch einmalig in der Geschichte: ein Abbau von ungefähr einem Viertel der Landesbediensteten in etwa zwei Jahren.Aber selbst wenn wir in den jungen Bundesländern die Personalüberhänge weiter rasch abbauen, selbst wenn die Eigentumsfragen zügiger geklärt werden und alle Einsparungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, bleiben wir bis zum Erreichen einer vergleichbaren Steuerkraft auf weitere Hilfe angewiesen.Hierbei plädieren wir nachhaltig für ein mittelfristiges Infrastrukturprogramm für die jungen Bundesländer. Der Nachholbedarf besteht insbesondere beim Umweltschutz, beim Wohnungsbau, aber auch im Städtebau, beim öffentlichen Personennahverkehr, bei Hochschulen, bei Krankenhäusern und Kultureinrichtungen. Ich muß auch hinzufügen: Auch die Finanzausstattung der Kommunen muß verbessert werden. Ich begrüße deshalb ausdrücklich die gestrige Zusage des Bundeskanzlers, die Mittel für kulturelle Einrichtungen aufzustocken.
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8876 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Minister Dr. Klaus Zeh
Wir sind uns gewiß einig: Wenn die jungen Bundesländer ihre Aufgaben erfüllen sollen, müssen sie finanzpolitisch solide und haushaltsmäßig handlungsfähig bleiben. Wir stimmen sicherlich auch darin überein, daß die geltende Rechtslage zur Behandlung der Altschulden weder sachlich noch politisch durchsetzbar ist. Dann nämlich würde die Pro-KopfVerschuldung der jungen Bundesländer schon 1995 rund das Dreifache des Vergleichswertes der alten Bundesländer betragen, und zwar ohne daß wir auch nur annähernd über jene Infrastruktur und Finanzkraft der alten Länder verfügen würden, die diese nach über 45 Aufbaujahren haben.Das zeigt doch aber auch, daß wir alle begreifen müssen: Das Beseitigen der Erblast von über 40 Jahren Sozialismus ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Alle Ebenen unseres föderativen Staates müssen entsprechend ihrer jeweiligen Leistungsfähigkeit an der Beseitigung dieser Erblast mittragen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Herr Dr. Zeh, die CDU/CSU-Fraktion, Teil Ost, hat eine Investitionspauschale vorgeschlagen, die 1991 erfolgreich den Aufbau in unseren ostdeutschen Kommunen gefördert hat. Man hört ab und an aus den Ländern, daß sie diese Investitionspauschale gar nicht so gern sehen, wenn sie vom Bund direkt in die Kommune durchgereicht wird. Wie sehen Sie das? Wie sieht das das Thüringer Finanzministerium? Wie sieht das die Thüringer Landesregierung?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Investitionspauschale war zu dem damaligen Zeitpunkt ein sehr gutes Instrument, um die Investitionen anzukurbeln. Aber wenn ich eine Investitionspauschale im Gießkannenverfahren ausreiche, dann besteht die Gefahr, daß ich vielen Kommunen etwas gebe, aber für Großprojekte die Mittel dann natürlich nicht mehr zur Verfügung habe. Ich muß also wohl überlegen, wenn ich gezielt fördern will, was ich fördern und wofür ich die Mittel einsetzen will. Ich glaube, über das Mittel Investitionspauschale sollte noch einmal nachgedacht werden. Ich stehe der Sache nicht grundlegend ablehnend gegenüber, würde aber dennoch abzuwägen versuchen, ob im konkreten Falle eine gezielte Förderung nicht sinnvoller sein kann.
Ich begrüße deshalb auch das Angebot der Bundesregierung, im Rahmen eines Sonderfonds zu einer gesamtstaatlichen Verteilung der Schulden des Kreditabwicklungsfonds und der Treuhandanstalt zu kommen. Genauso begrüße ich die Zusage der Bundesregierung, ihre zusätzlichen Einnahmen aus dem Zinsabschlagsgesetz 1993 und 1994 den jungen Ländern zur Verfügung zu stellen. Aber ich wünsche mir genauso, daß die alten Bundesländer ihrerseits ähnlich deutliche Signale wie die Bundesregierung setzen.Gleichwohl muß ich betonen: Nach der Aufstellung der Thüringer Haushaltseckwerte für 1993 und für die folgenden Jahre, für die mittelfristige Finanzplanung, bleibt in Thüringen ein erheblicher Finanzierungssaldo. Bei einer gerade noch vertretbaren Nettoneuverschuldung zur Deckung dieses Saldos bleiben dennoch erhebliche Deckungslücken. Diese Dekkungslücken müssen durch unsere eigene Anstrengung, aber eben auch durch andere Finanzquellen gedeckt werden.Ich füge hinzu: Bei allen notwendigen Hilfen für die jungen Länder geht es ja keineswegs um einen Ausgabenabbau in den alten Bundesländern. Nein, ich meine, es geht lediglich um eine befristete Begrenzung des Ausgabenzuwachses.Ich glaube, wer sich ein Bild von der Lage in den jungen Bundesländern macht, wird sehr rasch verstehen, weshalb in den alten Ländern beispielsweise ein Rathausplatz eben doch nicht so schnell mit teuren Steinen gepflastert werden muß oder weshalb die Umgehungsstraße auch später verbreitert werden könnte.
Herr Abgeordneter Roth, ich gebe Ihnen recht. Sie haben vorhin sinngemäß gesagt, man könne den Menschen im Osten nicht helfen, ohne daß es den Menschen im Westen weh tue. Ich muß schon sagen, ich bin da Ihrer Meinung. Aber Ihr Wort in das Ohr auch mancher Ihrer Kollegen Landespolitiker!
Ich wünsche mir deshalb, daß nicht nur der Bund, sondern auch alle alten Bundesländer und ihre Gemeinden alle erdenklichen Einsparungsanstrengungen unternehmen, damit arbeitsplatzschädliche Steuererhöhungen vermieden werden können. Und ich wünsche mir zugleich einen Beitrag der Tarifpartner, der der ohnehin schwierigen Beschäftigungssituation in den jungen Bundesländern stärker als bisher gerecht wird.Es ist für den Aufschwung Ost finanzpolitisch entscheidend: Die jungen Bundesländer brauchen eine klare Perspektive. Wir müssen wissen, womit wir bei unserer staatlichen Aufgabenerfüllung in Zukunft rechnen können. Das heißt, wir brauchen möglichst rasch ein Gesamtkonzept. In fairer Weise muß in diesem Konzept der Bund-Länder-Finanzausgleich ab 1995 sowie Umfang und Art der darüber hinaus notwendigen Finanzhilfen neu geregelt werden. Auch von daher begrüße ich die Vorschläge von Bundesfinanzminister Dr. Waigel als einen zentralen Einstieg in die gewiß nicht einfachen Verhandlungen. Aber ich bin zuversichtlich, daß Bund und alle Länder rechtzeitig eine tragfähige Lösung erreichen werden. Genauso zuversichtlich bin ich, daß der angestrebte Solidarpakt zum Wohle der Menschen in ganz Deutschland unverzüglich umgesetzt wird.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8877
Nun hat unsere Kollegin Ulla Schmidt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute schon sehr viel über den Wirtschaftsstandort Deutschland gehört, über Schwierigkeiten beim Aufbau, über Fehler der Politik. Wir haben auch von Konzepten gehört, wie das zu verändern wäre. Ich sage Ihnen — ich bin davon fest überzeugt, und deshalb sollten wir uns alle diesen Aspekt auch zu eigen machen —, daß die großen Herausforderungen der 90er Jahre — dazu zähle ich für uns insbesondere die Herstellung der sozialen und ökonomischen Einheit Deutschlands — ohne die Einbeziehung der Erfahrungen, der Fähigkeiten und der Leistungsbereitschaft der Frauen nicht gelöst werden können.
Unsere Gesellschaft braucht die Frauen. Diese Bundesregierung verspielt enorme Chancen, weil sie die Leistungsfähigkeit der Frauen im Westen wie im Osten nicht umfassend nutzt, sondern im Gegenteil mit ihrer Politik dazu beiträgt, daß Frauen je nach Bedarf und Konjunktur an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.
Die Tatsache, daß die Armut vor allen Dingen weiblich ist, ist auch 1992 in dieser Bundesrepublik noch eine bittere, aber leider wahre Aussage. Das werden die Frauen nicht weiter hinnehmen.
Die Frauen von heute, im Osten wie im Westen, sind gut ausgebildet. Sie wollen Familie und Erwerbstätigkeit. Sie leisten viel, und sie haben viel geleistet, in beiden Teilen Deutschlands. Es ist nicht einzusehen, daß eine Politik fortgesetzt wird, die immer, wenn es um den Abbau von Sozialleistungen und Engpässen auf dem Arbeitsmarkt geht, Frauen als die ersten und Frauen als die Hauptbetroffenen beteiligt.
Die Frauen im Osten — so muß man sagen — machen diese Erfahrung in den beiden letzten Jahren in einem überproportionalen Verhältnis, in einem erschreckenden Maße. Deshalb werde ich auch heute, wenn wir über die Probleme in Deutschland sprechen, auf diesen Aspekt besonders eingehen. Ich weiß, daß wir Frauen im Westen noch viel zu tun haben. Aber wenn es uns nicht gelingt, die Rückwärtswende in der Politik für die Frauen im Osten wieder umzudrehen, dann wird auch die Frauenpolitik im Westen auf Dauer Rückschläge erleiden.
Frauen waren in der ehemaligen DDR zu über 90 % erwerbstätig. Sie sicherten ihre eigene Existenz. Das ist eine wertvolle Lebenserfahrung. Ein umfassendes Angebot an öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen machte ihnen dies möglich.
Seit der Wende im Herbst 1989 sinkt die Zahl der weiblichen Erwerbstätigen in raschem Tempo. Fast jede zweite Frau in den neuen Bundesländern ist arbeitslos. Frauen stellen mit nahezu 65 % knapp zwei Drittel der Arbeitslosen. Ich spreche hier gar nicht davon, daß die Arbeitsmarktsituation von Frauen örtlich noch sehr viel dramatischer ist, als wir den verheerenden Durchschnittszahlen entnehmen. In manchen Gegenden — ich denke an die landwirtschaftlichen Gebiete in Mecklenburg-Vorpommern — wird die Quote sogar bis auf fast 100 % ansteigen, ohne daß sich für Frauen irgendwelche Perspektiven abzeichnen, überhaupt jemals in das Arbeitsleben zurückkehren zu können.
Die Frauen — das wissen Sie genausogut wie ich — haben in der Regel nicht die Ausweichmöglichkeiten, wie Männer sie haben. Sie können nicht pendeln. Sie können nicht in den Westen gehen, weil sie ihre Familie haben, weil sie ihre Kinder haben und weil Frauen diejenigen sind, die immer dann einspringen, wenn hilfsbedürftige Angehörige zu pflegen sind.
Ihre Politik trägt dazu bei, daß sich der Konkurrenzkampf zwischen den Geschlechtern um ein knappes Arbeitsplatzangebot verschärfen wird. Sie trägt dazu bei, daß wir in den neuen Bundesländern ein Heer von Sozialhilfeempfängern schaffen, statt Frauen wirklich in die Lage zu versetzen, ihre eigene Existenz zu sichern. Armut im Alter, Existenzängste und Gewalt — nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Familien —, die zunehmen, sind keine neuen Tatsachen für uns. Wir kennen das doch auch hier aus dem Westen.
Warum, meine Damen und Herren hier aus dem Bundestag, warum, meine Damen und Herren aus der Regierung, muten wir den Frauen in den neuen Ländern, die oft jahrzehntelange Diktatur erlebt haben, eigentlich genau diese schmerzlichen Erfahrungen wieder zu, statt zu versuchen, die deutsche Einheit als Chance zu begreifen, Männer und Frauen gleichberechtigt in Beruf und Gesellschaft zu beteiligen, für alle eine Hoffnung aufzubauen und für die Menschen etwas Positives zu tun?
Frau Kollegin Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte, Herr Kollege.
Frau Kollegin, ich habe in einem Bericht gelesen, daß im Finanzamt Gotha 97 % Frauen beschäftigt sind. Darf ich einmal fragen, wie hoch die Frauenbeschäftigung im Finanzamt Aachen in Ihrem Wahlkreis ist?
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8878 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Wissen Sie, wenn Sie vom Finanzamt Gotha sprechen, dann sagen Sie mir einmal, wie viele davon Dauerarbeitsplätze sind und wie viele Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen es gibt. Daß es in einzelnen Bereichen auch besser aussieht, kann doch nicht verschleiern, daß die Situation der Frauen die ist, daß sie durch Ihre konservative Politik aus dem Arbeitsleben, dem Erwerbsleben, an den Herd zurückgedrängt werden.
Wir sind alle mitverantwortlich dafür, daß Frauen — das ist das Schlimmste — ihr Vertrauen in die Demokratie genommen wird. Das ist doch das Erschreckende an diesen Zahlen!
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Kollegen?
Ja.
Frau Kollegin, ist es nicht eine großartige Zahl, 97 % Frauen in der Finanzverwaltung zu haben, in einem Bereich, in dem man es nicht vermuten würde? Ist das nicht eine positive Würdigung wert?
Diese 97 % sind natürlich positiv. Aber ich sage: 63 % arbeitslose Frauen, das ist erschreckend. Es sieht nicht so aus, als würde es besser, sondern es sieht so aus, als würde diese Zahl zunehmen.
— Ich bin immer freundlich zu Männern. Aber Sie verstehen, daß ich auch einmal engagiert sein kann; denn — das muß ich Ihnen sagen — mir geht es an die Substanz, wenn ich mit den Frauen rede. Mein Engagement ist da ganz ernst gemeint, und das hat nichts mit dem Kollegen persönlich zu tun.
Die Frage, die ich mir immer stelle, ist: Wie lange kann es sich diese Bundesregierung leisten, auf ein gut ausgebildetes Arbeitskräftepotential zu verzichten und eine gesamte Frauengeneration ins Abseits zu stellen, eine Frauengeneration, die bis ins Alter hinein Sozialhilfe empfangen muß?Wir alle wissen, wie unser Bundeskanzler — leider ist er heute nicht da — die Frauen schätzt. Seine Hochachtung gilt, wie bekannt — ich zitiere hier aus der „Bild der Frau" —, unseren Müttern, und zwar denen, „die ein Leben lang ihre Pflicht getan haben,ohne zu protestieren, die nie demonstrieren konnten und gar nicht wissen, wie das geht".
Ich befürchte, daß sich die Frauen in den neuen Ländern — ich sage das voraus — auf Dauer diese Zurückdrängung aus dem Arbeitsleben an den Herd nicht werden gefallen lassen.
Sie werden protestieren, und sie werden demonstrieren, wenn diese Bundesregierung ihre Politik nicht um 180 Grad dreht.
Daß sie das können, haben die Frauen im Herbst 1989 gezeigt. Ohne die Frauen wäre es nicht zur deutschen Einheit gekommen. So einfach ist das!
Ich frage Sie, auch bezogen auf den Kollegen: Was empfinden Sie denn? Ich finde es schrecklich, wenn ich höre, daß heute Frauen, die wir als Mütter so schätzen,
aus dem Erwerbsleben gedrängt werden, nur weil sie Mütter sind oder Mütter werden können; wenn ich erfahre, daß Frauen, die jahrzehnte- bzw. jahrelang in Wäschereien, in der Landwirtschaft, im Bergwerk oder in der Industrie hart gearbeitet haben, heute nicht mehr zu den Leistungsträgern der Gesellschaft zählen, daß sie heute mit noch nicht einmal 40 Jahren als zu alt für die Produktion gelten und daß man ihnen jede Chance nimmt. Diese Frauen sagen: Wir gehören zu einer verlorenen Generation. Ich empfinde es als erschreckend, meine Herren, daß viele Frauen resignieren, daß sich Hoffnungslosigkeit breitmacht und daß das vor allen Dingen mit einer Schwächung des Vertrauens in den Aufbau und die Demokratie verbunden ist.
— Nein, das muß ich nicht. Ich rüste die Waffen ab, Herr Kollege.Dabei, meine Damen und Herren, haben Frauen so viel einzubringen. Ich will nur noch kurz darauf hinweisen. In Mark Zwuschen — ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist — haben Frauen die Initiative ergriffen. Sie konnten es dank der Bereitstellung öffentlicher Mittel, Herr Bundesfinanzminister, weil die ABM-Maßnahmen noch nicht so gekürzt waren. Sie hatten öffentliche Mittel. Frauen sind aktiv geworden. Frauen haben in einem Dorf die Arbeitslosigkeit von über 53 % auf unter 3 % gebracht. Sie haben dort Männer und Frauen beschäftigt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8879
Ursula Schmidt
Sie haben gezeigt, daß es mit Mut und mit Hilfe öffentlicher Mittel möglich ist, durch die Initiative von Frauen Arbeitsplätze zu schaffen.
Da, Herr Bundesfinanzminister, ist Ihre Politik völlig falsch, mit der Sie gerade auf dem Rücken der Erwerbslosen sparen wollen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch die Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes kürzen werden. Damit sperren Sie immer mehr Frauen aus.
Frau Kollegin, es wird noch eine Zwischenfrage gewünscht. Wird sie noch zugelassen?
Ich möchte jetzt zum Schluß kommen.
Eines will ich Ihnen sagen: Ich war mit Mecklenburger Landfrauen gerade in diesem Dorf, um einmal zu zeigen, was möglich ist. Ich finde, wir müssen auch zeigen, daß es positive Ansätze gibt, und wir können an positiven Beispielen lernen. Eindrucksvoll, Herr Bundesfinanzminister, war, daß eine Frau zu mir sagte: Das Ganze hat mir gutgetan; Sie haben mir den Glauben an die Demokratie und die Hoffnung wiedergegeben. — Wenn dem so ist und wenn wir Männer und Frauen in diesem Land unsere Demokratie nicht nur erhalten, sondern auch ausbauen wollen, dann, Herr Bundesfinanzminister, ist die richtige Politik, daß wir überall dort, wo es möglich ist, Gelder in Investitionen und auch in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stecken und dies ausbauen. Teurer wird das auf Dauer nicht, weil wir die Sozialhilfe später einsparen und weil die Menschen Geld in die Rentenkasse einzahlen können. Aber es hilft uns, durch Unterstützung örtlicher Initiativen Wesentliches zum Standort Deutschland, der auch mit einem demokratischen Deutschland verbunden sein muß, beizutragen.
Ich hoffe, daß Sie in Ihrem Haushalt — er ist nicht gerade sehr freundlich und zeigt das nicht — und in Ihrer Politik umkehren und daß Sie eine Politik machen, die Frauen in dieser Republik den Stellenwert zumißt, den sie von ihren Fähigkeiten her haben und haben müssen.
Vielen Dank.
Die Schwierigkeit bei Zwischenfragen, die am Ende der Rede gestellt werden sollen, ist die, daß ich dann die Redezeit überziehen würde. Das möchte ich nicht tun.
Jetzt hat der Kollege Johannes Nitsch das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Schmidt, ich danke Ihnen für den Beitrag. Es ist tatsächlich schlimm, wie die Frauenarbeitslosigkeit bei uns zunimmt. Teilweise haben wir schon 70 % Frauenarbeitslosigkeit. Wir können das Problem nicht für sich lösen. Wir können die Frauenarbeitslosigkeit nicht als Einzelproblem lösen, sondern müssen insgesamt
Arbeitsplätze schaffen und dann die Gedanken, die Sie vorgetragen haben, natürlich mit umsetzen.
Im Entwurf liegt dem Bundestag nun bereits der dritte Haushalt im wiedervereinigten Deutschland vor. Die Beratungen finden in einer Zeit statt, in der die Menschen im Osten Deutschlands von einem rapiden Arbeitsplatzabbau betroffen sind.
Unser gestriges Zusammentreffen mit 200 bis 300 Betriebs- und Personalräten aus den neuen Bundesländern und Berlin hier in Bonn hat die großen Sorgen darüber und auch die tiefe Empörung über einige rücksichtslose Praktiken von Käufern der Treuhandbetriebe verdeutlicht.
Es treibt mir den Zorn ins Gesicht, zu hören, wie sich offenbar einzelne Käufer mit kriminellen Methoden auf Kosten der Menschen an Treuhand-Eigentum bereichern und damit die Arbeit der Treuhand verunglimpfen. Ich fordere deshalb, die Verfolgung dieser Wirtschaftskriminalität mit allen gesetzlichen Mitteln zu betreiben und, wo nötig, zu erweitern und zu beschleunigen.
Ich will damit nicht sagen, daß die Treuhandanstalt keine eigenen Fehler gemacht hat. Ich sehe sie insbesondere darin, daß die Bewerber aus den neuen Bundesländern nicht bevorzugt genug behandelt werden und daß damit eine Eigentumsumschichtung von Ost nach West stattfindet.
Die großen Anstrengungen der Menschen aus den alten Bundesländern, ganz persönlich und finanziell durch die Transferleistungen von bisher über 350 Milliarden DM, sind eine einmalige historische Leistung. Wir wissen, es ist noch eine gewaltige Leistung zu erbringen, um die Folgen des Zweiten Weltkrieges und von 40 Jahren Sozialismus in möglichst kurzer Zeit zu überwinden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Dr. Feige? Sie wird Ihnen nicht auf Ihre Redezeit angerechnet.
Bitte, Herr Feige.
Herr Kollege, Sie haben die Betriebsräte erwähnt. Können Sie bestätigen, daß diese gestern viel deutlicher die fehlende Sanierungspolitik der Treuhand kritisiert haben denn die Kaufpraktiken einzelner Unternehmer?
In unserem Gespräch ging es im ersten Teil in großem Umfang um Beispiele, wie sich einige Käufer am Eigentum bereichert haben. Aber im zweiten Teil haben wir auch über diese Sanierungsprobleme gesprochen, wobei aber auch unrealistische Vorstellungen vorgetragen wurden.Die bisherigen Finanztransfers haben in allen Städten und Dörfern sichtbare Wirkungen hinterlassen. Der Verfall der Städte ist gestoppt, das Straßennetz ist schon längst keine Aneinanderreihung von Schlaglö-
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8880 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Johannes Nitschchern mehr. Wer mit der Eisenbahn fährt, schätzt Pünktlichkeit und Sauberkeit der Züge. Man merkt auch mehr und mehr, daß 1 000 km Streckennetz erneuert worden sind.Daher möchte ich auch im Namen aller meiner Kollegen aus den neuen Bundesländern denen Dank sagen, die uns vor Ort helfen und dabei manche Unbequemlichkeit auf sich nehmen. Aber auch Dank den Steuerzahlern! Ich kann Ihnen versichern, daß wir das Geld nicht verplempern. Wir wollen so schnell wie möglich unseren Beitrag zum Bruttosozialprodukt von bisher 7 % auf 20 % steigern, die unserem Anteil an der Bevölkerung entsprechen. Erst dann werden wir finanziell auf eigenen Beinen stehen. Bis dahin werden allerdings noch Jahre vergehen, in denen wir in den neuen Ländern uns mehr einfallen lassen müssen, wie wir besonders effektiv mit den Transfers umgehen.Dazu gibt es manche Möglichkeit. Das war insbesondere das Anliegen unseres Erfurter Papiers, das wir überschrieben haben: Wohlstand entwickeln im Osten, Wohlstand sichern im Westen, also Wohlstand für alle. Eine der Initiativen aus diesem Papier, vielfach angemahnt auch aus anderen Fraktionen, ist die Vereinfachung und Beschleunigung der Planungs-, Genehmigungs- und Verwaltungsverfahren. Wir hoffen, daß nun in kurzer Zeit entsprechende Initiativen den Bundestag passieren werden. Ähnliche Schwierigkeiten wie bei den Verkehrsbeschleunigungsvorhaben sollte es diesmal nicht geben.Bauanträge mit einem Volumen von mehreren Milliarden DM stapeln sich noch in den Behörden. Daher sind gleichzeitig personelle Verstärkungen in den Grundbuch- und Vermögensämtern zu organisieren. Dringend werden ausgebildete Rechtspfleger für die Grundbuchämter benötigt. Die Abordnungen aus den alten Ländern haben sehr geholfen, müssen aber fortgesetzt werden — darum bitten wir die Länder —, vielleicht auch länger als für, wie bisher meist üblich, drei oder sechs Monate.Für uns im Bundestag gilt, daß wir das Entschädigungsgesetz schnellstens verabschieden sollten, damit das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz wirklich greift.Mit großer Sorge und Beunruhigung sehen wir die Entindustrialisierung im Osten Deutschlands. Die Produktionskapazitäten in den alten Ländern können fast jeden Bedarf befriedigen. Kaum ein Betrieb im Osten kann sich auf westlichen Märkten mit den bisherigen Produkten durchsetzen. Unser hauptsächlicher Markt war im Osten, und der ist fast zusammengebrochen, so daß für unseren Maschinenbau, Waggonbau, Schiffsbau wie überhaupt für fast alle Produkte trotz günstiger Hermes-Bürgschaften kaum mehr ein Markt existiert. Eine leichte Verbesserung hat sich in den letzten drei Wochen entwickelt. Wir haben es gehört. Aber der Markt ist das nicht mehr.Wir brauchen deshalb eine aktive Strukturpolitik für eine begrenzte Zeit, die verhindert, daß bei uns eine industrielle Wüste entsteht, auf der über Jahrzehnte nichts mehr grünt.
— Ich sage es ja!
— Er hört es doch.
Wir haben das in unser Papier hineingeschrieben, und das Papier wird umgesetzt.Für die Überbrückung dieser äußerst schwierigen Situation — das geht jetzt alle an — ist es von höchster Wichtigkeit, daß bei den Aufträgen der öffentlichen Hände die ostdeutschen Bewerber durch Verlängerung und Verbesserung der bestehenden Präferenzregelungen angemessen beteiligt werden. Insbesondere sind auch die Lose so zu schneiden, daß sie den Bedingungen der ostdeutschen Unternehmen gerecht werden. Ich glaube, hier gibt es vor allen Dingen im Bereich der Telekom-Aufträge und auch des Autobahnbaus noch viele Möglichkeiten für Arbeit unserer eigenen Unternehmen.Die Sanierung industrieller Kerne für die Produktion marktfähiger Produkte setzt auch die Erhaltung des noch vorhandenen Bestandes an industrienaher Forschung voraus. Ohne eigene Produktionsinnovationen können keine wettbewerbsfähigen Produkte hergestellt werden. Ein weiterer Abbau darf nicht erfolgen. Zunächst muß jedoch eine schnelle Privatisierung zu bevorzugten Bedingungen die Herauslösung der industrienahen Forschungseinrichtungen aus der Treuhandanstalt ermöglichen.Einen zentralen Platz für den wirtschaftlichen Aufschwung nimmt die Bauwirtschaft ein. Bisher hat sie die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt und auch nicht erfüllen können. Ich bin auf die Ursachen eingegangen. Wie die Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland beweist, werden die Wohnungsinstandsetzungen und der Neubau von Wohnungen ein weites Feld für wirtschaftliche Entwicklung erschließen. Allein der Bestand von sieben Millionen Wohnungen muß instandgesetzt und modernisiert werden. Bei einem durchschnittlichen Aufwand von 50 000 DM ergäbe sich daraus ein Volumen von 350 Milliarden DM, Arbeit für viele Jahre! Gleichzeitig kann sich hierfür schneller als irgendwo anders ein Mittelstand für die Ausbau- und Ausrüstungswerke entwickeln.
Energieanlagen, Heizungs-, Wasser- und Abwasserleitungen, Fenster, Türen, Dächer, Fassaden, alles ist zu erneuern. Die Wärmedämmung ist vorzunehmen. Voraussetzung dafür sind günstige Kredite wie beim KfW-Programm und Zuschüsse für die Modernisierung der Wohnungen sowie Anreize für die Privatisierung und eine angemessene Altschuldenregelung, z. B. eine Entschuldung im Umfang der eingesetzten Modernisierungsaufwendungen. Der sich dabei entwickelnde Mittelstand benötigt ein speziell auf die ostdeutschen Unternehmen zugeschnittenes Programm. Die Abgeordneten meiner Fraktion haben in Erfurt vorgeschlagen, statt der Sonderabschreibung eine 25 %ige Investitionszulage wahlweise zu gewäh-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8881
Johannes Nitschren, um der Ertragslage dieser Unternehmen zu entsprechen.Weitere Reserven für Arbeitsplätze liegen in der Energie- und Abwasserwirtschaft. Der Antrag von ca. 160 Kommunen beim Bundesverfassungsgericht gegen den Stromvertrag, der seit Juni 1991 in Karlsruhe anhängig ist, blockiert Investitionen von 50 bis 60 Milliarden DM,
die im wesentlichen aus privaten Händen kommen würden: für den Neubau, die Nachrüstung, die Modernisierung von Kraftwerken, Umspannwerken, Verbundleitungen und Ortsnetzen.
—Ich will das gerne wiederholen: Das ist Geld, das die öffentlichen Hände nicht belasten würde.
Auch die Sanierung des ostdeutschen Braunkohlebergbaus ist eine wichtige Voraussetzung für den Aufschwung Ost. Hier muß bald ein Lösungskonzept erarbeitet werden. Insbesondere ist über die Frage der Altlastenfinanzierung zu entscheiden. Es gilt da ähnliches wie für den Bereich, den ich vorher angesprochen habe.Ich habe hier zuallererst Bereiche aufgezeigt, in denen wir Arbeitsplätze schaffen können, ohne auf Außenmärkte angewiesen zu sein. Es darf jedoch nicht vernachlässigt werden, günstige Bedingungen für Investoren im industriellen Bereich herzustellen, um sehr bald auch am Export auf westliche Märkte teilnehmen zu können.Öffentliche und private Investitionen müssen heute und morgen den Grundstein dafür legen, daß sich der Wohlstand im Osten entwickelt. Ebenso müssen die Bedingungen dafür geschaffen werden, daß er im Westen erhalten bleibt. Es darf zu keiner Zweiteilung von prosperierenden Regionen einerseits und wirtschaftsschwachen Gebieten mit Dauerarbeitslosigkeit, Strukturschwächen und Abwanderungen andererseits kommen.An die Ausschüsse habe ich deshalb die Bitte, zu prüfen, wie Umschichtungen in den Haushalten, besonders in den Bereichen, die ich angesprochen habe, also Wohnungsbau, Dorf- und Stadtsanierung, zugunsten der neuen Länder möglich sind.Obwohl ich heute zum Wirtschaftsstandort Deutschland spreche, liegt mir an der Erhaltung unserer Kulturlandschaft ungeheuer viel. Es darf dort auf keinen Fall das passieren, was im Industriebereich vor sich geht, weil Kultur nicht abbrechen kann; Kultur besteht fort. Wir haben im Art. 35 des Einigungsvertrages alle gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen. Es ist gestern zur Überbrückungsfinanzierung und Substanzerhaltung eigentlich von kompetentester Seite genügend gesagt worden, so daß ich hier dazu nichts mehr ausführen möchte. Ich bin aber seit gestern sehr optimistisch und der Meinung: Der Durchbruch ist erreicht.Neben allen finanziellen Beziehungen, die wir zwischen Ost und West brauchen und die leider noch lange sehr einseitig sein werden, wollen wir den Dialog in allen Bereichen unseres Lebens mehr pflegen. Gemeinsames Denken und Handeln fördern, das ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für die Überbrückung der Verständigungsschwierigkeiten in unserem Land. Das ist keine Floskel; ich merke das mehr und mehr. Ich lade deshalb alle Abgeordneten aus den alten Ländern ein, zu uns zu kommen, mit uns in die Betriebe zu gehen und mit unseren Menschen zu sprechen.
Viele Menschen in Ost und West sind verunsichert. Sie spüren, daß sie Zeitzeugen eines gewaltigen politischen Umbruchs sind. Global ist das System des Sozialismus zusammengebrochen. Noch ist nicht erkennbar, wie die Entwicklung im Osten Europas weitergehen wird. Entscheidend ist deshalb, daß im Raum der EG die vorgesehenen politischen Schritte vorankommen. Wir und alle Menschen in Europa brauchen eine Gemeinschaft, die wirtschaftlich stark und politisch stabil ist.
Vielen Dank.
Die Weisheit unserer Geschäftsführung hat jetzt vorgesehen, daß der Kollege Kurt Rossmanith das Wort bekommt, dem ich es hiermit erteile.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich natürlich für diese Weisheit außerordentlich und will versuchen, dem in den mir verbliebenen neun Minuten — schon der Weg hierher hat anscheinend eine Minute in Anspruch genommen — gerecht zu werden.Wir haben heute das Thema Wirtschaftsstandort, Investitions-, Produktionsstandort Bundesrepublik Deutschland, ein Thema, das nicht erst seit heute existiert, sondern uns über einen langen Zeitraum hinweg schon beschäftigt hat. Wir haben es trotz aller Kritik, trotz aller Probleme und Schwierigkeiten, die sich aufzeigen, erreicht, daß wir uns inzwischen im zehnten Jahr des Wachstums befinden.
Ich bin überzeugt, das werden wir — vorausgesetzt, die Wahl 1994 wird entsprechend ausgehen,
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8882 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Kurt J. Rossmanithaber auch davon bin ich überzeugt — auch über diesen Zeitraum hinaus
realisieren können.
Von der Opposition wurde und wird nach wie vor Schwarzmalerei betrieben. Eine Ausnahme — das muß ich wirklich sagen — hat heute der Kollege Wolfgang Roth gemacht, der auch von Optimismus gesprochen hat und geäußert hat: Wir müssen auch einmal sagen, was gut ist, und sagen, daß wir zwar einiges tun müssen, daß wir uns aber optimistisch nach vorne bewegen müssen. Dafür möchte ich ihm hier ausdrücklich danken.
Ich glaube, neu an dieser Diskussion über den Wirtschaftsstandort Deutschland ist, daß wir sie im wiedervereinigten Deutschland in einer Zeit des Umbruchs in Mittel- und Osteuropa führen und führen müssen und daß uns daraus Aufgaben erwachsen, die wir anzugehen haben und die wir auch schon angegangen sind. Es hat dabei sicherlich — das ist in der Debatte in dieser Woche häufig angesprochen worden — auch Fehler und Fehleinschätzungen gegeben. Das können wir aber bewältigen, und wir können diese Herausforderungen auch annehmen.Es muß aber in aller Deutlichkeit immer wieder gesagt werden: Die Aufgaben werden wir nur dann bewältigen können, wenn Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wirklich an einem Strang ziehen, wenn wir uns gemeinsam dieser Verantwortung bewußt sind und die Risiken, die natürlich vorhanden sind, gemeinsam angehen, analysieren
und diese Risiken ausschalten, soweit es geht.Diese Risiken sind vielschichtiger Art. Nicht nur wegen der jetzt wegbrechenden Märkte in der ehemaligen Sowjetunion, der heutigen Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten, sondern auch wegen der Umstrukturierung in den neuen Bundesländern werden wir sicherlich eine Opferbereitschaft von unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern und von uns allen erwarten müssen, die länger dauert als ursprünglich angenommen.Andere Faktoren — das ist heute schon des öfteren angesprochen worden —, nämlich hohe Arbeitskosten, im internationalen Vergleich zu hohe Steuerbelastungen, Umweltauflagen — die natürlich richtig sind und die wir befürworten; wir wollen da auch entsprechend investieren —, sind ebenfalls mit zu berücksichtigen und beeinflussen den Wirtschaftsstandort Deutschland in wesentlichem Maße.
Ein weiterer Punkt ist der wesentlich härter gewordene internationale Wettbewerb. Ich kann auch in unserem eigenen Interesse nur hoffen, daß das deutsche Erfolgskonzept der Sozialen Marktwirtschaft bei unseren Nachbarn in Mittel- und Osteuropa nicht nur kopiert, sondern auch entsprechend erfolgreich umgesetzt wird.Natürlich kommt es in dieser Situation darauf an, daß wir auch über stabile und berechenbare Rahmenbedingungen für private Investitionen optimale Entfaltungsmöglichkeiten am Standort Deutschland zu bieten haben. Wir müssen strukturellen Fehlentwicklungen entgegenwirken, indem wir marktwidrige Wettbewerbsverzerrungen und strukturkonservierende Subventionen abbauen. Wir müssen — auch hier weiß ich mich mit Kollegen Wolfgang Roth einig — auch den Bürgerinnen und Bürgern und den Unternehmen Mut und Zuversicht in die künftige Entwicklung geben.Ich möchte Wolfgang Roth in seiner Rede heute morgen noch einmal zitieren und ihm ausdrücklich dafür danken, daß er sich auch dazu bekannt und sich hier von vielen Beiträgen der Opposition deutlich abgehoben hat.
Natürlich ist in der Situation ein glaubwürdiges Gesamtkonzept erforderlich, das alle wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen in die Pflicht nimmt. Ein solches Konzept, meine Damen und Herren, darf natürlich nicht nur die Wirtschafts- und Finanzpolitik, sondern muß auch die Sozialpolitik und die Umweltpolitik mit umfassen.Im Rahmen dieses Konzepts — und auch darüber sind wir uns, so hoffe ich, alle einig — muß besonderes Gewicht auch darauf gelegt werden, daß eine Entindustrialisierung in den neuen Bundesländern verhindert wird. Hier spielt eine flexible Tarifpolitik eine ganz wesentliche Rolle. Wir alle wissen, daß die Produktivität im vergangenen Jahr in den neuen Bundesländern bei weniger oder um die 30 % herum lag im Vergleich zum westdeutschen Niveau, die Tariflöhne dagegen bei 65 % liegen und daß sich diese Situation kaum oder nicht verbessert hat.Ich habe natürlich durchaus Verständnis für den Wunsch nach einer schnellen Lohnangleichung. Aber die Kluft zwischen Lohn und Produktivität beeinträchtigt natürlich ganz massiv die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und verschärft dadurch die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern.Wir haben deshalb mit der historisch einmaligen Aufgabe der Wiedervereinigung auch in der Finanz- und Haushaltspolitik unsere Aufgaben zu bewältigen und diese Herausforderung anzunehmen. Die Erblast des real existierenden Sozialismus in der früheren DDR — das kann man nicht oft genug betonen — muß abgetragen werden und eine zügige Angleichung der Lebensverhältnisse im Osten und im Westen erzielt werden. Nur, dies wird länger dauern, und es wird natürlich auch teurer werden, als wir alle ursprünglich angenommen hatten.
Deshalb muß es oberstes Ziel sein — und ich sage das gerade in dieser Haushaltsdebatte —, daß die kurzfristig notwendigen und berechtigten höheren Staatsdefizite wieder auf ein gesamtwirtschaftlich
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8883
Kurt J. Rossmanithvertretbares Maß zurückgeführt werden. Ich bin der Meinung, daß mit dem Entwurf des Bundeshaushalts 1993 und dem Finanzplan des Bundes bis 1996 die Bundesregierung ein deutliches Zeichen gesetzt hat.
Die Kreditaufnahme des Bundes, die im vergangenen Jahr etwa bei 50 Milliarden DM lag, soll schrittweise bis 1996 auf rund 22 Milliarden DM zurückgeführt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es allerdings erforderlich, daß ein konsequentes Abwehren von Versuchen, dem Bundeshaushalt neue Lasten aufzubürden, von uns allen — von uns allen! — unternommen wird und wir uns alle in dieser Verpflichtung stellen. Das bis zum Ende dieser Legislaturperiode verlängerte Ausgabenmoratorium muß deshalb strikt eingehalten werden. Ich bekenne mich in diesem Zusammenhang auch zum Subventionsabbau. Auch unpopuläre Kürzungen dürfen nicht zur Tabuzone erklärt werden.Eines müssen wir bei dieser Gesamtbetrachtung aber berücksichtigen, daß die internationale Wettbewerbsfähigkeit für unsere Wirtschaft oder für Teile unserer Wirtschaft natürlich auch erhalten bzw. auch in Zukunft gegeben sein muß. Ich darf als Beispiel die Werftindustrie erwähnen, die schwer zu kämpfen hat und bei der die Wettbewerbsverzerrungen im internationalen Handel geradezu eklatant sind.
Es ist von uns deshalb Haushaltsdisziplin gefordert, Haushaltsdisziplin nicht nur des Bundes, sondern auch der Länder und der Gebietskörperschaften, sprich der Kommunen, in den alten Bundesländern, aber auch eben ein entsprechendes Verständnis dafür in den neuen Bundesländern.Es kommt deshalb — das möchte ich zum Schluß noch einmal in einem Satz zusammenfassen — für mich darauf an, daß die Weichen für die Entwicklung des Standortes Deutschland richtig gestellt werden. Seine Stärken sind unbestritten. Sie müssen erhalten, sie müssen ausgebaut werden. Gleichzeitig müssen wir aber auch den Mut haben, die erkannten Schwächen konsequent zu beseitigen. Dies erfordert Mut, dies erfordert Entschlossenheit. Wir von der CDU/ CSU nehmen diese Herauforderung an und werden das auch in den vor uns liegenden und beginnenden Haushaltsberatungen zum Ausdruck bringen.
Nun hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Theo Waigel, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich am Schluß dieser Runde nur ein paar Bemerkungen machen. Ich bin ein bißchen enttäuscht über die Teilnahme an dieser Diskussion. Das betrifft alle Seiten dieses Hauses.
Wenn bei einer so wichtigen Frage so wenig Interesse da ist, dann müssen wir uns, dann müssen sich alle, die nicht da sind, die Frage stellen lassen, ob wir es auch nutzen, hier etwas zum Ausdruck zu bringen, was über dieses Parlament hinausgeht. Dann stellt sich schon die Frage, wenn wir über diese Prioritäten sprechen, welchen Eindruck die Fernsehkameras, die auf uns gerichtet werden, in der Bevölkerung erwekken, und welchen Beitrag wir zur Politikverdrossenheit oder zur Überwindung der Politikverdrossenheit leisten oder nicht leisten.
Um so mehr freue ich mich, daß ein alter Kollege des Haushaltsausschusses, ein früherer Vorsitzender, seit Stunden hier oben auf der Zuschauertribüne sitzt,
unser Freund Lothar Haase, und dieser Debatte interessierter und engagierter zuhört und beiwohnt als mancher, der es tun könnte.Ich möchte auch differenzieren. In diesen letzten zwei Tagen gab es bemerkenswerte Reden von allen Seiten und es gab Routinereden. Was der Kollege, ich glaube Schüßler war es, vorgestern zum Ausdruck gebracht hat, war eine bemerkenswerte Rede, die jeden von uns in Anspruch genommen hat und wo jeder bereit war, darüber nachzudenken und zu sagen: Jawohl, da steckt vieles drin, was wir uns alle zu Gemüte führen müssen.Das trifft übrigens auch auf die Rede des Kollegen Wolfgang Roth zu — Kollege Rossmanith hat das eben zum Ausdruck gebracht —, wo ich viel Nachdenkens-wertes gefunden habe und die einmal über den Tellerrand hinausging, um nachdenkliche Fragen an sich und an andere zu stellen. Das ist, glaube ich, der Weg, auf dem wir uns in den nächsten Jahren miteinander begegnen müssen und bei dem eine Chance besteht, die großen Probleme anzupacken.
Ich hätte das Kompliment, Frau Kollegin Matthäus-Maier, natürlich auch ganz gerne an Sie gerichtet, aber das ist mir beim besten Willen nicht möglich.
Es tut mir leid, aber vielleicht schaffen wir es auch noch einmal. Lassen Sie mir ein paar Minuten, das zu sagen. Wenn Sie mir die Doppelrolle von Parteivorsitz und Finanzminister vorwerfen: Es war Helmut Schmidt, der immer wieder betont hat, Ihnen gegenüber wie auch uns gegenüber, sein größter Fehler sei es gewesen, nicht gleichzeitig Bundeskanzler und Parteivorsitzender gewesen zu sein.
Ich will das nicht vertiefen. Nur, überlegen Sie es sich einmal gut, welche Diskussion Sie damit beginnen. Sollen wir in Schleswig-Holstein die Diskussion beginnen, ob jemand, der Kanzlerkandidat und Parteivorsitzender ist, dann noch seinem Land genügend zur Verfügung steht? Und in welcher Rolle befindet sich die amtierende Bundestagspräsidentin, wenn
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8884 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Bundesminister Dr. Theodor Waigelman ihr dann die Frage stellt, ob sie ihrem Engagement in Bayern genügend nachkommen kann oder nicht?Frau Präsidentin, ich muß auch in Ihrem Interesse diese Bemerkungen der Frau Kollegin Matthäus-Maier mit allem Ernst und aller Entschiedenheit zurückweisen.
Da Sie, Frau Präsidentin, dies in Ihrer souveränen und überparteilichen Rolle gegenüber ihrem Parteifreund nicht hinreichend tun können, mache ich das in übergreifender Solidarität für Sie.
Die Steuerpolitik spielt im Standort Deutschland eine herausragende Rolle. Ich bin dankbar für die Akzeptanz, die unser Vorschlag zu einem Standortsicherungsgesetz gefunden hat. Es gibt Akzeptanz in der Koalition, aber dieser Vorschlag hat auch viel Aufmerksamkeit und Zustimmung bei der Opposition und in den letzten Tagen auch viel Zustimmung im Bereich der Wirtschaft, des Mittelstandes gefunden. Ich glaube, das ist eine gute Basis, um bei diesem wichtigen Gesetz möglichst schnell voranzukommen und damit ein positives Signal für den Standort Deutschland in der Steuer- und Abgabenpolitik und in bezug auf die Stärkung des Wachstums zu setzen.
Wir wollen und müssen das um den Finanzplatz Deutschland ergänzen. Auch das ist im Zusammenhang mit dem europäischen Wettbewerb und der Europäischen Gemeinschaft ganz, ganz wichtig. Hier geht es um mehr Transparenz, verstärkten Anlegerschutz und eine bundeseinheitliche Marktaufsicht, die internationalen Standards entspricht. Wir sind das vor allen Dingen dem Finanzplatz Frankfurt schuldig, ohne daß ich die Regionalbörsen benachteiligen möchte. Ich sehe ihre Notwendigkeit und ihre Wichtigkeit, aber der Finanzplatz Deutschland benötigt es. Ich bitte vor allen Dingen die Länder, konstruktiv daran mitzuarbeiten.
Wir stehen in wichtigen und nicht einfachen Gesprächen mit unseren Partnern, und zwar im Ecofin am vergangenen Samstag und in wenigen Tagen im Bereich der G 7. Hier wird von uns Wachstum, Stabilität und ein angemessener Beitrag zur Lösung der internationalen Aufgaben erwartet. Wir werden diese Erwartungen erfüllen. Wir haben das bisher immer getan. Wir haben uns an alle Zusagen gehalten, und wir haben auch gute Argumente, um unberechtigte Kritik, die da und dort auch im Ausland an uns geübt wird, zurückzuweisen. Wir haben keinen Anlaß — ich bin auch nicht dazu bereit —, uns auf internationalen Foren auf die Anklagebank setzen zu lassen.
Jeder, der uns kritisiert und bestimmte Maßnahmen fordert, soll einmal nachrechnen, wieviel zusätzliches Wachstum er auf Grund der deutschen Einheit für sich verbuchen konnte. Das gilt auch für unsere Partner in Europa und in der Welt. Immerhin sind es 0,5 % des Wachstums der letzten beiden Jahre, die wir über die deutsche Einheit auch an andere weitergeben konnten. Jeder soll einmal genau nachrechnen, wie seine Exporte nach Deutschland gefördert, nach oben gebracht wurden. Dabei ergeben sich Steigerungsraten von 14 %, 16 %, 20 % und mehr. Wenn man uns in den letzten Jahren immer wieder wegen unserer hohen Leistungs- und Handelsbilanzüberschüsse kritisiert hat, die wir jetzt abgebaut haben, was sich auch zugunsten unserer Partner auswirkt, dann darf man nicht gleichzeitig kritisieren, daß diese Überschüsse jetzt nicht mehr vorhanden sind. Beides zusammen geht nicht.
Wir sind auch nicht bereit zu akzeptieren, daß die Wachstumsschwäche da und dort, die Stagnation auf die deutsche Einheit und auf die deutschen Zinsen zurückzuführen ist.Professor Schiller hat einmal gesagt: stability begins at home. — So muß jeder seine eigene Hausarbeit und auch seine eigene Analyse machen. Selbstverständlich sind wir zu dieser Kooperation, zu jeder Zusammenarbeit — wie bisher auch — bereit.Meine Damen und Herren, es ist ja bemerkenswert: Auf der einen Seite wird der Schuldenvorwurf erhoben, und auf der anderen Seite werden mehr Ausgaben gefordert.
— Ach, darauf komme ich gleich zu sprechen. Die Finanzierung, die Sie vorlegen, ist ja eine Milchmädchenrechnung. Ich will Ihnen nur einmal etwas zum Schuldenwachstum sagen, liebe Frau Kollegin, damit Sie Ihre Beispiele noch vertiefen können.In dem Zeitraum von 1970 bis 1982, also in der Zeit, in der Sie Regierungsverantwortung getragen haben, stiegen die Schulden pro Kopf der westdeutschen Bevölkerung um insgesamt 380 %. In dem Zeitraum von 1982 bis 1991 waren es demgegenüber — trotz der gewaltigen Belastungen durch die Einheit — 52 %.
Wenn Sie von einer Steigerung reden, dann müssen Sie sagen, daß sich die größten Steigerungen in Ihrer Regierungszeit vollzogen, ohne daß die deutsche Einheit hätte berücksichtigt werden müssen.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, lassen Sie es endlich, immer wieder falsche Dinge zu wiederholen.
Wenn uns die Amerikaner Rechnungen und Berechnungen vorlegen, wonach die Kosten der Auseinandersetzung am Golf über den Zusagen der internationalen Partner liegen, dann macht es keinen Sinn, hier
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8885
Bundesminister Dr. Theodor Waigelimmer wieder so zu tun, als seien Rückforderungen möglich. Sie belasten das Verhältnis unsäglich. Sie wissen es, aber Sie tun das nur, um im Fernsehen Ihre Show abzuziehen. Lassen Sie das! Es nützt Ihnen und uns nichts.
— Sie sind der größte Schreier aller Zeiten.
— Sie sind der größte Schreier aller Zeiten. Ich sage Ihnen: Politik macht man mit dem Kopf und nicht mit dem Kehlkopf. Das gilt auch für Sie.
Sonst müssen Sie sich an einem Blähkonzert und nicht an einer Diskussion beteiligen.Ich will vorsichtig einmal ganz kurz auflisten, was die Dinge kosten, die in den letzten Tagen von Ihnen vorgeschlagen wurden. Änderung des gesetzlichen Sanierungsauftrages der Treuhand: etwa 10 Milliarden DM; höhere Investitionszulage im Finanzplanungszeitraum: 27 Milliarden DM — man kann ungefähr ausrechnen, was das pro Jahr bedeutet —; Stützung der ostdeutschen Wirtschaft und der GUS: 5 bis 10 Milliarden DM; die Unternehmenssteuerreform ist neutral; Anhebung des Grundfreibetrages: in der Größenordnung etwa 18 Milliarden DM; ein einheitliches Kindergeld ab dem ersten Kind: 13 Milliarden DM. Das ergibt eine Summe in der Größenordnung von mindestens 50 Milliarden DM pro Jahr, die Sie nicht finanzieren können, jedenfalls nicht mit den Instrumenten, die Sie genannt haben. In dieser Rechnung ist noch keine einzige Mark enthalten, um ab dem Jahre 1995 gemeinsam die Erblast des Sozialismus zu tragen. Das heißt: Ihre Finanzierung ist unsolide. Sie geben Solidität nur vor. Sie haben keine Alternative zu unserem Sparkonzept.
Um so notwendiger ist es, meine Damen und Herren, daß wir miteinander zu einer föderalen Konsolidierungsstrategie kommen, in deren Rahmen Bund, Länder und Gemeinden ihren Anteil erbringen. Ich habe sehr begrüßt, daß der Präsident des Deutschen Städtetags, Oberbürgermeister Rommel, gestern ausdrücklich gesagt hat, man sehe die Notwendigkeit ein, sich an der Drei-Prozent-Linie zu beteiligen. Ich finde das bemerkenswert. Je schneller wir diesen Kurs miteinander steuern, desto eher sind wir in der Lage, konstruktive weiterführende, zukunftssichernde Konzepte vorzulegen.
Ich will ausdrücklich das unterstützen, was der Kollege Roth zu folgendem Thema gesagt hat. Wenn wir die Investitionen im Osten jetzt nicht fördern, wenn wir jetzt nicht die erforderlichen Umschichtungen vornehmen, dann kommen uns die Transferleistungen später sehr viel teurer als Investitionen jetzt. Das müssen wir den Menschen im Westen und im Osten immer wieder sagen.Hier, meine Damen und Herren, ist die Verantwortung der Tarifpartner gefordert. Daran kommt niemand vorbei. Kollege Rossmanith hat die Zahlen genannt; sie decken sich genau mit den mir vorliegenden Zahlen. Das Produktivitätsniveau im Osten erreicht nur 29 % des westlichen Niveaus, während das Lohnniveau dort im Verhältnis wesentlich höher ist. Das schafft eine Produktivitätslücke, die wir durch hohe Transferleistungen ausgleichen müssen. Diese Mittel fehlen uns dann wieder für den notwendigen Aufbau oder den Erhalt von Arbeitsplätzen.
Darum wiederhole ich, was ich seit Wochen und Monaten immer wieder verlange: Wir müssen, wir sollten zu einem Verzicht auf eine Reallohnsteigerung im Westen kommen. Das Opfer wäre für alle Beteiligten wesentlich kleiner als hohe Zinsen oder eventuell höhere Steuern danach. Und es wäre volkswirtschaftlich vor allen Dingen der weitaus bessere Weg.
Aber das Opfer kann nicht nur von den Tarifpartnern, also von den Arbeitnehmern erbracht werden. Dann muß natürlich auch eine höhere Investitionsquote der Unternehmen aus dem Westen in den Osten ganz konsequent folgen. Hierfür ist noch zu wenig getan worden.
Die Gerechtigkeitsdebatte springt zu kurz, und ich halte sie in dieser Form für verkürzt; sie führt uns nicht weiter. Tatsächlich werden die Einkommensgruppen weitgehend gleichmäßig durch die zusätzlichen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge belastet.
— Frau Fuchs, hören Sie zu, ich schätze Sie doch, aber Sie haben doch bisher immer zuhören können. Also jetzt habe ich Ihr ganzes Buch gelesen, das Sie mit einer Widmung versehen haben, dann können Sie mir doch wenigstens einmal zwei Minuten zuhören.
— So führen wir den Dialog; ich lese das ganze Buch, das bemerkenswerte Züge hat, und Sie hören mir nicht einmal eine Minute zu.
— Also, einen kleinen Moment, so kann es doch mit der Emanzipation auch nicht weitergehen, daß nur Sie reden
und ich überhaupt nicht mehr.
— Das nehmen Sie aber sofort zurück.
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8886 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Bundesminister Dr. Theodor WaigelAuf die Hälfte der Einkommensteuerzahler mit einem Einkommen ab 50 000 DM jährlich entfällt mit rund drei Viertel der Löwenanteil der Mehrbelastungen durch die Steuer- und Abgabenerhöhung, und etwa die Hälfte der Mehrbelastungen wird von dem Viertel der Steuerzahler, das sind etwa sechs Millionen, aufgebracht, das mit einem Einkommen von über 60 000 DM von der SPD zu den Besserverdienenden gerechnet wird.Wir dürfen die Gerechtigkeitsdebatte auch nicht auf die Finanzierung der Einheit verkürzen. Allein im Bundeshaushalt sind 1993 rund 150 Milliarden DM an Sozialausgaben vorgesehen. Das gesamte staatliche Sozialbudget, das in erster Linie den Haushalten mit geringem Einkommen Vorteile bringt, beläuft sich auf weit über 700 Milliarden DM. Eine wesentliche Finanzierungsgrundlage dieser sozialen Vorsorge ist die progressive Lohn- und Einkommensteuer, die im nächsten Jahr mit rund 360 Milliarden DM fast 50 % des gesamten Steueraufkommens erbringen wird. Zu diesem Steueraufkommen tragen die wirklichen Spitzenverdiener mit Einkommen von über 160 000 DM, das sind rund 3 % der Steuerzahler, rund 30 % bei. Ich bitte, das doch wenigstens einmal in diese Debatte mit einzubeziehen, die meines Erachtens verkürzt geführt wird.
Ich gebe dem Wirtschaftsminister von Baden-Württemberg, dem früheren Kollegen Spöri, ausgesprochen recht, wenn er sagt, es ist besser, über Ausgabenbegrenzung und Ausgabenkürzung zu reden, nicht aber zum falschen Zeitpunkt Steuererhöhungsdebatten zu führen.
Wir hatten im Jahr 1990 immerhin wachstumsbedingt erhebliche Steuermehreinnahmen. Allein der einigungsbedingte Wachstumsschub brachte Zusatzeinnahmen von rund 10 Milliarden DM. Wir hatten am Schluß im Haushalt Minderausgaben und Mehreinnahmen von rund 17 Milliarden DM. Unter den Umständen damals Steuererhöhungen zu diskutieren hätte uns den Vorwurf eingebracht: „Ihr tut das zur Unzeit!" , obwohl zu diesem Zeitpunkt die Ausgaben niedriger waren als geschätzt. Hätten wir die Kreditermächtigungsgrenzen immer eingehalten, was wir Gott sei Dank nicht tun mußten und nicht getan haben, dann hätten wir auch die Steuererhöhungen im Jahr 1991 nicht machen müssen.
Trotzdem war es der bessere Weg, weil die Inanspruchnahme des Kapitalmarktes zu hoch gewesen wäre und insofern ein noch stärkerer Druck auf die Zinsen entstanden wäre.Übrigens schrieb das DIW in Berlin, das sich ja in den letzten Tagen über unsere Finanzpolitik geäußert hat, am 2. Mai 1990: Eine Steuererhöhung zur Finanzierung der Hilfen für die DDR ist aus heutiger Sicht nicht erforderlich. Auf Grund des langjährigen Konjunkturaufschwungs ist die finanzielle Lage des Staates weit günstiger, als noch vor einem Jahr mit Blick auf die Steuerreform 1990 vermutet wurde. Im übrigen kann angenommen werden, daß das wirtschaftliche Zusammengehen mit der DDR nach einer Anfangsphase mit erheblichen finanziellen Belastungen auch der Wirtschaft in der Bundesrepublik Wachstumsimpulse geben werde, die sich in höhere Steuereinnahmen niederschlagen würden. Je rascher außerdem der Wachstumsprozeß in der DDR in Gang gebracht wird, umso rascher wird auch das Defizit im Staatshaushalt der DDR sinken und damit geringere Finanzierungshilfen aus Bonn erfordern. — Das sagte damals das Institut, das sich gestern in einer, wie ich meine, unerträglichen Art und Weise mit unserer Finanzpolitik beschäftigt hat.
Meine Damen und Herren, wir haben damals gehandelt. Wir haben Einsparungen und Umschichtungen durchgesetzt: 5,5 Milliarden DM im Nachtragshaushalt 1990, 45 Milliarden DM im Rahmen des Haushalts 1991 und 10 Milliarden DM bei der Haushaltsaufstellung 1992. Das waren die ganz konkreten Einsparungen und Umschichtungen.Meine Damen und Herren, eines möchte ich auch noch zu der Diskussion, die heute im Bundesrat stattfindet, sagen. Eine Einigung von West- und Ostländern nur zu Lasten des Bundes löst die Probleme nicht. Das will ich mit aller Ruhe und Gelassenheit feststellen. Hier den kleinsten Nenner darin zu sehen, daß der Bund sozusagen für alles verantwortlich sein kann, das geht nicht. Wir müssen vielmehr im Rahmen des Finanzausgleichs in etwa zu gleichen Kreditfinanzierungsquoten kommen zwischen dem Bund und Westländern und auch den Ostländern, wobei man
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8887
Bundesminister Dr. Theodor Waigelnatürlich bei den Ostländern noch besondere Maßstäbe anlegen muß.
Meine Damen und Herren, in einer historischen Phase des Umbruches und der Unsicherheit werden wir an unserem wirtschafts- und finanzpolitischen Grundsatzkurs festhalten, um so Vertrauen zu schaffen und verläßliche Rahmenbedingungen herzustellen. Gleichzeitig gilt es, pragmatisch vorzugehen, wirtschafts- und finanzpolitische Optionen offenzuhalten und damit Verhandlungsspielräume für die Bewältigung heute nicht absehbarer Herausforderungen zu eröffnen. Nur mit dieser pragmatischen Haltung kann und wird es uns gelingen, auf klaren Grundsatzpositionen aufbauend, das Jahrhundertwerk der deutschen Einheit, der Wiedervereinigung Deutschlands, mit der erforderlichen Flexibilität abzuschließen.Ich danke Ihnen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Ingrid Matthäus-Maier das Wort.
Meine Damen und Herren! Für eine Kurzintervention hat man nur zwei Minuten Zeit. Deswegen möchte ich nur auf drei Dinge eingehen.
Erstens. Herr Waigel, geplant waren im sogenannten Golf-Krieg Ausgaben von 70 Milliarden US-Dollar. Der Krieg hat Gott sei Dank viel kürzer gedauert als angenommen. Die Kosten liegen im Moment nach den offiziellen Zahlen des Budget-Office des Präsidenten bei 55 Milliarden Dollar, vielleicht steigen sie auf 60 Milliarden US-Dollar. Wir haben ungefähr 10 Milliarden DM gezahlt. Da also der ganze Krieg ungefähr 10 % billiger war als befürchtet, haben wir das Recht, 10 % zurückzubekommen. Dieses Geld fordern Sie nicht ein. Das ist nicht in Ordnung, denn wir brauchen das Geld.
Zweitens. Wir haben mit unserem Kindergeld keine Mehrforderung gestellt. Wenn Sie endlich bereit währen, den unerträglichen Zustand zu ändern, daß Spitzenverdiener für ihre Kinder fast dreimal so viel Entlastung bekommen wie kleine Leute, und wenn wir diese Mittel dann gemeinsam umschichten, dann haben wir das Geld für 250 DM Kindergeld vom ersten Kind an.
Drittens. Es bleibt dabei, Herr Waigel: Unter Ihrer Regierung ist die Schuldenlast dieses Landes auf 1,6 Billionen DM angestiegen.
Ich habe gefordert, Sie sollten sich endlich zwischen dem Amt des CSU-Vorsitzenden und dem Amt des Finanzministers entscheiden. Sie können das nicht damit vergleichen, daß traditionell in allen Parteien Politiker sowohl ein Staatsamt als auch ein Parteiamt
innehatten. Das ist zwar völlig richtig und wird auch so bleiben; aber in einer Situation, in der wir die größte finanzpolitische Herausforderung in der Geschichte dieser Republik haben, geht es — erstens — nicht an, daß ein Finanzminister zugleich einer Interessenkollision unterliegt. Diese haben wir bei Ihnen gesehen: Der Verteidigungsminister stellt das Projekt Jäger 90 ein, aber der Finanzminister, der ihm dafür die Füße küssen müßte, will den Jäger 90 weiter bauen, weil er aus Bayern kommt.
Zweitens. Angesichts dieser großen Herausforderung bin ich der Ansicht, das Amt des Finanzministers braucht die ganze Person, nicht die halbe Person.
Zu einer Kurzintervention zur Erwiderung auf diese Kurzintervention erteile ich dem Herrn Bundesfinanzminister das Wort.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie haben wieder versucht, die Öffentlichkeit zu täuschen, und ich weise das zurück. Die Kosten des Golfkrieges liegen nach ersten Schätzungen bei etwa 55 bis 60 Milliarden DM oder etwas darüber. Die Zusagen beliefen sich auf 54 Milliarden DM. Es gibt keine Handhabe, weder von uns noch von sonst jemandem — —
— Fahren Sie doch einmal hinüber und machen Sie es dann!Es ist doch absurd, was Sie hier betreiben. Man kann doch nicht auf der einen Seite nicht bereit sein, an friedenserhaltenden Maßnahmen teilzunehmen, und dann eine schäbige Diskussion darüber führen, daß wir unseren Beitrag dazu leisten, daß woanders Friede hergestellt wird.
Sie schaden damit den Interessen unseres Landes auf eine ungewöhnliche Weise. Sie wissen es, und Sie tun es trotzdem.Zum zweiten. Welches Parteiamt ich ausübe, geht Sie gar nichts an. Das will ich Ihnen einmal sagen.
Das entscheiden die Delegierten. Ich habe bisher beide Ämter, wie ich glaube, auf einen Nenner gebracht und beide erfolgreich geführt.
Ich werde weder die Füße des Verteidigungsministers noch die Ihren küssen.
Dieter-Julius
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8888 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Zu einer persönlichen Erklärung gebe ich der Abgeordneten Frau Anke Fuchs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Waigel, da wir uns beide sehr mögen und ich diesen Konsens erhalten möchte, möchte ich doch meine persönliche Betroffenheit über Ihren letzten Diskussionsbeitrag zum Ausdruck bringen. Ich finde es nicht in Ordnung, daß die Frage, wie wir mit unseren finanziellen Ressourcen umgehen, von Ihnen in dieser falsch interpretierbaren, schäbigen Art meiner Kollegin Ingrid Matthäus-Maier an den Kopf geworfen wird. Tatsache ist: Sie rechnen so, als ob die Vereinigten Staaten sich finanziell an dem Golfkrieg so gut wie gar nicht zu beteiligen hätten. Sie tun so, als ob die Deutschen eine überproportionale Last zu tragen hätten. Ich finde, Sie sollten sagen: Wir wollen diese 2 Milliarden DM für unseren Haushalt zurück. Dafür könnte man viele Wohnungen bauen, dafür könnte man viele Kindergartenplätze schaffen. Von daher weise ich als persönlich Betroffene zurück, was Sie hier gesagt haben.
Ich erteile dem Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen Möllemann, das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich entsinne mich der Debatten in diesem Haus zum Zeitpunkt des Golfkrieges. Wir haben uns damals aus verfassungsrechtlichen und politischen Gründen außerstande gesehen, mit eigenen Soldaten den Angriff eines Diktators auf ein anderes Land zurückzuweisen und uns militärisch solidarisch zu verhalten. Vielen von uns war dabei unwohl, daß wir allein mit einer finanziellen Beteiligung das Recht unterstützen konnten.
Es ist mir aber sehr viel unwohler, wenn wir jetzt im nachhinein, da die Ausgaben der Vereinigten Staaten vielleicht etwas niedriger waren als angenommen,
sie aber Tote und Verletzte zu beklagen haben und die Aufgabenverteilung im Bündnis etwas ungewöhnlich war, anfangen, in D-Mark aufzurechnen. Ich glaube, wir tun unserem Land damit keinen Gefallen.
Meine Damen und Herren, nunmehr erteile ich dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Klaus Töpfer, das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nicht ganz leicht, nach dieser ergänzenden Diskussion zur Normalität der Diskussion über den Umwelthaushalt überzugehen. Denn vieles geht einem durch den Kopf, wenn man das verfolgt, was hier gerade gesagt worden ist, angefangen bei den ökologischen Kosten, die, Frau Kollegin Matthäus-Maier, in Ihren Rechnungen offenbar überhaupt keinen Stellenwert haben, bis hin zu der Tatsache, daß vieles von dem, was hier gesagt worden ist, eigentlich die menschliche Dimension völlig ausblendet.Es ist meine große Besorgnis, daß Sie Ihre Ausführungen eben nicht mit Blick auf die 2 Milliarden DM, wie auch immer sie berechnet sind, hier vortragen, sondern unter dem Gesichtspunkt, Menschen in eine Richtung zu motivieren, die genau das Gegenteil von dem bewirkt, was wir brauchen, nämlich eine Solidarität auch in dieser zentralen Frage.Lassen Sie mich nun auf den Haushalt zu sprechen kommen, den auch ich mit zu vertreten habe. Meine Damen und Herren, vor knapp zwei Jahren konnten wir die Überwindung der Konfrontation zwischen Ost und West begeistert begrüßen. Wir haben die deutsche Einheit. Wir haben eine Ideologie überwunden, die den einzelnen dem Kollektiv unterordnete und damit auch in der zentralen Planung der Wirtschaft ihr Heil suchen mußte. Wir haben glücklicherweise eine Konfrontation überwunden, die zur Sicherung des Gegeneinanders von Systemen enorme Kräfte binden und vergeuden mußte, Kräfte menschlicher Kreativität, knappe finanzielle Ressourcen, begrenzte Energie, begrenzte menschliche Arbeitskraft. Alles dies ist untergeordnet worden.Die Überwindung der Ost-West-Konfrontation hat — auch das muß immer wieder gesagt werden — die Koordinaten der Weltpolitik so grundsätzlich verändert, daß wir die Gestaltung der Zukunft wirklich neu überdenken müssen und auch überdenken können, ich meine, in einer Grundsätzlichkeit, die mit Konsequenzen verbunden ist, wie sie dem einen oder dem anderen bis zum heutigen Tag noch nicht bewußt geworden sind.Wenn wir uns gerade auch in dieser Haushaltsdebatte bemühen, die Grundlagen für eine Bestandsaufnahme unserer Probleme zu legen, dann muß auch darauf hingewiesen werden, daß die Kosten dieser neuen Chance einer Einheit weltweit beachtet, daß sie bedacht und berücksichtigt werden müssen — eine Tatsache, die wir in Rio in ganz besonderer Weise deutlich gespürt haben.Lassen Sie mich eines hinzufügen. Wir freuen uns natürlich, daß wir, wie andere gesagt haben, eine Friedensdividende bekommen können. Sie hat sich auch in diesem Haushalt niedergeschlagen. Aber wir werden alles daransetzen müssen, damit das geistige Vakuum, das die überwundene Ideologie zurückgelassen hat, nicht in einer Weise gefüllt wird, daß uns diese Friedensdividende sehr schnell wieder verlorengeht, damit die neuen Entwicklungen nicht in eine Renationalisierung oder Reideologisierung münden, die uns dann sehr schnell wieder deutlich machen, wie notwendig es ist, sich dagegen zu wappnen. Ich meine, daß es dringender denn je ist, auf die Über-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8889
Bundesminister Dr. Klaus Töpferwindung des geistigen Vakuums hinzuweisen, wenn wir die schrecklichen Bilder aus dem ehemaligen Jugoslawien sehen, wenn wir die Auseinandersetzungen in Armenien, Aserbaidschan oder anderswo sehen. Es sind diese Renationalisierungen, die auch die Umwelt in unglaublicher Weise in Anspruch nehmen. Vielleicht ist das in den Bildern im Fernsehen nicht so spektakulär erkennbar, wie es im Zusammenhang mit dem Golfkrieg der Fall war. Wir müssen diese Gefahr überwinden. Wir müssen sie beseitigen.Ich glaube, daß wir uns immer wieder klarwerden müssen, daß die Überwindung dieser Ideologie auch unmittelbar an die Erkenntnis vieler Menschen im ehemaligen Ostblock gebunden war, daß das System mit der zentralen Verwaltungswirtschaft auch auf Kosten von Umwelt und Natur erbarmungslos gewirtschaftet hat. Es hat das Umweltkapital erbarmungslos ausgenutzt. Diese Verachtung gegenüber der Schöpfung hat viele Menschen nachdenklich gemacht und in dem einen oder anderen Fall auch zum Handeln gebracht. Wir sollten bei aller Diskussion heute immer wieder an die Menschen denken, die sich in Kirchen und an vielen anderen Stellen getroffen haben, um ihren Aufschrei gegen diesen Mißbrauch von Natur und Schöpfung zum Ausdruck zu bringen und zu sagen: Wer so die Schöpfung mißbraucht, kann nicht eine Zukunft für die menschliche Gesellschaft darstellen.
Ich meine, daß wir in der Zwischenzeit allerdings gelernt haben, daß die Hypotheken, die damit in der Natur und in der Umwelt aufgehäuft worden sind, sehr viel weitreichender sind, als wir es jemals geglaubt haben. Wir sehen, daß zur Erhaltung des Lebensraums für die Menschen, aber auch für eine zukunftsfähige Industrie- und Wirtschaftsentwicklung in den jungen Bundesländern Sanierungsarbeiten notwendig sind, daß das Umweltkapital wieder neu begründet werden muß.Lassen Sie mich deutlich sagen: Dafür brauchen wir drei wichtige Voraussetzungen. Wir brauchen dafür eine stabile Wirtschaft. Auch und gerade der Umweltminister muß daran interessiert sein, eine stabile Wirtschaft zu erhalten, weil nur daraus die Sanierungskosten erarbeitet werden können, die wir brauchen, um Vergangenes wieder geradezurücken.
Ein Zweites. Wir können diese Umwelthypotheken nicht ohne moderne Technologien beseitigen. All denjenigen, die glauben, daß lange Genehmigungsverfahren ein Gewinn für die Umweltvorsorge sind, sei gesagt: Sie verhindern die Inanspruchnahme moderner Techniken zur Sanierung genau dieser Umweltbelastungen.
Deswegen ist es nicht ein Verlust, sondern ein Gewinnan Umweltvorsorge, wenn wir möglichst bald miteiner Durchforstung der bürokratischen, der überbürokratischen Genehmigungsverfahren vorankommen, damit auch umweltentlastende Techniken möglichst bald genutzt werden können.
Das ist absolut notwendig.Ich füge hinzu, meine Damen und Herren: Alle Unterstellungen, daß mit einer Entbürokratisierung der Verfahren so etwas wie eine geringere Beachtung der Mitwirkungsmöglichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern verbunden sein muß, weise ich nachhaltig zurück.
Gerade denen gegenüber, die sich in den Kirchen der ehemaligen DDR getroffen haben, um für die Umwelt zu demonstrieren und sich dafür zu engagieren, sind wir verpflichtet, sie in die Entscheidungsprozesse einzubinden. Wir müssen sie aber davor bewahren, daß andere mit ganz anderen Zielen Techniken vermeiden, die gerade zur Sanierung dieser Belastungen nötig sind.
