Rede von
Dr.
Heiner
Geißler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich mir überlege, daß uns die Leute hier zuhören, dann halte ich diese Form der Streiterei für absolut unmöglich angesichts der Probleme, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in ganz Europa und in Deutschland auf uns zukommen. Wir sind dabei — das Wort Solidarpakt ist gefallen —, gemeinsam zu überlegen, wie es weitergeht.
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Dreßler, hat heute morgen im „Express" einige Punkte formuliert: Bei den AB-Maßnahmen gibt es keinen Kahlschlag, sondern es ist eine Antwort darauf, daß die Entgelte bei AB-Maßnahmen oft höher sind als das, was in vielen Betrieben, auch Handwerksbetrieben, an realen Löhnen bezahlt wird. Darauf müssen wir eine Antwort finden. Darüber werden wir reden.
Rückgabe vor Entschädigung hat er genannt, und daß wir über die soziale Symmetrie bei der Belastung reden müssen. Das hat nicht nur Volker Rühe gesagt, das habe ich gesagt und das sagte auch Theo Waigel, als er bemerkte, hier sei eine offene Flanke. Das hat auch Norbert Blüm laut und deutlich gesagt.
Wir müssen auch über die weitere Förderung der Investitionen reden.
Aber etwas geht nicht, und damit komme ich zum Kollegen Dreßler, der als Vorspann gesagt hat, und damit knüpfe ich an das an, was eben gerade auch gesagt worden ist: Kanzler Kohl muß selber sehen, wenn das alles nicht erfüllt wird, wie er den Karren, den er vor die Wand gesetzt hat, wieder flottmachen will. — Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, das setzt ja wohl voraus, daß es vorher einen flotten Karren gegeben hat.
Sie machen da einen großen und gefährlichen Fehler. Ich kann schon verstehen, daß die Menschen heute in der Situation im Osten nicht mehr hören wollen, daß sie bespitzelt wurden und eingesperrt waren, daß ihre Rente 400 Ostmark betrug und der Lohn 800 Ostmark, daß heute die Durchschnittsrente doppelt so hoch in DM ist, daß ungefähr eine Million Frauen zum ersten Mal Hinterbliebenenrente in DM bekommen haben, daß sich die Löhne in DM fast verdreifacht haben und auch die Kaufkraft in den letzten zwei Jahren um jeweils 10 % gestiegen ist, daß eine Familie mit zwei Kindern im Alter von zehn und 15 Jahren heute im Osten ein Mindesteinkommen von 1 642 DM plus Miete hat. Ich habe für alles Verständnis. Das war auch gestern bei den Betriebsräten in unserem Fraktionssaal so, bei Ihnen wird es nicht anders gewesen sein, daß die Menschen im Moment gar nichts darüber hören wollen. Aber etwas geht nicht: Daß hier in
diesem Saal oder draußen Sozialdemokraten oder andere mit Hilfe von „Wirtschaftsexperten" wie Günter Grass und anderen
die Legende verbreiten, erst Helmut Kohl und Norbert Blüm hätten zusammen mit der Treuhand die Wirtschaft der alten DDR ruiniert.
Das geht nicht!
Wer so redet, der macht etwas, was Frau Birthler völlig zu recht ablehnt. Ich habe ihr bei ein oder zwei Sachen, die sie gesagt hat, Beifall gegeben. Da hat sie auch recht gehabt.
Ich will dazu noch etwas sagen. Alle miteinander haben wir Fehler gemacht. Es ist ja nicht so gewesen, daß da ein Regierungswechsel stattgefunden hätte. Deswegen war ich immer gegen den Begriff Wende. Es hat sich etwas anderes vollzogen mit unserem Vaterland, nämlich der größte Umbruch, den die Weltgeschichte nach meiner Auffassung je erlebt hat. Jetzt stehen wir vor der Situation, nach zwei Jahren einmal ganz ruhig miteinander Bilanz zu ziehen: War alles richtig? Was war richtig? Die Politik hat Fehler gemacht. Der Bundeskanzler hat gestern hier an diesem Pult gesagt, es sind Fehler gemacht worden.
Haben Sie keine Fehler gemacht, etwa Oskar Lafontaine, der die Wirtschaftskraft der DDR gerühmt hat?
Aber es gibt noch andere. Ich nenne die westdeutschen Länder und auch die Ökonomen, die Ordnungspolitiker, die vom selbsttragenden Aufschwung geredet haben und uns jetzt Belehrungen über Europa geben wollen. Wir sollten diese Leute jetzt einmal kritisch miteinander betrachten.
Was die westdeutschen Länder und auch die Treuhandanstalt angeht: Machen wir nach zwei Jahren Bilanz.
Etwas muß ich noch sagen.