Gesamtes Protokol
Meine Damen undHerren, die Sitzung ist eröffnet.
Die Welt trauert um König Hussein von Jordanien,der am 7. Februar dieses Jahres einem schweren Leidenerlag. Die geostrategische Lage seines Königreichs unddie Geschichte des Nahen Ostens hatten König Husseineine Schlüsselrolle bei der Bewältigung des dramati-schen und gefährlichen Nahostkonflikts zwischen Israelund seinen arabischen Nachbarn zugewiesen. Er, der als16jähriger die Ermordung seines Großvaters König Ab-dullah auf den Stufen der Al-Aksa-Moschee erlebte, hatmit einer bewunderungswürdigen, verantwortungsvollenPolitik seinen Staat durch die Verwicklungen der Politikin dieser Region gesteuert. Der 1994 zwischen Israelund Jordanien geschlossene Friedensvertrag setzte einenvorläufigen Schlußpunkt unter die Auseinandersetzun-gen zwischen diesen beiden Staaten.Seine Politik des Ausgleichs und der Mäßigung ließKönig Hussein eine Vermittlerrolle im arabisch-israelischen Konflikt und auch in der arabischen Weltgewinnen. Der von Hussein ausgesprochene Verzichtauf das Westjordanland schuf die Voraussetzungen füreine bis heute umkämpfte und noch nicht ganz erreichteBefriedung der Palästinenser. Freilich war die Politikdes kleinen und auf Hilfsleistungen angewiesenen Staa-tes zwischen großen und erdölreichen Nachbarn immerzugleich eine Gratwanderung. Jeder militärische Kon-flikt im Nahen Osten drohte Jordanien zwischen zweiMühlsteine geraten zu lassen. Der Fanatismus, der ausdem Nahostkonflikt entstanden war, führte zu minde-stens 30 Attentaten auf König Hussein.Als dienstältester Staatsmann der Welt, der seinenThron bereits 1953 bestiegen hatte, gewann KönigHussein mit seiner zunehmend liberaleren und einerDemokratisierung geneigteren Haltung auch die Herzender Bürger seines Königreiches. Die in Jordanien prakti-zierte Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Reli-gionen und Glaubensgemeinschaften ließ ihn auch eineFührungsrolle im Religionsgespräch des Nahen Ostenseinnehmen.Der Deutsche Bundestag trauert mit den Angehörigendes verstorbenen Königs und seinem Volk. Er drücktihnen sein tiefempfundenes Mitgefühl aus. –Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ichzunächst einigen Kolleginnen und Kollegen zu einemrunden Geburtstag gratulieren. Die Kollegin AdelheidTröscher feierte am 16. Februar ihren 60. Geburtstag.Die Kollegin Ilse Schumann feierte am 22. Februarebenfalls ihren 60. Geburtstag. Der Kollege HelmutWieczorek begeht heute seinen 65. Ge-burtstag. Ich spreche Ihnen im Namen des Hauses dieherzlichsten Glückwünsche aus.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktlistevorliegenden Punkte zu erweitern: ZP2 Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Beratung des Antrags der Bundesregierung: Deutsche Be-teiligung an der militärischen Umsetzung eines Ram-bouillet-Abkommens für den KOSOVO sowie anNATO-Operationen im Rahmen der Notfalltruppe(Extraction Force) – Drucksache 14/397 –b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zum Internationalen Pri-vatrecht für außervertragliche Schuldverhältnisse undfür Sachen – Drucksache 14/343 –c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD, CDU/CSUund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes über die allgemeine und die reprä-sentative Wahlstatistik bei der Wahl zum DeutschenBundestag und bei der Wahl der Abgeordneten desEuropäischen Parlaments aus der BundesrepublikDeutschland – Drucksache 14/401 –d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans MartinBury, Ernst Schwanhold, Klaus Barthel, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne-ten Werner Schulz , Margareta Wolf (Frankfurt)und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Förde-rung der Luftfahrttechnologie – Drucksache 14/395 – ZP3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache(Ergänzung zu TOP 4)Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Öffnung der Sozial-und Steuerverwaltung für den Euro – Drucksache 14/229 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeitund Sozialordnung – Drucksache 14/406 –
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1490 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Weiterin ist interfraktionell vereinbart worden, den inVerbindung mit der Beratung der ökologischen Steuer-reform vorgesehenen Antrag der CDU/CSU-Fraktion zuEnergiepreiserhöhungen – Tagesordnungspunkt 2c – ab-zusetzen.Außerdem weise ich auf geänderte und nachträglicheAusschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkt-liste hin:Die in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages mitDrucksache 14/272 erfolgte Überweisung nachfolgenderVorlagen soll ergänzt bzw. geändert werden.Erster Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zukunftder Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – DeutschlandsWeg in die Informationsgesellschaft“ gemäß Beschluß desDeutschen Bundestages vom 7. Dezember 1995 zum ThemaMeinungsfreiheit – Meinungsvielfalt – Wettbewerb Rund-funkbegriff und Regulierungsbedarf bei den Neuen Me-dien – Drucksachen 13/3219, 13/6000 –Überweisungsvorschlag:
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes überdie Feststellung des Bundeshaushaltsplans fürdas Haushaltsjahr 1999
– Drucksache 14/300 – Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschußb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungBericht über den Stand und die voraus-sichtliche Entwicklung der Finanzwirt-schaft– Drucksache 14/350 – Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß FinanzausschußIch erinnere daran, daß wir gestern für die heutigeAussprache insgesamt neun Stunden beschlossen haben.Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich desBundeskanzleramtes. Das Wort hat der Kollege Wolf-gang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Selten hat ei-ne neue Regierung in so kurzer Zeit soviel Durcheinan-der angerichtet und so viel Enttäuschung verursacht.
Präsident Wolfgang Thierse
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1491
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Der Kölner „Express“ schrieb dieser Tage: „Wir wer-den regiert von Enttäuschern.“ Die Kommentatorenkonnten den Ablauf der Hunderttagefrist kaum erwarten.Ein Urteil war verheerender als das andere.Vielleicht steht die Auslandspresse weniger im Ver-dacht der Befangenheit. „Le Figaro“: „Die AnfängeSchröders waren chaotisch.“ Die „Neue Zürcher Zei-tung“: „Ernüchterung und Durchwursteln.“ Im Londoner„Independent“ stand zu lesen: „Stellt euch eine rotgrüneRegierung vor, haben manche Witzbolde gesagt, ange-führt von Schröder, Lafontaine, Fischer inklusive – ha,ha, ha; tja, jetzt ist es schon hundert Tage her, seit diesesungleiche Trio die Regierung übernommen hat, und wirlachen noch immer“. – So der „Independent“.
Den meisten ist das Lachen inzwischen vergangen.
„Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert“ und „Auf-bruch und Erneuerung“ hatte es geheißen. „Die Woche“schrieb dieser Tage: „Manches ist schon zu Ende, bevores richtig begonnen hat. Mancher, der sich eben noch amBeginn einer neuen politischen Ära wähnte, muß plötz-lich feststellen, daß auch hundert Tage schon eine ganzschöne Strecke sein können.“Das Presseecho: katastrophal. Das Urteil der Fach-welt: vernichtend. Die Wähler: enttäuscht und auf demAbsprung. Erst reden, dann denken, schließlich zurück-rudern; große plakative Entwürfe mit der Solidität vonSeifenblasen. In der Umsetzung hektische Schnellschüs-se, unausgereift und mit schwersten handwerklichenMängeln. Anschließend ein Rückzug auf Raten, neueVorschläge, bis die Verwirrung komplett ist.Die „Frankfurter Rundschau“ – kein Unionsblatt –schrieb: „In jedem Fall braucht man die neuen Ministernur ausreden zu lassen, um sie in Konflikt mit sich sel-ber zu bringen.“
Eine Mischung aus Substanzlosigkeit und Überheblich-keit hat Sie in zentralen politischen Handlungsfelderngegen die Wand fahren lassen. Der Haushalt ist Aus-druck der Ratlosigkeit, die das rotgrüne Lager erfaßt hat.Vor Weihnachten haben Sie Wahlgeschenke verteilt,die Ihnen in Hessen nichts genützt haben. Herr Lafon-taine, jetzt konfrontieren Sie uns mit der höchsten Aus-gabensteigerung. Beinahe täglich präsentieren Sie neueModelle, wie die selbstgerissenen Löcher gestopft wer-den sollen. Der Kollege Dreßler forderte laut „dpa“-Meldung vom 19. Januar wörtlich: „Familien notfallsper Steuererhöhung entlasten“. – Das ist typisch für dieRegierung.Herr Lafontaine, jetzt lesen wir Meldungen, nach derWahl in Bremen werde die Mehrwertsteuer erhöht. Ichfordere Sie auf: Schaffen Sie jetzt und nicht erst nachder jeweils nächsten Wahl Klarheit!
Herr Kollege Wieczorek, herzlichen Glückwunsch!Sie hätten einen besseren Haushaltsentwurf zu IhremFesttag verdient. Das will ich Ihnen in Verbundenheitsagen. Der vorliegende Entwurf ist im Kabinett am 20.Januar verabschiedet worden. Aber Sie haben mit IhrerMehrheit eine Haushaltsdebatte vor der Hessen-Wahlmit dem Argument verhindert, der Haushalt sei nochnicht beratungsreif. Um Himmels willen!
– Entschuldigung, so ist es im Ältestenrat von den Ver-tretern der SPD mitgeteilt worden. Das ist kein Quatsch,sondern die Wahrheit. –
Der Haushalt sei nicht beratungsreif, das war das Argu-ment, mit dem eine Debatte vor der Hessen-Wahl ver-hindert worden ist.Jetzt frage ich Sie: Was für einen Haushalt haben Sieim Kabinett eigentlich verabschiedet? War es vielleichtnur der Sprechzettel für den Regierungssprecher? Washat sich denn seit dem 20. Januar verändert? Ist derHaushalt jetzt beratungsreif, und warum war er es vorder Hessen-Wahl nicht?Ihre Purzelbäume in der Energiesteuerdebatte habenwenigstens noch die Karnevalisten erwärmt. Ein Modellzu vertreten, nach dem man im Zeichen des Energiespa-rens um so weniger Steuern bezahlen soll, je mehr Ener-gie man verbraucht, oder nach dem man um so mehr vonder Energiesteuer entlastet wird, je mehr man seine Per-sonalkosten reduziert – auf deutsch heißt das ja Entlas-sung –, das ist, Herr Lafontaine, schon ein Stück ausdem Tollhaus.
Von Expertenseite wird Ihr Ökosteuerkonzept uniso-no mit Attributen wie „mißraten“, „mißglückt“, „ge-scheitert“ versehen. Aber dieser Bundesregierung gilt jadie Meinung von Experten nicht viel. Wie sonst sollman es verstehen, wenn am gleichen Tag, an dem dieExperten im Ausschuß gehört wurden, das Gesetz imAusschuß unverändert durchgepeitscht wurde? So wirddoch jede Anhörung zur Farce.
Es gehört schon viel Frechheit dazu, etwas „ökologi-sche Steuerreform“ zu nennen, was keinerlei ökologi-schen Lenkungseffekt, keinerlei Energieeinsparung,sondern lediglich Wachstumsverluste und eine Bela-stung des Wirtschaftsstandorts erwarten läßt, ganz zuschweigen von den sozialen Ungerechtigkeiten gegen-über Rentnern, sozial Schwächeren, Familien mit Kin-dern und Berufspendlern, die sich steigende Stromprei-se, steigende Heizölpreise und steigende Benzinpreisenicht leisten können.