Das miteinander zu verknüpfen ist für mich deswegen so wichtig, weil wir das erwähnte Ziel als Bund, als Bundesregierung allein gar nicht erreichen können. Wir müssen es zusammen mit den Bundesländern erreichen. Deswegen verfolge ich mit einiger Besorgnis das, was im Bundesrat in der Frage der Vereinfachung von Genehmigungsverfahren bisher gemacht worden ist. Wir werden jetzt unseren eigenen Vorschlag vorlegen. Ich hoffe sehr, daß wir bis in die Fragen von Bauartenzulassungen, bis in die Fragen von entsprechenden Genehmigungsmöglichkeiten hinein die Unterstützung der Bundesländer gewinnen. Denn wir können nicht nur den Mund spitzen; hier muß wirklich einmal gepfiffen, es muß entschieden werden. Ich sage noch einmal: Wir sind im Vollzugsbereich entscheidend von den Bundesländern abhängig.Ein Drittes muß dazu gesagt werden. Wer die gewaltigen Hypotheken abtragen will, die die Umwelt auf Grund jener unmenschlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsform hat hinnehmen müssen,
der wird mit Sicherheit Schiffbruch erleiden, wenn er alles auf einmal tun will. Wir müssen Prioritäten setzen. Diese Prioritäten haben wir unmittelbar, nachdem die Chance dafür gegeben war, gesetzt und umgesetzt.Eine der Prioritäten war die Sicherung des Trinkwassers. Für jeden Menschen in Deutschland muß absolut sicher sein, daß das Wasser, das aus seinem Wasserhahn kommt, ohne jegliche gesundheitliche Bedenken getrunken werden kann. Das war keine Selbstverständlichkeit in der ehemaligen DDR, wie
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Bundesminister Dr. Klaus Töpferwir wissen. Es sind insgesamt 1,6 Milliarden DM für ein Sofortprogramm im Umweltschutz eingesetzt worden.Wir haben ein Zweites getan. Wir haben uns bemüht, die Beschäftigung von Menschen in ihren alten Betrieben mit der Sanierung der Umwelt zu verbinden. Es ist eine großartige Sache, daß 120 000 Menschen in der ehemaligen DDR, in unseren jungen Bundesländern, durch die Sanierung von Umweltlasten einen guten Arbeitsplatz haben. Ich verteidige und vertrete nachhaltig, daß es gut und richtig ist, solche AB-Maßnahmen zu haben und sie weiterzuführen.
Wir brauchen eine solche Verbindung. Ich freue mich darüber, daß in § 249h AFG, wie er im Entwurf vorliegt, die Möglichkeit von umweltsanierenden AB-Maßnahmen vorgesehen ist. Wir wissen, daß damit die Finanzierung nicht abschließend geregelt ist. Wir brauchen dafür die Mitwirkung der Treuhand. Aber wir müssen diese Möglichkeit haben, wenn wir nicht in wichtigen Bereichen der Sanierungsaufgaben ein wesentliches Stück zurückfallen wollen.Ich erwähne dabei in ganz besonderer Weise den Braunkohlentagebau. Ich unterstreiche das mit großem Nachdruck. Ich wende mich deutlich gegen zwei Diffamierungsargumente. Ich wende mich gegen diejenigen, die meinen, AB-Maßnahmen mit Arbeit bis Mittag diffamieren zu können — und damit zugleich die Menschen, die in diesem Bereich arbeiten. Es sind hervorragende Arbeiten, und die Menschen, die sie tun, verdienen unsere Unterstützung und unsere Mithilfe bei der Bewältigung dieser Aufgaben.
Ich bin in Riesa gewesen. Ich habe mir in dem ehemaligen Stahlwerk, das auch Kollege Lambsdorff angesprochen hat, die AB-Maßnahmen angesehen. Ich habe die Frauen gesprochen, die dort tätig sind. Ich muß wirklich sagen: Für sie ist das keineswegs eine Arbeit zweiter Klasse, sondern für sie ist es eine wichtige und notwendige sanierende Arbeit zur Bewältigung der Hypotheken, die über viele Jahre aufgehäuft worden sind. Deswegen ist es gut, wenn wir mit dem § 249h AFG eine Basis bilden, um das weiterzuführen.Ich bin bei der ESPAG gewesen. Ich bin bei der LAUBAG gewesen. Ich habe mit dem Kollegen Schwalbe das Geiseltal bei Bitterfeld besucht. Wir haben das Braunkohlenaltloch von Großkayna mit all den riesigen Ablagerungsproblemen gesehen. Wenn wir hier nicht mit denen, die im Braunkohlenbereich gearbeitet haben, Sanierungsmaßnahmen durchführen, werden die Anschlußkosten teurer. Wir wissen, daß wir aus einer falschen Politik der Vergangenheit nicht ohne weiteres aussteigen können — das reicht bis zur Wasserführung der Spree —, sondern wir müssen sie, so schwierig das ist, so weiterführen, daß die ökologischen Belastungen nicht dramatisch ansteigen.Deswegen nochmals: Hier ist der Ansatz gefunden. Ich bin ganz sicher, daß auf diese Weise Weiteres getan werden kann, damit die umweltsanierenden AB-Maßnahmen stabilisiert fortgeführt werden.Ich füge ein Zweites hinzu. Es ist sicherlich zu überprüfen: Wo sind AB-Maßnahmen so organisiert, daß sie zur Konkurrenz für mittelständische Betriebe werden? Das ist sehr wichtig zu fragen. Ich habe mir die SKET in Magdeburg angesehen und habe dort eine entsprechende Lösung vorgefunden. Die Kreishandwerkerschaft von Magdeburg ist in eine Sanierungsgesellschaft mit ABM eingebunden. Ich habe mit dem Kreishandwerkermeister dort gesprochen. Er sagte mir, daß aus dieser ABM-Sanierungsgesellschaft viele eigenständige Handwerkerexistenzen hervorgegangen sind, weil man hier erstmals die Möglichkeit hatte, mit anderen zusammen etwas zu bewältigen. Hier kann man also kreativ weiterdenken. Ich glaube, daß dies gute Möglichkeiten sind.Wir wollen das auch in der Frage der Demonstrationsvorhaben mit moderner Technik tun, meine Damen und Herren. Ich möchte allerdings erreichen, daß wir bei der Frage der Demonstrationsvorhaben bis in die Festlegung hinein für die jungen Bundesländer eine Öffnung bekommen. Denn was wir dort an Demonstrationsvorhaben haben, sind vornehmlich Dinge, die mit moderner Technik in Richtung der Beseitigung von Investitionshemmnissen im privaten Bereich wirken können. Eine Kläranlage modernen Zuschnitts in Bitterfeld oder Wolfen ist in dem alten Sinne des Demonstrationsvorhabens nicht modernste Technik oder Weiterentwicklung von Technik. Aber für die Beseitigung von Investitionshemmnissen in Bitterfeld und Wolfen ist sie dringend notwendig. Ich wäre sehr dankbar, wenn wir diese Entwicklung weitertreiben könnten. Das bedeutet auch eine massive Sicherung des Industriestandorts. Das sind notwendige Voraussetzungen, um private Investitionen zu bewirken, sie nicht mit zusätzlichen Kosten konfrontiert sein zu lassen. Ich bin sehr dafür, daß wir sowohl Recycling von Industrieflächen vornehmen wie eben auch — ausgehend von falscher Umweltinfrastruktur — solche Demonstrationsvorhaben zum Abbau von Investitionshemmnissen durchführen.Meine Damen und Herren, die Bedeutung dieser Lösungen ist gar nicht hoch genug anzusetzen. Sie ist von enormer multiplikativer Wirkung auf die Staaten Mittel- und Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion. Wir haben bilaterale Abkommen mit all diesen Staaten. Ich weiß nur zu genau, wie Vertreter aus diesen Staaten zu uns kommen und sich ansehen, mit welchen Techniken wir hier sanieren.Nehmen Sie ein Beispiel: Wir haben vor wenigen Tagen den ersten Spatenstich zur Sanierung der Teerseen von Terpe und Zerre gemacht. Meine Damen und Herren, es ist ein Alptraum: mehrere hunderttausend Kubikmeter phenolhaltiger Teere, die schlicht und einfach in die Landschaft hineingekippt worden sind, die ausgasen, die ins Grundwasser gelangen, die wirklich aktuelle Probleme darstellen. Ich nenne Terpe und Zerre nur als ein Beispiel. Ich könnte genauso die Wismut anführen, ich könnte genausogut andere Teerseen nennen, die ebenfalls vorhanden sind; ich denke an Thüringen.
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Bundesminister Dr. Klaus TöpferMeine Damen und Herren, mit moderner Technik gelingt es jetzt, solche Belastungen zu beseitigen. Viele aus Mittel- und Osteuropa kommen und sehen es sich an, weil sie mit gleichen Problemen konfrontiert sind. Hier zeigt sich, daß wir mit solchen Technologien die Chance haben, auch das Image, das Erscheinungsbild der jungen Länder grundsätzlich zu verändern. Es muß sich weltweit herumsprechen: Fahrt in diese jungen Bundesländer, und ihr könnt Beispiele sehen, wie man unglaubliche Hypotheken an Natur- und Umweltverbrauch mit moderner Technik bewältigen kann. — Das muß das Image der jungen Bundesländer sein.
Deswegen machen wir das in Terpe und Zerre.
Ich möchte, daß wir diese Mittel genau für diese Demonstrationsprojekte zentral nutzen. Wenn wir dafür mehr Zeit brauchen, als manch einer am Anfang des Jahres denkt, dann ist das eher ein gutes Zeichen. Wir wollen diese Mittel in den schwierigen Bereichen ansetzen. Das ist, wie ich meine, auch die Voraussetzung dafür, daß wir mehr als nur Aktionismus verbreiten.Wenn ich dies mit Blick auf die jungen Bundesländer sage, so möchte und kann ich nicht den Eindruck erwecken, als sei die Industrie- und Wohlstandsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland und der westlichen Industrieländer so etwas wie ökologisch freigesprochen.Wir wissen, daß uns auch dort massive Aufgaben ins Haus stehen. Aber eines steht fest: Dort, wo wir uns im Westen um Milligramm mühen, sollten wir erst fragen, ob wir nicht mit dem gleichen Geld im Osten Tonnen beseitigen können.
Dies ist nicht nur eine Frage ökonomischer, sondern auch eine ökologischer Rationalität.Aber es gibt daneben auch andere Aufgaben. Ich denke an die Fragen des Abfalls. Ich denke an die Fragen der Chemikaliensicherheit, des Naturschutzes, der Anlagensicherheit. Alles das sind Aufgaben, die für uns nicht deswegen weniger bedeutsam sind, weil wir die großartige historische Chance haben, die neuen Dimensionen der Weltpolitik auch in Deutschland wirklich zu nutzen.Deswegen ist und bleibt unsere entscheidende Zielsetzung eine ökologische und soziale Marktwirtschaft. Meine Damen und Herren, das ist nicht eine Sprechblase, sondern eine Forderung an unsere Politik, die tagtäglich umzusetzen ist. Was heißt ökologische Marktwirtschaft? Das heißt, daß wir auch die ökologischen Kosten dem anlasten, der sie verursacht hat. Darum geht es.
— Meine Damen und Herren, da Sie Beifall klatschen: Ich hoffe, daß Sie dabei bleiben.
— Ist das so? Wenn ich mich darauf immer verlassen kann, will ich darauf gern eingehen.
— So ist es.Deswegen, meine Damen und Herren, haben wir mit der Novelle zum Abfallgesetz, die wir vorgelegt haben, nicht ein Abfallgesetz, sondern ein Kreislaufwirtschaftsgesetz vorgelegt.
Wir tun zum erstenmal etwas, was der eine oder andere von Ihnen gar nicht für möglich gehalten hat, weswegen er darauf etwas irritiert reagiert. Wir wollen nämlich diejenigen, die etwas produzieren, oder diejenigen, die etwas verpacken, dafür verantwortlich machen, daß sie dieses Produkt oder diese Verpakkung auch auf ihr Risiko und ihre Kosten entsorgen, weil dies nicht eine Aufgabe des Staates ist, sondern eine private Aufgabe sein muß. Das ist der Kreislaufaspekt.
Ich bin ganz sicher, daß selbst die Opposition in diesem Hause noch spüren und lernen wird, wie richtig so etwas wie die Verpackungsverordnung ist, die genau dazu führt, daß eben Entsorgungskosten nicht mehr auf die öffentliche Müllentsorgung abgewälzt werden können, sondern auch diese Kosten bereits im Produktpreis berücksichtigt werden müssen und damit zu einem marktwirtschaftlichen Instrument werden.
Meine Damen und Herren, der einzige Punkt, der uns unterscheidet, ist: Sie haben viele Jahre über die ökologische Umgestaltung der Marktwirtschaft gesprochen,
und wir machen es.
Zum erstenmal wird zu diesem Ziel wirklich nicht nur geredet, sondern gehandelt. Die Kosten werden dem zugeordnet, der sie mit verursacht hat.Wir haben auch unsere Probleme. Das ist für den Haushalt so bedeutsam. Wir gehen hier nicht prinzipiell von unserer dem Verursacherprinzip verpflichteten Politik ab, sondern entsprechen der Notwendigkeit, dort, wo das Verursacherprinzip auf Grund 40jähriger Hypothek nicht eingeklagt werden kann, Wege zu finden, auch tatsächlich zur Sanierung zu kommen.
Herr Bundesminister, ich weiß, daß ich Ihnen nicht das Wort entziehen kann. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie jetzt Ihre Redezeit auf Kosten Ihrer Kollegen aus der Fraktion überschreiten. Da Sie § 33 unserer Geschäftsordnung perfekt beachten, nämlich
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Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergfrei reden, wird es Ihnen ja nicht allzu schwerfallen, zum Schluß zu kommen.
Herr Präsident, jedes Ihrer Worte darf ich hiermit nachhaltig unterstreichen, vor allen Dingen auch die damit verbundene Drohung bezüglich der Redezeit der Kollegen aus der Fraktion. Dies war das wirksamste Drohmittel.
Aber auch auf dieses Risiko hin möchte ich den Satz gern noch zu Ende bringen: Wir müssen das Verursacherprinzip, dieses Grundprinzip der ökologischen Marktwirtschaft, so umsetzen, daß damit auch wirklich die Altlasten in den jungen Bundesländern aufgearbeitet werden können. Hier die Verbindung zustande zu bringen ist die gegenwärtige Herausforderung an uns. Ich bin ganz sicher, daß wir sie in Gemeinsamkeit auch bewältigen können.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Caspers-Merk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Töpfer, Sie haben in Ihrer Rede eben gesagt, es sei so, daß man nicht immer nur den Mund spitzen dürfe, man müsse auch einmal pfeifen. Das ist richtig. Richtig ist aber auch, daß in dieser Regierung Sie den Mund spitzen und Herr Krause pfeift; das ist das Problem in der Umweltpolitik.
Wenn der Staatshaushalt das in Mark und Pfennig gegossene politische Programm einer Regierung ist, dann müssen wir festhalten, daß Sie kein Wort zu diesem Programm gesagt haben; denn Sie haben auf Ihren eigenen Umwelthaushalt überhaupt keinen Bezug genommen. Dieser Umwelthaushalt sagt eben die ökologische Wahrheit. Ihr bisheriger Minihaushalt hat nämlich nochmals Federn lassen müssen, und das Geld für wichtige Sofortprogramme in den neuen Ländern fehlt. Sie haben bei der Gestaltung der deutschen Einheit versagt, Herr Töpfer.
Die Chance bestand, das Programm Aufschwung Ost für ökologischen Fortschritt zu nutzen und mit dem Umbau West zu verknüpfen. Die Wahrheit ist aber, daß der Umwelthaushalt immer kleiner und die Umweltzerstörung immer größer wird.
Statt den ökologischen Umbau in den Dienst der Krisenüberwindung zu stellen, geht die Sanierung der Umwelt in den neuen Ländern nur im Schneckentempo voran. Das Münchener Ifo-Institut stellt fest: In den neuen Ländern werden ungefähr 200 Milliarden DM nur für die Sanierung der Altlasten oder für dieNachrüstung der alten Industrie mit moderner Umwelttechnik gebraucht.Hier liegen gewaltige wirtschaftliche und ökologische Chancen. Hier liegt auch eine Chance für neue Arbeitsplätze in den neuen Ländern, denn damit schafft man qualifizierte und dauerhafte Arbeitsplätze.Den einzigen Erfolg, den Ihre Umweltpolitik bislang vorzuweisen hat, besteht in der Emissionsminderung durch Stillegung.
Dort, wo durch den totalen Niedergang der großen Industriekombinate Umweltbelastungen entfallen, z. B. durch die Stillegung von Buna, hat sich die Luftqualität spürbar verbessert. Das ist richtig.Wird diese Verbesserung aber von Dauer sein? Zu befürchten ist doch, daß sich die Angleichung der Lebensverhältnisse eben leider auch auf die Umweltbelastungen bezieht. Das Umweltbundesamt — eine unverdächtige Behörde — schätzt, daß in den neuen Ländern die rasante Verkehrsentwicklung zu einem Anstieg der Luftschadstoffe führt. Das ist dann aber kein ökologischer Umbau, sondern eine Verlagerung von Schadstoffbelastungen. Statt SO2 haben wir in Zukunft die Belastungen mit CO2 und NOX. Im „Spiegel"-Artikel über die Belastungen der Kinder durch Allergieerkrankungen war zu lesen, daß es richtig ist, daß in der alten DDR eine enorme Belastung der Muttermilch mit DDT erfolgte. Die Angleichung der Lebensverhältnisse haben wir dadurch, daß die Muttermilch in beiden Teilen Deutschlands jetzt immer stärker mit Dioxinen belastet wird. Wahrlich kein Fortschritt!Im Bundeshaushalt ist das gesamte Programm „Aufschwung Ost" ersatzlos gestrichen worden. 400 Millionen DM entfallen bei der Umweltpolitik, 400 Millionen DM, die jetzt für die Umwelt an allen Ecken fehlen.Dafür aus unserer Sicht nur zwei Beispiele — es ließen sich beliebig viele finden —:
Die Altlasten. In ganz Ostdeutschland wurden über 12 000 Altlasten ermittelt. Allein in Brandenburg sind es 1 500 Verdachtsflächen. Nach vorsichtigen Schätzungen kostet deren Sanierung rund 30 Milliarden DM. Wir wissen alle: Der Boden ist das sicherste Archiv der Umweltsünden der Vergangenheit. Zu den Strafeinträgen in dieses Archiv zählen auch WessiMüllexporte der Vergangenheit; sie haben zu dieser Belastung in verheerendem Umfang beigetragen.
Was passiert mit dieser Altlastensanierung? Sie kann nicht mehr durchgeführt werden, weil das Geld fehlt.Zweites Beispiel: Abwasserreinigung. Um die brandenburgischen Haushalte auf die im Westen übliche Anschlußquote auf 90 % zu bringen, fehlen Mittel von 11 Milliarden DM. Woher soll eigentlich das Geld für
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Marion Caspers-Merkdiese Maßnahmen kommen, Herr Töpfer, wenn das Sofortprogramm „Aufschwung Ost" ausläuft?
Zum Beispiel ist doch die Frage, warum denn im Verkehrshaushalt eine enorme Steigerung vorliegt,
der Umwelthaushalt aber Federn lassen muß. Wo bleibt da die ökologische Glaubwürdigkeit?Trotz dieser Fakten und obwohl Sie wissen, daß eine verödete Umwelt eine der negativsten Standortfaktoren ist, haben Sie es zugelassen, daß 400 Millionen DM für Umweltschutzsofortmaßnahmen ersatzlos gestrichen wurden. Welche Bedeutung diese Regierung der Umwelt insgesamt zumißt, macht sich aber nicht nur an der Tatsache fest, daß der Umwelthaushalt um 3,5 % gekürzt wurde, sondern wir erleben ein Ausbluten der Umweltpolitik in allen anderen Politikbereichen dieses Haushalts.
Auch dafür zwei Beispiele.Da fehlen im Haushalt des Wirtschaftsministers Millionenbeträge für die Finanzierung von Vorhaben zur Energieeinsparung. Gleichzeitig unterschreiben Sie in Rio die Klimakonvention. Wie paßt das zusammen?
Da fehlen im Osten entscheidende Mittel zur Sicherung von einwandfreiem Trinkwasser. Gleichzeitig wird das Notprogramm Trinkwasser im Haushalt des Gesundheitsministers kurzerhand auf Null gesetzt.
Offensichtlich will diese Regierung den schlimmen Zustand der Trinkwasserqualität im Osten bis in alle Ewigkeit verlängern. Wie paßt das zusammen?Diese beiden Beispiele zeigen, daß die Umweltpolitik bei dieser konservativen Bundesregierung als lästiges Anhängsel der wichtigen anderen Politikbereiche verstanden wird. Umweltpolitik ist also eine Art Luxus, auf den man in finanziell schlechten Zeiten verzichten kann. Der nachsorgende Umweltschutz wird vernachlässigt, vorsorgender Umweltschutz findet erst gar nicht statt. Dabei wäre genau dieser das Gebot der Stunde. Er könnte Wege aus der Krise weisen, wo nur reparierende Umweltpolitik versagt.
Unsere Wirtschaftsrechnung ist eine Art frisierte Wohlstandsbilanz, die über die tatsächlich erzielte Lebensqualität immer weniger aussagt. Wir leben nicht nur finanziell, sondern auch ökologisch über unsere Verhältnisse. Die Versäumnisse der Umweltsanierung von heute sind programmierte Altlasten von morgen. So schieben wir also mit den wachsenden Umweltschäden einen wachsenden umweltpolitischen Schuldenberg vor uns her. Die Zinsen hierfür zahlen wir und unsere Kinder.An der bekannten Tatsache, daß wir unsere Umwelt zehnmal mehr schädigen, als wir in sie investieren, hat sich leider während Ihrer Regierungszeit nicht geändert. Für diese Versäumnisse in der Umweltpolitik zahlen wir alle. Die Behandlung des Pseudokrupp zahlt die Krankenkasse. Die Verseuchung von Wohnungen durch Wohngifte zahlen die Eigenheimbesitzer. Die ungebremste Müllflut zahlen wir alle durch die Mogelpackung „Grüner Punkt" als Verbraucher. Der sterbende Wald trifft die privaten und öffentlichen Waldbesitzer. Das Herausfiltern von Schadstoffen aus dem Trinkwasser zahlen wir alle über den Wasserpreis.
Ein Kilogramm Atrazin, das in der Bundesrepublik zwar verboten wurde, aber über den Umweg der EG wieder erlaubt werden soll, kostet im Handel 60 DM. Um diese Menge herauszufiltern, braucht es 10 t Aktivkohle für 10 000 DM. Die Gelsenwasser AG schätzt die Gesamtkosten für die Entfernung dieses Kilogramms Atrazin aus dem Talsperrenwasser auf ca. 200 000 DM. So sehen realistische Haushaltsansätze, Rechnungen und Bilanzen in der Umweltpolitik aus.
Wir fordern Sie zu einem ökologischen Kassensturz auf; denn nachfolgende Regierungen und Generationen können Ihr umweltpolitisches Erbe nicht ausschlagen, sondern müssen dieses als Altlast mit übernehmen. Nehmen Sie die Herausforderung der Gestaltung der deutschen Umwelt ernst.
Ergreifen Sie endlich eine Offensive für den ökologischen Umbau im Osten.
Wir bieten Ihnen einen Solidarpakt für die Umwelt an. Wir bieten Ihnen auch an, mit Ihnen gemeinsam zu streiten, daß der Umwelthaushalt nicht in diesem Maße abgespeckt, sondern endlich-eine Chance für eine neue Umweltpolitik ergriffen wird.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Sigrid Hoth das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie meine Vorrednerin bereits ausführte, sind für den Geschäftsbereich des Umweltministers in diesem Haushaltsentwurf knapp 1,3 Milliarden DM vorgesehen. Damit — auch das wurde bereits gesagt — liegt der Anteil um 3,5 % unter dem des Vorjahres. Dabei ist jedoch zu beachten, daß der größte Teil der Aufwendungen für den Umweltschutz nach dem Verursacherprinzip im
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Dr. Sigrid Hothweiteren Sinne von den entsprechenden Ressorts selbst getragen wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, umweltpolitische Erfordernisse und ökonomische Notwendigkeiten stehen miteinander häufig im Wettstreit. Im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern stehen wir dabei zunächst scheinbar vor einem Dilemma. Einerseits sind wir zu Recht stolz darauf, in der Bundesrepublik Deutschland vergleichsweise strenge Umweltrichtlinien zu haben. Andererseits können sich diese bei der Sanierung und Privatisierung von Unternehmen als Investitionshemmnis erweisen. Auf Grund der bestehenden Situation in den neuen Bundesländern sind deshalb diesbezüglich die bestehenden und zeitlich befristeten Übergangsregelungen unumgänglich.Da Umweltverschmutzung jedoch weder vor innerstaatlichen noch vor nationalen Grenzen halt macht, hat auch die Privatwirtschaft letztlich keine andere Alternative als schnellstmöglich und von Beginn an auch in den Umweltschutz zu investieren. Nur so kann es gelingen, die natürliche Lebensgrundlage nicht durch kurzsichtige Handlungsweise weiter zu gefährden.Außerdem macht gerade der umweltrelevante Aspekt bei der Standortdebatte deutlich, daß nicht die Kosten der Umweltvorsorge, sondern das Fehlen von Infrastruktur und Investitionen auf diesem Gebiet sowie die vorhandenen Altlasten die entscheidenden Standortnachteile der neuen Bundesländer sind.Aber auch die öffentliche Hand ist gefordert, wenn es um den Umweltschutz geht. So sind die Lander, Gemeinden und Kommunen der neuen Bundesländer gezwungen, die zu DDR-Zeiten begangenen Versäumnisse wettzumachen. Auf Grund der desolaten Finanzsituation wurde den neuen Ländern beim Aufbau einer Infrastruktur im Umweltbereich durch den Bund unter die Arme gegriffen. Im Rahmen des „Aufschwung Ost" 1992 werden Mittel in Höhe von 400 Millionen DM für Sofortmaßnahmen bereitgestellt. Mit diesen Geldern wurden u. a. Vorhaben im Bereich der Wasser- und Abfallwirtschaft gefördert. Auch die für das Jahr 1991 bereitgestellten 419 Millionen DM sind in vollem Umfang abgeflossen. Derzeit ist die Anzahl der vergabereifen Projekte weitaus höher als die der verfügbaren Fördermittel.Der Haushaltsentwurf 1993 sieht den völligen Wegfall dieser Mittel vor, obwohl noch auf lange Sicht hohe Investitionen erforderlich sind. Auch wenn es sich nicht um eine originäre Aufgabe des Bundes handelt, sollte nochmals überprüft werden, ob nicht doch Teile des Programms Aufschwung Ost im Umweltbereich weitergeführt werden müssen. Ich freue mich, daß der Umweltminister das Problem genauso sieht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die neuerdings festzustellende Besiedlung der Elbe mit Fischen, Krabben und Kleinlebewesen ist sehr erfreulich. Aber das ist in erster Linie doch wohl durch Betriebsstillegungen bedingt. Nach wie vor leiten ganze Kommunen ihre Abwässer unzureichend oder völlig ungeklärt in die Flüsse und Kanäle.Nebenbei bemerkt, bestehen auch die Kanäle, durch die der interessierte Besucher des kulturhistorisch einmaligen Wörlitzer Parks in Sachsen-Anhalt gondelt, zu einem nicht unerheblichen Teil aus den Abwässern der Kommune Wörlitz.
— Doch, das habe ich dir erzählt.Dem Jahresbericht des Umweltbundes von 1991 ist sogar zu entnehmen, daß z. B. die Gewässergüte der Elbe so schlecht ist, daß zu ihrer Klassifizierung eine achte Stufe im ursprünglichen Beurteilungsraster eingeführt werden mußte. Der „Stern" vom 27. August dieses Jahres zeichnet ein ähnlich düsteres Bild von der Wasserqualität der ostdeutschen Flüsse.Erschwerend kommt noch hinzu, daß für die neuen Bundesländer das Verursacherprinzip nicht anwendbar ist. Die Verursacher können nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden. Die prekäre Einkommenssituation der Bürger sowie die vergleichsweise geringere Bevölkerungsdichte verhindern die Erhebung kostendeckender Gebühren.Auch bei der Förderung von Pilotprojekten in den neuen Bundesländern sind im vorliegenden Haushaltsentwurf Mittelkürzungen vorgesehen; der Ansatz beläuft sich auf 180 Millionen DM.Zwar ist es nicht Aufgabe des Staates, Umwelttechnologie aus Steuermitteln zu entwickeln und diese dann der Privatwirtschaft anzubieten, andererseits darf aber die Multiplikatorwirkung von Pilotprojekten nicht unterschätzt werden. Die Sondersituation in den neuen Bundesländern darf nicht übersehen werden.
Ich hoffe daher — ich werde mich dafür einsetzen —, daß wir im Rahmen der Haushaltsberatungen zu einem Ergebnis kommen können, das den Belangen des Umweltschutzes — insbesondere in den neuen Bundesländern — noch deutlicher Rechnung trägt, ohne daß wir dabei die haushaltspolitischen Erfordernisse insgesamt in der Rechnung außen vorlassen.Erfolgreiche staatliche Umweltpolitik ist aber nicht allein von der Höhe bereitgestellter Mittel abhängig. Wie auch sonst entscheidet nicht zuletzt die Effizienz der eingesetzten Mittel. So ist nicht einzusehen, warum demnächst in den alten Bundesländern mit der Einführung der dritten Reinigungsstufe begonnen wird, statt die Gelder für eine flächendeckende Einführung der zweistufigen Abwasserreinigung in der gesamten Bundesrepublik, also auch in den neuen Bundesländern, zu verwenden.Man kann es auch anders formulieren: Wenn man Investitionen am Flußoberlauf — z. B. in Dresden — statt an der Mündung — z. B. in Hamburg — vornehmen würde, käme dies dem Fluß weitaus mehr zugute. JHier ist doch, wenn sich schon die Solidarität verschließt, liebe Kolleginnen und Kollegen, einfach der gesunde Menschenverstand gefragt.Wie bereits gesagt: Erfolgreiche staatliche Umweltpolitik ist nicht allein von der Höhe bereitgestellter
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8895
Dr. Sigrid HothMittel abhängig, sondern auch von der Effizienz ihrer Verwendung und von dem gegebenen gesetzlichen Rahmen.
Mit Interesse erwarte ich daher die Einbringung der in der Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen, aber noch ausstehenden Gesetzesvorhaben im Umweltbereich durch die Bundesregierung.
Zum Schluß möchte ich noch auf einen Punkt eingehen, der mir auf der Seele liegt. Auch der Bund greift mit einer Vielzahl unterschiedlichster Maßnahmen in den Naturhaushalt ein.
— Ich wäre Ihnen dankbar, liebe Kollegen von der SPD, wenn Sie mir zuhören würden. Auch ich habe meiner Vorrednerin aus Ihrer Partei meine Aufmerksamkeit geschenkt.Genau wie beim einzelnen Bürger läßt sich durch behutsames Handeln der Verbrauch natürlicher Ressourcen einschränken. Als Bürgerin von Sachsen-Anhalt denke ich da insbesondere an die Diskussion um die zukünftige Verwendung freiwerdender Truppenübungsplätze, konkret an die Colbitz-Letzlinger Heide in Sachsen-Anhalt.
— Es freut mich, daß Sie daran denken.Bei diesem Gebiet handelt es sich um das größte Trinkwasserreservoir der Bundesrepublik Deutschland. Da auf Grund von Gutachten eine Beschädigung der Deckschicht des Wasserreservoirs und damit über kurz oder lang auch eine Gefährdung der Qualität des Grundwassers zu befürchten sind, kann einer weiteren militärischen Nutzung aus umweltpolitischer Sicht nicht zugestimmt werden.Obwohl Verteidigungsminister Rühe in Sachsen-Anhalt war und vor Ort mit Bürgern und Politikern geredet hat, obwohl er zugesagt hat, nach dem endgültigen Abzug der Truppen der GUS eine umfassende Analyse des Zustands der Deckschicht und des Trinkwasserreservoirs vornehmen zu lassen und erst dann zu entscheiden, bleibt die Frage offen — hier besteht wirklich parlamentarischer Beratungsbedarf —, ob ausgerechnet über unserem größten Trinkwasserreservoir die Bundeswehr üben muß,
zumal Sachsen-Anhalt bereit ist, andere Truppenübungsplätze zur Verfügung zu stellen.Ich möchte noch einen anderen wesentlichen Aspekt hinzufügen. Beim Truppenübungsplatz Colbitz-Letzlinger Heide kommt hinzu, daß sich die Bürger, die betroffenen Kommunen und der Landtag von Sachsen-Anhalt für eine zivile Nutzung des Terrains ausgesprochen haben. Auch ich spreche mich für eine zukünftig zivile Nutzung aus und hoffe damit auf überfraktionelle Zustimmung.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Klaus Lennartz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man in diesen Tagen die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger fragt, was ihnen am meisten Angst vor der Zukunft macht, dann spielt neben der Sorge um die wirtschaftliche Zukunft die Angst vor einer zerstörten Umwelt die größte Rolle, Angst vor einer Umwelt, die es unmöglich oder sehr schwierig machen wird, gesund zu leben, Angst vor dem Zeitpunkt, ab dem aller materieller Wohlstand nicht mehr zählt, weil er nichts mehr wert ist, Angst vor einer Umwelt, die lebensfeindlich, ja, menschenfeindlich sein wird, aus der man sich dann auch nicht mehr auskoppeln kann, auch der Reichste nicht.Zwar wissen wir, meine Damen und Herren, daß sich Zukunftsängste oft aus einem diffusen Gemisch von Teilinformationen und der unzureichenden Verarbeitung von nicht immer rationalen Zeitgeistströmungen herleiten lassen. Die Angst vor der Zukunft unserer Umwelt kommt jedoch nicht von ungefähr.
Niemand kann erkennen, wie die gewählte politische Führung dieses Landes die Geschicke der Bundesrepublik Deutschland so steuert, daß unsere natürlichen Lebensgrundlagen auf Dauer erhalten oder wiederhergestellt werden können, obwohl — dies gebe ich zu — der Umweltminister sicher kein schlechter Botschafter unseres Landes ist, wenn er beim Umweltgipfel in Rio beispielsweise versucht, die Konturen einer europäischen Umweltpolitik zu zeichnen. Dazu müssen wir Ihnen, Herr Minister, unser Kompliment aussprechen.Die Konferenz von Rio fand vom 8. bis zum 12. Juni statt. Aber auf der Bundesfachkonferenz der Umweltgruppe der CDU am 1. September 1992 hat sich dieser Minister von der selbstgewählten Zielvorstellung einer CO2-Reduktion um 25 bis 30 % bis zum Jahre 2005 stillschweigend verabschiedet. Das ist derjenige, der sich in Rio feiern läßt und gegen Bush den Umweltrambo spielt, aber hier in der Heimat nicht einhält, was er außerhalb Europas verspricht.Dieser Umweltminister kommt aus dem reichsten Land Europas. Dieses Land ist gleichzeitig aber auch weltweit der fünftgrößte Klimakiller.Ich möchte mich auch einmal an die Mitglieder der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" wenden. Sie haben eine hervorragende Arbeit geleistet. Dort liegen förmlich die Handlungsanweisungen vor, wie man den Gefahren begegnen kann. Ich fordere Sie, meine Damen und Herren, förmlich auf, gleichgültig, in welcher politischen Partei Sie sind: Kommen Sie zu einem wirklichen Klimabündnis im Interesse einer Klima-Koalition, im Interesse desKlaus LennartzBeherrschens dieses Themas, das nicht nur uns in der Bundesrepublik, sondern die ganze Welt angeht.Meine Damen und Herren, es bleibt eine traurige Tatsache, daß sich die Schere zwischen dem umweltpolitischen Handlungsbedarf in nahezu allen Politikfeldern und der praktisch-faktischen Politik immer mehr öffnet. Anders ausgedrückt: Es müßte und könnte ab sofort in sehr vielen Bereichen gegengesteuert werden, um die schleichende Verschlechterung unserer Lebensgrundlagen aufzuhalten. Es könnte gegengesteuert werden, ohne daß unsere Industriegesellschaft gleich aus den Angeln gehoben wird, im Gegenteil: Die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Unternehmen auf dem Weltmarkt würde mit moderner Umwelttechnologie geradezu noch gestärkt.Aber es geschieht nichts. Die Umweltpolitik der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen ist nicht erkennbar; sie hat keine Linie, keinen Faden und keine wirklichen Ziele. Ich meine nicht — damit es kein Mißverständnis gibt — die Public-RelationsZiele von Herrn Töpfer, von denen er selbst und wir alle wissen, daß sie nicht einzuhalten sind.Selbstverständlich ist uns klar: In mancher Hinsicht sind wir führend in der Welt, z. B. was scharfe Grenzwerte und Umweltauflagen angeht. Doch können wir auch gewiß sein, daß unsere Atemluft und unser Trinkwasser in 10 oder 20 Jahren noch gut genug für unsere Kinder und Enkel sein werden?
Nein, dazu sind die umweltpolitischen Defizite, die die Kohl-Regierung vor der Tür des Umweltministeriums aufgehäuft hat, trotz der 2 000 neuen Umweltgesetze und Verordnungen, die ein Heer von Ministerialbeamten in den letzten fünf Jahren produziert hat, viel zu groß, Herr Kollege. Auf die Umsetzung kommt es an
und darauf, welche Inhalte die Gesetze haben; es kommt nicht auf die Menge an. Machen Sie vernünftige Gesetze und vernünftige Verordnungen! Kontrollieren Sie sie im Einklang mit den Ländern! Dann sind wir ein paar Schritte weiter, Herr Kollege Baum.Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik gehört zu den größten Energieverschwendern der Welt. Wir gehen so sorglos mit Energie um wie in den besten Zeiten des Wirtschaftswunders unter dem ehemaligen Kanzler Erhard.
Es gibt keine steuerlichen Anreize mehr für Energiesparinvestitionen. Die Wärmeschutzbestimmungen befinden sich, Herr Kollege, auf dem technischen Stand des Jahres 1982.
Wir haben ein uraltes Energiewirtschaftsgesetz. Es ist keine ökologische Steuerreform in Sicht, die zum Energiesparen anreizen würde. Die Forschung für alternative Energien läuft auf Sparflamme.
Bei alledem ist bei dieser Regierung kein Land in Sicht.Es sollen auf Teufel komm heraus neue Straßen gebaut werden. Aber um einen besseren ÖPNV, den Bau von verbrauchs- und damit abgasarmen Kfz und um mehr Gütertransport auf der Schiene statt auf der Straße kümmert sich in dieser Regierung wirklich niemand ernsthaft.
Meine Damen und Herren, unsere Autos könnten viel sauberer sein. Aber Kohl und Co. denken nicht im Traum daran, die Rahmengesetzgebung dafür zu schaffen.Herr Töpfer verkündet das Ende der Wegwerfgesellschaft. Gleichzeitig boomt unsere Verpackungsindustrie und hat ihr bestes Betriebswirtschaftsjahr seit Bestehen dieser Republik. Der Grüne Punkt macht 80 Millionen Deutsche zu ehrenamtlichen Müllmännern und Müllfrauen.
Doch an wirklicher Abfallvermeidung ist diese Regierung nicht interessiert.
Statt dessen werden in einem gigantischen Energieverschwendungssystem zig Millionen Tonnen Abfall und Zeug hin und her sortiert, die, Herr Kollege, eigentlich gar nicht existieren dürften, wenn es eine entsprechende Gesetzgebung unter der politischen Führung dieses Ministers wirklich gäbe. Das sind die Tatsachen.Während bei uns das Waldsterben längst zu einem statistischen Thema verkümmert, wendet sich diese Bundesregierung medienwirksam dem Schutz des Regenwaldes zu, aber ohne wirklich etwas zu tun. Während unser Fleisch, Brot und Gemüse immer mehr Dinge enthalten, die dort nicht hineingehören, tut keiner der Verantwortlichen etwas gegen die zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft, die unsere Böden und unser Trinkwasser wirklich fortlaufend schleichend vergiftet.
— Wissen Sie, Herr Kollege Baum, ich möchte gerne erleiden, daß ich ein Schwarzmaler bin. Aber allein die Fakten sprechen dagegen. Sehen Sie sich bitte die Zahlen an. Ich komme aus einem Kreis, in dem 60 % der Böden noch landwirtschaftlich genutzt werden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8897
Klaus LennartzIch weiß, vielleicht im Gegensatz zu Ihnen, wovon ich rede.
— Entschuldigen Sie bitte, dieser Kreis ist ein Vorzeigekreis. Nicht umsonst kommt der Umweltminister des öfteren in unseren Kreis und sieht sich dort die ökologischen Fortschritte an, die wir aus eigener Kraft mit unserer Industrie schaffen. Das ist der Unterschied.
Meine Damen und Herren, wenn die Verhältnisse in unserem Kreis auf die ganze Republik zu übertragen wären, wäre ich sehr dankbar dafür.Meine Damen und Herren, während der Umweltminister ökologische Ziele verkündet und durch hektischen Aktionismus den Eindruck wirklichen Handelns erwecken will, arbeiten Herr Krause, Herr Kiechle und Herr Möllemann in alle möglichen Richtungen, aber niemals auf umweltverträgliche Ziele hin. Wo bleibt die Arbeit des Umweltkabinetts? Wo bleibt die Einsicht, daß alle Eingriffe in unsere Umwelt ganzheitlich und vernetzt abgewogen werden müssen? Wo bleiben die politischen Signale, die deutsche Ingenieurkunst auf ökologische Ziele hinlenkt und so die Weltmärkte erobern läßt?
Meine Damen und Herren, wir haben in dieser Republik vier Ressourcen: Braunkohle, Steinkohle und Salz. Die vierte Ressource ist unser Wissen, das wir in ökologisches Wissen und in ökologische Technologien umsetzen müssen, die uns weltweit helfen zu überleben. Das ist eine Aufgabe, die wir wirklich angehen müssen. Aber diese Einsicht hat es in der Vergangenheit im Kohl-Kabinett nicht gegeben, und sie wird es auch in Zukunft nicht geben.Der Umweltschrumpfhaushalt für 1993 ist ein Zeugnis dafür, und er ist leider, meine Damen und Herren, ein Armutszeugnis. Er verspielt die Chancen für eine moderne ökologische Volkswirtschaft, und er steht im krassen Gegensatz zum umweltpolitischen Führungsanspruch, den der Umweltminister auf internationalen Konferenzen so gerne demonstriert und für den er sich teilweise auch feiern läßt.
— Sie müssen ab und zu einmal über Ihren Sprachgebrauch nachdenken. Sie verwenden immer nur ein Wort. Gelegentlich muß man, bevor man spricht, oben auch etwas einschalten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ohne eine gründliche Neuorientierung, ohne eine neue Art, zu denken, zu wirtschaften und zu leben, werden sich die Industrienationen in kürzester Zeit am Rande ihrer Möglichkeiten bewegen. Nirgendwo ist erkennbar, daß die Herausforderung unserer Zeit von der Bundesregierung auch nur ansatzweise begriffen wird.
Meine Damen und Herren, die ökologische Erneuerung unserer Industriegesellschaft muß in das Zentrum des Neuaufbaus der östlichen und des Umbaus der westlichen Bundesländer gestellt werden.
Wenn wir diese Chance begreifen, kann Umweltpolitik im Rahmen eines echten Solidarpaktes betrieben werden. Er nützt uns allen, im Osten und im Westen unseres Vaterlandes; er nützt uns in Europa; er nützt uns auch weltweit. Dies erfordert Handeln und keine billigen Zwischenrufe und keine billige Politik, die nur auf Public Relations ausgerichtet ist. Zu einer solidarischen Mitarbeit im Rahmen einer ökologischen Umorientierung dieser Volkswirtschaft werden wir Ihnen die Hand reichen, aber nicht zu Verbalattacken oder Verbalradikalismus, wie er von der einen Seite dieses Hauses geprägt wird.Herr Kollege Hornung, um das noch zu bemerken: Sie als Fraktion tauchen hier heute noch nicht einmal auf. Das ist ein Armutszeugnis, das Sie sich ins Stammbuch schreiben lassen müssen.
Ich gebe nun dem Abgeordneten Lippold zu einer Kurzintervention das Wort. Bitte schön, Herr Abgeordneter Lippold.
Herr Präsident! Herr Lennartz hat gewünscht, daß wir etwas zu dem sagen, was er ausgeführt hat. Dieser Wunsch soll ihm erfüllt werden.Die erste Aussage: Der Kollege Lennartz hat recht, wenn er sagt, daß der Umweltminister in Rio Hervorragendes geleistet hat. Dies ist nicht nur die Ansicht des Kollegen Lennartz, sondern das hat auch der Kollege Feige von den GRÜNEN geäußert. Das ist also mithin gängige Meinung des gesamten Deutschen Bundestages. Ich sage noch einmal: Kollege Lennartz hat recht.Das ist aber auch so ziemlich das einzige, bei dem er recht hatte.Der nächste Punkt — schon fangen die Falschaussagen und gezielten Mißverständnisse an —: Kollege Töpfer hat nicht gesagt, daß er von dem Ziel der Reduzierung des CO2 um 25 % abrückt, sondern er hat lediglich gesagt, daß dieses Ziel nicht gleichmäßig auf allen Ebenen erreicht wird. Es ist möglich, daß es auf einer Ebene weniger und dafür auf anderen mehr erreicht wird, so daß wir in der Summe bei minus 25 bis 30 % bleiben. Wer nicht in der Lage ist, eine so einfache Äußerung zu begreifen, sollte sich bei diesem Umweltminister Nachhilfeunterricht holen. Die nächste Umweltausschußsitzung steht an. Herr Lennartz, wir können es dort ausführlich nachholen.
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8898 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Dr. Klaus W. Lippold
Der nächste Punkt, Herr Lennartz: Umweltdefizite im Vollzug. Da frage ich mich doch — ansonsten stehen Sie hier mit Ihrer Länderministerriege —: Wo sind denn Ihre Länderminister auf der Bundesratsbank, die einmal sagen, wo das, was wir als Bund vorgegeben haben, umgesetzt wird? Es gibt große Defizite bei der Umsetzung. In Hessen stöhnt man über das, was hier alles gemacht und was losgetreten wird, wobei wir wirklich eine ökologische Umorientierung vornehmen. Die Beamten stöhnen dort darüber, daß sie mit dem Vollzug nicht mehr nachkommen. Das gleiche gilt für die von Ihnen regierten Lander. Wenn Sie sagen, daß es in den Ländern nicht umgesetzt wird, dann müssen Sie sich sagen lassen: Sie sind doch stolz darauf, daß Sie in den meisten Ländern die Mehrheit haben. Das heißt, daß in der Mehrheit der sozialdemokratisch regierten Länder nichts gemacht wird. Die Defizite steigen. Aber Sie wollen hier den Falschen an den Pranger stellen. Und das, Herr Lennartz, lassen wir mit uns nicht machen, damit wir uns ganz richtig verstehen!
Herr Abgeordneter Lippold, ich hatte Ihnen zu einer Intervention, aber mit der Betonung auf Kurzintervention, das Wort erteilt. Die zwei Minuten sind um.
Gut. Ich könnte noch fünf weitere Beispiele bringen, Herr Präsident, wo Kollege Lennartz nicht nur die Unrichtigkeit, sondern bewußt Falsches sagt. Er weiß selbst, daß z. B. noch nie so viele Mittel für den öffentlichen Personennahverkehr bereitgestellt worden sind wie in diesem Haushalt von Minister Krause. Es kommt jetzt darauf an, daß dieses vor Ort in den Ländern umgesetzt wird, daß wir nicht jahrzehntelang warten müssen, sondern daß es jetzt realisiert wird.
Ich bedanke mich, Herr Präsident!
Der Redner hat das Recht, sich dazu kurz zu äußern.
Herr Präsident, ich mache es wirklich sehr kurz. Herr Kollege Lippold, zum Einstieg: Lautstärke ersetzt keine Argumentation. Ich habe ja Verständnis dafür, daß Ihre Fraktion sich nicht zur Teilnahme an der Debatte gemeldet hat und sich durch den Minister vertreten läßt, daß Sie versuchen, mit einer Kurzintervention etwas zu formulieren.
Ich sage Ihnen nur ein Wort zu Ihrem gesamten Wortbeitrag: Bundesverkehrsminister Krause, wachsender CO2-Ausschuß, keine Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene — alles Worthülsen, ohne daß wirklich etwas passiert. Muß ich Ihnen jetzt die Haushalte vorbeten, angefangen mit dem Finanzminister über das Wirtschaftsministerium bis zum Verkehrsministerium, wo alle Ansätze, die die Umwelt betreffen, systematisch heruntergefahren worden sind?
Klären Sie erst einmal ab, wer im gesamten Bereich, wenn es um Umwelt und Verkehr geht, wirklich federführend ist! Jeder Fachmann auf diesem Gebiet wird Ihnen sagen, daß hier — leider Gottes — Herr Krause das Sagen hat und daß es nicht zu einer umweltverträglichen Verkehrspolitik kommt, bei der Umweltminister Töpfer die Möglichkeit zum Eingreifen hätte.
Es tut mir leid, ich würde Ihnen ja gerne helfen, Herr Minister Töpfer. Nehmen Sie mir das bitte ab, ich sage es ohne Ironie. Ich habe mich eben gefragt — ich meine das nicht bösartig —, ob Sie krank sind. Da wurde gesagt: Nein, das ist nicht der Fall. Ich habe mich gewundert, daß Sie so stark abgemagert sind. So, wie Sie abgemagert sind, hat auch diese Umweltpolitik das Durchsetzungsvermögen im Kabinett verloren. Es tut mir wirklich leid, das hier sagen zu müssen.
Herr Dr. Feige, Sie haben das Wort.
Es war ja auch sehr spannend.Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Herr Lippold hat freundlicherweise soeben gesagt, das, was Feige sage, sei hier im Haus gängige Meinung. Ich werde jetzt einmal gängige Meinung vertreten.Der Finanzminister hat vorgestern den Bundeshaushalt 1993 als Haushalt der Sparsamkeit vorgestellt. Akzeptiert! Warum das ausgerechnet für den Einzelplan 16 überdurchschnittlich gelten muß, nämlich für den Bundesumweltminister, ist mir unklar. Sein Budget wird im Vergleich zum Vorjahr um 3,5 % gesenkt. Ich teile die insbesondere in der Rede von Herrn Töpfer getragenen emotionalen Begründungen, auch für viele Dinge, die den Artenschutz betreffen, wenngleich vielleicht doch aus mehr weltlicher Sicht. Aber wie können Sie diese Haushaltskürzung im Jahre 1 nach der Konferenz von Rio und bei Betrachtung des Haushalts des Bundesverkehrsministers, der um fast 11 % gestiegen ist, für sich persönlich nicht als Schlag ins Gesicht empfinden? Ich glaube, daß alle, die die Konferenz in Rio vorbereitet und durchgeführt haben und jetzt nachbereiten müssen, alle Politiker, Verbände und Organisationen etwas anderes verdient hätten.Ich bin mit allem, was Sie zur stabilen Wirtschaft gesagt haben, wenn es mit ökologisch stabiler Wirtschaft übereinstimmt, einverstanden. Aber eine solche Wirtschaft wird überhaupt keine Umweltbelastungen mehr erzeugen. Dann muß aber das Wechselverhältnis mit dem Haushalt anders gesehen werden. Wenn wir eine ökologisch stabile Wirtschaft haben, brauchen wir ein entsprechendes Ministerium gar nicht mehr.Auch wenn immer mehr Menschen in der Bundesrepublik meinen, die Bundesregierung solle möglichst
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8899
Dr. Klaus-Dieter Feigeüberhaupt kein Geld mehr in die Hand bekommen, möchte ich klar sagen, daß der Einzelplan 16, mit dem die Schäden einer jahrzehntelangen Raubbaupolitik, eines ungezügelten Wirtschaftswachstums und einer katastrophalen Verkehrsbegünstigung in Ost und West gedämpft oder beseitigt werden sollen, nicht eingeschränkt werden darf. Sparsamkeit am falschen Platz ist in diesem Sinne Verschwendung.Wenn Sie mich nun fragen, wo das viele Geld für den Umweltschutz herkommen soll, dann meine ich: Es wäre für den subventionsabbausüchtigen Wirtschaftsminister — so möchte ich einmal sagen — ein Leichtes, diese Kosten einfach auf die Verursacher umzulegen. Es ist nicht so, Herr Töpfer, daß dies schon wirklich verursacherorientiert abläuft. Die Diskussion über die Mineralölsteuererhöhung in Ihren eigenen Reihen sagt doch etwas ganz anderes. Es gibt einen erheblichen Nachholbedarf. Wenn selbst der Bundesverkehrsminister heute für seinen Bereich „Kostenwahrheit" erst einfordert, sollte dies nicht nur für das Autofahren, sondern für alle Umweltsünden gelten.Die erste Regel beim Haushaltsparen muß also Abbau der verdeckten Subventionen heißen.Im Verhältnis zu anderen Haushaltressorts nimmt sich der Umweltbeitrag dürftig aus. So übersteigt alles, was Sie, Herr Töpfer, zur Verfügung haben, nicht einmal das, was die Bundeswehr in einem Jahr an Munition verballert oder an Raketen, zu welchem Zweck auch immer, in den Himmel schießt. Wo aber ist denn nun dieser äußere Feind, der noch über 50 Milliarden DM im Verteidigungsetat notwendig macht? Ich glaube, daß die Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland, die von der fehlenden Umweltverträglichkeit unserer eigenen Wirtschaft ausgeht, um einiges größer ist als die Gefahr, die unserem Land durch einen militärischen Angriff droht.
Aber selbst innerhalb des Einzelplanes 16 gibt es einige krasse Disproportionen. Von den etwa 1,3 Milliarden Mark des BMU-Haushaltes entfallen annähernd 40 % auf die Position des Bundesamtes für Strahlenschutz. 500 Millionen DM, eine halbe Milliarde, frißt dieser Koloß Jahr für Jahr und belastet damit jeden einzelnen Steuerzahler. Dazu kommt noch, was das Forschungsministerium an Geld für die Nuklearforschung verbraucht.Ich finde es angesichts dessen besonders unredlich, wenn den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes wider besseres Wissen eingeredet wird, daß die Atomenergie für sie die billigste sein soll. Billig ist es nur insofern, als es darum geht, inakzeptabel gewordene Energieformen, teure und riskante Atomenergiewirtschaft, mit schnöden Finanzierungstricks bei der Bevölkerung wieder akzeptabel zu machen. Die Kosten für die Atomwirtschaft werden auch bei einem Sofortausstieg den Bundeshaushalt noch über Jahrzehnte belasten und somit wichtige Umweltschutzvorhaben verhindern. Jetzt muß umgesteuert werden. Der Rückzug aus dieser nicht finanzierbaren und gefährlichen Großtechnologie muß unverzüglich eingeleitet werden.
Die Mittel, die wir freisetzen könnten und schon rechtzeitig hätten einsetzen können, wären genau in diesem Bereich einer alternativen Energiewirtschaft wesentlich sinnvoller eingesetzt. Es ist Ihre Philosophie der wachsenden Mobilität, des Wirtschaftswachstums, die das immer weiter provoziert. Wir müssen uns notgedrungen bei allem, was wir tun, daran gewöhnen, daß wir global — das ist in Rio konkret gesagt worden —, weltwirtschaftsweit in eine stabile, nicht wachstumsorientierte Position kommen.Selbst wenn die besagten 500 Millionen DM in vollem Umfang für die Beseitigung der Umweltaltlasten in den neuen Bundesländern eingesetzt werden könnten, würde es gut 500 Jahre dauern, bis wir allein dieses Gebiet saniert hätten. So hoch sind die notwendigen Aufwendungen. Deshalb ist es unfair, dies nicht weiter zu beachten. Die Wismut-Sanierung wird uns entsetzliche Mittel kosten. Sie ist jetzt historisches und gemeinsames Erbe.
— Es ist aber ein Grund dafür, einmal darüber nachzudenken, daß wir den Rüstungshaushalt angesichts der auch von Ihnen immer wieder zitierten Entlastung der Konfrontation von Ost und West drastisch reduzieren müssen.
Ich unterstütze den Minister Töpfer und seinen Haushalt in diesem Moment. Was wollen Sie denn noch von mir?Neben den besagten radioaktiv strahlenden 500 Millionen DM sind die 18,6 Millionen DM der Bundesforschungsanstalt für Naturschutz und Landschaftsökologie oder die 91 Millionen für das Bundesumweltamt dann einfach peinlich.
Herr Dr. Feige, der Abgeordnete Töpfer möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Ich nehme an, daß Sie nichts dagegen einzuwenden haben.
Herr Kollege Feige, da Sie sich für die Unterstützung meines Haushalts so engagiert einsetzen, darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß für die Sanierung der WismutAltlasten im Haushalt des Bundeswirtschaftsministers, wenn ich es richtig erinnere, 500 Millionen DM bereitstehen, und stimmen Sie mir zu, daß es eine gute Arbeitsteilung ist, daß der Umweltminister das vorzulegende Sanierungskonzept unabhängig beurteilt, die Finanzlast aber dann beim Besitzer, in diesem Fall beim Bundeswirtschaftsminis ter, aufzunehmen ist? Glauben Sie nicht, daß das sehr viel besser ist, als wenn ich nur darauf geachtet hätte, daß die Steigerungsrate im Haushalt des Umweltministers besser aussieht? Gehen Sie nicht auch davon aus, daß wir auf
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8900 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Dr. Klaus Töpferdiese Art und Weise wirklich ursächlich richtig entschieden haben?
Ich finde es sehr schön, daß Sie diese Fragen gestellt haben. Natürlich weiß ich, daß in anderen Haushaltspositionen bzw. in Töpfen anderer Ministerien ebenfalls Umweltmittel eingebracht werden.
Das ist okay! Aber worüber reden wir jetzt in diesem Moment? — Wir reden doch über den Umwelthaushalt. Ich glaube, für die Durchsichtigkeit der Politik, für das Mitbestimmen ist mehr Klarheit erforderlich. Das, was wir unseren Steuerzahlern an Akzeptanz für unseren Haushalt abverlangen,
muß von uns offenbar gesagt werden. Unsere Politik ist für die Parteimüdigkeit ebenfalls verantwortlich. Wir müssen gegenüber allen Wählerinnen und Wählern mehr Offenheit und Klarheit einbringen.
Bisher ist dies jedoch nicht erfolgt.Aber selbst die 500 Millionen — Sie wissen um die Dimension —, die wir jetzt als gemeinsame politische Erblast besitzen, werden nicht ausreichen. Können Sie unter diesem Gesichtspunkt — ich kann die Frage jetzt nicht einfach zurückgeben — nachvollziehen, daß die Ausgaben im militärischen Bereich leicht ganz konkret in diesem Sinne eingesetzt werden könnten? Sie haben bestimmt noch einmal die Chance, diesbezüglich anzusetzen.Ich will noch auf einige weitere mögliche Streichungen zurückkommen. Ich könnte die Beispielsliste beliebig fortführen. Es gibt im Rahmen der Sparsamkeit eine Menge richtiger Ansätze. Vieles wird zurückgenommen. Aber auf einen Punkt, der angesprochen wurde, möchte ich ganz konkret eingehen. Ich meine die ABM-Projekte. Selbstverständlich unterstütze ich den Minister, wenn er sagt, wir brauchen diese Projekte. Durch diese Projekte ist viel und Gutes erreicht worden. Aber ich sehe die Praxis vor Ort. Es ist doch schon ziemlich klar — die Arbeitsämter wissen es —: Es wird nicht mehr in bisherigem Umfang Geld für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geben. Die Realität zeigt, daß die Entscheidungen für weitere bzw. die Fortsetzung alter Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen noch keineswegs klar sind. Viele angefangene Projekte — ich kenne ein Beispiel aus Mecklenburg-Vorpommern, dort ging es vorerst nur um die Erfassung von Altlasten— werden abgebrochen. Geht dies so weiter, dann bleiben wir natürlich in der Gesamtbilanz der Altlasten stehen.Ich habe deshalb Sorge, daß Streichungen an falschen Positionen vorgenommen werden und wir selber direkt keinen Einfluß mehr darauf haben, welche Projekte unterbunden werden. Es macht mir Sorge, wenn es z. B. bei Ausgaben für Naturschutzgroßprojekte 20%ige Streichungen gibt. In diesem Zusammenhang nenne ich die Artenschutzverordnung.Ich habe mich nicht genau vergewissert, wieviel Geld im BMU-Haushalt für die weitere Fortsetzung des Dualen Systems Deutschlands eingeplant sind; Tarnbezeichnung DSD, nicht LSD. Ich denke, gerade auf dem Gebiet der Abfallwirtschaft können wir nicht mehr allzulange auf die endgültige Kapitulation der Wirtschaft und schließlich auch des Ministers zum Grünen Punkt warten.Die Zahlen sprechen aber eine deutliche Sprache. Das Jahresaufkommen an Kunststoffabfällen liegt in der Bundesrepublik zur Zeit bei etwa 1,3 Millionen Tonnen Plastikmüll — darunter 900 000 Tonnen allein aus Verpackungen. Von diesen werden aber lediglich 5,4 % definitiv wiederverwertet. In diesem Zusammenhang muß ich sagen: Das schaffen wir nie. Es ist der grundsätzliche Ansatz, der in diesem Sinne nicht richtig ist.Ich nehme es Herrn Töpfer nicht übel, daß er an seiner Erfindung so klebt. Ich habe vor kurzem gehört, es gäbe noch Perpetua mobiles, die zum Patent angemeldet werden. Die sind den Erfindern nicht auszureden. Ich akzeptiere das. Dafür bin ich aber unter diesen Bedingungen um so erfreuter, daß eine Frau, nämlich die Umweltministerin Frankreichs, wieder Bewegung in die Lösungsversuche beim Abbau des deutschen Müllbergs gebracht hat.Ich sehe immer noch die beeindruckenden Sätze im nationalen Bericht an die UNCED-Konferenz von Rio vor mir, in dem die Bundesregierung stolz verkündet, daß es in der Bundesrepublik Deutschland keine nennenswerten Fälle von Müllexport gibt. Jetzt ist die Blamage groß. Ich freue mich, daß Sie mit 1,2 Millionen DM eine Position im Haushalt haben, um die erste große Nachfolgekonferenz von Rio in die Bundesrepublik zu holen. Aber wie wollen Sie dort diese Dinge erklären?
In diesem Zusammenhang muß ich Sie ganz konkret fragen: Was ist mit dem Beschluß der Bundesregierung, bis zum Jahr 2005 mindestens 25 bis 30 % der CO2-Emissionen einzusparen? Die Diskussion in den Medien dazu ist Ihnen nicht unbekannt. Sie haben vielleicht ein bißchen da oder dort dazu beigetragen. Wieweit bleibt dieser Beschluß bestehen? Können Sie dazu konkret etwas sagen? — Noch ein Jahr? Bis zum Ende der Legislaturperiode? Noch einen Monat? Oder ist dieser Beschluß — aus welchen Gründen auch immer — in vierzehn Tagen vom Tisch? Wenn das das erste sein soll, was wir in der Bundesrepublik auf der Nachfolgekonferenz von Rio von uns geben, dann ist dies nach meiner Überzeugung die 1,2 Millionen DM nicht wert.Ich würde jetzt gern noch meine zehn Minuten zum Verkehrshaushalt anschließen, weil ich hier eine enge Verbindung sehe. Aber ich denke, daß vieles von dem, was man dazu sagen kann, in der Fortsetzung noch eingebracht werden kann.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8901
Dr. Klaus Dieter FeigeIch danke für Ihre Aufmerksamkeit und möchte noch einmal daran erinnern: Der angesprochene Zusammenhang ist gängige Meinung.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Beitrag geht zu den Bereichen Wirtschaftspolitik, Umwelt-, Forschungs- und Technologiepolitik. Ich habe ihn an diese Stelle gerückt,
weil ich denke, dem Umweltschutz muß Priorität gehören.
Als erstes möchte ich etwas zur Charakterisierung der Bundesregierung sagen. Ich denke, diese Bundesregierung ist geradezu so etwas wie ein Syndikat von Serientätern gegen die Umwelt; unter einem Kanzler, der eine einzige umweltpolitische Lücke ist.
Zur Umweltpolitik dieser Bundesregierung, vor allem aber auch zugleich — das muß man im Zusammenhang sehen — zur Wirtschafts- und zur Forschungs- und Technologiepolitik, ist zu sagen: Es fehlen dieser Bundesregierung die Konzepte, um zügig und wirksam gegen die ökonomische und soziale Auseinanderentwicklung, gegen die Umweltzerstörung und gegen die technologische Inzucht des hochmodernen Metropolenlandes Deutschland mit seiner kapitalistischen Marktwirtschaft anzugehen.
Dazu wären ebenso wie zur Behebung der Misere im Osten
industriepolitische Konzepte notwendig. Dazu wären regional- und branchenstrukturpolitische Konzepte notwendig. Dazu wären politische Vorgaben, Absprachen, positive und negative Sanktionen und vieles andere mehr als Ergänzung zu den marktwirtschaftlichen Prozessen notwendig.
Marktwirtschaft bedeutet eben nicht nur bestmögliche Abtastung von Bedarf und Bedürfnissen — sehr oft allerdings auch von künstlich geschaffenen Bedürfnissen. Fast 2 % des Bruttosozialprodukts werden z. B. allein für eine zum Teil schwachsinnige Werbung ausgegeben. 2 % des Bruttosozialprodukts bedeuten aber auch 2 % der Umweltbelastungen. Auch das ist Marktwirtschaft. Das wird hier auf der rechten Seite immer vergessen.Über 5 Milliarden DM werden in Deutschland im Jahr für Tierfutter ausgegeben. Zugleich, so „Der Spiegel", gibt es in wachsender Zahl Arme in diesem reichen Land, die mit Hundenahrung ihren Proteinbedarf decken müssen.
Auch das ist Marktwirtschaft.
Dennoch, trotz dieser und anderer wichtigerer, viel wichtigerer Entartungen der Marktwirtschaft: Es gibt keinen so wirksamen Koordinationsmechanismus für Nachfrage und Angebot wie sie. Die Marktwirtschaft ist aber auch zugleich der Rahmen für die weitere schrankenlose Ausdehnung der Produktion und damit für die weiter eskalierende Umweltzerstörung. Die Marktwirtschaft droht immer das Prinzip umzudrehen. Nicht der Bedarf schafft die Produktion, sondern die Produktion schafft sich zunehmend den Bedarf. Die Zersiedelung des Landes, der drohende Verkehrsinfarkt, die automobile Gesellschaft, der die letzten Naturreservate bedrohende auswuchernde Tourismus, die fade, geschmacklose industriell produzierte und vor allem verpackte Nahrung mit dem vielen Müllanfall und vieles andere mehr sind Ergebnisse einer unökologisch und unsozial vor sich hinwuchernden Marktwirtschaft. Dem müssen — nochmals: als Ergänzung, nicht als Ersatz für die Marktwirtschaft — industriepolitische Konzepte mit ökologischer und sozialer Prägung entgegengesetzt werden.Sie müssen nach einer entsprechenden Umweltverträglichkeitsprüfung und Technologiefolgenabschätzung andere als auf schrankenloses Wachstum gerichtete Prozesse in den Betrieben erlauben. Diese Konzepte müssen pragmatisch, in demokratischer Abstimmung, z. B. nach dem Muster der Runden Tische in der verblichenen DDR, erarbeitet werden. Mit ökologischen, sozialen, regionalpolitischen und anderen Auflagen, mit positiven Sanktionen wie Subventionen und Prämien, mit negativen Sanktionen bis hin z. B. zur Untersagung giftiger Produktionen, mit Mitteln der Moral Suasion, des Appells an die Verantwortung der Verantwortlichen und mit anderen Mitteln muß nach dem Verursacherprinzip das unternehmerische Investitionsverhalten — das ist die entscheidende Variable — verändert werden. Die Erweiterung der bisherigen sozialen Mitbestimmung zur vollen sozialen, zur ökologischen, zur technologischen und zur wirtschaftlichen Mitbestimmung gehört untrennbar dazu.Sage niemand, die Marktwirtschaft vertrüge das nicht! Die Marktwirtschaft ist in der Lage, wenn bestimmte Grundlagen fest gegeben sind, innerhalb von sehr unterschiedlichen Konstellationen von Rahmenbedingungen zu funktionieren. Es mag sein, daß bei bestimmten etwas restriktiveren Auflagen aus Umwelt- oder sozialen Gründen die Dynamik des weiteren Wachstums etwas eingeschränkt wird, die Prozesse etwas langsamer ablaufen. Angesichts der katastrophalen Umweltentwicklung, aber auch angesichts der ungeheuer hochgepushten Produktivität mit ihrer Hetze und ihrem Druck in den Betrieben ist das aber auch durchaus vertretbar.
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8902 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Dr. Ulrich BriefsUnd um gleich einer Panikmache vorzubeugen: Weniger Wachstum, bessere Umwelt, gesündere Nahrung, weniger soziale Ausgrenzung bedeuten auf diesem Wege nicht Verarmung oder Verelendung, sondern, wenn man nur die ökonomischen Effekte betrachtet, ein langsameres Noch-reicher-Werden. Auch der Weltmarkt bestraft die durchaus nicht, die etwas später kommen oder sozialer oder ökologischer verfahren als die Konkurrenz. Die Arbeitszeitverkürzungen der letzten Jahre z. B. haben in keiner Weise— in keiner Weise — die Weltmarktposition der Bundesrepublik auch nur etwas beeinträchtigt.Im übrigen sind Deutschland und Japan — das darf nicht vergessen werden — die großen Parasiten des internationalen Handels. Sie exportieren in jedem Jahr in erheblichem Umfang — Deutschland allein ca. 4 % — Arbeitslosigkeit.Ein besonderes Problem stellt in diesem Zusammenhang die Herausbildung eines High-Tech-Produktionskomplexes mit immer höherem Tempo und Leistungsdruck und entsprechenden Belastungen dar. Er ist das Ergebnis systematischer energiepolitischer Inzucht, bei der mit riesigen Beträgen Technologien und Industrien gefördert werden, die vor allem für andere ähnlich geartete Technologien und Industriezweige produzieren bzw. von diesen beliefert werden — das läuft irgendwie so in sich ab. Die Raumfahrt, die Förderung der Hochpräzisionsmaschinerie, große Teile der Informations- und Kommunikationstechnologien, neue Werkstoffe verdanken ihr Entstehen vor allem diesem Zusammenhang. Sinnvolle Produkte für die Verbraucher/Verbraucherinnen sind meist nur ein Abfallprodukt. Dieser HighTech-Sektor entfernt sich zunehmend vom wirklichen Bedarf der Menschen in der Gesellschaft, insbesondere auch vom ökologischen Bedarf.In diesem Sektor zu arbeiten, in den entsprechenden Ballungsgebieten zu wohnen, an den entsprechenden Kommunikations- und Verkehrsformen— natürlich auch den Einkommen — teilzuhaben ist immer mehr kleinen Eliten vorbehalten, die die Gesellschaft spalten und die mit ihrer kalten, elitären, technologischen Sichtweise auch eine politische Gefahr sein können. Das NS-System hat sich vor allem auch auf die damalige technische Führungsschicht stützen können. Nicht jede Modernisierung bedeutet eben Fortschritt. Die NS-Zeit war eine Zeit ausgesprochener betrieblicher und technischer Modernisierung— mit, wie wir wissen, furchtbaren Folgen für ZigMillionen von Menschen. Auch das spricht für eine politische, soziale und ökologische Kontrolle des wirtschaftlichen und technischen Wandels. Die Konzentration auf High-Tech-Produktion bedeutet nicht nur, daß die Belastungen durch Stäube, Gase, Dämpfe, Flüssigkeiten an den Arbeitsplätzen steigen; sie bedeutet z. B. auch die weitere Entfaltung der Giftmüllproduktion.Eine besondere Gefahr stellen die Bio- und Gentechniken dar. Sie führen gefährliche Elemente der Manipulation von Strukturen der lebendigen Materie in die wirtschaftliche und industrielle Praxis ein. Wenn das allein dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen bleibt, werden womöglich tatsächlich Geister gerufen, die nicht mehr zurückzuholen sind.In ähnlicher Weise — damit haben wir unsere negativen Erfahrungen bereits gemacht — beruht die Atomtechnik auf der Möglichkeit, die feinsten Strukturen der toten Materie zu manipulieren — mit unabsehbaren Risiken für das Leben auf diesem Planeten überhaupt.In ähnlicher Weise ergeben die Informations- und Kommunikationstechniken Möglichkeiten der Manipulation der Kommunikationsbeziehungen in der Gesellschaft. Diese Möglichkeit ist übrigens eine zwangsläufige Folge des technischen Prinzips der Computertechnik.
Deshalb ist nicht weniger, sondern mehr Datenschutz, d. h. mehr Persönlichkeitsschutz, z. B. im ISDN-System der Zukunft notwendig.Die Informatisierung der Gesellschaft und die neuen Techniken machen auch nicht weniger, sondern mehr Demokratie notwendig. Sie bringen sie allerdings nicht von sich aus, wie die gescheiterte produktivistische Variante des Sozialismus u. a. in der früheren DDR glauben machen wollte. Demokratie muß auch in Auseinandersetzung mit den neuen Techniken und mit den auf ihrer Grundlage entstehenden Technostrukturen in den Betrieben und in der Gesellschaft erkämpft werden.Vor diesem Hintergrund ist insbesondere auch die Entwicklung im Bereich der Deutschen Bundespost kritisch zu sehen. Eine Privatisierung, wie sie jetzt anvisiert wird, wird dazu führen, daß dringend notwendige Kontrollmöglichkeiten der weiteren Informatisierung aufgegeben werden. Ich glaube, daß die Alternative, die jetzt insbesondere von der Arbeitsgruppe Post der SPD in die Diskussion gebracht worden ist, eine wesentlich bessere Lösung darstellt.Ich komme zum Schluß. Es gibt trotz aller gegenteiligen Lippenbekenntnisse bei Ihnen hier, bei Marktwirtschaftlern wie Ihnen, zahlreiche ideologische Barrieren. Formelherunterbeterei und marktwirtschaftliche Folklore helfen nicht weiter. Naive Behauptungen wie die von Herrn Glos heute morgen, daß die Löhne und Gehälter inzwischen der Hauptkostenblock sind, sind für die moderne Industrie längst widerlegt.
