Rede von
Ulla
Schmidt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute schon sehr viel über den Wirtschaftsstandort Deutschland gehört, über Schwierigkeiten beim Aufbau, über Fehler der Politik. Wir haben auch von Konzepten gehört, wie das zu verändern wäre. Ich sage Ihnen — ich bin davon fest überzeugt, und deshalb sollten wir uns alle diesen Aspekt auch zu eigen machen —, daß die großen Herausforderungen der 90er Jahre — dazu zähle ich für uns insbesondere die Herstellung der sozialen und ökonomischen Einheit Deutschlands — ohne die Einbeziehung der Erfahrungen, der Fähigkeiten und der Leistungsbereitschaft der Frauen nicht gelöst werden können.
Unsere Gesellschaft braucht die Frauen. Diese Bundesregierung verspielt enorme Chancen, weil sie die Leistungsfähigkeit der Frauen im Westen wie im Osten nicht umfassend nutzt, sondern im Gegenteil mit ihrer Politik dazu beiträgt, daß Frauen je nach Bedarf und Konjunktur an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.
Die Tatsache, daß die Armut vor allen Dingen weiblich ist, ist auch 1992 in dieser Bundesrepublik noch eine bittere, aber leider wahre Aussage. Das werden die Frauen nicht weiter hinnehmen.
Die Frauen von heute, im Osten wie im Westen, sind gut ausgebildet. Sie wollen Familie und Erwerbstätigkeit. Sie leisten viel, und sie haben viel geleistet, in beiden Teilen Deutschlands. Es ist nicht einzusehen, daß eine Politik fortgesetzt wird, die immer, wenn es um den Abbau von Sozialleistungen und Engpässen auf dem Arbeitsmarkt geht, Frauen als die ersten und Frauen als die Hauptbetroffenen beteiligt.
Die Frauen im Osten — so muß man sagen — machen diese Erfahrung in den beiden letzten Jahren in einem überproportionalen Verhältnis, in einem erschreckenden Maße. Deshalb werde ich auch heute, wenn wir über die Probleme in Deutschland sprechen, auf diesen Aspekt besonders eingehen. Ich weiß, daß wir Frauen im Westen noch viel zu tun haben. Aber wenn es uns nicht gelingt, die Rückwärtswende in der Politik für die Frauen im Osten wieder umzudrehen, dann wird auch die Frauenpolitik im Westen auf Dauer Rückschläge erleiden.
Frauen waren in der ehemaligen DDR zu über 90 % erwerbstätig. Sie sicherten ihre eigene Existenz. Das ist eine wertvolle Lebenserfahrung. Ein umfassendes Angebot an öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen machte ihnen dies möglich.
Seit der Wende im Herbst 1989 sinkt die Zahl der weiblichen Erwerbstätigen in raschem Tempo. Fast jede zweite Frau in den neuen Bundesländern ist arbeitslos. Frauen stellen mit nahezu 65 % knapp zwei Drittel der Arbeitslosen. Ich spreche hier gar nicht davon, daß die Arbeitsmarktsituation von Frauen örtlich noch sehr viel dramatischer ist, als wir den verheerenden Durchschnittszahlen entnehmen. In manchen Gegenden — ich denke an die landwirtschaftlichen Gebiete in Mecklenburg-Vorpommern — wird die Quote sogar bis auf fast 100 % ansteigen, ohne daß sich für Frauen irgendwelche Perspektiven abzeichnen, überhaupt jemals in das Arbeitsleben zurückkehren zu können.
Die Frauen — das wissen Sie genausogut wie ich — haben in der Regel nicht die Ausweichmöglichkeiten, wie Männer sie haben. Sie können nicht pendeln. Sie können nicht in den Westen gehen, weil sie ihre Familie haben, weil sie ihre Kinder haben und weil Frauen diejenigen sind, die immer dann einspringen, wenn hilfsbedürftige Angehörige zu pflegen sind.
Ihre Politik trägt dazu bei, daß sich der Konkurrenzkampf zwischen den Geschlechtern um ein knappes Arbeitsplatzangebot verschärfen wird. Sie trägt dazu bei, daß wir in den neuen Bundesländern ein Heer von Sozialhilfeempfängern schaffen, statt Frauen wirklich in die Lage zu versetzen, ihre eigene Existenz zu sichern. Armut im Alter, Existenzängste und Gewalt — nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Familien —, die zunehmen, sind keine neuen Tatsachen für uns. Wir kennen das doch auch hier aus dem Westen.
Warum, meine Damen und Herren hier aus dem Bundestag, warum, meine Damen und Herren aus der Regierung, muten wir den Frauen in den neuen Ländern, die oft jahrzehntelange Diktatur erlebt haben, eigentlich genau diese schmerzlichen Erfahrungen wieder zu, statt zu versuchen, die deutsche Einheit als Chance zu begreifen, Männer und Frauen gleichberechtigt in Beruf und Gesellschaft zu beteiligen, für alle eine Hoffnung aufzubauen und für die Menschen etwas Positives zu tun?