Dr. Wolfgang Schäuble
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1492 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Sie hatten eine durchgreifende Neuordnung der 630-DM-Jobs versprochen. Herausgekommen ist eine Re-formpleite ohne Ende.
Der Bundeskanzler selber hat mindestens vier persönli-che Modelle entwickelt; wahrscheinlich wissen Sie, HerrSchröder, im Moment auch nicht mehr, welches jetztaktuell Gültigkeit haben soll.
Nach derzeitigem Stand soll jeder 630-DM-Jobber, derein zusätzliches Einkommen bezieht – Rente, Unter-haltsleistungen oder Sparzinsen – grundsätzlich steuer-pflichtig werden. Also bleibt die Ehegattin ohne eigenesEinkommen steuerfrei; die Alleinstehende, die Unterhaltbezieht, wird steuerpflichtig.
Das ist ein Programm voller Ungereimtheiten, ein Pro-gramm zur Förderung von Schwarzarbeit.
Niemand landauf, landab, keine Gewerkschaft und keinWirtschaftsverband ist mehr bereit, dieses Vorhaben zuunterstützen. Aber das ist Ihnen egal: Noch haben Siedie Mehrheit im Bundesrat und handeln nach der Devi-se: Augen zu und durch.Eine große Steuerreform ist der deutschen Öffent-lichkeit versprochen worden, die die Rahmenbedingun-gen für mehr Investitionen und Beschäftigung verbes-sern sollte. Das Urteil aller Experten ist verheerend. Sieselbst haben mit Ihren hektischen Nachbesserungen anfast jedem Tag und laufend neuen Ausnahmen und Kor-rekturen ja längst eingestanden, daß die ganze Aktionschiefgegangen ist.
Ich zitiere den Sachverständigenrat. Ich tue es, so-lange man es noch kann. Offensichtlich will die Regie-rung sachverständige Beratung nicht nur bei der Reak-torsicherheitskommission gleichschalten. Bevor sich derFinanzminister weiter daranmacht, durch Umbesetzun-gen mögliche Kritik von kompetenter Seite zumSchweigen zu bringen, lese ich das vor, was der Sach-verständigenrat geschrieben hat:Die Einkommensbesteuerung umfassend zu refor-mieren, die Bürger spürbar zu entlasten und die öf-fentlichen Haushalte durch eine beherzte Konsoli-dierung auf Dauer wieder handlungsfähig zu ma-chen – das sind die finanzpolitischen Projekte, diejetzt angegangen werden müssen …Gemessen an diesen Anforderungen greift die jetztvorgelegte Steuerreformkonzeption zu kurz: DieSenkung der Steuersätze bleibt – vor allem im Be-reich höherer Einkommen – zu zaghaft und ist fürden Unternehmensbereich noch unsicher, die Ver-breiterung der Bemessungsgrundlage trifft beson-ders Unternehmen, die Nettoentlastung kommt zuspät und ist zu gering.Diese Einschätzung wird von der ganzen Fachwelt uni-sono geteilt.Das Kieler Institut für Weltwirtschaft bestätigt, daßmit einer geplanten Steuerentlastung im Jahre 2002von gerade einmal 0,3 Prozent des geschätzten Brutto-inlandsproduktes keinerlei Impulse für Wachstum undBeschäftigung verbunden sind. Nur eine wirkliche Kon-solidierung der Staatsausgaben schafft Spielräume füreine echte Steuerentlastung.Ihr Steuerkonzept schafft nur in einer Hinsicht Klar-heit: Die von Ihnen im Wahlkampf so heftig umworbeneNeue Mitte wird nach der Wahl wieder zu dem, was siefür die SPD immer war und bleiben wird, nämlich dieGruppe der sogenannten Besserverdienenden, die esnach Belieben zu schröpfen gilt.
Der Mittelstand wird belastet, wodurch Arbeitsplätzevernichtet werden. Die Situation wird nicht dadurch bes-ser, daß Herr Lafontaine sagt, dies sei so gewollt.Zu einer Konsolidierung des Haushalts durch Ein-schränkung der Ausgaben fehlen Ihnen die Kraft und derMut. Statt dessen steigern Sie die Ausgaben um fast7 Prozent. Das ist die höchste Steigerungsrate seit Jahr-zehnten und dreimal soviel, wie der Finanzplanungsratvorgegeben hat. Der vor der Wahl versprochene Spar-kurs wird bereits durch den vorliegenden Haushalt Ma-kulatur.In der Gesundheitspolitik jagt ein Dementi das an-dere. Erst hat man ein paar Wohltaten unter das Volkgestreut. Jetzt ist die Rationierung der Kassenleistungenangesagt.Herr Riester wollte erst die älteren Arbeitnehmer miteinem ebenso gigantischen wie unbezahlbaren Frühver-rentungsprogramm erfreuen, das aber nun offenbar sang-und klanglos in der Versenkung verschwindet. Dafür er-schreckt er die Rentner mit der Botschaft, daß er für diejährliche Rentenanpassung nach dem Nettolohnprin-zip nicht mehr geradestehen will. Rentenanpassung sollalso bei der SPD künftig nur noch nach Kassenlage er-folgen. All diese Vorhaben werden nur so nebenbei ver-kündet. Ich hätte Sie einmal hören mögen, was Sie ge-sagt hätten, wenn wir so verfahren wären.
Ihnen war doch schon die Einführung des demogra-phischen Faktors zuviel. Wir haben ihn eingeführt, umangesichts der steigenden Lebenserwartung die Bela-stung von Beitragszahlern und Leistungsempfängern be-hutsam neu zu justieren. Inzwischen sind Sie selbst zuder Einsicht gekommen, daß die Rentenversicherungohne einen solchen Korrekturmechanismus nicht aus-kommen kann.
Ich bin für Nachdenken und finde es deshalb ärgerlich,daß Sie vor Jahresende wichtige Reformschritte rück-gängig gemacht haben. Jetzt dämmert Ihnen allmählich,daß Sie genau die falsche Richtung nach dem Motto„Erst handeln, dann denken“ eingeschlagen haben.
Dr. Wolfgang Schäuble
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1493
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„Halbstarke Politik“ hat Heribert Prantl Ihre Politik inder „Süddeutschen Zeitung“ genannt. Alleingänge in derEnergiepolitik im Zeichen der Globalisierung und deszusammenwachsenden Europas müssen scheitern. Dasgilt für die Energiebesteuerung, die im nationalen Al-leingang Arbeitsplätze vernichten wird, wie auch für denAusstieg aus der Kernenergie. Strom aus Tschernobylzu beziehen und die sicheren Reaktoren in Deutschlandabzuschalten ist doch eine infantile Rechthaberei stattverantwortlicher Politik.
Anglo-französische Schadenersatzansprüche für denFall des Ausstiegs aus den Verträgen für die Wiederauf-arbeitung werden mit dem Hinweis abgewehrt – so derJurist Trittin –, Regierungshandeln sei höhere Gewalt.Höhere Gewalt bedeutet in der Rechtssprache ein unab-wendbares Ereignis, meist eine Naturkatastrophe. Es istschon beachtlich, wenn Herr Trittin rotgrüne Politik miteiner Naturkatastrophe gleichsetzt. Er muß es ja wissen.
Die Erfolge, Herr Bundeskanzler, die Ihrer Regierungnoch gutgeschrieben werden – die Debatte um die Steu-erreform in diesen Tagen belegt dies –, bestehen nurnoch aus der Rücknahme eigener Vorhaben.
Aber aus dem Rotieren auf der Stelle wird noch keineBewegung. Fast das Beste, was man von Mitgliedern Ih-rer Regierung noch sagen kann, ist, daß sie bisher nichtweiter aufgefallen sind. Wer ist eigentlich für Woh-nungsbau zuständig oder für Bildung und Forschungoder für Frauen und Familie? Der Kulturbeauftragte, fürden man die Institution Parlamentarischer Staatssekretärso ändern mußte, daß man Parlamentarischer Staatsse-kretär auch sein kann, ohne Parlamentarier zu sein, HerrNaumann also, hat es immerhin geschafft, die Mahn-maldebatte so durcheinanderzubringen, daß nach zehnJahren Diskussion ein neuer Wettbewerb ausgeschriebenwerden muß, ohne daß der alte schon beendet war. Unddann wird eine schnelle Entscheidung des Bundestagesgefordert.
Jetzt hat der Kulturbeauftragte einmal den Engländerndie Leviten gelesen.
Herr Bundeskanzler, das unsägliche Gerede dieses Man-nes wird Ihnen zugerechnet, und es schadet uns Deut-schen.
Auch der große Koordinator Hombach wird ziemlichentzaubert. Er beschäftigt sich mit der Finanzierung sei-nes Eigenheims, angeblich auch in einer Arbeitsgruppemit seinem in London gescheiterten Kollegen Mandel-son.
– Ich habe in einem Magazin gelesen, er beschäftigesich damit stundenlang, begleitet von mehreren Anwäl-ten. Auch die Arbeitsgruppe mit Herrn Mandelson istdoch gegründet, und Herr Steinmeier liest jetzt die Ak-ten. Aber wenn Herr Steinmeier wenigstens die Aktenliest, läßt das ein wenig hoffen, denn bisher hatten Sieoffenbar kaum Ihren Koalitionsvertrag gelesen. Trittinhat recht, wenn er bei seinen Narreteien darauf verweist,den Koalitionsvertrag auf seiner Seite zu haben.
Den Bundeskanzler interessiert es nicht. Aber wer hatdenn dieses Machwerk wenn schon nicht ausgehandelt,dann doch zumindest unterschrieben? Als Herr Fischerbeispielsweise mit seinem Beitrag zur Nuklearstrategiedes Atlantischen Bündnisses für Furore sorgte, merktedie SPD doch offenbar erst, daß sie genau das im Koali-tionsvertrag unterschrieben hatte, was aus FischersMund zu Recht soviel Entsetzen hervorrief. Pleiten,Pech und Pannen, halbstarke Politik.
Es liegt nicht nur an der Mannschaft. Schließlichkocht bei Rotgrün der Chef. Alles ist zur Chefsache er-klärt: „Bündnis für Arbeit“, Energiekonsens, Steuerre-form, 630-DM-Jobs, Aufbau Ost, EU-Präsidentschaft.Wenn alles Chefsache ist, Herr Bundeskanzler, sind Sieauch verantwortlich für das Chaos, den Mist und dasDurcheinander, das da entstanden ist.
Daß Sie in kurzer Zeit viele Fehler gemacht habenund an die Wand gefahren sind, haben Sie inzwischenselbst eingestanden: „Tempo zurücknehmen“, „mehrnachdenken“ oder wie die Formulierungen jetzt alle hei-ßen. Von einem neuen Anfang ist gar die Rede. Aberdas ist wirklich eine Drohung. Noch einmal so ein An-fang?
Natürlich macht, wer handelt, immer auch Fehler,und wer neu anfängt, hat auch Anspruch auf eine gewis-se Toleranz, weil man hofft, es wird sich schon richten,was am Anfang so holprig ist und ächzt und knirscht.Aber Sie haben schon bleibende Schäden angerichtet.Die wirtschaftliche Lage und die Perspektiven für denArbeitsmarkt verschlechtern sich von Monat zu Monat.Das ist eben nicht nur die Folge wirtschaftlicher Ent-wicklungen in Asien oder Südamerika, sondern das ist,wie die Bundesbank in ihrem jüngsten Monatsberichtbestätigt, auch Folge einer nachhaltigen Verunsicherungbei Investoren im In- und Ausland, die durch Ihre Steu-er- und Abgabenpolitik ausgelöst wird.