— Dann kennen Sie die Zahlen nicht. Die Fixkosten, darunter vor allem die kapital- und technologieeinsatzbedingten Fixkosten, sind heute das Hauptproblem der Betriebe. Sie sollten sich mal ein bißchen industrielle Kostenrechnung aneignen.Schließen wir nicht die Augen vor der zwangsläufig mit einer weiterhin ungezügelten Marktwirtschaft verbundenen Umweltzerstörung! Schließen wir nicht die Augen vor der sozialen Ausgrenzung und Deklassierung, der Verarmung und Verelendung, die mit der Marktwirtschaft auch verbunden ist!
Frau Dr. Dagmar Enkelmann hat zunächst das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8903
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich hätte mir sehr gewünscht, daß die Beratung der Haushalte Verkehr und Umwelt zusammengepackt worden wäre, weil ich glaube, daß dann die Chance bestanden hätte, die unmittelbare Verflechtung beider Haushalte und ihre Abhängigkeiten deutlicher zu machen. Ich glaube ohnehin, daß das Problem dieser Haushaltsberatung vor allem darin besteht, daß es hier ein stures Töpfchendenken gibt. Das heißt, es wird nur von einem Topf in den anderen gedacht, aber nicht darüber nachgedacht, wie man möglicherweise sinnvoll bestimmte Mittel umverteilen kann, z. B. aus dem Verkehrshaushalt in den Umwelthaushalt.
Meine Damen und Herren, angesichts der immer offenkundiger werdenden Leitlinie der Bundesregierung „Umweltpolitik wird nur dann realisiert, wenn es der Industrie nützt!" wundert es uns nicht, daß der Haushaltsansatz 1993 des Ministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit — wobei das Schwergewicht, wie es scheint, auf dem letztgenannten Ressort liegt — um 3,5 % niedriger ist als 1992. 47,4 Millionen DM sollen in diesem vor allem für die Zukunft der Erde, unserer Kinder und Enkelkinder so wichtigen Bereich gesellschaftlicher Entwicklung im kommenden Jahr eingespart werden.
Die vollmundigen Ankündigungen einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes bis zum Jahre 2005 werden von Umweltexperten und -expertinnen immer mehr in Zweifel gezogen, auf der ersten Verkehrsanhörung der Enquete-Kommission zum Schutz der Erdatmosphäre ebenso wie in einer im Auftrag des Bundesumweltamtes in Heidelberg erstellten Studie. Die Ergebnisse der letzteren haben Sie, Herr Kollege Töpfer, sicher nicht ohne Grund zuerst den CDU-Fachausschüssen vorgestellt, belegt sie doch ohne Wenn und Aber, daß bei Fortsetzung der bisherigen Politik — und daran läßt der Haushalt 1993 keinen Zweifel — der CO2-Ausstoß im Verkehrsbereich bis zum Jahre 2005 nicht um 25 % gesenkt, sondern um bis zu 50 % ansteigen wird. Auch der Dachverband Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke ließ in der vorigen Woche ausrichten, mehr als 12 % CO2-Reduzierung sei bis zum Jahre 2005 nicht möglich. Prompt kam ein Bleichlautendes Echo aus dem Umweltministerium.
Angesichts dieser Groteske frage ich mich, wer denn nun eigentlich die Regierung in diesem Staat ist und wessen Interesse sie vertritt. Sollte etwa der Satz von Tucholsky doch stimmen, der da heißt: „Sie glaubten, sie wären an der Macht; dabei waren sie nur an der Regierung. "?
Was wir brauchen, sind keine Sonderabschreibungen oder Investitionszulagen für die großen Energiekonzerne dieses Landes, die ihr verschwenderisches, CO2-speiendes und atommüllproduzierendes Energiesystem auf den Osten Deutschlands und darüber hinaus übertragen wollen, sondern gezielte finanzielle Hilfen für den flächendeckenden Aufbau einer umweltfreundlichen, sozialverträglichen und ressourcenschonenden Energieversorgung in kommunaler Hand. Wir brauchen konkrete Förderung von Energieeffizenzsteigerung, Energieeinsparung und Nutzung von regenerativen Energiequellen mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt. Die Ausgaben für erneuerbare Energien und rationelle Energieversorgung betragen gerade einmal 268,5 Millionen DM, ein Fünftel weniger als im Haushalt 1992. Mehr als die zehnfache Summe, über 2,5 Milliarden DM, sind dagegen allein im Riesenhuber-Etat für Atomenergieforschung und -förderung veranschlagt,
über 272 Millionen DM dann noch in Herrn Töpfers Haushalt für 1993. — Ich zähle einfach einmal zusammen.
Hinzu kommen die Projektkosten für die geplanten Endlager Gorleben und Schacht Konrad sowie die Betriebskosten für Morsleben. Die 46,1 Millionen DM für Naturschutz, die zudem um 16,8 Millionen DM gegenüber 1992 gekürzt werden, fallen da kaum noch auf. Diese Kürzung trifft vor allem die Naturschutzgroßprojekte empfindlich, bei denen 20 % der Mittel gestrichen werden.
Ich wollte eigentlich noch einiges zu FCKW sagen. Ich nehme aber an, daß wir im Umweltausschuß noch dazu kommen werden. Ich hätte mir, Herr Minister Töpfer, vor allen Dingen einige klare Worte zum umweltfreundlichen Kühlschrank, also zum FCKW- und FKW-freien Kühlschrank aus dem dkk Scharfenstein, gewünscht, ebenso wie ich Ihnen Durchsetzungsvermögen im Interesse Ihres Etats und im Sinne einer realen ökologischen Umgestaltung der bundesdeutschen Gesellschaft wünsche. Ich befürchte allerdings, Sie werden sich gegen den Verkehrsrowdy Herrn Krause nicht durchsetzen können.
Ehrlicher wäre es dann für Sie, sich von dieser Regierung zu verabschieden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nunmehr hat der Abgeordnete Junghans das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Standort Deutschland — das ist eine Kategorie, die wir alle in möglichst untrüglichen Zahlenkolonnen und -vergleichen auszufüllen bemüht sind. Nur scheinbar entrückt von diesen Zahlenspielen, möchte ich von dieser Stelle aus Ihren Blick etwas weiten.Neben Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sowie dem Geflecht auf dem Sozialsektor als den vordergründigen Standortkomponenten machen besonders die natürlichen landschaftlichen Bedingungen die Standortqualität Deutschlands aus. Jeder von uns kann das nachvollziehen und zu Recht mit Genugtuung seine heimatlichen Landschaften über alle Grenzen hinweg preisen.
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8904 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Ulrich JunghannsIch will bestehende Probleme nicht unter den Teppich kehren oder ein gänzlich undifferenziertes Bild zeichnen; wir stimmen aber mit Sicherheit darin überein, daß dieser Standortwert entscheidend mit der Arbeit der Bauern verknüpft ist.
Man glaubt immer noch, ihre Leistung vorrangig als die eines Nahrungsmittel- und Rohstofflieferanten werten und mitunter abtun zu können. Das greift viel zu kurz. Die Landwirtschaft erbringt unter schwierigen Wirtschaftsbedingungen vielfältige Leistungen der Landschaftspflege und des Umweltschutzes und erhält unsere über Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaft.
Nur eine funktionsfähige Landwirtschaft kann sicherstellen, daß diese landschaftspflegerischen Leistungen kostengünstig erbracht werden.Neben der Wertschätzung für Nahrungsmittel aus deutschen Landen erfährt diese Seite der Wertschöpfung durch die Bauern noch eher Geringschätzung. Da haben es die Bauern, ob in Brandenburg oder in Baden-Württemberg, gleichermaßen schwer. Ihre Befürchtungen, der wirtschaftlichen Zukunft beraubt und von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgekoppelt zu werden, müssen wir sehr ernst nehmen.Es geht um die Standortqualität Deutschlands, wenn wir uns mit mehr Konsequenz daranmachen, der Land- und Forstwirtschaft, dem Wein- und Gartenbau sowie der Fischerei in der Politik das Gewicht zu geben, das sie mehr als verdienen.
Das heißt zunächst, meine Damen und Herren: Wir müssen die GATT-Verhandlungen zum erfolgreichen Abschluß treiben.
Mit dem Abbau der EG-Subventionierung ist das entscheidende Hemmnis beseitigt, wobei die EG-Agrarreform zu einem fairen Verhandlungsangebot geworden ist. Ich möchte die Regierung ermuntern, die EG-Kommission in ihrem Verhandlungsmandat vehement zu unterstützen, wobei ausschlaggebend bleibt, daß die bei der Agrarreform beschlossenen Ausgleichszahlungen dauerhaft und verläßlich gesichert und keine betrieblichen Förderobergrenzen zugelassen werden. Denn: So wichtig der erfolgreiche Abschluß der GATT-Verhandlungen für die Wirtschaft insgesamt auch ist, der hohe Preis dafür darf nicht allein von der Landwirtschaft getragen werden.
Ohnehin empfinden viele Bauern die EG-Agrarreform als Kreuz. Kritik richtet sich gegen Regelungen bei Getreide und Rindfleisch, bei Mutterkühen und Schafen sowie insbesondere gegen den Verwaltungsaufwand. Gleichwohl gibt es — das sei auch festgestellt — insgesamt eine ausgewogene Bilanz beim Ziel der Mengenbegrenzung und Preissenkung, bei Ausgleichsleistungen und sogenannten flankierenden Maßnahmen wie Aufforstung, Vorruhestand, umweltverträgliche Landwirtschaft. Letztere beginnen im Jahre 1993 kostenwirksam zu werden.135 Millionen DM sind zusätzlich im Bereich der Gemeinschaftsaufgaben eingestellt. Aber es sei sofort angemerkt: Wie so oft ist Geld dabei nicht alles. Reformakzeptanz kann nur wachsen, wenn der Verwaltungswust abnimmt. Mit Vertrauen und Unnachgiebigkeit richten wir diese Erwartung an die Verhandlungsführer der Bundesregierung. Die Bauern wollen im Stall und auf dem Feld wirtschaften und sich nicht am Schreibtisch zermartern!
In dieser Situation einer noch reifenden EG-Agrarreform und des offenen Ausgangs der GATT-Verhandlungen sind wir gefordert, das national Mögliche zu tun, um mit dem Haushalt 1993 feste Orientierungspunkte zu setzen, die unserem konstruktiven Reformwillen für die Bauern Gestalt geben.Leitlinien dafür sind und bleiben: den Abbau der Überschüsse durch eine wirkungsvolle Marktentlastung herbeizuführen; die von der Landwirtschaft für die Allgemeinheit erbrachten besonderen ökologischen und landschaftspflegerischen Leistungen entsprechend zu honorieren, wobei nach der Verfassungslage die Länder gefordert sind; zur Weiterentwicklung und Stabilisierung der ländlichen Räume die Agrarmarktpolitik und -strukturpolitik durch eine integrierte und vernetzte Politik für den ländlichen Raum zu ergänzen; die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft
— Sie können nach mir reden! Hören Sie erst einmal zu, was ich sage, Herr Sielaff! —
durch eine konkurrenzfähige Produktvermarktung auf den europäischen und außereuropäischen Märkten zu verbessern.Mit dem Haushalt 1993, der einen Budgetzuwachs in Höhe von 3,1 % aufweist, stellen wir uns den Erwartungen der Bauern in Ost und West.Erstens. 1,41 Milliarden DM sind im Etatentwurf eingestellt, um auf der Grundlage der noch ausstehenden EG-Vorgaben eine unabdingbare Fortführungsregelung zum Mehrwertsteuerausgleich zu treffen.
Dieser Betrag könnte auf 2,2 Milliarden DM erhöht werden, wenn sich die Länder zur Komplementärfinanzierung bekennen. Bleibt es bei der bisherigen ablehnenden Haltung, die uns schon in diesem Jahr vor den Vermittlungsausschuß führt, kann man das nur als Absage gegenüber den Sorgen und Nöten der Bauern betrachten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8905
Ulrich JunghannsIch appelliere an die Landesregierungen, insbesondere an die SPD-geführten, in dieser Sache Vernunft walten zu lassen.
Zweitens. Rund 55 Millionen DM sind für den großen und zukunftsträchtigen Komplex nachwachsender Rohstoffe eingestellt. Wir brauchen einen Durchbruch in der Koordinierung aller Beteiligten aus Wissenschaft, Landwirtschaft und Industrie, urn die Zielstellungen mit schlüssigen und kostengünstigen Konzepten zu erreichen. Dafür soll eine Fachagentur die Arbeit aufnehmen, welche ihren Standort noch sucht. Ohne die guten Gründe ambitionierter Kollegen falsch auslegen zu wollen, möchte ich doch anmerken, daß diese Einrichtung nach meinem Dafürhalten in einem unserer neuen Bundesländer am besten aufgehoben wäre.Drittens. Die Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe wurden auf 2,73 Milliarden DM aufgestockt. Dabei entspricht es der Situation, daß der Bewilligungsrahmen für die jungen Länder im Jahre 1993 mit 465 Millionen DM größer ist als für die alten Bundesländer. Die Bauern reden eben nicht über Solidarbeitrag, sie handeln.Noch deutlicher zu den Problemen der Landwirtschaft in unseren neuen Ländern: Nach wie vor vollzieht sich ein dramatischer Arbeitskräfteabbau, ohne daß schon ausreichende Alternativprogramme greifen. Die Marktzugangsbedingungen sind so schwierig, daß die Erlöse, besonders bei Rindfleisch und Milch, hinter denen hierzulande noch zurückstehen. Der Kapazitätsabbau konnte noch nicht korrigiert werden. Die Folgen der Trockenheit dieses Sommers tun das Übrige zur Verschärfung der Lage.Diese Situation verlangt auch im kommenden Jahr, die Umstrukturierung der Betriebe in den neuen Bundesländern hin zur Marktwirtschaft durch spezifische Maßnahmen zu unterstützen. Dafür gilt es, jetzt schnell die Regelung zur Abwendung von Existenzgefährdung in den betroffenen Ländern zu treffen. Für die Bundesregierung soll dafür die Regierungsvereinbarung, die im Entwurf vorliegt, Grundlage bleiben.2,63 Milliarden DM sieht der Landwirtschaftsetat für unsere jungen Bundesländer in 1993 insgesamt vor. Erstmalig werden unter diesem Titel die Ausgleichsmaßnahmen für die Bauern in Ost und West gemeinsam ausgewiesen. Das ist ein notwendiger Schritt. Gleichwohl werden wir uns einen scharfen Blick dafür bewahren, daß der den neuen Ländern zustehende Anteil — Berechnungsgrundlage für den Etatentwurf — in Höhe von 420 Millionen DM den Bauern zwischen Rostock und Suhl, zwischen Frankfurt/Oder und Wernigerode auf Heller und Pfennig chancengerecht über alle Betriebsformen hinweg zufließt.
Spezielle Hinwendung zu unseren jungen Bundesländern heißt ferner: Entschädigungsleistungen in Höhe von 300 Millionen DM für verlorengegangeneInventarbeiträge der Bauern, verteilt auf 1993 und 1994. Damit löst die Regierungskoalition ihr Wort ein, hilft, die vermögensrechtlichen Auseinandersetzungen vielerorts zu entkrampfen, und beseitigt mit diesem finanziellen Ausgleich Hemmnisse bei der Wiedereinrichtung bäuerlicher Betriebe und bei der Entwicklung des ländlichen Raumes.
Die deutliche Aufstockung des Bundeszuschusses für die landwirtschaftliche Unfallversicherung von 52 auf 85 Millionen DM hilft dem Versicherungsträger LBG Berlin, in seine Verantwortung hineinzuwachsen.Schließlich seien die Mittel erwähnt, die der Etat für die Förderung agrar- und forstkultureller sowie agrar- und forsthistorischer Einrichtungen in unseren Ländern bereithält. Den Verfall einzudämmen bzw. die Nutzung zu bewahren ist ein wichtiger Baustein ländlicher Traditionspflege.Die entscheidende Herausforderung aber für alle Bundesländer ist, entsprechend ihrer verfassungsmäßigen Zuständigkeit, bezogen auf ihre landwirtschaftlichen und landeskulturellen Erfordernisse, alle Möglichkeiten der Finanzierung umweltverträglicher Landbewirtschaftung auszuschöpfen.
Für die jungen Länder steht angesichts riesiger Stillegungsflächen im Vordergrund, der Umwidmung von Flächen zur forstwirtschaftlichen Nutzung und der Landschaftspflege mittels Landesprogrammen viel mehr Gewicht zu geben. Allein das verdient es, die Landesbeteiligung am Ausgleich der Mehrwertsteuer nicht auszuschlagen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dem Landwirt wird abverlangt, sich auf den Wandel der gesellschaftlichen Wertvorstellungen einzustellen. Das gibt uns gemeinsam auf, mit unserer Agrar- und Finanzpolitik Perspektiven für den unternehmerischen Landwirt aufzuzeigen und zu eröffnen, die ihm wirtschaftliche und soziale Sicherheit in unserer sich verändernden Welt geben.Danke schön.
Ich erteile nunmehr das Wort dem Abgeordneten Horst Sielaff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß hier feststellen: Die Agrarpolitik scheint in dieser Regierung völlig an den Rand und in die Bedeutungslosigkeit abgeschoben worden zu sein
— das scheint leider nicht nur so —, erkennbar auch daran, daß sich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu diesem Bereich weder der Landwirtschaftsminister noch ein anderes Mitglied der Regierungskoalition zu
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8906 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Horst SielaffWort gemeldet hat. Ich hoffe, daß das nach dieser Rede anders wird.
Die Agrarpolitik wird offenkundig, lieber Herr Hornung, von der Wirtschaftspolitik ganz und gar bestimmt und der Wirtschaftspolitik untergeordnet. Ich verweise auf das Vorgehen von Herrn Möllemann auf dem Münchener Weltwirtschaftsgipfel, wo die Agrarpolitik nicht von Herrn Kiechle, sondern vom Wirtschaftsminister gemacht worden ist. Sie wissen genau, wovon ich spreche.Da versteht man schon, daß Sie, Herr Kiechle, praktisch das Handtuch werfen und frühzeitig angekündigt haben, Ihr zugegebenermaßen schwieriges Amt — besonders schwierig in dieser Regierungskoalition — aufzugeben.
— Daß sich die F.D.P. hier wehrt und nicht zugeben will, daß Herr Möllemann bestimmt, was Sie in der Agrarpolitik sagen dürfen, das ist sicherlich verständlich, aber trägt hier zur Aufklärung nicht bei.Agrarpolitik, meine Damen und Herren, ist nicht nur Politik für einen Berufsstand, der ums Überleben kämpft, sondern Agrarpolitik hat Entscheidendes mit Raumordnungspolitik und mit der künftigen Entwicklung des ländlichen Raumes insgesamt zu tun.
Ich darf Sie daran erinnern, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, daß Sie im Zuge der Koalitionsvereinbarungen die Erstellung eines Konzeptes zur Entwicklung des ländlichen Raumes festgelegt haben. Wir müssen mit Unverständnis feststellen, daß dieses Konzept bis heute nicht vorliegt. Dabei wäre es angesichts der Schwierigkeiten der ländlichen Räume und der Dörfer gerade in den neuen Ländern so dringend nötig. Herr Junghanns hat hier im Grunde darauf verwiesen. Wenn er könnte, würde er hier genauso deutlich fordern, daß diese Regierungsvereinbarung endlich auch realisiert wird.Ungelöste oder in der Vergangenheit falsch gelöste Fragen der Raumordnung, das Problem der fehlenden Hofnachfolger, Fragen der auch künftig flächendekkenden, ökologisch sinnvollen Landbewirtschaftung oder auch die schwierige Situation der deutschen Fischereiwirtschaft, die durch wachsende Unsicherheit und ungerecht vergebene Fangquoten gekennzeichnet ist — alles Probleme, die in diesem Haushalt nicht den Platz einnehmen, der ihnen zukommen müßte.
Diese Sorgen scheinen nur von einem kleinen Kreis in der Regierungskoalition erkannt worden zu sein. So muß man wohl feststellen, daß die Agrarpolitik ein weiteres Mal die allgemeine Hilflosigkeit und Konzeptlosigkeit der gegenwärtigen Bundesregierung unterstreicht.
Die Kollegen der Regierungskoalition müssen sich fragen lassen, welchen tatsächlichen Stellenwert Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft in diesem Haushaltsgesamtpaket wirklich haben.Wir Sozialdemokraten wissen, wie groß die Bedeutung der Agrarpolitik nach wie vor ist, nicht zuletzt auch wegen unserer Verantwortung für die Sicherstellung der Welternährung. Sie können dies daraus ersehen, daß in den Redebeiträgen des Fraktionsvorsitzenden, des Parteivorsitzenden und insbesondere von Hinrich Kuessner die Agrarpolitik und Landwirtschaft ausdrücklich genannt worden sind, bei der Regierungskoalition dagegen bisher kaum ein Wort zur Agrarpolitik außerhalb des Fachressorts.Im Einzelplan 10 werden fast 14 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Dies bedeutet ein Plus von 3,1 % gegenüber dem letzten Jahr. Aber wo ist das Konzept mit klaren Zukunftsperspektiven für die Landwirte, das sich in diesem Finanzplan widerspiegelt?
Wir Sozialdemokraten fordern seit 1982 eine EG-Agrarreform; wir stehen dazu. Sie, Herr Kiechle, haben sich dem lange widersetzt. Was dann nach den fortgesetzten Verhandlungen herausgekommen ist, kann man nun wirklich nicht als gelungen bezeichnen. Diese Agrarreform mit einer übermäßigen Betonung der Flächenstillegung und den zum Teil unausgegorenen Regelungen für die Extensivierungsmaßnahmen — dabei denke ich u. a. an die Mutterkuhprämie, die noch immer nicht völlig unabhängig von der Milcherzeugung gezahlt werden kann — wird weder bei den Landwirten noch in der sonstigen Bevölkerung Akzeptanz finden.
Überdies, Herr Hornung, wird diese Reform an ihrer Widersprüchlichkeit und Kompliziertheit ersticken.Bürokratie — das ist das Kennzeichen dieser Reformbemühungen, von vielen beklagt und von der Bundesregierung offensichtlich noch nicht einmal ansatzweise gelöst oder auch nur in den Griff bekommen. Der Mechanismus der Ausgleichszahlungen ist sowohl ökologisch als auch ökonomisch mißlungen. Der Forderung nach standortgerechter Landwirtschaft wird durch diese Bestimmungen entgegengearbeitet. Viele der notwendigen Durchführungsbestimmungen zu den Reformbeschlüssen fehlen, werden herausgegeben, widerrufen, erneuert, kompliziert und zurückgezogen. Die Behörden vor Ort können inzwischen ganze Opern davon singen. Wenn der Landwirtschaftsminister zuhören würde, würde er sich daran erinnern, daß der Landwirtschaftsminister des Landes Rheinland-Pfalz ihm dies in einem Brief sehr plastisch dargestellt hat.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8907
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Gallus möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.
Das wird nicht angerechnet? Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nein. Herr Abgeordneter Gallus, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Sielaff, Sie sind doch mit mir der Auffassung, daß Ihre Ausführungen im wesentlichen dazu dienen sollen, zu vertuschen, daß die sozialdemokratischen Länder nicht bereit sind, den den Bauern zustehenden 3 %igen Anteil am soziostrukturellen Ausgleich zu finanzieren?
Lieber Herr von Hammerstein, Sie riefen dazwischen, hier brauchte ich nicht zu singen, sondern solle eine alte Platte auflegen, die schon Risse hat. Die Platten, die Sie immer wieder auflegen, haben in der Tat schon tiefe Risse. — Dies ist das einzige — und zwar unrichtige — Argument —Herr Gallus, Sie wissen das genau —, was Sie immer wieder vorbringen. Sie wissen, woran die Lösung der Probleme scheitert, nämlich daran, daß die Bundesregierung die Länder immer mehr einengt, ihnen mehr Lasten aufbürdet und die Länder das bezahlen sollen, was andere nicht zahlen wollen. Das ist die Tatsache, und Sie wissen es genau.
Nun hat der Abgeordnete Oostergetelo die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage, vorausgesetzt, daß Sie bereit sind, sie zuzulassen.
Herr Kollege Sielaff, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Auszahlung dieser von Herrn Gallus erwähnten Gelder auch deshalb nicht zustande gekommmen ist, weil die Koalition — —
Herr Abgeordneter, Dreiecksfragen sind nicht zulässig. Das wissen Sie. Bitte, stellen Sie eine zulässige Frage an den Redner. Und wenn Sie mit dem Kollegen Gallus etwas zu klären haben, dann regeln Sie das bitte unter vier Augen.
Also, Herr Abgeordneter Oostergetelo, eine Frage an den Redner.
Herr Präsident, ich darf noch einmal formulieren; vielleicht bekomme ich dann Ihr Wohlwollen.
Herr Kollege Sielaff, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Auszahlung dieser Gelder auch daran gescheitert ist, daß die Koalition nicht bereit war, Einkommensgrenzen einzubauen,
so daß auch derjenige, der es nicht nötig hat, in den Genuß dieser Gelder kommt?
Herr Oostergetelo, ich bin gerne bereit, das noch einmal zu unterstreichen.
Allerdings hilft es den Landwirten überhaupt nicht,
wenn die Regierung durch unnütze Fragen, durch falsche Behauptungen so tut, als würde sie den Landwirten helfen. Im übrigen wissen Sie genauso wie ich, daß auch die SPD-geführten Länder bereit sind, den Landwirten zu helfen, sie zu unterstützen. Aber Sie übertragen Bürden auf die Länder, so daß diese nicht in der Lage sind, ihren Anteil zu tragen.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, weitere Zwischenfragen zu beantworten?
Gerne, bitte sehr.
Herr Kollege, können Sie mir den Widerspruch in der SPD erklären, der darin besteht, daß Sie sich jetzt so vehement gegen flächenbezogene Leistungen wehren, während ich ansonsten immer gehört habe, daß Sie ganz besonders flächenbezogene Leistungen fordern?
Ich glaube, daß Sie, lieber Herr Kalb, eine Frage stellen, von der Sie genau wissen, daß sie inhaltlich so nicht zutrifft. Es wird offenkundig, daß Sie durch Zwischenfragen versuchen, von der eigenen Schwäche abzulenken,
daß Sie versuchen, von diesem wichtigen Problemfeld abzulenken,
um den Landwirten nicht deutlich werden zu lassen, in welche Situation Ihre Politik die Landwirtschaft gebracht hat.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, wir sind uns einig: Wir brauchen kein überdimensioniertes Verwaltungs- und Kontrollsystem einer Agrarsuperbehörde in Brüssel. Wir brauchen vielmehr eine transparente Agrarpolitik, die vor allem die tatsächlichen Einkommensverhältnisse in der Landwirtschaft berücksichtigen muß. Es ist nicht einzusehen, daß der
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8908 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Horst SielaffSteuerzahler für denjenigen Subventionen zahlt, der es nicht nötig hat.
Davon sind wir, so wie die Brüsseler Ausgleichszahlungen derzeit gestaltet sind, allerdings weit entfernt. Ich befürchte, hier sitzen einige, die Subventionen nicht notwendig haben, weil sie andere Einkommen haben. Ich möchte sie jetzt nicht beim Namen nennen.
Meine Damen und Herren, deshalb fordern wir, in die Förderungsvoraussetzungen für die Ausgleichszahlungen endlich eine vernünftige — Herr Kalb, hören Sie zu — Obergrenze einzuziehen, die sich u. a. am Arbeitskräftebedarf der Betriebe orientieren muß.
Im Jahre 1992 haben wir mehrere Anträge gestellt. Wir haben deutlich gemacht, daß die Anpassungshilfen in der Form so nicht richtig sind. Die als Anpassungshilfen deklarierten Mittel entsprechen in ihrer Höhe dem soziostrukturellen Einkommensausgleich, der auf Grund der anderen Agrarstruktur in Ostdeutschland nach anderen Kriterien als in der alten Bundesrepublik ausgewiesen wurde. Das ist und bleibt eine Mogelpackung. Wir haben daher bereits im letzten Jahr gefordert, die Mittel für diesen Bereich um 100 Millionen DM aufzustocken. Dies wurde abgelehnt.Meine Damen und Herren, mit Ihren Verzögerungen, Nicht-Entscheidungen und mißverständlichen Darstellungen haben Sie zum Niedergang — lassen Sie es mich kraß sagen —, zum „Abschwung Ost" beigetragen. Beispielhaft möchte ich hier die Verwertung der sogenannten volkseigenen, landwirtschaftlich zu nutzenden Flächen ansprechen. Die Stimmung in diesem Zusammenhang in den neuen Ländern ist miserabel. Sie selbst wissen, wie vor Ort diskutiert wird.Meine Damen und Herren, es besteht die Gefahr, daß Sie am Parlament vorbei Dinge regeln, wie es in der Gerster-Kommission mit dem sogenannten Wiedereinrichterprogramm geschehen ist. Dieses Programm ist kein Wiedereinrichter-, sondern ein deformiertes Wiedergutmachungsprogramm. Wir halten es für unerträglich, daß Menschen, die immer in der ehemaligen DDR gelebt und gearbeitet haben, gegenüber Alteigentümern außen vor bleiben. Wir kündigen für den Fall, daß die Bundesregierung an diesem Vorgehen festhält, unseren Widerspruch an.
Ich betone: Wir Sozialdemokraten sind nicht gegen die Alteigentümer, wie Sie das so gerne darstellen. Wir sind aber entschieden der Meinung, daß die ortsansässigen Landwirte die gleichen Chancen haben müssen, an einem hochsubventionierten Förderprogramm zum Kauf von landwirtschaftlich zu nutzenden Flächen teilzunehmen. Meine Damen und Herren, wenn Sie dieses Problem nicht lösen, werdenSie weiteren Unfrieden in den Dörfern der neuen Länder schaffen. Ich meine, gemeinsam müssen wir das verhindern.
Es wäre einiges zu dem Bereich der nachwachsenden Rohstoffe zu sagen. Hier wird etwas positiv dargestellt, was überhaupt noch nicht klar analysiert worden ist. Wir sind dafür, daß Forschung betrieben wird. Wir sind aber nicht bereit, von den wahren Problemen abzulenken, den Landwirten neue Möglichkeiten zu versprechen, die dann vielleicht so nicht eintreten und die Probleme der Landwirtschaft nicht lösen werden.
— Wir werden die Bedenken nicht im voraus als Barriere aufbauen, lieber Herr Hornung. Wir werden, wenn Fakten vorliegen, diese prüfen und dann entscheiden, was ökologisch und ökonomisch sinnvoll ist.
Augenblicklich scheint ja das Bundesumweltamt andere Vorstellungen zu haben und kritischer zu sein als Sie mit Ihren euphorischen Äußerungen an anderer Stelle.Meine Damen und Herren, ich möchte nur erwähnen, daß auch in der Agrarsozialpolitik der große Wurf nicht gelungen ist. Es gibt Ungleichheiten. Bis jetzt bezahlen Betriebe mit einem Durchschnittsgewinn von etwa 27 000 DM im Jahr 21,7 % ihres Gewinns als Beitrag an die landwirtschaftliche Sozialversicherung, während Betriebe mit einem Durchschnittsgewinn von 73 000 DM —
Herr Abgeordneter Sielaff, ersparen Sie es mir, Sie auf die Bedeutung des roten Lichtes aufmerksam zu machen.
— ich bin beim letzten Satz — im Jahr dagegen nur 13,4 % des Gewinns dafür aufwenden. Auch dies ist ungerecht und bevorteilt die, die mehr haben, gegenüber denen, die wenig haben.
Meine Damen und Herren, die Zeit drängt. Wir dürfen nicht mehr weiter zusehen, wie dem ländlichen Raum in Ost und West jegliche Entwicklungsmöglichkeit vorenthalten bleibt. Nutzen Sie die Zeit, Herr Minister Kiechle, die Ihnen in diesem Amt noch bleibt, und versuchen Sie, am Schluß Ihrer Regierungszeit positive Akzente zu setzen, damit Sie vielen Landwirten in guter Erinnerung bleiben. Ich glaube, augenblicklich besteht dazu kein Anlaß.
Nunmehr erteile ich dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Ignaz Kiechle, das Wort.
Herr Präsident! Meine
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8909
Bundesminister Ignaz Kiechlesehr verehrten Damen und Herren! Ich will nur ein paar Sätze sagen. Sie, Herr Sielaff, haben die Tatsache, daß ich meinem Wahlkreis, in dem ich direkt gewählt bin — so zwischen 58 % und 65 % der Wähler geben mir ihr Vertrauen —, mitgeteilt habe, daß ich im Alter von 65 Jahren nicht noch einmal kandidieren wolle, zum Anlaß genommen, zu sagen, ich sei auf der Flucht aus der Verantwortung. Das war kein guter Stil.
Weiter haben Sie über den Stellenwert der Agrarpolitik ein paar Ausführungen gemacht. Ich habe ja Verständnis für Oppositionspolitiker; ich verfüge hier über eine 13jährige Erfahrung. Aber wenn der Einzelplan 10 um über 3 % wächst und wenn wir auch in der mittelfristigen Finanzplanung finanziell eine gute Perspektive haben, um insbesondere ein Anliegen zu verwirklichen, das ich immer hatte, nämlich die Agrarsozialpolitik ganz besonders zugunsten der Bäuerinnen langfristig zu reformieren, damit auch die auf ihre Kosten kommen, dann spiegelt sich darin der Stellenwert der Agrarpolitik wider, und zwar nicht durch Worte, sondern durch Taten.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sielaff?
Am Ende.
Sie von der SPD haben geglaubt, noch einmal aufzählen zu müssen, was Sie alles fordern. Ich kenne das. Man mag über reichere oder ärmere Bauern durchaus unterschiedliche Meinungen haben. Sie sind ja immer der Auffassung, es gibt noch Reiche. Ich habe den Glauben daran längst aufgeben. Wenn die Gesellschaft einmal ganz gleich ist, dann ist sie nur noch gleich arm, sonst nichts mehr. Aber, sehr verehrter Herr Sielaff, solange Ihre Partei in einer so schwierigen Situation in den SPD-geführten Bundesländern, in denen Sie jetzt Verantwortung tragen — zumal da Sie im Bundesrat die Mehrheit haben und nicht einfach mehr sagen können, wir sind nur Opposition —, nicht bereit ist, den bescheidenen Länder-Anteil zum soziostrukturellen Einkommensausgleich in diesem einen Jahr noch zu bezahlen,
ist alles das, was Sie sagen, mehr oder weniger hohles Gerede.
Seien Sie mir nicht böse, wenn ich Ihnen das hier sage.
Die Perspektive — man mag sie beurteilen, wie man möchte — besteht darin, daß ein konstanter Teil des Einkommens der europäischen Bauern jetzt direkt aus Brüssel zu den Bauern wandern wird. Er ist nicht mehr auf den Einzelbetrieb, sondern auf die Hektarzahl bezogen. Das hat sehr wohl unterschiedliche Auswirkungen: Das ist für die Bessergestellten — ich meine jetzt die mit besseren Böden und größeren Betrieben — ungünstiger und für die weniger gut Gestellten günstig. Wenn das nicht zumindest eine Orientierung für die nächsten Jahre ist — vielleicht auch Jahrzehnte; es kommt darauf an, wie lange das System besteht und wie es durch die GATT-Verhandlungen geht —, was soll dann eine Orientierung sein? Das ist eine klare Orientierung, von zwölf Mitgliedstaaten beschlossen und von der Kommission gebilligt.
Ich habe eigentlich ein bißchen gehofft, da auch Ideen, die Ihre Partei lange verkündet hat, in dem neuen Agrarkonzept enthalten sind — ich habe keine Probleme, das zuzugeben —, Unterstützung zu bekommen,
nicht nur rhetorische Kraftakte, hinter denen nicht ein Fakt steht.
Wenn Sie noch eine Frage stellen wollen: Bitte.
Herr Kollege Sielaff, bitte sehr.
Herr Minister, darf ich zunächst fragen, ob Sie sich vielleicht versprochen haben, als Sie erklärten, ich hätte gesagt, Sie hätten die Flucht aus der Verantwortung angetreten? Das habe ich nicht gesagt. Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich vielmehr gesagt habe, daß ich Verständnis habe, daß Sie in der gegenwärtigen Situation das Handtuch werfen und im Grunde aufgeben und sagen, Sie werden dieses Amt nicht mehr übernehmen?
Ich habe es zu Ihren Gunsten vornehmer formuliert.
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Jan Oostergetelo?
Ja, wenn Jan Oostergetelo noch eine Frage stellen will.
Herr Minister, ich freue mich, daß Sie zugeben, daß in dem Konzept alle Wünsche von uns enthalten sind, was die neue Politik des Flächenausgleichs anbelangt. Aber ich habe eine Frage: Macht es Ihnen nicht doch Sorge — so wie ich Sie kenne —, daß z. B. ein Durchschnittsvollerwerbsbetrieb, der 50 ha Getreide hat, demnächst einen Ausgleich von 9 000 DM bekommt — es ist gut, daß er sie bekommt — und ein anderer Betrieb, der beispielsweise 1 500 ha hat, fast 1 Million als Direktausgleich bekommt, ohne daß gefragt wird: Was hat er an Pacht ausgegeben, und wie viele Arbeitsplätze hat er gerettet? Sie wissen, daß die Strukturen so sind.
Diese Strukturen haben wir im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung
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8910 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Bundesminister Ignaz Kiechlebekommen. Wir haben den dortigen Bauern damals versprochen, daß wir ihnen die Wahl lassen, ob sie gemeinschaftlich oder wieder einzelbetrieblich als selbständig wirtschaftende Einzelbauern produzieren wollen.Die Konsequenz daraus ist, daß wir — ich sage es jetzt einmal ungeschützt — zehn Personen, die miteinander 1 500 ha bewirtschaften, genauso behandeln wie zehn Einzelbauern à 150 ha. Ich meine, die Rechnung ist doch nicht so schwer. Ich glaube auch nicht, daß man da böse Absichten unterstellen sollte. Reich werden weder die einen noch die anderen; denn alle haben je Hektar entsprechend weniger Preiserlös. Aber das wissen Sie alles ganz genau, lieber Herr Oostergetelo. Rechnen können wir beide.
— Das habe ich ihm aber nicht unterstellt. Ich weiß, er kann gut rechnen, aber er drückt es manchmal etwas schwieriger aus.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Rahmen der verbundenen Debatte erteile ich dem Herrn Bundesminister für Forschung und Technologie, Heinz Riesenhuber, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Der Kollege Sielaff hat hier an einer Stelle darauf hingewiesen, wie ungeheuer komplex Forschung ist. Die Möglichkeiten der nachwachsenden Rohstoffe auszuschöpfen ist eines unserer Themen seit vielen Jahren gewesen.
Wo immer es möglich ist, die Märkte voranzubringen, werden wir dies so schnell tun, wie wir es können. Aber das ist nur ein Beispiel dafür, was Forschung jetzt bedeutet.Forschung — Paul Romer, einer der wichtigsten Wachstumstheoretiker aus den USA, hat es gesagt — wird entscheidend sein für die Zukunft der Nationen. Die Nation wird im Wettbewerb die Nase vorne haben, die das fundierteste Wissen besitzt.Dabei sind wir in diesen Jahren in einer durchaus schwierigen Lage. Aber unser Ausgangspunkt ist gut. Wir haben das stetige Wachstum der Wirtschaft in den 80er Jahren genutzt. Die Forschung ist mitgewachsen und überproportinal gewachsen. Die Forschung ist gewachsen in der Max-Planck-Gesellschaft, die neue Themen, von den neuen Techniken bis zu den ökologischen Instituten, aufgegriffen hat. Die FraunhoferGesellschaft hat ihre Kapazität erhöht, hat ihr Budget in diesen Jahren verdreifacht; unter Einbeziehung der neuen Länder wird sie es mehr als vervierfachen.Wir haben in den Großforschungseinrichtungen durchaus Probleme, an denen wir unter dem Gebot knapper Haushalte arbeiten. Aber wir sind auch bei den Großforschungseinrichtungen mit einer großen Vielfalt von Teams in einigen Bereichen ganz ausgezeichnet: von der Krebsforschung über die Umweltforschung bis hin zu Bereichen der Polar- und Meeresforschung.Das heißt, der Ausgangspunkt in den Instituten ist in einer großen Vielfalt vorhanden. Selbst an den Universitäten haben wir trotz des großen Drucks, der zur Zeit durch die Überlast der Studenten besteht, die Forschung ausgebaut und die Mittel des BMFT um weit über 100 % in dieser Zeit gesteigert. Die Qualität der Forschung hat zugenommen.Wir haben in Deutschland, was kaum einer weiß, weit über 1 000 Technologietransferstellen in den Kammern, in den Universitäten, in den Industrie- und Handelskammern, in den Handwerkskammern. Wir haben 100 Gründerzentren. Wir haben Fachinformationszentren und Patentauslegestellen. Wir haben eine Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, die international einzigartig ist. Dies ist die Ausgangslage.Wie groß die Schwierigkeiten heute sind, wie hart die Konkurrenz auf den Weltkmärkten ist, wie groß die Auseinandersetzung in technikbasierter Wirtschaft wird, zeigt sich in diesen Jahren mit wachsender Deutlichkeit, auch in den schwierigen Auseinandersetzungen auf den Weltmärkten.Trotzdem ist unsere Position auch hier noch gut. Bei den technikgeprägten Produkten hat unsere Industrie Weltmarktanteile gehabt, die nur mit den Weltmarktanteilen von Konkurrenten mit einem doppelt oder vierfach so hohem Bruttosozialprodukt vergleichbar sind, Japan oder USA.Sehen wir uns einmal die Zahl der Anmeldungen der Patente an. Der größte Markt für Patente sind die USA. In diesem Bereich hat unsere Industrie nach Japan den größten Anteil, wenn man die Zahl der Patente pro Million Einwohner betrachtet: Japan liegt bei 201 Patenten, Deutschland bei 140, alle anderen unter 100.Auf Grund dieser Ausgangslage haben wir mehrere Aufgaben unterschiedlicher Art: Prioritär in den nächsten Jahren ist der Aufbau in den neuen Bundesländern. Wir können nur als Deutschland insgesamt erfolgreich sein. Nur wenn wir in allen Ländern alle Ressourcen gleichmäßig und stark nutzen, werden wir uns im Wettbewerb durchsetzen.Wir haben hier zum 1. Januar die Institutslandschaft aufgebaut. Wir haben Zeitpläne eingehalten, die die meisten nicht für möglich gehalten haben. Wir haben mehr Stellen bewilligt, als der Wissenschaftsrat verlangt hatte. Wir haben eine Vielfalt von FraunhoferInstituten, von Großforschungseinrichtungen, Instituten der Blauen Liste errichtet. Es ist nicht nur das gleiche, sondern es gibt neue Themen und neue Aufgaben. Es ist ein Zuwachs an Reichtum zur Forschungslandschaft in Deutschland. Für die künftige Fähigkeit Deutschlands, komplexe Wissenschaftsprobleme aufzugreifen, aber auch der Wirtschaft eine starke Grundlage zu bauen, müssen und werden die neuen Länder eine starke Säule sein.Wir haben in diesen Jahren — das ist eine großartige Leistung — erlebt, mit welcher Beharrlichkeit die Wissenschaftler in den neuen Bundesländern in
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8911
Bundesminister Dr. Heinz Riesenhuberschwierigen Situationen durchgehalten haben. Was sie jetzt zunehmend lernen, ist der Kern der Sache.Wir können mit Geld helfen. Wir helfen mit wachsenden Beträgen. Mein Haushalt steigt um 2,8 %. Die Bundesregierung ist sparsam. Die Aufwendungen in den neuen Ländern steigen fast um 10 % , weil wir hier die Prioritäten setzen müssen. Und dort wächst vieles auch zu.Das Wichtigere ist nicht das Geld. Das Wichtigere ist, daß dort die Bereitschaft wächst, sich selber Ziele zu setzen und zu wissen, daß nicht durch Transfers aus dem Westen die Zukunft gesichert werden kann, sondern nur durch die eigene Arbeit, durch den Mut und die Zuversichert, durch die Fähigkeit, sich selber Ziele zu setzen. Dieses ist die Grundlage, für einen Aufschwung in den neuen Ländern.
Es ist bemerkenswert, was hierbei zunehmend entsteht. Die Institute sind durchaus unterschiedlich. Sie sind auch im Westen höchst unterschiedlich. Es gibt gute, sehr gute und weniger gute. Eine wachsende Zahl von Instituten dort berichtet stolz davon, daß sie in EG-Projekten, in Eureka-Projekten mitarbeiten, daß sie Verträge mit westlichen Firmen haben, auch solchen aus dem westlichen Ausland. Andererseits halten sie die Kontakte mit östlichen Instituten aufrecht, wo immer eine gute Substanz vorhanden ist. Wir helfen und unterstützen. Wenn ich das sehe, dann glaube ich, daß hier die Ansätze stimmen.
Nehmen Sie dazu die Technologiezentren. Wir haben mit 15 begonnen, die Länder haben aus eigener Kraft 10 draufgesetzt; wir beraten dabei. Weitere 15 sind in der Gründung. Aber sie werden jetzt genutzt. Die jungen Wissenschaftler, die Ingenieure, die Techniker, Männer und Frauen, auch Leute, die aus den Kombinaten hervorgegangen sind, gründen jetzt neue Unternehmen. Dies ist ein Beginn, aber es ist ein Beginn, bei dem etwas vorankommt, wo die Stärke der deutschen Wissenschaft in den alten Ländern wieder aufgenommen wird, nämlich ein technologiegeprägter Mittelstand, der die Wissenschaft voranbringt.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen?
Ja, wenn Sie die Uhr anhalten. Sie läuft teuflischerweise weiter.
Herr Minister, Sie haben jetzt eine ganze Reihe von Aktivitäten aufgezählt und viele Institionen genannt. Können Sie mir auch sagen, was für Ziele Sie diesen Institutionen setzen, was für strategische Konzeptionen Sie diesen vielen Institutionen, die Sie aufgezählt haben, vorgegeben haben?
In der Grundlagenforschung: Exzellenz in der Wissenschaft. Was wir in Potsdam beim Geoforschungsinstitut angelegt haben, kann sich in seiner alten Tradition bewähren. In der Umweltforschung: bei der Lösung der Probleme, vor denen wir stehen. Wenn Sie das Umweltforschungszentrum Leipzig/Halle ansehen, erkennen Sie, daß hier von der Aufarbeitung kontaminierter Böden bis zu den Okobilanzen eine Vielfalt von Wissenschaften entsteht, die an diese Fragen herangeführt werden. In der Fraunhofer-Gesellschaft: die Brücke zu schlagen zwischen einer guten Grundlagenforschung und der Wirtschaft. Die Zahl der Institute — von der Feinkeramik und der Mikroelektronik bis zu den differenziertesten Bereichen der Materialforschung —, hat so zugenommen, daß hier ein starkes Rückgrat entsteht.
Herr Minister, ich habe die Uhr angehalten.
Ich bedanke mich sehr, Herr Präsident.Liebe Kollegen, ich kann hier nur einige wenige Punkte ansprechen.
Aber wir tun hier viel. Beim großen Problem der Industrieforschung, bei dem der Staat nur begrenzt helfen kann, helfen wir dennoch mit Finanzen. Wir haben mit der Treuhand gesprochen. Hier entsteht jetzt eine Strategie, bei der die Evaluierung der einzelnen Institute mit dem Ziel der Überführung in private Hände angegangen wird. Dies alles bringt uns weiter und hilft. Dabei sehe ich, daß wir hier außerordentlich große Probleme an der Grenze der Gestaltungsmöglichkeiten des Staates haben.Ich kann die deutschen Unternehmen nur auffordern, sich hier zu engagieren und einzulassen. Marktwirtschaftliche Forschung und marktwirtschaftliche Strategien lernt man nicht aus Büchern, sondern nur aus der Zusammenarbeit mit den Kollegen. Nur in dem Maße, wie man selber auf marktwirtschaftliche Weise weit in den Mittelstand hinein Zukunft aufbaut, werden wir Dynamik gewinnen.Meine lieben Kollegen, diese Strategie für die neuen Bundesländer ist in einer Gesamtstrategie eingebettet. Deutschland — ich sagte es — kann nur insgesamt erfolgreich sein. Dies heißt, daß wir in der nächsten Generation von Technologien rechtzeitig begreifen müssen, was geschieht, und das miteinander verbinden müssen. Deshalb arbeiten wir seit zwei Jahren an der Strategie auf die neuen Themen hin. Total Quality Management ist eine Strategie Japans zur Sicherung von Qualität. Wir arbeiten hier mit; nicht direkt der BMFT, aber wir stellen die Fragen an die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit den Sonderforschungsbereichen. Mit Qualitätszirkeln der Unternehmen in Ost und West gemeinsam sollen die Strategien aufgebaut werden.Die Technologien des 21. Jahrhunderts: Seit zwei Jahren arbeiten wir diese Themen auf. Wir prüfen die Strategien, die Japan und die USA für diese Themen
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8912 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Bundesminister Dr. Heinz Riesenhubergefunden haben. Wir machen eigene Studien. Wir geben Aufträge auch an japanische Institute, um unsere Fragen dort aufarbeiten zu lassen. Wir haben die Grundlagenforschungskommission eingesetzt. Wir haben hier eigene Arbeitsgruppen eingesetzt, beispielsweise eine hochrangige Arbeitsgruppe, die die Sozialwissenschaften und die Industrie einschließt, die top-down die Strategie für eine Problemlösung der nächsten Generation der Technik angeht.Wir werden die Zukunft nicht programmieren. Es ist nicht Aufgabe des Staates, hier Industriepolitik zu machen und Zukunft vorzuschreiben. Aber Aufgabe des Staates ist es, die richtigen Fragen rechtzeitig zu stellen. Deshalb werden wir zur Diskussion stellen die Nanotechnologien und die Bioinformatik, die Oberflächen- und die Dünnschichttechniken, den ganzen Kranz von neuen Technologien, die jetzt neue Bereiche für die Wirtschaft und für Problemlösungen eröffnen können. Deshalb führen wir dieses in einem Gespräch mit den Unternehmern und den Wissenschaftlern weiter.Ich habe gesagt: Wir wollen keine Industriepolitik so machen, als ob der Staat zukünftige Entwicklungen dirigistisch festlegen könnte. Das wäre ein Verlust an Kreativität und Dynamik. Was aber der Staat kann, ist, die richtigen Themen offenzulegen. Deshalb spreche ich regelmäßig mit den Präsidenten der Verbände der deutschen Industrie, mit den Forschungschefs der Chemie, mit den Forschungschefs der Automobilverbände.Dies ist in der Tat die Aufgabe: nicht der Dirigismus, sondern zu fragen: Wohin geht es künftig? Wie werden wir den Standort Deutschland hier noch besser machen? Wie werden wir hier den Transrapid auf die Schiene bringen, um neue Techniken nicht nur zu erfinden, sondern zu verwirklichen? Wie werden wir die Rahmenbedingungen im Gengesetz so schaffen, daß sich Gentechnik in unserem Land erfolgreich entwickeln kann? Wir werden das Gentechnikgesetz novellieren müssen, um Voraussetzungen für erfolgreiche Wissenschaft und Wirtschaft zu eröffnen.
Hierin, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben wir eine Strategie anzulegen, die an Deutschlands Grenzen nicht endet. Sie wird Europa mit einbeziehen. Kein Land hat in den letzten Jahren die Gespräche über die europäischen Programme so stark aufgenommen wie Deutschland. Unser Memorandum zur Informationstechnik und unser Memorandum zum Vierten Rahmenprogramm gehören dazu. Es gehört dazu die Strategie, die darauf aufbauen soll, daß Europa nicht mehr fern ist und über den Wassern schwebt, sondern daß es konkret mit einer dezentralen Projektverwaltung am Ort für Wissenschaftler und Unternehmer zugänglich ist.In dieser Zeit haben wir Probleme, wie jeder weiß, und eine Ausgangsposition, die stark ist. Manchmal habe ich das Gefühl, das wohl vor 2 500 Jahren ein Staatsmann hatte, mit dem ich mich wirklich nicht vergleichen will. Aber in einer schwierigen Situation hat damals Perikles — er ist schon vor langer Zeit verstorben — einen Satz gesprochen, den man sich merken sollte. Er sagte damals: Wisset, daß das Geheimnis des Glücks die Freiheit ist, das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut. — Die Freiheit haben wir jetzt für das ganze und geeinte Deutschland gewonnen. Jetzt wollen wir daran arbeiten, daß es uns nicht an Mut gebricht.
Ich erteile unserem Kollegen Josef Vosen das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gerade dem Forschungsminister zugehört. Er war wie immer
euphorisch, optimistisch; heile Welt, Wachstum, Zuwachs der Wissenschaft; die Position der Industrie ist gut usw., usw. Selbst die Spanne in der Vergangenheit, 2 500 Jahre zurück, ist ihm gelungen. Nur, die Spanne in die Zukunft sehe ich etwas anders. Die sieht nämlich in der Wahrheit anders aus.Ich kann, nachdem ich ihm zugehört habe, verstehen, warum die Forschungspolitik immer weniger Geld hat. Wer in Gegenwart von Haushältern, die aufs Geld achten, so eine heile Welt darstellt, dem kann man doch was abnehmen. Und das macht er seit vielen Jahren. Seit 1984 haben wir immer weniger Geld bekommen, unter Berücksichtigung des Wachstums des Haushalts. Auch jetzt sind wir bei 2,8 % des Haushalts eingefroren. Wir sparen, wir entlassen. In allen Großforschungseinrichtungen werden Stellen abgebaut. In den wissenschaftlichen Einrichtungen in den ostdeutschen Ländern ist die Zahl der Forscher von 25 000 auf 10 000 zurückgegangen. In der Industrie, in den Kombinaten ist alles zerschlagen worden. Dort arbeiten kaum noch Menschen. Die neuen deutschen Länder werden zur verlängerten Werkbank der westdeutschen Konzerne.Das alles hat er nicht erzählt. Er redet von einer heilen Welt, und mir sträuben sich die Haare. Ich mache dieses Spiel ja schon viele, viele Jahr mit. Jedesmal ist das Ergebnis, daß auch unsere Haushälter — selbst die SPD-Haushälter! — das glauben. Ich muß sie dann immer mühsam überzeugen, daß es gar nicht so ist, wie der Minister es sagt. Wir müssen dann wenigstens unsere eigenen Leute bei der Stange halten, wenn es darum geht, Geld für den Forschungshaushalt zu bekommen.
So sieht es wirklich aus, Herr Minister.Ich sage Ihnen: Es ist eine schlechte Strategie, immer alles in den schillerndsten Farben zu schildern. Das geht jetzt nicht mehr, denn die Wahrheit sieht anders aus. — Ich muß jetzt frei reden; ich habe mein Konzept beiseite gelegt. Es ist zu schön, Ihnen zu antworten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8913
Josef VosenEs ist ja so, daß Sie eine völlige Fehlentwicklung zugelassen haben. In der Grundlagenforschung wird immer mehr gemacht, aber die Verbindung von der Grundlagenforschung zur Anwendung funktioniert leider nicht. Wir haben jetzt einen Anteil an der Förderung Grundlagenforschung von 40 %; dieser Anteil hat sich in Ihrer Amtszeit entwickelt. Es waren einmal 28 % zu Zeiten der SPD.
Der Anteil der projektorientierten Forschungsförderung ist kontinuierlich zurückgegangen. Mein Kollege Lenzer, den ich sehr schätze,
fordert ja in seiner heutigen Pressestellungnahme, daß wir wieder mehr bekommen.Sie haben die strategischen Technologien erkannt, und Sie haben sie auch beschrieben: Mikrosystemtechnik, Verkehr, Basistechnologien der Informationstechnik, Materialforschung, Biotechnologie. Das alles haben Sie selber gesagt. Wir stimmen Ihnen zu: Das sind die Felder, auf die es ankommt. Aber für diese Felder haben Sie in den vergangenen Jahren kaum etwas getan mit der Folge, daß wir in diesen Bereichen der Technologie weltweit abgefallen sind, besonders gegenüber Japan. Wir sind in allen Technologiebereichen weg vom Fenster.Jetzt sind auch noch unser Maschinenbau und unser Fahrzeugbau in Gefahr, also Technologien, von denen wir im Export leben. Auch andere Bereiche, in denen wir stark sind, sind mit dieser neuen Technologie der Mikroelektronik konfrontiert. Diese Technologie wird leider von Japan dominiert. Wir haben den Anschluß verloren. Das sind die Fakten.Wenn wir nicht mitgearbeitet hätten — Forschungsminister in der Übergangsregierung war ein Sozialdemokrat, Professor Terpe —, wäre die Akademie der Wissenschaften noch mehr ausgeschlachtet worden. Man hat Übergangsfristen geschaffen; ansonsten wäre der Wissenschaftsrat zu keiner vernünftigen Beurteilung gekommen, weil er keine Zeit gehabt hätte. Das haben wir Gott sei Dank gesichert. So haben es Sozialdemokraten — auch mit Unterstützung der Kollegen von der CDU; das will ich nicht verschweigen — zusammen mit dem Wissenschaftsrat geschafft, wenigstens das Schlimmste zu verhindern. Ich will anerkennen, daß das eine gemeinsame Leistung war; aber nicht Ihre. Das sage ich ganz ausdrücklich.Wir Sozialdemokraten sagen jetzt nicht: Wir wollen den Forschungshaushalt aufblähen. Wir wissen, daß kein Geld da ist. Das sollten Sie einmal sagen. Deswegen werden wir Umschichtungen im Rahmen der vorhandenen Mittel vorschlagen, und zwar zunächst im Bereich der Kernenergie; das sagen wir ganz klar, denn da ist es nicht mehr nötig. Ich denke auch, daß die Elektrizitätsversorgungsunternehmen Geld genug haben, das sie von unseren Leuten hier kassiert haben, und sie werden es auch weiter tun.
Sie sollten in diesen Bereich eintreten und Mitverantwortung für Sicherheitsforschung, aber auch für andere Bereiche — auch für alternative Energien — übernehmen. Sie sollten einmal mit zur Kasse gebeten werden.
Ich denke, das ist ein Weg, den Sie mit uns gemeinsam gehen sollten.Ich halte es auch für sinnvoll, im Bereich der Raumfahrt einzusparen. Wir wollen diesen Etat, den Sie ja nach Chip-Chip-Hurra-Manier als Vorsitzender des Ministerrats federführend vorangetrieben haben und aus dem Sie jetzt praktisch austeigen müssen, auf 15 % des gesamten Forschungsetats beschränken.
Das, meine ich, ist die Ausgangsbasis.
Sie wissen, daß Hermes keine Chance mehr hat, daß Columbus keine oder nur noch eine kleine Chance hat, daß also ein ganzer Bereich wegbricht, der unter Ihrer Federführung international verabredet worden ist. Dazu sollten Sie sich auch bekennen.Ich glaube, daß die Förderung der neuen deutschen Länder mehr als bisher Platz greifen muß. Was dort passiert, habe ich eingangs geschildert. Das ist eine schlimme Entwicklung. Ich glaube, daß diesbezüglich auch Ihrerseits viel zu sehr schöngefärbt worden ist. Das kann man so nicht stehenlassen.Für die nichtnukleare Energieforschung brauchen wir Geld. Ich setze hier nicht einseitig auf die Solarenergie. Die nichtnukleare Energieforschung ist vielschichtig.
— Der Hermann Scheer ist mein Freund. Er hat teilweise recht, aber die nichtnukleare Energieforschung umfaßt ein breites Spektrum. Da muß sehr viel geschehen. Wir sind bereit dazu; nur, die Mittel fehlen. Da ist sehr zurückgefahren worden.In den wichtigen Bereichen Informationstechnik und Gesundheitsforschung — davon habe ich nichts gehört — muß mehr getan werden. Die ökologische Forschung ist in Ihren Ausführungen gar nicht vorgekommen. Sie haben immer nur von der Gründung von Instituten gesprochen. Aber die Inhalte, nach denen mein Kollege Mosdorf gefragt hat, haben Sie nicht formuliert. Ich glaube, daß Ihnen die Inhalte abhanden gekommen sind. Es kann nach einer zehnjährigen Amtszeit passieren, daß man nicht mehr genau weiß, was man überhaupt noch machen soll, weil in den ganzen Jahren ja sowieso fast nichts richtig geklappt hat.Daher bieten wir Ihnen, Herr Riesenhuber, an, in der Zeit des Mangels — es hat ja jetzt keinen Zweck, auf Konfrontation zu machen —, dem sich auch die Forschungspolitik ausgesetzt sieht, von dem sie wie alle anderen Ressorts betroffen ist, uns zusammenzufinden und gemeinsam zu überlegen, wie wir auf den Feldern, über die ja Übereinstimmung besteht, nämlich in den Zukunftstechnologien, vorankommen können.
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8914 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Josef VosenIch will noch etwas zu nachwachsenden Rohstoffen sagen, weil dieses Thema soeben von den Landwirten angesprochen worden ist. Auf diesem Gebiet kann man ja forschen. Aber ich sage allen, die in dieser Beziehung zu große Hoffnungen wecken: Es wird Hoffnungslosigkeit eintreten. Die Landwirte werden mit solchen Dingen hinters Licht geführt. Es werden falsche Hoffnungen geweckt, die nicht erfüllt werden können. Das geht jetzt noch nicht. Sie können mir das abnehmen. Deswegen meine ich, daß wir das hier offen sagen sollten.
Wir wissen, daß diese Regierung in großer Not ist; auch der Forschungsminister. Das müssen Sie einfach zugestehen. Ich denke, daß in Zeiten großer Not ja die Menschen betroffen sind.
Wenn es um Menschen geht, dann werden sich Sozialdemokraten nicht verweigern. Sie werden mit Ihnen gemeinsam arbeiten, damit für die Menschen das Beste erreicht wird.Herzlichen Dank.
Ich erteile unserem Kollegen Dietrich Austermann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat dem Kollegen Vosen angemerkt, daß er aus einer Region kommt, wo gern und oft — bei ihm wahrscheinlich besonders oft — Karneval gefeiert wird.
Wenig von dem, was er vortrug, stimmt. Es stimmt nicht einmal die hier im Hause sicher weit verbreitete Unterstellung, daß es die Haushälter mit den Einzeletats immer nicht gut meinten. Da muß ich den Minister in Schutz nehmen.Wenn man sich die Zahlen aus den zehn Jahren der Amtszeit des Ministers anguckt, dann stellt man fest, daß der Forschungsetat in dieser Zeit um 40 % gewachsen ist. Wenn man sich dann die Jahresplanung anguckt, dann stellt man fest, daß er — im Vergleich zu anderen Etats — weithin ungeschoren aus den Haushaltsberatungen herausgekommen ist, ja, daß wir vom Haushaltsausschuß sogar Mittel draufgelegt haben, da die Notwendigkeit, zu helfen und etwas für Forschung, für neue Arbeitsplätze zu tun, auch unter den Haushaltspolitikern völlig unbestritten ist.
Dies muß man feststellen. Man muß dabei erkennen, daß wir natürlich auch die Aufgabe sehen, in den neuen Bundesländern viel zu erreichen. Unser heutiges Thema ist ja eigentlich, wie wir die Sicherung des Standorts Deutschland und die Aufarbeitung der Probleme in den neuen Bundesländern miteinander in Einklang bringen können. In den neuen Bundesländern muß die Forschungsstruktur weiter entschlossen reorganisiert und ausgebaut werden. In den alten Bundesländern muß unter klarer Schwerpunktsetzung die Förderung zukunftszugewandter Technologien Vorrang vor der Bewahrung alter Strukturen haben.Da der Kollege Vosen kritisiert hat, der Minister habe angeblich keine Ziele genannt, hätte ich mir gewünscht, daß er dem nun eigene Ziele gegenübergestellt hätte. Aber er mußte offensichtlich von seiner Rede abweichen, wahrscheinlich nachdem ein anderer sie kritisch gelesen und ihm gesagt hat: Jupp, laß das lieber.
Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Deutschland ist ein guter Forschungsstandort. Das gilt für die Arbeit unserer Naturwissenschaftler in Ost wie in West. Sie sind in weiten Bereichen erstklassig. Aber es gibt natürlich für die Wirtschaft relevante Gebiete, in denen vor allem die anwendungsbezogene Forschung eindeutig besser für die Zukunft gerüstet werden muß. Forschung heute heißt Patente morgen und Arbeitsplätze übermorgen. Deshalb leistet die Forschung einen guten Beitrag für den Standort Deutschland.Wenn wir uns unseren Haushalt angucken und die Frage stellen, was ist denn überhaupt finanziell möglich und machbar, dann stellen wir fest, daß eine Vielzahl von Projekten, die zu Zeiten von SPD-Forschungsministern angefangen worden sind, heute den Haushalt in Form von Altlasten begleiten, weil sie sich weitgehend in der Energiepolitik auf Blockaden festgelegt haben.
Es gibt darüber hinaus natürlich auch andere Probleme. In den neuen Bundesländern mußte und muß kräftig aufgebaut werden. Wir sind dabei ein ganzes Stück vorangekommen. Das reicht weit über den Forschungsetat hinaus.Ich will die Debatte, die heute morgen begonnen hat, ein bißchen mit aufnehmen. Lassen Sie mich das am Beispiel der Mikroelektronik deutlich machen. Nicht nur der Forschungsetat leistet Gewaltiges für die Forschung in den neuen Bundesländern. In der DDR war die Mikroelektronik unter dem Dach der Kombinate Carl-Zeiss-Jena, Robotron und PTC ein Hätschelkind der Regierungspolitik. 140 000 Beschäftigte waren in den drei Kombinaten tätig.In den letzten Tagen wurde eine Teilbilanz eröffnet. Von 40 000 Arbeitsplätzen der PTC wurden inzwischen 30 000 abgebaut. Ein dramatischer und gewaltiger Aderlaß in zwei Regionen unseres Vaterlandes. Das zeigt, welche Anstrengungen erforderlich sind.Die Treuhand hat hier, wie es die SPD ja immer wieder fordert, gewaltige Beträge investiert. 2 Milliarden DM werden erforderlich sein, um allein einen Teil dieser Industriestruktur zu liquidieren, weitere 500 Millionen DM, um zwei Käufern die Möglichkeit zu schaffen, aus Einzelbereichen für die Herstellung von ASICs in Erfurt und Dresden wieder etwas zu machen.Mit der Betrachtung einhergehen muß aber auch, was in der Hochschullandschaft in den letzten zwei Jahren entstanden ist: die Umwandlung der wissen-
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Dietrich Austermannschaftlichen Einrichtungen der AdW der DDR und der teilweisen Ausgliederung der Industrieforschung aus den Betrieben. Hier sind wir ein großes Stück vorangekommen. Der Aufbau der Forschung in den neuen Bundesländern kostet uns im nächsten Jahre 1,75 Milliarden DM. Ich glaube, daß dies deutlich macht, was erreicht worden ist und was wir im nächsten Jahr zu tun vorhaben. Das Gerüst neuer Institute steht. Im Forschungsetat für das kommende Jahr stehen allein 27 neue Institute in den neuen Bundesländern, davon drei Großforschungseinrichtungen, die allein 265 Millionen DM ausgeben können.Übrigens, um einmal mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Forschungspolitiker der Koalition haben sich dagegen gewendet, daß man rigoros einfach mit einer ganz bestimmten Meßlatte bei den Forschungseinrichtungen in den alten Bundesländern streicht. Auch die Großforschungseinrichtungen in den alten Bundesländern werden im nächsten Jahr — wenn auch einen geringen, aber doch — einen finanziellen Zuwachs zu verzeichnen haben.Lassen Sie mich einen weiteren Punkt erwähnen: die Stärkung und Entwicklung kleiner und mittlerer Unternehmen steht neben der Förderung außeruniversitärer Forschungseinrichtungen. Der BDI hat heute eine Aufstellung vorgelegt, die deutlich macht, daß es 25 neue Technologiezentren und 146 innovative Unternehmen in den neuen Bundesländern gibt, die bereit sind, neue Dinge anzupacken im mittelständischen Bereich. Wir werden dies im nächsten Jahr — wir haben es auch schon bisher getan — mit Mitteln für den Technologietransfer in einer Größenordnung von 187 Millionen DM unterstützen.Die Bilanz der Ausgaben nach zehn Jahren neuer Politik für Forschung und Entwicklung der alten Bundesrepublik kann sich sehen lassen. 1982 wurden 42 Milliarden DM für Forschung in Deutschland ausgegeben, in diesem Jahr werden es 70 Milliarden DM sein. Damit stehen wir mit den Japanern und den USA weltweit an der Spitze. Dies gilt übrigens auch für Mittel für Vorsorgeforschung und andere Bereiche.Ich will bloß einmal einen ganz kleinen Bereich nehmen, der ja nun ständig in der Diskussion ist und der auch den Umweltetat betroffen hat. Zu Zeiten von Forschungsminister Hauff, glaube ich, gab es noch nicht einmal ganze 4 Millionen DM für Klimaforschung. Im nächsten Jahr werden es in unserem Haushalt 165 Millionen sein.Diese Bilanz wird durch die richtige Politik fortgesetzt. Dabei müssen selbstverständlich immer wieder Schwerpunkte überprüft werden. Wir sagen ganz klar, daß wir folgende Schwerpunkte in den nächsten Jahren in den Vordergrund rücken: Informationstechnik und Mikroelektronik, Materialforschung und Fertigungstechnologie, Biotechnologie und Medizin, Energietechnik und Umwelttechnologie, Verkehrstechnik und auch Raumfahrt- und Schiffahrttechnik. Ich glaube, daß diese fünf Schwerpunkte in der nächsten Zeit ganz erhebliche zusätzliche Bedeutung bekommen.In der Informationstechnik sind wir weiter, als Sie gesagt haben. Sie haben beklagt, daß Deutschland zurückgefallen sei. Das gilt natürlich für bestimmte Bereiche, hängt aber auch damit zusammen, daß die Industrie immer wieder zu kurzfristig denkt — vielleicht von Hauptversammlung zu Hauptversammlung —, so daß sich manche strategische Entscheidung aus den 70er Jahren heute in ganz schlimmer Form rächt. Es sind nicht nur fehlende Entscheidungen des Staates in den 70er Jahren — obwohl es sie auch gegeben hat — gewesen. Heute geben wir für Informationstechnik 1 Milliarde DM aus. Trotzdem wird es wohl kein 64-Megabit-Chip aus deutscher Produktion geben. Aber wir werden im Bereich der ASICs mit neuen Instituten in Dresden, Itzehoe und Hannover wesentliche neue Akzente setzen.Die Energieforschung hat dazu beigetragen, daß der Wirkungsgrad von Kraftwerken vorangebracht werden konnte. Wenn dies der Fall ist, dann können wir, glaube ich, sagen: Soweit die Forschung erfolgreich gewesen ist, muß jetzt die Industrie und müssen jetzt die Energieversorgungsunternehmen die zukünftige Arbeit übernehmen. Wenn wir tatsächlich für Energieforschung oder für die Anwendung der Energie noch Geld ausgeben, dann kann dies meines Erachtens eigentlich nur bei ausgestandenen Technologien in den neuen Bundesländern als Regionalpolitik der Fall sein. Aber für neue Kohlekraftwerke im Westen sehe ich eigentlich keinen Raum.Ein Schwerpunkt muß künftig auch die Vermeidung von CO2, also die Hinwendung zu erneuerbaren Energien sein. Wir haben hier in der Tat Beeindrukkendes erreicht. Wir sind europaweit Spitze. Daß der Haushaltsentwurf jetzt einen zu kleinen Betrag enthält, darüber sind wir uns einig. Wir werden das im Laufe der Beratungen korrigieren. Aber trotzdem führt, glaube ich, kein Weg daran vorbei: Ohne neue Kernkraftwerke werden wir den Abbau der CO2-Belastung von immerhin 1 Milliarde t im Jahr aus der Bundesrepublik alleine nicht schaffen.
Ich glaube, daß man sich auch noch einmal wird unterhalten müssen über das Thema nachwachsende Rohstoffe. Die Bundesregierung hat recht getan, die Voraussetzungen dafür zu schaffen und eine neue Agentur dafür einzurichten. Meines Erachtens muß dies in einem der neuen Bundesländer passieren, weil dort die Agrarstruktur eine andere ist. Ich bin aber dafür, daß diese Agentur dann auch in der Federführung des Forschungsministeriums bleibt, und meine, daß wir darüber noch einmal reden sollten.
— Den Kollegen Vosen drängt es offensichtlich, etwas zu fragen, was er bisher nicht weiß.
Herr Austermann, Sie gestatteten eine Zwischenfrage des Kollegen Vosen?
Wenn es nicht angerechnet wird.
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Ja.
Ich glaube zu wissen, daß Sie da etwas Falsches gesagt haben, oder ich habe etwas Falsches verstanden. Deshalb frage ich Sie: Glauben Sie, daß Sie den CO2-Abbau nicht besser durch Reduzierung der Energieverschwendung erreichen könnten als durch den Zubau neuer Atomkraftwerke?
Herr Vosen, auch Sie müßten wissen, daß für den Abbau von CO2 eine Fülle von Komponenten erforderlich ist. Dazu gehört einmal, daß wir mehr Energie einsparen. Dazu gehört, daß wir ein Stück weiter wegkommen von den fossilen Energieträgern, die bei den Kraftwerken ja einen wesentlichen Anteil ausmachen. Und dazu gehört natürlich auch, daß wir erneuerbare Energien weiter ausbauen.
Wenn wir fossile Kraftwerke reduzieren wollen und wenn wir nicht das, was wir jetzt durch die Steinkohle haben, künftig noch stärker durch die Braunkohle haben wollen, dann müssen wir selbstverständlich über Standorte für neue Kernkraftwerke nachdenken. Wer dies nicht tut, versündigt sich an der Umwelt und am Klima in der Zukunft.
— Die Zweifel haben ja dazu geführt, daß unser Haushalt heute mit Altlasten übersät ist, die uns in einigen Jahren wahrscheinlich 500 Millionen DM allein aus dem Forschungsetat kosten werden.
Die Blockadepolitik des Landes Nordrhein-Westfalen, aus dem Sie kommen, tut da ein Wesentliches.
Meine Damen und Herren, Verkehrsforschung der Zukunft muß Lösungen zur Vermeidung des Verkehrskollaps anbieten. Auch hier bin ich der Meinung, wir sollten uns, nachdem die Technologien entwickelt sind, nun darum kümmern, daß die Privatwirtschaft unser Angebot nutzt. Im Bundesverkehrswegeplan muß stehen: Die Privatwirtschaft ist als Investor für die Strecke Hamburg-Berlin für den Transrapid gefragt.
Eine wichtige Zukunftstechnologie ist die Biotechnologie. Ich möchte noch einmal unterstreichen, was Minister Riesenhuber hierzu gesagt hat. Es bedarf dringend einer Korrektur der Ausführungsverordnung des Gentechnikgesetzes, um die Chancen für Mensch und Umwelt zu nutzen und eine Abwanderung guter Naturwissenschaftler aus der Bundesrepublik zu verhindern. Gentechnikgesetz und Verordnungen müssen reformiert werden.
Lassen Sie mich zum Schluß einige wenige Sätze sagen. Angesichts dieser notwendigen Schwerpunktmarkierungen wird es in den Haushaltsberatungen erforderlich sein, manche Vorgabe zu überprüfen und manchen Akzent unter Beibehaltung der großen Linie zu verschieben. Eine Aufstockung des Etats durch einen teilweisen Abbau der globalen Minderausgabe
zur Erhöhung der Projektmittel für Ost und West scheint sinnvoll zu sein. Eine Begrenzung der Grundlagenforschung auf das jetzt Erreichte halte ich für zwingend. Die schnelle Umsetzung mancher Ergebnisse in die technologische Praxis ist vorzubereiten.
Die stärkere finanzielle Einbeziehung der Industrie und der EVU in wichtige technologische Entscheidungsprozesse ist zu prüfen. Und es muß meines Erachtens Schluß sein mit der einseitigen Überbewertung von Gefahren in immer neuen Technikbereichen. Unser Land braucht ein Umfeld, das Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsaktivitäten unterstützt und ihre Investitionen langfristig kalkulierbar macht.
Der Regierungsentwurf ist dafür eine gute Grundlage. Wohlstand von heute ist Fleiß von gestern. Sozialismus von gestern ist die Pleite von heute. Spitzenforschung von heute sichert Wohlstand von morgen in Ost und West.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Karl-Hans Laermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wissenschaft, Forschung und Technologie sind wohl ohne Zweifel von besonderer Bedeutung für die gesellschaftliche und auch wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Das gilt in hohem Maße für die Bundesrepublik.So stellte sich nach der Wiedervereinigung die schwierige Aufgabe, die unterschiedlichen Strukturen der Forschungslandschaft in West und Ost zusammenzuführen. Vor allem galt es, die zentralistische Struktur der DDR in die bewährten pluralistischen und differenzierten Strukturen im Westen Deutschlands zu integrieren und dabei die hervorragenden wissenschaftlichen Potentiale, die in der DDR vorhanden waren, zu erhalten. Dies bedurfte und bedarf enormer Anstrengungen. Es bedurfte und bedarf auch noch hoher finanzieller Aufwendungen.Ich denke, der Umgestaltungsprozeß ist auf gutem Wege, aber er ist noch längst nicht abgeschlossen. Wer wollte verschweigen, daß es noch manche Schwierigkeiten gibt, die zu überwinden sind? Ich füge hinzu: Manche dieser Schwierigkeiten sind durch Befindlichkeiten bedingt und auch mit noch soviel Geld nicht auszuräumen. Da folge ich dem Herrn Minister.Ein gravierendes Problem besteht zur Zeit auch darin, daß es keine nennenswerte Forschung in der Industrie, in der Wirtschaft der neuen Bundesländer gibt. Hier stimme ich dem Herrn Kollegen Vosen zu. Ich denke, hier müssen wir in der Aufbauphase dringend für Übergangslösungen sorgen, um diesem Umstand abzuhelfen.Aber nun, meine Damen und Herren, zum Ganzen. Die Situation der öffentlichen Haushalte zwingt zum Sparen. Auf manches, was wünschenswert erscheint, muß dann wohl verzichtet werden. Das gilt auch, so schmerzlich das sein mag, in der Forschungs- und
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Dr.-Ing. Karl-Hans LaermannTechnologieförderung. Hier ist allerdings sehr, sehr sorgfältig zu prüfen und zu entscheiden, was für die Zukunft des Standortes Deutschland wichtig ist. Dabei geht es nicht ums Geldverteilen.Lieber Herr Kollege Vosen und geschätzte Haushälter, es geht in der Forschungspolitik nicht nur ums Geldverteilen, sondern in der Forschungspolitik, denke ich, müssen neue Ansätze gefunden werden. Es geht nicht nur um Inhalte, so sehr das wichtig ist. Aber wir müßten auch einmal über die Methodik reden, und wir müßten über Randbereiche reden, die nicht nur den BMFT betreffen.
Ich denke, es ist dringend an der Zeit, eine Neuorientierung vorzunehmen, über strukturelle Veränderungen nachzudenken.
Ich denke, daß wir unter dem Druck der begrenzten Kassen zu solchen neuen Ansätzen kommen. Dabei kommt es zunächst einmal darauf an, daß die Forschungs- und Technologiepolitik alle Ressorts der Bundesregierung umfaßt.Die F.D.P.-Fraktion fordert eine bessere, durchgreifende Koordinierung der Forschungsansätze in allen Ressorts. Wir fordern eine engere Verzahnung der Forschungs- und Technologiepolitik mit anderen Politikfeldern: mit Wissenschaft und Bildung, mit Umwelt, Verkehr usw., vor allen Dingen aber mit der Wirtschaftspolitik.
Die F.D.P.-Fraktion fordert eine engere Koordinierung zwischen nationaler Forschungspolitik und EG-Forschungspolitik. Doppelforschung ist gut, Doppelförderung, viele einzelne Töpfe führen zur Vergeudung finanzieller Ressourcen.Die F.D.P. fordert eine klare Definition der genuinen staatlichen Rolle und Aufgabe in der Forschungsförderung, der Aufgaben in der Förderung der Grundlagenforschung, Förderung von Forschungen, deren Ergebnisse Grundlagen politischer Entscheidungen und staatlichen Handelns sind, Förderung von Forschungsinfrastrukturen und die Förderung von angewandter Forschung und Entwicklung auf strategisch wichtigen wirtschaftspolitischen Feldern bei darstellbarer Marktferne.
Ich will nur beispielhaft einige Punkte nennen, die nach unserem Verständnis zu einer integralen Forschungspolitik gehören, die kein Geld kosten, die, im Gegenteil, die öffentlichen Kassen entlasten werden.
Aufgabe der Politik und des Staates ist, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, daß die Forschungs- und Entwicklungsergebnisse kontinuierlich in Innovation umgesetzt werden können.
Dazu sind geeignete Markteinführungsstrategien im Zusammenwirken mit der Wirtschaft zu entwickeln und Deregulierung, Entbürokratisierung und Privatisierung als Instrumente zur Erleichterung des Marktzuganges umzusetzen.
— Das weiß er schon, und wir sagen es auch.Dazu gehören auch die Angleichung der Wettbewerbsbedingungen europäisch, international, Abbau von Wettbewerbsverzerrung und Sicherung des freien Zugangs zu allen Märkten, Verhinderung von Beschaffungsmonopolen und Oligopolen. Langfristig müssen verläßliche Normen und konkrete Beschaffenheitsanforderungen den Unternehmen die ökonomische Nutzung ihrer Entwicklungsergebnisse ermöglichen, besonders dann, wenn wir von ihnen die Eigenfinanzierung von Forschung und Entwicklung fordern.Forschungspolitik kann hinsichtlich der EG, hinsichtlich der politischen Entwicklung in Europa und hinsichtlich der internationalen Beziehungen nicht allein mehr national definiert werden. Auch im Hinblick auf die immer kostspieligeren großen Forschungsthemen — ich nenne Weltraumforschung, Kernfusion — ist eine erweiterte internationale Kooperation geboten, wenn ich auch sagen muß, daß das Ministerium auf diesem Gebiet sehr aktiv ist.Ich denke, auch wir haben hier eine Aufgabe. Ich hoffe, daß wir dieser Chance und dieser Notwendigkeit jetzt entsprechen, daß wir uns mit diesen Fragen und diesen Aufgaben auseinandersetzen und eine internationale Forschungspolitik mitgestalten. Ich bin überzeugt, daß wir mit einer ganzheitlichen, integralen Forschungspolitik die vorhandenen Finanzmittel — und das ist nicht wenig; 9,6 Milliarden DM ist ein dicker Brocken — weit effizienter als bisher werden einsetzen können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, daß wir uns bei den Haushaltsberatungen nicht darüber ereifern, ob wir 1 DM oder auch 100 000 DM von hier nach da verschieben, sondern daß wir uns um grundsätzliche Ansätze der Forschungspolitik von seiten des Parlamentes bemühen.Herzlichen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Rahmen der verbundenen Debatte zum Thema Standort Deutschland soll jetzt über den Bereich Raumordnung, Bauwesen und Städtebau debattiert werden. Als erstem Redner zu diesem Thema erteile ich das Wort unserem Kollegen Achim Großmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis jetzt haben wir in der heutigen Debatte zur Kenntnis genommen, daß zunächst die
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8918 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Achim GroßmannMinister sprechen und ihren Haushalt verteidigen. Es ist sicherlich ein interessantes Zeichen, daß die Bauministerin lieber am Ende reden will, weil sie sich scheinbar nicht traut anzufangen.
Ich will mit einer „dpa"-Meldung von heute beginnen, in der es heißt:Die Wohnungsmiete bereitet fast jedem zweiten Bundesbürger große Sorgen. Dies geht aus einer Umfrage der Gesellschaft für erfahrungswissenschaftliche Sozialforschung hervor. Auf die Frage, worüber sie sich derzeit die größten Sorgen machen, nannten 45 % der Befragten die Miete. Für diesen Posten geben die Bundesbürger im Schnitt 34 % ihres Nettoeinkommens aus, junge Menschen zwischen 16 und 29 Jahren sogar 38 %.Ich denke, diese Meldung zeigt, wie groß die Wohnungsnot und die damit verbundenen Schwierigkeiten inzwischen geworden sind.Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik sind so wenig Wohnungen gebaut worden wie unter der jetzigen Regierung.
Ich will dies mit Zahlen belegen: Gab es in den letzten zehn Jahren der sozialliberalen Regierung, also Brandt/Schmidt, insgesamt einen Wohnungsbau von 4,4 Millionen Wohnungen, so sind es in den ersten zehn Jahren der Regierung Kohl — wir hoffen, daß es nicht viel länger wird - gerade einmal 2,9 Millionen. Das bedeutet, daß unter SPD-Regierungen zehn Jahre lang im Durchschnitt jährlich 50 % mehr Wohnungen gebaut wurden als unter der Regierung Kohl.Bezogen auf die Sozialwohnungen, sieht die Bilanz der Kohl-Regierung noch katastrophaler aus. Zehn Jahre lang sind unter sozialliberaler Koalition 140 000 Sozialwohnungen in jedem Jahr fertiggestellt worden. Unter der jetzigen Regierung sind es gerade 70 000. Wir haben also Jahr für Jahr 100 % mehr Sozialwohnungen gebaut als die jetzige Regierung.
Sie haben also, meine Damen und Herren von der Koalition, den Wohnungsbau in den Keller gefahren und tragen deshalb Mitschuld an der größten Wohnungsnot der Nachkriegszeit. Heute fehlen fast 3 Millionen Wohnungen. 1 Millionen Menschen sind obdachlos oder unmittelbar davon bedroht. Gehen Sie in die Wohnungsämter, schauen Sie in den Anzeigenteil der Zeitungen, schauen Sie unter Brücken, in Bahnhöfe und U-Bahn-Schächte, und Sie sehen das Ergebnis dieser katastrophalen Wohnungspolitik.Der Kanzler hat vor der Bundestagswahl viel versprochen. Ein Versprechen war, 2 Millionen Wohnungen in den nächsten vier Jahren zu bauen. Schon heute steht fest, daß auch dieses Versprechen gebrochen wird. Weil die Pressemeldung gerade in der Haushaltsdiskussion so aktuell ist, will ich sie Ihnen wortwörtlich vorlesen. Am 24. Oktober 1990 heißt es:CDU will bis 1994 zwei Millionen neue Wohnungen schaffen — keine Steuererhöhungen zur Finanzierung der Einheit.Das sind zwei Lügen in einer einzigen Überschrift.
Wer nun glaubt, die Wohnungsnot bringe die Bundesregierung dazu, ihre Prioritäten zu ändern, der ist auf dem Holzweg. Die Damen und Herren streiten sich lieber. Ob Baulandsteuer, Mietrecht, Naturschutz, Altschulden oder Umwandlungsspekulationen: nichts als Zoff, keine Entscheidungen. Ich sage Ihnen: Die Menschen haben die Nase voll von den ewigen Streitereien. Die Menschen brauchen Wohnungen, bezahlbare Wohnungen, sichere Wohnungen.Nun behauptet die Bauministerin, mehr Geld für den Wohnungsbau sei nicht drin. Wir wissen: Das ist schlicht falsch. Es fehlt der Mut, an der richtigen Stelle zu sparen. Es fehlt der Mut, die Prioritäten anders zu setzen. Sie selbst, Frau Bauministerin, haben in einem Interview mit der „Bild"-Zeitung ein vollmundiges „klares Nein" zum Jäger 90 ausgesprochen und angekündigt, das Geld, das man dort spare, sollte man statt dessen für den Wohnungsbau zur Verfügung stellen. Sie sind ja immer gut für populistische Presseinterviews.
Den Jäger 90 gibt es nicht mehr. Aber wo ist das versprochene Geld für zusätzlichen Wohnungsbau?
Fehlanzeige. Das sucht man im Etat vergebens. Das kurze Pressespektakel ist Frau Schwaetzer wichtiger als die Glaubwürdigkeit ihrer Politik. Aber die Menschen in unserem Land haben längst gemerkt, daß sie von dieser Regierung im Stich gelassen werden, wenn sie ein Dach über dem Kopf suchen.
Der vorgelegte Haushalt Ihres Ministeriums ist einer der wenigen Haushalte, in denen gekürzt wird. Da helfen auch keine Taschenspielertricks mit Verpflichtungsermächtigungen, Töpfchen hier, Töpfchen da. Bei Baupreissteigerungen von bis zu 10 % ist klar: Der Bauetat schrumpft. Eine tolle Leistungsbilanz. Die Wohnungsnot wächst. Immer mehr Menschen finden keine bezahlbare Wohnung. Immer mehr Menschen haben Angst, ihre Wohnung zu verlieren. Aber gleichzeitig gibt die Regierung weniger Geld für den Wohnungsbau aus.
Wer trotz dieser Tatsachen von einer Trendwende am Wohnungsmarkt spricht — wie Sie das tun —, der muß sich blanken Zynismus vorwerfen lassen.
Die Wahrheit ist: Die Wohnungsnot wird zum sozialen Sprengsatz und zu einer sozialen Schande für unser Land, in Ost und in West.
Meine Damen und Herren, im sozialen Wohnungsbau ist die Entwicklung besonders verhängnisvoll.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8919
Achim Großmann1991 wurden nur etwa 65 000 Sozialwohnungen fertiggestellt. Jedes Jahr fallen an die 150 000 Sozialwohnungen aus der Bindung. Wir haben insgesamt nur noch 2,8 Millionen Sozialwohnungen bei einem Wohnungsbestand in den alten Bundesländern von 27 Millionen. Nur noch 10 % sozial gebundene Wohnungen! Jeder Mensch müßte jetzt darangehen, mehr Sozialwohnungen zu bauen. Aber ein Blick in den Finanzplan bis 1996 zeigt, daß die Bundesregierung in den nächsten Jahren weniger für den sozialen Wohnungsbau ausgeben will. Die Bundesregierung plant bereits heute den erneuten Rückzug aus dem sozialen Wohnungsbau.Die Suche nach bezahlbaren Wohnungen wird immer hoffnungsloser. Sozial Schwächere, Familien mit geringem Einkommen, kinderreiche Familien, alleinerziehende Frauen — alle bleiben auf der Strecke. Der Armutsbericht der Caritas beweist es: Das ist keine Schwarzmalerei der Opposition, das ist die brutale Realität in unserem Land.Immer mehr ganz normal verdienende Arbeitnehmerfamilien laufen sich bei der Wohnungssuche vergeblich die Hacken ab. Ihnen geht wegen der explodierenden Mieten die Luft aus. Eine Sozialwohnung bekommen sie nicht. Seit 1980 sind die Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau unverändert. Immer weniger Menschen, die eine Sozialwohnung dringend benötigen, kommen auch wirklich in sie hinein. Aber Sie tun nichts. Sie schicken die Arbeitnehmerfamilien auf den freien Wohnungsmarkt, auf dem eine 70-Quadratmeter-Wohnung 1 000 DM und mehr kostet.Wohnen ist unter dieser Regierung zum Luxus geworden. Ihre Politik degradiert die Wohnungssuchenden zu Bittstellern auf dem Wohnungsmarkt.
Diese „Bittsteller" aber finanzieren mit ihren Steuern den Subventionstopf, aus dem Milliarden D-Mark jährlich in den Wohnungsbau fließen, den Topf, aus dem sich auch gerissene Abschreibungsspezialisten und Spekulanten bedienen, den Topf, aus dem die Bundesregierung dem hochverdienenden Bauherrn doppelt so viel Geld für sein Haus gibt wie dem normalen Häuslebauer. Die Arbeitnehmer, Angestellte wie Facharbeiter, schauen in die Röhre.Meine Damen und Herren, welche Alternative hat ein Wohnungssuchender? Er könnte auf die Idee kommen, ein Haus zu bauen. Auch dieser Weg ist den meisten durch die unsoziale Politik der Bundesregierung versperrt.
Bauwillige mit mittlerem Einkommen müssen passen, weil die staatliche Förderung nicht ausreicht. Wenn zwei Häuslebauer exakt das gleiche Haus nebeneinander auf einem gleichgroßen Grundstück bauen wollen, mit denselben Kosten, dann bekommt der, der 200 000 DM verdient, 115 000 DM Förderung über acht Jahre und derjenige, der 70 000 DM verdient, nur 60 000 DM. Das heißt, wer exakt das gleiche Haus baut, bekommt vom Staat, wenn er viel verdient, diedoppelte Förderung wie jemand, der nur ein mittleres Einkommen hat.
Diese Politik ist sozial ungerecht und hindert Hunderttausende Familien zu bauen. Es ist im Grunde genommen eine Bauverhinderungspolitik.Obwohl es im Bundestag eine breite Sachmehrheit für die SPD-Lösung gäbe, die Häuslebauer mit mittlerem Verdienst also besserzustellen, blockiert die Bauministerin diese Lösung. Und Ihnen, der CDU/CSU, fehlt die Kraft und der politische Gestaltungswille, sich in dieser Frage gegen die F.D.P.-Ministerin durchzusetzen.Ein ähnliches Trauerspiel bietet die Koalition bei der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen. Mit der Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichte, die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen zu erleichtern, ist der letzte Damm gegen die Umwandlungsspekulation gebrochen. Die Städte werden seitdem mit Anträgen auf Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen überschwemmt. Die Vernichtung knapper, bezahlbarer Mietwohnungen droht, und Tausende Mieter haben Angst, ihre Wohnung zu verlieren. Sie selbst, Frau Schwaetzer, haben in Ihrer Antwort auf unsere Anfrage wörtlich geschrieben:In der Vergangenheit führten mittelfristig 90 v. H. der Abgeschlossenheitsbescheinigungen zum Verkauf der Wohnung.Sie wissen also, was auf die Menschen zukommt.Das drohende Schicksal vieler Mieter, aus ihrer jetzt noch bezahlbaren Wohnung hinausgeklagt zu werden, und zwar in der Mehrzahl durch profitgierige Umwandlungsspekulanten, läßt diese Regierung völlig kalt. Betroffen sind vor allen Dingen ältere Menschen.Was tun nun Regierung und Koalition? Sie streiten sich darüber, ob man etwas gegen diese spekulativen Wohnungsumwandlungen tun solle oder nicht. Herr Kansy von der CDU ist plötzlich dafür, gesetzliche Maßnahmen zu ergreifen. Er war im Mai noch dagegen. Frau Schwaetzer war vor der Sommerpause dafür, gesetzliche Maßnahmen zu ergreifen. Sie ist jetzt plötzlich dagegen. Diesen Sinneswandel wiederum brandmarkt Bayerns Innenminister Stoiber mit dem Satz:Die Bundesbauministerin will mit ihrer jetzt verkündeten Ablehnung wohl noch stärker an dem Profil der F.D.P. als Partei der sozialen Kälte arbeiten.Wer blickt da noch durch? Auch in dieser Frage nur Streit und Zoff in der Koalition.
Gesetzentwürfe der SPD-Fraktion und des Bundesrates liegen seit langem vor. Als Opposition könnte man sich jetzt genüßlich zurücklehnen und den Streit beobachten, den die Koalition austrägt. Nur, es geht
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8920 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Achim Großmannum die existentiellen Ängste der Mieter, die von diesen Umwandlungen betroffen sind. Deshalb fordere ich Sie heute auf: Erklären Sie dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit, ob Sie bereit sind, gesetzliche Maßnahmen gegen die Umwandlung zu ergreifen oder nicht. Nehmen Sie heute diese Gelegenheit wahr. Ich denke, ein klärendes Wort hat die Öffentlichkeit verdient.Meine Damen und Herren, auch in den neuen Bundesländern ist kein Wohnungsproblem gelöst. Dafür haben Sie durch Ihre Entscheidungslosigkeit oder durch falsche Entscheidungen viel Zeit vergeudet.Völlig verrannt hat sich die Bundesregierung in der Frage der Altschulden, die angeblich auf den Wohnungsbeständen lasten. Sie haben dieses Problem monatelang vor sich hergeschoben.Anfang des Jahres hat die Bauministerin ein Konzept von Überbrückungshilfen auf den Tisch gelegt, das vorsah, den jungen Ländern und den Gemeinden den Großteil der Schulden aufzuhalsen. Ich habe Ihnen, Frau Ministerin, noch an dem Tag, an dem Sie dieses Konzept der Presse vorgestellt haben, das Scheitern vorhergesagt. Inzwischen ist dieser Vorschlag endgültig gescheitert, und Sie sind mit einem neuen Vorschlag an die Öffentlichkeit getreten. Aber dieser letzte Vorschlag kann nun wirklich keinen begeistern. Man kann ihn noch nicht einmal ernst nehmen. Nicht nur, daß der Finanzminister Sie sofort zurückgepfiffen hat, weil er auf seiner falschen Meinung beharrt, mit den Schulden habe die Bundesregierung nichts zu tun — Streit also auch in dieser Frage —; nein, auch die Konsequenzen Ihres Vorschlages, das Moratorium um drei Jahre zu verlängern, wären hanebüchen. Der Finanzminister rechnet Ihnen süffisant vor, daß sich damit der aufgelaufene Schuldendienst von 17 Milliarden DM auf über 32 Milliarden DM erhöhen würde. Also 35 Milliarden DM Altschulden, 32 Milliarden DM aufgelaufener Schuldendienst! Dann hätte der Bund die Altschulden auch gleich übernehmen können, vom ersten Tag an.
Der Steuerzahler hätte 32 Milliarden DM gespart, und die Wohnungswirtschaft hätte vom ersten Tag an Milliarden in die Instandsetzung, Sanierung und Modernisierung der Wohnungen investieren können.
Meine Damen und Herren, oft genug haben wir Ihnen vorgehalten, daß das unselige Prinzip Rückgabe vor Entschädigung in den östlichen Bundesländern den Aufschwung blockiert und Gift für den sozialen Frieden in unserem Land ist. Daran ändern auch die halbherzigen Korrekturen nichts. Die erhöhen nur die Zahl der Gesetze und Verordnungen, die ohnehin kaum noch jemand verstehen und umsetzen kann.
Am Problem ändert sich nichts.Die Konsequenzen für die Menschen und deren Gefühl, ohnmächtig tiefe Ungerechtigkeit zu erleben, sind Ihnen offensichtlich noch immer nicht bewußt. Ich befürchte, daß der Tag kommen wird, an dem Polizisten Menschen aus ihren Wohnungen zwangsräumen müssen, weil Alteigentümer ihre Ansprüche durchsetzen wollen. Was machen Sie, Frau Schwaetzer, was machen wir alle, wenn sich die Verzweiflung und Wut dieser Menschen in Gewalt entlädt?
Meine Damen und Herren, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat es eine derartige Fülle von Wohnungsproblemen gegeben. Die Regierung ist zunehmend unfähiger, auch nur eines dieser Probleme zu lösen. Sie sind ausgezehrt, verbraucht, ohne Kraft und ohne Ideen.
Wir Sozialdemokraten sind bereit, die Weichen neu zu stellen und die Herausforderungen der Wohnungspolitik anzunehmen.
Für uns Sozialdemokraten hat der Wohnungsbau oberste Priorität. Die Menschen brauchen ausreichend bezahlbare Wohnungen. Sie brauchen Schutz vor Umwandlung und Verdrängung. Wir müssen ihnen die Angst nehmen, die Wohnung zu verlieren und die Mieten nicht mehr bezahlen zu können. Die Menschen haben einen Anspruch darauf, daß der Staat seine soziale Verantwortung für den Wohnungsbau wieder wahrnimmt.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dieter Pützhofen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der letzten Haushaltseinbringung stand an dieser Stelle mein Kollege Conny Schroeder und erläuterte in seiner, wie es damals in einem Zuruf der SPD hieß, „letzten Rede", in seiner Abschiedsrede, die Wohnungsbaupolitik der kommenden Jahre. Verabschiedet hat sich mit dieser Rede ein sehr geschätzter Haushaltsexperte. Um so fester steht die Wohnungsbaupolitik der Koalition.Keiner in diesem Hause wird bestreiten, daß die Haushaltslage des Bundes durch einen gigantischen Lastenausgleich angespannt ist und daß für die Förderung des Wohnungs- und Städtebaus — auch das weiß jeder in diesem Haus — der Bund nach Art. 104 des Grundgesetzes ja nur nach seiner Finanzkraft Hilfe zu geben, in der Lage und fähig ist. Dennoch hat
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Dieter Pützhofendie Koalition die Leistungen des Bundes in diesem Aufgabenbereich seit 1989 massiv gesteigert. Der Gesamtrahmen der Ausgaben ist in diesem Zeitraum von 6,3 Milliarden DM um beachtliche 29 % auf rund 8,2 Milliarden DM angestiegen. Die Verpflichtungsrahmen im Kernbereich, dem sozialen Wohnungsbau und dem Städtebau, werden 1993 gegenüber 1989 zusammen sogar einen Anstieg von ungefähr 175 % erreichen. Das, meine Damen und Herren, verdient die Hochachtung aller Fraktionen in diesem Haus und unterstreicht den hohen Stellenwert, den die Koalition der Wohnungspolitik beimißt.
Dieser Verantwortung müssen wir uns allerdings gemeinsam stellen, hier im Haus und auch außerhalb; denn in der Wohnungspolitik ist die Verantwortung aller Beteiligten gefordert. Der Staat kann hier nicht alles leisten, und er sollte auch gar nicht den Anspruch erheben. Soweit aber die öffentliche Verantwortung reicht, ist dies eine Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. Keine Ebene dieses Staates darf sich davor drücken. Ich nenne nur das Stichwort Baulandbereitstellung, bei dem die Kommunen besonders gefordert sind.
Was den Bund angeht, so haben wir seine Leistungen heute vor uns liegen. Die bisherige Entwicklung der Wohnungsbautätigkeit zeigt, daß wir auf dem richtigen Weg sind. In diesem Jahr werden bereits 350 000 bis 400 000 Wohnungen allein in Westdeutschland fertiggestellt werden. Das sind 50 000 mehr als 1991 und 100 000 mehr als 1990. Bei den Baugenehmigungen haben wir annähernd die Marke von 450 000 Wohnungen erreicht. Im Sozialwohnungsbau sind 1991 nahezu 100 000 Bewilligungen ausgesprochen worden. Die Arbeit der Regierung deutet darauf hin, daß es 1992 deutlich mehr werden.Für das Jahr 1993 stehen für den sozialen Wohnungsbau nach dem Regierungsentwurf 3,7 Milliarden DM zur Verfügung, davon allein 1 Milliarde DM für die neuen Bundesländer. Die ursprünglich in der Finanzplanung vorgesehene Absenkung der Mittel findet also nicht statt.Wenn die Bundesbauministerin über neue, effizientere Fördersätze im sozialen Wohnungsbau nachdenkt und hierüber mit den Ländern im Gespräch ist, dann zeigen die Zahlen im Haushaltsentwurf der Bundesregierung, daß diese neuen Wege nicht zum Vorwand genommen werden für einen finanziellen Rückzug des Bundes aus dem sozialen Wohnungsbau, sondern daß es darum geht, mit den vorhandenen Mitteln effektiv zu arbeiten und den wirklich Bedürftigen auch zu helfen. Wir halten also an der sozialen Komponente in der Wohnungsbauförderung fest.Dennoch besteht auch weiterhin ein Wohnungsmangel, der neben einem allgemeinen Auflockerungsbedarf, einem erhöhten Zuzug und einer erhöhten Nachfrage auch durch den weiter anhaltenden Zuzug von Asylbewerbern bedingt ist.Meine Damen und Herren, wo hohe Asylbewerberzahlen kommunale Haushalte destabilisieren, kann sozialer Wohnungsbau nur unter erschwerten Bedingungen stattfinden. Ich befinde mich da übrigens persönlich in einer merkwürdigen Situation: In den Gremien und im Vorstand des Deutschen Städtetages bin ich von Kollegen aus der Sozialdemokratie umgeben, die vehement die Änderung des Grundgesetzes beantragen,
die vehement den Zuzug beschränkt wissen wollen, und hier erlebe ich Sozialdemokraten, die mit diesem Thema nichts zu tun haben wollen und die Lage überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen,
In den neuen Bundesländern setzt sich trotz der bekannten bestehenden Probleme der Bauaufschwung fort. Allein im ersten Halbjahr 1992 ist die Summe der Auftragseingänge in der Bauwirtschaft im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 60 % gestiegen. In Sachsen, so hört man, ist die Bauwirtschaft Wachstumsmotor für ein ganzes Bundesland. Dem umfangreichen Modernisierungs- und Instandsetzungsbedarf in den jungen Ländern stehen nicht nur 1 Milliarde DM für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung, sondern auch verbilligte Darlehen der Kreditanstalt für Wiederaufbau in Höhe von 20 Milliarden DM in den kommenden Jahren.Hätten wir es, wie es der Herr Bundeskanzler gestern zu Recht dargelegt hat, mit insgesamt 15 Milliarden DM an die Regierung Modrow bewenden lassen, würden die Leute vermutlich heute in Zelten kampieren.Mit dem zur Verfügung stehenden Geld gehört die Bauindustrie in den neuen Bundesländern zu den am besten laufenden Industriebereichen. Ich will damit deutlich machen, daß bei diesem Einzelplan der Ruf nach mehr Mitteln und der Vorwurf, die Mittel würden nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt, zumindest fragwürdig erscheinen.Wir sollten, meine Damen und Herren, die Diskussion auch ehrlich führen. Wenn hier im Plenum von Frau Matthäus-Maier heute morgen z. B. die Zweidrittel-Eindrittel-Aufteilung des Straßenbauetats zwischen West und Ost kritisiert wird und in den folgenden Haushaltsberatungen von der SPD keine drastische Reduzierung des Westanteils beantragt wird, dann, so muß man sagen, stimmt dieser Vortrag nicht, dann sprechen Sie mit zwei Zungen, dann ist das Ganze unredlich.
— Nun warten Sie mal. Herr Kollege Großmann, zu Ihnen komme ich jetzt.Wenn wir uns über Ehrlichkeit unterhalten und wenn Sie sich hier zum Anwalt der neuen Länder machen, dann gehört zu dieser Ehrlichkeit auch, daß Sie hier bekanntgeben, daß es im Wahlkampf unter Ihrer Überschrift, „Achim Großmann", hieß:
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8922 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Dieter PützhofenDie Einheit kostet Geld, unseres. Deshalb müssen wir aufpassen.
Meine Damen und Herren, unter Ehrlichkeit in diesem Parlament sollte man verstehen, daß auch diese Punkte aufgeführt werden, Sie an Ihre Vergangenheit erinnert werden und darüber nachgedacht wird, was Sie denn eigentlich mit diesen Äußerungen haben bezwecken wollen.Man sollte überhaupt sehr vorsichtig sein mit der Aussage, die Eckwerte dieses Haushaltes seien im Hinblick auf die Probleme der neuen Länder eine Deckelung. Zumindest für diesen Einzelplan kann ich sagen, daß innerhalb der Haushaltsstellen erhebliche Umschichtungen mit zum Teil bis zu 50-, 60%igen Steigerungen zugunsten der neuen Länder vorgenommen wurden.Die Hemmnisse für die Aktivierung der Investitionstätigkeit sind uns bekannt. Zum Januar 1993 werden die Grundmieten in den neuen Bundesländern angehoben. Die soziale Verträglichkeit dieser für die Fortentwicklung des Wohnungsbestandes unverzichtbaren Maßnahme wird durch die Fortgeltung des Wohngeldsondergesetzes mit erheblichen Leistungsverbesserungen gewährleistet. Wir lassen also die Mieter mit dieser Entwicklung nicht allein.Die Lösung des Altschuldenproblems der Wohnungsbaugesellschaften in den neuen Bundesländern scheint ein weiteres wichtiges Hemmnis für die Kreditfähigkeit und damit für die Aktivierung der Wohnungsbaugesellschaften zu sein. Wir wissen, daß wir in dieser Frage so schnell wie möglich eine Regelung erreichen müssen. Zunächst einmal ist es gut, daß im Bundeshaushalt für die Jahre 1994 und 1995 rund 700 Millionen DM an Überbrückungshilfen zugunsten der betroffenen Wohnungswirtschaft vorgesehen sind.Ich neige allerdings dazu, Frau Ministerin, diese Altschuldenproblematik nicht so zu behandeln und zu betrachten, wie wir das bei dem Kreditabwicklungsfonds getan haben, sondern sehr nüchtern Passiva und Aktiva einander gegenüberzustellen. Der kommunalen Wohnungswirtschaft — das wissen wir sehr genau — ist nämlich ein beträchtliches Grundvermögen übereignet worden.
In dem Punkt „Altschulden des Wohnungsbaus" wird mir zu schnell, zu laut und zu oft nach einer Regelung und Übernahme durch den Bund gerufen. Andererseits verkenne ich durchaus nicht, daß wir bei allen zukünftigen Überlegungen beachten müssen: Was heißt das für den letztendlich betroffenen Mieter? — Wir haben uns darüber unterhalten, Frau Ministerin.Es kann auch nicht so sein — da haben Sie recht —, daß das Ergebnis unserer Politik zu einer Quadratmetermiete in den neuen Ländern führt, die über der liegt, die auch heute noch in den Altländern zu zahlen ist, und das zugegebenermaßen bei dort erheblich besseren Ausstattungsstandards.In der Bundesrepublik Deutschland muß die Subjektförderung durch das Wohngeld tragende Säule der Wohnungspolitik bleiben.
An ihr mißt sich meines Erachtens mehr als am sozialen Wohnungsbau die Solidarität mit denjenigen, die wirklich der Hilfe und Unterstützung bedürfen.
Nicht von ungefähr macht deshalb das Wohngeld mit rund 3,85 Milliarden DM den größten Einzelposten im Einzelplan 25 aus.Für die Situation in den Städten ist es richtig, daß die Finanzhilfen zur Städtebauförderung gegenüber der Finanzplanung um 240 Millionen DM erhöht worden sind. Diese Mittel — das ist bekannt — stellen wir in Form von Verpflichtungsermächtigungen zur Verfügung. Dabei bleiben die Mittel für die Städtebauförderung in den alten Bundesländern mit 380 Millionen DM gegenüber 1992 unverändert. Dem verständlichen Wunsch dieser Städte und Gemeinden auf Erhöhung der Mittel können wir nicht nachkommen. Für die neuen Länder steigt damit der Mittelansatz im Bereich der Städtebauförderung von 380 Millionen DM im Jahre 1992 auf 620 Millionen DM an. Auch das gilt natürlich als Verpflichtungsrahmen bis 1996.Trotz dieser gewaltigen Verlagerung innerhalb der Haushaltsstelle bin ich der Meinung, daß wir nach 40 Jahren Städtebau in der alten Bundesrepublik darüber nachdenken müssen, ob die erreichten Standards einerseits und die Fragen und Probleme in den neuen Ländern andererseits nicht zu einer noch deutlicheren Verlagerung von Haushaltsmitteln in Richtung der neuen Länder führen müssen. Das wird die Aufgabe dieser Haushaltsberatung sein.
In diesen Beratungen werden wir uns vor Augen halten müssen, daß wir im Städtebau, insbesondere im Wohnungsbau, große Herausforderungen zu bewältigen haben und uns in einem für unsere Bürger zentralen Bereich bewegen. Damit stehen die Mitarbeiter des Bundesbauministeriums, Frau Ministerin, auch in den kommenden Jahren vor erheblichen Belastungen, bei denen sie die Unterstützung des Parlamentes verdienen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Carl-Ludwig Thiele das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach Auffassung der F.D.P. ist der Besitz einer angemessenen Wohnung in einem menschenwürdigen Wohnumfeld wesentlicher Bestandteil der Existenzgrundlage des Menschen und damit Voraussetzung jeder freien Persönlichkeitsentfaltung. Doch müssen wir leider feststellen, daß es derzeit sowohl in den alten
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Carl-Ludwig Thielewie auch in den neuen Bundesländern zu wenig Wohnungen gibt. Wir müssen uns deshalb im Bereich des Wohnungsbaus überlegen, wie die positiven Zeichen der jüngsten Zeit verstärkt werden können, damit auch in Zukunft zunehmend im Wohnungsbau investiert wird.Zunächst ist hier darauf hinzuweisen, daß der Staat in diesem Bereich nicht alle Probleme lösen kann. Erforderlich ist die verstärkte Mobilisierung privaten Kapitals. Wir müssen allerdings feststellen, daß in der derzeitigen Hochzinsphase viele Kapitalanleger nicht zu Investitionen im Wohnungsbau bereit sind. Insofern muß das Ziel darin bestehen, zu einer Senkung der Zinsen zu kommen.Hier ist zu fragen: Was kann der Haushalt zur Erreichung dieses Ziels beitragen? Die Antwort besteht in einer sparsamen Haushaltsführung der öffentlichen Hand. Die Steigerung des Haushalts des Bundes liegt mit 2,5 % noch unter der Inflationsrate. Insofern ist der hier vorgelegte Etat für den Haushalt 1993 ein Schritt in die richtige Richtung.Der Staat selbst ist nicht im entferntesten in der Lage, das gesamte Kapital aufzubringen, welches im Wohnungsbau in den neuen und in den alten Bundesländern benötigt wird. Sollte es uns wirklich gelingen, vermehrt privates Kapital für Investitionen im Wohnungsbau zu mobilisieren, so wäre dies der beste Weg.
Ich würde es auch für richtig halten, wenn Gespräche mit der Lebensversicherungsbranche geführt werden, damit die dort angelegten Gelder den Weg zurück in den Wohnungsbau finden.
Doch die anderweitige Kapitalbindung ist nicht die einzige Schwierigkeit des deutschen Wohnungsmarktes: In Deutschland fehlt Bauland. Auch wenn Grund und Boden zur Verfügung stehen, so muß doch darauf hingewirkt werden, daß die Kommunen mehr Flächen als Bauland ausweisen.Ferner ist zu begrüßen, daß Sie, Frau Minister, die Förderung des sozialen Wohnungsbaus nunmehr so ändern wollen, daß es eine Kopplung von Objekt- und Subjektförderung geben soll, damit dem Irrsinn der Fehlbelegung begegnet wird.
Ich halte es für absolut richtig, daß wir auch im sozialen Wohnungsbau zu einer einkommensbezogenen Miete kommen.Insbesondere in den neuen Bundesländern ist der Baumarkt erfreulicherweise angesprungen. Dieser Bereich stellt eine Initialzündung für die Gesamtwirtschaft dar, die wir gerade in den neuen Bundesländern dringend benötigen.
Ich möchte an dieser Stelle allerdings darauf hinweisen, daß es in den neuen Bundesländern einen ungeheuren Bedarf an Einfamilienhäusern gibt. Auch insofern ist es also wünschenswert, daß die Kommunen entsprechend Bauland ausweisen.
— Das ist richtig. Wenn Sie sich aber die Struktur der Bauten in den neuen und in den alten Bundesländern ansehen, dann werden Sie zwanglos feststellen können, daß in den neuen Bundesländern erheblich mehr große Wohnblöcke stehen als in den alten und daß die Versorgung mit Einfamilienheimen in den alten Bundesländern stärker ausgeprägt ist als in den neuen.
— Auch darüber können wir sprechen.
In der kurzen mir zur Verfügung stehenden Zeit möchte ich noch kritisch anmerken, daß in den neuen Bundesländern die Privatisierung nicht in der Form verläuft, wie wir uns das vorgestellt haben.
Unter Privatisierung in den neuen Bundesländern verstehe ich nicht die Veräußerung großer Mietwohnungsbauten an neue und große Träger, sondern Angebote an breite Bevölkerungsschichten, vor allem an die derzeitigen Mieter.
Dies ist eine Forderung, die auf breitem Konsens beruht, weil ja auch die SPD gerade jetzt wieder die Vermögensbildung fordert. Ich hatte schon in der letzten Debatte in diesem Punkt Einverständnis auch mit der SPD.
— Nein, das stimmt doch gar nicht. Es hängt immer davon ab, welcher Preis dafür genommen wird. Wenn ein Preis genommen wird, mit dem die Altschulden abgedeckt werden könnten — in der Regel 600 bis 900 DM pro Quadratmeter —, dann hätten Sie auch bei den Bürgern der neuen Bundesländer in erheblichem Umfang Kapital, das zur Verfügung steht. Die Modernisierung und die Renovierung dieser Bauten vorher ist ein anderes Problem, das ebenfalls gelöst werden muß.Deshalb, Frau Ministerin, hatte ich in der letzten Haushaltsdebatte angeregt, eine Privatisierungsbroschüre zu diesem Bereich zu erstellen; das hatten Sie mir in der Haushaltsdebatte vor einem Jahr auch zugesagt. Nach unserem Gespräch und Ihrer Zusage in dieser Woche freue ich mich, diese Broschüre nun Ende des Jahres auch wirklich in den Händen halten zu können.
In diesem Heft benötigen wir eine allgemeinverständliche Darlegung der finanziellen Folgen des Kaufs einer Eigentumswohnung in den neuen Bundesländern durch den Mieter auch an Hand von
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Carl-Ludwig ThieleFallbeispielen, in denen dann die Unterstützung durch einen Lastenzuschuß für einkommensschwache Mitbürger, Steuervorteile, Zinsbelastung, Tilgung usw. aufgeführt wird.Meine Damen und Herren, wenn Kapital mobilisiert werden sollte, dann sollte man das eben nicht nur bei den Großen, sondern auch bei den Kleinen versuchen. Damit wäre nicht nur dem Wohnungsbau geholfen, sondern auch weiten Bevölkerungskreisen die Perspektive gegeben, den Lebensabend in den eigenen bezahlten vier Wänden verbringen zu können und nicht unbedingt zur Miete wohnen zu müssen.Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Ilja Seifert das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur gleichen Zeit, da sich gestern die Politprominenz auf dem Berliner Laubenpieperfest in Bonn amüsierte, gingen in Berlin 15 000 Berlinerinnen und Berliner auf die Straße, um unter dem Motto „Wir bleiben alle" — nämlich in unseren Wohnungen — gegen die Mietenexplosion in Ost und West zu protestieren.
— Wenn Sie das meinen, ist das Ihr Problem. Das wäre natürlich auch etwas für Sie.Diejenigen, die den Menschen in Ostdeutschland eine gewisse Einkommensentwicklung in den Bauch reden und behaupten, daß die Mietenerhöhung zum 1. Januar 1993 sozial verträglich sei, fehlten dort natürlich. Dort ging es nicht nur um ein Ostproblem, für das Sie einfach die SED verantwortlich machen können; dort ging es um eine Menschenrechtsfrage, die noch in ganz Deutschland offen ist.Menschen nicht nur aus meinem Wahlkreis Berlin-Friedrichshain, Treptow und Lichtenberg verdeutlichten gestern auf der Demo nochmals die wahre Situation im Osten. Die Umlage von Privatmodernisierungen führt in einer Reihe von Wohnungen schon jetzt dazu, daß die Mieten höher sind als bei vergleichbaren Wohnungen in West-Berlin.Mit der sogenannten freiwilligen Instandhaltungsumlage, mit Beschaffenheitszuschlägen für eigentlich selbstverständliche Dinge und weiteren Modernisierungsumlagen ohne Kappungsgrenze werden ab 1. Januar 1993 zunehmend mehr Wohnungen unverschämt teuer sein und sich praktisch in keiner Weise mehr von „Westmieten" unterscheiden. Wie die Löhne sind, wissen wir ja.Friedrichshain liegt mit 21 % offiziell registrierten Arbeitslosen in Berlin an der Spitze; betrachtet man die durchschnittlichen Haushaltseinkommen, so liegen Friedrichshain und Prenzlauer Berg am Ende der Tabelle. Ein Viertel der Haushalte, Frau Schwaetzer, hat für den Monat weniger zur Verfügung, als Sie und die anderen Minister an einem Tag an Gehalt kassieren.Massenarbeitslosigkeit und wachsende Armut auf der einen Seite, 200 000 Wohnungssuchende in Berlin — Tendenz steigend — auf der anderen Seite führen zu großen Ängsten. Das, meine Damen und Herren von der Koalition, sollte allerdings bei Ihnen Angst auslösen.Das Zehn-Punkte-Programm, das Dietmar Keller vor zwei Tagen hier vorgestellt hat, betont, daß die Wohnung als Sozialgut betrachtet werden soll und nicht als Marktobjekt. Deshalb fordern wir zunächst, daß alle Menschen in Ostdeutschland, die an der von der Bundesregierung immer wieder behaupteten Einkommensentwicklung von 20 % nicht teilhaben konnten, deren Einkommen sich rückläufig entwickelte oder stagniert, den vollen Ausgleich für die Mieterhöhung mittels erhöhter Wohngeldzahlung erhalten. Einen entsprechenden Antrag dazu werden wir noch einbringen.Gestatten Sie mir an dieser Stelle zwei Bemerkungen zum Wohngeld, das ja eine nicht unwesentliche Position im Haushalt darstellt.Erstens. Das Wohngeldsystem und damit die Subjekt- statt objektbezogene Subventionierung halten wir durchaus für ein probates Mittel im Sinne sozialer Gerechtigkeit. Fakt ist aber, daß dieses Mittel angesichts der Mietenentwicklung in den letzten zehn Jahren in der derzeitigen Form immer weniger tauglich ist. Wohngeld als Regelfall statt als Ausnahme kann doch nicht als normal betrachtet werden. In Friedrichshain rechnet das Bezirksamt mit 36 000 Wohngeldanträgen. Das heißt, jeder zweite Haushalt ist auf einen Zuschuß angewiesen. Das ist auch ein riesiges psychologisches Problem. Ich bitte, das nicht unter den Tisch fallen zu lassen.Zweitens. Bis Ende Oktober werden die neuen Mietbescheide ausgereicht. Dann ist mit einem Ansturm auf die Wohnungsämter zu rechnen. Nach jetzigem Stand sind die Ämter bei weitem nicht in der Lage, mit den vorhandenen personellen und materiell-technischen Voraussetzungen die Anträge zu bearbeiten. Ich fordere Sie, Frau Bundesbauministerin, deshalb auf, dafür Sorge zu tragen, daß mit entsprechenden kurzfristigen Maßnahmen eine schnelle und ordnungsgemäße Zahlung wenigstens des in Aussicht gestellten Wohngeldes in allen Kommunen gewährleistet wird.Sehr geehrte Damen und Herren, warum rede ich eigentlich im Bundestag über eine Demonstration der Mieter in Berlin? Inzwischen geben mehr oder weniger alle Parteien zu, daß in Deutschland Wohnungsnot besteht. Der Bundeshaushalt 1993 verdeutlicht aber, daß die Regierung nicht einmal den Versuch unternimmt, diese Not zu bekämpfen. Von dem im vergangenen Jahr groß angekündigten wohnungspolitischen Konzept der Regierung redet inzwischen niemand mehr; es wäre ja auch vergebliche Liebesmüh.Für die direkte Förderung des Wohnungsbaus sind — wie in den vergangenen Jahren — vergleichsweise lächerliche Summen vorgesehen, und das im Wissen darum, daß der finanzielle Spielraum der Länder und Kommunen für den Wohnungsbau eher geringer wird, statt zu wachsen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8925
Dr. Ilja SeifertStatt dafür zu sorgen, daß Reiche immer reicher werden — ich denke dabei an den unsäglichen § 10 e des Einkommensteuergesetzes —, statt immer mehr Geld für Rüstung, Verwaltungsbürokratie und Prestigeobjekte auszugeben, ist unseres Erachtens eine radikale Änderung in der Prioritätenliste vonnöten.Wir sind für eine effektive und leistungsfähige Bau- und Wohnungswirtschaft, aber wir sind in erster Linie dafür, daß das Recht auf bezahlbare Wohnungen für alle als Menschenrecht gilt. Das trifft übrigens für Eigenheime genauso wie für Mietwohnungen zu.Wir bekräftigen unsere Forderung nach einem umfassenden nationalen Wohnungsbauprogramm für ganz Deutschland. Städtebauliche, ökologische und soziale Aspekte sollten dabei — ebenso wie die Schaffung von Arbeitsplätzen — gleichrangig beachtet werden. Unsere Forderung ist, mittelfristig mindestens 8 % der öffentlichen Haushalte für die Verwirklichung dieses Menschenrechts einzusetzen. Auf dem Weg dorthin sollte bereits 1993 durch eine Verdoppelung der für die Wohnungsbauförderung vorgesehenen Mittel ein deutliches Zeichen gesetzt werden.Die konkrete Situation in Deutschland verlangt, maßgeschneiderte Konzepte für Ost und West, sogar für jede Region zu entwickeln, die den speziellen Bedingungen gerecht werden. Wir würden uns freuen, wenn es gelänge, für dieses immer drängendere soziale Problem — inzwischen werden die Mieten ja auch für Bezieher mittlerer Einkommen unerschwinglich — im Sinne des Menschenrechts auf Wohnung einen parteiübergreifenden Konsens herbeizuführen, und erklären uns ausdrücklich bereit, dafür unsere Kenntnisse über die Lage konstruktiv einzubringen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Achim Großmann gemäß § 27 der Geschäftsordnung das Wort zu einer Zwischenbemerkung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Pützhofen hat eben ein Foto gezeigt. Ich finde das allmählich nicht mehr lustig, weil das bereits zum zweiten- oder drittenmal passiert. Ich bin von meinem Kollegen Schmitz gewöhnt, daß er versucht, mich durch dieses miese Spiel in die falsche Ecke zu stellen.
Ich habe im Wahlkampf eine Anzeige geschaltet, in der stand: Die Einheit kostet Geld, unser Geld, deshalb müssen wir aufpassen. Das gilt für die Menschen in Ost und West. Anschließend habe ich in dieser Anzeige erklärt, daß wir wahrscheinlich davon ausgehen müssen, daß uns die Bundesregierung im Wahlkampf nicht die Wahrheit sagt, daß also die deutsche Einheit viel mehr Geld kosten wird und wahrscheinlich auch nur mit Steuererhöhungen zu finanzieren sein wird.
Ich denke, das war eine korrekte Anzeige. Es war ein korrekter Text, der sich im nachhinein als richtig erwiesen hat. Ich finde es unerträglich, daß man mit diesem Anzeigentext immer noch versucht, mich in eine falsche Ecke zu stellen.
Meine Damen und Herren, nach demselben Paragraphen erhält jetzt Herr Kollege Schmitz das Wort.
Herr Kollege Großmann, ich habe Sie damals gebeten, dieses Plakat zu entfernen. Nicht nur ich habe Sie darum gebeten, sondern auch Bürgermeister aus den neuen Bundesländern. Sie haben das nicht getan.
Ich möchte endlich einmal klarstellen, damit Sie bei der Wahrheit bleiben: Auf diesem Foto steht — das ist original; das ist im übrigen nicht von mir, ich habe es auch nicht veranlaßt, sondern es ist mir zugeschickt worden —: „Achim Großmann: Die Einheit kostet Geld, unseres! Deshalb müssen wir aufpassen."
Das ist von den Leuten so verstanden worden, als seien Sie nicht bereit, das zu machen. Das wollte ich dargestellt haben. Wenn Sie sich davon distanzieren, ist die Sache in Ordnung.
Meine Damen und Herren, nach diesen Zwischeninterventionen hat jetzt die Frau Ministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Dr. Irmgard Schwaetzer, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich sehe zur Bundesratsbank und stelle fest, daß bei dieser Debatte nicht ein einziger Vertreter des Bundesrates anwesend ist.
Ich bedaure das zutiefst. Ich denke, wir sind uns klar darüber, daß die Wohnungsprobleme, die es in Ost und West gibt, nicht von einer staatlichen Ebene allein bewältigt werden können, sondern daß wir sie nur in einer großen Gemeinschaftsanstrengung von Bund, Ländern, Gemeinden und privaten Investoren bewältigen können. Deswegen finde ich das besonders bedauerlich, zumal gestern alle Redner die Fragen des Wohnens in Deutschland korrekterweise in einen innenpolitischen Zusammenhang gestellt haben. In der Tat ist die Bewältigung der Wohnungsprobleme für den inneren Frieden unseres Landes von herausragender Bedeutung.
Meine Damen und Herren, ich möchte aber zunächst einmal die Zahlen des Haushaltes klarstellen; denn Herr Großmann ist nicht der Haushälter für den Etat des Bauministeriums, sondern der politisch Verantwortliche der Opposition. Da ist vielleicht das eine oder andere durcheinandergekommen bzw. nicht klargeworden.Für den sozialen Wohnungsbau stellt der Etat des Bauministeriums 2,7 Milliarden DM bereit.
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8926 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Bundesministerin Dr. Irmgard SchwaetzerDas bedeutet, die wohnungspolitische Initiative, die die Bundesregierung im vergangenen Herbst auf meinen Vorschlag hin beschlossen hat, ist in diesem Haushalt voll enthalten. Er liegt damit 700 Millionen DM über dem Ansatz von 1991 und über dem Ansatz 1992. Das bedeutet, daß die Bundesregierung alles daran setzt, um die Probleme, die vor uns liegen, zu lösen. Die Mittel liegen für drei Jahre je 700 Millionen DM über den Ansätzen. Das bedeutet quasi eine Verdoppelung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau gegenüber dem Ende der achtziger Jahre. Ich wünschte mir, alle anderen an der Wohnungsversorgung Beteiligten hätten ihre Anstrengungen in der gleichen Weise intensiviert.Für den sozialen Wohnungsbau steht nach wie vor 1 Milliarde DM über die gesamte mittelfristige Finanzplanung zur Verfügung. Darüber hinaus sind die zinsgünstigen Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau für Modernisierung, Instandsetzung und Neubau in den östlichen Bundesländern auf 20 Milliarden DM aufgestockt worden. Allein dafür werden aus dem Bundeshaushalt insgesamt 6 Milliarden DM Zinssubventionen gezahlt.Für die Städtebauförderung haben wir über die mittelfristige Finanzplanung den schon derzeit veranschlagten Betrag von 380 Millionen DM festgeschrieben. Das reicht für Neues, was auch in der strukturellen Umbruchsituation (West), die es in einzelnen Regionen gibt, notwendig ist. Aber es schreibt vor allen Dingen fest, meine Damen und Herren, daß es jetzt um den Aufbau Ost und nicht mehr um den Ausbau West geht. Denn die Mittel für die östlichen Bundesländer sind in der mittelfristigen Finanzplanung noch einmal nach oben gefahren worden, nämlich auf 620 Millionen DM.Weil Sie etwas Schwierigkeiten mit den Zahlen haben, Herr Großmann, nenne ich auch noch einmal die Zahlen der Fertigstellungen. 1989 waren es in den westlichen Bundesländern 216 000, und 1992 werden es etwa 370 000 bis 400 000 sein; das werden wir zu Beginn des nächsten Jahres genauer wissen.Nun zu dem, was offensichtlich Ihr Problem ist: Im sozialen Wohnungsbau wurden 92 000 und nicht 61 000 Wohnungen, wie Sie gesagt haben, Herr Großman, fertiggestellt. Ich habe nach Ihrer Rede den Eindruck, daß Ihnen wirklich kein Taschenspielertrick zu billig war, um hier Polemik zu verbreiten.
Ich bedauere das, zumal Sie zu den wirklichen Problemen nicht ein einziges Wort gesagt haben. Sie haben nichts gesagt zu dem Verhältnis zwischen den Notwendigkeiten der Instandsetzung in den östlichen Bundesländern und dem, was die Menschen dort wirklich bedrückt, nämlich der notwendigen Mietenanhebung.
Hier haben Sie zwar mitbeschlossen; aber offensichtlich möchten Sie sich gerne aus der Verantwortungstehlen; denn in der Öffentlichkeit bekennen Sie sich nie mehr dazu.
Sie haben kein Wort dazu gesagt, daß sich die Fragen von Wohnungsbau im wesentlichen an der Baulandbereitstellung stoßen.
Dazu, daß die Bundesregierung im Herbst ein Baulandgesetz vorlegen wird, habe ich schon häufiger Stellung genommen. Aber Sie haben nichts dazu gesagt, was dann auf Länderebene geschehen muß, daß die Abwägung zwischen den Belangen der Wohnungsuchenden und den Belangen des Naturschutzes wieder ein wenig korrigiert werden muß. Sie haben nichts dazu gesagt, wie es denn mit dem Abbau der Bürokratie vor allen Dingen der SPD-regierten Länder ist, die dort besonders wild wuchert und die Bautätigkeit hemmt.
Meine Damen und Herren, die Lösung der Probleme des Wohnungsbaus ist in der Tat eine zentrale Aufgabe für die Entwicklung der nächsten Jahre und für den inneren Frieden. Dort, wo Menschen Angst haben müssen, daß durch zu wenige Arbeitsplätze und zu knappen Wohnraum eine Konkurrenzsituation auftritt, die sie zu verlieren drohen, ist es klar, daß Angst in Aggressivität umschlägt. Das sehen wir in vielen Städten, so in den Städten im Osten. Rostock ist hier nur ein Name, der uns besonders ins Bewußtsein gedrungen ist. Aber eine solche Aggressivität spielt sich in vielen Städten nicht nur im Osten unseres Landes, sondern auch im Westen gegenüber Fremden ab. In der Tat müssen wir dafür sorgen, daß wir die damit verbundenen Fragen rasch in den Griff kriegen, indem wir mehr Wohnungen bauen.Eine Umfrage in den östlichen Bundesländern hat gezeigt, daß etwa die Hälfte der Menschen inzwischen sieht, daß sich die Situation im Wohnungsbereich sichtbar verbessert.
Die Antwort haben wir uns nicht aus den Fingern gesogen, sondern diese Antwort haben die Bürger in den ostdeutschen Ländern gegeben. Das zeigt uns, daß die Förderprogramme des Bundes und der neuen Länder gegriffen haben.
Es zeigt aber auch, meine Damen und Herren, daß die Mietenanhebung, die jetzt in der Tat im Raum steht, sicherlich für viele Menschen hart ist. Das zeigen unsere Gespräche an den Bussen. Übrigens ist jeder eingeladen, an der Informationstour des Bauministeriums in den östlichen Bundesländern teilzunehmen
und mit den Menschen vor Ort über ihre Probleme zureden. Die Leitung des Bauministeriums tut das. Injeder der 40 Städte in den ostdeutschen Bundeslän-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8927
Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzerdern ist entweder ein Staatssekretär oder aber die Ministerin selber präsent, um mit den Leuten zu sprechen. Ich halte dies auch für notwendig.
Aber, meine Damen und Herren, auf dem Hintergrund dessen, was aus Frankfurt und Hamburg bekanntgeworden ist, sind diese Diskussionen natürlich auch hart zu führen. Wenn ein Abteilungsleiter der Hamburger Wohnungsbaugesellschaft SAGA für 5,78 DM Miete pro Quadratmeter in einer fabelhaften Wohnung im vornehmen Vorort Flottbek wohnt,
und ein Mieter, der nicht so gute Verbindungen zu der gleichen SAGA hat, aber bei der gleichen SAGA mietet, für eine ähnliche Wohnung 9,78 DM pro Quadratmeter bezahlen muß, dann riecht es hier schon ein wenig nach Mauschelei und Filz, und das macht die Dinge in der Tat schwierig.
Wenn dann in der Stadt Frankfurt am Main ein Dezernent der Stadtverwaltung, der sich übrigens, druchaus ehrenwert, auf den Weg macht, Mietwucher aufzuspüren, auf der anderen Seite für sein eigenes kleines Einfamilienhaus nur 10 DM pro Quadratmeter zahlt und damit deutlich macht, daß Mieterhöhungsspielräume, die bei seinem Gehalt in den letzten Jahren möglich gewesen sind, nicht wahrgenommen worden sind, obwohl er selber im Aufsichtsrat seiner eigenen Gesellschaft sitzt, dann riecht auch das nach Mauschelei und Filz. Das macht in der Tat die Situation im Osten schwierig, weil die Menschen Gerechtigkeit wollen. Sie fordern das zu Recht ein.
Meine Damen und Herren, diese Gerechtigkeit ist nur vor Ort, hier im Westen, einzuführen. Deswegen ist es so wichtig, daß wir auch dazu stehen, daß am 1. Januar 1993 im Osten die Mieten um einen Betrag angehoben werden, der dann erst Verbesserungen in größerem Umfang in der Wohnqualität möglich macht.Wir haben die Einkommensentwicklung , wie es im Einigungsvertrag vorgesehen ist, sorgfältig abgewogen, und wir sind zu der Auffassung gekommen — wir haben das gegenüber dem Bundestag auch schriftlich dargelegt —, daß diese Einkommensentwicklung die jetzt vorgesehene Mietenanhebung rechtfertigt.Eine Verbesserung des Sonderwohngeldes, einstimmig hier im Hause beschlossen, ist darüber hinaus wichtig gewesen, um die sozialen Begleitmaßnahmen sicherzustellen.Aber eines, Herr Seifert, möchte ich hier nicht im Raum stehenlassen: Der Wohngeldanspruch wird derzeit von ca. 20 % der Haushalte im Osten realisiert. Dieser Anteil ist sehr hoch und spiegelt Einkommen und Mieten wider. Wir rechnen auch damit, daß er nach der beschlossenen Mietenanhebung geringfügig in die Höhe gehen wird. Aber von einer Mehrheit der Bevölkerung, die zu Wohngeldempfängern degradiert würde, kann danach nicht die Rede sein,
ganz abgesehen davon, daß Wohngeld kein Almosen, sondern ein Rechtsanspruch ist, von dem wir nach unserer sozialstaatlichen Verpflichtung und unserer eigenen demokratischen Auffassung zu Recht Gebrauch machen.Wir wollen, daß die Wohnungsunternehmen aus den jetzt vorgesehenen Mietenanhebungen keine Rücklagen für die Altschulden bilden;
denn sie müssen kreditfähig werden. Wir sind mit dem Finanzminister im Gespräch. Ich bin zuversichtlich, daß wir die anstehenden Probleme regeln werden.Meine Damen und Herren, ein letztes Wort zum Bauland. Hier besteht in der Tat ein Engpaß. Es ist d e r Engpaßfaktor für den Nachholbedarf an zusätzlichen Wohnungen im Westen. Hier müssen wir in der Tat zu einer neuen Abwägung zwischen den Belangen des Umweltschutzes und der Wohnungssuchenden kommen. Ich finde, meine Damen und Herren, es ist doch des Nachdenkens wert, wenn in Hannover z. B. die Kosten für das Bauland inzwischen etwa 50 % der Kosten einer neuen Wohnung ausmachen. Diese Baulandkosten werden aber dadurch provoziert, daß für 1 Hektar Wohnbauland 3 Hektar zusätzliche sogenannte Ausgleichsfläche bereitgestellt werden muß, die natürlich der Investor kaufen muß, weil er sie nicht hat, und die er selbstverständlich in die Baulandkosten mit einrechnet. Das, meine Damen und Herren, ist nicht die Antwort, die wir in bezug auf die Wohnungsnot brauchen, die sich in vielen Ballungszentren jetzt abspielt.
— Mit Herrn Töpfer habe ich mich geeinigt. Das ist doch nicht das Problem.
Die Länder mit rot-grüner Regierungspolitik haben es zu einer überzogenen zusätzlichen Anforderung in diesem Bereich gebracht, die bundesgesetzlich nicht erforderlich ist. Die Länder sind auf eigene Verantwortung und eigene Rechnung weitergegangen.
Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen — das sind die Negativbeispiele, wo es darum geht, daß die Ländergesetzgebung jetzt geändert wird.
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Vosen?
Aber selbstverständlich, Herr Präsident.
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8928 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Frau Ministerin, ich höre mit großer Freude, daß Sie mit dem Finanzminister im Gespräch sind. Ich frage Sie: Hat dieses Gespräch schon Ergebnisse in Bezug auf die Umwandlung von frei werdenden Wohnungen des Bundes — durch den Wegzug von Alliierten und durch die Bundeswehr — in Sozialwohnungen gebracht? Das würde Ihnen ja helfen. Jetzt ist es so, daß diese Wohnungen zum höchsten Preis, zum Marktpreis verkauft und meistens in Eigentumswohnungen umgewandelt werden, mit denen spekuliert wird. Könnten diese Wohnungen aus dem Vermögen des Bundes, die jetzt frei werden, nicht in den Sozialwohnungsbereich überführt werden? Was ist das Ergebnis Ihrer Gespräche mit dem Finanzminister?
Lieber Kollege Josef Vosen, Bürgermeister der Stadt Düren, die gleichzeitig auch die Stadt meines Wahlkreises ist! Die Bundesvermögensverwaltung verkauft die frei werdenden Wohnungen so schnell wie möglich, und nicht zum Höchstgebot, sondern zum Verkehrswert, an Erwerber, die keine Spekulanten sind, sondern an solide und seriöse Erwerber. Darüber kann sich jeder ein Bild machen. Auch im Einzelfall erteilen wir dazu gern Auskunft.
Darüber hinaus haben wir schon im Haushalt 1992 festgesetzt, daß z. B. bisher militärisch genutzte Flächen für den sozialen Wohnungsbau mit einem Nachlaß von 50 % auf den Verkehrswert oder aber zum Minimumwert — unbeplant — abgegeben werden. Damit hat der Bund gegenüber den Ländern eine Vorleistung erbracht, in der die Länder erst noch nachziehen müssen, was ich mir allerdings auch wünsche, damit Bauen gerade im sozialen Wohnungsbau tatsächlich bezahlbar bleibt.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Meine Redezeit ist eigentlich abgelaufen.
Sie ist längst abgelaufen!
Aber selbstverständlich gerne!
Frau Ministerin, ich weiß ja aus einem Schreiben an mich, daß auch Sie für die Umwandlung dieser Wohnungen in Sozialwohnungen sind. Leider hat mir der Finanzminister geschrieben, daß er das nicht zulassen könne. Nun verteidigen Sie hier den Finanzminister, und ich frage Sie: Wie läßt sich das mit Ihrem Brief an mich vereinbaren, in dem Sie schreiben, Sie seien dafür, daß diese Wohnungen in den sozialen Wohnungsbau kommen? Vielleicht können Sie mir diesen Widerspruch erklären?
Herr Kollege Vosen, ich habe Ihnen die Verkaufspolitik der Bundesvermögensverwaltung noch einmal dargelegt.
Ich hatte eigentlich gehofft, daß nach dem regen Briefwechsel, der sich zwischen uns abgespielt hat, die Antworten so klar sind, daß Sie nicht noch einmal fragen müssen.
Ich bin immer gerne bereit, die gleichen Dinge ein weiteres Mal zu wiederholen.
Herr Präsident, ich möchte zum Schluß kommen, und zwar mit einem einzigen weiteren Beispiel, aus dem hervorgeht, in welcher Verantwortung die Länder und Kommunen bei der Lösung der Wohnungsprobleme stehen.
In Stuttgart, meine Damen und Herren, liegen 25 Millionen DM für den sozialen Wohnungsbau auf Eis. Sie können nicht verbaut werden. Es gibt zwar ein Baugebiet, wo gebaut werden könnte, aber durch den Widerstand von Nachbarn und zum Teil von Eigentümern muß jetzt das Baugebiet auf die Hälfte verkleinert werden. Die vorhandenen Mittel können nicht verbaut werden.
Meine Damen und Herren, es geht eben nicht an, nur Geldforderungen an den Bund zu stellen, sondern die Probleme müssen zunächst einmal vor Ort gelöst werden. Aus diesem Beispiel geht klar hervor, daß es nicht an Geldmitteln fehlt, Herr Großmann, sondern am Willen der Länder und Gemeinden, mitzuziehen und auf allen Ebenen die Probleme zu lösen.
Da, meine Damen und Herren, packen wir an. Ich fordere noch einmal auf und bitte alle, dort, wo sie Verantwortung tragen, die Probleme anzugehen.
Meine Damen und Herren! Im Rahmen unserer verbundenen Debatte „Standort Deutschland" rufe ich den Bereich des Bundesministers für Verkehr auf und erteile als erstem Redner unserem Kollegen Albrecht Müller das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Stimmung im Land ist schlecht. Wenn man die Leute fragt, warum, und was sie umtreibt, erhält man eine ziemlich einhellige Antwort: Die Probleme häufen sich, es wird viel geredet, aber es bewegt sich nichts. Das ist gut beobachtet. Es gilt für die Wohnungsbaupolitik genauso wie für die Verkehrspolitik. Die Menschen stecken täglich in Staus. Sie spüren am eigenen Leibe, am Dreck und am Lärm, wie der Verkehr explodiert. Sie sehen hilflos, wie unser Land mehr und mehr zum europäischen Durchfahrtsland wird. Sie lesen in ihren Zeitungen, daß die Ozonwerte einen ganzen Sommer lang über den Richtwerten liegen.Die Regierung scheint das alles nicht sonderlich zu rühren. Es rührt sie auch nicht besonders, was Ende August publik wurde, daß nämlich die klimaverändernde Belastung mit CO2 bis zum Jahr 2005 nicht um 25 % sinken wird, wie es die Bundesregierung 1990
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8929
Albrecht Müller
versprochen hat, sondern im Verkehrsbereich um 43 % steigen wird. Diese dramatische Kluft zwischen dem wortreich erklärten Ziel und der tatsächlichen Entwicklung ist ein weiterer Beleg für den Bankrott der Regierungspolitik.
Die Lage im Verkehrsbereich ist dramatisch. Eine sofortige Kurskorrektur hin zu einer ökologisch und ökonomisch sinnvollen Verkehrspolitik ist überfällig. Der Entwurf des Einzelplans 12 zeigt jedoch, daß die Bundesregierung dies immer noch nicht begreifen will. 8,86 Milliarden DM gehen als Investitionen in den Straßenbau, 4,55 Milliarden DM in den Streckenausbau der beiden Bahnen. Das ist wahrlich nicht die Wende, die uns Herr Krause vorgaukelt.Eine wirkliche Kurskorrektur würde z. B. verlangen, daß die Mittel für den Fernstraßenbau im Westen deutlich gekürzt werden. Sie würde vor allem verlangen und möglich machen, auf der Einnahmeseite Milliarden einzustellen, die die Bundesregierung von hier durchfahrenden LKW und PKW erheben müßte. Daß wir Deutsche für die Benutzung der Durchfahrtsstraßen in Frankreich, Italien und der Schweiz bezahlen müssen, daß unser Land aber im Transitverkehr erstickt und daß es uns dennoch von der EG bisher verboten wird, die hier verursachten Wegekosten und die Kosten der Umweltbelastung von den Benutzern unserer Straßen einzutreiben, ist nicht mehr zu vermitteln und ist auch sachlich nicht zu rechtfertigen.
Die Bundesregierung hat die geplante Schwerverkehrsabgabe durch stümperhaftes Vorgehen kaputtgemacht. Ich will zugunsten des Bundesverkehrsministers hier anfügen, daß er sich in Gesprächen mit Brüssel um eine Korrektur dieses Desasters bemüht.
—Ja, wir machen ja manches auch vernünftigerweise gemeinsam. Um des lieben Friedens willen, lieber Herr Kollege, würde ich den Bundesverkehrsminister ja gern weiter loben.
Das geht aber leider nicht, weil hinter seinem und der Bundesregierung Reden und Handeln insgesamt eine fragwürdige verkehrspolitische Philosophie steckt.
Bundesregierung und Verkehrsminister haben nicht begriffen, daß die uns ins Haus stehenden Verkehrszuwächse von Mensch und Natur nicht mehr auszuhalten, nicht mehr zu ertragen sind. Es wäre aber wichtig zu verstehen, daß es kein ausreichendes Ziel der Verkehrs- und Wirtschaftspolitik sein kann, auf Mobilität um jeden Preis zu setzen. Wir sind für Mobilität; aber Mobilität muß ihre Kosten tragen. Dies hat sich immer noch nicht herumgesprochen. Sie muß die vollen Kosten tragen, erst dann stimmen die Rechnungen ökonomisch und ökologisch.