Ein Drittel aller Investitionen sind zum Jahresendezurückgestellt worden, und viele prüfen, ob nicht mehrwirtschaftliche Aktivitäten, also Arbeitsplätze, ins Aus-land verlagert werden müssen. Das ist der bleibendeSchaden, den Sie verursacht haben.Dr. Wolfgang Schäuble
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1494 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Das Vertrauen unserer Partner und Nachbarn in dieBerechenbarkeit und Verläßlichkeit deutscher Politik istbeeinträchtigt. Das wird Ihnen im Rahmen der deut-schen EU-Präsidentschaft die Aufgabe, die Agenda2000 zum Erfolg zu bringen, nicht erleichtern. WerVertrauen in die Verläßlichkeit deutscher Politik be-schädigt, der handelt nicht im deutschen Interesse.
Die eigentliche Ursache des Desasters aber, das Sie indiesen 100 Tagen angerichtet haben, sind keine Anfän-gerfehler. Nein, Ursache sind fundamentale Meinungs-unterschiede innerhalb der SPD, zwischen dem ideologi-schen und pragmatischen Flügel, und innerhalb vonRotgrün, zwischen Fundis und Realos – allenthalbenFraktionierung, Quoten, Grüppchen. Wenn es vielleichtnoch als politische Bewegung im Zeitalter von „Info-tainment“ amüsant sein mag, für verantwortliche Regie-rungspolitik taugt es nicht.Überspielt wird all das in Schröderscher Manier miteinem beispiellosen Mangel an Substanz.
Allen wohl und niemand weh – das klingt vernünftigund ist gewiß ein schönes Faschingsmotto. Aber gestal-tende Politik muß entscheiden, und wer führen will, mußeine Vorstellung von der Richtung haben, in die er ge-hen will. Eine Vorstellung von dem Gelände, in demman sich bewegt, gehört dazu, wenn man nicht dauerndstolpern will.Herr Schröder, Ihr Wahlkampf rächt sich, in dem Sieum der besseren Verkaufschancen willen auf die Klä-rung aller substantiellen Fragen bewußt verzichtet ha-ben. Wer nur an die Macht kommen will, egal wie, derpfuscht hinterher, wie beim Koalitionsvertrag gesche-hen.
Wessen politisches Kredo sich darin erschöpft, Kanzlerzu werden, der wirkt so erschöpft, wenn er es ist.
In der „Berliner Zeitung“ hat Brigitte Fehrle gesterneinen Leitartikel unter der Überschrift „Kanzler Leicht-fuß“ geschrieben. Man müßte ihn eigentlich ganz vorle-sen. Ich lese einige Sätze daraus vor:Wenn der Bundeskanzler die Einschaltquoten deralles verulkenden und vereinfachenden Medienzum Maßstab für die Akzeptanz seiner Person undseiner Politik macht, hat er etwas mißverstanden.Schröder ist schon gewählt. Es reicht nicht mehr,den Anschein von Kompetenz zu erzeugen, sie mußjetzt bewiesen werden.Es mag altmodisch klingen, aber das Amt des Bun-deskanzlers verlangt auch Würde. Das bedeutetnicht Unnahbarkeit, aber Ernsthaftigkeit.
Ein Kanzler darf Spaß haben, auch Spaß bringen,doch er darf sich nicht zur Ulknudel der Nationmachen.
Die Ratlosigkeit, bei der Sie in Wahrheit angekom-men sind, versuchen Sie mit Überheblichkeit zu über-spielen. Wir brauchen die Opposition nicht, meinte HerrStruck. Ein wenig mehr, Herr Kollege, wird es schonsein müssen, wenn Sie an Herbert Wehner anknüpfenwollen.
Ich sage Ihnen: Sie müssen die Opposition ernst neh-men, weil sich in der pluralistischen, offenen, demokra-tischen Debatte jedes Vorhaben auch der parlamentari-schen Mehrheit dem Für und Wider, dem Pro und Kon-tra stellen und sich darin behaupten muß. Augen zu unddurch – das geht schief; das haben Sie gerade in Hessenerfahren.
Sie haben es offenbar noch immer nicht verstanden.Es geht nicht darum, im Bundesrat eine Mehrheit für ir-gendeine Form der regelmäßigen doppelten Staatsbür-gerschaft zu finden. Es geht vielmehr darum, daß dieübergroße Mehrheit der Bevölkerung und die Hälfte Ih-rer Anhänger Ihr unreifes, provozierendes Vorhabenablehnen.
Darüber kommen Sie nicht hinweg – auch nicht damit,daß Sie in der Woche vor der Landtagswahl verfas-sungswidrig mit Steuermillionen Werbung gemacht ha-ben.
Sie haben übrigens auf die Verfassung und unsereGesetze einen Eid geleistet. Der Zweck heiligt die Mittelallenfalls im Rahmen der Verfassung. Wenn Sie jetztden armen Herrn Eichel, der am Wahlabend in der Nie-derlage eine anständige Figur machte,
zwingen, Ihren Steuerpfusch im Bundesrat mit einer ab-gewählten Mehrheit durchzusetzen, dann zeigt dies nur,daß Sie die Wählerschaft aus Ratlosigkeit und Überheb-lichkeit nicht hören wollen.
Aber Hochmut – das habe ich schon vor der Hessen-Wahl gesagt – kommt vor dem Fall. Wetten daß, HerrSchröder?
Das Thema „doppelte Staatsangehörigkeit“ – Siekönnen es drehen und wenden, wie Sie wollen – zeigtdie ganze Substanzlosigkeit Ihrer Politik. Die IntegrationDr. Wolfgang Schäuble
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1495
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der auf Dauer in Deutschland lebenden ausländischenMitbürger ist eine der wichtigsten und schwierigstenZukunftsaufgaben. Eine Integration kann man nicht ge-gen die Bevölkerung erreichen, sondern nur mit ihr. Dasist das Problem.
Deshalb brauchen wir ein umfassendes und ausgewoge-nes Integrationskonzept, das die Bevölkerung überzeugtund keine Ängste hervorruft. Dazu haben Sie im Gegen-satz zu uns überhaupt nichts vorgelegt, sondern lediglicheinen Kotau vor Ihren ideologischen Fundamentalistengemacht.
Dies war genauso in der Energiepolitik. Mit einerlangfristigen Politik für Energiesicherheit, Umwelt-schutz und Arbeitsplätze hat Ihre Politik des Löcherstop-fens durch Energieverteuerung und des nationalen Al-leingangs im Bereich der Kernenergie nicht das gering-ste zu tun. Es ist ein Mangel an Substanz und Ernsthaf-tigkeit, der Ihre Politik kennzeichnet.Herr Lafontaine kämpft mit seinen antiquierten Vor-stellungen von Nachfragesteuerung und Regulierung derMärkte gegen den Rest der Welt. Der Fundi-Flügel derKoalition treibt ideologische Sandkastenspiele, und HerrSchröder amüsiert sich. Daraus resultiert das eigentlicheFiasko. Sie diskreditieren jede Politik in Richtung Ver-änderung und Innovation in Deutschland. Stillstand undBesitzstandsverteidigung sind das Ergebnis Ihrer Politik.Das ist das eigentliche Fiasko.
Veränderungen in unserer gesellschaftlichen undpolitischen Wirklichkeit – wer wüßte das besser als wir,die wir 16 Jahre lang die Regierungsverantwortung ge-tragen haben – sind schwer durchzusetzen. Wohlstandfördert weder Solidarität noch Veränderungsbereitschaft.Der öffentliche Gedächtnisschwund angesichts derKurzatmigkeit medialer Diskussionsprozesse privilegierteher Show statt Substanz.Wir können in einer Welt, die sich so rasant verän-dert, nicht stehenbleiben. Das gilt angesichts globalerEntwicklungen genauso wie im Hinblick auf gesell-schaftliche Veränderungen. Entfernungen schrumpfen,und Grenzen trennen nicht mehr angesichts der Fort-schritte in den Kommunikationstechnologien. Das hatzur Folge, daß wir unsere globale Verantwortung soernst nehmen müssen wie den Erhalt unserer Wettbe-werbsfähigkeit. Das macht die nationalen Alleingänge inder Energiepolitik, und zwar von den Steuern bis zurKernenergie, so hoffnungslos halbstark, unausgegorenund spätpubertär.
Deshalb sind Partnerschaftsfähigkeit, Verläßlichkeit,Vertrauen, Fortschritte in der europäischen Einigung un-erläßlich für unsere Zukunft. Dieser Bundesregierung istes in kürzester Zeit gelungen, das Vertrauen unserer eu-ropäischen Partner nachhaltig zu beschädigen. Das An-sehen, das sich Deutschland mit allen Kanzlern vonAdenauer bis Kohl in Europa und in der Welt erworbenhat, setzen Sie, Herr Bundeskanzler, mit Ihren rambo-haften Sprüchen – wie in Saarbrücken – aufs Spiel.
Der Skandal, daß ausgerechnet dem deutschen Finanz-minister der Euro-Start nicht wichtig genug war, um sei-nen Urlaub zu unterbrechen und sich nach Brüssel zubegeben, ist in Europa noch lange nicht vergessen, HerrLafontaine.
Jetzt haben Sie offenbar den zuständigen EU-Kommissar von der Teilnahme am Treffen der Finanz-minister der G 7 ausgeschlossen. So wie Sie das betrei-ben, wird in Europa nichts besser, sondern alles wirdnoch viel schwerer. Jetzt reden Sie noch den Euroschwach.
Was die notwendigen Fortschritte der europäischenEinigung anbelangt, so greift der Reformansatz derAgenda 2000 eher zu kurz. Wir brauchen mehr Subsi-diarität in Europa, eine vernünftige Aufgabenteilungzwischen der europäischen, der nationalen und der re-gionalen Ebene.
Das haben wir seit vielen Jahren gesagt. Wir brauchenmehr Freiräume und weniger Bürokratie in Europa. Dar-auf, auf mehr Dezentralisierung, Aufgabenverlagerung,auf eine Strukturpolitik, die nicht alles über einen Lei-sten schlagen will, sollte sich die Bundesregierung kon-zentrieren, statt in eine überall längst überwundenePolitik der Alleingänge und des nationalen Egoismus zu-rückzufallen.
Was wir in Europa brauchen, ist eine gemeinsame Poli-tik, die dafür Sorge trägt, daß die Dinge, die nur gemein-sam in Europa bewältigt werden können, auch gemein-sam angegangen werden. Ich meine also die Wirt-schafts- und Währungsunion, die Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik und eine gemeinsame Innen- undRechtspolitik.Wie dringend notwendig dieses gemeinsame Vorge-hen in Europa ist, das haben uns auch die gewalttätigenAusschreitungen der PKK überall in Europa vor Augengeführt. Im übrigen zeigen sich auch hier die Folgen derVerantwortungslosigkeit des deutschen Bundeskanzlers.Als Öcalan auf Grund eines deutschen Haftbefehls inItalien festgehalten wurde, sagte die Bundesregierungnoch am Donnerstag abend der betreffenden Woche derOpposition, man wolle eine internationale Lösung, ambesten mit türkischer Beteiligung. Am nächsten Morgenscherte das Herrn Schröder im Gespräch mit dem italie-Dr. Wolfgang Schäuble
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1496 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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nischen Ministerpräsidenten einen Dreck: Nichts wieweg damit! – Jetzt haben wir den Salat.
– Ja, so hat man sich doch verhalten.Die Entscheidung des Bundeskanzlers, auf die Aus-lieferung eines Mannes zu verzichten, der auf Grund ei-nes deutschen Haftbefehls festgehalten wurde, ist dochnicht in einem rechtsstaatlichen Verfahren ergangen,sondern sie ist nach Gutsherrenart getroffen worden.Das ist doch der Skandal.
Jetzt wird wieder von internationalen Aktionen, von Zu-sammenarbeit und von sonst etwas gesprochen. Aberwarum sollten sich denn andere um die Kurden-Frageund Öcalan kümmern, wenn die Deutschen, die HerrnÖcalan schließlich wegen Mordverdachts zur Fahndungausgeschrieben hatten, nichts damit zu tun haben woll-ten, weil es ja Ärger geben könnte? So wird die Staaten-gemeinschaft noch lange im Kampf gegen Terrorismusund Gewalt erfolglos bleiben. Das ist der Fehler desBundeskanzlers.
Neben gemeinsamem Handeln auf Feldern, wo wirnur gemeinsam stark sein können, brauchen wir in Eu-ropa und in Deutschland eben auch mehr Wettbewerbund mehr Subsidiarität. Beide Grundsätze gehören zu-sammen. Angesichts der dramatischen Veränderungenin der Arbeitswelt, die durch das Zusammenwirken vontechnischem Fortschritt, weltweiter Arbeitsteilung undMobilität – von Know-how bis zu Kapital – begründetwird, müssen wir nicht nur Steuer- und Abgabensystemewettbewerbsfähig halten, sondern wir müssen auch un-sere wirtschaftlichen, sozialen und vor allem unsere bü-rokratischen Strukturen wettbewerbsfähig halten. WennInnovationstempo und Anpassungsfähigkeit entschei-dend sind – das sind heute die in der Weltwirtschaft ent-scheidenden Wettbewerbsgesichtspunkte –, dann sinddezentrale Lösungen dem Zentralismus immer überle-gen. Deshalb brauchen wir keine europäischen Beschäf-tigungsprogramme, sondern wir brauchen mehr Frei-räume für Wettbewerb, Ideen und Vielfalt in Europa undin Deutschland.
Noch einmal: Die Widerstände sind groß. Auch wirhaben uns zeitweilig schwergetan. Aber seit Mitte der90er Jahre sind wir wieder gut vorangekommen. Des-halb hatten wir 1998 steigende Wirtschaftskraft und In-vestitionen aus dem In- und Ausland. Wir hatten sinken-de Arbeitslosigkeit und in den Ist-Zahlen gegenüber denAnsätzen im Bundeshaushalt einen Überschuß von 10Milliarden DM. Nicht neue Löcher, Herr Lafontaine,wie Sie wahrheitswidrig behaupteten, haben Sie beimKassensturz vorgefunden, sondern einen Überschuß von10 Milliarden DM.
– Natürlich: einen Überschuß von 10 Milliarden DM.
Den Überschuß aus 1998 haben Sie flugs in das Haus-haltsjahr 1999 transferiert, um Ihren unverantwortlichenAusgabenanstieg so gerade noch im Rahmen der verfas-sungsrechtlich zulässigen Neuverschuldung zu halten –anstatt daß Sie die bessere Finanzgrundlage für einenachhaltige Nettosteuerentlastung zugunsten vonWachstum und Beschäftigung nutzen.
Der Erfolg unserer Reformen, die Sie zurückgenommenhaben, waren steigende Wirtschaftskraft, steigende Inve-stitionen, abnehmende Arbeitslosigkeit.Sie machen die erreichten Erfolge zunichte:
Erst haben Sie mit Ihrer Oppositionsstrategie im Bun-desrat verzögert und blockiert, wo immer es ging, ohneRücksicht auf die gesamtstaatliche Verantwortung.Dann haben Sie in einem Wahlkampf der billigen Ver-sprechungen die schöne neue Welt ohne Anstrengungenversprochen. Nach Ihrem Wahlsieg haben Sie die Re-formansätze zerstört und statt dessen das Geld mit vol-len Händen ausgegeben. Jetzt, wo es endlich gilt, dieZahlen von Ausgaben und Einnahmen stimmig zu ma-chen, stehen Sie mit leeren Händen da – ratlos, hilflos.
Mit dem rotgrünen Reformprojekt ist es wie mit desKaisers neuen Kleidern: Wer genau hinsieht, findetnichts.
Wer auf den Pragmatiker hoffte, der bleibt genausoenttäuscht. „Schröders neue Mitte“, schrieb die „FAZ“am 15. Februar, „ist der Ort des Alles und des Nichts.“Dabei ist Mitte die Voraussetzung, um Bewahren undErneuern in der rechten Weise zu verknüpfen. AberMitte ist eben kein Ort der Beliebigkeit, sondern Mitteheißt Orientierung, Verankerung, auch Mäßigung undAusgleich. Nur aus der Mitte wächst Toleranz, Libera-lität, Beständigkeit und Zukunftskraft.
Deshalb braucht Mitte Werte; denn: ohne Kompaß keineRichtung! Das ist die Mitte der Union, wo Werte Zu-kunft haben.
Niemals hatte eine Generation größere Chancen aufein Leben in Frieden und Freiheit, in Wohlstand und so-zialer Stabilität als die unsere. Aber die Chance derFreiheit darf nicht durch Bürokratie und Verteilung,durch Überförderung und Unterforderung, Unüber-schaubarkeit und Anonymität verdorben werden.Dr. Wolfgang Schäuble
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Der evangelische Bischof von Berlin-Brandenburg,Huber, schreibt in seinem neuen Buch „Die Kirche inder Zeitenwende“:Das Projekt der Freiheit läßt sich nur fortsetzen,wenn die Menschen die Fähigkeit zur Selbstbe-grenzung aus Freiheit entwickeln. Ohne Werte gehtdas nicht.
– Können Sie die Zeitung ein bißchen leiser umblättern,Herr Fischer, wenn es schon sein muß?
Wem alles gleich ist, der ist zur vorrangigen Förde-rung von Ehe und Familie nicht in der Lage. Die Men-schen brauchen Leitbilder des Zusammenlebens, auchund gerade junge Menschen, auch und gerade in Zeitender Individualisierung und der Pluralität von Lebens-stilen. Wer wie Sie nur auf kollektive Systeme setzt, derwird soziale Gerechtigkeit nie erreichen,
weil er den Schatz an menschlicher Fürsorge, an Wär-me, an Solidarität ungenutzt läßt,
den Schatz, der in Mitmenschlichkeit, in der Verant-wortlichkeit jedes einzelnen, in der Geborgenheit in derFamilie, in Spontanität und Kreativität der kleinen Ein-heit, in Nähe, Vertrautheit und Einsatzbereitschaftsteckt: vom Ehrenamt über die kommunale Selbstver-waltung bis zur landsmannschaftlichen Identität.Ihr Fehler ist, lieber auf Umverteilung und zentrali-stische Regelungen zu setzen als auf die Stärkung vonEigenverantwortung und Deregulierung.
Das unvermeidliche Ergebnis einer solchen Politik heißtdann: mehr Staat, mehr Bürokratie und damit auch mehrSteuern und mehr Abgaben. Kein Wunder, daß von rot-grünen Politikern ständig neue Steuererhöhungsvor-schläge ins Spiel gebracht werden: Erhöhung der Mine-ralölsteuer, Wiedereinführung der Vermögensteuer, Ab-schaffung des Ehegattensplittings, Beibehaltung des So-lidaritätszuschlags, Erhöhung der Mehrwertsteuer – diePhantasie kennt da keine Grenzen. Das schwächt dieKräfte, auf die es eigentlich ankommt: die Kräfte derEigenverantwortung, der Subsidiarität, der freiwilligenSolidarität.
Eine moderne, innovative, freiheitliche Gesellschaftkann man nicht mit zentralisierter Bürokratie, mit Kar-tellen und Kollektiven organisieren. Ich zweifle, ob Siedas jemals begreifen werden.Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist: Wir set-zen auf freie Entfaltung dessen, was in den Menschensteckt.
Gerade die Leistungsbereiten, die Engagierten und dieMotivierten dürfen nicht immer wieder entmutigt wer-den, sondern sollen ihre Entfaltungschance bekommen.Auch die Chance, sich am wirtschaftlichen Wettbewerb,am Wettbewerb der Ideen und der kreativen Leistungenzu beteiligen, gehört zur Teilhabegerechtigkeit, also dieChance, sich beruflich auf eigene Füße zu stellen, sicheine eigene Existenz aufzubauen, die Chance, als jungerIngenieur oder Naturwissenschaftler etwas zu entwik-keln oder weiterzugeben, was uns alle voranbringt.Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist, daß wirdavon überzeugt sind, daß die Menschen – jeder einzel-ne und alle miteinander –, wenn man sie nur läßt, wennman die Rahmenbedingungen richtig gestaltet, zu vielmehr Leistung, zu viel mehr Solidarität, zu viel mehrPhantasie und Kreativität fähig sind, viel mehr schöpfe-rische Kräfte entwickeln als jedes zentralistische, büro-kratische System.
Deswegen muß man die Kräfte der Menschen wecken,die Menschen fordern und nicht unterfordern.Wir wünschen den Gesprächen, die Sie so anspruchs-voll „Bündnis für Arbeit“ nennen, allen Erfolg. Aberdas Vertrauen in die großen kollektiven Einheiten imKartell, die hinreichend innovationsfähig seien, teilenwir nicht. Die, die es eigentlich angeht, haben Sie außenvor gelassen: Der Mittelstand ist nicht vertreten, dieKommunen nicht, die Langzeitarbeitslosen nicht, dieälteren Arbeitnehmer nicht,
die Sozialhilfeempfänger nicht, die Frauen nicht und dieFamilien nicht.
So wie Sie Ihr „Bündnis für Arbeit“ angelegt haben,mit einer Vielzahl von Arbeitsgruppen und Kränzchen,läuft das auf eine endlose Diskussion hinaus. „Ereignis-management“ nennen Sie das – Show statt Substanz. DieMedienwirkung ist wichtig, nicht der Inhalt – Papier istja geduldig. Was wir aber brauchen, ist ein kohärentes,in sich stimmiges Konzept für mehr Beschäftigung. Dasbedeutet mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und beiden Tarifverhandlungen, eine Lohnpolitik, die der Be-schäftigung Vorrang gibt, nicht die gesetzliche Be-schränkung von Überstunden, sondern die Schaffungflexibler Arbeitszeiten, Einführung von Arbeitszeitkon-ten, befristete Einstellung von Arbeitskräften, nicht dieInstallation von milliardenschweren Sofortprogrammen,um Jugendliche ohne Beschäftigung ruhigzustellen,
Dr. Wolfgang Schäuble
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sondern die kritische Überprüfung des Bildungs- undAusbildungssystems.
Das zeigt: Sie setzen nur darauf, Geld auszugeben. Daßman die Menschen in ihrer Verantwortung ansprechenmuß, ist für Rotgrün und für die Linke ein zutiefst frem-der Gedanke. Das ist das Problem.
Es reicht auch nicht aus, Ergebnisse zusammenzu-stricken, die lediglich darauf ausgerichtet sind, Arbeitumzuverteilen, statt mehr Beschäftigung zu schaffen,und – wenn alles nicht hilft – am Schluß die Statistik zumanipulieren.