Der Verkehrsminister trägt das Wort Mobilität wie eine Monstranz vor sich her. Es ist aber an der Zeit, zu der reellen Einsicht zu finden, daß auch Mobilität eine dienende Funktion hat. Es ist nicht Aufgabe des Verkehrsministers, jeden erdenklichen Verkehr mit neuen Kapazitäten und Straßenbaumaßnahmen abzusichern. Es ist endlich an der Zeit, einmal zu fragen, ob jede zur Zeit beobachtete Mobilität ihren Sinn hat.Ich nenne zwei Beispiele: Durch unser Land fahrende holländische LKW zahlen nur rund 8 % der Wegekosten und 0,0 % der Kosten durch die Umweltbelastung. Alles andere wird ihnen von uns geschenkt. Auch deshalb explodiert der Verkehr auf unseren Autobahnen.Ich frage Sie: Macht es Sinn, auf diese subventionierte Verkehrsexplosion mit der Erweiterung der Autobahnkapazität im Westen zu antworten, wie es in diesem Etat vorgesehen ist? Es macht keinen Sinn. Diese Art von subventionierter Mobilität ist ökologisch der helle Wahnsinn und ökonomisch Verschwendung.
Auf dem freundlich gedeckten Frühstückstisch — das ist das zweite Beispiel — eines Hotels im Grenzbereich von Brandenburg und Mecklenburg fand ich am vergangenen Sonntag folgendes vor: Mineralwasser aus dem Teutoburger Wald, Schmelzkäse aus Nürnberg, Cornedbeef aus Württemberg, Konfitüre, ebenfalls aus Württemberg, Kaffeesahne aus Bremen, Nougatcreme aus Frankfurt/Main und Frischkäse aus Wangen im Allgäu.
Da werden also in diesen Portionen tonnenweise kleinverpackt Waren über 500, 600 und 800 Kilometer transportiert. Ich frage Sie: Macht es Sinn, die Straßentransportkapazität quer durch Deutschland und Europa auch auf solche hochsubventionierten Transporte abzustellen?
Wir gehen hier einigermaßen ehrlich miteinander um. Deshalb sage ich: Ich weiß nicht, ob es Sinn macht.Wenn die Kosten für Straßen und Umwelt endlich wirklich erhoben werden und dann noch immer Marmelade quer durch Deutschland gefahren wird, dann muß ich die Waffen strecken. Ich vermute jedoch und bin dessen auch sicher: Die Landwirtschaft, die Molkereiwirtschaft, die Nahrungsmittelindustrie und das Kleingewerbe in den neuen Bundesländern wären nicht so sehr ruiniert worden, wenn die Transportkosten für das Herankarren der Westwaren reell gewesen wären.
Ich fürchte, daß vor allem die neuen Bundesländer zunehmend zu einer belieferten Region und zu einer Durchfahrtregion werden. Der Verkehrsminister
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8930 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Albrecht Müller
— das ist die Perspektive — baut die vierspurigen Rennbahnen zuallererst für die fahrenden Lager auf dem Weg zu den verlängerten Werkbänken in den osteuropäischen Ländern und zurück. Das ist eine gespenstische Perspektive. Mit Enttäuschung wird man dann im Osten Deutschlands feststellen, daß man vom Durchgangsverkehr nicht leben kann. Zur Zeit glaubt man es aber noch. Das haben wir bei einer Ausschußreise, die unter anderem nach Stralsund führte, gemerkt. Dort denkt man noch, man könne vom Durchgangsverkehr leben.
Die Bundesregierung hat, ähnlich wie die EG, nicht verstanden, wie dringlich eine Kurskorrektur in der deutschen und europäischen Verkehrspolitik gerade aus wirtschafts- und standortpolitischen Gründen ist. Täglich fallen Entscheidungen über Standorte, Investitionen, Lieferbeziehungen, Transporte und Investitionen im Transportgewerbe. In einer Umbruchsituation wie der heutigen fallen besonders viele Entscheidungen; etwa die, daß die erwähnten Produkte in den Osten gebracht werden. Deshalb ist es sträflicher Leichtsinn, die notwendige Korrektur der Rahmenbedingungen zu verzögern.Wirtschaft und Gesellschaft, Europas Spediteure und die Automobilindustrie müssen einen verläßlichen Rahmen für ihre Entscheidungen haben. Wir mahnen den an bei dieser Regierung. Die eben Erwähnten sollen wissen, daß sie sowohl für die verursachten Wegekosten als auch für die Kosten der Umweltbelastung verstärkt herangezogen werden. Sie sollen wissen, daß Verkehr nicht billiger, sondern stufenweise teurer wird.
Wer ihnen diese Gewißheit vorenthält und die notwendigen Anpassungen verzögert, der tut dem Wirtschaftsstandort Deutschland keinen Gefallen, der steuert auf gefährliche Brüche zu.
Des weiteren betone ich: Die EG soll wissen, daß es so nicht weitergeht. Wenn der Verkehrsminister heute abend — das habe ich gehört, aber ich weiß nicht, ob es richtig ist — mit dem Verkehrskommissar der Europäischen Gemeinschaft zusammentrifft, dann sollte er ihm folgendes klarmachen: Die im Brief der EG-Kommission vom 12. Juni angebotenen Lösungen und die bisher im Gespräch befindlichen Ziffern und Konzepte reichen bei weitem nicht aus, um Europa und speziell unser Land vor dem Erstickungstod zu bewahren. Die EG muß endlich möglich machen, daß wir dem Transitverkehr durch Deutschland seine vollen Kosten anlasten, nicht nur Peanuts.Weiterhin sollte dem EG-Kommissar mit auf den Weg nach Brüssel gegeben werden, daß der Unmut über die EG und Maastricht bei uns etwas damit zu tun hat, daß die EG in der Verkehrspolitik bisher in den Klauen von Einzelinteressen einiger westlicher Nachbarn steckt. Wir verlangen von der EG, daß das deutsche Transportgewerbe endlich die gleichen Wettbewerbschancen erhält.Wir wünschen uns von der EG und der Bundesregierung im Interesse der Menschen in Deutschland und in Europa den Mut zu einer wirklichen Kurskorrektur. Das ist die Bringschuld der Koalition und der Bundesregierung. Wenn sie sich dazu entschließen, den Etat 1993 entsprechend zu korrigieren und Rahmendaten neu zu setzen, dann wird es auch an unserer weiteren Kooperationsbereitschaft nicht mangeln. Aber wenn alles so weitergeht wie bisher, lieber Herr Parlamentarischer Staatssekretär, dann halte ich dies für ein gefährliches Spiel.
Meine Damen und Herren, jetzt erhält das Wort unser Kollege Wilfried Bohlsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß zunächst einmal den Vorwurf des Kollegen Müller, die Bundesregierung mache eine fragwürdige Verkehrspolitik, ausdrücklich zurückweisen.
Ich tue das ganz bewußt in dem Bemühen, daß wir uns immer in vielen Abstimmungen auch mit Bereichen der Oppositionsfraktionen bemühen, eine gute, eine inhaltsreiche und eine fundamentierte Verkehrspolitik zu machen. Daran werden wir natürlich weiter arbeiten. Zu dem vielen, was Herr Müller aus seiner Tasche herausgekramt hat, will ich nur sagen: Verehrter Herr Kollege Müller, machen Sie das nächste Mal Ihren Urlaub auf einer der schönen Inseln in meinem Wahlkreis. Da werden Sie all die aufgezählten Produkte unverpackt zum Frühstück bekommen.
Meine Damen und Herren, der Verkehrshaushalt— auf die umweltfreundliche Verkehrspolitik, Herr Kollege Müller, komme ich noch kurz zu sprechen— ist nach wie vor — wir sprechen ja von dem Wirtschaftsstandort — der größte Investitionshaushalt des Bundes. Mit einem Investitionsvolumen von rund 26,1 Milliarden DM fließen immerhin 59 % des Ausgabevolumens in die Investitionen. Dieser beachtliche Erfolg findet nachdrücklich die Würdigung unserer Fraktion, und ich will mich bei den beiden anwesenden Staatssekretären hierfür herzlich bedanken.Mit dem Gesamtvolumen von 44,3 Milliarden DM trägt somit der Verkehrshaushalt der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage Rechnung. Wir beobachten dabei allerdings ein weiteres Zusammenwachsen Europas — das belastet den Verkehrsmarkt — und die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes.Wir erleben natürlich auch die neuen Dimensionen der Mobilität — sowohl in West/Ost- wie auch in Ost/West-Richtung — und vermerken dabei, daß die Bundesrepublik zur Drehscheibe Nr. 1 des Verkehrs
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Wilfried Bohlsenwird. Dies müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wir müssen versuchen, darauf zu reagieren.Blicken wir auf die Prognosen — der Vorredner hat dazu schon einiges ausgeführt —, dann sehen wir dort eine Bewegung, die unbedingt beachtet werden muß; denn der Anstieg des PKW-Bestandes wird bereits jetzt prognostiziert. Der Güterverkehr auf der Straße soll um 95 % steigen, der auf der Schiene soll um 55 steigen, und der auf den Binnenwasserstraßen, auf die ich gleich noch zurückkomme, soll um 84 % steigen. All dies findet bei uns Verkehrspolitikern unter dem Gesichtspunkt des Endziels im Jahre 2010 erhebliche Beachtung.
Meine Damen und Herren, mit den Investitionen im Verkehrswegebau möchten wir der Konjunktur Impulse geben. Wir wollen eine Belebung der Baunachfrage, und wir wollen eine Sicherung der Arbeitsplätze. Hierzu trägt der Verkehrshaushalt bei. Es war daher politisch konsequent, daß die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Ländern verstärkt ihren Niederschlag im Verkehrshaushalt gefunden hat;
denn nahezu jede zweite Mark der investiven Ausgaben wird für diesen Zweck ausgegeben. Lassen Sie mich nur die größten Ausgabenblöcke im Bereich der Investitionen nennen: Für die deutschen Bahnen geben wir für Investitionen 9,6 Milliarden DM aus.
Für die Bundesfernstraßen geben wir 8,8 Milliarden DM für Investitionen aus. Wir sehen in diesem Bereich die Trendwende. Wir haben in diesem Bereich die Bahn wesentlich gestärkt.
Es zeigt sich, daß die Bahn gegenüber den Bundesfernstraßen überwiegt. Berücksichtigten wir in diesem Zusammenhang noch die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden, dann hätten wir dort sogar ein Investitionsvolumen von 6,2 Milliarden DM. Ich weiß, daß es Ihnen unangenehm ist, so etwas zu hören. Sie hören das nicht gern. Dennoch führe ich es hier an.Die Bundeswasserstraßen — ein wichtiger Verkehrsträger — werden mit 1,1 Milliarden DM für Investitionen berücksichtigt.
Herr Kollege Bohlsen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Waltemathe?
Herrn Kollegen Waltemathe werde ich das natürlich nicht verwehren.
Vielen Dank! Lieber Kollege Bohlsen, wollten Sie eben zum Ausdruck bringen, daß sich die Milliardensummen, die für Investitionen beim Straßenbau und bei der Bahn ausgegeben werden, auf Strecken beziehen, oder ist es so, daß in den Investitionen für die Bahn auch ganz andere Investitionen, z. B. für Waggons usw., enthalten sind, während bei den Investitionen für den Streckenausbau im Bereich der Bundesautobahnen und Bundesfernstraßen ja nicht die Mittel für die Beschaffung von Lkws mit enthalten ist?
Wenn Sie die Dimensionen sehen, verehrter Kollege Waltemathe, dann sind natürlich hier die Investitionen für die Beschaffung des Transportmittels mit eingerechnet. Aber ich möchte doch Gelegenheit nehmen, an dieser Stelle eine wichtige Zahl zu nennen. Schauen wir auf die neuen Bundesländer: Im Bereich Bahn beträgt der Anteil für die neuen Bundesländer immerhin 7,6 Milliarden DM von 9,6 Milliarden DM. Ich meine, daß diese Zahl sehr wohl Beachtung findet.Wir müssen natürlich im Bereich von Bahn und Schiene neue Wege gehen. Das wird auch durch den Kabinettsbeschluß deutlich, der am 15. Juli dieses Jahres gefaßt worden ist und in dem in Grundzügen die Bahnreform verabschiedet wurde — eigentlich mit dem Ziel der Überführung der Bahn in eine handelsrechtliche Unternehmensform.Meine Damen und Herren, die Bundesfernstraßen sind von Ihnen, Herr Kollege Müller, u. a. mit dem Beisatz angesprochen worden, man müsse die Mittel umschichten. Frau Matthäus-Maier hat in ihrem Beitrag am Dienstag auch noch einmal deutlich gemacht, daß zu teuer und zuviel gebaut würde. Herr Müller, ich bitte Sie: Wenn Sie das ernst meinen, dann stellen Sie doch Anträge und sagen Sie, wo Sie im Westen Maßnahmen zurückgestuft haben möchten. Wir werden diese Anträge dann an die Kollegen in Ihrer Fraktion verteilen. Wir wollen den Aufstand dann auch mit zur Kenntnis nehmen. Ich darf nur daran erinnern: Als vor sechs Jahren der Bundesverkehrswegeplan fortgeschrieben wurde und eine gleiche Absicht von Ihnen geäußert wurde, nämlich 400 Millionen DM herauszunehmen, gab es Aufstand in Ihren Wahlkreisen. Plötzlich wurde das dann alles wieder gestrichen. Das ist die Realität.Meine Damen und Herren, auch im öffentlichen Personennahverkehr gibt es eine deutliche Steigerung der Mittel. Ich will ein weiteres Transportmittel nicht unerwähnt lassen, das wir mehr in den Vordergrund geschoben haben möchten. Ich möchte ein paar Sätze zum Transrapid sagen. Nachdem das Eisenbahnzentralamt in München der Magnetschnellbahn einen Entwicklungsstand dahin gehend bescheinigt hat, daß grundsätzlich technische Risiken nicht mehr vorliegen, muß dieses Projekt jetzt auch in die verkehrspolitischen Planungen einbezogen werden. Bei den Beratungen zum Bundesverkehrswegeplan im Herbst wird daher Gelegenheit sein, hierauf näher einzugehen; ich meine, daß Einsatzreife, Streckenführung und die private Finanzierung hierbei angesprochen werden müssen.
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8932 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Wilfried BohlsenIch will auf die Bundeswasserstraßen eingehen und darauf verweisen, daß hier immerhin Ausgaben in Höhe von 2,56 Milliarden DM veranschlagt sind. Dieser Ansatz liegt immerhin um 229 Millionen DM über dem des Vorjahres. Allein auf Investitionen entfällt hierbei über eine Milliarde DM; das sind immerhin 41,7Mit Blick auf den Umweltschutz — Sie haben das bereits erwähnt — haben die Bundeswasserstraßen eine erhebliche Bedeutung. Wir möchten diesen Verkehrsträger nach wie vor deutlich fördern; denn das Binnenschiff ist ja nun umweltfreundlich, es ist geräuscharm, es verbraucht wenig Energie. Ihre Fraktion wird mir sicher ihre Zustimmung geben, daß das auch so sein muß.Blicken wir aber auf die Realität, dann erkennen wir ein besonderes Faktum. Eine bedeutende Binnenwasserstraße ist der Mittellandkanal mit seiner Weiterführung nach Berlin. Diesen wollen wir für das Europaschiff und für das Großschiff mit einer Breite von 42 Metern ausbauen. Was aber geschieht in der Stadt Hannover, die rot-grün regiert wird. Man will eine 14 Kilometer lange Stadtstrecke nicht in dieser Weise ausbauen. Man will dort bei einem Maß von 32 Metern bleiben. Das würde bedeuten, daß auf einer 14 Kilometer langen Stadtstrecke ein Begegnungsverkehr nicht mehr möglich ist. Wir machen diese Binnenwasserstraße dann zu einer Einbahnstraße. Wenn Sie sich zum umweltfreundlichen Verkehrsmittel bekennen, dann geht mein Appell an Sie, auf Ihre hannoverschen Kollegen einzuwirken, daß dieser Widerstand, der für uns eigentlich unerträglich ist, aufgegeben wird.
Meine Damen und Herren, auch der Seeverkehr hat für uns neben den Binnenwasserstraßen große Reserven. Auch dieser wäre ausbaufähig. Ich glaube, daß insbesondere beim Zusammenwachsen Europas, aber auch bei der Antragstellung anderer Länder, die in die EG hineinströmen, der Wasserweg eine besondere Bedeutung bekommt. Dann wäre auch der Verkehr von Hafen zu Hafen wesentlich zu fördern.Ich will jetzt nicht im Detail auf den Luftverkehr eingehen, erinnere allerdings an die zum 1. Januar 1993 vorzunehmende Veränderung bei der Bundesanstalt für Flugsicherung, die in die Deutsche Flugsicherungsgesellschaft mbH umgewandelt wird. Hier wird mit Unterstützung der Opposition eine Umwandlung geschehen. Wir müssen sehen, wie sich das in der Praxis auswirkt, weil wir ähnliches auch an anderer Stelle vorhaben.Meine Damen und Herren, die deutsche Handelsflotte — auch diese will ich nicht unerwähnt lassen—wird — dafür möchte ich mich bei der Bundesregierung bedanken — durch Finanzbeiträge an die Seeschiffahrt mit einem Volumen von 50 Millionen DM gestützt.
Ich glaube allerdings, daß wir, wenn wir die Bedeutung der Handelsflotte für unser Land sehen, im Haushaltsausschuß noch einmal versuchen sollten, Möglichkeiten zu finden, den jetzigen Ansatz von50 Millionen DM noch ein wenig aufzustocken. Wir wissen, daß wir das Haushaltsvolumen nicht erhöhen dürfen; wir wissen, daß wir Möglichkeiten suchen müssen, eine Deckung hierfür zu finden.Meine Damen und Herren, der Verkehrsetat leistet einen erheblichen Beitrag für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Der Verkehrshaushalt 1993 hat mit seinen Investitionsansätzen das Ziel vorgegeben, Konjunkturimpulse für das gesamte Bundesgebiet auszulösen. Ich meine sehr wohl, daß wir mit dem Einzelplan 12 diesem Ziel wesentlich näherkommen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat die Kollegin Dagmar Enkelmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedauere die Abwesenheit von Herrn Minister Krause außerordentlich. Ich wollte ihm vorweg ein großes Lob zollen; aber vielleicht können die beiden Herren Staatssekretäre das weiterleiten. Ich glaube, seine Lobby-Arbeit im Interesse der deutschen Automobilindustrie hat sich wahrlich gelohnt: Der Verkehrshaushalt erreicht überdurchschnittliche Steigerungsraten. Dafür mein Lob. Ja, damit läßt sich wirtschaften. Im Gegensatz zu Minister Krause ist Bundesumweltminister Töpfer nur zu bedauern. Wir haben bereits vorhin darüber gesprochen. Offensichtlich hatte Herr Minister Krause die günstigeren Karten und das Kabinett hinter sich. Umweltpolitik ist für diese Regierung eben nur ein Feigenblatt.
Welche Argumente mißbraucht Minister Krause nun, um sein Konzept einer vollbetonierten deutschen Republik und damit seinen Haushalt durchzusetzen?
Frau Kollegin Enkelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Waltemathe?
Wenn ich fünf Minuten zusätzlich bekomme, dann ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
So lange wollte ich gar nicht fragen, Frau Kollegin. Ich wollte Sie gern fragen, Frau Enkelmann: Ist Ihnen bekannt, daß der Verkehrshaushalt in Wahrheit nur um 0,2 % steigt? Nur nominal steigt er stärker, weil das Programm Aufschwung Ost in den Verkehrsetat eingerechnet ist. Wenn Sie beide Zahlen berücksichtigen, wächst er nur um 0,2 %.
Ich denke, das ist immer noch genug. — Ich sprach von den Argumenten des Herrn Krause, um seinen Haushalt durchzusetzen. Die Augenwischerei beginnt eigentlich schon da, wo den Bürgerinnen und Bürgern verschwiegen wird, daß drei Viertel des Etats trotz der unbestritten höheren Anforderungen im Osten in den Westen gehen, deutlich mehr Straßen im Westen neu bzw. ausgebaut werden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8933
Dr. Dagmar EnkelmannPopulistisch wirkungsvoll erscheint die Aussage, der Straßenbau im Osten Deutschlands befördere notwendige Investitionen und schaffe Arbeitsplätze. Wer sich wirklich mit offenen Augen im Osten umsieht und nur mit 180 Stundenkilometern im vollklimatisierten Mercedes über die Autobahn rauscht, weiß, daß genau das nicht funktioniert. Viel eher werden auf den schönen neuen Straßen, die vor allem an den Verbindungsstellen zwischen Ost und West ausgebaut werden, Produkte westdeutscher Unternehmen herangekarrt, die durchaus in den Regionen selbst produziert werden könnten. Butter und Fleischwaren aus Schleswig-Holstein in Brandenburg sind, insgesamt gesehen, volkswirtschaftlicher Unsinn; außerdem schmeckt Eberswalder Wurst besser. Es sind für mich nicht begreifbare Mechanismen der Marktwirtschaft, wenn ich die Milch von glücklichen bayerischen Kühen in Brandenburg kaufen kann, obwohl Brandenburger Bäuerinnen und Bauern sehr wohl in der Lage wären, die Bürgerinnen und Bürger selbst mit Milch zu versorgen. Eine restriktive Agrarpolitik verbindet sich hier auf unrühmliche Art mit einer verfehlten Verkehrspolitik.Um Sie mit einem weiteren Beispiel zu belästigen: Spreewaldgurken waren zu DDR-Zeiten Bückware, für Outsider fast nur unter dem Ladentisch zu erhalten. Inzwischen wird ihre Produktion weiter forciert. So weit gut. Die Gurken aber, die verarbeitet werden, kommen jetzt aus Polen. Dafür nimmt man längere Verkehrswege, stundenlange Wartezeiten an der Grenze und auch den Ruin von Spreewaldbauern in Kauf. Hier erweist sich die Marktwirtschaft weder als ökologisch vernünftig noch als sozial. Hauptsache, der Gewinn stimmt. Genau das ist der Knackpunkt.Zahlreiche Beispiele infrastrukturell gut erschlossener, aber jetzt zusammenbrechender Industriestandorte, wie z. B. Eberswalde mit Anschluß an die Autobahn, das elektrifizierte Steckennetz der Reichsbahn und einen Verkehrsflugplatz, beweisen außerdem, daß immer neue Straßen nicht zwangsläufig Investoren anlocken und Arbeitsplätze schaffen.
Dazu gehört wesentlich mehr. Das aber liegt in der Verantwortung der Bundesregierung insgesamt und der Treuhand.Das zweite Argument für immer mehr Straßen ist die Zunahme des Verkehrs. Mehr Verkehr — also müssen neue Straßen her, um die alten zu entlasten. Das scheint zunächst logisch, aber wohl doch nur für einfache Gemüter.Die erste Verkehrsanhörung der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" beschäftigte sich mit Prognosen der Verkehrsentwicklung bis zum Jahre 2010. Danach ergibt sich u. a. folgendes Bild: Die Verkehrsleistungen im Personenfernverkehr auf der Straße werden im Vergleich zum Jahre 1988 um 30 bis 40 % steigen. Beim Güterfernverkehr werden die Steigerungen dagegen bei 95 bis 111 % liegen. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wird sich der Straßenverkehr mindestens verdoppeln. Es gibt einige Prognosen, die sogar von einer Steigerung auf dasDrei- bis Vierfache ausgehen. Selbst die äußerst großzügigen Vorhaben des Verkehrsministers im Straßenbau könnten, eine entsprechende Demokratie ausschaltende Beschleunigung der Genehmigungsverfahren vorausgesetzt, mit einer solchen Verkehrsentwicklung nicht mithalten. Das wird also zu einer weiteren Verdichtung des ohnehin schon hoch verdichteten Straßenverkehrs führen und Herrn Krause, sollte er im Jahre 2010 immer noch Verkehrsminister sein,
was die Wählerinnen und Wähler verhüten mögen, dazu bringen, immer neue Flächen für den Straßenbau zu versiegeln — ein Teufelskreis, der nur durchbrochen werden kann, wenn ein völlig neuer Ansatz für den Haushalt des Verkehrsministers gefunden wird. Dieser Ansatz kann einzig und allein in der Umkehr der bisherigen Verkehrspolitik und nicht in ihrer Fortschreibung liegen.Damit könnte zugleich eine letzte Chance genutzt werden, Fehler, die über Jahrzehnte in der Bundesrepublik auf dem Verkehrsgebiet gemacht wurden und inzwischen auch von Politikerinnen und Politikern, von Expertinnen und Experten eingestanden werden, in den neuen Bundesländern zu vermeiden. Von verbalen Äußerungen, wie sie der Minister z. B. heute morgen getan hat, daß er angetreten sei, verfehlte Verkehrspolitik im Westen zu reparieren, bleibt real wenig übrig. Im Gegenteil, er tut alles dafür, um dem Osten beschleunigt die westlichen Verkehrsstandards aufzuzwingen.Es ist also allerhöchste Eisenbahn, ein ökologisches integriertes Verkehrskonzept auszuarbeiten und umzusetzen, das die Priorität eindeutig auf die Punkte Verkehrsvermeidung und Verkehrsverlagerung setzt. Eine drastische Reduzierung der Verkehrsleistung im motorisierten Individualverkehr ist über eine Siedlungs- und Strukturpolitik der kurzen Wege möglich, deren wichtigstes Einsparpotential bei den Fahrzwekken im Alltagsleben, beim Berufs-, Ausbildungs- und Einkaufsverkehr, liegt. Notwendig ist eine Struktur- und Städtebaupolitik, die die Trennung von Wohnen und Arbeiten weitgehend aufhebt, auf überschaubare Stadtquartiere mit sehr viel geringerem Verkehrsaufkommen abzielt, Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten in Wohnnähe befördert.Voraussetzung für eine ebenso notwendige Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene und auf die Verkehrsmittel des Umweltverbundes ist der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs zu effektiven, fahrgastfreundlichen Netzen bei Preisen, die unter denen des motorisierten Individualverkehrs liegen. Die Bahn muß als öffentliches Dienstleistungsunternehmen erhalten bleiben — mit dem Ziel, den Verkehr auch in der Fläche abzudecken, einen kombinierten Verkehr vor allem in Form von „Bike and Ride" zu ermöglichen und gleichzeitig die schnelle Bewältigung aller wichtigen Städteverbindungen zu gestatten.Aber auch bei der Bahn zeichnet sich die Bundesregierung durch Konzeptionslosigkeit aus. „Privati-
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8934 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Dr. Dagmar Enkelmannsierung" heißt das Zauberwort; ungeklärt aber bleibt beispielsweise nach wie vor, woher die u. a. vom Deutschen Städtetag geforderten Ausgleichszahlungen für die Übernahme des öffentlichen Personennahverkehrs durch die Gebietskörperschaften in Höhe von ca. 11 Milliarden DM kommen sollen. Klar ist nur eines: daß sich insbesondere die finanzschwachen Kommunen in Ostdeutschland den Luxus eines intakten Nahverkehrsnetzes nicht mehr leisten können.Maßnahmen eines alternativen Verkehrskonzepts ergeben sich weiterhin im Bereich Fahrzeugtechnik sowie im Güterverkehr. Die Gruppe PDS/Linke Liste wird in wenigen Wochen einen entsprechenden Antrag im Bundestag einbringen. Vielleicht bietet er Herrn Minister Krause und den Herren im Verkehrsministerium eine ganze Reihe von Anregungen, um aus der verfahrenen Kiste Verkehr wieder herauszufinden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster hat der Kollege Werner Zywietz das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland — so meine ich — hat als Wirtschaftsstandort einen guten, einen sehr guten Ruf zu verteidigen. Es ist nach dem Glücksfall der deutschen Einheit nicht einfacher geworden, das Prädikat „Made in Germany", das Ausmaß von Import und Export, und den Wohlstand, der damit einhergeht, zu sichern. Ich glaube, das ist nicht strittig. Ich meine, es kann auch gar nicht strittig sein, daß eine gute Infrastruktur zwar nicht die alleinige, aber doch eine sehr wesentliche Voraussetzung für eine arbeitsplatzsichernde und arbeitsplatzschaffende wirtschaftliche Entwicklung ist. Wenn es so ist, daß unser Wohlstand weitgehend im Import und im Export, d. h. in der Weltwirtschaft und auf den Weltmärkten erarbeitet werden muß — nur die Ware zu produzieren reicht nicht; sie muß auch verkauft werden, und das geschieht weitestgehend auf den Weltmärkten —, dann brauchen wir eine gute Verkehrsinfrastruktur — Herr Müller, ansonsten habe ich Ihre Ausführungen, was die Sache und auch die humorige Art anbelangt, sehr gern verfolgt — und auch einen guten Verkehrsbezug zu den uns umgebenden Staaten.Ich weiß wie Sie und wie wir alle um die Problematik in der EG. Das ist unbestritten. Aber nachdem Willy Brandt einmal zu Recht gesagt hat, daß wir ein Volk guter Nachbarn sein wollen, wollen wir einen Neidkomplex, was die Verkehrsbezüge und Verkehrsanbindungen zu den Nachbarstaaten anbelangt überhaupt nicht erst aufkeimen lassen.
Ein Teil dieses Wohlstandes hängt auch am guten Verkehrsbezug zum Umland. Wir haben, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, allein auf dem Lande so viele Nachbarn wie kein anderer Staat in Europa. Ich habe einmal nachgezählt. Wir haben zu zehn oder elfStaaten direkte Landverbindung. Dies per Schiene und per Auto vernünftig zu gestalten ist auch ein Stück Wohlstandssicherung für die 80 Millionen deutschen Bürger.
Deswegen sollten wir damit ganz behutsam umgehen und hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten.Die paar Minuten Redezeit, die ich hier habe, der 5-Minuten-Takt, eigenen sich nicht, Frau Kollegin von der PDS, für eine Neiddiskussion über Dienstwagen klimatisierter Art oder eine Ost-West-Neiddiskussion. Wir müssen uns vielmehr ein paar ganz nüchterne Fakten vor Augen führen.Ich bin felsenfest davon überzeugt — so sehen wir das von der F.D.P. —, daß dieser Haushalt in seiner Größenordnung und in seiner Struktur eine gute bis ausgezeichnete Voraussetzung ist, um wirtschaftliches Zusammenwachsen und wirtschaftliche Prosperität im vereinten Deutschland zu liefern. Wenn man sich die Zahlen anschaut, stellt man fest, daß dieser Haushalt vom Volumen her mittlerweile Platz 4 erreicht hat. Es ist also ein Spitzenhaushalt. Es ist ein Investitionshaushalt. Es ist einer der Haushalte mit den größten Zuwachsraten. Hier könnte man nachdenklich werden. Nur die Versorgungsaufwendungen sind schneller gewachsen als dieser Etat. Das heißt, daß wir für Personal und dessen spätere Versorgung mehr ausgeben als für diesen die Zukunft sichernden Teil mit seinen extrem hohen investiven Anteilen. Es bleibt zu wünschen, daß in der Umsetzung dieses Haushalts möglichst viele mittelständische Unternehmen aus dem Umfeld all dieser Investitionsprojekte — ob Straße, Schiene, Wasserstraße oder Flughäfen — eine gute Beschäftigung bekommen. Das ist zu hoffen.
Die Planung ist gemacht. Mit Blick auf das Haus sage ich: Mit diesen Großprojekten, der Beschleunigung, den Investitionsmaßnahmen hat das Parlament erhöhte Verantwortung übernommen, für unseren Teil füge ich hinzu: gern übernommen. Wir tragen mehr Verantwortung, damit es in diesem Bereich für die Bevölkerung schneller besser wird. All das kann ich nur unterstützen.Der Bundesverkehrswegeplan, der die Perspektive zu den einzelnen Maßnahmen gibt, liegt vor. — Ich muß auf die Uhr schauen. — So weit, so gut. Die guten Maßnahmen werden nicht am Gelde scheitern. Auch das kann man hinzufügen. Aber man muß sagen: Das Ganze muß jetzt umgesetzt werden. Dabei schaue ich jetzt in Ihre Richtung. Richtige Macher sind jetzt gefragt. Nachdem Planung, Konzepte, Richtung und Finanzen weitgehend — ich sage nicht: ausschließlich — geregelt sind, muß jetzt gebaut und umgesetzt werden — das ist wichtig —, damit wir bald eine Autobahn beispielsweise an der Ostsee entlang bis Rostock, Stettin und weiter haben. Aber ich füge vielleicht etwas bildhaft hinzu: Es kommt, wenn wir eine Autobahn nach Rostock haben, auch darauf an, daß man gerne hinfährt und dort investiert und nicht
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8935
Werner Zywietzdurch Ereignisse und Demonstrationen, wie wir sie leider hatten, abgeschreckt wird.
Es trifft sich nämlich Vergangenheitsbewältigung auch damit, daß für eine gute Zukunft auch die Psyche stimmen muß. Die Investition ist das eine, und die Psyche, das Wollen, ist das andere. Ich erinnere mich an den Sport. Wenn Boris Becker verliert, hat er noch nie gesagt, daß es an den Beinen liegt. Er sagt immer: Es liegt am Kopf, an der Psyche, an der Leistungsbereitschaft.
Jetzt liegt es an der Redezeit.
Ich sage hier: Die Investitionen sind in Ordnung. Gehen wir nun an die Umsetzung, und zwar mit Schwung und nicht mit der Verzagtheit, die hier zuweilen deutlich geworden ist.
Als nächster hat nun der Kollege Dr. Feige das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Minister der Bundesregierung scheuen keine Mühe und kein Geld, die Politik der Regierungskoalition unter die Leute zu bringen. Dem „Spiegel" vom 31. August dieses Jahres entnahm ich folgenden Erlebnisbericht über einen solchen Vororteinsatz eines Ministers:
Verkehrsminister Krause nutzte schon den Auftritt in Grimma, um sich als Stimmungskanone zu probieren. Der Erfolg war mäßig. Allein im letzten Jahr, erläuterte der Minister, habe die Bundesregierung im Straßenbau Ost mehr Geld verbaut als die SED in 10 Jahren. Keine Hand rührte sich zum Applaus.
Beim Ausbau der Reichsbahn, legte Krause nach, sei die Bilanz noch besser. In einem Jahr sei mehr ausgegeben worden als früher in 15 Jahren.
Der Saal blieb stumm. Erst als ein Rentner sich vom Sitzplatz erhob, kam Stimmung auf. „Dieser Verkehr", schimpfte der Mann, „macht doch nur unsere Kinder krank." Der Applaus wollte nicht enden.
Soweit ein Zitat aus dem „Spiegel".
Dieser Gegenwind, meine Damen und Herren, wird der Bundesregierung in den nächsten Wochen und Monaten zunehmend entgegenblasen. Was in den alten Bundesländern längst zu den allgemeinen Negativerfahrungen zählt, läßt sich nach einer ersten Euphorie auch in den neuen Bundesländern nicht mehr durch schöne Reden vom Aufschwung Ost zudecken. Die Verkehrspolitik der Bundesregierung zerstört zunehmend die Grundlagen des Lebens von Menschen und Natur in unserem Land. Das wurde sogar in der Enquete-Kommision festgestellt.
Kollege Feige, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Feige, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich als Kreisvorsitzender der CDU Grimma diese Veranstaltung organisiert hatte,
daß es eine sehr erfolgreiche Veranstaltung mit über 200 Besuchern war und daß es dort mehrmals langanhaltenden Beifall für den Bundesverkehrsminister gegeben hat?
Ich stehe nicht im Widerspruch zu Ihnen. Ich habe soeben vorgelesen, daß es dort langanhaltenden Beifall gegeben hat. Wir stimmen völlig überein.
Herr Kollege Feige, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller?
Ich bitte darum.
Herr Kollege, würden Sie mir zustimmen, daß die Geschichte, selbst wenn bei ihr nicht alles stimmt, gut war und alles stimmen könnte?
Es ist schwierig, darauf zu antworten. Ich möchte einfach nur sagen: Man sollte solche Geschichten einfach nehmen. Sie passieren hier oder dort, manchmal zugunsten der einen oder der anderen Seite. Sie sind Symptome für das, was in den Köpfen der Leute vorgeht, und das sollten wir ernst nehmen.
Manchmal möchte ich den Worten des Ministers Krause ja sogar Glauben schenken. Ich möchte ihm manchmals glauben, wenn er im Kreise der Ihren von Kostenwahrheit im Verkehr oder vom unsinnigen Gegeneinander von Ökologie und Ökonomie spricht. Ich möchte ihm glauben. Nur, die verbalen Anleihen bei den Grünen werden durch den vorgelegten Mammuthaushalt im Verkehrsbereich mit einem Volumen
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8936 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Dr. Klaus-Dieter Feigevon nahezu 44 Milliarden DM, wie ich glaube, doch unglaubwürdig.Auch wenn ich gehört habe, daß die Steigerung um nominal 11 % in Wirklichkeit fast eine Stagnation bedeutet, muß ich sagen: Angesichts der Gesamtsparleistung, die im Bundeshaushalt enthalten ist, handelt es sich in der Realität doch um eine Erhöhung. Es ist, glaube ich, müßig, Kritik an Einzelpositionen des Verkehrshaushaltes zu üben; denn ich meine, er ist vom Ansatz her vernunftswidrig und basiert auf einer falschen und ideologisch belasteten Mobilitätsphilosophie — nicht auf meiner.
Ich könnte hier die Pläne mit Bezug auf hohe Investitionen im Schienenbereich, die genannt wurden, hervorheben, wenn diese aber nicht den Fernstreckenausbau befördern und zusätzliche Mobilität provozieren würden.Alles, was wir in unserer Auseinandersetzung auch im Rahmen der Enquete-Kommission gehört haben, läßt sich wie folgt zusammenfassen. Es gibt nach der Konferenz von Rio — auch davor war das längst bekannt — nur eine Alternative. Sie heißt: Verkehr vermeiden.Ich bin es leid, immer wieder die Manie des Autobahnneubaus zu kritisieren. Inzwischen haben es die Bürgerinnen und Bürger der vom Autobahnneubau bedrohten Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern sowie in den alten und neuen Ländern an verschiedenen Orten längst begriffen: Die denkbaren Vorteile für ihre Kommunen werden durch Luftverschmutzung, Lärm, Gesundheitsgefährdung und ausbleibenden Zuzug oder Tourismus mehr als aufgefressen.Ich freue mich übrigens, daß Dr. Krause jetzt hereinkommt, auch wenn es nicht um seinen Haushalt geht.Man denkt dabei, glaube ich, in diesem Zusammenhang noch nicht immer so, doch immer öfter.
— Sie lachen. Ich möchte Sie z. B. einfach einmal an die unter Sachaspekten gebildete Große Koalition in Berlin erinnern.
[SPD]: Wir
lachen, weil wir Herrn Krause nicht finden!)Auch in dieser Hinsicht hat es vor kurzer Zeit ein Erlebnis für mich gegeben. Wie können Sie mit Ihrer neuen Beweglichkeit — ist das der Ausdruck neuer Beweglichkeit? — in Berlin akzeptieren, daß die Straßen, in denen, glaube ich, nicht zu Unrecht damals von einer Koalition der Verkehr auf Tempo 30 zurückgesetzt wurde, jetzt wieder für Tempo 50 freigegeben sind? Ich weiß nicht, was los ist. Ist Ihr Konzept nicht von der Basis getragen? Auch die Euphorie z. B. von Herrn Engholm für die A 20, die er mit dem Kollegen teilt, steht doch ein bißchen im Widerspruch zu Ihrem Konzept. Der Riß scheint ganz schön groß zu sein. Vielleicht sollte er darüber nachdenken. Aber bitte schicken Sie ihn nicht auf den Petersberg. Dabei kommt nichts Gutes heraus.
Auch Welthandel muß sein. Aber ich glaube, die Dimension, die der Welthandel eingenommen hat, ist doch ein Ergebnis des Raubbaus mit niedrigen Transportkosten insgesamt. Ich glaube, daß sich das, was wir an fossilen Brennstoffen verbrauchen, doch in einem erheblichen Maße auf die Gesamtsituation der Welt auswirkt. Es wird immer weniger Länder, gerade in der Dritten Welt, geben, wo es überhaupt noch lebenswerte Bedingungen gibt. Wir können einfach nicht dabei mitmachen, das in Kauf nehmen zu wollen. Wir sollten endlich umzudenken beginnen.Natürlich bin ich nicht blind. Ich sehe die Realität in der Bundesrepublik. Dazu gehören in einem gewissen Umfang auch noch die Autobahnen. Kaum jemand, der ein Auto besitzt, glaubt heute, auf dieses verzichten zu können, obwohl mittlerweile die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik alleine auf den Vordersitzen aller bei uns fahrenden Autos Platz finden würde. Dennoch bricht die Front derjenigen, die glauben, daß es zum Individualverkehr keine Alternative gibt, langsam, aber sicher auf. Die Bürgerinnen und Bürger begreifen immer mehr, daß sie selbst die Opfer der Massenmotorisierung sind. Gerade in den verschiedensten Städten und Ballungszentren zeigen die Demonstrationen in der letzten Zeit, wie ernst es ihnen ist.Immer mehr Kreuze entlang der Bundesstraßen und Autobahnen — die Autofahrer werden das sehr deutlich mitbekommen haben — erinnern an eine schreckliche Bilanz. Seit 1953 sind über 500 000 Menschen in der Bundesrepublik durch den Straßenverkehr ums Leben gekommen. Mehr als 5 Millionen Menschen trugen Verletzungen davon.Auch der Trend zu PS-starken Autos führt dabei zu einem überproportionalen Anstieg der Zahl von Verkehrsopfern. Dieser Trend ist ungebrochen. Auch wenn die Straßen durch diese oder jene Vorrichtung — Herr Krause spricht manchmal von intelligenten Einrichtungen — sicherer werden, der zunehmende Verkehr macht alle diese Anstrengungen zunichte. Die Statistiken, die darüber existieren, lügen nicht.Das Leid, das von den vielen Verkehrsunfällen ausgeht, wird aber in Zukunft noch durch eine inzwischen schon seit Jahren bekannte Gefahr übertroffen. Der Kohlendioxidausstoß durch den Verkehr hat inzwischen direkt und indirekt bereits knapp ein Drittel der Gesamtemissionen erreicht. Einer Studie des Umweltbundesamtes kann man entnehmen, daß auf Grund von Dr. Krauses Verkehrsphilosophie der Anteil der verkehrsbedingten Emissionen bis zum Jahre 2005 um weitere 50 % zunehmen wird. Ich frage Sie: Was ist dann mit dem, was Herr Töpfer heute vormittag auch noch einmal verteidigt hat? Eigentlich ist er mir die Antwort darauf schuldig geblieben, ob die Regierungsposition immer noch existiert, bis zum Jahre 2005 die Gesamt-CO2-Immission in diesem Land um 25 % bis 30 % zu senken. Diese Antwort ist uns die Bundesregierung schuldig.Wenn die Bundesregierung den nicht erst seit Rio eingeleiteten weltweiten Erkenntnisprozeß ernst
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Dr. Klaus-Dieter Feigenimmt, gibt es auch für sie zur Verkehrsvermeidung keine Alternative. Es sind also alle Mittel, die neuen Verkehrsfluß provozieren, unter den Bedingungen einer so unmäßigen, verdeckten Subventionierung des Automobilverkehrs eine politische Altlast der Industrienationen. Selbst der schamhafte Ausgleich für die Länder der Dritten Welt ist nach der UNCED-Konferenz einfach lachhaft.Ein Beispiel: Die im Entwicklungshilfeetat für multilaterale Hilfe im Rahmen internationaler Vereinbarungen zum weltweiten Umweltschutz vorgesehenen 58 Millionen DM würden national gerade für acht Kilometer Autobahn ausreichen.Der Bundesverkehrsminister fordert nun ein neues Gesamtverkehrssystem, das sich auf eine Kooperation von Auto, Bahn und Schiff stützt. Doch ein Konzept, das lediglich die Übergänge zwischen verschiedenen Verkehrsträgern verändert, beseitigt nicht die Ursachen der Mobilität. Die Zersiedelung, die immer größere Trennung von Wohn- und Arbeitsbereichen und die tagtägliche Weckung von Pseudobedürfnissen sind die eigentlichen Verursacher von Verkehr. Hier sollte die Verkehrspolitik ansetzen. Nach Durchsetzung einer konsequenten Verkehrsvermeidungspolitik wird dann die Rückbesinnung auf diesen Haushalt und auf den damit verbundenen Bundesverkehrswegeplan Herrn Dr. Krause die Schamröte vermutlich nicht nur ins Gesicht treiben.
Herr Krause sollte auf den Umweltminister hören, der Anfang September vor einer Anhörung des Bundesfachausschusses Umweltpolitik der CDU Sofortmaßnahmen gegen den drohenden Verkehrskollaps forderte. Seine Forderung nach Verzicht auf vermeidbare Autofahrten, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und die stärkere Nutzung der Schiene sind jedoch mit dem politischen Instrument der Beschleunigung des Verkehrsplanungsrechts wahrlich nicht zu schaffen. Kommt Herr Krause mit seinen Bemühungen im Bundestag durch, das Mitspracherecht der Bevölkerung bei Planungsvorhaben noch mehr einzuschränken — da haben mich auch die Worte von Herrn Töpfer nicht abgeschreckt, das zu sagen —, dann werden Sie noch mehr Geld brauchen, um seine Pläne umzusetzen.Abschließen möchte ich damit: Eine andere Verkehrspolitik ist ein Beitrag für die Diskussion um die Reformen im Gesundheitswesen. Wenn es dort einzusparen gilt, dann, so meine ich, ganz besonders durch die Verkehrsvermeidungsstrategie. Die Folgen der Gesundheitsschädigung insbesondere bei Kindern in städtischen Ballungszentren sind so erheblich, daß dort bereits erhebliche Mittel vorzusehen sind.Ich denke, daß ich zum Schluß eine ganz billige Investition noch einmal in Erinnerung rufen sollte. Sie kostet nichts, und sie schafft uns 1,3 % CO2-Reduktion zusätzlich. Das sind die Idealmaße 30-80-100. Geschwindigkeitsbegrenzung ist die einzige Alternative, die wir kostenlos und sofort bekommen. Ich bitte Sie, in diesem Sinne muß das umgesetzt werden. Ich sehe keine Alternative.Spaß beiseite! Die Situation ist ernst. Herr Krause, denken Sie, wenn Sie das nachlesen oder jetzt zuhören, an den alten Herrn in Grimma! Mancher in der Bevölkerung wird es bald drastischer formulieren. Sie haben ja noch die Chance, bis zur zweiten oder dritten Lesung den Haushalt zurückzuziehen oder irgend etwas Ernsthaftes vorzulegen. Wir werden Sie in der Suche nach neuen Lösungen mit unseren Anträgen unterstützen. Aber so ein Angebot bekommen Sie nach 1994 nicht noch einmal.Schönen Dank.
Nun hat die Kollegin Elke Ferner das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! In zehn Minuten Redezeit kann ich mich leider nicht mit allen Bereichen der Verkehrspolitik und des Haushalts befassen. Aber bei einem Blick auf den Einzelplan 12 stellt man sehr schnell fest, daß das eine verkehrspolitische Bankrotterklärung ist.
Die drängendsten Probleme hat mein Kollege Müller schon benannt. Der vorliegende Haushaltsentwurf trägt keinem dieser Probleme Rechnung. Anstatt eine Wende in der Verkehrspolitik einzuleiten, machen Sie so weiter wie bisher. Ein integriertes Gesamtverkehrskonzept fehlt. Der neue Verkehrswegeplan setzt weiter auf den massiven Zubau von Straßen. Die von Minister Krause verkündeten höheren Investitionen für die deutschen Bahnen im Vergleich zum Straßenbau stellen sich bei näherem Hinsehen als Luftnummer heraus.
Darüber können auch Sonntagsreden — ich erkläre es Ihnen gleich, lieber Kollege — über umweltgerechte Mobilität, die von den konkreten Handlungen dieser Regierung täglich Lügen gestraft werden, nicht hinwegtäuschen.Herr Töpfer hat heute in der Umweltdebatte sehr eindrucksvoll das Verursacherprinzip eingefordert. In der Verkehrspolitik sind Sie davon meilenweit entfernt. Das Sommertheater, besser gesagt, das Trauerspiel um die Einführung von Autobahngebühren, Vignetten oder Straßenbenutzungsgebühr zur Finanzierung der Bahnreform macht die verkehrs- und finanzpolitische Konzeptlosigkeit von Regierung und Koalition deutlich.
Unseren Warnungen zum Trotz haben Sie die Einführung einer Schwerverkehrsabgabe mit der Absenkung der Kfz-Steuer für LKW gekoppelt. Der EuGH hat Ihnen dafür eine saftige Abfuhr erteilt. Witzigerweise stehen aber im Haushalt der Bundesanstalt für Güterverkehr immer noch Personalkosten zur Erhe-
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8938 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Elke Fernerbung dieser Schwerverkehrsabgabe, obwohl wir keinen Pfennig davon bekommen.Eine europäische Regelung, welche die Steuerharmonisierung mit der Freigabe der Kabotage im Güterverkehr koppelt, ist knapp vier Monate vor Inkrafttreten des Binnenmarkts immer noch nicht in Sicht. Das Verwirrspiel in der Sommerpause kann auch niemanden darüber hinwegtäuschen: Das Finanzierungskonzept für die Bahnreform haben Sie nicht, und haushaltspolitisch sind Sie am Ende.Liebe Kollegen und Kolleginnen, auch mit der von Ihnen propagierten Privatfinanzierung versuchen Sie weitere Schattenhaushalte zu eröffnen. Ich weiß, daß sich einige sozialdemokratisch geführte Landesregierungen mit der Privatfinanzierung von für sie wichtigen Infrastrukturmaßnahmen einverstanden erklärt haben. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Privatfinanzierung für die Verkehrswegeinfrastruktur im besten Fall eine Zeitersparnis bringt. Der Preis dafür ist allerdings hoch. In der Summe ist die Privatfinanzierung für die öffentliche Hand teurer; denn die Kapitalgeber wollen ja auch etwas verdienen.
Der Kapitalmarkt wird nicht entlastet, im Gegenteil. Haushaltsmittel werden auf lange Zeit gebunden und somit auch der parlamentarischen Kontrolle entzogen.Liebe Kollegen und Kolleginnen, anstatt mit dem Haushalt 1993 eine Wende bei der Verteilung der Investitionen zwischen Straße und Schiene einzuleiten, setzen Sie weiterhin auf mehr Straßen. Statt dessen sollten Sie die bundesdeutschen Bahnen für die Anforderungen fit machen, die auch mit dem EG-Binnenmarkt auf uns zukommen. Seit 1960 wurden 450 Milliarden DM in den Bau und Ausbau von Fernstraßen und Autobahnen gebuttert. In Gleisanlagen wurden gerade 52 Milliarden DM investiert. Heute haben wir zweieinhalbmal so viel Autobahnkilometer wie 1960. Bei der Bahn wurden Strecken stillgelegt.Jetzt müßte aber geklotzt und nicht gekleckert werden, wenn es um den Neu- und Ausbau der Schieneninfrastruktur geht. Die ist nicht nur für den Personenverkehr wichtig, sondern auch für den Güterverkehr. Die Stichworte sind hierzu: Güterverteilzentren, Verknüpfung von Schiene, Straße und Wasser, weitere Förderung des Kombiverkehrs, Erweiterung — das ist das Wichtigste — der Kapazitäten auf der Schiene.Nun erklärt Bundesminister Krause der staunenden Öffenlichkeit, im Haushalt 1993 stünden für Bundesbahn und Reichsbahn zusammen rund 9,6 Milliarden DM für Investitionen in die Schieneninfrastruktur zur Verfügung, während für die Straßen „nur" — ich sage das in Anführungszeichen — 8,9 Milliarden DM investiert würden. Er verschweigt aber, daß in diesen 9,6 Milliarden DM für die Reichsbahn noch rund 3,1 Milliarden DM sogenannte allgemeine Investitionszuschüsse und 1,95 Milliarden DM für Zuschüsse zum Abbau von Instandhaltungsrückständen bei der Reichsbahn stecken. In Wahrheit stellt der Bund also nur 4,6 Milliarden DM für den Streckenaus- und -neubau des Schienennetzes, und zwar bis in die Fläche hinein, zur Verfügung, während allein für die Bundesfernstraßen und die Bundesautobahnen 8,9 Milliarden DM ausgegeben werden. Das ist fast das Doppelte. Da kann nun wirklich der Dümmste nicht mehr glauben, daß es hier um eine Erhöhung der Mittel für die Schiene im Vergleich zur Straße geht.
Diesen Straßenbaumitteln von Bundesseite muß man natürlich auch noch die Ausgaben für Landes-, Kreis- und Gemeindestraßen hinzurechnen, die nicht aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. Dann wird das wahre Ausmaß erst richtig deutlich. Das ist nach der Steuerlüge der Bundesregierung die Bahnlüge von Herrn Krause.
Wir wollen, daß Straße und Schiene endlich gleichgestellt werden. Über das von uns eingebrachte Schienenwegeausbaugesetz, mit dem der Bund endlich Verantwortung für das Schienennetz übernehmen kann, werden wir an einem anderen Tag diskutieren. Dieses Gesetz wird aber die Ungleichbehandlung von Schiene und Straße beseitigen und die Verantwortung für die Schienenwege mit gleicher Rechtsverbindlichkeit dem Bund zuschreiben. In der Realität geht die Schere zwischen Schiene und Straße, wie wir gesehen haben, im Moment allerdings noch auseinander.Liebe Kollegen und Kolleginnen, Sie bieten auch keine Lösungen für die Probleme der Menschen an. Seit Jahren beantragen wir bei den Haushaltsberatungen, einen Haushaltstitel für den Lärmschutz an bestehenden Schienenwegen einzurichten. Dies wurde von der Mehrheit des Hauses mit der Begründung abgelehnt, es gebe kein entsprechendes Gesetz. Eben habe ich noch den Kollegen Fischer gesehen. Er hat in den letzten Haushaltsberatungen im Ausschuß zugesagt: Aber in 1993 machen wir etwas; dann ist das drin.Was sehen wir jetzt?
Für den Lärmschutz an Bundesfernstraßen stehen 105 Millionen DM zur Verfügung — das ist wenig genug —, für den Lärmschutz an bestehenden Schienenwegen null. In den Ausschußberatungen werden wir dann sehen, ob wir den Kollegen Fischer beim Wort nehmen können, ob die Koalition endlich an dieses wichtige Thema herangeht, auch Geld dazu zur Verfügung stellt.Außerdem gibt es ein einstimmiges Votum des Petitionsausschusses, Mittel für den Lärmschutz an bestehenden Schienenwegen im Haushalt 1993 bereitzustellen. Ich hoffe, daß die Verkehrspolitiker der Union dem einstimmigen Votum des Petitionsausschusses folgen werden.
Ein Lichtblick des Haushalts sind die Mittel nach dem GVFG. Daß auf kommunaler Ebene nun der ÖPNV und der kommunale Umweltverbund verstärkt
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Elke Fernergefördert werden können, ist aber keineswegs eine Wohltat der Bundesregierung. Das ist das Ergebnis der Verhandlungen der Länder im Steuerpaket 1991.Der Bundesfinanzminister „freut" sich auch schon wieder auf den Wegfall der erhöhten Mittel ab 1996. Die Städte und Gemeinden brauchen aber eine Planungssicherheit über das Jahr 1995 hinaus, weil die Projekte, die sie jetzt angehen, eben nicht in drei, vier Jahren zu realisieren sind, sondern über längere Zeit hinweg gebaut werden müssen. Ich hoffe sehr auf Ihre Unterstützung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, daß diese Mittel über 1995 hinaus verstetigt werden.
Es sind auch bessere Rahmenbedingungen zu setzen. Dazu ein Beispiel: Während ein Jobticket steuerlich ein geldwerter Vorteil ist, sind Firmenparkplätze — oft in zentraler Lage und, wenn man ehrlich ist, mit einem Geldwert von wahrscheinlich 150 bis 200 DM, je nachdem, in welcher Stadt sie zur Verfügung gestellt werden — eine kostenlose Zugabe. Ich denke, solche Stellschrauben brauchen wir, um wirklich zu einer Gleichbehandlung aller Verkehrsträger zu kommen.Auch bei der anstehenden Regionalisierung versucht der Bund, die Lasten auf die Gebietskörperschaften abzuwälzen. Schon heute werden die Leistungen der Bahn im schienengebundenen Personennahverkehr nicht adäquat ausgeglichen. Ich sage Ihnen aber: Ohne eine massive finanzielle Verantwortung des Bundes für eine Regionalisierung kann es keine Regionalisierung geben. Dann würde der schienengebundene Personennahverkehr auf der Strecke bleiben.Ich hätte jetzt gern noch etwas zum Thema Verkehrssicherheit gesagt, wo die mit der Verkehrssicherheit beauftragten Verbände jeweils 6 Millionen DM zur Verfügung gestellt bekommen, der Verkehrsminister aber 26 Millionen zur Verfügung hat. Da muß man sich wirklich fragen, ob der autoverliebte Minister Krause, der nach eigenen Angaben gerne und schnell Auto fährt, wirklich so gut dazu geeignet ist, Verkehrsteilnehmer zu rücksichtsvollem und angepaßtem Fahren zu animieren.Ich glaube, Sie sollten endlich anfangen, Ihre Hausaufgaben zu machen, damit wir mit einer menschengerechten, umweltschonenden und sozialverträglichen Verkehrspolitik anfangen können und somit Mobilität auf Dauer sichern können.
Als nächstes hat der Kollege Manfred Kolbe das Wort.
Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst drei kurze Anmerkungen zur bisherigen Debatte machen.Erstens. Frau Enkelmann, Herr Feige, Frau Ferner, kommen Sie doch einmal nach Grimma. Sie werden dann Verkehr nicht mehr als Pseudobedürfnis bezeichnen. Ich kann Ihnen von dieser Veranstaltung berichten: Den größten Applaus hat der Bundesverkehrsminister erhalten,
als er für Grimma endlich die langersehnte Umgehungsstraße angekündigt hat. Herr Feige, Sie müßten das doch besser wissen; auch Sie wohnen doch im Osten.Zweitens. Dreißig Kilometer von Grimma entfernt liegt Leipzig. Gestern hat der F.D.P.-Vorsitzende Graf Lambsdorff gesagt — ich zitiere —:Die Stadt Leipzig, so hört man, gewährt der Stadt Hannover einen Kredit von 100 Millionen DM. Wie sollen die Bürger im Lande eine solche Diskussion verstehen?Richtig ist vielmehr, daß die Stadt Leipzig niemals einen Kredit an die Stadt Hannover gewährt hat. Leipzig hat lediglich zweimal für einen Zeitraum von unter einem Monat einen Betrag von jeweils 10 — nicht 100 — Millionen DM kurzfristig bei einer Finanzgesellschaft geparkt, und zwar deshalb, weil die Städte im Freistaat Sachsen ihre Schlüsselzuweisungen quartalsmäßig bekommen und deshalb natürlich kurzfristig Kassenguthaben entstehen.Jeder Haushälter weiß, daß die Kassensituation nichts über die Vermögenssituation aussagen muß. Ich glaube, diese Richtigstellung ist schon notwendig, damit hier nicht Fehlinformationen die Stimmung vermiesen.
Lassen Sie mich drittens noch ein kurzes Wort zu den vielumstrittenen West-Ost-Transfers sagen; auch da machen wir es uns unnötig schwer. Der Bundesfinanzminister hat am Dienstag gesagt, daß der Bundeshaushalt mit 92 Milliarden DM den größten Finanztransfer für die östlichen Bundesländer leistet. Brutto ist das richtig, sieht man einmal davon ab, daß dort z. B. auch die Position für den Parlaments- und Regierungssitz Berlin enthalten ist, worüber sich streiten läßt. Diese 92 Milliarden DM zeigen auch, daß der Bund bei weitem den größten Teil der Einheitslasten trägt und die Länder sich vornehm zurückhalten. Dies kann nicht so bleiben!Wir müssen aber auch sehen — darum würde ich auch bitten —, daß der Nettotransfer wesentlich geringer ist: rund 35 Milliarden DM Steuereinnahmen im Osten, rund 10 Milliarden DM einigungsbedingte Steuermehreinnahmen im Westen, rund 10 Milliarden DM eingesparte Teilungslasten. Auch dies sollte man berücksichtigen und ab und zu auch den Nettotransfer beziffern. Der liegt wesentlich niedriger.Lassen Sie mich jetzt zum Einzelplan 13 kommen. Nach dem Eckwertebeschluß der Bundesregierung soll die Ausgabensteigerung bis 1996 auf 2,5 % jährlich begrenzt werden. Für den Einzelplan 13 wird dies 1993 voll verwirklicht werden. Gegenüber dem Haushalts-Soll von 1992 von 541 Millionen DM erhöhen sich die Ausgaben für 1993 nur urn 12 Millionen DM, also nur um 2,3 %. Der Einzelplan 13 erbringt also eine außerordentliche Einsparleistung. Dies ist um so
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Manfred Kolbebemerkenswerter als der Personalkostenanteil im Einzelplan 45 % gegenüber nur 12 % im gesamten Bundeshaushalt beträgt und die Personalkosten überproportional ansteigen.In einer Haushaltsdebatte zum Standort Deutschland können natürlich Post und Telekommunikation nicht außen vor bleiben. Lassen Sie mich deshalb mit dem heute wichtigsten Kommunikationsmittel, dem Telefon, beginnen.Wie sah es noch 1990, vor nur zwei Jahren, aus? Während 92 % aller Haushalte in der alten Bundesrepublik ein Telefon hatten, waren es in der ehemaligen DDR nur 17 %. Schlußlicht war der ehemalige Bezirk Dresden mit 14 %, Herr Modrow — er ist nicht da. DDR-Bürger warteten auf ein Telefon länger als auf ein Auto, und darauf wartete man schon bis zu 16 Jahre. 2 000 kleinere Ortschaften hatten noch nicht einmal eine Telefonzelle.
— Da war sogar der Bundespostminister zu optimistisch, denn ich habe aus seinen Papieren die Angabe von 16 Jahren entnommen.Besonders beschränkt wurde der Telefonverkehr zwischen beiden Teilen Deutschlands, wie ich aus persönlicher Erfahrung weiß. Die Menschen sollten nicht miteinander sprechen, und wenn schon, dann überwacht. Von Ost- nach Westdeutschland — man höre und staune — gab es daher ganze 111 Telefonleitungen.Nach der Einheit wird die Deutsche Bundespost Telekom das Fernmeldenetz im Osten bis zum Jahre 1997 mit einem Investitionsvolumen von ca. 60 Milliarden DM zum modernsten Telekommunikationsnetz der Welt ausbauen.
— Jawohl. 1991 wurde das digitale Overlay-Netz in Betrieb genommen, das eine enge Vermaschung der Vermittlungsstellen zwischen Ost und West erreicht.Während noch im Oktober 1990 nur 5 % der Wählverbindungsversuche beim ersten- oder zweitenmal erfolgreich waren, kamen zum Jahresende 1991 schon 75 % aller Verbindungen beim ersten oder zweiten Wählversuch zustande. Das ist gerade auch für die Abgeordneten aus den östlichen Bundesländern eine wesentliche Erleichterung ihrer Arbeit, Herr Minister. Insgesamt wurden 1991 555 000 Telefonanschlüsse für neue Kunden eingerichtet. Allein 153 000 Geschäftskunden haben einen neuen Telefonanschluß erhalten. Ende 1991 bestanden im Osten schon 2,4 Millionen Telefonanschlüsse gegenüber nur 1,7 Millionen in 1989.Die Deutsche Bundespost Telekom war 1991 der größte Einzelinvestor im Osten mit einem Investitionsvolumen von 7 Milliarden DM. Um die Zahl zu verstehen, muß man sehen, daß die gesamte Industrie leider nur 13 Milliarden DM investiert hat. Also einDrittel aller Investitionen geht auf die Telekom zurück!Die Ausbaumaßnahmen werden 1992 weitergehen. Das Investitionsvolumen wird auf 9 Milliarden DM ansteigen, da mittlerweile die Grundlagen für einen fortschreitenden Ausbau geschaffen worden sind. Die Telekom beabsichtigt, 1992 ca. 600 000 Telefonanschlüsse einzurichten, so daß bis Ende 1992 insgesamt ca. 3 Millionen Telefonanschlüsse in den östlichen Ländern zur Verfügung stehen werden.
Die Umstellung auf das gesamtdeutsche Ortsnetzkennzahlensystem läuft. Von West nach Ost ist sie abgeschlossen, von Ost nach West ist sie im Gange; in Berlin haben wir eine einheitliche Vorwahl.Auch das Unternehmen Deutsche Bundespost Postdienst wird bis 1995 ca. 4 Milliarden DM für die Erneuerung der Dienstleistungsinfrastruktur in den östlichen Bundesländern aufwenden. Mein Dank gilt von hier aus auch den vielen Mitarbeitern aus dem Osten, die dies bewerkstelligen, und auch denen aus dem Westen, die dort helfen, teilweise unter schwierigen Bedingungen ohne richtige Wohnung und unter der Trennung von Familienangehörigen.
Post und Telekommunikation haben somit die infrastrukturellen Rahmenbedingungen für den hoffentlich stärker einsetzenden Aufschwung in den östlichen Ländern gesetzt.
Nun hat Bundesminister Schwarz-Schilling das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jeder, der die Weltentwicklung aufmerksam verfolgt, weiß, daß Telekommunikation heute sozusagen die „Infrastruktur der Infrastruktur" ist und daß eigentlich nichts läuft — wirtschaftlich, verwaltungsmäßig —, wenn nicht ein entsprechendes Telekommunikationsnetz, insbesondere Telefonnetz, da ist.Ich glaube, daß wir, wenn wir den Standort Deutschland in diesen Zusammenhang bringen, sagen können, daß wir im Westen eine ziemliche Aufholjagd mit dem internationalen Standard vornehmen müssen, wenn ich an die Digitalisierung denke. Und im Osten haben wir — das wurde hier eben erfreulicherweise auch gut anerkannt — eine beispiellose Aufbauarbeit in modernster Technik geleistet, die wir auf den ältesten Bestand von Technik, noch funktionierend, was wir sonst eigentlich nur in Museen gesehen haben, aufgepfropft haben. Das ist eine besondere technische Leistung; denn das ist fast schwieriger, als ein neues Netz irgendwo zu errichten.Ich bin Herrn Kolbe auch besonders dankbar, daß er das einmal hervorgehoben hat. Ich war bisher eigentlich immer schon zufrieden, wenn ich bei den Gesprä-
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Bundesminister Dr. Christian Schwarz-Schillingchen der Wirtschaftsminister und der Ministerpräsidenten der fünf neuen Bundesländer beim Bundeskanzler seit etwa anderthalb Jahren nicht mehr an erster Stelle aufgerufen wurde und eine beispiellose Beschimpfung bekommen habe, daß ich eigentlich schuld daran sei, daß soundso viele Investitionen überhaupt nicht funktionieren, weil die Unternehmer alle weggelaufen sind.
Plötzlich wurde ich seit etwa einem Dreivierteljahr nie mehr aufgerufen. Dafür war ich dann schon dankbar. Aber es gibt auch manchmal Leute, die sich daran erinnern und sagen, was geleistet wurde. Ich möchte mich dafür bedanken, daß es einmal gesagt wurde.
Wir hätten dies nicht geschafft, wenn wir nicht geradezu in letzter Minute die Postreform 1989 vorgenommen hätten, die diese drei Unternehmen in die Selbständigkeit gelassen und sie in den Stand gesetzt hat, sofort, am 3. Oktober 1990, eine gesamtdeutsche Einheit für jedes der drei Unternehmen zu werden, im Unterschied z. B. zum Verkehrswesen.Wir haben zusätzlich sichergestellt, daß eine moderne Infrastruktur im Bereich des Post- und Telekommunikationswesens gewährleistet wurde. Das hatten wir schon vor dem 3. Oktober durch die Postunion und die Gespräche mit der damaligen DDR-Verwaltung auf den Weg gebracht.Ich möchte auch noch ein weiteres sagen, was diese Postreform insgesamt gebracht hat. Das Investitionsvolumen privater Unternehmen im Mobilfunk- und Satellitenbereich, den wir durch Lizenzierungen auch dem Wettbewerb geöffnet haben, wird von 1991 bis 1998 auf fast 15 Milliarden DM geschätzt. Diese Investitionen könnten ohne eine Liberalisierung überhaupt nicht getätigt werden. Die Zahl der Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen hat sich vom 31. Januar 1991 von 66 auf insgesamt 168 — Stand 29. Juli 1992 — fast verdreifacht. Das ist auch eine Entwicklung, die ohne diese Reform nicht möglich gewesen wäre.Wir haben bereits die Zahlen der Beträge gehört, die im vorigen Jahr investiert worden sind. Im Jahre 1992 sind es annähernd 10 Milliarden DM in den neuen Bundesländern und 20 Milliarden DM in den alten; 30 Milliarden DM an Investitionen. In den neuen Bundesländern haben wir, wie gesagt, im vergangenen Jahr 500 000 neue Anschlüsse geschaffen. In diesem Jahr werden es wahrscheinlich 600 000 werden. Wir werden bis 1997 einen Bestand von 7,2 Millionen Anschlüssen haben. Das wäre dann etwa die Dienstleistung, die wir auch im Westen gewohnt sind.Aber nicht nur die notwendige Infrastruktur wird in einer Geschwindigkeit aufgebaut, die ihresgleichen sucht. Mit diesen Milliardeninvestitionen hat die Telekom zudem einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet, um den Wachstumsmotor in den neuen Bundesländern auf Touren zu bringen.
Sie sichert in großem Umfang Arbeitsplätze, über 40 000 im eigenen Unternehmen — denn die haben wir ja praktisch alle übernommen — und rund 50 000 durch die Aufträge an Firmen in den neuen Bundesländern. Allein im vergangenen Jahr vergab die Telekom Aufträge im Wert von 2,3 Milliarden DM an Firmen mit Sitz in den neuen Bundesländern, davon fast die Hälfte an Unternehmen des Handwerks, der mittelständischen Industrie und des Handels, worauf wir besonderen Wert legen. Es ist natürlich klar, daß sich die Zulieferbetriebe in den neuen Bundesländern erst einmal auf die neue Systemtechnik einstellen müssen, um solche Aufträge entgegennehmen zu können. Das ist ein Lernprozeß. Wir können bei dem Zwang, die Zeitachse für den Ausbau der Netze in jedem Falle zu halten, natürlich nur denjenigen Aufträge geben, die sie auch ausführen können; und es können nicht alle mit dem ersten Schlag. Das ist, wie gesagt, ein Lernprozeß.
Ich habe mich gefreut, daß ich im vergangenen Monat, als ich in Thüringen mit den Vertretern der Industrie- und Handelskammern und der Handwerkskammern zusammengetroffen bin, in diesem Bereich auch eine wesentliche Verbesserung feststellen konnte. Dort wurde mir gesagt, daß man heute schon einen festen Stamm von Handwerksbetrieben habe, die ihre Existenz auf diesen Aufträgen gründen konnten und nunmehr auf einem guten Wege sind, durch Aufträge anderer Auftraggeber in entsprechender Weise zu rentablen Unternehmen zu werden.Aber auch die Postdienste darf man hier nicht vergessen. Sie haben alle 70 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den neuen Bundesländern übernommen, aber sie haben bisher nur 2,2 Milliarden DM Umsatz bei Kosten von 3,3 Milliarden DM. Trotzdem investieren sie 1 Milliarde DM in diesem einen Jahr.Sie errichten neue Frachtzentren, um ein modernes logistisches System in der ganzen Bundesrepublik zu installieren, um den sehr tüchtigen privaten Paketunternehmen, die wir in Deutschland haben, Paroli bieten zu können. Es werden 33 Frachtzentren errichtet, davon 8 in den neuen Bundesländern. 30 % der Gesamtinvestitionen für die elektronische Ausstattung dieser Zentren werden von einer Siemens-Tochter in Chemnitz geliefert, und zwar in modernster Technik.Lassen Sie mich auch sagen: Es war schon beachtlich, mit welcher Motivation die Leute von hier in die fünf neuen Bundesländer gegangen sind. Sie hatten plötzlich Freiräume, die sie gar nicht gekannt haben. Sie mußten nämlich richtig improvisieren. Sie mußten plötzlich Entscheidungen treffen, die sonst immer nur oben getroffen wurden.
Die Leute dort haben gemerkt: Mensch, die helfen uns wirklich. — Ich muß sagen: Vor Ort hat das Zusammenwachsen der Menschen aus West und Ost meistens sehr viel besser geklappt, als wir es in irgendwelchen Zeitungen gelesen haben. Das möchte ich einmal deutlich sagen.