Vorrang erhält der Zugang zu Beschäftigung. Wennwir von Teilhabegerechtigkeit reden, dann muß Be-schäftigung im Zentrum stehen. Es genügt eben nicht,Menschen lediglich materiell abzusichern, ohne ihnendie Chance zu einer Beschäftigung zu eröffnen. Wennnicht für jeden ein Vollzeitarbeitsplatz zur Verfügungsteht, dann lieber Teilzeitarbeit, Einfacharbeit oder Ge-meinschaftsarbeit. Deshalb haben wir Vorschläge fürKombilohnmodelle, für eine integrierte Reform von So-zialhilfe und Arbeitslosenhilfe sowie für die Schaffungeines Niedriglohnsektors auf den Weg gebracht. Wirarbeiten weiter daran. Wir wollen das Ziel „Arbeit füralle“ nicht aufgeben; das erreichen wir aber nicht mitnoch mehr zentralistischer Bürokratie und nicht miteuropäischen Beschäftigungsprogrammen, sondern mitDeregulierung, Flexibilität und Dezentralisierung.Der Arbeitsminister ist mit seinen Tariffonds ebensogescheitert wie mit der unsinnigen Hektik bei den 630-DM-Verträgen. Daß für die IG Metall bei den Tarifver-handlungen in Baden-Württemberg die Verhinderungergebnisabhängiger Einmalzahlungen – –
– Frau Rönsch, lassen Sie sich doch nicht – –
– Verehrter Herr Kollege Schlauch, ich wollte meineFreundin Hannelore Rönsch gerade bitten, sich dochnicht von Flegeleien ärgern zu lassen.
Dann wollte ich Ihre Aufmerksamkeit für die Tatsa-che erbitten,
daß für die IG Metall bei den jüngsten Tarifverhandlun-gen die Verhinderung ergebnisabhängiger Einkom-menskomponenten fast das wichtigste Ziel war. Ich fin-de, das läßt Böses ahnen. Wir setzen auf Vermögensbil-dung, Investivlohn, vielfältige Formen von Beteiligungund Teilhabe. Wenn Arbeit im Sinne von Teilhabe inder modernen Welt die wichtigste soziale Frage ist – –
– Ich rede von der Frage – die scheint Sie, Herr Kollege,ja nicht mehr zu interessieren, auch von der Bundesre-gierung hört man nichts mehr dazu –, wie man die Ar-beitslosigkeit bekämpfen kann.
Wenn und weil das die wichtigste Frage ist, brauchenwir mehr Differenzierung in der Lohn- und Einkom-menspolitik und nicht weniger. Wir brauchen flexibleÜbergänge und Verzahnung von Transfer und Arbeits-einkommen. Arbeit und Leistung müssen sich für jedenlohnen, weil andernfalls bei noch so guten Soziallei-stungen nur Abhängigkeit und Entmündigung die Folgesind. Dafür arbeiten wir, und bei Ihnen sind nicht einmalSpurenelemente davon erkennbar.
Die Ergebnisse des Schlichtungsverfahrens in derMetallindustrie von Nordwürttemberg/Nordbaden zei-gen im übrigen, wie wenig Ihr Bündnis für Arbeit, HerrBundeskanzler, bewirkt. Stimmt es übrigens, daß Siediesen Schlichter ins Spiel gebracht haben? Mit diesemSchlichterspruch wird das Tarifvertragssystem seinerAufgabe, für mehr Beschäftigung zu sorgen, nicht ge-recht.
Wenn das „Bündnis für Arbeit“ Sinn machen soll,muß man darüber reden, was alle Verantwortlichen tunund lassen können, damit wir mehr Beschäftigung errei-chen. Dieser Schlichterspruch bringt nicht mehr, son-dern weniger Beschäftigung. Das muß in der Debatteüber Beschäftigung gesagt werden.
Offensichtlich ist es doch so, daß in Zeiten der Glo-balisierung mit den hergebrachten Ritualen der Arbeits-kämpfe kaum noch Waffengleichheit gegeben ist. Daswar doch auch das Problem in der Metallindustrie. Des-wegen sollte die Bundesregierung eher das gesetzlicheRahmenwerk für eine stärkere Beschäftigungsorientie-rung der Lohn- und Tarifpolitik überprüfen und zumin-dest im „Bündnis für Arbeit“ zur Vernunft rufen. Aufalle Fälle aber sollte die Bundesregierung nicht nochDr. Wolfgang Schäuble
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ständig zugunsten einer Seite in Arbeitskämpfen inter-venieren
– ja, natürlich –: vom unsinnigen Gerede des Finanzmi-nisters, der die Gewerkschaften zum Schluck aus derPulle förmlich gedrängt hat, über die Eingriffe in abge-schlossene Tarifverträge zur Lohnfortzahlung bis zu derAnkündigung, die Neutralität der Bundesanstalt für Ar-beit in Arbeitskämpfen wieder einschränken zu wollen.Das alles geht in die falsche Richtung, wenn wir mehrBeschäftigung wollen.
Nur mit mehr beschäftigungsorientierter Lohnpolitik,auch mit mehr branchen-, regional- und betriebsspezifi-scher Flexibilität und mit einer Steuer- und Abgabenpo-litik, die durch Sparsamkeit auf der Ausgabenseite fürdauerhafte Entlastung und damit für eine Verstärkungvon Investitionen, Wachstum und Beschäftigung sorgt,und mit mehr Wettbewerb und Innovation werden wirdie Beschäftigungsprobleme lösen.Bildung und Ausbildung sind die wichtigsten Zu-kunftsinvestitionen. In Ihrer Politik ist davon nichts er-kennbar, allenfalls Phrasen.
Die zuständige Ministerin konzentriert ihre Bemühun-gen darauf, den Bundesländern in der Hochschulpolitikzu verbieten, in Organisation und Finanzierung derHochschulen neue Wege zu gehen, als ob die altenTrampelpfade nicht schon wirklich ausgetreten wären.In der beruflichen Bildung halten Sie zwar denKnüppel der Ausbildungsabgabe und Bürokratie derzeitetwas verborgen, aber die Drohung mit diesem Unfugbleibt bestehen. Das 2-Milliarden-DM-Sofortprogrammfür Ausbildungsplätze führt nach Auskunft der Arbeits-ämter überwiegend dazu, daß Geld in Hülle und Füllevorhanden ist, ausbildungswillige und -fähige jungeMenschen in vielen wichtigen Zukunftsberufen abereher Mangelware sind.Es führt kein Weg daran vorbei: Bildung und Ausbil-dung setzen auch die Leistungsbereitschaft der jungenMenschen voraus. Um sie stärker freizulegen, müssenSchulen und Hochschulen wieder differenzierter undweniger anonym ausbilden und erziehen.
Das heißt Ermunterung und Ermutigung statt Demoti-vierung und Frustration. Die junge Generation hat dasübrigens längst begriffen, wie auch das Wahlergebnis inHessen zeigt. Der Lack ist schneller ab, als die meistendachten.
Das ist keine Frage der Mehrheitsverhältnisse imBundesrat, die im übrigen ambivalenter sind, als man-cher Kommentator glaubt. Selbst wenn wir die Mehrheitim Bundesrat hätten – wir haben sie nicht –, würde dieUnion niemals die Blockadepolitik à la Lafontaine be-treiben. Für uns kommt immer das Land vor der Partei.
Das kann ein Saarländer am besten bestätigen. Wir ha-ben trotz unterschiedlicher parteipolitischer Verhältnisseimmer für die Saarland-Hilfe gesorgt. Sie könnten ja garnicht so schreien, wenn wir nicht mit Theo Waigel undHelmut Kohl dafür gesorgt hätten.
Bei uns wird eben nicht bestraft, wer anders wählt,wie das offenbar zum Prinzip Ihrer Kulturpolitik werdensoll, wenn ich nur an die Ankündigungen zu den Bay-reuther Festspielen denke.
Für uns behält der weitere Aufbau im Osten Vor-rang. Das entspricht nationaler Solidarität und gesamt-staatlicher Verantwortung. In Ihrer Politik ist davonnichts zu finden. Ihr Beitrag zur Überwindung der Fol-gen von 40 Jahren Teilung und Sozialismus beschränktsich bisher auf die Zusammenarbeit mit der PDS.Chefsache sollte die Angelegenheit der neuen Bun-desländer werden. Mir schwante gleich nichts Gutes beieinem Regierungschef, dem als niedersächsischemMinisterpräsidenten jede Mark für den Aufbau im Ostenzuviel war. Noch einmal: Die Mehrheit im Bundesrat istnicht Ihr vorrangiges Problem. Im Bundestag haben Siedie Mehrheit, also regieren Sie!
Aber regieren Sie nicht gegen das Volk, das geht schief.Das hat Hessen gezeigt.
Das ist so, ob es Ihnen paßt oder nicht. TrotzigeRechthaberei nützt auch nichts. Sie kriegen kein anderesVolk, auch nicht mit dem Versuch, die doppelte Staats-angehörigkeit zur Regel zu machen und anstatt vonDeutschen nur noch von Inländern zu reden.
Täuschen Sie sich nicht: Auch mit dem Wahlergebnisvom 27. September letzten Jahres ist der Wettbewerbum die bessere Idee und das bessere Argument nicht zuEnde. Wir stehen für Maß und Mitte, für Bewahren undErneuern, für Eigenverantwortung und Solidarität, fürWerte und Toleranz, für Freiheit, Recht und Sicherheit.So leisten wir unseren Beitrag zur Zukunftsgestaltung inder Opposition – als alternative Kritik und Kontrollesowie in der Regierungsverantwortung, wo immer dieWähler uns dazu berufen.
Sie haben derzeit den Regierungsauftrag. Sie wolltennicht alles anders, aber vieles besser machen. Nun istvieles schlechter geworden. Darüber hinaus sind Sie zer-stritten, rat- und hilflos. Der vorgelegte Haushaltsent-Dr. Wolfgang Schäuble
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wurf ist der Ausdruck dessen. Die Entwicklung und Per-spektiven für den Arbeitsmarkt sind Menetekel. Am Ta-ge, als die letzten Arbeitsmarktzahlen verkündet wordensind, hat sich der bundesweite Protest der Arbeitslosen-initiativen gegen Ihre Regierung formiert, Herr Bundes-kanzler. Noch hat es im Fernsehen weniger Aufmerk-samkeit gefunden als zu unseren Zeiten. Das kennen wirschon. Aber ich sage Ihnen vorher: Es wird Monat fürMonat so weitergehen, weil Sie Monat für Monat dieErwartungen enttäuschen. Lassen Sie ab von Ihrer Mi-schung aus Eitelkeit und Substanzlosigkeit!
Backen Sie notfalls kleinere Brötchen, aber lassen Siesie nicht dauernd verbrennen. Vor allem: Kümmern Siesich um das wirklich Wichtige, vor allem um bessereRahmenbedingungen für Wachstum und für mehr Be-schäftigung. Das haben Sie versprochen, daran werdenSie gemessen, und da haben Sie bis jetzt furchtbar ver-sagt.
Ich erteile dem Kol-
legen Peter Struck, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Wir haben von meinemVorredner eine sehr lange Rede gehört.
Allerdings habe ich an keiner Stelle dieser Rede eineAlternative zu unserer Politik gehört.
Wo sind denn Ihre Vorschläge zur Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit, zur Steuergerechtigkeit oder für Perspek-tiven von Jugendlichen?Für eine Rede zum politischen Aschermittwoch sindSie genau eine Woche zu spät gewesen.
Da war ein anderer viel schneller, verehrter Herr Kolle-ge Vorsitzender, und der sitzt Ihnen heute auf der Bun-desratsbank schon im Nacken.Polemisieren und polarisieren, das ist Ihre Art vonPolitik. Wir wollen das Gegenteil, meine sehr verehrtenDamen und Herren.
Wir wollen Menschen und Interessen zusammenführen.Deshalb haben wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeitdas „Bündnis für Arbeit“ geschaffen, und deswegen su-chen wir in Konsensgesprächen nach Lösungen für dieEnergiewende. Wir wollen zu einem neuen Ausgleichkommen, der Gerechtigkeit schafft, Innovationen fördertund alle Menschen am gesellschaftlichen Leben undWohlstand teilhaben läßt. Wir wollen die Menschenwieder motivieren, an der Gestaltung der Zukunft unse-res Landes teilzunehmen.