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Bundesminister Dr. Christian Schwarz-SchillingHeute befinden sich über 3 000 Beschäftigte aus den alten Bundesländern in den neuen Bundesländern. Viele wollen sich für ihre gesamte Berufslaufbahn dort engagieren und dort bleiben. Auch das ist eine Situation, von der wir anfangs gar nicht geglaubt haben, daß sie zustande kommt.Daß ich hier über die 60 Milliarden DM für den Osten und die 200 Milliarden DM bis 1998 insgesamt spreche, ohne daß wir in einzelnen Ausschüssen riesige Diskussionen haben, ist dem Umstand zu verdanken, daß die Finanzierung nicht über den Bundeshaushalt, sondern durch die Kraft dieser Unternehmen gewährleistet wird. Dadurch entstehen natürlich ungeheure Schwierigkeiten; denn welches Unternehmen investiert mehr als die Hälfte seines Umsatzes? Telekom hat Einnahmen von 50 Milliarden DM und investiert in diesen Jahren 30 Milliarden DM pro Jahr. Das ist eine Situation, vor der kein anderes Unternehmen steht.Von daher ergeben sich besondere Finanzprobleme. Diese besonderen Finanzprobleme können wir unter den derzeitigen Bedingungen sicherlich nur dann lösen, wenn wir neue Finanzierungsmöglichkeiten in Betracht ziehen, wenn wir privates Kapital mit hereinnehmen. Darüber laufen Gespräche. Wir hoffen, daß wir dem weltweiten Trend folgen können. Wir haben in den EG-Ländern bereits acht Unternehmen, die auf dem Feld der Telekommunikation rein privatrechtlich tätig sind. Wir haben den Schätzungen zufolge 25 staatliche Unternehmen, die bis 1995 privatisiert werden. In den 80er Jahren waren es Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, Chile, Dänemark, Großbritannien, Hongkong, Irland, Israel, Japan, Kolumbien, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Pakistan, Spanien, Venezuela; ich kann diese Aufzählung weiter fortführen. Im Osten sind natürlich Ungarn, die Tschechoslowakei, Polen und die baltischen Staaten zu nennen. Wir können auf diesem Sektor nicht zu einer Museumsinsel staatlicher Verwaltung werden und uns sozusagen einbalsamieren lassen, sondern wir müssen diesem Trend schnellstens folgen, denn die Märkte werden heute und nicht morgen aufgeteilt. Deswegen ist es so eilig.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir aus den geschilderten Gründen in diesen Fragen zügig vorangehen müssen. Ich hoffe, daß wir bei der notwendigen Grundgesetzänderung zu einer Zweidrittelmehrheit in diesem Bundestag kommen. Ich habe den Eindruck, daß wir alle wirklich ernsthaft über diese Frage sprechen, und ich hoffe, daß das Ganze von Erfolg gekrönt sein wird.Lassen Sie mich zum Abschluß sagen: Ich glaube, der Weg, den wir eingeschlagen haben, ist richtig. Ich glaube, daß diese Art von Infrastruktur als Dienstleistung für alle unbestritten ist. Ich denke, daß die Flächendeckung bei der Telekommunikation und auch bei den Postdiensten innerhalb kürzester Zeit, in den nächsten zwei, drei Jahren, in den neuen Bundesländern erreicht sein wird. Ich darf mich bei allen bedanken, die uns dabei positiv und konstruktiv begleiten.
Nun hat der Kollege Peter Paterna das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn sich der Herr Bundespostminister die letzten zwei Minuten erspart hätte, hätte es zwischen uns beiden eine Premiere im Deutschen Bundestag gegeben, denn ich hätte nämlich gesagt: Ich stimme Ihnen, Herr Minister, ausdrücklich zu, und dann hätte ich mich wieder hingesetzt. Das geht nun leider nicht mehr.Zuzugeben ist — ich denke, die Fairneß gebietet es, das festzustellen —, daß es nach meinem Urteil außer Post und Fernmeldewesen keinen Bereich gibt, in dem so schnell und so durchgreifend etwas getan worden ist, was zu deutlichen Verbesserungen führt und was Voraussetzung für den Aufbau in den neuen Bundesländern ist. Aber das Beispiel lehrt gleichzeitig auch, daß die Annahme der Bundesregierung, man müsse da einfach nur marktwirtschaftliche Verhältnisse schaffen und dann würde sich das alles im freien Spiel der Kräfte fein entwickeln, natürlich nicht stimmt. Es ist vielmehr so, daß für das Entstehen marktwirtschaftlicher Strukturen, für das Entstehen mittelständischer Strukturen Infrastruktur notwendig ist. Zu dieser Infrastruktur gehören Gas, Wasser, Strom, saubere Böden und Gewässer, Telekommunikation, eine funktionierende Verwaltung, innere Sicherheit, also Polizei und sonstige Sicherheitskräfte. All dies entsteht nicht selbstverständlich im freien Wuchs, sondern ist Voraussetzung für eine soziale marktwirtschaftliche Ordnung.Insofern denke ich — wir haben das im Ausschuß und auch im Infrastrukturrat Sitzung für Sitzung kritisch-konstruktiv begleitet —, daß auf diesem Gebiet wirklich Beispielhaftes geschehen ist. Wir können die Bundesregierung nur ermuntern, in dem Tempo, in dem sich das bisher vollzogen hat, auch weiterhin zu fahren.Aber wenn der Minister es sich nun nicht verkneifen kann, aus dieser positiven Erfahrung gleichzeitig abzuleiten, man müsse die Deutsche Bundespost nun um so schneller privatisieren, dann ist dies ein Salto mortale; denn gerade dieses Beispiel lehrt ja, daß es sich eben nicht um einen x-beliebigen wirtschaftlichen Sektor handelt, sondern um einen Sektor, der unserer besonderen Pflege, Fürsorge und staatlichen Verantwortung bedarf.
Die Bundespost findet nicht umsonst im Grundgesetz Erwähnung. Die entsprechende Vorschrift regelt nicht nur die Zuständigkeit, sondern sie bringt auch zum Ausdruck, daß Post- und Fernmeldepolitik grundgesetzlich geschützten Werten — von der Gemeinwohlorientierung, über die Sozialpflichtigkeit, den Gleichbehandlungsgrundsatz bis insbesondere hin zur Infrastrukturverantwortung — verpflichtet ist. Diese Infrastrukturverpflichtung wird nicht zu Ende sein, wenn es Ende 1996/97 gelungen sein wird, etwa den Qualitätsstandard in der Post- und Fernmeldeversorgung herzustellen, wie wir ihn in den alten Bundesländern gewohnt sind, sondern er bleibt dauernde Aufgabe, um gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Teilräumen der Bundesrepublik Deutschland
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Peter Paternain ihrer größeren Form weiterhin zu sichern. Da wir alle, wenn wir uns etwas intensiver mit dem Bereich beschäftigt haben, wissen, daß die Kostenstrukturen der Verkehre in den Ballungsräumen und zwischen ihnen einerseits und in den ländlichen Räumen andererseits extrem unterschiedlich sind, muß man sehr vorsichtig darangehen, rein wettbewerbliche Strukturen zu schaffen, ohne öffentliche, demokratisch legitimierte Kontrolle, weil sonst dieser Infrastrukturauftrag verlorenzugehen droht.Ich wehre mich dagegen, Herr Minister, sich immer nur nach der Rosinenpickermethode mal so ein Feld herauszusuchen und jetzt meinetwegen die Telekom zu vergleichen mit NTT und ATT oder was weiß ich — France Telecom haben sie bemerkenswerterweise ausgelassen; sie ist nämlich gerade eben eine Anstalt des öffentlichen Rechts geworden, wie wir sie auch vorschlagen —, und dann aber die übrigen Ergebnisse dieser volkswirtschaftlichen Philosophien völlig hintanzustellen. Es mag ja sein, das AT & T wirklich wettbewerbsfähig ist. Aber wollen Sie denn eine deutsche Gesellschaft à la amerikanische Gesellschaft mit all den negativen Folgen, die damit verbunden sind? Das wollen Sie doch wohl nicht. Selbst wenn NTT international wettbewerbsfähig ist, wollen wir damit noch nicht automatisch das japanische Wirtschaftssystem.
Also wir wollen, wenn wir einzelne volkswirtschaftliche Sektoren und einzelne Unternehmen betrachten und für sie zukunftsträchtige Strukturen schaffen, dies doch bitte in allgemeine, größere gesellschaftspolitische Zusammenhänge stellen und uns das nicht ganz so einfach machen, wie Sie das eben getan haben.Vielen Dank.
Als nächste hat die Bundesministerin Hannelore Rönsch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr dankbar, daß ich zu Beginn der Beratungen meines Haushaltes reden darf, weil mir dies heute die Gelegenheit gibt, einmal einige grundsätzliche Ausführungen zu machen und nicht nur erwidern zu müssen auf die Beiträge der Kolleginnen und Kollegen in der Haushaltsdebatte.Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Zeiten knapper Haushaltskassen und großer Herausforderungen ist es durchaus verständlich, wenn darüber diskutiert wird, ob wir unser soziales Netz inzwischen an der einen oder anderen Stelle vielleicht nicht schon zu feinmaschig geknüpft haben.Als Bundesministerin für Familie und Senioren trage ich für vier wesentliche Säulen unserer sozialen Ordnung Verantwortung, die ganz erhebliche Lasten tragen.Da ist zunächst und vor allem die Familie. Sie ist die von den meisten Menschen bevorzugte Lebensform, und sie erbringt unentbehrliche und durch andere nicht ersetzbare Leistungen. Der Markt indessen honoriert diese Leistungen nicht. Gerade hier muß die staatliche Gemeinschaft einen Ausgleich schaffen, sonst geraten Familien gegenüber Kinderlosen ins Hintertreffen: beim Lebensstandard, am Arbeitsmarkt und bei der Altersversorgung.Unsere Solidarität mit den älteren Menschen ist in anderer Weise gefordert. Die Rente ist Lebenslohn für Arbeitsleistung. Aber auch jenseits des Erwerbsalters wollen Senioren am gesellschaftlichen Leben teilhaben, sie wollen integriert bleiben. Materielle Absicherung und gesundheitliche Versorgung sind wichtig. Dazu gehört neben der finanziellen Sicherung vor allem auch die Qualität und ein ausreichendes Angebot an Pflegeleistungen. Nicht weniger wichtig ist älteren Menschen aber auch das Gefühl, mit ihren Fähigkeiten gebraucht, mit ihrer Lebenserfahrung gefragt und mit ihren Vorstellungen ernstgenommen zu werden. Hier brauchen wir neue politische Konzepte für die Integration der Älteren und für das Zusammenleben der Generationen.Das Bundessozialhilfegesetz ist einer der wichtigsten Bausteine unserer Sozialstaatsverfassung. Sozialhilfe ist Ausdruck unserer Solidarität mit jenen Menschen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, in unserer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht selbst helfen können. Sozialhilfe verhindert, daß Menschen in Armut abgleiten, und stellt nicht nur die materielle Existenzgrundlage sicher, sondern ermöglicht auch die Teilhabe am sozio-kulturellen Leben. Gleichwohl muß es unser vorrangiges Ziel sein, Bedürftigkeit vorzubeugen, anstatt sie zu verwalten.Die Förderung der Verbände der freien Wohlfahrtspflege schließlich trägt dazu bei, daß soziale Dienste und Einrichtungen in unserem Land unabhängig vom Staat in pluraler Trägerschaft angeboten und ausgebaut werden können. Wie sonst nur noch die Vereine in unserer Freizeitkultur sind die Verbände der freien Wohlfahrtspflege in der Lage, das ehrenamtliche Engagement von Millionen unserer Mitbürger zu mobilisieren.
Die Bedeutung dieser vier großen Aufgaben ist unübersehbar, gerade wenn es unser fester Wille ist, im wiedervereinigten Deutschland einheitliche Lebensverhältnisse zu schaffen. Ich halte es für ausgesprochen notwendig, in der Familien- wie in der Seniorenpolitik, bei der Weiterentwicklung des BSHG und bei der Zusammenarbeit mit der freien Wohlfahrtspflege die Erfahrungen, die Sichtweisen und Erwartungen der Menschen in den fünf neuen Bundesländern besonders aufmerksam aufzunehmen und zu berücksichtigen.
Unsere Politik muß den Familien in den neuen Bundesländern den Rücken stärken, sie muß auf ihre Bedürfnisse eingehen, und sie muß Antworten geben auf Fragen, die dort gestellt werden. Zu Recht erwarten gerade die älteren Menschen gerade auch in den neuen Bundesländern, voll- und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben des vereinten Deutschland teilhaben zu können, und ich denke, gerade diese Generation, ganz besonders diejenigen Menschen, die in den Altenheimen und Altenpflegeeinrichtun-
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Bundesministerin Hannelore Rönschgen leben, haben es verdient, daß wir so schnell wie möglich die ungeheuer bedrückenden Lebensumstände, in denen sie existieren und teilweise — man muß das Wort gebrauchen — vegetieren müssen, zu andern.
Wir sind alle aufgerufen, auch Maßstäbe zu setzen und die Folgen des über 40jährigen SED-Unrechtsregimes rasch zu beseitigen.
— Aber selbstverständlich! Wir sind doch die ganze Zeit dabei. Ich würde mir wirklich wünschen, Herr Kollege,
daß Sie der Sozialpolitik einmal größere Aufmerksamkeit widmen könnten, gerade der Seniorenpolitik, dann wäre Ihnen nicht entgangen, daß wir an dieser Stelle schon ganz Erhebliches getan haben.
Sie müßten doch wissen, was in 40 Jahren DDR-Diktatur gerade mit den alten Menschen, die nicht mehr im Berufsleben standen, gemacht wurde, wie sie verwahrt wurden, wenn sie den Lohn für die Arbeitsleistung ihres Lebens haben wollten — ich würde Ihnen wirklich empfehlen, sich das einmal vor Ort anzusehen,
ich bin ganz, ganz sicher, daß dann Ihr Engagement vielleicht auch etwas stärker werden würde.Aber lassen Sie mich, meine sehr geehrten Damen und Herren, auf die Sozialpolitik und auch auf die Sozialhilfe zurückkommen! Auch und gerade den alten Menschen in den neuen Bundesländern müssen wir deutlich machen, daß auf Sozialhilfe ein Rechtsanspruch besteht,
damit sie nicht Scham empfinden, wenn sie die Sozialhilfeämter in Anspruch nehmen, wenn sie Hilfe benötigen. Die Sozialhilfe muß einen neuen, anerkannten Stellenwert erhalten. Die sozialen Dienste und Einrichtungen müssen in freier und pluraler Trägerschaft angeboten werden.
Es könnte zur Versachlichung auch mancher akademisch geführten Diskussion beitragen, wenn Eiferer ihre Ansichten und Forderungen auch einmal an den Erfahrungen der Menschen in den neuen Bundesländern prüfen würden.Ich habe diesen Satz hingeschrieben, als ich noch nicht wußte, daß Ihr Zwischenruf kommen würde. Aber er paßt an dieser Stelle haargenau. Ich bitte Sie, sich wirklich vor Ort einmal mit dem Schicksal der älteren Menschen auseinanderzusetzen. Meine Bitte richtet sich natürlich ganz besonders an die Kolleginnen und Kollegen auf der ganz linken Seite, denn sie haben über 40 Jahre miterfahren und miterlebt, was mit diesen alten Menschen gemacht wurde, ohne einzugreifen und ohne etwas zu unternehmen.
Es mag sein, meine sehr geehrten Damen und Herren zur linken Seite dieses Hauses, daß Sie wesentlich mehr Erfahrungen haben, weil Sie vielleicht dichter am System gewesen sind. Wir haben die Tiefe der Schwierigkeiten nicht erkennen können. Ich bin in den vergangenen 30 Jahren in jedem Jahr in der ehemaligen DDR gewesen; ich habe die Zustände der Heime, in denen alte Menschen, in denen behinderte Menschen zusammen untergebracht wurden, vor der Maueröffnung nicht erfahren und erleben können.Meine sehr geehrten Damen und Herren, allein in der kurzen Zeitspanne dieses Jahres ist zum Thema Ehe und Familie höchst Widersprüchliches in die Öffentlichkeit getragen worden. Da gab es etwa vor fast genau drei Wochen eine von allen Medien ausführlich behandelte Aktion mit dem Ziel, gleichgeschlechtliche Partnerschaften amtlich mit Trauschein als Ehe anzuerkennen. Andere wiederum vertreten den Standpunkt, die Ehe sei überhaupt ein auslaufendes Modell ohne Zukunft. Und es ist für mich teilweise ausgesprochen interessant gewesen, daß es oft dieselben Personengruppen waren, die sich einerseits mit Vehemenz für die gleichgeschlechtliche Ehe eingesetzt haben, andererseits aber immer noch von der Ehe als einer überholten Institution gesprochen haben. Das materielle Privileg der Ehe lasse sich nicht mehr rechtfertigen, so wird manchmal behauptet, und alle Lebensgemeinschaften müßten rechtlich und auch materiell gleichgestellt sein. Aus einer dritten Ecke werden daraufhin Zweifel an der Gerechtigkeit und der Sinnhaftigkeit von Familienpolitik ganz generell geäußert. All diese Skeptiker erheben sich nicht nur über das von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung gewählte Lebensmodell, nein, sie verkennen auch die vielfältigen und erheblichen Entlastungsfunktionen, die Ehe und Familie gegenüber der Gesamtgesellschaft wahrnehmen.Ich vertrete ja nun hier den viertgrößten Einzelhaushalt, und ich sage es immer wieder gerne, weil dieser Haushalt deutlich macht, welchen Stellenwert gerade diese Bundesregierung der Familienpolitik und den Zuwendungen für die Familie beimißt.
Ich denke, daß wir uns darin einig sind, daß mit Erziehungsgeld, mit Kindergeld, mit Erziehungsurlaub, mit Unterhaltsvorschuß, Familienberatung usw. den Bedürfnissen der Familien auch entsprechend Rechnung getragen wird.Ich möchte zu den Leistungen noch hinzurechnen, was beim Bundesfinanzminister ressortiert, nämlich die Ausbildungsfreibeträge, das Ehegattensplitting und die Kinderfreibeträge. Ich erwähne dies einmal, weil es vielen gar nicht so gegenwärtig ist und weil sich in vielen Durchschnittsfamilien angesichts der von mir eingangs genannten Botschaften natürlich oft die berechtigte Frage stellt: Sollen die InstitutionenDeutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8945Bundesministerin Hannelore RönschEhe und Familie in Zweifel gezogen werden? Soll ihre Förderung eingeschränkt oder vielleicht sogar abgeschafft werden? Oder geht es manchmal einfach nur darum, den Kreis der Berechtigten ganz unabhängig davon zu erweitern, ob sie bereit sind, auch die rechtlichen und materiellen Bindungen und Verpflichtungen zu übernehmen?Ich denke, wir dürfen nicht zulassen, daß vor allem Familien mit mehreren Kindern und Alleinerziehende von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt werden.
Wir müssen durchsetzen, daß der Staat, daß Wirtschaft und Gesellschaft mehr als bisher Rücksicht auf die Familien nehmen, auf ihre Bindungen, auch auf ihre Belastungen und auf ihre Verletzlichkeit. Bei manchen habe ich den Eindruck, Familie ist für sie ein politisch wichtiges Thema erst dann, wenn sie in Not geraten ist und wenn sie scheitert, wenn es in Überforderungssituationen zu Fehlverhalten bis hin zur Gewalt gekommen ist. Selbstverständlich muß sich Familienpolitik auch gerade um diese Familien kümmern.Im Mittelpunkt der Familienpolitik sollte aber die ganz normale Familie stehen, weil sie Lebensmittelpunkt und Lebensziel der allermeisten Menschen in unserem Land ist.Ich hätte gerne noch mehr Zeit, um grundsätzlich mit Ihnen zu diskutieren, denn ich denke, wir sollten uns gerade auch hier im Plenum darüber unterhalten, daß wir nicht nur Politik für Randgruppen machen, sondern auch für die Menschen, die sich tatsächlich Ehe und Familie als Lebensziel gesetzt haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit der Schaffung des Ministeriums für Familien und Senioren hat Bundeskanzler Helmut Kohl 1991 Signale gesetzt, die dem Altersaufbau, der Demographie Rechnung tragen. Und ich denke, daß wir mit der Arbeit in diesem Ministerium der Bedeutung einer aktiven, zukunftsgestaltenden Seniorenpolitik auch entgegenkommen. Ich halte nichts von den düsteren Szenarien angeblicher Alterslast, Szenarien, die z. B. bei Kongressen der SPD von einer erdrückenden Mehrheit der über 60jährigen zu Beginn des nächsten Jahrhunderts ausgehen.Ich denke, wir brauchen Strukturveränderungen in unserer Gesellschaft, und wir müssen alles dazu tun, daß der Generationenvertrag weiterhin eingehalten wird, aber auch daß sich die Generationen nicht auseinanderdividieren lassen. Wir müssen an die Bereicherung denken, die durch das entsteht, was alte Menschen mit in die Gesellschaft einbringen können.
Wir haben deshalb einen Bundesaltenplan entwikkelt, und dieser Bundesaltenplan hat gerade bei den älteren Menschen großen Zuspruch erfahren.
Ich wundere mich über Ihre Freude darüber; denn auch aus Ihren Reihen haben sehr, sehr viele KollegenBriefe geschrieben und um die Einrichtung von Seniorenbüros gebeten, die in diesem Bundesaltenplan auch vorgesehen sind. Es war mir ganz klar: Sie wollen auch in Ihren Reihen die Seniorenbüros.
— Frau Fuchs, darüber werden wir uns noch ausführlich unterhalten. Mir läuft die Zeit weg, und ich hatte vor, noch so viel Grundsätzliches zu sagen. Doch möchte ich noch einmal kurz auf die Seniorenbüros eingehen.Das zeigt mir, daß Sie alle — Sie wissen hoffentlich, daß Bundesministerien nur modellhaft fördern können — aufgerufen sind, in Ihren Kommunen diese Arbeit für die Senioren zu leisten, diese Seniorenbüros einzurichten. Die Bundesregierung und mein Ministerium können dies nur modellhaft tun. Und wir werden an vielen weiteren Stellen in der Bundesrepublik Seniorenbüros einrichten, so wie es im Rahmen unserer Modellförderung möglich ist.Ein seit Jahren aufgestauter Reformdruck macht eine Weiterentwicklung des Sozialhilferechts erforderlich. Ein Referentenentwurf unseres Ministeriums zur Reform des Sozialhilferechts wird zur Zeit innerhalb der Bundesregierung beraten. Ihm liegen Leitvorstellungen zugrunde, die von der Fachwelt nahezu einhellig als problemangemessen begrüßt worden sind. Wesentliches Ziel der Novelle ist, daß wir die Grundsätze der Prävention in der Sozialhilfe künftig noch stärker betonen als bisher.Wir wollen zum anderen unbestreitbare Defizite in der Sozialhilfepolitik abbauen und gleichzeitig die besonderen Verhältnisse in den neuen Bundesländern berücksichtigen.
Ich bin mir bewußt, daß neben der Position der Leistungsberechtigten auch die der Leistungserbringer berücksichtigt werden muß. Ich bin allerdings nicht bereit, angesichts der Defizite in der Sozialhilfepolitik lediglich eine Einsparungsnovelle vorzulegen, so wie es von manchen Kommunen und einzelnen Bundesländern gefordert wird, die einseitig den Interessen der Leistungserbringer entsprechen würde. Wir haben ohnehin schon auf eine Reihe sehr erwägenswerter Veränderungen, die bei den Anhörungen vorgebracht worden sind, verzichtet, um den Entwurf nicht zu überfrachten.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bitte um Zustimmung zu einem Haushalt, der in ganz besonderem Maße dazu beitragen kann, Solidarität erfahrbar zu machen, Solidarität mit Familien, die unsere Zukunft sichern, Solidarität mit der älteren Generation, die geschaffen hat, worauf wir aufbauen, und Solidarität mit den Schwächeren in unserer Gesellschaft, die sich selbst nicht helfen können.Ich danke Ihnen.
Ich habe versäumt, Ihnen mitzuteilen, daß wir jetzt die Haushalte Familie und Sozialpolitik beraten; das haben Sie aber
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Vizepräsidentin Renate Schmidtfestgestellt. Jetzt hat dazu die Kollegin Anke Fuchs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen von Frau Rönsch geben mir doch Anlaß, das zu tun, was ich mir eh vorgenommen hatte. Ich hatte gedacht, die Rede ist so spannend, daß ich alles umwerfen muß. Aber sie hat im Grunde so geredet, wie ich gedacht habe. Deshalb kann ich dabei bleiben, daß ich in dieser verbundenen Debatte versuche, Bilanz zu ziehen.Wir haben hier drei Tage Haushaltsberatungen hinter uns. Ich habe ziemlich viel zugehört, angefangen bei der Rede des Herrn Finanzministers. Ich möchte eigentlich eine politische Bilanz zu ziehen versuchen und komme dann auch noch auf das, was Frau Rönsch gesagt hat. Am Ende der Haushaltsdebatte - so zeichnet es sich heute ab — weiß die Öffentlichkeit eigentlich immer noch nicht, wie es um die Staatsfinanzen steht, sie kann es sich aber denken. Wir, die Opposition, haben es von Ihnen, nämlich der Bundesregierung, nicht erfahren.Wir denken, daß Sie hier ein Stück aufführen, das den Titel trägt: „Denn sie wissen nicht, was sie tun", und am Ende kommen Steuererhöhungen heraus, meine Damen und Herren.
„Sie wissen nicht, was sie tun" war, wie viele sich erinnern, ein Kassenschlager im Kino in den 50er Jahren. Heute bezeichnet dieser Slogan die leeren Kassen des Haushalts 1993. Sie bieten keine Perspektive für die Zukunft, auch, Frau Rönsch, keine über den Tag hinausgehenden, wegweisenden Entscheidungen. Und mir ist dabei klargeworden, meine Damen und Herren: Ihr Problem sind nicht nur die leeren Kassen, Ihr Problem ist, daß Sie über 10 Jahre hinweg allmählich den Anschluß an die gesellschaftliche Wirklichkeit verloren haben.
Die Koalition wird getragen von drei Parteien, die alle in der Vergangenheit leben. „Mit uns zurück in die 50er Jahre! " — Das ist das heimliche Motto, die Perspektive von CDU und CSU. Und wenn ich mir die sozialpolitischen Vorschläge der F.D.P. anhöre, dann erscheinen vor meinem geistigen Auge unwillkürlich Dampfmaschinen, Industriebosse im Bratenrock, und ich befinde mich unversehens im 19. Jahrhundert.
Gemeinsam hat die Koalition eine Haltung, die sich mit dem Wort umschreiben läßt: Das Ich und Mich, das Mir und Mein regiert in dieser Welt allein.Diese Haltung fällt jetzt auf Sie zurück. Sie erleben jetzt, daß Sie Opfer Ihres Weltbildes werden. Sie haben Wasser gepredigt und Wein getrunken und einer Politik der sozialen Kälte und der Ellenbogengesellschaft den Weg gewiesen.
Es hat Sie schon in den 80er Jahren nicht gestört, daßder soziale Konsens zu bröckeln anfing; Stichworte:Zweidrittelgesellschaft und Armut. Eine Mehrheit hatte Sie ja gewählt. Für die anderen haben Sie sich nicht verantwortlich gefühlt. Jetzt wundern Sie sich alle miteinander, daß immer mehr Menschen im Lande nur zu bereit sind, ihre Ellenbogen auch zu benutzen, meine Damen und Herren. Wahr ist doch — das ist diese Woche nochmals klargeworden; das hat alles auch etwas mit dem Haushalt von Frau Rönsch zu tun —, daß falsche Weichenstellungen im Osten und eine Wirtschaftspolitik, die diesen Namen nicht verdient hat, den Aufschwung in den fünf neuen Ländern verhindert haben.
Sie haben Fehler gemacht, en détail und en gros. Im Detail war es falsch, in der Eigentumsfrage das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" durchzusetzen. Nehmen Sie das endlich zurück, meine Damen und Herren!
Es war falsch, der Treuhand nicht den Auftrag zu geben, eine aktive Industriepolitik zu betreiben. Ändern Sie das endlich, meine Damen und Herren! Es war falsch, keine Infrastrukturprogramme zum Aufbau der Kommunen in Ostdeutschland aufzulegen. Tun Sie endlich etwas, meine Damen und Herren!
Es war falsch, die Menschen in Arbeitslosigkeit zu schicken, statt Arbeit zu organisieren. Sie haben im Westen nichts gegen 2 Millionen Arbeitslose in der Hochkonjunktur getan. Sie tun jetzt in Ostdeutschland ebenfalls nichts. Wollen Sie eigentlich nicht, oder können Sie nicht? Ich glaube, beides. Es paßt nicht in Ihren ideologischen Kram, daß der Staat auf dem Arbeitsmarkt eingreift. Weil es Ihnen nicht paßt, haben Sie es auch nie gelernt. So einfach ist das.
Das wird auch aus einer Nebenbemerkung des Finanzministers von vorgestern klar. Er sagte — das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen —: Für 1993 gibt es keinen Bundeszuschuß mehr für die Bundesanstalt für Arbeit. Was heißt das eigentlich?
Damit sagen Sie klipp und klar: Die Bundesregierung entläßt sich selbst aus der Verantwortung für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Die Beitragszahler, also Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sollen in Zukunft allein die Arbeitslosigkeit ausbaden. Folgt man Ihnen, sind sie auch selbst schuld an ihrer Malaise. Denn die einen investieren zu wenig im Osten und werden von Ihnen beschimpft, die anderen feiern ständig krank. So muß eben Strafe her,
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Anke Fuchs
und die heißt in diesem Fall: keine Zuschüsse mehr für die Bundesanstalt für Arbeit.
Wie mühsam haben wir miteinander die Instrumente der Arbeitsförderung aufgebaut! Sie bauen sie jetzt aus vordergründigen fiskalischen Gründen ab. Ich sage deswegen: Sie nehmen Arbeitslosigkeit im Westen wie im Osten in Kauf. Das zeigt auch die Kürzung der Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die im Haushalt des Bundesarbeitsministers jetzt vorgenommen werden muß.Damit springe ich gleich zu Frau Rönsch. Sie hat in diesen Tagen gesagt: Oh, wie schrecklich ist das doch mit der Armut; aber so schlimm ist es gar nicht. Was nicht sein darf, das kann nicht sein. Dann wollte sie die Ursachen der Armut bekämpfen. Ich sage Ihnen: Die Hauptursache für Armut besteht darin, daß Menschen nicht die Chance haben, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, und deswegen auf einen anderen Weg gewiesen werden.
In diesem Zusammenhang ist es besonders verhängnisvoll, daß bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht geklotzt, sondern wieder gekleckert wird, daß Sie aus fiskalischen Gründen eine Rückführung der Mittel vornehmen müssen und uns sagen: Im nächsten Jahr zieht sich die Bundesregierung aus der Finanzierung der Arbeitslosigkeit zurück. Ich halte das für sehr schlimm. Die Folge wird steigende Armut sein. Die können wir dann auch durch die beste Sozialhilfe nicht auffangen.
Dann hat er nochmals ein paar hunderttausend Menschen in die Arbeitslosigkeit geschickt, der Herr Bundesfinanzminister.
Denn er lehnt es immer noch ab, der Treuhand den Auftrag zu geben, in wichtigen Branchen zu investieren, statt zu privatisieren. Sie begreifen nicht, Herr Kollege, worin der wirtschaftliche Erfolg im Westen gelegen hat: nicht im Treibenlassen, nicht im Nichts tun, sondern darin, daß wir Strukturveränderung ökonomisch und sozial über Jahre hinweg begleitet haben. Husch, husch, wie der Bundeskanzler es versprochen hat, geht es natürlich nicht. Aber unsere guten Erfahrungen aus dem Westen sollten wir im Osten anwenden. Es ist erbärmlich, daß Sie sich dazu immer noch nicht durchringen können.
Es muß aufhören, daß Sie alles treiben lassen und daß man nicht weiß, welches Ressort zuständig ist: das von Herrn Blüm, das von Frau Merkel oder das von Frau Rönsch, was aber ohnehin keinen Unterschied macht.Die gleiche Phantasielosigkeit merke ich, wenn ich zu einem Thema komme, von dem Sie im Grunde auch glauben, die Mehrheit außen vor lassen zu können.Das ist die Pflegeversicherung. Der Bundesfinanzminister hat dieses Thema im Zusammenhang mit der Entlastung der Kommunen erwähnt, Herr Kollege Blüm. Sonst hat er darüber kein Wort verloren. Er hat ganz stolz gesagt, ab 1996 würden die Kommunen wegen der Pflegeversicherung entlastet. Da frage ich: Wo denn? Wie denn? Was denn? Wann kommt denn die Pflegeversicherung? Was ist bis 1996? Bis sie kommt, spielt die Bundesregierung die Pflegebedürftigen gegen die Arbeitnehmer aus:
Die einen sollen auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder auf Urlaub verzichten oder sich „irgend etwas Komisches" anrechnen lassen — jeder weiß: das rechnet sich gar nicht —, damit die anderen, nämlich die älteren Pflegebedürftigen, endlich menschenwürdig versorgt werden können. Ich sage ganz ruhig: Wer in diesem Land ernsthaft will, daß jemand Überstunden macht, weil er krank ist, der ist nicht ganz bei Trost.
Das ist ein Zurück in die sozialpolitische Steinzeit. Ötzi, der Mann aus dem Gletschereis, war dagegen ein Ausbund an Modernität.
Ich komme zu dem Schluß: In dieser Regierung sitzt eine Partei, die nichts anderes tut, als die Anliegen der Satten und Wohlhabenden dieser Gesellschaft zu vertreten. Die brauchen im Alter aber keine Pflegeversicherung. Und weil man das als Partei so unverfroren nicht sagen darf, hantiert man mit Begriffen wie Eigenverantwortlichkeit oder Individualismus. Diese Begriffe benutzen Sie als Keule gegen die Wünsche der übergroßen Mehrheit. Sie behaupten — wie Sie das schon immer getan haben —, daß sich die Menschen mit sozialer Absicherung nicht frei entfalten könnten. Es geht Ihnen um das Gegenteil. Aber: Nicht für die Mehrheit der Menschen ist der Sozialstaat eine Bedrohung, meine Damen und Herren von der F.D.P., sondern für eine kleine Minderheit, die um die Bewahrung von Besitzständen und Privilegien kämpft. Das ist Ihre Politik.
Auch Frau Rönsch lebt mit ihren familienpolitischen Vorstellungen in den 50ern. Sie weiß nicht, was sie tut.
Frau Rönsch sagt: Wir wollen eine ordentliche Familie. Wir brauchen eine normale Familie. — Ich habe mich gefragt: Was ist das? Sind Sie erschreckt, daß in den fünf neuen Ländern so viele Frauen ihre Kinder allein erziehen? Sind Sie erschreckt, weil dort 86 % der Frauen erwerbstätig waren und es auch bleiben wollen? Die beste Politik für die Frauen in den fünf
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Anke Fuchs
neuen Ländern wäre, zu verhindern, daß sie aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt werden.
Ich habe den Verdacht, mit Ihrem Gerede von der „ordentlichen Familie" möchten Sie erreichen, daß die Frauen im Osten denselben Fehler machen wie die Frauen im Westen, nämlich den, daß sie sich mit einer geringen Erwerbsbeteiligung abgefunden haben und sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer wieder an den Herd zurückversetzen lassen. Das verstehen Sie unter „ordentlicher Familie": jedem Mann und jeder Frau seinen bzw. ihren vom lieben Gott zugewiesenen Platz. Man mag es gar nicht fassen, wie tief das in den Köpfen steckt — auch bei Ihnen, Frau Kollegin —, eine Mischung aus Ideologie und Berechnung.Ihre geistigen Vorväter, meine Damen und Herren von der Koalition, haben das Wahlrecht der Frauen bis aufs Messer bekämpft. An manche Debatte zum Ehe- und Familienrecht, in der dieses Gedankengut artikuliert wurde, erinnere ich mich. Noch heute müssen wir Frauen zäh Stück für Stück den gleichberechtigten Zugang zum Erwerbsleben erkämpfen. Es kommt mir so vor, als ob Frau Rönsch ihre Politik mehr als Aufstellen von Benimmregeln denn als Formulieren politischer Ziele versteht.
Zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie habe ich wenig gehört. So ein bißchen klingt bei Ihnen an, Sie möchten es eigentlich ganz gern so haben, wie es früher war. Da haben die Frauen gefragt: Wie kriege ich einen Mann? Einen Mann heiraten, der die Frau mit starkem Arm durchs Leben führt, das war das Ideal.
Ich sage Ihnen noch einmal: Das gab es nur einmal, das kommt nie wieder, meine Damen und Herren.
Nun zu der Frage, die meine Kollegin Matthäus-Maier angesprochen hat — auch da weiß ich wieder nicht so genau, wer bei Ihnen dafür zuständig ist —: Wie ist es eigentlich — das muß auch die Kolleginnen von der F.D.P. interessieren — mit den sozialen Begleitmaßnahmen zum § 218?
Ich habe — auch nicht von den Kolleginnen und Kollegen in den Ausschüssen, bei denen ich mich informiert habe — nirgendwo gehört, daß die Frage der sozialen Hilfe und der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Etat für 1993 ihren Niederschlag gefunden hätten. Wo bleibt denn da die Hilfe, die wirmit der Änderung des § 218 angemahnt haben, meine Damen und Herren?
Dann hat Frau Rönsch sehr viel zum Kindergeld gesagt. Frau Rönsch, da müssen Sie noch ein bißchen mit uns nachdenken.Für Sie, Frau Rönsch — das klingt bei Ihnen an —, heißt Familie wirklich Ehe plus Kinder. Wir alle wissen, daß dies nicht mehr ausschließlich das ist, was unter Familie zu verstehen ist. Also muß man doch, wenn man sich den Aufwand für Ehegattensplitting und Kindergeld ansieht, fragen: Wie kann ich das, ohne mehr Geld ausgeben zu müssen, ordentlich verteilen? Auf Dauer muß es doch so sein, daß wir nicht die Tatsache der Eheschließung steuerlich begünstigen, sondern mit der Begünstigung beim Kindergeld anfangen, und zwar für jeden gleich, 250 DM ab erstem Kind. Das sind unsere Forderungen seit langem. Dazu hätte ich gern ein Wort von Ihnen, Frau Ministerin, gehört.
— Ja, Sie belassen es bei Ihrer geistigen Welt aus den 50er Jahren. 30 Milliarden DM Aufwand für Ehegattensplitting, unabhängig von der Frage, ob ein Kind vorhanden ist oder nicht, Kindergeld je nachdem, wieviel verdient wird, nach dem Motto, je mehr ich verdiene, desto mehr Kindergeld bekomme ich, das ist sozial ungerecht, das ist nicht emanzipatorisch. Deswegen sage ich zu Recht: Sie leben in der Geisteswelt von gestern und haben die Realitäten von heute nicht begriffen.
Wir werden, Frau Ministerin, demnächst Gelegenheit haben, uns sehr ausführlich mit dem Thema älterwerdende Generation zu beschäftigen. Was da von Ihnen kam, war noch ein bißchen dünne.
Deswegen wollen wir auch eine Enquete-Kommission, von der ich hoffe, daß es in ihr kein parteipolitisches Geplänkel gibt. Ich sage es immer so: Meine Tochter wird im Jahre 2030 60 Jahre alt. Ich möchte gern, daß sie in eine Gesellschaft hineinwächst, in der das Altwerden und das Mit-Alten-Leben selbstverständlicher sind als heute. Insofern haben wir, glaube ich, gemeinsam eine große Aufgabe vor uns, nicht nur was Geld anlangt, sondern auch was diese Enquete-Kommission anlangt. Ich freue mich, wenn wir das miteinander machen.Zu dem, was Sie hier von Ihrem Bundesaltenplan erzählt haben: Es ist klar, so schöne Broschüren hat man gern. Einen Altenplan, wo man schauen kann, was man vor Ort daraus machen kann, hat man gern.
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Anke Fuchs
Und dann kommen Ihre Seniorenbüros, die Sie sogar in einer Riesenanzeige propagiert haben. Dafür haben sich ganz viele Leute gemeldet und gesagt: Auch wir wollen mitmachen. — Sie haben gerade 16 Büros hinbekommen, dann war das Geld alle. Und die sind auch nur für drei Jahre installiert. Damit, meine Damen und Herren, schaffen Sie kein Vertrauen. Damit machen Sie eine eigentlich gute Sache kaputt. Das zeigt mir, daß Sie zu kurz gesprungen sind, als Sie behaupteten, Sie hätten schon ein Projekt oder ein Modell, das zukunftsträchtig sei.
In der Haushaltsdebatte vor einem Jahr, meine Damen und Herren, habe ich behauptet, diese Regierung interessiere sich nicht mehr für das Land, und dieses Land interessiere sich nicht mehr für seine Regierung. Sie haben mir damals Polemik vorgeworfen. Aber heute stellt sich heraus: Meine Behauptung war eine Untertreibung.
Die Wirklichkeit heute ist: Dieses Land hat keine Regierung mehr, weil diese Regierung kein Land mehr sieht.
Sie bezahlen für zehn Jahre Durchwursteln und mogeln sich an den Problemen vorbei. Das ist der tiefere Grund für Ihr Scheitern, spätestens bei den nächsten Bundestagswahlen. Davon bin ich überzeugt.
Wir sind nicht betriebsblind. Deswegen konzediere ich Ihnen gern: Sorgenfreies Regieren gibt es in dieser Zeit des Zusammenwachsens Deutschlands nicht. Wir unterstützen Sie deshalb in vielen praktischen Fragen. Aber meine feste Überzeugung ist, daß der Vertrauensverlust in diese Regierung mit den leeren Kassen nur vordergründig zu tun hat. Er hat damit zu tun, daß bei Ihnen geistige Leere herrscht.
Und das ist ziemlich verhängnisvoll. Ich danke Ihnen.
Nun hat Frau Professor Ursula Männle das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Fuchs, eigentlich hatte ich mich gefreut, nach Ihnen reden zu dürfen, weil ich glaubte, man könne in eine sachliche Auseinandersetzung treten.
Ich habe Sie immer als gute, substantiell agierende,erfahrene Politikerin gekannt. Aber das, was Sieheute gesagt haben, war Ihrer wirklich unwürdig. Eswaren billige Sprüche. Es tut mir leid, daß ich das so sagen muß.
Ich bin entsetzt und enttäuscht über das, was Sie hier zu einigen Punkten gesagt, mit welchen Unterstellungen Sie gearbeitet haben, gerade was z. B. das Familienbild oder Fragen wie ABM angeht.Frau Fuchs, Sie müßten es eigentlich noch ganz genau wissen, weil auch Sie damals große Verantwortung getragen haben. 1982 haben Sie bei einer etwa gleich hohen Arbeitslosigkeit 20 000 AB-Maßnahmen geschaffen. 1990 haben wir 90 000 AB-Maßnahmen finanziert.
Heute gibt es 60 000 in den alten und 300 000 in den neuen Bundesländern. Wenn Sie Zahlen oder andere konkrete Dinge präsentiert hätten, hätte man sofort sehen können, wie leer all das war, was Sie gesagt haben. Das, was Sie hier bringen, ist ein Krisenszenario, das Ihrer wirklich nicht würdig ist.
— Frau Fuchs, ich möchte hier jetzt im Zusammenhang sprechen, weil ich denke, daß ich auf viele Punkte, die Sie angesprochen haben, im Rahmen meiner Ausführungen eingehen kann.Lassen Sie mich mit einigen Aussagen zur Familienpolitik beginnen: Von Ihnen ist ein Familienbild gezeichnet worden, das sicherlich nichts mit der Realität gemein hat. Krisentheoretiker aus der Politik, gerade aus Ihren Kreisen — heute wurde es deutlich —, haben schon seit Jahren das baldige Ende der Familie prophezeit. Sie hätten es gerne gehabt.
Aber die Umfrageergebnisse machen ganz deutlich: Die Lebensform Familie hat Zukunft. Die gesellschaftliche Bedeutung der Familie ist ungebrochen.
Die Familie genießt eine große Wertschätzung in der Bevölkerung.
Sie ist heute unverzichtbarer Bestandteil der Lebensplanung der überwiegenden Mehrheit der jüngeren Generation. In Familien suchen und erfahren Menschen Geborgenheit, emotionale Zuwendung, Sinnorientierung, Gemeinsinn und Unterstützung.
— Das ist kein Wunsch, das ist Gott sei Dank auch Realität, Realität bei vielen. Ich wünsche, daß es noch mehr werden — ohne die Familie zu idealisieren.
Die Familie ist wichtigste Erziehungs- und Bildungsgemeinschaft für Kinder, ein zentraler Ort der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und eine unverzichtbare Institution zur Vermittlung gesellschaftlich-kultureller Werte, Normen und Verhaltens-
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Ursula Männleweisen. Familien sind die Leistungsträger der Gesellschaft, nicht andere Organisationen.
Ich gebe Ihnen recht: Es wird so gerne von der Familie gesprochen. Familie hat heute viele Formen. Dazu stehen wir. Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturwandel hat auch die Familien verändert, ihre Aufgaben, ihre Leistungen, ihr Innenleben. Die Beziehungen der Familie zur Außenwelt, auch die Erwartungen der einzelnen Familienmitglieder heute an das Leben in und mit der Familie haben sich gewandelt. Frauen, Mütter, haben heute völlig andere Vorstellungen als vor 50 Jahren. Sie fordern Unterstützung von ihren Männern, von ihren Kindern.
Das ist richtig, und wir unterstützen dies. Sie fordern mit Recht ein Umdenken, mehr Gemeinsinn in der Familie und gleiche Verteilung von Rechten und Pflichten. Und: Zunehmend wird Familie als ein sozialer Raum betrachtet, in dem der einzelne auch „Ich" sein darf, in dem der einzelne als Person zählt.Familie als Ort des Nichtöffentlichen soll dem einzelnen auch eine Verschnaufpause von Rollenzwängen, von Leistungsdruck, von Konkurrenz bieten. Vielen gilt die Familie heute als ein emotionales Rückgrat einer entpersönlichten Welt.Familie ist natürlich nicht nur Harmonie. Familie als soziales Netz ist auch Ort der Auseinandersetzung, ist Kampf zur Durchsetzung unterschiedlicher Interessen. Wir brauchen eine staatliche Familienpolitik, die den geänderten gesellschaftlichen Wertvorstellungen Rechnung trägt.
— Ich komme schon noch auf die Finanzen; keine Bange. Familie ist aber Gott sei Dank nicht nur Finanzielles.
Das Schlimme ist ja, daß wir heute alles, aber wirklich alles nur in Mark und Pfennig ausdrücken.
— Doch.Wir haben jetzt eine Haushaltsdebatte, und in der muß man auch sagen, wer Leistungsträger in der Gesellschaft ist und in welche politische Richtung wir gehen. Unser Konzept umfaßt: finanzielle Entlastung von Familien, materielle Unterstützung der Familien, effektive Angebote und Hilfen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Konfliktberatung, Schaffung einer familiengerechten Infrastruktur — das alles gehört natürlich zur Familienpolitik. Gemessen werden muß die Familienpolitik an dem Kriterium: Inwieweit ermöglicht sie Familien, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten.Frau Fuchs, Sie haben vorhin gefragt: Was ist seit 1982 in der Familienpolitik geschehen? Lassen Sie mich einige Stichworte nennen: die dreistufige Steuerreform, die Wiedereinführung des Kinderfreibetrages.
— Liebe Frau Fuchs, da Sie gerade das Kindergeld ansprechen: Was schlagen Sie vor? Sie wollen keinen Kinderfreibetrag; Sie wollen ein einheitliches Kindergeld. Sie wollen, daß Familien genausoviel Steuern zahlen wie alle anderen. Sie nehmen ihnen also erst mal Geld weg. Dann wollen Sie den Familien wieder etwas zurückgeben, aber weniger, als Sie ihnen weggenommen haben. Selbstverständlich wollen Sie dann noch ein Dankeschön der Familien dafür. Genau das ist Ihre Familienpolitik.
Wir müssen eine differenzierte, an den unterschiedlichen Familiensituationen orientierte Politik betreiben. Vor allem müssen wir Familien befähigen, ihre Aufgaben wahrnehmen zu können.Wir haben die Situation der Familie deutlich verbessert. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat sehr lobend anerkannt, daß wichtige familienpolitische Schritte unternommen worden sind. Erinnern Sie sich doch an die Situation von 1982! Hatten Sie Erziehungsgeld eingeführt? Hatten Sie Erziehungsurlaub eingeführt?
Hatten Sie die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung eingeführt?
Nichts von all dem. Das war Ihre Bilanz im Jahre 1982.
— Ja, sehr richtig. Es ist unverfroren, wenn Sie jetzt fragen, was in den letzten zehn Jahren geschehen ist.Sie haben auch in die Zukunft geblickt, aber wir haben von Ihnen nichts darüber gehört, was Sie tun wollen.
— Ich habe vorhin schon gesagt, daß das hieße, den Familien weniger zu geben, als Sie ihnen zuvor genommen haben.Wir wollen die Nichtbesteuerung des Existenzminimums für Kinder.
— Nein, das sieht Herr Waigel überhaupt nicht anders. Wir haben in diesem Jahr den Kinderfreibetrag erneut erhöht. Dies wird so weitergehen. Wir Familienpolitiker wollen natürlich mehr Familienentlastung und Familienförderung. Natürlich wissen wir, daß wir
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8951
Ursula Männlenicht alles sofort durchsetzen können. Sie propagieren die Politik: „Wir wollen alles — und zwar sofort. " Ich sage ganz deutlich: Eine derartige Politik können wir nicht betreiben. Dies ist unverantwortliche Politik. Es muß bedacht werden, welche Schwerpunkte wir in unserem Haushalt insgesamt setzen müssen, auch angesichts der Aufgaben im Rahmen der Herstellung der Deutschen Einheit.Darauf kann ich nicht mehr eingehen, weil ich auf Sie so stark eingegangen bin — —
— Es ist wirklich schade, daß ich Sie so ernstgenommen habe.
Wenn wir Familienpolitik betreiben, müssen wir deutlich machen, daß Politik für Familien unterschiedliche Facetten hat, materielle wie ideelle, und daß hier verschiedene politische Ebenen zu beachten sind. Ich war wirklich entsetzt, liebe Frau Fuchs, daß Sie nicht einmal wußten, daß der Bereich der Kindergärten Sache der Länder ist.
Und in Ihrem seinerzeitigen Entwurf für den Haushalt 1983 war kein Hinweis auf eine beabsichtigte Lösung der Kindergartenfrage enthalten.
— Man konnte ihn gar nicht finden, weil Sie den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz in ihm gar nicht vorgesehen hatten.Das haben Sie für das Jahr 1983 nicht in Angriff genommen. Machen Sie also den Leuten, die hier oben sitzen, doch nichts vor!
Diejenigen, die sich ernsthaft mit den Problemen auseinandersetzen, wissen, wer etwas getan hat, und werden honorieren, daß wir es getan haben.Es tut mir leid, daß ich jetzt die ganzen Ausführungen über die Situation der alten Menschen nicht mehr vortragen kann. Ich denke aber, daß die Kollegen, die nach mir reden, dies noch aufgreifen werden und unsere Positionen zu dieser Frage deutlich machen. Frau Fuchs, Wahrheit muß Wahrheit bleiben!
Nun hat die Kollegin Dr. Edith Niehuis das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Ich muß Sie, Frau Männle, enttäuschen. Ich gedenke nicht über die älteren Menschen in dieser Welt zu reden und es auch nicht so lustig zu machen, wie Sie es getan haben.
— Ich meine das gar nicht negativ. — Das, was ich sagen will, ist viel zu ernst. Ich versuche nur, für mich und für Sie den Übergang zu finden.Unsere Haushaltsdebatte fällt in eine Zeit, in der wir betroffen immer wieder von gewalttätigen Demonstrationen und Anschlägen auf Asylbewerberheime lesen, sie zum Teil auch selber erleben. Jugendliche in den neuen Bundesländern spielen dabei immer eine auffällige Rolle. — Sie verstehen mm, wie schwer es mir gefallen ist, den Übergang zu diesem Thema zu finden. — Unbestreitbar jedoch ist: Wir, die wir in die politische Verantwortung gewählt wurden, müssen über die Ursachen dieser Ausschreitungen nachdenken und das, was wir politisch leisten können, auch tun.Ich möchte gerne zu dem Haushalt über Jugend reden. Als wir im Dezember letzten Jahres hier im Parlament ausführlich über den Achten Jugendbericht geredet haben, waren Sie es, Frau Ministerin Merkel, die sich mit der Frage der Glaubwürdigkeit von Politik beschäftigte und dabei feststellte — ich zitiere —, „daß junge Leute ehrliche und sensible Beobachter sind und sehr schnell spüren, ob man ihre Befürchtungen und Sorgen ernst nimmt oder ob man sich nur vordergründig damit befaßt". Das sind natürlich Worte, die gerade in einer Zeit der Jugendausschreitungen nachdenklich machen müssen, insbesondere natürlich jene, die die Regierungsverantwortung tragen, also Sie, Frau Ministerin Merkel.
Ich bin weit davon entfernt, zu behaupten, eine gute Jugendpolitik auf Bundesebene könne von einem Tag auf den anderen alle Probleme lösen. Ich behaupte aber: Die Jugendpolitik dieser Bundesregierung braucht einen Kurswechsel, wenn sie aus dem Fiasko von heute überhaupt herauskommen und eine Chance haben will, die Probleme von heute, morgen und übermorgen zu lösen.Dieses möchte ich Ihnen an ein paar Punkten erläutern. Zu Recht hat Ministerin Merkel bei ihrem Besuch im September in Rostock angemerkt: „Wichtig ist, daß wir für die Jugendarbeit den erforderlichen langen Atem haben. " Wir von der SPD stimmen Ihnen da zu, fragen aber zugleich, warum Sie diese Erkenntnis in Ihrer eigenen Politik nicht umsetzen.
Denn das Kennzeichen Ihrer Politik ist nicht langer Atem, sondern Kurzatmigkeit und damit zugleich auch bedenkliche Konzeptionslosigkeit.
Es mag noch angehen, daß nach der Vereinigung das Programm „Sommer der Begegnung" als eine gute Aktion angesehen werden kann, aber schon das „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt" möchte ich einer kritisch-konstruktiven Betrachtung unterziehen.Es ist gut, daß dieses Programm nicht nur auf ein Jahr angelegt ist, sondern auf drei Jahre. Ob dies ausreicht, wird die Zeit uns zeigen.
Doch ich kann nicht verstehen, daß Sie dieses Programm gerade in einer so unruhigen Zeit wie der
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Dr. Edith Niehuisheutigen im neuen Haushaltsentwurf um 2 Millionen DM kürzen; denn das hat dann mit einer logischen Konzeption doch wenig zu tun.
Was an dieser Kürzung symbolhaft deutlich wird, ist auch das Grundproblem dieses Programms. Sie haben dieses Programm rund um die Vorgänge in Hoyerswerda und mit Blick auf vorherige Vorgänge aufgelegt. Nun wissen wir aber im Westen seit Jahren und zunehmend auch im Osten — die Jugendverbände haben seit Jahren vor dieser Entwicklung gewarnt —, daß Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft inzwischen weit in bisher ganz unauffällige rechtsgerichtete Teile der Jugend eingesickert sind.Wenn solche Erkenntnisse vorliegen, dann ist es ein falscher konzeptioneller Ansatz, mit schnell lockergemachten Geldern für Sondermaßnahmen auf das Aufgehen der rechtsextremistischen Saat zu reagieren. Vielmehr bedarf es einer kontinuierlichen Jugendarbeit und einer politischen Jugendbildung, die orientierungslose und unzufriedene Jugendliche wahrscheinlich am ehesten auffangen können. Das ist keine Frage von Notprogrammen, sondern das ist die Forderung nach einer langfristig angelegten Strukturpolitik.
Das bedeutet in der Jugendpolitik, daß man eine funktionierende Jugendhilfestruktur öffentlicher und freier Träger haben muß. Ich sage Ihnen damit nichts Neues. Sie haben das Ende August in Ihrem Interview mit der „Osnabrücker Zeitung" , wie ich finde, sehr drastisch und darum sehr deutlich ausgedrückt. Sie haben gesagt:Es ist eben ein Fehler, trotz angespannter öffentlicher Haushalte vornehmlich in Straßen oder Kläranlagen, aber nicht oder nur völlig unzureichend in kontinuierliche und vorbeugende Jugendhilfe ... zu investieren.
In der Tat, Frau Ministerin, das ist ein Fehler, aber nicht nur, wie Sie meinen, ein Fehler der ostdeutschen Kommunen. Sie haben damit auch einen Kardinalfehler Ihrer eigenen Jugendpolitik angesprochen.
Schon in dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost haben Sie keine Jugendhilfestrukturen vorgesehen, und Sie tun es auch im Haushaltsentwurf 1993 nicht.Ohne Zweifel ist die Haushaltslage des Bundes sehr angespannt. Der Bundesfinanzminister gibt vor, die Ausgabensteigerung auf 2,5 % zu begrenzen. Wenn ich diese Zahl vom Bundesfinanzminister höre, dann kann ich nur feststellen: Der Bundesfinanzminister scheint hier von Straßen und Kläranlagen zu reden — um in Ihrer Sprache zu bleiben —, aber nicht von der Jugendpolitik. Denn hier steht keine 2,5%igeErhöhung, sondern eine empfindliche Kürzung ins Haus. Ich sage noch einmal: Das ist ein Fehler.
Es geht zunächst um das Nullwachstum bei dem Bundesjugendplan, dem klassischen Förderungsinstrument für die Jugendarbeit auf der Ebene des Bundes. Diese Stagnation bedeutet für viele Jugendverbände ein Minuswachstum, und das seit Jahren. Sie müssen auf Grund dieser faktisch rückläufigen Förderpolitik des Bundes seit Jahren institutionell und personell abspecken.Dies geht zu Lasten der praktischen Jugendarbeit vor Ort im Westen, aber nach der deutschen Vereinigung auch zu Lasten des Aufbaus von Strukturen freier Träger in den neuen Bundesländern. So manche notwendige Koordinierungs- und Anleitungsaufgabe für die neuen Länder kann auf diese Weise nicht wahrgenommen werden. Das schwächt den Aufbau freier pluraler Trägerstrukturen in den neuen Ländern, und es ist ein jugendpolitischer Rückzug, ohne daß wir überhaupt dort angekommen sind.
Doch wie konzeptionslos die Bundesregierung hinsichtlich der jugendpolitischen Aufgabe in den neuen Bundesländern ist, zeigt das Schicksal des AFT-Programms, jenes Programms, das angeblich zum Aufbau freier Träger in den neuen Bundesländern beitragen soll. Nach einem Jahr fallen diese Mittel — 50 Millionen DM — ersatzlos dem Rotstift zum Opfer. Sie haben sich dies selber eingebrockt; denn wer kurzfristig plant, wird von den Haushältern an die kurze Leine genommen.Die SPD, die — das wissen Sie — sehr zeitig auf dieses Programm kritisch reagiert hat, weil uns klar war, daß man in einem Jahr in den neuen Bundesländern keine Jugendhilfestruktur aufbauen kann, wird sich nicht damit begnügen, nichts zu tun und weiterhin zu kritisieren. Sie müssen zugeben: Wenn man von diesem Einjahresprogramm redet, dann stimmt das nicht. In Wahrheit ist es nur ein Programm von acht bis zehn Monaten. Wenn Sie dieses Programm jetzt auslaufen lassen, wie beabsichtigt, dann sind, so befürchte ich, auch die schon ausgegebenen 50 Millionen DM in den Sand gesetzt.
Sie haben einer verbreiteten Perspektivlosigkeit in den neuen Ländern durch diese jugendpolitische Eintagsfliege eine neue Perspektivlosigkeit staatlicherseits verordnet. Tutoren, Beraterinnen und Berater, nur für ein paar Monate eingestellt und selber ohne Zukunft, sollten überzeugend für die Zukunft motivieren, wissend, daß im Dezember 1992 alles zu Ende ist.Perspektivlosigkeit kann nicht mit perspektivlosen Programmen erfolgreich begegnet werden. Diese Politik muß beendet werden.
Das Programm bringt einige Probleme mit sich. Das wissen Sie aus der Praxis genauso wie wir. Darum bedarf es einer Reparatur und einer Korrektur. Aber
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Dr. Edith Niehuisich sage Ihnen: Wir werden uns als Sozialdemokraten sicher nicht verweigern, wenn es darum geht, dafür Sorge zu tragen, daß dieses Programm verlängert wird.
Aber wir brauchen eine langfristige Perspektive; das sage ich dazu. Wir schlagen Ihnen vor, daß wir in den anstehenden Haushaltsberatungen über einen langfristig angelegten Sonderplan zur Entwicklung leistungsfähiger und pluraler Strukturen in den neuen Ländern reden und ihn gemeinsam verabschieden sollten.Daß auch Sie von den Regierungsparteien dieses Defizit spüren, Frau Funke-Schmitt-Rink, zeigt doch die Tatsache, daß Sie den Hilferuf aussenden, wir bräuchten eine Nationale Jugendkonferenz. Wenn Frau Nolte bestätigt: „Ja, wir brauchen dies", geben Sie mit dem Hilferuf das Defizit in Ihrer eigenen Politik zu.
Ich sage genauso deutlich: Wir werden uns an kurzfristigen, aktionsorientierten Programmen nicht beteiligen, wenn Sie uns nicht eine tragfähige Gesamtkonzeption vorlegen. Zu Recht bemängeln nämlich die Jugendverbände, daß diese Politik der jugendpolitischen Eintagsfliegen mit ihren immer wieder neuen Antrags- und Bewilligungsverfahren Arbeits- und finanzielle Kapazitäten überflüssigerweise binden, die bei Vorhandensein einer langfristigen jugendpolitischen Gesamtkonzeption viel effizienter eingesetzt werden könnten. Zu Recht bemängeln die Jugendverbände mangelnde Koordination der einzelnen Entscheidungsebenen. Bei einer guten Konzeption ließe sich mit dem gleichen Geld mehr bewerkstelligen.Als wir im letzten Jahr hier im Parlament Ähnliches diskutiert haben, dies aber nur die Warnungen in die Zukunft waren, kam bei meiner Rede der Zwischenruf aus den Reihen der CDU/CSU, ich betreibe die Darstellung der Apokalypse. Als Apokalypse oder Resignation verstehe ich auch das nicht, was ich heute gesagt habe. Aber meine Forderung nach einer jugendpolitischen Konzeption verstehe ich heute dringlicher als je zuvor.Danke schön.
Frau Abgeordnete Maria Michalk, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Fuchs, ich muß auf Ihre Rede zurückkommen.
Sie haben vorhin behauptet, es sei zwei Jahre langnichts getan worden. Das ist eine Beleidigung derMenschen z. B. in Sachsen — wo Sie kandidierthaben —, die täglich mehr als 10 oder 12 Stunden arbeiten, um dieses kaputte Land aufzubauen.
Wären Sie Ministerpräsidentin geworden, hätten Sie Ihre wahre Freude an dem Aufbauwillen der Sachsen. Nach Ihrer heutigen Rede bin ich wirklich froh, daß Sie es nicht geworden sind.
Ohne Frage befinden wir uns gegenwärtig in einer entscheidenden Phase, in der es um den Aufbau im Osten ebenso wie um die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen im Westen Deutschlands geht. Nur wenn es uns gelingt, beides gleichermaßen zu verwirklichen, wird die innere Einheit letztlich gelingen.In den vergangenen zwei Jahren sind erhebliche Fortschritte erzielt worden. Dies sollte, ungeachtet aller Probleme und Schwierigkeiten, nicht übersehen werden. Vieles hat sich zum Besseren gewendet. Allerdings werden zahlreiche Verbesserungen häufig nur allzu rasch, wie wir heute gehört haben, zu kaum mehr wahrnehmbaren Selbstverständlichkeiten.Der Bund hat hierfür die finanzielle Hauptlast getragen und wird es auch in Zukunft tun, gemeinsam mit den Ländern. Der Schlüssel hierfür ist eine verläßliche und solide Haushaltspolitik. Dafür ist es unerläßlich, daß neben dem Bund auch Länder und Gemeinden konsequent den Weg strikter Ausgabenbegrenzung verfolgen. Der Bund hat mit seiner Beschränkung des Ausgabenwachstums um 2,5 % ein wichtiges Signal gesetzt.Der notwendige Aus- und Umbau, z. B. im Gesundheitswesen der neuen Länder, hat sich schneller, als erwartet, vollzogen. Engpässe bei der gesundheitlichen Versorgung, z. B. bei den Arzneimitteln, bei Heil- und Hilfsmitteln sowie bei der medizinisch-technischen Ausstattung der Krankenhäuser, konnten zu einem wesentlichen Teil abgebaut werden. Größere Anstrengungen sind aber auch noch erforderlich, um die zum Teil unzureichenden baulichen Verhältnisse in den Krankenhäusern zu verbessern.
Gleiches gilt insbesondere im Pflegebereich. Frau Ministerin Rönsch ist darauf ausführlich eingegangen.Beim Kampf gegen Aids und in der Drogenpolitik kann auf den bisherigen Erfahrungen aufgebaut werden. Mit dem Modellprogramm „Mobile Drogenprävention" — rund 1,8 Millionen DM bis 1993 — und dem Modellversuch „Integrierte Suchtberatungsstellen" — 5,4 Millionen DM bis 1993 — leistet das Bundesministerium für Gesundheit in den neuen Ländern differenzierend am Ort Vorbeugemaßnahmen sowie Hilfe und Beratung.
Vor dem Hintergrund der Ausgabenbegrenzung ist es nur folgerichtig, wenn sich die Einzelpläne für die Bundesministerien für Frauen und Jugend sowie Bil-
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Maria Michalkdung und Wissenschaft im Rahmen der Eckwerte halten. Der Etat des Bundesministeriums für Familie und Senioren verzeichnet tatsächlich einen leichten Rückgang. Das hat seine Ursachen aber auch — das muß man ebenso sehen —, im Geburtenrückgang. Es wird eben weniger Erziehungsgeld ausgegeben.Die Situation in den neuen Bundesländern ist durch einen rasanten Wandel auf allen Gebieten gekennzeichnet und führt bei vielen Menschen zu Unsicherheiten und Desorientierung. Häufig fühlen sie sich angesichts der grundlegenden Veränderungen in nahezu allen Bereichen schlicht überfordert. Das sollten auch Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Sie können auch nicht verstehen, wenn wir hier dieses Parteiengezänk aufführen. Auch Sie sind doch wohl der Meinung, daß den Menschen im Grunde genommen geholfen werden muß. Und das kann man eben nicht nur mit Geld tun.Bei den jungen Menschen sind es vielfach Probleme, die für Heranwachsende nicht ungewöhnlich sind. Das gilt für Ost wie für West. Konflikte, z. B. mit den Eltern, sind in einem bestimmten Lebensalter eine ganz normale Erscheinung, ebenso Beziehungsprobleme, z. B. mit Partnerinnen und Partnern, Schul- und Ausbildungssorgen. Jedoch wird diese notwendige Umstellung auf die gesellschaftlichen Veränderungen dadurch zusätzlich mit Unsicherheiten belastet. Unsere jungen Leute hatten nicht genug Zeit, sich darauf vorzubereiten.Um allerdings einem Mißverständnis vorzubeugen: Die Mehrheit unserer jungen Menschen steht der Zukunft durchaus positiv und zuversichtlich gegenüber. Sie erkennen sehr wohl die vielfältigen Chancen und Perspektiven, die eine sehr offene Gesellschaft bietet. Die Demokratie läßt Raum für Selbstverantwortung und Eigeninitiative und ermöglicht Individualität.Die noch vor einem halben Jahr von Ihrer Seite beschworene Ausbildungskatastrophe zeichnet sich aus meiner Sicht im Moment nicht ab.
Ich habe mich an Ort und Stelle über die Zahlen vom Juli hinsichtlich der Ausbildungsplätze informiert. Wir wissen alle, daß wir insgesamt Lehrstellen im Überfluß haben. Aber in den einzelnen Regionen sieht es natürlich unterschiedlich aus. Beispiele: Freie Lehrstellen für Bewerber gibt es in Annaberg, Leipzig und Plauen; da sehen die Verhältnisse günstiger aus. In Oschatz und Pirna kommen etwa fünf Ausbildungssuchende auf eine Lehrstelle. In Bautzen — wo ich zu Hause bin — kommt auf zehn Bewerber eine Ausbildungsstelle.Damit will ich nur belegen, daß wir in der Summe die Zielstellung erreichen werden, aber daß es regional sehr wohl Unterschiede gibt. Hier sind die Wirtschaft und die öffentlichen Dienste gefordert. Wir werden auch nicht ohne überbetriebliche Ausbildungsplätze auskommen.Wir sollten auch nicht unerwähnt lassen und — da wir hier über den Bundeshaushalt diskutieren — ungewürdigt lassen, daß auch die Länder an dieser Stelle in ihre Verantwortung getreten sind und z. B.Sonderprogramme aufgelegt haben. Hier werden sie auch der Besonderheit der Situation von Mädchen und Jungen gerecht, indem sie z. B. Sonderprogramme aufgelegt haben, bei denen für einen Ausbildungsplatz bei einem Jungen 4 000 DM und bei einem Mädchen 5 000 DM gezahlt werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Frau Michalk, haben Sie sich versprochen, als Sie gesagt haben, daß in der einen Stadt auf eine Lehrstelle fünf Suchende kommen, in der anderen Stadt auf eine Lehrstelle zehn Suchende kommen und daß das den territorialen Unterschied ausmacht?
Natürlich gibt es strukturschwache Regionen, wo sich junge Menschen wesentlich mehr Mühe machen müssen, eine Lehrstelle zu finden; es gibt andere Regionen, wo die Industrie und unsere Wirtschaft überhaupt noch nicht ganz so abgebaut bzw. schon wieder aufgebaut sind, so daß sich das dort besser gestaltet.
Frau Michalk, meinen Sie, daß das ein Erfolg der Arbeit ist, wenn in dem einen Territorium auf eine Lehrstelle fünf und in dem anderen Territorium auf eine Lehrstelle zehn Bewerber kommen?
Nein, ich habe nicht gesagt, daß das ein Erfolg ist. Im Gegenteil, ich wollte auf diese komplizierte und territorial unterschiedliche Situation aufmerksam machen. Sie, Herr Keller, wissen doch ganz genau, daß es auch zu DDR-Zeiten nicht so war, daß jeder junge Mensch in seinem Heimatort eine Lehrstelle gefunden hat. Auch da sind die jungen Leute zum Teil weit gefahren, um zu ihrem Ausbildungsort zu kommen.Ich setze mich dafür ein, daß die jungen Leute nicht unbedingt in den Westen fahren — ich sage es jetzt so locker —, um sich ausbilden zu lassen. Aber es schadet ihnen auch nichts; im Gegenteil, es ist besser, als wenn sie keine Perspektiven hätten.
Gerade in diesen Tagen stehen wir ganz unter dem Eindruck der gewalttätigen Ausschreitungen überwiegend junger Menschen in den neuen Bundesländern. Das Maß an Gewalt und die Intensität der Aktionen haben uns alle erschüttert. Das ist auch in dieser Debatte schon öfters gesagt worden.Als Ursache für solche Gewaltausbrüche — sei es im Zusammenhang mit politischer Auseinandersetzung oder auch, und das sollten wir nicht verkennen, politisch unmotiviert, wie z. B. in den Fußballstadien, erweist sich stets ein hohes Maß an sozialer Desintegration. Vielen solcher Jugendlicher fehlt ein fester Rückhalt in der Familie. Fehlende Sozialstrukturen in Großstädten und ein Mangel an Angeboten für sinn-
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Maria Michalkvolle Freizeitgestaltung tragen das Ihre bei. Aus diesem Grund ist eine Politik, die sich der Probleme junger Menschen ganz gezielt annimmt, wichtiger denn je.Angesichts der aktuellen Ereignisse kommt dem in diesem Jahr vom Bundesministerium für Frauen und Jugend aufgelegten Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt ein besonderer Wert zu. Im Haushalt 1993 stehen für dieses für mindestens drei Jahre angesetzte Programm 18 Millionen DM zur Verfügung. Kern des Programms sind insgesamt 144 Einzelprojekte in 30 ausgesuchten „BrennpunktRegionen". Mit dem Aktionsprogramm hat das Bundesministerium für Frauen und Jugend die Initiative zu einer breiten Auseinandersetzung in diesem drängenden Problembereich ergriffen.50 Millionen DM hat der Bund 1992 für das jugendpolitische Programm zum Auf- und Ausbau freier Träger der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern bereitgestellt. Frau Niehuis, der Bund unterstreicht damit seine Mitverantwortung bei der Unterstützung der neuen Bundesländer beim Aufbau einer freien Jugendhilfestruktur.Das Programm hat sich im wesentlichen bewährt. Zahlreiche freie Träger konnten aufgebaut, bereits bestehende Projekte konnten fortgeführt werden.
Bei einer Absetzung des AFT-Programms — hier, denke ich, sind wir uns einig — zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wie es sich momentan darstellt, muß jedoch mit einem völligen Zusammenbruch der gerade erst mühsam aufgebauten Trägerstrukturen gerechnet werden.Abgesehen davon, daß damit die bereits eingesetzten Mittel nicht so erfolgreich angelegt wären, müßte dies zu ganz erheblicher Enttäuschung bei den in der Jugendarbeit engagierten Mitarbeitern und den betroffenen Jugendlichen führen. Diese Enttäuschung zählt für mich dann mehr. Insbesondere im Beratungs- und Qualifizierungsbereich halte ich eine Fortführung des Programms für geradezu unerläßlich.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn in den bevorstehenden Beratungen positives Einvernehmen über diese Frage erzielt werden könnte.Vor dem Hintergrund ausländerfeindlicher Tendenzen gewinnt auch die internationale Jugendarbeit zunehmend an Bedeutung. Begegnungen und direkte Kontakte von Jugendlichen aus verschiedenen Ländern tragen ganz wesentlich zu einem besseren gegenseitigen Verstehen bei.Gerade das Verhältnis z. B. zu unseren Nachbarn in Polen bedarf angesichts einer wechselhaften und leidvollen Vergangenheit besonderer Pflege. In diesem Jahr sind für den deutsch-polnischen Jugendaustausch 3 Millionen DM bereitgestellt. Damit wird rund 22 000 Schülern und Jugendlichen aus beiden Ländern die Teilnahme an den Austauschprogrammen ermöglicht.
Noch in diesem Jahr wird das auf Grund des deutsch-polnischen Vertrags vom 17. Juni 1991 vereinbarte Deutsch-Polnische Jugendwerk offiziell seine Arbeit aufnehmen. 4 Millionen DM stehen 1993 hierfür in einem eigenen Titel zur Verfügung.Mit 25 Millionen DM ist der Ansatz für frauenpolitische Maßnahmen im Grunde genommen um 25 % gegenüber 1992 gestiegen. Dies unterstreicht die Bedeutung, die die Bundesregierung der Frauenpolitik zumißt.Das zentrale Problem der Frauen, insbesondere der alleinerziehenden, in den neuen wie in den alten Bundesländern ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bemerkenswert ist die unterschiedliche Orientierung der Frauen in Ost und West bei der Beurteilung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diesen Unterschied dürfen wir nicht wegdiskutieren. 57 % der Frauen im bisherigen Bundesgebiet erleben Beruf und Familie als konkurrierende Lebensbereiche, zwischen denen man sich entscheiden muß. Demgegenüber haben hiermit 44 % der ostdeutschen Frauen weit weniger Probleme. Das wissen wir auch.Deshalb ist es so wichtig, daß genügend Angebote für das zeitliche Nach- oder Nebeneinander von Familienarbeit und Berufstätigkeit vorhanden sind. In diesem Integrationsbedürfnis sind deshalb nach wie vor Wirtschaft und Gewerkschaften stärker gefordert.Dennoch gilt für die nahe Zukunft, dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen und eine bessere Würdigung der Erziehungsarbeit und ihre Regelung im Rentenrecht zu erreichen. Wir sollten nicht vergessen, daß es die CDU war, die auch in diesem Punkt den ersten Schritt getan hat,
wie in allen anderen Punkten, die meine Kollegin Frau Männle geschildert hat.Ich bitte Sie von der Opposition, dies ehrlich zuzugeben. Sie alle wissen: Wenn man sich allein oder in einer Familie sein Leben gestaltet, kann man nicht alles auf einmal haben, sondern baut man sich seinen Lebensinhalt und auch seinen Lebenswohlstand Schritt für Schritt auf. Das gilt auch für die Gebiete, über die wir soeben diskutiert haben.Ich danke Ihnen.
Ich erteile der Abgeordneten Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie sehr die diesjährige Haushaltsdebatte am wirklichen Leben der Menschen in Ost und West vorbeigeht, zeigen wohl am nachdrücklichsten ihre vielfältigen öffentlichen Begleitumstände. Über 300 Betriebs- und Personalräte aus Ostdeutschland scheuten gestern nicht die Strapazen stundenlanger Nachtfahrten, um der
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Petra BlässRegierung und den Politikerinnen und Politikern hier in Bonn ihre Probleme und Forderungen zu unterbreiten und deutlich zu machen, daß der bisher eingeschlagene Weg der Anschlußpolitik im wesentlichen der Bereicherung der Reichen zugute kommt und für die Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland — derjenigen, die noch Arbeit haben, aber vor allem jener, die aus dem Erwerbsleben ausgegrenzt sind — ein Weg in die soziale Misere zu werden droht.Rechtzeitig zu dieser Debatte veröffentlichte auch das Statistische Bundesamt aktuelle Zahlen zur wirtschaftlichen Lage und zur Einkommenssituation in den neuen Bundesländern. Daraus geht hervor, daß die Talfahrt dort noch längst nicht gestoppt und das berühmte Licht am Ende des Tunnels ferner denn je ist. Ein monatliches Durchschnittseinkommen von 2 080 DM brutto im Osten bei gleichzeitiger Angleichung des dortigen Preisniveaus an Westverhältnisse reicht gerade für das Nötigste, und jede unplanmäßige Belastung gefährdet die Existenzsicherung.Hierzu paßt dann auch die in diesen Tagen veröffentlichte Studie über das Ausmaß der Armut in Deutschland. Mit der Feststellung, daß in diesem Land jeder zehnte Deutsche und jeder vierte Ausländer 'unter der Armutsschwelle lebt, unternimmt nun mit der Caritas schon der zweite große Wohlfahrtsverband neben dem Paritätischen den Versuch, Sachwalter der Armen zu sein und damit auch dem dickfelligsten Parlamentarier die Chance zu nehmen, dieses Problem mit dem Verweis auf die Sozialhilfe für erledigt zu erklären.Allem Frohreden zum Trotz: Das bundesdeutsche System der sozialen Sicherung verhindert Armut nicht, verhindert nicht, daß zunehmend mehr Menschen in materielle Not geraten und Obdachlosigkeit um sich greift. Gerade in den neuen Bundesländern werden wir in nicht allzu ferner Zeit erleben, daß diese unwürdigen Lebensumstände zur bitteren Normalität werden. In bestimmten Landstrichen, wo schon heute jeder bzw. jede zweite arbeitslos ist, ist die drohende Armut allgegenwärtig. Und wenn man weiß, daß in den neuen Bundesländern die durchschnittliche Arbeitslosigkeitsdauer inzwischen auf knapp 40 Wochen gestiegen ist, muß einem klar sein, daß dies ein rasantes Anwachsen der Arbeitslosenhilfeempfängerinnen und -empfänger und vor allem der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger in diesem Jahr und in den folgenden Jahren signalisiert.Die in den letzten Wochen angebotenen und verworfenen Konzepte zur Finanzierung des Anschlusses werden dies nicht ändern. Im Gegenteil, sie machen die Verwirrung komplett, fördern Frust und Hoffnungslosigkeit und vor allem eine tiefe Vertrauenskrise in diese Gesellschaft und ihre scheinbar undurchdringlichen Machtstrukturen. Der Haß gegen die da oben richtet sich gegen die, die noch schlechter dran sind: Ausländerinnen und Ausländer, Flüchtlinge, Asylbewerberinnen und Asylbewerber. Rostock und anderswo stehen auch dafür.Statt sich wirklich diesen Problemen zu stellen und mit diesem Haushalt eine Wende hin zum sozialen Ausgleich wenigstens einzuleiten, werden die Lasten weiterhin völlig einseitig verteilt. Statt auf der Suche nach neuen Finanzierungsquellen denjenigen spürbare Solidarbeiträge abzufordern, die an Großdeutschland nicht schlecht verdient haben, wird auf Hausbackenes zurückgegriffen. Dies läßt sich auch mit den schönsten Formulierungen nicht mehr kaschieren.Solidarpakt heißt nun das neue Zauberwort. Seine Botschaft ist so alt wie schlicht: Lohnstopp und Zwangssparen statt Investitionshilfeabgaben, Ergänzungs- und Arbeitsmarktabgabe oder Besteuerung von hohen Zinseinkommen. Wieder einmal soll der großen Masse der Bezieherinnen und Bezieher mittlerer und kleiner Einkommen die Sanierung der Staatsfinanzen aufgebürdet werden, indem Löhne und Gehälter auf Jahre eingefroren werden. Die Großverdiener bleiben wie eh und je ungeschoren.Daß mit diesem Politikkonzept die gesellschaftliche Nachfrage unverantwortlich geschwächt wird, ist ökonomisch problematisch. Schlimmer noch finde ich, daß damit den westdeutschen Beschäftigten der Eindruck vermittelt wird, daß sie jeden Tag tiefer für ihre mittlerweile nicht mehr so geliebten ostdeutschen Schwestern und Brüder in die Tasche greifen müssen. Daß dies die soziale, menschliche Einheit nicht gerade fördert, sondern die Kluft zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen weiter vertieft, halte ich für verheerend. Wenn die Regierung sich damit auf dem richtigen Weg sieht, mag sie aus ihrer Sicht recht haben. Sie will die ungleiche Lastenverteilung. In ihrem Deregulierungshaushalt wird dies ebenso konkretisiert wie in der morgen zur Debatte stehenden AFG-Novelle. Ich finde diese Politik zutiefst ungerecht und einer dem Sozialstaatsprinzip verpflichteten Gesellschaftsordnung unwürdig.Aber an diese Linie setzt sich in den hier zur Debatte stehenden Einzelplänen 11, 15, 17 und 18 nahtlos fort. Mit 128,8 Milliarden DM werden für die Bereiche Arbeit und Sozialordnung, Frauen und Jugend, Familie und Senioren sowie Gesundheit 29,5 % der Gesamtausgaben aufgewendet. Gegenüber dem ursprünglichen Ansatz des Vorjahres heißt das plus/ minus Null und bleibt damit unterhalb der 2,5%igen Zuwachsrate des Gesamthaushalts. Mit zusätzlichen 8 Milliarden DM hat wenigstens der Haushalt für Arbeit und Sozialordnung eine beträchtliche Steigerung gegenüber 1992 zu verzeichnen; sein Volumen ist damit auf 98,8 Milliarden DM gewachsen.Doch auch mit dieser Steigerung ändert sich nichts am Grundproblem des Sozialetats. Sein Löwenanteil entfällt auf gesetzlich gebundene, ständig wiederkehrende Individualleistungen etwa in Form von Sozialversicherungszuschüssen an die Rentenversicherung und die Arbeitslosenhilfe. Lediglich 1,1 % der Gesamtmittel des Einzelplans 11, also gut eine Milliarde DM, bleiben übrig, um sich Aufgaben vorzunehmen, die den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen entsprechen und eine wirklich gestaltende Sozialpolitik darstellen.Da unser soziales Sicherungssystem Armut nicht verhindert und nachweislich bestimmte Personengruppen, wie alleinerziehende und ältere Frauen, Ausländerinnen und Ausländer, Pflegebedürftige und zunehmend auch junge Menschen, besonders gefährdet sind, müssen Haushaltsmittel für differenzierende Maßnahmen zur Ergänzung des bestehenden Sozialsystems frei sein. Die PDS/Linke Liste wird noch in
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Petra Blässdiesem Jahr Grundbezüge für eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung vorlegen und Vorschläge zur Finanzierung von Arbeit statt von Arbeitslosigkeit unterbreiten.Ganze 480 Millionen DM werden 1993 zur besonderen Förderung von Langzeitarbeitslosen aufgewendet — ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts der Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe im gleichen Zeitraum; die Milliarden, die jährlich die Sozialhilfe verschlingt, gar nicht gerechnet. Das sind doch die Langzeitarbeitslosen, die dringend auf Wiedereingliederungsmaßnahmen angewiesen sind. Hier lohnt es sich, Arbeit zu subventionieren statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren.Es ist doch ein Armutszeugnis für verantwortungsbewußte Sozialpolitikerinnen und -politiker, wenn von den 18,7 Milliarden DM unter dem vielversprechenden Titel „Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsschutz" allein 11,4 Milliarden DM für Arbeitslosenhilfe festgelegt sind und gleichzeitig der Ansatz für Anpassungsmaßnahmen und produktive Arbeitsförderung von 9,1 Milliarden DM auf unverantwortliche 5,9 Milliarden DM gesenkt wurde; ebenjener Ansatz, von dem neue Impulse gegen die Arbeitsmarktmisere, vor allem im Osten Deutschlands, ausgehen könnten.Der Arbeitsschutz wird mit ganzen 124 Millionen DM bedacht. Dies, wohl gemerkt, im Jahr des Arbeitsschutzes und angesichts der Tatsache, daß die BRD beim Erkennen, Anerkennen und der Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen den europäischen Standards vielfach hinterherhinkt.In diese Unlogik paßt es denn auch, daß im Einzelplan 15 der Posten für gesundheitliche Aufklärung gegenüber dem Vorjahr um 16,5 Millionen DM gekürzt wird. Die Begründung hierfür finde ich besonders interessant: Die Mittel werden umgesetzt in den nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan. Nicht etwa, daß ich das nicht für eine extrem wichtige Aufgabe halte. Nur, deutlicher kann man es nicht machen, nämlich daß mit den diesjährigen Haushaltsmitteln nur noch repariert, kuriert und Löcher gestopft werden.
Dazu müssen auch die Gelder herhalten, die ursprünglich wenigstens noch einen Funken von Prävention, Vorsorge und Gestaltung ermöglicht hätten.Geradezu fatal — insbesondere in Anbetracht der jüngsten Ereignisse — finde ich die Kürzung im Einzelplan 17. 50 Millionen DM zur Förderung besonderer Maßnahmen im Rahmen des jugendpolitischen Aufbauprogramms für die neuen Bundesländer verschwinden einfach; ursprünglich eingeplant für Ausbau und Qualifizierung der freien Jugendhilfe, Maßnahmen, die dringender erforderlich sind denn je. Kollegin Niehuis hat ausführlich dazu berichtet.Um beim Einzelplan 17 zu bleiben: Frauen sind in dem ohnehin sehr schmalbrüstigen Papier kaum zu finden. Projektarbeit für Mädchen wird mit ganzen 2,5 % des Gesamtansatzes bedacht. Wichtiger aberfinde ich noch — Frau Fuchs hat bereits darauf hingewiesen —, daß sich in diesem Haushalt kein Signal dafür findet, daß die Bundesregierung die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum § 218 auch in seiner Gänze ernst nimmt. Ich vermisse Haushaltsansätze, die erkennen lassen, daß tatsächlich hier und heute mit der Einführung der sozial flankierenden Maßnahmen begonnen wird.
Da absehbar ist, daß die Länder diese Investitionen nicht allein bewältigen werden, brauchen wir jetzt im Haushalt ausgewiesene Bundeszuschüsse. Die PDS/ Linke Liste wird zur abschließenden Beratung des Haushalts Vorschläge zur Absicherung des Rechts auf einen Kindergartenplatz einbringen.Ich danke.
Das Wort hat die Abgeordnete Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den wenigen Dingen in diesem Hohen Hause, die mich — zumindest von Zeit zu Zeit — amüsieren, gehören die Presseerklärungen der Damen Merkel und Rönsch. Da rühmt sich die Frauenministerin in ihrer Erklärung vom 1. Juli 1992 damit, daß ihr Haushalt um 25 % angehoben wurde. Das hört sich gut an. Wenn man aber genau hinguckt, stellt man folgendes fest: Es handelt sich um eine Steigerung von sage und schreibe 20 auf 25 Millionen DM.Frau Merkel, um in diesem Lande, in dieser Situation eine Frauenpolitik zu machen, die diesen Namen überhaupt ansatzweise verdient, bräuchten Sie mindestens 20 Milliarden DM.Einen Lachanfall verursachte in meinem Büro auch die Presseerklärung von Frau Rönsch vom 14. August 1992, in der sie aus der Tatsache, daß 96 % aller Eltern das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen, messerscharf einen Erfolg der Familienpolitik der Regierung ableitete.
Abgesehen davon, daß es mit Logik nicht viel zu tim hat, wenn eine staatliche Zuwendung allein deswegen als gut bezeichnet wird, weil sie in Ermangelung von Besserem angenommen wird, halte ich das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub in dieser Form für einen absoluten Mißerfolg, und zwar sowohl für die Frauen als auch für die Kinder;
denn die Väter nehmen diese so hoch gerühmte Leistung nur zu 1,5 % — ich wiederhole: 1,5 % — in Anspruch.Etwas anderes war von der Bundesregierung allerdings, denke ich, auch nicht beabsichtigt; denn nie-
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Christina Schenkmand kann auch nur einen Moment lang geglaubt haben, daß sich Männer mit einer derart läppischen Summe abspeisen ließen.
Wesentlich weniger amüsant als diese Presseerklärungen der Ministerinnen fand ich den Videofilm „Ich lasse mich nicht unterkriegen", der als Auftragswerk des Frauenministeriums entstanden ist. In diesem Zusammenhang muß ich Ihnen sagen: Das ist Propaganda, wie sie mich an alte DDR-Zeiten erinnert.
„Nur Mut" wird dort als Botschaft den Frauen entgegengerufen, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Wer keine Arbeit mehr hat, so die Aussage des Films,
macht sich eben selbständig oder wird am besten gleich Eigentümerin des Betriebes, in dem sie früher gearbeitet hat. Die, die es nicht schafft,
ist garantiert selber schuld, da sie sich hat „unterkriegen lassen", weniger „Mut" bewiesen hat oder eben einfach nicht fleißig genug war. So einfach ist das offenbar.Meine Damen und Herren, dieser Film enthält zwei ganz entscheidende Lügen: Lüge Nummer eins ist die Behauptung, es würde schon werden, wenn Frau nur will. Daß dem nicht so ist, sieht Frau schon an der Situation der Frauen im Westen, denen es kaum besser geht als denen im Osten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Geißler?
Herr Geißler, Sie werden vielleicht verstehen, daß mich der Zustand der Frauen- und Familienpolitik derart erregt, daß ich nicht bereit bin, darüber zu diskutieren.
Ich fahre fort: Die Einkommen der Frauen im Westen sind, wohlgemerkt bei Westmieten, kaum höher als die Fraueneinkommen im Osten. Nach einer 1990 von Carola Möller und Ursula Müller in Hessen durchgeführten Untersuchung haben über die Hälfte der erwerbstätigen Frauen im Westen ein Nettoeinkommen von höchstens 1 400 DM im Monat.Interessant ist im Zusammenhang mit dem Vorschlag an die Ostfrauen, sich doch einfach selbständig zu machen, vielleicht noch eine Zahl: Über ein Drittel aller Frauen, die im Westteil der Republik selbständig tätig sind, haben ein Einkommen von unter 1 000 DM. Vielleicht sollte Frau Merkel es selber einmal mit einem kleinen Friseurladen, einer Änderungschneiderei oder, wenn das gar nicht geht, mit einem kleinen Lebensmittelladen versuchen.
Viel Glück dabei, kann ich nur sagen. Vor allem gilt: Nur nicht unterkiegen lassen.Lüge Nummer zwei in dem Propagandastreifen ist die Behauptung, daß der Regierung irgendetwas daran liegt, daß sich die Situation von Frauen verbessert. Das Gegenteil ist der Fall. Die Regierung und das Frauenministerium haben ganz offensichtlich nicht das geringste Interesse daran. Es ist vielmehr das erklärte Ziel der CDU, auch die Erwerbstätigkeitsquote der Frauen im Osten an die der Frauen in Westdeutschland anzugleichen.
Im Klartext: Sie soll von einst über 80 % auf höchstens 50 % reduziert werden — gegen den in x Umfragen festgestellten ausdrücklichen Willen ostdeutscher Frauen, die sich nicht zurückdrängen lassen wollen an Heim und Herd. Jetzt auch noch ihr Selbstbewußtsein zu zerstören, indem man ihnen einredet, sie seien selbst schuld an ihrer Misere, weil sie irgendeine imaginäre Chance nicht wahrgenommen haben, halte ich für infam.
In den Verlautbarungen des Frauenministeriums lassen sich nicht einmal Ansätze für Überlegungen finden, wie mit verbindlichen Regelungen die aussichtslos erscheinende Situation, in die Frauen im Osten mit dem Anschluß gebracht worden sind, auch nur gemildert werden könnte.Gedanken darüber machen sich andere. Im Februar 1992 veranstaltete der Frauenpolitische Runde Tisch in Ost-Berlin eine Fachtagung zum Thema „Frauenarmut in Ostdeutschland". Die Ergebnisse dieser Tagung wurden dem Frauenministerium in einem umfangreichen Katalog übermittelt, verbunden mit der Kernforderung, daß die Existenz von verbindlichen Frauenförderplänen ein entscheidendes Kriterium sein muß für die Vergabe öffentlicher Subventionen und steuerlicher Begünstigungen an Unternehmen, die im Osten investieren wollen.Dazu gehört natürlich eine gesetzliche Regelung zur Quotierung bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen, Einstellungen und Umschulungsmaßnahmen, aber auch bei Entlassungen; denn die Tatsache, daß von 100 Erwerbslosen in Ostdeutschland 65 Frauen und nur 35 Männer sind, läßt sich nicht einfach damit erklären, daß nur in den unrentablen Bereichen mehr Frauen als Männer beschäftigt waren. Die offenkundige Diskriminierung von Frauen ist Teil der konzertierten Aktion, mit der Frauen dorthin gedrängt werden sollen, wohin das Patriarchat sie haben will, wo sie funktionalisierbar sind, damit alles so weiterläuft wie schon immer in Westdeutschland.Auf den Brief vom Frauenpolitischen Runden Tisch reagierte das Frauenministerium leider nicht, wenn man einmal von der Posteingangsbestätigung absieht.
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Christina SchenkDas ungemein Tragische ist nur — das finde ich jedenfalls —, daß es im Osten noch immer Frauen gibt, die daran glauben, daß das Versenden von Petitionen an die Ministerin dazu führen könnte, daß ihre Forderungen Eingang in die Politik der Regierung finden.Wo bleibt das Positive, wird vielleicht dieser oder jener oder diese oder jene jetzt fragen. Ich meine, es gibt etwas Positives. Positiv ist im Osten wie auch im Westen die Tatsache, daß Frauen vorsichtiger geworden sind und nicht mehr so oft heiraten wie noch vor 20 Jahren, dafür aber öfter die Scheidung begehren als früher.1960 gab es in der alten Bundesrepublik auf 10 000 Einwohnerinnen und Einwohner noch 94 Eheschließungen pro Jahr. 1989 waren es dergleichen nur noch 64. Das ist angesichts der Situation der Frauen in der Ehe, wie sie beispielsweise in der Studie von Barbara Stiegler in einer Publikation der Friedrich-EbertStiftung geschildert wird, sehr verständlich: Hausarbeit ist immer noch Frauenarbeit, auch dann, wenn Mann und Frau erwerbstätig sind. Und haben Männer den Trauschein erst in der Tasche, sinkt ihre Beteiligung an der Hausarbeit noch mal drastisch.Das Ehegattensplitting führt bei hohem Männereinkommen dazu, daß sich die schlechter bezahlte Frauenerwerbsarbeit für die Ehepaare nicht rentiert, weil sie steuerlich bestraft wird. Für Frauen, die sich deswegen auf einen Verzicht ihrer gering bezahlten Erwerbsarbeit einlassen, wird das Ehegattensplitting zur Falle. Der Verlust der Unabhängigkeit ist der Preis dafür.Zudem ist in Krisenzeiten das traditionelle Versorgungsmodell der Ehe besonders gefährlich. Verheiratete Frauen werden als Doppelverdienerinnen diffamiert, und ihre Erwerbsarbeit erscheint vielen als weniger schützenswert als die Erwerbsarbeit verheirateter Männer.So gesehen, finde ich, ist es eine kluge Reaktion vieler Menschen im Osten auf den Einzug des neuen Staates. Die Zahl der Eheschließungen ist von 1990 bis 1991 um 50 % und im ersten Halbjahr 1992 noch einmal um weitere 7,2 % gesunken.Damit, meine Damen und Herren, komme ich zum Schluß. Es gibt also auch durchaus positive Entwicklungen in der Lebenssituation von Frauen in der Bundesrepublik. Allerdings werden diese nicht vom Frauenministerium, nicht vom Familienministerium und auch nicht vom Sozialministerium bewirkt, sondern von den Frauen selbst.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Dr. Angela Merkel.Dr. Angela Merkel, Bundesministerium für Frauen und Jugend: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Fuchs, wenn Sie den Familienbegriff verspotten, dann, glaube ich, müssen Sie sich fragen, ob Sie sich nicht von Ihrer eigenen Basis entfremden. Undwenn Sie schwarz-weiß-malen in einer Weise, wie ich es in diesem Hause eigentlich selten gehört habe,
dann, kann ich nur sagen, mindern Sie die Akzeptanz jeder demokratischen Auseinandersetzung.
Wenn Sie dann auch noch das Wort Verantwortung verhöhnen, dann kann ich Ihnen, die Sie wissen, daß es einen Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung gibt, nur sagen, daß dies wirklich kein Beitrag zur deutschen Einheit ist.
Wer in diesen Wochen durch die neuen Bundesländer reist und mit den jungen Menschen, mit den Frauen redet, der spürt natürlich, daß für viele im Augenblick keine Lebensperspektive da ist. Die psychischen Probleme, die der Übergang vom Sozialismus zur Sozialen Marktwirtschaft für die Ostdeutschen, allerdings zum Teil auch für die Westdeutschen gebracht hat, sind längst noch nicht überwunden. Nach zwei Jahren deutscher Einheit wissen wir: Die Menschen in den alten und neuen Bundesländern haben sich mehr auseinandergelebt, als wir das gedacht haben.Vielen Menschen in den neuen Bundesländern fällt es schwer, sich dem existentiellen Umbruch zu stellen und sich mit ihm zurechtzufinden. Ich glaube, in der Frauen- und Jugendpolitik ist dies deutlicher zu spüren als in vielen anderen Politikbereichen.Natürlich fragen die Menschen in den neuen Bundesländern immer wieder nach ihrer eigenen Lebensperspektive, nach Arbeitsplätzen. Heute morgen haben wir in der Debatte über den Standort und über die wirtschaftlichen Fragen ausführlich darüber gesprochen. Es ist natürlich unbestritten, daß die entscheidende Aufgabe darin besteht, Investitionen in den Osten zu bringen. Aber das kann nicht alles sein. Ich wiederhole es: Wir müssen uns auch der Aufgabe stellen — Frau Niehuis hat es schon zitiert —, auf allen Ebenen den Menschen ihr seelisches Gleichgewicht wiederzugeben. Gerade deshalb hat Frauen- und Jugendpolitik jetzt eine herausragende Bedeutung.
Dies ist uns allen in erschreckender Weise auch angesichts der Ausschreitungen junger Menschen gegen Ausländer deutlich geworden. Was hier geschehen ist und geschieht, ist nicht entschuldbar. Wer Gewalt zum Mittel der Auseinandersetzung macht, macht sich strafbar. Aber ich sage auch deutlich: 95 % der jungen Menschen in den neuen Bundesländern und auch in den alten Bundesländern halten die demokratischen Spielregeln ein, und sie lehnen Gewalt ab.
Angesichts der Gewaltaktionen einer Minderheit dürfen wir die Mehrheit nicht aus den Augen verlieren.
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Bundesministerin Dr. Angela MerkelWir müssen sie in ihrer Haltung ganz bewußt unterstützen.
Jugendpolitik muß langfristig und vorbeugend angelegt sein. Mit Aktionismus und dem schnellen Rufen nach Maßnahmen immer dann, wenn es gerade zu Ausschreitungen gekommen ist, kommen wir nicht weiter. Vielmehr muß jeder, der Verantwortung trägt, sich selbst fragen, was er getan hat,
um z. B. Freizeiteinrichtungen und Jugendeinrichtungen zu schaffen.Zu den Veränderungen — deshalb war ich so böse, Frau Fuchs, über Ihre Ausführungen zur Verantwortung — nach 40 Jahren Sozialismus gehört in der Tat auch, daß Eltern eine erheblich höhere Verantwortung bei der Erziehung ihrer Kinder zukommt.
Dies muß auch in der Jugendpolitik deutlich gemacht werden, z. B. indem wir in der Jugendsozialarbeit auch die Beratung der Familien nicht aus den Augen verlieren.
Ein weiteres, das mir sehr am Herzen liegt: Auch die Schule und die Lehrer sind in besonderem Maße gefordert. Sie müssen mit den jungen Menschen über die veränderten Lebensbedingungen in den neuen Bundesländern sprechen. Das geschieht an vielen Stellen zuwenig.
Die Verantwortung der Eltern und der Lehrer — das gilt selbstverständlich nicht nur für die neuen Bundesländer. Ich halte das an manchen Stellen auch in den alten Bundesländern für ein zunehmendes Problem.
Jugendliche brauchen eine Perspektive. Die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen gehört deshalb zu den wichtigsten Herausforderungen; das wurde heute schon gesagt. Ich bin optimistisch, daß wir jedem Jugendlichen auch in diesem Jahr — im letzten Jahr war es bereits so — eine Ausbildungsstelle anbieten können. Das wissen Sie auch, und Sie haben trotzdem im vergangenen Jahr und auch in diesem Jahr wieder in erheblicher Weise schwarzgemalt.Ich gebe zu, daß besondere Anstrengungen im Hinblick auf Mädchen notwendig sind. Sie sind mehr von überbetrieblicher Ausbildung betroffen. Hier müssen die Bemühungen verstärkt werden.
Wir haben im Bundesjugendplan in diesem Jahr das Programm gegen Aggression und Gewalt begonnen. In 144 Projekten ist inzwischen die Arbeit aufgenommen worden. Erste Erfahrungen zeigen uns, daß Gewalt durchaus verringert werden kann. wenngezielt mit Jugendlichen aus der links- und rechtsradikalen Szene gearbeitet wird.Wir haben natürlich insbesondere Wert darauf gelegt, den Auf- und Ausbau freier Träger in den neuen Bundesländern zu fördern, und zwar mit dem schon heiß diskutierten Sonderprogramm in Höhe von 50 Millionen DM. Mit diesem Programm — das ist erst einmal unbestritten — haben wir vielerlei Aktivitäten von jungen Leuten möglich gemacht. Kreisjugendringe wurden gebildet, und viele haben Mut bekommen. Ich stimme aber Frau Michalk zu, daß dieses Programm zumindest in Teilen einer Fortsetzung bedarf. Ich freue mich über die Unterstützung aus der CDU/CSU-Fraktion und hoffe — ich habe das heute freudig gehört —, daß andere das nicht verhindern werden.Ich möchte an dieser Stelle allen freien Trägern danken, die mit viel Kraft und Zeit den Aufbau der Jugendarbeit in den neuen Bundesländern in den vergangenen zwei Jahren unterstützt haben. Ich glaube, auch darüber müssen wir in den neuen Bundesländern sprechen: Ehrenamtlichkeit ist eine wichtige Voraussetzung dafür, daß viele Dinge in der Demokratie geschafft werden können. Es macht überhaupt keinen Sinn, wenn Sie von der Opposition so tun, als könnte alles bezahlt werden.
Das kann die Gesellschaft nicht leisten.
Wir werden aber auch unsere Anstrengungen in den alten Bundesländern verstärken. Als Beitrag zur Umsetzung des nationalen Drogenbekämpfungsplans soll ein besonderer Schwerpunkt die Suchtprävention für Jugendliche sein. Wir wollen mithelfen bei der Eindämmung von Jugendsekten. Wir wollen die Jugendsozialarbeit fördern. Wir werden eine Einrichtung fördern, die die Fan-Projekte in unserem Hause koordiniert.Im Herbst dieses Jahres — dies nur als ein Schlaglicht auf den internationalen Jugendaustausch, dem ich eine ganz besondere Bedeutung beimesse — wird das Deutsch-polnische Jugendwerk seine Arbeit beginnen. Wir werden dann im Rahmen einer größeren Veranstaltung Ende des Jahres die Arbeit dieses Deutsch-polnischen Jugendwerkes mit ganzer Kraft aufnehmen.Ein besonderes Schwergewicht in den letzten zwei Jahren und auch in diesem Jahr war für uns der Aufbau des Zivildienstes in den neuen Bundesländern. Ich danke insbesondere den kooperierenden Verbänden und den Mitarbeitern des Bundesamtes für den Zivildienst, die unter nicht immer einfachen Bedingungen zur Zeit die höchste Zahl von Zivildienstleistenden betreuen, die es je in der Bundesrepublik gegeben hat.
Ich sage es abschließend noch einmal — ich bitte auch Sie von der Opposition um Unterstützung —: Jugendpolitik kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie dem Grundsatz der Subsidarität gehorcht, d. h. daß Länder und Kommunen auch ihren Beitrag für die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8961
Bundesministerin Dr. Angela MerkelJugendlichen leisten. Investitionen in junge Menschen, gerade in Zeiten so gravierender gesellschaftlicher Veränderungen in Ost und West, bedürfen der Begleitung auf allen Ebenen.Die Bundesregierung trägt auch der besonderen Aufgabe der Frauenpolitik Rechnung. Der Ansatz für frauenpolitische Maßnahmen hat sich in der Tat — ob sie es wegreden oder nicht — um 25 % erhöht. Vor zwei Jahren waren es 15 Millionen DM, jetzt sind es 25 Millionen DM.
— Vor zwei Jahren. Im letzten Jahr waren es 20 Millionen DM, und jetzt haben wir 25 Millionen DM.Insgesamt wendet die Bundesregierung jedoch 400 Millionen DM für frauenpolitische Maßnahmen, Projekte und Modelle in allen Bereichen auf. Allein das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft stellt 1992 z. B. auch noch einmal über 25 Millionen DM für frauenpolitische Projekte bereit. Das muß man zusammenzählen. Die Querschnittsaufgabe der Frauenpolitik wird hieran deutlich.Wir haben in den letzten beiden Jahren — Frau Schenk, da verstehe ich Sie wirklich nur schwer —über 700 Fraueninitiativen mit über 8 Millionen DM aktiv unterstützt. Man kann sagen, das sei nicht genug. Aber Sie können doch wohl nicht behaupten, daß dies kein Anfang wäre. Es wurden über 50 Geschäftsstellen eingerichtet. Wir haben über 40 Frauenhäuser gefördert und dafür gesorgt, daß bedrängte Frauen mit ihren Kindern eine erste Zuflucht hatten. Und das alles in der Übergangsphase mit einer Kompetenz, die dem Bund eigentlich nicht zukommt.
Wir haben zentrale Beratungsstellen eingerichtet, und bis Ende 1993 stehen in allen neuen Bundesländern Kontaktstellen, die vom Deutschen Frauenrat betrieben werden, zur Verfügung, um den Aufbau einer frauenpolitischen Interessenvertretung in den neuen Bundesländern sicherzustellen.Ich weiß aus vielen Gesprächen, daß all dies eine wichtige Hilfe zur Neuorientierung für viele Frauen ist. Ich verstehe natürlich auch den Wunsch vieler Frauen, die möchten, daß diese Initiativen auf Dauer vom Bund finanziert werden sollen. Wir müssen aber im nächsten Jahr einen Teil der Fördermöglichkeiten den Bundesrichtlinien anpassen, so wie sie in den alten Bundesländern gelten. Wir werden aber weiterhin Unterstützung für Fraueninitiativen geben, müssen allerdings auch immer wieder die Länder und Kommunen bitten, dies auf ihre Weise fortzusetzen.Wir alle kennen die schwierige berufliche Situation der Frauen in den neuen Bundesländern. 64,4 der Arbeitslosen sind Frauen.
— Das ist mir bekannt. — Aber wir können nicht völlig daran vorbeigehen, daß Arbeitsmarktpolitik für Frauen natürlich eine Menge getan hat. Von den 290 000 Personen, die Vorruhestandsgeld bekommen, sind 55 % Frauen. 165 000 Frauen — das sind 30 derBezieher — erhalten ein Altersübergangsgeld. Der Anteil der Frauen an den Kurzarbeitern liegt bei 42 %. Das ist zu niedrig. Genauso ist der Anteil an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu niedrig. Bei den Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen haben wir einen Frauenanteil von 61,3 %. Das ist ein gutes Signal.
— Nein, das ist eben leider nicht normal, Herr Keller, weil in anderen Bereichen die Frauen unterrepräsentiert sind. Deshalb haben wir uns auch dafür eingesetzt, und zwar mit Erfolg — ich danke dem Bundesarbeitsministerium —,
daß jetzt aufgenommen worden ist, Frauen entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit bei allen arbeitspolitischen Maßnahmen in den neuen und alten Bundesländern zu berücksichtigen. Das ist ein Novum und, wie ich denke, ein richtiger Schritt.Wenn Sie und wir gemeinsam in einen vernünftigen Dialog über die Erwerbstätigkeit von Frauen eintreten wollen, dann müssen wir auch ein bißchen tiefer greifen, als dies nur immer zu beklagen. Wir müssen dann nämlich darüber nachdenken, wie die Arbeit — —
— Nein, das sage ich allen hier, weil wir keine Lösung dafür haben, wie wir die Arbeit anders verteilen können. Da ist eine meiner dringenden Bitten z. B. an die Gewerkschaften, ein anderes Verhältnis zur Teilzeitarbeit zu gewinnen, weil wir ansonsten mit dieser Frage nicht zu Rande kommen werden.
— Sicherlich, eine andere Verteilung der Arbeit zwischen Männern und Frauen und Teilzeitarbeit auch für Männer.Wir wollen die zusätzlichen Haushaltsmittel vor allem dazu benutzen, Beschäftigungsinitiativen für Frauen im ländlichen Bereich zu entwickeln. In je einem Landkreis in den neuen Bundesländern soll beispielhaft für alle anderen ein Konzept zur Ansiedlung von Betrieben entwickelt werden. Öffentliche Verwaltung, Wirtschaft und Frauen sollen gemeinsam Projekte entwickeln und durchsetzen.Frau Schenk, wenn Sie die Selbständigkeit und die Eigeninitiative in einer solchen Weise diffamieren, kann ich das nicht ganz verstehen. Ich sehe eine ganz wichtige Aufgabe darin, ein Programm für Existenzgründungen von Frauen aufzulegen. Bis jetzt wird ein Drittel der Unternehmen in den neuen Ländern von Frauen gegründet. Viele können nicht überleben. Das ist auch eine Tatsache. Daher muß ein Programm für
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8962 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Bundesministerin Dr. Angela MerkelFrauen auf deren besondere Bedingungen zugeschnitten werden.
Wir wissen alle, Frauen in den neuen und in den alten Bundesländern brauchen eine verläßliche Perspektive. Deshalb arbeiten wir an einem Gleichstellungsgesetz. Dieses Gesetz werde ich noch in diesem Jahr vorlegen. Es beinhaltet einerseits die Frauenförderung in den Bereichen der Erwerbstätigkeit, insbesondere im öffentlichen Dienst. Mir geht es allerdings genauso darum, die Position der Frauen zu verbessern, die ehrenamtlich oder im Haushalt tätig sind.
Frauen- und Jugendpolitik will und muß helfen, ein modernes, vor allem ein gerechtes Deutschland aufzubauen. Deshalb bitte ich Sie auch weiterhin um Ihre Unterstützung.
Ich erteile das Wort der Ministerin des Landes Brandenburg für Bildung, Jugend und Sport, Frau Marianne Birthler,
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin hierher gekommen, um Sie mit aller Kraft, die ich habe, auf die Gefahren der gegenwärtigen Entwicklung insbesondere im Osten Deutschlands hinzuweisen. Natürlich will ich auch etwas von Ihnen. Aber dazu komme ich später.Auf den Gewaltausbruch der letzten Wochen wird in der Öffentlichkeit zwar außerordentlich heftig, aber nach meiner Beobachtung wenig sachgerecht reagiert. Die Bürgerbewegungen der DDR — aber beileibe nicht nur sie — haben im Verlauf der letzten drei Jahre immer wieder vor Fehlentscheidungen auf dem Wege zur deutschen Einheit gewarnt, meist vergeblich. Die wirtschaftlichen und psychosozialen Folgen sind bekannt. Daß sie unvorhersehbar waren, ist nicht wahr. Ich erinnere beispielhaft an Minister Romberg. Er ist bis heute nicht rehabilitiert.
Genugtuung darüber, Recht gehabt zu haben, ist fehl am Platze. Wir müssen auch nicht immer darüber reden. Es genügt schon, wenn heute Warnungen ernst genommen werden.Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage, ob Demokratie in Ostdeutschland eine Chance erhält. Bis jetzt war für Kinder und Jugendliche bei uns im Osten Demokratie nur ein Wort. Womit es jetzt gefüllt wird, hängt von den Erfahrungen ab, die Kinder und Jugendliche Tag für Tag machen.Natürlich machen sie auch gute Erfahrungen. Jugendliche nehmen die Freiheiten in Anspruch: Reisefreiheit, Redefreiheit und manche andere noch dazu. Stärker aber wirken Erfahrungen, die negativ sind: Arbeitsplatzverlust oder die Angst davor, Perspektivunsicherheit, eine sich rasant veränderndeund damit nicht mehr berechenbare Umwelt, das Gefühl von Zweitklassigkeit, der Verlust oder die Veränderung des sozialen Umfeldes einschließlich gewohnter Freizeitmöglichkeiten und vertrauter Bezugspersonen.Bitte, mißverstehen Sie mich nicht. Ich male kein Schreckensszenario, um Sie zum Erbleichen zu bringen. Objektiv gesehen, mögen Sie diese Widerspiegelung der Wirklichkeit auch — zum Teil sogar mit Recht — als verzerrt bezeichnen. Subjektiv jedoch ist sie real, sie wirkt. Deshalb müssen wir diese subjektive Wahrnehmung, mit der Jugendliche die Welt sehen, ernst nehmen.
Dieser Hintergrund alltäglicher Erfahrung ist es, der künftige Grundüberzeugungen bewirkt: Was ist Demokratie? Was sind der demokratische Staat und die Politiker, die für ihn stehen? Was sind demokratische Parteien? Wenn den Erfahrungen, die Jugendliche machen, nichts entgegengesetzt wird, dann droht die Gefahr, daß sich eine ganze Generation aus einem demokratischen Gesellschaftssystem verabschiedet.Ein kleiner Teil der Jugendlichen reagiert gewalttätig. Aber ich denke nicht, daß man sich um die anderen 95 % keine Sorgen machen muß.
Sie reagieren zum Teil mit Rückzug, zum Teil mit Überanpassung, und das ist manchmal gefährlicher als Ausbruch von Gewalt.Die Erziehung in der DDR hat ein übriges getan. Selbstverantwortung, Partizipation und Individualität waren von vornherein verdächtig.Die meisten Kinder und Jugendlichen bei uns im Osten sind gerade dabei, sich einen neuen Platz in der Gesellschaft zu suchen: neue Identifikationsmöglichkeiten, ein neues emotionales Zuhause, eine neue Bezugsgruppe. Mit dieser Wahl fallen Entscheidungen über politische Sozialisation und Gruppenzugehörigkeit für Jahre. Sie sind kaum zu korrigieren, wenn wir nicht schnell handeln.Dieser Prozeß geht mit einem weitgehenden Zusammenbruch der jugendpolitischen Infrastruktur in den neuen Ländern einher. Neue Strukturen entstehen erst allmählich. Was können wir tun, damit Jugendliche es nicht nötig haben, sich in das Bewußtsein der Öffentlichkeit hineinzuprügeln?
— Ich habe ihn mit Bewußtsein gewählt; denn Gewalt ist oft auch ein Aufschrei, weil Jugendliche von ihrer Umwelt nicht ernstgenommen werden.
Nichts ist jetzt wichtiger als Räume, als Ansprechpartner und als sinnvolle Freizeitangebote. Wir müssen Jugendlichen mehr Raum geben, im eigentlichen wie im übertragenen Sinne. Was aber geschieht? Anstatt alle Phantasie, alle Kraft und alle verfügbaren
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8963
Ministerin Marianne Birthler
Mittel darauf zu verwenden, daß Kinder und Jugendliche gewaltfrei und gern leben und daß sie sich in dieser Gesellschaft willkommen fühlen, ist die öffentliche Diskussion in eine gefährliche politische Schieflage geraten. Ich fürchte, die Gewalttäter haben dabei eine gefährliche Lektion gelernt: Werft Steine und Brandbomben in die Quartiere der Asylbewerber, und schon werden Politiker jene für bedrohlicher halten als uns.Wer als Politiker angesichts brutaler Gewalt von Jugendlichen gegen Ausländer nicht die Gewalt, sondern die Ausländer zum Problem macht, handelt nicht nur unverantwortlich, sondern muß sich den Vorwurf gefallen lassen, das Feuer zu schüren.
Ich vermute, hier spielt nicht nur Ignoranz eine Rolle, sondern auch kühle Berechnung. Politik, die die Ursachen von Mißständen nicht im eigenen Land und in politischen Fehlentwicklungen sucht, sondern behauptet, diese kämen von außen, läßt sich besser verkaufen und ist bequemer. Sie leistet bewußt oder unbewußt rassistischen Auffassungen Vorschub und trägt deshalb selber rassistische Züge.
Bei der Suche nach den Ursachen müssen wir uns vor falschen Zungenschlägen hüten. Es darf auch in Zeiten sozialer Belastung keine Entschuldigung für Handlungen geben, die Leben, Gesundheit und Würde von Menschen gefährden.
Die Gleichsetzung von Gewaltbereitschaft und Ausländerhaß ist außerordentlich problematisch. Das Aggressionspotential in unserer Gesellschaft wäre nicht geringer, wenn kein einziger Ausländer unter uns weilen würde. Die Aggression würde sich dann nur andere Ziele suchen.
Daß ausländische Menschen die ersten Ziele der Gewalt sind, ist kein Zufall. Hier allerdings handelt es sich gewiß nicht um ein jugendspezifisches Thema. Die Sympathisanten und heimlichen oder offenen Unterstützer finden sich in der mittleren und in der älteren Generation.Was tun? Ich warne zunächst vor überhöhten Erwartungen an die Möglichkeiten gewaltpräventiver Konzepte der Bildungs- und Jugendpolitik. Pädagogische und sozialpädagogische Programme entfalten ihre Wirkung vorwiegend mittel- und langfristig. Sie sind nicht geeignet, allgemeingesellschaftliche Probleme, für die die Situation Jugendlicher so etwas wie ein Seismograph ist, zu reparieren. Aber sie können schwerpunktmäßig Defizite im Jugendfreizeitbereich auffangen.Im laufenden Haushaltsjahr haben Bundestag und Bundesregierung in verschiedener Weise den Aufbau von Strukturen der öffentlichen und freien Jugendhilfe unterstützt. Insbesondere das Programm „Aufbau freier Träger", AFT genannt, mit einem Volumen von 50 Millionen DM hat geholfen, die schlimmste Not zu lindern. Darüber hinaus konnten viele jugendpolitische Einrichtungen durch ABM über Wasser gehalten werden. Es ist vorbei, bevor es wirklich begonnen hat.
Im vorliegenden Haushaltsplanentwurf für das Jahr 1993 werden die Mittel für das AFT-Programm in den neuen Ländern nicht fortgeschrieben. Das auf drei Jahre angelegte Aktionsprogramm gegen Gewalt und Aggression, das sehr vielversprechend angelaufen ist, wird nicht ausgebaut, sondern gegenüber dem Vorjahr gekürzt.
Zusätzlich droht der Wegfall vieler ABM-Stellen, weil der Bund die Zuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit gestrichen hat und diese Kürzungen im ABM-Bereich durchführen muß. Eine Zahl in diesem Zusammenhang: In Brandenburg arbeiten über 600 Personen in Jugendfreizeitprojekten über ABM. Der größte Teil davon wird auslaufen. Wir werden es mit einer zweiten Welle von Abwicklungen von Freizeiteinrichtungen zu tun haben.
Meine Damen und Herren, damit ist der weitere Verfall der Jugendarbeit in den neuen Ländern beschlossene Sache.Die Jugendminister und -senatoren aller Länder haben sich bei ihrer Konferenz am 12. Juni 1992 in Potsdam einstimmig dafür ausgesprochen — auch alle CDU-Jugendminister, vielleicht weil sie vorwiegend aus östlichen Ländern kommen —, daß eine Verstetigung der Hilfen des Bundes für den Aufbau der Jugendhilfestrukturen in den neuen Ländern dringend erforderlich ist. Ich habe gelesen, Frau Dr. Merkel, daß Sie diese Idee unterstützen.
Ich habe hier Töne wahrgenommen, daß ein solches Programm für erforderlich angesehen wird, so daß man hier, glaube ich, hoffen kann.Die Jugendminister haben gefordert, einen Sonderplan „Neue Länder" ab 1993 in den Bundeshaushalt aufzunehmen, der, um mehr als nur punktuelle Wirkung zu erzielen, langfristig mit einem angemessenen Volumen ausgestattet und einen Schwerpunkt bei der Förderung investiver Maßnahmen setzen sollte.Die bisherigen Hilfen waren uns natürlich willkommen, und wir haben sie genutzt. Aber der Aufbau einer Trägerstruktur braucht mehr als zehn Monate.
Wir benötigen — so sieht es auch der Beschluß derJugendministerkonferenz vor — zur Stabilisierungder Jugendhilfe ein langfristig wirkendes Aufbaupro-
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8964 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Ministerin Marianne Birthler
gramm. Die Jugendministerkonferenz hat sich bei der Frage des Volumens eines solchen Sonderplans zurückgehalten. Ich tue das nicht. Die neuen Länder benötigen zum Aufbau der Jugendhilfestrukturen in den nächsten Jahren jährlich 100 Millionen DM.
Frau Ministerin, nach der Verfassung hat Ihre Redezeit keine Begrenzung. Nach den Abmachungen und den Vereinbarungen hier im Hause haben Sie Ihre zehn Minuten schon ein Stück überschritten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte gerne meine Gedanken zu Ende führen. Ich bin dadurch ermutigt, daß ich den Eindruck habe, daß die Aufmerksamkeit noch nicht erlahmt ist.
Dies allerdings wäre für die Regeln des Hauses nicht ausschlaggebend.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es dauert nicht mehr lange.
Gelegentlich wird behauptet, wir wollten von heute auf morgen Weststandard erreichen. Diese Behauptung ist absurd. In Brandenburg streben wir bis 1995 im Kinder- und Jugendfreizeitbereich ein Platzangebot von 50 Plätzen auf 10 000 Einwohner an. Zum Vergleich: In Berlin wird von 128 Plätzen in öffentlichen Jugendfreizeiteinrichtungen ausgegangen. Wir werden also noch auf Jahre einen geringeren Standard haben als in den westlichen Bundesländern.
Der Deutsche Bundestag, dieses Parlament, hat im vergangenen Jahr, und zwar innerhalb der parlamentarischen Beratungen des Haushalts, die 50 Millionen DM für das AFT-Programm in den Haushalt aufgenommen. Ich appelliere an Sie und an die Bundesregierung, diese Hilfe fortzusetzen. Wir versuchen von Landesseite, das uns Mögliche zu tun. Aber wir schaffen es nicht allein. Wir brauchen Ihre Entscheidung.
Es geht hier nicht nur um eine finanzielle Unterstützung ostdeutscher Jugendpolitik. Es geht um die Lebens- und Demokratiefähigkeit einer Generation. Man könnte einwenden, daß dies nicht für Geld — und seien es 100 Millionen DM — zu haben ist. Richtig! Diese 100 Millionen DM wären jedoch nicht nur eine große infrastrukturelle Hilfe. Sie wären vor allem auch Ermutigung und ein deutliches politisches Zeichen dafür, daß hier im Bundestag die Zeichen der Zeit, die auf Sturm stehen, ernstgenommen werden.
Es geht eben auch hier um die Glaubwürdigkeit von Politik. Alle wortreichen Klagen über Gewalt und Werteverlust werden zu Gewäsch, wenn nicht auch notwendige politische und haushaltspolitische Entscheidungen folgen.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Birthler, die Haushaltsdebatte ist traditionell die Debatte der großen Kontroversen. Aber es muß ja nicht so sein, daß wir in allen Fragen kontrovers streiten. Es muß in diesem Hohen Hause, wenn es seinen Namen verdient, eine große Übereinstimmung in der Ächtung von Gewalt geben. Da gibt es nichts zu streiten.Freilich müssen Ursachen für Gewaltanwendung erkannt und bekämpft werden. Aber noch die schlimmsten Zustände rechtfertigen nicht, einem Menschen einen Molotow-Cocktail ins Gesicht zu werfen.
Wir brauchen die Tabuisierung von Gewalt.
Ich werde auch gleich den Bedarf an Kontroversen befriedigen.
— Ohne Gewalt! Nur mit der Gewalt der Argumente kämpfe ich.
Aber es muß eine Gemeinsamkeit der Demokraten geben. Wir müssen uns gemeinsam diesem Ausbruch von Haß und Aggression entgegenstellen.In der christlichen Soziallehre gab es über Generationen einen erbitterten theoretischen Streit, ob erst Gesinnungsreform und dann Zuständereform; heute würde man sagen, ob erst Bewußtseinsreform und dann Institutionsreform. Ich halte das für einen akademischen Streit. Nur Zustände zu verändern schafft noch keine neue Welt. Wir brauchen auch Bewußtseinsveränderung. Nur Bewußtsein zu verändern ohne das dazugehörige institutionelle Angebot heißt etwas akademisch verbauen, was harte politische Wirklichkeit ist.
— Liebe Kollegin, ich habe schon häufig bemerkt, daß Sie immer ganz entrüstet Ihren Kopf schütteln, wenn ich meinen Gedanken noch gar nicht zu Ende geführt habe.
Ich bewundere Sie wegen Ihrer telepathischen Fähigkeiten.
— Doch, man trifft immer wieder neue Talente hier im Parlament, und das bedarf doch der Zustimmung.Nun aber, meine Damen und Herren, ich habe mein Thema nicht verwechselt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8965
Bundesminister Dr. Norbert BlümWir verhakeln uns ja in Zahlen und Prozenten. Wissen Sie, was ich für die größte soziale Veränderung in diesen Jahren halte? Die größte soziale Veränderung ist, daß aus Deutschland Kriegsgefahr verschwunden ist und sich die Friedenschancen erhöht haben. Das halte ich über alle Beschreibung von Miseren und Krisen für den größten Fortschritt in Deutschland.
Meine Damen und Herren, das findet sogar seinen Niederschlag im Haushalt dieses Jahres. Während sich im Kabinettsbeschluß der Regierung Schmidt zum Haushalt 1983
die Sozialausgaben um 9,8 % verringerten,
war im gleichen Haushalt eine Steigerung der Verteidigungsausgaben um 4,1 % vorgesehen. So hat sich Schmidt verabschiedet: sozial rund 10 % herunter, Verteidigung 4 % hoch.
— Ja, freuen Sie sich doch jetzt einmal über das Kontrastprogramm in diesem Haushalt: Soziales 8,8 % hoch, Verteidigungsausgaben 2,5 % herunter.
— Ich weiß nicht, was es darüber zu lachen gibt, daß wir militärische Ausgaben sparen können, um soziale Verteidigung auszuweiten. Das ist doch ein großer Fortschritt.
Ich weiß bei Gott nicht, was es darüber zu lachen gibt. Eine Friedensbewegte wie Sie, Frau Fuchs, müßte aufstehen und stehend Beifall spenden für diese Entwicklung.
Wir erhöhen den Sozialhaushalt dreimal so stark wie den Gesamthaushalt. In der letzten Haushaltsplanung der Regierung Schmidt wurde der Haushalt meines Amtsvorgängers Westphal doppelt so stark gekürzt, wie der Verteidigungshaushalt erhöht wurde. Deshalb, meine Damen und Herren, können wir nicht mal den ganzen Schutt wegräumen und die Kanonen „Sozialabbau, Anschlag auf soziale Rechte, Geisterfahrt, Trauerspiel" weglassen? Die einen schreien: zuviel Sozialpolitik; die anderen schreien: zuwenig Sozialpolitik. Nach den Gesetzen der Logik kann beides nicht stimmen.
Ich sage: Es stimmt, daß wir den gesunden Mittelweg gehen.
— Ja, den gesunden Mittelweg! In der Tat muß dieSozialpolitik auch sparsam sein. Denn sie wird jaentgegen sozialdemokratischen Vorstellungen nicht aus anonymen Töpfen oder vom Weihnachtsmann oder dem lieben Gott finanziert. Sie wird von Millionen von Arbeitnehmern finanziert, und mit deren Groschen gilt es sparsam umzugehen.
So, jetzt werden Sie gleich eine weitere Wirkung einer Wahrheit auf unsere sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen feststellen.
Nie wurde in Deutschland mehr für den Sozialstaat getan als heute, nie, zu keiner Zeit, wurde mehr für den Sozialstaat getan als heute.
Allein der Bundeszuschuß für die Rentenversicherung in Höhe von sage und schreibe 64 Milliarden DM
ist 1993 um 10 Milliarden DM höher als der Gesamthaushalt des Bundesministeriums für Arbeit 1982. Deshalb wäre ich einmal vorsichtig. Sie können ja die Sozialpolitik kritisieren.
— Alles kann man kritisieren, alles kann besser gemacht werden. Ich stehe hier doch nicht mit der rechthaberischen Attitüde, es gebe keine Probleme, und alles sei in Ordnung. Aber sich hinzustellen und von Kahlschlag und was ich da alles gehört habe, von Sozialabbau zu reden, dem widersprechen die Zahlen. Und Adam Riese war immer mein bester Verbündeter.
Soziale Sicherheit muß verläßlich sein.
— Ja, wissen Sie, was wahr ist, muß wiederholt werden.
Zahlen sind mein größter Partner im Kampf mit den Ideologen. Ideologen haben keine Zahlen, die haben nur heiße Luft.
Soziale Sicherheit lebt nicht nur von Haushaltszahlen, sondern auch von Verläßlichkeit. Es kommt ja nicht nur darauf an, daß jetzt ausreichend Rente gezahlt wird, sondern auch darauf, daß die Rente sicher ist. Ist es nicht eine gute Nachricht, daß die Rentenrücklagen am Ende des Jahres höher sind, als wir geschätzt haben? 31,5 Milliarden DM hatten wir als Schwankungsreserve geschätzt. Am Ende dieses Jahres werden wir sogar die Schwankungsreserve des
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8966 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Bundesminister Dr. Norbert Blümletzten Jahres übertreffen und weit über 42 Milliarden DM Rücklage — —
— Nein, das ist deshalb ganz wichtig, damit wir den Rentnern sagen, daß ihre Rente nicht von der Hand in den Mund finanziert wird. Das ist die Abteilung SPD. Die haben immer von der Hand in den Mund finanziert. Wir machen eine solide Rentenpolitik.
Es ist wichtig: Solange diese Koalition regiert, können Sie sich darauf verlassen, daß solide Rentenpolitik gemacht wird. Die Zahlen beweisen das.
— Frau Fuchs, lassen Sie mich doch nicht in Ihre trübe Rentenvergangenheit absteigen.
Sonst müßte ich Ihnen vorhalten, daß Sie den Bundeszuschuß gekürzt haben. Sie haben der Rentenversicherung Geld geklaut.
Laßt uns doch nicht über diese trübe rote Vergangenheit reden! Mein Gedächtnis ist hervorragend.
— Nicht „helau",
sondern ich wiederhole: Zum Unterschied von der sozialliberalen Regierung haben wir nicht in die Rentenkassen gegriffen, haben wir nicht den Bundeszuschuß gekürzt, sondern einen Bundeszuschuß zustande gebracht, wie er selbst nicht vorausgesagt wurde.
Das ist das Kontrastprogramm zu der Rentenpolitik à la Fuchs.
Fuchs, du hast die Rente gestohlen.
Wir haben den niedrigsten Rentenbeitrag seit 1972.
—Ja, wenn Sie mir so kommen, ich kann jede Gangart mitgehen, jede Gangart!
Wir haben den niedrigsten Rentenbeitrag seit 1972, und wir werden am Ende — —
— Jetzt rede ich über Rentenpolitik. Über Arbeitslosigkeit reden wir morgen oder, wenn Sie ordentlich Zeit haben, auch noch heute abend.Also nochmals: Wir haben den niedrigsten Rentenversicherungsbeitrag seit 1972. Wir werden am Ende dieser Legislaturperiode einen niedrigeren Beitrag haben als am Anfang dieser Legislaturperiode.
Das ist der wichtigste Beitrag zur Senkung der Personalnebenkosten und zur Schaffung von Arbeitsplätzen.
— Das ist Blümsche Rentenpolitik!Meine Damen und Herren, was noch wichtiger ist: Die Rentenbeiträge steigen langsamer, als wir sie gemeinsam bei der Rentenreform geschätzt haben, obwohl wir damals nicht wußten, daß die Rentenversicherung, was ich verteidige, einen großen Beitrag zur Solidarität in Deutschland leistet.
Dennoch bleiben wir unter den gemeinsam geschätzten Beiträgen.Meine Damen und Herren, ich verteidige den Rentenfortschritt, auch die immensen Rentensteigerungen im Osten. Ich verteidige sie auch hier.
Herr Bundesminister, darf ich Sie mit einem Satz unterbrechen. Ich muß jetzt das gleiche sagen, was ich zur Kollegin Birthler gesagt habe. Nach der Verfassung können Sie unbegrenzt weiterreden; nach den Abmachungen haben Sie nur Ihre Redezeit. Die Kollegin Birthler hatte das Argument, daß ihr so aufmerksam zugehört wird. Ich nehme an, Sie haben das Argument, daß Sie soviel Munterkeit im Haus erwecken.
Herr Präsident! Ich maße mir nicht an, meine Rede zu beurteilen. Aber ich sehe, dem Blutkreislauf dient sie sehr.
Insofern bitte ich, mir noch ein paar Sätze zu erlauben.
Zur Steigerung der Renten im Osten noch ein Wort: Die alte DDR-Rentenversicherung hatte im letzten
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8967
Bundesminister Dr. Norbert BlümJahr, in dem sie gelaufen ist, 16,7 Milliarden Ost-Mark Ausgaben.
Jetzt haben wir 47,7 Milliarden D-Mark für die Rentner im Osten. Es kann nicht sein, daß die Renten gekürzt worden sind, wenn sie dreimal mehr in D-Mark kosten, als sie in der alten Ost-Mark gekostet haben.
Die Durchschnittsrente der Männer ist von 572 Mark auf 1 295 Mark gestiegen, die der Frauen von 432 auf 826 Mark. Meine Damen und Herren, wir gemeinsam sollten uns darüber freuen. Von Neid kann überhaupt keine Rede sein. Das betrifft eine Generation. Manche haben zwei Weltkriege mitgemacht oder einen Weltkrieg und 40 Jahre Sozialismus. Die haben nicht mehr soviel Zeit wie die Jungen, das gutzumachen, was dieses Jahrhundert ihnen an Leid zugefügt hat.
Deshalb sollten wir uns gemeinsam darüber freuen, daß es einen großen Rentenfortschritt gibt.Zum Schluß, Herr Präsident, will ich noch folgendes sagen: Was mich am meisten gerührt hat, war die Frage von Rentnern und Rentnerinnen in Sprechstunden und in vielen Anrufen: Gibt es auch im nächsten Jahr eine Rentenerhöhung?
Ja, so war das leider in der alten DDR: Das hing ab von der Laune des Zentralkomitees der SED. Gott sei Dank haben wir ein zuverlässiges gemeinsam geschaffenes Rentensystem, das den Löhnen folgt.
Kein Rentner braucht Angst zu haben, daß er abgehängt wird. Laßt uns das auch als gemeinsame Botschaft an die ältere Generation weitergeben: Ihre Rente ist sicher und sie steigt regelmäßig.
Meine Damen und Herren, wir werden noch viel Gelegenheit haben, diese Diskussion weiterzuführen. Es gibt Punkte, in denen wir streiten, und es gibt Punkte, in denen wir zusammenarbeiten müssen. Ich lade in der Rentenfrage weiterhin zu einem großen Konsens der Parteien ein; denn jede Rentendiskussion schafft nur neue Ängste und Unsicherheit. Das wenigste, was die ältere Generation verdient hat, ist Angst um ihre Rente. Deshalb sollten wir gemeinsam zu dieser Sicherheit der Rente stehen.
Herr Kollege Ottmar Schreiner, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesarbeitsminister, die Art und Weise Ihres Vortrages ist den wirklich dramatischen sozialpolitischen Problemen in Deutschland — Ost wie West — nicht angemessen.
Sie können sich wahrscheinlich mit dem Titel des größten Schönredners aller Zeiten schmücken. Ihnen gelingt es sogar, ein Stück Kuhscheiße in einen Goldklumpen zu reden. Aber das hat mit den Problemen wirklich nichts zu tun.
Ich werde versuchen, auf Ihre Zahlen kurz einzugehen.
Herr Kollege Schreiner, vielleicht können wir das Wort im Protokoll durch „Fladen" ersetzen.
Vielen Dank, Herr Präsident. Die Fülle der bayerisch-deutschen Sprache ist immer geeignet, daß man daraus etwas lernen kann. Herzlichen Dank, ich werde mich bemühen, das Wort durch „ Fladen" zu ersetzen, es in „ Goldfladen" umzuwandeln, Herr Minister.Sie haben gesagt, zu keiner Zeit sei das Sozialbudget größer gewesen als zu Blüms Zeiten. Das ist richtig. Sie haben zudem gesagt, die Zahlen seien ihr größter Partner. Das ist falsch. Ihr größer Partner ist die Fähigkeit zum Kalauern. Ich werde versuchen, Ihnen zu belegen, warum Ihre Aussagen falsch sind.Bereits am Dienstag hat Bundesfinanzminister Waigel in seiner Einbringungsrede gerühmt, der Etat des Arbeitsministeriums bleibe mit deutlichem Abstand der größte Einzeletat und erfahre im Verhältnis zum Vorjahr einen Zuwachs von fast 9 %.
Herr Waigel ist ähnlich verfahren wie Sie. Es wird dem staunenden Publikum suggeriert, die Arbeits- und Sozialpolitik sei bei dieser Bundesregierung in den besten Händen.
— Machen Sie mal langsam; freuen Sie sich nicht zu früh! — Er hat vergessen, hinzuzufügen, daß ein Großteil des Zuwachses dieses Jahr auf die vom Bund zu tragende Arbeitslosenhilfe zurückzuführen ist, weil in Ostdeutschland zunehmend die maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes ausgeschöpft ist. Das ist der Grund.
Das heißt im Klartext, Herr Minister: Die Sozialausgaben steigen u. a. deshalb — unter anderem, wohlgemerkt! —, weil sich nunmehr auch in Ostdeutschland ein gesellschaftlich höchst gefährlicher Sockel an
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8968 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Ottmar SchreinerLangzeitarbeitslosigkeit herauszubilden beginnt. Das ist der wesentliche zentrale Grund.
Mit anderen Worten: Ein Teil des Zuwachses des Sozialetats hat nichts mit einer Verbesserung der sozialen Situation der Menschen zu tun, sondern ist das Ergebnis
einer völlig verfehlten Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Das ist die Wahrheit.
Ich will Ihnen sagen: Die Höhe des Sozialbudgets besagt also überhaupt nichts über die Lebensqualität der Menschen, den ausreichenden Schutz der sozial Schwächeren und den erreichten Stand an sozialer Gerechtigkeit.
— Herr Geißler, auf Sie komme ich gleich zu sprechen.— Tatsächlich befinden wir uns in einer scheinbar paradoxen Situation: Trotz steigenden Sozialbudgets spitzen sich — das ist das eigentliche Problem — gleichzeitig die sozialen Probleme zu; Wut, Rat- und Perspektivlosigkeit entlädt sich bei manchen Betroffenen in zerstörerischen Gewaltaktionen.Ich stimme Ihnen gerne zu, daß es eine Gemeinsamkeit der Demokraten gegen die gewalttätigen Exzesse geben muß. Aber mindestens genauso wichtig ist die Gemeinsamkeit der Demokraten bei der Bekämpfung der Ursachen von Gewalt.
Da ist von Ihnen die Zustimmung noch ausgeblieben. Ich komme darauf zurück.Ich sage Ihnen: Angesichts der jüngsten Unruhen in Deutschland können wir wohl davon ausgehen, daß der soziale Friede in der Bundesrepublik seit 1949 noch nie so gefährdet war, wie dies zur Stunde der Fall ist.
Die Erscheinungsformen der sozialen Krise sind vielfältig: Wir haben massive Unterversorgungsprobleme in Westdeutschland. Ich zitiere aus der „Welt", die Sie ja zum Frühstück lesen,
aus der Ausgabe von gestern, wo relativ breit der Armutsbericht der Caritas — die ist Ihnen wohl bekannt — vorgestellt worden ist. Überschriften: „Westdeutschland: Jeder vierte ist am Rande der Armut" — so das Ergebnis der Caritas-Studie —, undweiter heißt es: „In Deutschland nimmt die Armut sprunghaft zu" .Dem Herrn Bundesfinanzminister wäre die Armutsstudie der Stadt München zu empfehlen, und dem Kollegen Geißler, der ja ausgewiesener Fachexperte in Sachen neue Armut ist, wäre zu empfehlen, sich auf diesem Feld breit zu betätigen und der Bundesregierung auf die Sprünge zu helfen.
Ich weise an dieser Stelle auf den Antrag der SPD-Fraktion hin, endlich mit der Einführung einer sozialen Grundsicherung ernst zu machen. Die Armutsprobleme auch in Westdeutschland, insbesondere die Altersarmut, die Armut bei vielen älteren Frauen, wächst uns über den Kopf.
Die zentrale sozialpolitische Herausforderung in Ostdeutschland ist die weiter dramatisch ansteigende Arbeitslosigkeit. Vor allem in den ländlichen Räumen in Ostdeutschland haben wir inzwischen eine Arbeitslosenquote von 50 % und darüber. Jeder zweite im Dorf ist arbeitslos.
Das ist nicht mehr vorstellbar.Ich will an dieser Stelle festhalten: Es wächst das Sozialbudget, es wachsen aber auch die sozialen Probleme, und es nehmen die sozialen Unzufriedenheiten in Ost- wie in Westdeutschland zu.Lassen Sie mich einige Sätze zu den Ursachen sagen. Geradezu konstitutiv für das bundesdeutsche Sozialstaatsgefüge ist die auch von uns, von der SPD, gewollte Verklammerung von Beschäftigungssystem und sozialer Sicherung. Einerseits werden die Mittel für den ganz überwiegenden Teil der sozialen Leistungen aus Beiträgen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber finanziert, andererseits setzen die wichtigsten Ansprüche auf Sozialleistungen gerade die Partizipation am Arbeitsmarkt, also die Teilhabe des Menschen an der Erwerbsarbeit, voraus.Der soziale Krisenmechanismus läßt sich auf einen einfachen Nenner bringen. Bei steigender Arbeitslosigkeit steigen die sozialen Kosten, während gleichzeitig und gerade durch die hohe Arbeitslosigkeit die Einnahmen z. B. in der Renten- und Arbeitslosenversicherung, aber gerade auch die staatlichen Steuereinnahmen zurückgehen.Die sozial und finanziell katastrophalen Folgen hoher Dauerarbeitslosigkeit werden noch verschärft durch den massiven Anstieg der von der Bundesregierung teilweise gewollten, teilweise zumindest tolerierten Abweichungen vom normalen Arbeitsverhältnis: sozial ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse in vielfältigen Formen, die nur unzulänglich bis gar nicht an der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme beteiligt sind.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8969
Ottmar SchreinerDie betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erwerben keine Ansprüche. Sie sind, wenn nicht schon heute, so doch morgen, ein Teil der neuen Armut.Ich will ein vorläufiges Fazit ziehen. Wenn man ernsthaft an die sozialen Krisen dieser Republik herangehen will, dann muß man kapieren, daß der Dreh- und Angelpunkt einer überfälligen sozialpolitischen Neuorientierung eine wirksame Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik ist.
Und davon ist nicht nur weit und breit keine Spur zu sehen, die Bundesregierung betreibt in erheblichen Feldern das genaue Gegenteil.
— Ja, das sage ich Ihnen jetzt, wie die Bundesregierung das Gegenteil in Sachen Beschäftigungspolitik betreibt.
In Ostdeutschland brechen Tag für Tag weitere Betriebe zusammen. Die Überlebenschancen auch neugegründeter Unternehmungen werden immer geringer.
Das können Sie nicht bestreiten. Die Beschäftigungsgesellschaften in Ostdeutschland arbeiten ohne Perspektive.
Ich sage Ihnen, die Vorschläge der SPD zur Sanierung von Treuhand-Betrieben sind bis zur Stunde abgelehnt worden. Es liegen diesem Parlament mehrere umfängliche Sanierungsvorschläge der sozialdemokratischen Fraktion vor. Bis zur Stunde ist Ihnen nichts anderes eingefallen als phantasieloses Neinsagen, ohne irgendeine erkennbare Perspektive aufbauen zu können.
Die ungelöste Eigentumsproblematik — Sie wissen es doch besser als ich, wenn Sie aus dem Osten kommen — erweist sich als der ärgste Feind dringend notwendiger Investitionen und dauerhafter Beschäftigungschancen.Der ökonomische Liberalismus der Bundesregierung öffnet der Spekulation Tür und Tor, füllt einigen wenigen die Taschen und treibt täglich immer mehr Menschen in die Massenarbeitslosigkeit. Das ist die Wahrheit!Gleichzeitig werden bei steigender Arbeitslosigkeit die bewährten arbeitsmarktpolitischen Instrumente in Qualität und Menge massiv zurechtgestutzt. Der Kahlschlag — da kann man wohl von Kahlschlag reden, Herr Minister — bei den AB-Maßnahmen in Westdeutschland, aber insbesondere auch die in der 10. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes, der sogenannten Abwracknovelle, vorgesehenen Kürzungen vor allem bei den Arbeitsmarktinstrumenten in Ostdeutschland, verschärfen zusätzlich die Krise amArbeitsmarkt und erhöhen umgekehrt die Kosten der Arbeitslosigkeit.Dem großzügigen, aber auch notwendigen Ausbau der Arbeitsmarktinstrumente in Ostdeutschland im vergangenen Jahr folgt nun — wohlgemerkt bei steigender Arbeitslosigkeit — das genaue Gegenteil. Welche Logik, Herr Minister, waltet hinter diesem Geschehen?
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm?
Ja. Ich wollte ihm gerade eine Frage stellen. Ist das auch erlaubt, Herr Präsident?
Welche Logik, Herr Abgeordneter, waltet hinter Ihrer Behauptung vom Abbau der Arbeitsmarktmaßnahmen, wenn an Stelle von 30 Milliarden in diesem Jahr im nächsten Jahr 33 Milliarden DM für aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben werden? Darf ich nach der Logik fragen, wieso Aufstockung Abbau ist.
Herr Bundesminister, die Logik ist ganz einfach zu erklären. Der Bund ist nicht mehr bereit — das wird morgen hier bei der ersten Lesung der 10. Novelle verhandelt —, auch nur einen einzigen Pfennig zur Bewältigung der Arbeitsmarktprobleme in Ostdeutschland beizusteuern. Ausschließlich die Beitragszahler sollen diese Lasten tragen. In diesem Jahr 1992 werden 24 Milliarden DM der Bundesanstalt für Arbeit ausschließlich zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland verausgabt, wiewohl drüben an jeder Hausecke die Arbeit und die gesellschaftlichen Bedarfe geradezu auf der Straße liegen.
Welche Logik beseelt Ihren Kopf?
— Herr Präsident, das wird mir von der Zeit abgezogen, bitte, denn ich wollte noch einiges mitteilen. — Bitte schön.
33 Milliarden DM, darf ich das noch einmal festhalten.
Ich sage Ihnen, daß inzwischen weitaus mehr für die Finanzierung von Unterbeschäftigung ausgegeben wird, und das in Regionen, wo die gesellschaftlichen Bedarfe und die Arbeitserfordernisse buchstäblich für einen Blinden auf der Straße zu sehen sind.
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8970 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Ottmar Schreiner— Also, Sie haben offenkundig die berühmte Schrift des sowjetischen Staatsgründers Wladimir Iljitsch Lenin, einen Schritt vor, zwei zurück, gründlich mißverstanden. Einen Schritt vor, zwei zurück!
Sie sollten sich zumindest, das war ja ein erheblicher Fortschritt, nach den Grundregeln der Echternacher Springprozession richten: Zwei Schritte vor, einer zurück. Das wäre ja schon mal was.