Wir wollen das Land wieder ins Gleichgewicht bringen:sozial, wirtschaftlich und ökologisch.Die erste rotgrüne Koalition ist knapp vier Monate imAmt. Wir haben in dieser kurzen Zeit eine Menge ge-schafft – mehr als die alte Bundesregierung in vier Jah-ren, meine Damen und Herren.
Ich nenne Ihnen noch einmal die Stichworte; denn werGutes tut, der soll auch darüber reden.
An diesem Punkt, bei der Darstellung unserer Lei-stungen, haben wir allerdings ein Defizit.
Deshalb nenne ich das Gute noch einmal.Erhöhung des Kindergeldes und Senkung des Ein-gangssteuersatzes:
Das führt dazu, meine Damen und Herren, daß ein Ar-beitnehmer, der 4 000 DM im Monat verdient und zweiKinder hat, in diesem Jahr um zirka 1 100 DM entlastetwird. Dabei ist die Ökosteuer schon gegengerechnet.Die Wiederherstellung von Lohnfortzahlung imKrankheitsfall und Kündigungsschutz:
Damit ist wieder sichergestellt, daß Arbeiter im Krank-heitsfall genau wie Manager und Angestellte 100 Pro-zent ihres Lohnes bekommen.Wegfall des Krankenhausnotopfers und Reduzierungder Zuzahlung bei Medikamenten:
Dadurch sparen Patienten im Vergleich zur alten Rege-lung bei jedem Medikament, das ihnen verschrieben wird.Aussetzung der Rentenkürzung: Das hat bereits zum1. Juli 1999 eine höhere Rentenanpassung zur Folge, alses zu Ihren Regierungszeiten geplant war.
Dr. Wolfgang Schäuble
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Das „Bündnis für Arbeit“ steht, und die Energiekon-sensgespräche sind aufgenommen.Das ist schon etwas, meine Damen und Herren. Aberwir haben noch viel Arbeit vor uns, bis das aufgeräumtist, was 16 Jahre lang schiefgelaufen ist.
Der Arbeit dieser Koalition fehlt nach vier Monatennoch die glatte Routine; aber das wird schon werden.Was wir dazu beitragen können, das werden wir tun. DieMenschen bewerten übrigens Regierungsarbeit nicht alsSchönheitswettbewerb. Nur das Ergebnis zählt, und dar-auf können wir schon jetzt stolz sein.
Wir können für unseren ersten Haushalt sagen, daßunsere Überschrift stimmt: versprochen und Wort ge-halten.
Es ist ein Haushalt für mehr Wachstum und Beschäfti-gung, der den Rahmen für neue Arbeitsplätze und fürfinanzpolitische Stabilität schafft. Es ist ein Haushalt,der deutliche Signale setzt: Solidität und Klarheit in denFinanzen, Deckel auf die Neuverschuldung, mehr Geldfür Innovationen und Investitionen. Das ist der roteFaden, der unsere Politik bestimmt.
Wir fangen in diesem Haushalt damit an, ein gutesStück Gleichgewicht zwischen Gegenwart und Zukunft,zwischen Wagnis und Vorsorge, zwischen Ökonomieund Ökologie wiederherzustellen. Wir erhöhen die Inve-stitionen für die Zukunft: für Forschung, Wissenschaftund Entwicklung.Dies ist ein Haushalt des Umlenkens. Er steht im Zu-sammenhang mit der umfangreichsten Steuerreformseit 1949.
Wir bringen sie auf den Weg.
Ihre wichtigsten Ziele sind die Entlastung der Arbeit-nehmer und Familien sowie die Stärkung der mittelstän-dischen Wirtschaft und ökologische Innovationen. Wirbleiben dabei: Nach der Senkung des Eingangssteuersat-zes, der Anhebung des Grundfreibetrages und des Kin-dergeldes zum Jahresbeginn werden wir den zweitenTeil des Steuerentlastungsgesetzes im März dieses Jah-res beschließen.
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, waswir schon immer gesagt haben: Die Familien sind vonCSU, CDU und F.D.P. sträflich vernachlässigt worden.
Es bedarf jetzt einer großen finanziellen Kraftanstren-gung, um diese Fehlentwicklung zu korrigieren. Wirwerden das tun, denn es geht um die Familien und dieKinder in unserer Gesellschaft.Wenn jetzt die Finanzpolitiker der Opposition mitPatentrezepten kommen, dann ist das einfach lächerlich.Es nimmt Ihnen keiner ab, in vier Monaten das Herz fürFamilien entdeckt zu haben. Sie haben 16 Jahre langPolitik an ihnen vorbei gemacht.
Nach der Sommerpause werden wir zur Korrektur derverfassungswidrigen Familienpolitik der Kohl-Regie-rung ein Familienentlastungsgesetz vorlegen.Noch etwas: Daß eine Steuerreform nie den Beifallvon allen Seiten erhält, ist klar. Wir haben aber gezeigt,daß wir zwischen gruppenbezogenem Lobbyismus undwirklichen Benachteiligungen zu unterscheiden wissen.Gerade auch auf Initiative der Koalitionsfraktionen sindBedenken der mittelständischen Wirtschaft aus demWeg geräumt worden. Wir haben bei der Teilwertab-schreibung die Vorstellungen großer Teile des Handelsund des Mittelstandes aufgegriffen. Auch der Verlust-rücktrag wird jetzt an den Interessen des Mittelstandesorientiert. Wir haben in diesen Bereichen Änderungenvorgenommen, denn sie sind wichtig im Hinblick auf dieEntwicklung unserer Wirtschaft, gerade der mittelstän-dischen Wirtschaft. Wir sind lernfähig.
Ihre Steuerpolitik hat in den letzten Jahren zu sehrdas Prinzip der Steuergerechtigkeit verletzt. Wenndie, die wenig verdienen, immer mehr von der Steuerlastzu tragen haben, und die, die es könnten und müßten, dieMöglichkeit haben und nutzen, Steuern zu vermeiden,dann entstehen auch eine Frage der Glaubwürdigkeitund eine große Lücke im Hinblick auf Steuergerechtig-keit.
Das erste Halbjahr 1999 ist von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft geprägt. In dieser Zeit wird überbedeutende Weichenstellungen zu entscheiden sein: dieReform und Neuordnung der Finanzen und der Gemein-schaftspolitik im Rahmen der Agenda 2000, die Stär-kung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und dieBekämpfung der Arbeitslosigkeit, um nur die wichtig-sten Punkte zu nennen. Die Bundesregierung und dieKoalitionsfraktionen verfolgen mit Nachdruck eineKonsolidierung des EU-Haushaltes. Es geht um einegerechtere Lastenverteilung, eine Reform der Ausga-benpolitik und um Haushaltsdisziplin. Ziel der Bundes-regierung ist es aber auch, eine Reduzierung der unver-Dr. Peter Struck
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1502 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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hältnismäßig hohen Nettozahlungen Deutschlands zu er-reichen. Das unterstützen wir.
Die Konsolidierung der EU-Finanzgrundlagen istdringend geboten. Der Sondergipfel der EU im März inBerlin wird ein Erfolg werden. Ein Fehlschlag würde derStabilität und der Stärke des Euro einen erheblichenSchaden zufügen und Europa als Investitionsstandortund Kapitalmarkt belasten.Bei der Ausgabenpolitik geht es vor allem um eineReform der gemeinsamen Agrarpolitik, um die Land-wirtschaft wettbewerbsfähig und WTO-konform zu ma-chen. Es geht uns dabei um die Zukunftsfähigkeit unse-rer Landwirtschaft. Wir handeln europäisch, aber wirwerden bei diesen Verhandlungen die InteressenDeutschlands nachdrücklich vertreten. Wir werden dabeifair gegenüber unseren Partnern bleiben; denn für natio-nalpopulistische Töne, wie sie aus der Union kommen,ist kein Platz.
Das, was Edmund Stoiber vollmundig und HerrSchäuble halbherzig in ihrem europapolitischen Positi-onspapier präsentieren, würde unser Land isolieren; eswürde den Zusammenschluß und die Handlungsfähig-keit der Europäischen Union sabotieren und liefe daraufhinaus, deutschen Interessen ernsthaft zu schaden unddie dringend gebotene Osterweiterung der EU zu hinter-treiben.
Ihre Forderung, eine Nettoentlastung zwischen 7,5und 14 Milliarden DM durchzusetzen, ist angesichts derInteressenlagen bei den anderen Mitgliedstaaten und dervorgeschriebenen Einstimmigkeit bei der Beschlußfas-sung weder verhandelbar noch kompromißfähig. Sie isteinfach absurd.
Es geht Ihnen, die Sie eine solche Politik betreiben,überhaupt nicht um die Sache. Ihnen geht es darum, imVorfeld der Europawahlen populistische Stimmung ge-gen Brüssel zu machen. Aus wahltaktischen Gründensoll antieuropäisches Klima erzeugt werden. Wir werdendas zu verhindern wissen.
Wir werden morgen im Deutschen Bundestag eineEntscheidung zu treffen haben, die sich aus den Ergeb-nissen von Rambouillet ergibt. Ich höre, daß es in derUnion Überlegungen gibt, dem Vorschlag der Bundes-regierung nicht zuzustimmen.
Das wäre bezeichnend und ein schlimmes Zeichen. Siewerden die Verantwortung dafür haben.Nach den schrecklichen Greueln der Vergangenheitim Kosovo sind die Aussichten auf einen Friedensver-trag, die am Ende der Verhandlungen in Rambouillet er-reicht worden sind, ein hoffnungsvolles Zeichen. Wirsetzen darauf, daß die politische und militärische Ent-schlossenheit des Westens die Unterschriften beiderSeiten am 15. März möglich machen wird. Um die Im-plementierung der Vereinbarungen sicherzustellen, kannauf eine von der NATO geführte Friedenstruppe nichtverzichtet werden. Die Bundesregierung hat zu Rechtden unserer Verantwortung angemessenen Truppenteilin Aussicht gestellt. Wir werden morgen über diesenAntrag zu entscheiden haben.Wir wissen alle, daß dieser Einsatz der bisher gefähr-dungsträchtigste für unsere Soldaten sein wird. Wirschicken sie nicht leichtfertig, sondern um weiteresBlutvergießen und weitere Massaker zu verhindern. DerBalkan darf nicht zum Sprengsatz für Europa werden.
Ich bitte das Haus darum, dem Antrag eine breite Zu-stimmung zu geben, damit sich die Bundeswehr und dieSoldaten der vollen politischen Unterstützung sichersein können.
Wie in der Europapolitik gibt die CSU auch in derEinbürgerungsdebatte den Ton an, mit viel Blech undohne jedes Piano. Dort sitzen die Strategen der gesell-schaftlichen Polarisierung. Verschämt schauen mancheChristdemokraten wie Herr Rühe, Frau Süssmuth oderHerr Blüm weg. Der CDU-Vorsitzende muß auch hiermitspielen; dirigieren darf er schon lange nicht mehr.
Die Union habe mit ihrer Unterschriftenaktion dem Volkaufs Maul geschaut, haben Sie beim politischenAschermittwoch in Passau behauptet. Was sie wirklichgetan hat, haben Vertreter der beiden christlichen Kir-chen beim sozialpolitischen Aschermittwoch in Essenauf den Punkt gebracht: Mit dieser Aktion ist unser Volkemotionalisiert worden. Sie haben Ängste geschürt. Siehaben einen Ungeist aus der Flasche gelassen und keineAhnung, wie Sie ihn wieder einfangen können.