Also machen Sie doch mal Echternacher, anstatt Lenin. Daß der Blüm, der Kenner der These „Marx ist tot, Jesus lebt" auf seine späten Tage zum Leninisten wird, ist ein erstaunlicher Vorgang.
Herr Blüm, in der Haushaltsdebatte des vorigen Jahres am 5. September 1991 haben Sie von dieser Stelle — hier haben Sie gestanden —
im Plenum folgendes formuliert. Ich darf Sie zitieren. Originalton Blüm, 5. September vorigen Jahres: Wenn wir schon Geld zahlen, finde ich es dreimal sinnvoller, aktiv Arbeit zu bezahlen als passiv Arbeitslosigkeit zu finanzieren.
Zitatende. Gut gebrüllt, Löwe, kann man Ihnen da nur zurufen.
Anschließend sind dem Löwen vom Finanzminister die Zähne gezogen worden. Nun sitzt er mißmutig in seinem Käftig und grübelt vor sich hin.
Mutige Initiativen, Herr Minister, die einen Ausweg aus der Krise zeigen könnten, sind von Ihnen längst nicht mehr zu erwarten.
— Im nächsten Jahr landet er als Löwe auf dem Bettvorleger, das wäre eine interessante Perspektive.Sehr geehrte Damen und Herren, die SPD-Fraktion hat schon vor der Sommerpause ihren Antrag „Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren" hier eingebracht. Darin haben wir unsere Vorschläge ausführlich ausgebreitet. Sie können es gerne nachlesen.
Im Kern geht es darum, mit einem Strukturförderungs- und in einem Initiativprogramm für Frauen 55 000 Arbeitsplätze in Ostdeutschland über einen Zeitraum von drei Jahren zu fördern. — Immer wenn es konkret wird, schalten die Freunde ab.Ansonsten, arbeitslose Arbeitskräfte sollen vorzugsweise bei privaten Arbeitgebern Beschäftigung finden. Arbeitsförderungsgesellschaften und gemeinnützige Träger können Aufträge erhalten, insbesondere wenn sich dadurch die Möglichkeit der Aus- und Neugründung von Unternehmungen ergibt, und in solchen Projekten, die private Investitionen erleichtern oder Hindernisse hierfür beseitigen. Dagegen könnte eigentlich nicht einmal die F.D.P. sein. Beide Programme gehen da bewußt über das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium des Arbeitsförderungsgesetzes hinaus, das Privatinvestitionen nur sehr begrenzt unterstützen kann. Sie sollen die Lücke zwischen der kurzfristig durchaus wirksamen Arbeitsmarktpolitik herkömmlicher Art und der notwendigen, aber erst langfristig und nur teilweise beschäftigungswirksamen Investitionsförderung schließen.Ich sage Ihnen: Die SPD-Fraktion ist bereit, neue Wege zu gehen. Wir müssen angesichts der hohen Massenarbeitslosigkeit auch bereit sein, neue Wege zu beschreiten. Wir wollen — und das ist der Kern unseres Anliegens — eine ökonomisch und politisch sinnvolle Umleitung von Finanzmitteln, die ansonsten für passives und gesellschaftlich erzwungenes Nichtstun ausgegeben werden. Und dieses Nichtstun ist sehr, sehr teuer.
Jeder Arbeitslose kostet die öffentlichen Haushalte im Westen durchschnittlich 32 000 DM im Jahr, im Osten ca. 17 000. Die Kosten der Unterbeschäftigung, Arbeitslosigkeit eingeschlossen, belaufen sich allein in Ostdeutschland in diesem Jahr auf ca. 50 Milliarden DM. Was macht das noch für einen Sinn? 50 Milliarden DM, das ist kein Pappenstiel, damit könnte man sehr viel sinnvolle Arbeit fördern.
Wir wollen die gigantische Verschwendung von Beitragsmitteln beenden, den Aufbau in Ostdeutschland beschleunigen, Investitionen erleichtern und das Selbstvertrauen der Menschen durch Teilhabe an Arbeit und gesellschaftlicher Entwicklung stärken. Wir befinden uns übrigens in guter Gesellschaft. Alle Arbeitsministerinnen und Arbeitsminister der neuen Bundesländer haben mit ihrer gemeinsamen Schweriner Erklärung vom 27. August dieses Jahres zur Arbeitsmarktpolitik genau das gefordert, was die SPD-Fraktion hier bereits eingebracht hat.
Wir sind nicht in der Lage, den CDU-Arbeitsministern zu sagen, was sie anschließend zu fordern haben. Soweit sind wir bedauerlicherweise noch nicht. Es wäre schön, wenn wir das könnten.Alle Fachexperten der Bundesanstalt für Arbeit, einschließlich der politischen Führung der Bundesanstalt, unterstützen unsere Position. Sie sind umzingelt, Herr Minister, Sie wissen es nur noch nicht.
Schließlich wollen wir eine gerechte Lastenverteilung durch die Einführung eines Arbeitsmarktbeitrages für diejenigen, die bisher keine Beiträge zurOttmar SchreinerBundesanstalt für Arbeit entrichten. Sehr geehrte Damen und Herren, selbst der Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, Herr Murmann — Partei —, vertritt in einem Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung" vom 3. September diesen Jahres die Auffassung, daß bei der Finanzierung der deutschen Vereinigung die Lasten unausgewogen seien. Ein großer Teil der freien Berufe und die Beamten — so Herr Murmann — würden zu wenig herangezogen. Wir, die SPD, haben immer wieder darauf hingewiesen, daß die soziale Unzufriedenheit im Westen genau hier in der völlig ungerechten Lastenverteilung eine wesentliche Ursache hat. Haben Sie endlich den Mut zu einer Korrektur!Allerdings betreibt die Bundesregierung auch auf diesem Feld eher das Gegenteil. Nachdem sie die Arbeitnehmerschaft über massive Erhöhungen der Arbeitslosenversicherungsbeiträge massiv geschröpft hat und weiter schröpft, klagt die Bundesregierung nunmehr von der gleichen Gruppe auch noch Lohnverzichte ein. Ihnen scheint entgangen zu sein, daß wir jetzt schon die niedrigste Lohnquote seit 1960 haben. Dieser Bundesregierung sind offenkundig auch die letzten Reste des Gerechtigkeitsempfindens abhanden gekommen. Einsamer Rufer in der Wüste
ist ausgerechnet der Bundesverteidigungsminister, der vor wenigen Tagen eine Gerechtigkeitslücke in Deutschland geortet hat.
Vielleicht tauschen Sie Ihre Funktionen einmal aus. Sie würden ja auch ein guter Abrüstungsminister werden, nachdem Sie sich soeben darüber ausgelassen haben.Sehr geehrte Damen und Herren, eine wirksame Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik wäre übrigens auch der beste Beitrag zur Absenkung der Lohnnebenkosten. Solange die Bereitschaft dazu fehlt, ist jedes Geschrei über die Höhe der Lohnnebenkosten völlig fehl am Platze.
Die Lohnnebenkosten ließen sich auch auf anderen Feldern sinnvoll begrenzen.
— Ich meine die Lohnnebenkosten. Das, was ich sage, meine ich auch, im Gegensatz zu Ihnen.
Nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz belaufen sich die gesellschaftlichen Folgekosten arbeitsbedingter Erkrankungen und Unfälle allein in Westdeutschland auf jährlich zirka 90 Milliarden DM. Vorbeugender Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz ist keine überflüssige und teure Belastung, sondern mitursächlich für den ökonomischen Erfolg. Auch hier zielen die Initiativen der Bundesregierung genau in die falsche Richtung.Das auch vom Bundesarbeitsministerium mit betreute Programm „Arbeit und Technik", das alsNachfolgerin des HdA-Programms weiter der Humanisierung der Arbeitswelt dienen soll, gehört zu den wenigen Titeln des Forschungshaushalts, die im Haushalt 1993 überdurchschnittlich gekürzt werden sollen. Nachdem schon 1992 wegen Mittelkürzungen kein neues Vorhaben bewilligt wird, ist jetzt auch 1993 kaum mit neuen Fördermaßnahmen zu rechnen.Die SPD-Fraktion hat einen umfänglichen Antrag zur überfälligen Modernisierung des Arbeitsschutzes vorgelegt. Ich will Ihnen die Zahlen noch einmal in Erinnerung rufen: Die Folgekosten arbeitsbedingter Erkrankungen sind mit zirka 90 Milliarden DM rund dreimal so hoch wie die veranschlagten Kosten einer gesetzlichen Pflegeversicherung. Das im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung immer wieder vorgetragene Argument steigender Lohnnebenkosten kann jedenfalls so lange nicht überzeugen, wie wirksame und notwendige Anstrengungen zur Eindämmung der Lohnnebenkosten auf anderen Feldern überhaupt nicht in Betracht gezogen werden.
Herr Minister, Sie haben in der schon erwähnten Haushaltsdebatte vom 5. September vorigen Jahres gesagt — erneut Originalton Blüm —: „Es gilt, auch jene Ideen, die wir noch nicht verwirklicht haben, mit Kraft durchzusetzen. Dazu zählen Pflegeversicherung ... ". — Von einer kraftvollen Durchsetzung, Herr Minister, ist weit und breit nichts zu sehen. Sie können mit der SPD-Fraktion in wenigen Tagen eine gemeinsame Lösung der Pflegeproblematik erreichen.Sie sollten uns allerdings nicht mit den wirren und sozialpolitisch völlig verfehlten Vorschlägen belästigen, Feiertage — etwa auch in Bayern — abzubauen und damit die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Das gilt erst recht für die abenteuerliche Idee, den Kranken über die Einführung von Karenztagen die Pflegekosten aufzubürden.
Vorschläge dieser Art sind eine sozialpolitische Bankrotterklärung allerersten Ranges.
Ich will Sie, Herr Minister, noch einmal zitieren. Sie sagten am 5. September 1991 von dieser Stelle aus: „Deshalb hoffe ich und setze darauf, daß dieser Deutsche Bundestag nach 20 Jahren Diskussion endlich eine anständige Antwort auf das Thema Pflege gibt ...". — Unsere Position ist klar: Den Kranken die Pflegekosten aufzubürden, ist keine anständige, sondern eine extrem unanständige Antwort.
Die SPD-Fraktion hat mit zahlreichen Initiativen gezeigt, daß sie bereit ist, konstruktiv an der Lösung der sozialen Probleme unseres Landes mitzuwirken.
Für jeden Tag, an dem Ihre bisherige Politik fortgesetzt wird, zahlen die Menschen einen hohen Preis.
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8972 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Ottmar SchreinerWir haben die höchste Arbeitslosigkeit seit der Weltwirtschaftskrise in den frühen 30er Jahren. Mit der Arbeitslosigkeit steigen auch Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.
— Zuletzt könnte auch unsere Demokratie, Herr Geißler, großen und für lange Zeit vielleicht irreparablen Schaden nehmen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Dr. Gisela Babel, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Standortdebatte heute vormittag kam der Bereich Sozialpolitik ja nicht zur Sprache, obwohl das Thema „Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik" ja nun wirklich den Lebensnerv der Volkswirtschaft trifft.
Ich behaupte, daß wir gerade in einer sozialpolitischen Debatte Standortfaktoren höchsten Ranges ansprechen müssen.
In diesem Zusammenhang sind es ja Wirtschaftsexperten— übrigens auch aus der F.D.P. —, die uns, den Sozialpolitikern, immer gerne den Satz sagen: Es kann nur das verteilt werden, was vorher erarbeitet worden ist.
Der Satz ist zwar banal, aber richtig. Er richtet sich besonders an die Adresse derjenigen, denen das Verteilen so am Herzen liegt, daß sie darüber die Notwendigkeit, auch Produktivität zu erhalten, vergessen.
Freie Marktwirtschaft kann in einer Demokratie aber nur auf der Grundlage einer Sozialordnung bestehen und sich entfalten. Freie Marktwirtschaft und Sozialordnung bedingen einander. Das wird nirgends deutlicher als jetzt im Osten Deutschlands. Wenn in der ausgedehnten Industrielandschaft dort Arbeitsplätze in bisher nicht gekannten Ausmaßen verlorengehen, weil sie in einer dem Wettbewerb ausgesetzten freien Marktwirtschaft keinen Bestand haben, dann kann diese Situation durch den riesigen Einsatz sozialer Maßnahmen nur mühsam erträglich gemacht werden.Es hilft uns nichts, immer wieder beschwörend darauf hinzuweisen, daß der Zusammenbruch Folge sozialistischer Mißwirtschaft ist. Natürlich ist er das, aber für den einzelnen stellt sich die Lage oft so dar,daß er früher innerhalb einer Firma unbeschäftigt war, während er heute außerhalb des Betriebes unbeschäftigt ist. Er empfindet seine Lage heute oft sogar als noch bedrückender und hoffnungsloser als damals.Der Arbeitsplatz ist und bleibt Zentrum für eine sozial gesicherte Existenz. Das Fehlen von Arbeit ist für den einzelnen eine seelische Belastung. Das ist langfristig auch durch soziale Hilfsangebote nicht auszugleichen. Insofern ist die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen für unseren Bürger Kernstück sozialer Politik. Warum sonst bemühen sich Frauen um Arbeit? Warum bemühen sich Pädagogen für Jugendliche, Straffällige, Drogenabhängige um Arbeit? Warum bemühen sich Behinderte leidenschaftlich um Eingliederung ins Arbeitsleben?Eine Politik, die sich vorrangig um Arbeitsplätze bemüht, eine Politik, die soziale Maßnahmen daran orientiert, daß Arbeitsplätze erhalten und nicht gefährdet werden, daß neue entstehen können, ist sozial. Umgekehrt gilt — ich sage das in aller Härte —: Eine Politik, die unter Gefährdung von Arbeitsplätzen soziale Umverteilung betreibt, ist zutiefst unsozial.
Nun doch zu dem Thema Lohnkosten in Deutschland. Auf den ersten Blick sieht es zumindest in den Ländern der alten Bundesrepublik ja gut aus: kürzeste Arbeitszeit, längster Urlaub, höchste Löhne, hohe Produktivität, aber — jetzt kommt es — höchste Lohnnebenkosten, auch der höchste Ausfall durch Krankheit, wachsende Lohnstückkosten, eine gewaltige Schattenwirtschaft, gegen die wir mit dem Spielzeugschwert des Sozialversicherungsausweises anzukämpfen versuchen.Vor allem aber steigen die Kosten der sozialen Sicherungssysteme unaufhörlich an. Damit stellt sich den Sozialpolitikern eine unbequeme und heikle Aufgabe: An unseren sozialen Sicherungssystemen sind nämlich ständig Deicharbeiten nötig. Wir müssen, um den Lohn durch soziale Abgaben nicht immer höher zu belasten und Beitragsstabilität zu erreichen, Leistungen einschränken. Deswegen sind ja auch die Anstrengungen der Gesundheitspolitiker geradezu heroisch und anerkennenswert. Täten wir nichts, meine Damen und Herren, dann, so hat man ausgerechnet, würde im Jahre 2040 der gesamte durchschnittliche Lohn allein für die Finanzierung der Krankenversicherung in Anspruch genommen werden. Alle Sozialabgaben hängen dem Lohn wie ein Mühlstein um den Hals.Ich verhehle hier nicht die Sorge vor einem gefährlichen Trend, der jüngst in der Presse als „Sozialdemokratisierung der Politik der großen Volksparteien" gekennzeichnet wurde und der sich gerade dadurch auszeichnet, daß eher verteilt als gespart wird und daß steigende Arbeitskosten als sozial nicht relevant eingestuft werden. Es kann doch nicht sein, daß der Zusammenbruch des Sozialismus in unserer Industriegesellschaft jetzt dazu führt, daß sich ein solcher Trend durch Fehlen des Schreckbildes immer ungebremster Bahn bricht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8973
Dr. Gisela BabelIch muß in diesem Zusammenhang auch ein Wort zur Pflegeversicherung sagen. Gerade das Thema „steigende Lohnzusatzkosten und Gefährdung von Arbeit in Deutschland" war ja Kern der Meinungsverschiedenheit zwischen den Koalitionsparteien. Die F.D.P.-Fraktion hat aus Gründen höherer Staatsraison einem Umlageverfahren zugestimmt, das mindestens um 1,7 Beitragspunkte die Lohnzusatzkosten weiter in die Höhe schraubt. Ich erinnere aber die Union an ihren eigenen Beschluß und äußere die Erwartung, daß sie den Punkt Ausgleich der Lohnnebenkostensteigerung ernstnimmt, also die Kompensation ist für die F.D.P. unverzichtbar, aber auch für alle anderen gescheiten Menschen, meine Damen und Herren.
Es ist gewiß für die Rahmenbedingungen der Volkswirtschaft unerläßlich, zurecht von den Experten angemahnt, geordnete öffentliche Finanzen zu haben. Das wird übrigens in den Fachdebatten von den Sozialdemokraten immer völlig ausgeblendet, daß eigentlich das Sparen ein Beitrag ist, um Arbeitsplätze eher entstehen zu lassen als ein Beitrag zur Gesundung der Volkswirtschaft. Das wird immer völlig vergessen, kann uns aber nicht davon abhalten. Es ist nicht einfach zu erklären, daß nun auch das Sparen im Haushalt der Bundesanstalt dazu beiträgt, den Ausgabenzuwachs im Haushalt zu bremsen.
Aber, meine Damen und Herren, daß wir auch einmal über einen sinnvolleren Einsatz der Finanzmittel sprechen, scheint mir an folgendem Beispiel doch sehr augenfällig. Wenn ein Bauarbeiter auf einem zum Braunkohlebergbau gehörenden Gelände Aufräumarbeiten in einer AB-Maßnahme durchführt, müssen dafür im Jahr 51 364 DM ausgegeben werden. Wenn derselbe Bauarbeiter die gleiche Arbeit aber in einem Chemiekombinat durchführt oder bei der Forstwirtschaft,
dann kostet es im letzteren Fall, also bei der Forstwirtschaft 28 310 DM und bei der Chemie 33 292 DM. Ich sage Ihnen genau, Herr Andres, wenn er zuhause sitzt, dann deswegen, weil Sie eine so blödsinnige Verteilung von AB-Maßnahmen auch noch rechtfertigen wollen. Da faßt man sich an den Kopf!
Nur weil es früher diese Riesenkombinate gab und den entsprechenden Tarif, zahlt heute die Bundesanstalt die Tarife für AB-Maßnahmen. Sinnvoll wäre es doch, die AB-Maßnahmen in ihren Tarifen an der Tätigkeit dessen zu orientieren, der sie durchführt.
Immerhin gibt es einen kleinen Lichtblick, Herr Andres, die sind ja nicht alle so unvernünftig, wie Sie das immer annehmen, denn bei der IG Chemie und Bergbau gibt es die Zustimmung der Gewerkschaft zu einem speziellen AB-Tarif, der für 100 % Arbeit 90 % Entgelt einsetzt. Dies ist sicher einer Teilzeit-ABvorzuziehen. Beides wird noch in der Diskussion zum AFG eine Rolle spielen. Bedenklich bleibt aber,
— ich komme gleich dazu, bitte hören Sie mir einmal bei diesem Satz zu, denn er ist ganz wichtig —, auch beim 90 %igen Tarif in der Braunkohle übersteigt die Bezahlung immer noch den Betrag, den ein Handwerksbetrieb zahlen kann. Das heißt,
Anreize, aus dem bequemen, hochdotierten AB-Tarif auszusteigen in einen ungesicherten um die Existenz ringenden Handwerksbetrieb ist nach wie vor auch dann noch nicht gegeben. Das ist der Punkt, wo wir sagen, falsch eingerichtete Sozialmaßnahmen erschweren die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dies sind Beispiele einer teuren und wirkungslosen Arbeitsmarktpolitik.
Meine Damen und Herren, es ist schon von Frau Merkel darauf hingewiesen worden, daß in diesem AFG ein guter Passus drin ist, nämlich, daß Frauen jetzt wirklich mit ein bißchen mehr Energie als früher an den AB-Maßnahmen zu beteiligen sind, nämlich in der Höhe, an der sie auch an der Arbeitslosigkeit Anteil haben,
nämlich zu 64 %. Dies halte ich für gut. Ich sage Ihnen eines, Frauen haben sehr oft, übrigens auch drüben, typische Berufe in der Betreuung und Erziehung, in der Jugendarbeit und Kinderbetreuung. Es ist richtig, daß man ihnen hier zum Beispiel über AB Möglichkeiten gibt, in der Kommune solche Arbeiten aufzugreifen.Meine Damen und Herren, ich fasse noch einmal zusammen. In der Debatte „Standort Deutschland" sind Sozialabgaben wichtige den Wettbewerb beeinflussende Faktoren. Positiv sind diese Faktoren, was den sozialen Frieden in Deutschland anlangt, im Vergleich zu anderen Industriestaaten. Negativ sind die hohen Lohn- und Lohnnebenkosten. Daß diese beiden Faktoren miteinander zusammenhängen, kann sicher keiner bestreiten. Jetzt sind sie aber an einer kritischen Wegkreuzung, und die F.D.P. hält es für die sozialpolitische Aufgabe Nummer 1: Sicherung der Arbeitsplätze,
Schaffung neuer zukunftssicherer Arbeitsplätze. Dies bedeutet für uns, daß wir soziale Sicherungssysteme im Aufgabenzuwachs in Grenzen halten, daß wir neue zusätzliche Aufgaben, die wir sicher im sozialen Bereich auch haben werden, durch Einsparungen an anderer Stelle finanzieren müssen.
Metadaten/Kopzeile:
8974 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992
Dr. Gisela BabelUnd vor allem, daß wir die vorhandenen Mittel effektiver einsetzen. Vielen Dank.
Herr Kollege Dr. Heiner Geißler, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich mir überlege, daß uns die Leute hier zuhören, dann halte ich diese Form der Streiterei für absolut unmöglich angesichts der Probleme, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in ganz Europa und in Deutschland auf uns zukommen. Wir sind dabei — das Wort Solidarpakt ist gefallen —, gemeinsam zu überlegen, wie es weitergeht.
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Dreßler, hat heute morgen im „Express" einige Punkte formuliert: Bei den AB-Maßnahmen gibt es keinen Kahlschlag, sondern es ist eine Antwort darauf, daß die Entgelte bei AB-Maßnahmen oft höher sind als das, was in vielen Betrieben, auch Handwerksbetrieben, an realen Löhnen bezahlt wird. Darauf müssen wir eine Antwort finden. Darüber werden wir reden.
Rückgabe vor Entschädigung hat er genannt, und daß wir über die soziale Symmetrie bei der Belastung reden müssen. Das hat nicht nur Volker Rühe gesagt, das habe ich gesagt und das sagte auch Theo Waigel, als er bemerkte, hier sei eine offene Flanke. Das hat auch Norbert Blüm laut und deutlich gesagt.
Wir müssen auch über die weitere Förderung der Investitionen reden.
Aber etwas geht nicht, und damit komme ich zum Kollegen Dreßler, der als Vorspann gesagt hat, und damit knüpfe ich an das an, was eben gerade auch gesagt worden ist: Kanzler Kohl muß selber sehen, wenn das alles nicht erfüllt wird, wie er den Karren, den er vor die Wand gesetzt hat, wieder flottmachen will. — Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, das setzt ja wohl voraus, daß es vorher einen flotten Karren gegeben hat.
Sie machen da einen großen und gefährlichen Fehler. Ich kann schon verstehen, daß die Menschen heute in der Situation im Osten nicht mehr hören wollen, daß sie bespitzelt wurden und eingesperrt waren, daß ihre Rente 400 Ostmark betrug und der Lohn 800 Ostmark, daß heute die Durchschnittsrente doppelt so hoch in DM ist, daß ungefähr eine Million Frauen zum ersten Mal Hinterbliebenenrente in DM bekommen haben, daß sich die Löhne in DM fast verdreifacht haben und auch die Kaufkraft in den letzten zwei Jahren um jeweils 10 % gestiegen ist, daß eine Familie mit zwei Kindern im Alter von zehn und 15 Jahren heute im Osten ein Mindesteinkommen von 1 642 DM plus Miete hat. Ich habe für alles Verständnis. Das war auch gestern bei den Betriebsräten in unserem Fraktionssaal so, bei Ihnen wird es nicht anders gewesen sein, daß die Menschen im Moment gar nichts darüber hören wollen. Aber etwas geht nicht: Daß hier in
diesem Saal oder draußen Sozialdemokraten oder andere mit Hilfe von „Wirtschaftsexperten" wie Günter Grass und anderen
die Legende verbreiten, erst Helmut Kohl und Norbert Blüm hätten zusammen mit der Treuhand die Wirtschaft der alten DDR ruiniert.
Das geht nicht!
Wer so redet, der macht etwas, was Frau Birthler völlig zu recht ablehnt. Ich habe ihr bei ein oder zwei Sachen, die sie gesagt hat, Beifall gegeben. Da hat sie auch recht gehabt.
Ich will dazu noch etwas sagen. Alle miteinander haben wir Fehler gemacht. Es ist ja nicht so gewesen, daß da ein Regierungswechsel stattgefunden hätte. Deswegen war ich immer gegen den Begriff Wende. Es hat sich etwas anderes vollzogen mit unserem Vaterland, nämlich der größte Umbruch, den die Weltgeschichte nach meiner Auffassung je erlebt hat. Jetzt stehen wir vor der Situation, nach zwei Jahren einmal ganz ruhig miteinander Bilanz zu ziehen: War alles richtig? Was war richtig? Die Politik hat Fehler gemacht. Der Bundeskanzler hat gestern hier an diesem Pult gesagt, es sind Fehler gemacht worden.
Haben Sie keine Fehler gemacht, etwa Oskar Lafontaine, der die Wirtschaftskraft der DDR gerühmt hat?
Aber es gibt noch andere. Ich nenne die westdeutschen Länder und auch die Ökonomen, die Ordnungspolitiker, die vom selbsttragenden Aufschwung geredet haben und uns jetzt Belehrungen über Europa geben wollen. Wir sollten diese Leute jetzt einmal kritisch miteinander betrachten.
Was die westdeutschen Länder und auch die Treuhandanstalt angeht: Machen wir nach zwei Jahren Bilanz.
Etwas muß ich noch sagen.
Herr Kollege Geißler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fuchs?
Nein, erst wenn ich den Satz vollendet habe; dann mache ich es sehr gerne. — Etwas möchte ich doch noch sagen. Wir sind Sozialpolitiker und wissen, was wir zu verantworten haben. Einen möchte ich aus dieser Liste eigentlich herausnehmen, nämlich denjenigen, der für die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik verantwortlich ist. Wir haben gleich im Jahre 1990 zügig eine flächendekkende Arbeitsverwaltung geschaffen, die Auszahlungen der Leistungen sichergestellt, die AB-Maßnah-
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Dr. Heiner Geißlermen sofort in die Wege geleitet sowie das Arbeitslosengeld gezahlt.
Wenn es Norbert Blüm und unsere gemeinsamen Anstrengungen nicht gegeben hätte — mit neuen Formen der Kurzarbeit, mit den AB-Maßnahmen; die Rentenpolitik haben wir gemeinsam gemacht —, dann hätten wir heute wahrscheinlich drei oder vier Millionen Arbeitslose mehr. Aus diesem Grunde möchte ich, wenn wir von Fehlern reden, sagen: Norbert Blüm hat wahrscheinlich die wenigsten gemacht. In dem Punkt greifen Sie ihn zu Unrecht an.
— Nein! Worüber wir miteinander reden müssen, will ich gleich sagen.Bitte schön, Frau Fuchs.
Herr Geißler, sind Sie mit mir der Auffassung, daß man dann, wenn man zugibt, daß Fehler gemacht wurden, eine Politik einleiten muß, in der die Fehler korrigiert werden? Das ist ja der Punkt. Sie sind weder bereit, vom Prinzip Rückgabe vor Entschädigung abzugehen, noch sind Sie bereit, eine sachgerechte Industriepolitik zu betreiben.
Frau Kollegin, eine Frage.
Deswegen frage ich: Sind Sie mit mir der Auffassung, daß es ein Trauerspiel ist, daß Sie die Fehler, die Sie eingestehen, nicht korrigieren, sondern weiter so wursteln wie bisher?
Frau Fuchs, ich will Ihnen darauf gerne antworten. Eines ist sicher — vielleicht werden Sie mir dabei zustimmen —: Es wird auch der Christlich Demokratischen Union auf die Dauer nicht viel nützen, wenn sie völlig zu Recht sagen kann, daß wir z. B. die rechtlichen Fragen des Asylproblems nicht haben lösen können, weil die Sozialdemokraten anderthalb Jahre zu spät gekommen sind. Es wird Ihnen nichts nützen, wenn wir mit der Streiterei so fortfahren. Die Bürgerinnen und Bürger werden alle miteinander nach zwei Jahren sagen: Die großen Parteien haben gestritten und gestritten und haben sich Vorwürfe gemacht, wie sie eigentlich gar nicht zu rechtfertigen sind. —
Dann werden sie ihre Konsequenzen ziehen. Alles, was wir hier treiben —, auch das, was ich hier heute abend gehört habe, und manchens darüber hinaus — ist Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen. Davon bin ich überzeugt. Das gilt auch für das, was Sie gesagt haben.
Herr Kollege Geißler, jetzt möchte der Kollege Schreiner noch eine Frage stellen.
Nein, ich möchte noch etwas sagen, denn wir müssen gemeinsam weiterkommen. Nicht die Arbeitsmarktpolitik und auch nicht die Sozialpolitik hat versagt. Wir müssen gemeinsam, auch zusammen mit den Liberalen, darüber nachdenken, wie wir unsere Wirtschaftspolitik weiter verbessern. Darüber muß man nachdenken.
Der geschäftsführende Vorstand der CDU/CSU-Fraktion hat gefordert, daß wir hier weitergehen müssen. Wir brauchen die Erhaltung industrieller Strukturen.
Wir müssen über Ersatzmaßnahmen nachdenken. Das sind nicht meine Erfindungen. Dies sind Dinge, die wir miteinander im Vorstand diskutiert haben. Darüber reden wir jetzt in unseren Arbeitsgruppen. Für weggefallene Ostmärkte sind neue Märkte zu erschließen. Wir erwarten auch ein Maßnahmenbündel zur weiteren Förderung der Markterschließung im Westen.Nur, all das, was wir jetzt miteinander erörtern, hat noch einen anderen Hintergrund. Man macht sich in diesen Tagen und schon seit längerem Gedanken über die Stabilität der Fundamente unseres Staatswesens. Es ist eine Frage der Solidarität, inwieweit wir heute einen Prozeß der Entsolidarisierung haben. Das hat etwas mit dem Bewußtsein von den sittlichen Normen zu tun, die unser Staatswesen tragen, nämlich der Toleranz, der Friedfertigkeit, der Achtung der Menschenwürde und der Bereitschaft der Stärkeren, mit den Schwächeren zu teilen. Vieles, was dazu heute gesagt worden ist, will ich unterstreichen. Da machen wir nicht nur die Gesellschaft und die Politik verantwortlich. Es gibt auch noch das Gewissen, so hoffe ich, die Verantwortung des einzelnen.Ich möchte die Frage stellen: Wo bleibt eigentlich die Bildung des Gewissens bei vielen, das offenbar bei einigen auch hinterher nicht schlägt, wenn man Brandbomben geworfen oder solchem Verhalten Beifall gezollt hat? Gibt es eigentlich noch eine Gewissensbildung bei uns? Die Gefahr der Entsolidarisierung dieser Gesellschaft ist groß geworden, aber nicht nur Ausländern gegenüber. Wir erleben heute den Gruppenegoismus. Horst Seehofer ist der Leidtragende. Norbert Blüm ist bei der ersten Gesundheitsreform der Leidtragende gewesen. Man hat ihn damals auch alleingelassen. Ich nenne hier das Stichwort „Verbändeegoismus".
Jetzt komme ich noch auf die Reaktion der großen Verbände auf die Vorschläge zur Finanzierung der Pflegeversicherung.
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Dr. Heiner Geißler— Die Sozialdemokraten sind uns bis heute den Vorschlag schuldig, wie sie ihre Pflegeversicherung finanzieren wollen.
Heute, da doch drei Millionen Pflegebedürftige unserer Sorge bedürfen, muß ich einmal eine Frage stellen. Über die Reaktion auf die Vorschläge mag man ja diskutieren, aber die Reaktionen der großen Verbände auf die Vorschläge zur Finanzierung, wenn wir die Wirtschaftskraft unseres Landes nicht überfordern wollen — was dazu gesagt worden ist, ist völlig richtig, auch das, was Frau Babel gesagt hat —, haben mich erschreckt. Die großen Gruppen in unserem Land schlagen sich um die Verteilung des Bruttosozialproduktes.
Sie reißen sich das Bruttosozialprodukt unter die Nägel. Wenn der Kampf zu Ende ist, dann hängen sie ermattet in ihren Sesseln und sagen, für die Schwächsten, die nicht über die Droh- und Störpotentiale der großen Organisationen verfügen, ist in diesem Lande nichts mehr übrig. Eine Schande!
Eine Schande ist das, was wir hier erlebt haben. Im reichsten Industrieland der Welt, in dem Land mit den höchsten Löhnen, mit dem längsten Urlaub, mit den meisten bezahlten Feiertagen, müssen wir uns eine solche Diskussion anhören.
Ich finde, auch die Kirchen müssen sich einmal kritische Anfragen gefallen lassen. Es trägt zur Radikalisierung bei, wenn man sich weigert, bei 13 bezahlten Feiertagen die Bereitschaft zu erklären, nicht den Feiertag abzuschaffen, aber vielleicht dafür zu sorgen, daß die Deutschen nicht acht Stunden in der Woche, sondern im Jahr länger arbeiten, wenn damit die gesamte Pflegeversicherung auf die Dauer finanziert werden könnte. Das erwarten wir in dieser angespannten Situation.
— Ich lasse keine Frage mehr zu. Ich bin immer noch bei der Entsolidarisierung. Wenn wir von einer Selbstbeteiligung bei der Lohnfortzahlung reden — die Lohnfortzahlung ist ein heiliges Gut; das weiß ich auch — und dabei Leute ausnehmen, die ins Krankenhaus eingewiesen werden, die einen Unfall erlitten haben, die länger als acht oder zehn Tage krank sind oder anderes mehr, und wir gleichzeitig wissen — was nicht bestritten werden kann —, daß es für alle ehrlichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Ärgernis ist, daß 37 % aller Krankmeldungen auf Freitage und 30,8 % aller Krankmeldungen auf Montage fallen, kann dann in diesem Staat nicht die Frage gestellt werden, ob es in unserer Gesellschaft noch durchsetzbar ist, daß weniger blaugemacht undkrankgefeiert wird und dafür spastisch gelähmten Kindern und hilflosen alten Menschen wirksam geholfen wird? Darf man diese Frage hier noch stellen?
Lassen Sie uns einmal darüber reden. Man kann auch Urlaubstage verrechnen. Hier wird die Entsolidarisierung Gegenstand der Debatte. Deshalb brauchen wir einen Solidarpakt, nicht nur deswegen, weil wir miteinander die großen Fragen der deutschen Einheit lösen müssen, sondern auch, weil wir dem Entsolidarisierungsprozeß in allen Bereichen unserer Gesellschaft, im Westen wie im Osten, gemeinsam — auch ohne eine politische Große Koalition — entgegentreten müssen.Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Renate Jäger.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben Herrn Blüm mit sehr vielen Lobesreden gehört. Wir haben Herrn Geißler gehört. Ich akzeptiere Ihre Art. Ich begrüße sie auch. Aber wesentlich entschärft haben Sie die Streitsituation dadurch leider nicht.
Herr Blüm, mit einem Satz möchte ich einen Superlativ in diesen Lobgesang einfügen: Ostdeutschland ist weltweit die größte Region mit den höchsten arbeitsmarktpolitischen Ausgaben. In folgendem Sinne muß man das Lob auslegen. Diese hohen Ausgaben sind gerade die Folge des Arbeitsmarktverfalls. Sie sind die Folge einer Nichtpolitik. Sie sind die Folge der Entindustrialisierung in den neuen Bundesländern. Mit diesem Prozeß der Entindustrialisierung ist gleichzeitig ein Prozeß der Entrechtung von Frauen einhergegangen
und, wie auch das Expertenhearing im Mai dieses Jahres deutlich machte, ein Prozeß, der zu einer unheimlich krassen Altersarmut bei Frauen — aber nicht nur bei Frauen — führt.Die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert nicht nur die ökonomische und soziale Lage der Frauen. Sie bringt sie auch wieder stärker in die materielle Abhängigkeit von ihren Partnern oder in die Abhängigkeit vom Sozialamt. Sie festigt weiterhin patriarchalische Strukturen und programmiert alleinerziehende und ältere Frauen ab 45 zu Randgruppen der Gesellschaft. 30 % der arbeitslosen Frauen gehören inzwischen zu den Langzeitarbeitslosen. Die Tendenz ist weiterhin steigend.Frauen erfahren eine Diskriminierung des Geschlechts und des Alters und gehören bereits zur Gruppe der schwer Vermittelbaren. Wenn man sich überlegt, daß fast eine gesamte Frauengeneration fast gleichzeitig aus dem Berufsleben ausgegrenzt wurde,
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Renate Jagerdarf man nicht handlungsunfähig bleiben. Trotz guter beruflicher Qualifikation wurden und werden sie in weitaus größerem Umfang als Männer entlassen und in den Vorruhestand geschickt. Mehr und mehr qualifizierte Arbeitsplätze gehen von der Frauen- in die Männerwelt über. Das betrifft besonders Arbeitsplätze in Dienstleistungsbereichen wie Sparkasse, Post- oder Verkehrswesen.Im Juni 1990 hatten über 100 000 Ost-Frauen Leitungsfunktionen inne. Bei den Männern waren es ca. 200 000. Über 600 000 Frauen waren in hochqualifizierten Angestelltentätigkeiten beschäftigt. Bei Männern betrug die Zahl ca. 850 000. Bis Mitte 1991— also nicht zum jetzigen Zeitpunkt; das muß man sich einmal vergegenwärtigen — gab es im Osten kaum noch Frauen in Leitungsfunktionen und nur noch die Hälfte der Frauen in hochqualifizierten Tätigkeiten.Dieser Prozeß der Abdrängung von Frauen aus qualifizierten Bereichen läuft weiter. Er bedeutet eine starke Entwertung ihrer Qualifikation.
Wenn Frauen dennoch erwerbstätig sein wollen, sehen sie sich gezwungen, unterqualifizierte, schlecht bezahlte oder ungeschützte Arbeitsplätze anzunehmen.Bei Arbeitsplatzwechsel gibt es nach Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bei Frauen weitaus häufiger Verschlechterungen als bei Männern. Die Verschlechterungen betreffen die Arbeitsbelastung und die Sicherheit am Arbeitsplatz. Sie betreffen weiterhin die betrieblichen Sozialleistungen, und sie betreffen auch die Länge des Arbeitsweges. Es gibt Fälle von Frauenausbeutung in den neuen Bundesländern, wo Frauen 60 und 70 Stunden in der Woche arbeiten, ohne zu mucksen,
weil sie einfach Angst um ihren Job haben.Besonders dramatisch ist die Situation der Frauen auf dem Land. Ihre Arbeitslosenquote steigt bis auf 80 %, ja bis auf 90 %. Ein Regierungsprogramm, das Bedingungen für eine gleichberechtigte Erwerbstätigkeit schafft, ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Es ist doch kein Zufall, daß die Senkung der Erwerbsquote im Osten hauptsächlich zu Lasten der Frauen erfolgt. Das — sei es Strategie oder ein Laufenlassen — sind die Folgen eines konventionellen konservativen Frauenbildes.
Es ist gut, wenn die Frauenministerin Appelle zur Beschäftigung von Frauen an die Unternehmen richtet und wenn sie Frauen zu Projekten und Initiativen auffordert. Aber wenn sie im Änderungsentwurf zum AFG bei der Beschäftigungsquote von Frauen einer Soll-Vorschrift zustimmt und daraus nicht eine MußVorschrift machen kann, besteht die Gefahr, daß es eben nur bei den Appellen bleibt.
Meines Erachtens müßte auch eine Frauenministerin empfinden,
daß die Frauen betreffs Einarbeitungszuschuß nach Kindererziehungszeiten nunmehr verschlechterte Bedingungen haben. Auch der Appell zu Frauenprojekten ist ebensowenig wert, wenn die finanziellen Mittel für ABM eingeschränkt werden.Auch diese Fragen sind nicht an ein bestimmtes Ressort gebunden. Sie betreffen in gleicher Weise das Ressort des Arbeits- und Sozialministers. Läge es nicht im Interesse beider Ressorts, die Lage von Frauen zu verbessern?Eines steht fest: Die ostdeutschen Frauen neigen nicht dazu, freiwillig in die Rolle der Erwerbslosen zu gehen.
Bei allen Programmen zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation ist diese ihre Interessenlage zu berücksichtigen. Der Ausbau des zweiten Arbeitsmarktes ist als Brücke mehr denn je notwendig, besonders für Frauen. Beschäftigung ist immer noch besser als Lohnersatz.Eine Frage verstehe ich nicht. Wenn die Opposition und die Gewerkschaften mit weitaus geringerer Personalausstattung als Ministerien Konzepte fordern und sie zum Teil auch vorlegen, wieso erhebt dann ein Ministerium die gleiche Forderung über gleich lange Zeit, ohne tatsächlich ein Konzept auszuarbeiten? Mit einem wesentlich größeren Personalstab müßte das meines Erachtens in kürzerer Zeit möglich sein. Vorschläge von anderen Seiten liegen vor, die man als Grundlage nehmen und an denen man weiterarbeiten könnte.Die SPD hat einen Vorschlag zur zukunftsorientierten Arbeitsmarktpolitik gemacht. Die SPD in Sachsen hat ein Programm zur Sicherung von 100 000 Industriearbeitsplätzen vorgelegt. Das Land Brandenburg hat ein Strukturförderprogramm. Der DGB startete im August eine Frauenoffensive gegen die zunehmende Verdrängung von ostdeutschen Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Und was bietet die Bundesregierung? Ein Konzept, das die Frau schneller an den Herd bringt.Herr Waigel hat heute morgen gesagt, Politik macht man mit dem Kopf und nicht mit dem Kehlkopf. Aber den Kopf allein zu haben nützt nichts. Man muß ihn auch benutzen.
Frau Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Im Haushalt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung muß wie überall gespart werden. Darüber zu klagen nützt nichts. Ich halte Klagen angesichts der immensen Sparmaßnahmen, die uns im Zusammenhang mit
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Cornelia Schmalz-Jacobsendem Wiederaufbau in den neuen Bundesländern insgesamt bevorstehen, auch für deplaziert.
Als Ausländerbeauftragte begrüße ich vor diesem Hintergrund besonders den Umfang der vorgesehenen Maßnahmen in dem wichtigen Bereich der Förderung der Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer. Das ist wichtig und gar nicht so selbstverständlich.Ich möchte darüber hinaus etwas aufgreifen, was mein Kollege Lühr heute morgen angesprochen hat und was immer wieder durch die Debatte gegangen ist, nämlich die AB-Maßnahmen. Meine Kolleginnen und Kollegen, so hinderlich sie sind, so verhängnisvoll sie dort sind, wo sie mittelständische Arbeitsplätze nicht entstehen lassen oder gar vernichten, so wichtig sind sie in dem großen sozialen Bereich. Es kann nicht angehen, daß hier ganze Aufgabenbereiche zusammenbrechen.
Ich weiß nicht, ob Sie folgendes wissen: Der Ausländerbeauftragte der Stadt Rostock, der sich in beispielloser Weise vor seine Schützlinge gestellt hat,
der übrigens im Gegensatz zu mir für Asylbewerber zuständig ist, arbeitet mit drei Leuten. Zwei davon sind in AB-Maßnahmen, die am 14. November dieses Jahres auslaufen. Das kann ja wohl nicht so sein.
Darum — ich sage das auch an die Adresse der Länder, an die Adresse der Arbeitsämter — differenzieren Sie bei den AB-Maßnahmen, und lassen Sie dort nicht etwas zusammenbrechen.Ich bin der Bundestagspräsidentin sehr dankbar für die Worte, meine Damen und Herren, die sie vorgestern im Deutschen Bundestag zu den beschämenden Vorkommnissen in Rostock, Eisenhüttenstadt und anderswo gefunden hat.Meine Kolleginnen und Kollegen, es ist unsere gemeinsame Aufgabe, nicht allein und immer wieder bis zum Überdruß über die Modifizierung des Asylrechts zu sprechen, sondern zunächst einmal mit der Gewalt fertigzuwerden.
Sie ist erschreckend, und wir werden sie offenbar leider weiterhin tagtäglich erleben.Natürlich sind nicht die Ausländer, sondern die rechtsextremistischen Kriminellen und ihre Sympathisanten das eigentliche Problem. Alles andere hieße, die Dinge auf den Kopf zu stellen.Ohne Wenn und Aber muß unmißverständlich klar sein, daß Gewalt in unserem Land nichts zu suchen hat.
Bei aller Notwendigkeit der Analyse der Ursachen für die rassistischen Ausschreitungen darf es eines nicht geben: das Verschwimmen von Erklärung und Entschuldigung. Das halte ich für verhängnisvoll.Es gibt auch verhängnisvolle Vergleiche, meine Damen und Herren. Ich höre häufig: Es ist wie 1933. — Lassen wir uns das nicht einreden. Nichts ist wie 1933, nichts!
Die ganze Folie stimmt nicht.Ich wünsche mir auch, daß wir in einem anderen Punkt im nachhinein sagen können: Nichts war wie 1933. — Damit meine ich, daß man nicht wie damals die Gefahr nicht ernst nimmt, nicht früh genug ernst nimmt. Wir müssen sie ernst nehmen.
Deswegen übrigens ist ein deutliches Signal der Solidarität und der Unterstützung an die Adresse der ausländischen Mitbürger, die lange bei uns leben, die immer hier sind, erforderlich; denn inzwischen ist es leider so, daß sich die Gewaltbereitschaft über die Asylbewerber hinaus eben auch gegen die Ausländer ganz allgemein richtet und niemand mehr von der bedenklichen Klimaverschlechterung verschont bleibt. Es gibt viele, viele Beispiele.Ich weiß, daß die große Mehrheit unserer Landsleute Gewalt verabscheut und sie verurteilt. Ich weiß, daß es nach wie vor eine große Aufgeschlossenheit und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung gegenüber Ausländern gibt. Das hat zuletzt die große Hilfsbereitschaft gegenüber den Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien gezeigt.Meine Damen und Herren, es wäre aber leichtfertig — ich betone das noch einmal — und einseitig, die Dinge immer nur durch die Asylrechtsbrille zu betrachten. Bei einer Bestandsaufnahme unserer Ausländerpolitik springt so mancher Mißstand ins Auge, der dem Ziel der Integration entgegensteht, ohne daß dies notwendig wäre.Als Stichwort nenne ich z. B. die Neuregelung des Aufenthaltsstatus, insbesondere für diejenigen, für die Deutschland längst Lebensmittelpunkt geworden ist. Eine Vielzahl von Ausländern lebt schon länger als 20 Jahre in Deutschland, über 40 % länger als 15 Jahre, insgesamt 60 % länger als zehn Jahre, und von den Kindern und Jugendlichen sind zwei Drittel bei uns geboren. Es ist wirklich an der Zeit, die Einbürgerung dieser Personenkreise zu erleichtern
und ihre rechtliche Gleichstellung Schritt für Schritt in die Tat umzusetzen. Damit geben wir nicht etwas aus der Hand, sondern wir gewinnen alle dabei, nämlich im Sinne eines friedlichen Miteinanders.Ich spreche das Stichwort Bildungschancen an und führe dazu jetzt nichts weiter aus. Aber angesichts der Unterrepräsentation ausländischer Kinder und Jugendlicher an weiterführenden Schulen, in Ausbildungsberufen — dies betrifft besonders die Mäd-
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Cornelia Schmalz-Jacobsenchen —, bleibt auch hier noch sehr viel nachzuholen.
Gerade diese Gruppe, meine Damen und Herren, muß unsere Aufmerksamkeit und Fürsorge erhalten, übrigens auch, um mögliches Potential für soziale Konflikte zu entschärfen. Das Wort vom ungelernten Ausländerproletariat ist hart, und es mag überspitzt sein, aber als Gefahr ist es nicht von der Hand zu weisen.Der Zulauf zu fundamentalistischen Organisationen darf uns nicht gleichgültig lassen. Es ist um so bedrückender, wenn man feststellen muß, daß dieser Zulauf oftmals eine unmittelbare Konsequenz der versperrten Möglichkeiten zur Integration darstellt.Auch die ökonomische Perspektive fordert zum Handeln auf; denn wir sollten doch endlich begreifen, meine Damen und Herren, daß der Rückgang unserer eigenen Bevölkerung die Bedeutung der ausländischen Arbeitnehmer in Deutschland wachsen läßt. Gerade vor zwei Tagen hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung mit eindrucksvollen Zahlen belegt, welchen Anteil an der Schaffung des Bruttosozialprodukts ausländische Arbeitnehmer bei uns haben. Es würde unsere Gesellschaft in gefährlicher Weise spalten, wenn wir weiterhin zuließen, daß Menschen, die ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht haben, rechtlich diskriminiert werden. Das können wir ändern.
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten immer wieder auf die Defizite unserer Ausländerpolitik hingewiesen. Sie werden leider auch eine große Rolle in meinem Jahresbericht spielen, den ich im Herbst veröffentlichen werde. Integration, das ist viel zu häufig immer noch ein Lippenbekenntnis ohne konkrete Folgen. Glauben Sie mir, sehr viele in der Bevölkerung wissen, spüren, daß hier etwas nicht stimmt.Was wir brauchen, ist ein schlüssiges Gesamtkonzept und endlich eine offene Diskussion darüber, was über die Entschärfung des Asylproblems hinaus in den Bereichen Einbürgerung, Staatsbürgerschaft, Zuwanderungsregulierung und Integration zu geschehen hat. Die erschreckenden Vorfälle der letzten Zeit sollten uns auch dafür wachgerüttelt haben, die Zeit nicht länger ungenutzt verstreichen zu lassen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, Herr Bundesminister Blüm, zunächst ein Wort zu dem, was Sie gesagt haben. Ich verstehe schon, es ist eine Kunst, die Politik gut verkaufen zu können. Aber die Überschreitung der Grenze zur Demagogie ist manchmal doch sehr gefährlich. Ich glaube, es ist nur ein Teil der Wahrheit, wenn Sie davon sprechen, daß die Rentenleistungen von 16 Milliarden auf 47 Milliarden DM gestiegen sind, wenn man nicht die gestiegenen Lebenshaltungskosten berücksichtigt. Sie wissen sehr wohl, daß die allgemeinen Lebenshaltungskosten im Osten Deutschlands enorm gestiegen sind, um mehr als das Dreifache. Deshalb gibt es viele Rentner, denen es heute bessergeht, als es ihnen früher gegangen ist; es gibt aber auch viele, viele Rentner, denen es heute schlechtergeht.
Ich glaube, es wäre gut für die Menschen im Osten Deutschlands, wenn man das auch so differenziert einschätzte und nicht nur zwei Zahlen hinsetzte, die für viele Menschen jeweils nicht zutreffen.
Ich sage das auch deshalb, weil ich bei dem Haushaltsplan für Bildung und Wissenschaft, über den ich jetzt sprechen möchte, dasselbe Gefühl habe wie bei vielen Plänen, die hier diskutiert worden sind. Mir fehlt in diesem Plan eine Idee, eine Vorstellung, ein Konzept für das innere Zusammenwachsen der ehemaligen beiden deutschen Staaten.Ich habe den Eindruck, daß dieser Einzelplan für Bildung und Wissenschaft einer Vorstellung folgt, wonach eher etwas Lästiges beigetreten ist, was nun auf altbundesdeutsches Maß zurecht- und zurückgestutzt werden muß und zu diesem Zweck ein paar Anpassungsspritzen verpaßt bekommt. Aus meiner Sicht ist das wirklich kein Plan zur Verwirklichung der Einheit, sondern ein Plan, der altbundesdeutsche konservative Bildungs- und Wissenschaftspolitik in wichtigen Bereichen fortschreibt.Ich möchte das an einigen Beispielen deutlich machen.Erstens. In gleicher Weise wie im vergangenen Jahr die Ausbildungsnot im Osten in einen Bombenerfolg umgelogen wurde, bastelt die Bundesregierung — auch der Bundeskanzler in seiner Rede — nun daran, die Berufsausbildung in diesem Jahr als einen Erfolg zu beschreiben.Fakt ist, daß zu Beginn des Ausbildungsjahres 40 000 bis 60 000 betriebliche Ausbildungsplätze im Osten gefehlt haben. Jeder weiß: Ohne die Sicherung eines soliden Facharbeiternachwuchses steht die Forderung der Industrialisierung im Osten Deutschlands langfristig auf schmalen Füßen.Zweitens. In den wichtigsten Haushaltsposten im Bereich der Hochschulen und Wissenschaften bleiben die Ansätze deutlich unter den begründeten Forderungen der jeweiligen Sachverständigen. Das betrifft besonders das sogenannte Hochschulerneuerungsprogramm Ost, die Ausgaben für den Aus- und Neubau von Hochschulen und die Studentenwohnraumförderung.Ich verfolge mit Sorge, daß die Mittel für die außeruniversitäre Forschung, für die Wissenschafts- und Forschungsorganisationen, die für den Osten geplant sind,nicht den wachsenden Bedürfnissen und den objektiven Notwendigkeiten entsprechen. Auch da wissen wir: Ohne solide Wissenschaft und For-
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Dr. Dietmar Kellerschung hat eine künftige Industriestandortbildung im Osten Deutschlands langfristig keine Chance.Drittens. Ich habe das Gefühl, daß sich große Teile des Haushaltsentwurfs „Bildung und Wissenschaft" manchmal lesen wie ein Programm zur Förderung der deutschen Wirtschaft. Ich habe nichts gegen die Förderung der deutschen Wirtschaft; auch das ist eine Aufgabe von Bildung und Wissenschaft. Ich bin aber dafür, daß die reiche deutsche Wirtschaft nicht durch Bildung und Wissenschaft gesponsort wird, sondern daß auch die deutsche Wirtschaft einen eigenständigen Beitrag zur Entwicklung von Bildung und Wissenschaft leistet.Insofern glaube ich, daß es eine Reihe von Möglichkeiten gibt, den vorliegenden Plan zu präzisieren und Veränderungen vorzunehmen.Ich kann mich nicht damit einverstanden erklären, daß zur Verbesserung der Studentenberufseinmündungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten von Frauen 1 Million DM, im gleichen Titel aber Zuwendungen an das deutsch-französische Hochschulkolleg in Höhe von 1,5 Millionen DM vorgesehen sind. Hier sehe ich keine mir verständliche Relation.Auch glaube ich, daß man den Plan noch einmal daraufhin durchforsten kann: Wo sind Posten enthalten, die reduzierbar sind? Was verbirgt sich hinter den reichlich 4 Millionen DM Verwaltungskosten bei einem Gesamtetat von knapp 14 Millionen DM des Deutschen Instituts für Fernstudien? Mir ist der Verwaltungsaufwand für die Aufgaben, die dieses Institut zu bewältigen hat, zu groß.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Herr Präsident, gestatten Sie mir noch einen Satz: Ich glaube, daß wir mit dem vorliegenden Haushaltsplan „Wissenschaft und Bildung " dem, was wir uns in dem Jahr vorgenommen haben, nämlich einen weiteren Schritt der inneren Einheit Deutschlands zu vollziehen, nicht näherkommen werden.
Danke.
Ich erteile dem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Professor Dr. Rainer Ortleb, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Qualität von Bildung und Wissenschaft ist maßgeblich für die ökonomische, soziale und kulturelle Zukunft unseres Landes. Dafür tragen Bund und Lander Verantwortung in den Haushalten.Die Bildungspolitik sieht sich mit demographischen Entwicklungen, neuen gesellschaftlichen Wertungen, individuellem Verhalten sowie technischen und ökonomischen Innovationen, einschließlich arbeitsorganisatorischer Bedingungen, konfrontiert.Es gilt, in den neuen Bundesländern weiterhin Vorsorge zu treffen, daß jeder Jugendliche, der es will, einen Ausbildungsplatz erhalten kann.
— Herr Keller hatte mich das bereits gefragt. Herr Rixe, ich antworte auch Ihnen gerne spontan; ich wollte es an dieser Stelle ohnhin anmerken: Die Bilanz ist erfreulicher als im vorigen Jahr, insbesondere aus folgendem Grunde: Wir haben mehr betriebliche Ausbildungsangebote als im vorigen Jahr. Ich glaube, es ist schon ein Erfolg, wenn niemand weiterer auf der Straße steht und wenn sich der außerbetriebliche Ausbildungsanteil auf 20 000, schlimmstensfalls 30 000 gesenkt haben sollte.
Gleichzeitig muß der qualitative Anpassungsprozeß der beruflichen Bildung weiter vorangebracht werden. Einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung vor allem mittelständischer Ausbildungsbetriebe leistet der begonnene Aufbau eines bedarfsgerechten, regional ausgewogenen Angebots an überbetrieblichen Ausbildungsstätten in den neuen Ländern. Den besonderen Bedingungen der Förderung in den neuen Ländern wird dadurch Rechnung getragen, daß die Übernahme der laufenden Kosten neben dem Jahr der Inbetriebnahme auf sechs Jahre ausgedehnt worden ist.Der aufgestockte Haushaltsansatz wird es erlauben, auch in den alten Bundesländern die überbetrieblichen Ausbildungsstätten nicht außer acht zu lassen.Der zunehmende Nachwuchsmangel an Fachkräften insbesondere in den alten Bundesländern fordert dringend Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung der beruflichen Bildung. Der hohe Standard des dualen Ausbildungssystems, um den uns das Ausland vielfach beneidet,
hängt aber auch davon ab, daß die Länder ihrer Verantwortung für die Berufsschulen nachkommen.Einige Anmerkungen zur Lage im Bereich der Wissenschaft. Bund und Länder haben im Juli 1992 eine Aufstockung des Hochschulerneuerungsprogramms um 666,7 Millionen DM — davon kommen 500 Millionen DM vom Bund — auf über 2,4 Milliarden DM vorgenommen. Kernpunkte dabei sind die Erhöhung der Mittel für die Fachhochschulentwicklung und die Aufstockung der Mittel für Investitionen im Hochschulbereich.Im Hochschulbau nach dem Hochschulbauförderungsgesetz wurde ein weiterer Mittelanstieg vom Kabinett nicht mitgetragen. Zwar haben sowohl die Länder als auch der Wissenschaftsrat für einen Betrag von 2 Milliarden DM plädiert, aber es ist nur eine Fortschreibung von 1,6 Milliarden DM erfolgt.Leider kann man hier nur mit bekannten Argumenten kämpfen; denn unbekannte gibt es seit mehr als
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1992 8981
Bundesminister Dr. Rainer Ortleb15 Jahren nicht mehr. Vielleicht ist aber gerade das ein neues Argument.Ich möchte mich dabei auf den Fraktionskollegen Weng beziehen, der der Opposition vorwarf, im Gegensatz zu ihm zu ängstlich zu sein. Die F.D.P.-Fraktion glaubt an die Kompetenz des Parlaments, den Haushalt eigenständig beraten und verabschieden zu können.
Es gibt inzwischen Sprechweisen, nach denen finanzielle Bedürfnisse in Hochschulbau, BAföG, Wohnheimbau und Forschungsförderung wesentlich in Richtung Bund umgelagert werden sollen, um Personalausgaben, für die nach der Kompetenzverteilung eindeutig die Länder zuständig sind, ermöglichen zu können. Damit würde der Bund mittelbar die von mir durchaus eingeforderte Personalausstattung zur Entlastung der Massenuniversitäten wesentlich tragen. Welch schöner Kontrast dazu, bei einer bevorstehenden Grundgesetzänderung dem Bund möglichst keine Kompetenzen mehr für die Bundesbildungspolitik einzuräumen!
Was ich jetzt denke, unterdrücke ich lieber.Auch diese Problemlage ist ein Grund für mich, einen baldigen Bildungsgipfel zu unterstützen,
ihn nicht etwa zu verzögern, wie mir gelegentlich schon böswillig unterstellt wird.Der Haushaltsentwurf setzt notwendige Akzente zur Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit in Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie Weiterbildung. Angesichts der strukturellen Umbrüche, denen wir uns gegenübersehen, und angesichts der absehbaren wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen in den 90er Jahren halte ich zumindest dies für dringend.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Doris Odendahl, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beifall wäre in der Tat berechtigt gewesen, wenn endlich der große Wurf gelungen wäre, noch am späten Abend aus Schiete Gold zu machen. Aber es gelang nicht, Herr Minister; denn für die Bildungspolitik leistet die Bundesregierung mit diesem Haushaltsplan endgültig den Offenbarungseid.
Nach dem Wortbruch gegenüber den Ländern im Wissenschaftsrat — das waren Versprechen, Herr Ortleb — bezüglich der bereits zugesagten Aufstokkung der Hochschulbaumittel auf 2 Milliarden DM wird nun auch der Bundeskanzler mit seinem in diesem Frühjahr lauthals angekündigten Bildungsgipfel wortbrüchig — Sie, Herr Ortleb, in diesem Punkte nicht. Weil es ohne eine ausreichende Finanzierungsfestlegung überhaupt keinen Bildungsgipfel geben kann, soll dieser nun auf das Jahr 1993 und dann doch bitte möglichst auf den Herbst — ich verstehe ja, warum — verschoben werden.Ich darf feststellen: Der Bundeskanzler kneift.
Dabei hatte er mit diesem Versprechen bei den Hochschulen Hoffnungen erweckt, daß sich endlich, 15 Jahre nach dem Öffnungsbeschluß der Regierungschefs von Bund und Ländern, auch bei der Bundesregierung die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß neue Konzepte zur Studienstruktur, zu den Inhalten des Studiums und zur Durchführung der Lehre notwendig sind.Die Zahl der Studierenden nähert sich der Marke von 2 Millionen, während die Hochschulkapazität nach den gegenwärtigen Planungen unter 1 Million Studienplätzen bleiben wird. Mit der Schaffung der vor mehr als drei Jahren vereinbarten 50 000 zusätzlichen Fachhochschulplätze ist noch nicht einmal begonnen worden. Die Zahl der Stellen für das Hochschulpersonal stagniert auf dem Mitte der 70er Jahre erreichten Stand. Die in vielen Studienfächern und an vielen Hochschulen katastrophalen Studienbedingungen führen zu einer stetigen Verlängerung des Studiums und zu hohen Studienabbrecherquoten.Alle nicken mit dem Kopf, und in den Medien sind diese Tatsachen verbreitet. Die Lage an den Hochschulen wird immer kritischer. Noch nie haben an deutschen Hochschulen so viele Studenten gelernt, und noch nie waren die Studienzeiten so lang wie heute. Eine Entlastung auf Grund der demographischen Entwicklung ist nicht abzusehen. Aus diesem Grund helfen alle Verschiebebahnhöfe nichts mehr.
Bei der Erkenntnis dieser Hochschulkatastrophe sind die Kultusminister und die Finanzminister der Länder dem Bund mit gutem Beispiel vorangegangen: Sie haben im Mai dieses Jahres — das war eine große Tat — gemeinsam die Notwendigkeit zur Erhöhung der Ausgaben für den Hochschulbereich beschrieben und gefordert, die Länder bei gemeinsamen Finanzierungen zu entlasten, damit sie die dringend notwendige Erhöhung der Aufwendungen für das Hochschulpersonal und die übrigen laufenden Ausgaben für den Betrieb der Hochschulen finanzieren können.Geholfen wäre den Ländern — Herr Haushälter Weng, hören Sie zu! —, übrigens auch Baden-Württemberg, wenn der Bund endlich seine inzwischen auf rund 770 Millionen DM angewachsenen Schulden aus Hochschulbaumaßnahmen an die Länder endlich bezahlen würde und dieser ordentliche Batzen Geld den Ländern nicht länger für dringend notwendige Maßnahmen vorenthalten würde.Leider verfährt die Bundesregierung — wie bei Konkursunternehmen üblich — so, erst einmal von der Zahlungsunfähigkeit abzulenken. Aus Kreisen der CDU/CSU-Fraktion wird argumentiert, daß die gegenwärtige Knappheit bei den öffentlichen Mitteln
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Doris Odendahleinen heilsamen Druck ausübt, um endlich zu den notwendigen Strukturreformen zu kommen.
Es soll also in der Tat darum gestritten werden, ob denn zuerst die Henne und dann das Ei gebraucht wird oder umgekehrt.In einer Meldung des CDU/CSU-Pressedienstes liest sich das so:Zunächst müssen wirksame Strukturmaßnahmen für eine effiziente Verwendung der öffentlichen Mittel im Hochschulbereich eingeleitet und verbindlich fixiert werden, erst dann kann über zusätzliches Geld gesprochen werden.
— Das ist das Problem mit dem Ei und der Henne. Hähne verstehen davon weniger; ich gebe das gerne zu.
Nun stimme ich Ihnen zu, daß die Krise der Hochschulen und der Hochschulpolitik nicht allein mit mehr öffentlichen Mitteln zu bewältigen ist und daß die Effizienz des Mitteleinsatzes erhöht werden muß, wenn nur nicht die von Ihnen gewählte Reihenfolge ebenso falsch wie gefährlich für die Hochschulen wäre. Ohne zusätzliche Mittel sind Reformen überhaupt nicht durchführbar. Für diese notwendigen Reformen gibt es keine einfachen Patentrezepte. Aber wahr ist auch, daß sich Länder, Hochschulrektorenkonferenzen, Wissenschaftsrat und die Hochschulen selbst sehr bemühen, gemeinsam ihren Teil dazu beizutragen.Dazu brauchen wir wieder einen Bildungsgesamtplan und einen Hochschulentwicklungsplan
— doch, weil Sie bisher so planlos waren, hatten wir immer die Verschiebung der Zeiten; deshalb sind wir in dieser Situation —,
eine Festlegung der Eckwerte und des Verfahrens für die überfällige Hochschulreform auf dem vom Bundeskanzler für dieses Jahr versprochenen Bildungsgipfel und eine ausreichende Finanzierung der Hochschulreform durch Länder und Bund. Bei den Gesetzgebungskompetenzen, Herr Minister, sind wir uns in diesem Falle wirklich einig. Des weiteren brauchen wir mehr öffentliche Mitwirkung und parlamentarische Beteiligung.Zu den festzulegenden Eckwerten gehören vor allem: die Demokratisierung der Hochschulen, also die Mitbestimmung aller Beteiligten; eine umfassende Verwirklichung der Studienreform, eine Verkürzung von Studien- und Prüfungszeiten und die drastische Verringerung von Studienabbrecherquoten — auchdarin sind wir uns sicher einig —; die Verwirklichung einer neuen Studienstruktur,
die zu einem berufsqualifizierenden Abschluß nach einem vier- bis fünfjährigen Studium führt. Auch das müßten wir hinkriegen. Auch in diesem Punkt sind wir uns sicher einig. — Wunderbar.Weitere Eckwerte sind die Öffnung des Hochschulzugangs für qualifizierte Berufstätige und — jetzt setze ich etwas dazu, was schon schwieriger wird — eine Reform des Laufbahnrechts im öffentlichen Dienst, weil sonst eine wesentliche Ausweitung des Anteils der Fachhochschulen nicht zu rechtfertigen wäre,
sowie eine ganze Reihe von anderen Maßnahmen.Meine Damen und Herren, ich habe mich jetzt bei dieser Haushaltsdebatte auf diesen einen Bereich konzentriert, obwohl sich der Haushaltsplan des Ministers für Bildung und Wissenschaft
— nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Minister Orleb— auch in allen übrigen Punkten nicht gerade als Handbuch für neue Wege in der Bildungspolitik empfiehlt.Ich habe auch nicht differenziert zwischen der Situation der Hochschulen in den alten und in den neuen Bundesländern. Selbstverständlich bedarf es in den neuen Bundesländern größerer Anstrengungen, dort zu gleichwertigen Hochschulstrukturen zu kommen. Dennoch ist die Situation der Hochschulen in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen bedrohlich.In allen unseren Reden haben wir von der Regierung gefordert, den Menschen endlich die Wahrheit zu sagen. Mit dem vom Bundeskanzler versprochenen Bildungsgipfel haben Sie Erwartungen geweckt. Und wir werden nun auch in diesem für die Lebensplanung junger Menschen so wichtigen Bereich der Hochschulen nur Enttäuschungen ernten — es sei denn, Sie kriegen die Kurve doch noch.Deshalb mein dringender Appell: Fangen Sie endlich an zu handeln, stocken Sie in diesem Jahr wenigstens die Hochschulbaumittel auf, und zahlen Sie Ihre Schulden an die Länder! Wir dürfen neben den bereits bestehenden — das meine ich jetzt sehr ernst — nicht noch neue Konfliktfelder schaffen. Die deutschen Hochschulen wären dafür am allerwenigsten geeignet.Vielen Dank.
Frau Kollegin Margret Funke-Schmitt-Rink, Sie haben das Wort.
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Als letzte Rednerin dieser Haushaltsdebatte.
— Ich rede nur für die F.D.P.
Verzeihung, Frau Kollegin, ich muß noch ein Wort der Warnung an die Linke im Haus sagen. Seien Sie vorsichtig, die F.D.P. hat im Augenblick fast die absolute Mehrheit.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Bekommen wir an den deutschen Hochschulen nur einen heißen Herbst oder auch einen stürmischen Winter?
Hochschulen, die durch steigende Studentenzahlen sowieso schon aus allen Nähten platzen, sollen kein größeres Korsett bekommen. Für den Hochschulbau waren vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft 2 Milliarden DM veranschlagt; im Haushalt stehen nur 1,6 Milliarden DM zur Verfügung.
Die Nichterhöhung der Mittel für die Hochschulbauförderung bewirkt, daß sich längst überfällige Sanierungsmaßnahmen verzögern und projektierte Neubauten zurückgestellt werden müssen. Wissen Sie eigentlich — das hätte ich gerne den Finanzminister und das ganze Kabinett gefragt —, daß gegenwärtig an den Hochschulen allein in den alten Bundesländern 1,65 Millionen junge Menschen studieren und daß diesen nur 810 000 definierte Studienplätze zur Verfügung stehen?
Wissen Sie, daß in den alten Bundesländern im Wintersemester 1990/91 die Universitäten zu 150 % und die Fachhochschulen zu 160 % ausgelastet waren? Ist Ihnen bekannt, daß sich die durchschnittliche Betreuungsrelation von Lehrenden und Lernenden an den Universitäten von 1977 1 : 11 auf 1992 1 : 17, an den Fachhochschulen von 1977 1 : 18 auf 1992 1 :37 verschlechtert hat? Ist Ihnen schließlich bewußt, daß der Anteil der Nettoausgaben für Hochschulen am Bruttosozialprodukt von 1975 1,32 % auf 0,9 % im Jahre 1991 gesunken ist, auf noch nicht einmal 1%?
Besonders schwer trifft die Stagnation der Hochschulbaumittel die Fachhochschulen. Durch den Stillstand der Mittelvergabe wird die dringend notwendige Strukturänderung von der Universität zur Fachhochschule hin verzögert. Das bedeutet — plakativ gesprochen —: eine Fachhochschule weniger in jedem neuen Bundesland. Das bedeutet: keine Aufstockung der Fachhochschulen um 50 000 Plätze. Diese Maßnahme trägt zur weiteren Verelendung der Hochschulen bei.
Alle wissen, daß die Universitäten durch die Fachhochschulen entlastet werden müssen, aber gleichzeitig das Bildungsangebot erhalten bleiben muß. Denn der Arbeitsmarkt für Akademiker ist hervorragend. Wir dürfen nicht bei Lippenbekenntnissen stehenbleiben, und damit meine ich die Koalitionsfraktionen.
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Struck?
Nein, ich möchte gerne zu Ende reden.
Es wird Ihnen zeitlich nicht angerechnet.
Nein, ich möchte gerne zu Ende reden.
Wenn der Bund die fehlenden 400 Millionen DM nicht aufbringt, wird es auch von den Ländern keine 400 Millionen als Komplementärmittel geben. Das bedeutet: keine 800 Millionen DM für die Hochschulen.
Die F.D.P. wäre mit einem Stufenplan für die 400 Millionen DM in den nächsten drei Jahren einverstanden,
aber mit konkreten Zusagen pro Jahr, damit auch die Länder planen können, um diese Mittel kapazitätserweiternd einzusetzen.
Fazit: Künftig werden sich an den Hochschulen jährlich etwa 300 000 Studienanfänger drängeln. Die neuesten Prognosen sagen, daß sich bis zum Jahr 2000 die Zahl der Studierenden auf nahezu 2 Millionen einpendeln wird. Bei einem Stillstand der Mittel von Bundes- und Länderseite wird es in den neuen Bundesländern den notwendigen Aufschwung und in den alten Bundesländern eine dringend notwendige Effizienzverbesserung im staatlichen Hochschulsystem nicht geben. Das ist im Westen bereits seit Jahren nichts Neues. Hoffen wir auf die Kompetenz der Fraktionen.
Danke.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 12/3000 sowie die Unterrichtung auf Drucksache 12/3100 sollen gemäß § 95 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wir sind damit allerdings auch am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. September 1992, um 8.30 Uhr ein; 8.30 Uhr, nicht wie sonst um 9 Uhr.Bevor ich den letzten Satz sage: Herr Kollege Weng, bitte sehr.
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Herr Präsident, ich wollte mir nur den Hinweis erlauben, daß dies mit hoher Wahrscheinlichkeit die letzte Haushaltsberatung im Wasserwerk gewesen ist. Die zweite und dritte Lesung im November werden schon im Neubau sein. Das ist vielleicht einen Moment des Nachdenkens wert.
Ich bitte Sie also, beim Hinausgehen
diesen Hinweis des Kollegen Dr. Weng in Ihren Gedanken zu bewegen.
Die Sitzung ist geschlossen.