Wir wissen allerdings: Viele, die unterschrieben ha-ben, haben nicht das gewollt, was Sie daraus gemachthaben. Was von Ihrer Aktion zu halten ist, hat der hessi-sche CDU-Politiker Michel Friedman, Mitglied desZentralrates der Juden in Deutschland, auf den Punktgebracht. Er sagte: „Es ist doch der Gipfel der Heuche-lei, wenn die CDU behauptet, diese Unterschriftenaktionim Interesse der Ausländer durchzuführen.“
Dr. Peter Struck
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1503
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Es wäre kaum auszudenken, was passieren würde,wenn zwei Wellen – Ihre Unterschriftenaktion und dieGewalt der PKK-Anhänger – kumulieren würden: einDammbruch an Ausländerfeindlichkeit zum Schaden derübergroßen Mehrheit ausländischer Mitbürger, die hierin Frieden leben und arbeiten.
Die Union hat in der Einbürgerungsdebatte die Gesell-schaft emotionalisiert und aus dem Gleichgewicht ge-bracht. Sie hat unwidersprochen zugelassen, daß notori-sche, rechtsextreme Ausländerfeinde von NPD undDVU mit ihr paktieren.
Wir wollen das Thema Integration wieder zu einemThema der Mitte der Gesellschaft machen; deshalb set-zen wir auch in diesem Haus auf einen Pakt mit den Be-sonnenen. Draußen im Lande, in den gesellschaftlichenGruppen, stehen die Gewerkschaften und Kirchen anunserer Seite. Ich schließe mich dem an, was der Präsesder Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland,Manfred Kock, dazu gesagt hat: In unserem eigenen In-teresse dürfen wir es nicht zulassen, daß ein erheblicherTeil unserer Bevölkerung auf Dauer von gleichberech-tigter politischer Teilhabe ausgeschlossen wird.
Eine moderne, weltoffene Gesellschaft braucht auch einmodernes Staatsbürgerschaftsrecht und keines aus denZeiten von Kaiser Wilhelm.
Verbal sprechen auch Sie – sogar Herr Stoiber – vonIntegration. Aber was haben Sie denn in den letzten 16Jahren getan? Die gespaltenen Gesellschaften, die in un-seren Städten entstanden sind, sind doch die Folgen Ih-rer Versäumnisse. Wer die Hand zum Mittun nichtreicht, der darf sich nicht wundern, wenn sich die ande-ren in ihre Gettos bis hin zur realen Gefahr eines Fun-damentalismus zurückziehen.
Wer ausländische Jugendliche wie das fünfte Rad amWagen behandelt, der produziert Gewalt und Aggressio-nen, nicht aber Verständnis und Mitverantwortung. Die-sen Menschen wollen und müssen wir Teilhabe anbie-ten. Das ist unsere Pflicht, der wir nachkommen.
Aus der bisherigen Energiepolitik wollen wir nichteinfach irgendwo aussteigen; vielmehr wollen wir um-steigen – weg vom Risikoträger Atom, hin zu sicherenund umweltverträglichen Energieträgern, hin zu intelli-genten Spartechniken, die den Energieverbrauch dra-stisch senken. Darin besteht das neue Gleichgewichtzwischen Ökonomie und Ökologie, das unser Landbraucht.
Wir wollen endlich den Einstieg in eine sparsame, ef-fiziente und ökologisch sinnvolle Energieversorgung.Dazu gehört zuerst das Ende einer Energieversorgung,die große Mengen hochgiftigen Plutoniums produziert,eines Stoffes, der nach 24 000 Jahren gerade einmal dieHälfte seiner tödlichen Strahlung verloren hat und erstnach weit über 200 000 Jahren als ungefährlich gilt.Wir werden im nächsten Jahr 8 000 Tonnen hochra-dioaktiven Müll haben. Er bleibt um ein vielfaches län-ger hochgefährlich als der Zeitraum, den wir geschicht-lich überhaupt erfassen können. Wir kippen diesen Müllunseren Nachkommen nicht vor die Tür und verurteilensie nicht, die Giftbombe zu bewachen; vielmehr nehmenwir jetzt unsere Verantwortung wahr. Sie haben das im-mer verdrängt.
Ebenso geht es auch nicht, daß die Bundesländer imSüden, die Atomstrom produzieren und lauthals für ihnwerben, die Beseitigung des Mülls dem Norden überlas-sen. Das Sankt-Florians-Prinzip der Bayern werden wirnicht akzeptieren, sehr verehrter Herr Ministerpräsident.
Wir wollen die Nutzung der Kernenergie inDeutschland Stück für Stück beenden. Jahreszahlen sinddabei weniger wichtig als die Tatsache, daß das Signalfür den konsequenten Ausstieg und den Einstieg in eineneue, sichere und verantwortbare Energieversorgung ge-setzt wurde.
Unser Signal ist: Das Ob des Ausstiegs ist entscheidend,er findet statt; das Wie und Wann werden wir sorgsambesprechen und in Ruhe klären. Das ist der richtige Wegzur Energiewende.
Ich sprach davon, daß das Gleichgewicht in unseremLand wiederhergestellt werden muß. Das gilt auch fürdie Förderung von Innovation, Forschung und Wissen-schaft – mit einem Wort: für die Förderung von Investi-tionen in die Zukunft. Auch hier haben Sie die Aufgabensträflich vernachlässigt und am falschen Ende gespart.Wir korrigieren das und legen zu. Schon jetzt, in diesemHaushalt, stellen wir die Weichen neu. Wir reden nichtbloß über Zukunft, sondern wir stocken die Mittel fürZukunftsinvestitionen im Haushalt um über 1 MilliardeDM auf.
Dr. Peter Struck
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1504 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Von den Haushalts-Einzelplänen für Forschung undBildung und für Wirtschaft und Technologie kann aucheine Verbindungslinie zum Zukunftsthema Energie ge-zogen werden: Wir schaffen mit dem 100 000-Dächer-Programm für Solarenergie neue Ansätze für eine siche-re und umweltfreundliche Energieversorgung. Das stärktauch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unter-nehmen in diesem Zukunftsmarkt.
Unsere Programme zur Stärkung der Innovationsfä-higkeit vor allem der kleinen und mittleren Unterneh-men sind zukunftsorientiert, denn nur durch eine konse-quente Modernisierung kann sich Deutschland im welt-weiten Wettbewerb behaupten. Was der Staat dabei tunkann, wird er tun. Dafür werden wir sorgen.Wir setzen auf eine Politik des Zusammenführens,des Ausgleichs und der Integration. Wir wollen Blocka-den auflösen, Menschen aus verschiedenen Interessen-gruppen an einen Tisch bringen und gemeinsam nachLösungen suchen. Wir wollen das Land wieder insGleichgewicht bringen. Dieses Vorhaben hat Bundes-kanzler Gerhard Schröder mit dem „Bündnis für Arbeit,Ausbildung und Beschäftigung“ angestoßen.
Bei der Bewertung dieses „Bündnisses für Arbeit“ kannich die Bemerkung meines Vorredners gut verstehen,mit der er dieses herabsetzen und herunterreden möchte;denn es war doch Ihr schwerster Fehler in der vergange-nen Legislaturperiode, daß Sie 1996 diesen Versuch ha-ben platzen lassen, weil Sie sich einseitig auf die Seiteder Arbeitgeber gestellt haben.
Wer wie der sächsische Ministerpräsident die Suchenach Konsens als Nonsens abtut, bekommt die Realitä-ten rings um sich herum schlichtweg nicht mehr mit. EinBlick zu den Nachbarn, zu den Niederlanden, nach Ir-land oder Schweden, zeigt: Die positive Beschäfti-gungsbilanz dort ist maßgeblich das Ergebnis von Drei-ecksgesprächen zwischen Regierung, Gewerkschaftenund Vertretern der Arbeitgeber. Genau dieses wollenauch wir in Deutschland tun.
Die Alternative zu Konsens und Reform sind Stagnationund Lethargie. Davon hatten wir in den letzten 16 Jahrennun wahrlich mehr als genug.
Die Stagnation muß überwunden werden. Ich begrüßees ausdrücklich, daß sich Arbeitgeberpräsident DieterHundt vor der morgigen zweiten Gesprächsrunde enga-giert zu der Bündnisrunde bekannt hat. Das ist eine er-freuliche Wendung, die im Herbst jedenfalls so nichtvorauszusehen war. Ich begrüße es genauso, daß dieGewerkschaften zum Bündnis stehen. Deshalb bin ichzuversichtlich, daß das Bündnis ein Erfolg wird und daßVernunft und Verantwortung vor Egoismus gehen. Dannmögen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren,gefälligst in Ihrer Motzecke bleiben.
Schon nach den ersten Wochen hat sich das Zwei-Milliarden-Sofortprogramm als eine echte Chance fürarbeitslose Jugendliche gezeigt.
Bereits jetzt haben die Arbeitsämter 64 000 Jugendli-chen konkrete Angebote gemacht. Dieses Tempo, mitdem hier gearbeitet wird, unterstreicht, wozu die Ar-beitsverwaltung in der Lage ist. Voraussetzung ist aller-dings, daß die Politik ihr den Raum zu einer aktiven Be-schäftigungsförderung läßt, statt ihr nur die passiveVerwaltung der Arbeitslosigkeit zu übertragen.
Wer dieses Handeln, so wie mein Vorredner, als Ruhig-stellen bezeichnet,
versündigt sich an allen jungen Männern und Frauen, diedurch dieses Programm eine Chance bekommen. Siesollten sich dafür schämen!
Mehr Arbeit schaffen, das Krebsübel Arbeitslosigkeitbekämpfen – das ist nicht nur der Lackmustest für dieRegierung, die mit diesem Ziel angetreten ist, sonderndas ist auch ein Zeichen für die Modernisierung vonWirtschaft und Gesellschaft. Jeder in unserer Gesell-schaft kann seinen Teil dazu beitragen. Wir werden da-für die Rahmenbedingungen schaffen.Wir werden Reformen erarbeiten, die fair gegenüberallen sind, die die Leistungen erbringen müssen, und diefair gegenüber denen sind, die auf Leistungen angewie-sen sind. Das „Bündnis für Arbeit“ ist das Symbol einerauf Dialog und Konsens ausgerichteten Neuorientierungder Politik. Es ist aber nicht das einzige Beispiel.Wir werden die Betroffenen in allen Bereichen besseran den Entscheidungsfindungen beteiligen. Wir, SPDund Bündnis 90/Die Grünen, haben vereinbart, uns auchauf Bundesebene für Volksinitiativen, Volksbegehrenund Volksentscheide stark zu machen. Wir nehmen dieMenschen ernst; wir wollen mehr Mitbestimmung derBürger am Arbeitsplatz, im Umweltrecht und im Daten-schutz. Wir stehen für eine Politik, die die Menschenmitnimmt und die nicht über ihre Köpfe hinweg ent-scheidet.
Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen undKollegen, wir werden dem Land ein neues Gleichge-Dr. Peter Struck
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wicht geben, das wir mit dem „Bündnis für Arbeit“, mitder Erneuerung des Sozialstaates, mit einer Offensivefür Innovationen und mit einer ökologischen Moderni-sierung erreichen werden. Wir werden diesen Weg un-beirrt fortsetzen.
Für die F.D.P.-
Fraktion hat der Kollege Wolfgang Gerhardt das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Wer die Presse in der letz-ten Zeit aufmerksam verfolgt hat – also nicht nur wäh-rend der ersten hundert Tage der Regierung –, derbraucht nicht gläubiges Mitglied in einer der Oppositi-onsparteien zu sein, um klar sagen zu können: DerStart war miserabel. Die Regierung hat nie deutlichmachen können, was sie eigentlich will; sie hat bishernur deutlich gemacht, was sie nicht will. Das geht indie falsche Richtung los. Das gibt mehr Arbeitslose,das kostet Deutschland Zeit und die junge Generationdie Zukunft.
Die Bundesregierung hat bisher gesagt, Herr KollegeStruck, sie wolle keine Kürzungen im Sozialbereich, siewolle keine Einschnitte im Gesundheitswesen, sie wollekeine Flexibilisierung am Arbeitsmarkt und sie wollekeine Rentenreform, wie von der alten Koalition be-schlossen. Aber allmählich dämmert es Herrn Riester,daß das kein Konzept für die Zukunft sein kann. Siewerden eine Flexibilisierung am Arbeitsmarkt brauchen,Sie werden eine Rentenreform machen müssen, Siemüssen Wahlmöglichkeiten im Gesundheitswesenschaffen, Sie müssen deregulieren und flexibilisieren,und Sie müssen eine Steuerreform mit deutlichen Steu-ersenkungen vorlegen, weil Sie sonst keine ökonomi-sche Stabilität in Deutschland schaffen.
Ob es noch einige Tage dauert, bis Sie sich zu diesenErkenntnissen durchringen, mag dahingestellt bleiben.Die Unglaubwürdigkeit Ihrer kompletten Wahlaussagesteht Ihnen schon heute auf die Stirn geschrieben, weilSie nichts von dem halten können, was Sie den Men-schen versprochen haben. Sie haben die „Neue Mitte“gröblich enttäuscht. Ihre Steuerreform richtet sich genauauf die als Zielscheibe, die Sie im Wahlkampf als IhreZielgruppe ausgemacht haben.
Das ist nicht nur ein Thema des Neigungsökonomenaus dem Saarland, Herr Bundeskanzler, sondern das istauch Ihr Thema. Sie haben der „Neuen Mitte“ im Wahl-kampf Jost Stollmann vorgezeigt. Er hat dann, als er dieKoalitionsvereinbarungen gesehen hat, einen Rückziehergemacht. Nun betreiben Sie eine Politik, die glatterWählerbetrug an der von Ihnen ausgerufenen „NeuenMitte“ ist. Das ist der Sachverhalt in der BundesrepublikDeutschland.
Für Sie gelten die schlichten Grundrechenarten wiefür mich auch. Wenn Sie die Rente auf dem jetzigenNiveau halten wollen, müssen Sie entweder Steuernoder Beiträge erhöhen. Dies hat Herrn Riester in denletzten Tagen gedämmert. Aber den Wahlkampf habenSie mit den übelsten Vorwürfen, auch gegen meine Par-tei, die F.D.P., geführt: Wir seien drauf und dran, denRentnern ans Portemonnaie zu gehen. Wir waren draufund dran, eine neue Fairneß zwischen den Generationenin Deutschland herzustellen, die Sie mutwillig zerstörthaben.
Sie haben im Wahlkampf angekündigt, daß es im Ge-sundheitswesen keine Zuzahlungen mehr geben solle.Nachdem Sie die Regierungsverantwortung übernom-men hatten, haben Sie festgestellt, daß Sie diese Wahl-kampfzusage nicht halten können. Dann haben Sie eineminimale Absenkung der Beiträge, je nach Packungs-größe um 1, 2 oder 3 DM, vorgenommen und dieWahlmöglichkeiten in den Krankenversicherungssyste-men beseitigt. Wenn Sie den Kostensteigerungen so be-gegnen wollen, ist das ungefähr so, als wenn Sie dreiKanonenkugeln in einen Kochtopf legen, den Deckeldraufhalten und warten, bis es knallt. Die Kostensteige-rungen im Gesundheitssystem kommen, entweder überweitere Mehrwertsteuererhöhungen, Zuzahlungen, oderSie müssen die Beiträge erhöhen.
Sie mogeln sich jetzt vielleicht noch durch einigeLandtagswahlen. Aber für die zweite Hälfte dieses Jah-res sage ich voraus, daß Sie vor deutlichen Beitrags-oder Steuererhöhungen stehen und dies sagen müssen,weil zwei mal zwei in Deutschland vier bleibt, auchwenn Schröder regiert. Das müssen wir ganz deutlichmachen.
Ich muß jetzt, bevor ich mich äußere, erst einmal fra-gen: Gibt es einen neuen Stand bei den 630-DM-Verträgen seit gestern?
Ich muß ja neue Mitarbeiter beschäftigen, damit alleWasserstandsmeldungen entgegengenommen werdenkönnen!
Wenn es noch der Stand von gestern ist, dann möchteich Sie auffordern, mir, wenn Sie nachher reden, zu er-klären, was es sozialpolitisch für einen Sinn macht, dieEhefrau eines gutverdienenden Ehemannes nicht zurZahlungspflicht zu veranlassen, wohl aber die alleiner-Dr. Peter Struck
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ziehende Mutter, die einen Job hat und sich etwas dazu-verdient.
Wenn das sozialpolitisch für mich überzeugend begrün-det werden kann, dann spende ich Ihnen einen namhaf-ten Betrag.
Das wird niemand können.Nirgendwo zeigt sich besser als an diesem Beispiel,daß die Sozialpolitik der SPD erstarrt, reguliert, kollek-tiv, einheitlich ist. Sie haben keine andere sozialpoli-tische Antwort in Deutschland als große Systeme: kol-lektiv abbuchen, kollektiv zuteilen. Das aber ist nicht dieSozialpolitik der Zukunft. Dies wird an diesem kleinenBeispiel, den 630-DM-Verträgen, auf die Hunderttau-sende von Menschen angewiesen sind, ganz deutlich.Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, vorher nicht Mi-nisterpräsident gewesen wären, wenn Sie keine politi-sche Erfahrung gehabt hätten, wenn Sie nicht wie auchder Finanzminister die Haushalte gekannt hätten, dannkönnte man noch sagen: Na ja, der Mann muß sich indiesem Amt erst einmal informieren. Sie aber wußten,was 630-DM-Verträge sind, und kannten die Situationbei der Rente. Sie kannten die Finanzierungsproblemeim deutschen Gesundheitswesen. Sie kannten denAttentismus in der Wirtschaft und wußten, daß eineSteuerreform notwendig ist. Sie sind doch nicht in diesesAmt gewählt worden, um darin erst ausgebildet zu wer-den. Sie mußten vorher wissen, um was es in der Bun-desrepublik Deutschland geht.
Deshalb können Sie nicht von einem Tag auf den an-deren die 630-DM-Verträge abzuhandeln versuchen unddann immer neue Versionen in die Welt setzen. Es gibteinige Millionen Menschen, die auf diese Einkommendringend angewiesen sind. Wir sind ihre Partner. Siesind ihre Gegner; Sie beeinträchtigen ihre Chancen.
Herr Kollege Struck, es kann doch niemand mehr be-haupten, daß die Ökosteuer irgend etwas mit Ökologiezu tun habe. Sie haben vorhin gesagt, Sie machten diegrößte Steuerreform seit 1945. Sie betreiben das größteAbkassieren der Bürger Deutschlands seit 1945.
Ich sage Ihnen, wo Sie abkassieren. Sie kassierenauch bei denen ab, die Sie im Wahlkampf als IhreSchützlinge ausgegeben haben: Rentner und Arbeitslosesind die Leidtragenden der Ökosteuer. Sie bezahlen dies.Sie haben nur die vage Zusage, sie würden im Jahr 2002steuerlich um 15 Milliarden DM entlastet, müssen abervorher deutlich mehr als 15 Milliarden DM an den Fi-nanzminister der Bundesrepublik Deutschland zahlen.Die Entlastungszusage von 15 Milliarden DM durch dieSteuerreform ist ein Wählerbetrug. Das ist eine Politik,die weder etwas mit sozial noch mit ökologisch, nochmit gerecht, noch mit solidarisch, noch mit menschlichzu tun hat. Das ist die Politik, von der die deutsche Sozi-aldemokratie als konservativste Truppe in Europaglaubt, daß sie damit die Bundesrepublik Deutschlandbeglücken wird. Sie beglückt unser Land nicht, sie wirftes um Jahre zurück. Das zeigen Ihnen auch die öffent-lichen Reaktionen.
Nehmen Sie nur die Innenpolitik, Herr KollegeStruck.
Was habe ich dazu noch vor einigen Wochen vonIhnen gehört? Wir brauchen die Opposition nicht, habenSie gesagt, wir haben allein die Mehrheit. Ich werfeIhnen nicht vor, daß Sie nun zu anderen Erkenntnissenkommen mußten. Freiwillig aber ist dies nicht gesche-hen.Herr Schlauch, da ich Sie sitzen sehe, sage ich Ihnen:Klären Sie einmal in Ihrer Bundestagsfraktion ab, daß,wenn die Sozialdemokratische Partei auf unser Op-tionsmodell zugeht, die Koalition in der Abstimmungzusammenbleibt. Sie werden nicht umhinkommen, vonIhrem Modell der Staatsangehörigkeit Abschied zunehmen. Wenn Sie wie wir anfangen, an die Kinder zudenken und die doppelte Staatsangehörigkeit nicht alsRegelfall sehen, führt kein Weg an der Gesetzesinitiati-ve des Landes Rheinland-Pfalz und an dem Gesetzes-vorschlag der F.D.P.-Bundestagsfraktion vorbei,
und zwar aus folgendem Grund: Es kommt nicht nurdarauf an, zum Staatsangehörigkeitsrecht einen ver-nünftigen Vorschlag zu machen, sondern auch darauf,daß es gesellschaftlich verankert wird, daß es also dieGesellschaft akzeptiert. Das ist es, was Sie sträflichstvernachlässigt haben.
Uns hilft doch die hehre Absicht nichts, wenn Sie einneues Staatsangehörigkeitsrecht vorlegen, das in Ihreneigenen Reihen umstritten ist, auf Grund dessen Ihnendie eigenen Wähler davonlaufen und das von der Gesell-schaft nicht akzeptiert wird. Das nutzt weder Ausländernnoch der deutschen Bevölkerung. Deshalb müssen wiruns jetzt entscheiden. Vor allem Sie müssen sich ent-scheiden. Gehen Sie von Ihren Vorstellungen weg inRichtung einer Modifizierung! Es entscheidet nicht dieHöhe des Wahlergebnisses, verehrte Kolleginnen undKollegen, es entscheidet die Qualität des Vorschlags.Und wir haben den qualitativ besten Vorschlag dazugemacht.
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In der gleichen Zeit hat der Bundesfinanzminister, derja glaubt, die Weisheit in dieser Welt gepachtet zu ha-ben, seinen Kollegen unendlich lange Volkshochschul-vorträge gehalten, die sie nahezu ermüdet haben und dieauf dem Petersberg dazu geführt haben, daß der ameri-kanische Finanzminister endlich einmal gefragt hat:Glaubt ihr denn, am deutschen Wesen des sozialdemo-kratischen Finanzministers könnte die Welt genesen?Die glatte Bauchlandung in seiner Zielzone, das Her-ummäkeln an der Unabhängigkeit der Bundesbank unddas Herummäkeln an der Europäischen Zentralbank, dasbringt doch unsere Nachbarländer geradezu in Verwir-rung. Die Europapolitik beinhaltet doch derzeit: Giveme my money back, keine schnelle Osterweiterung,Wechselkurszielzonen, ein bißchen Herumkritisieren ander EZB – das ist eine ganz neue deutsche Art – und an-sonsten die Erwartung, daß wir von allen profitieren unddaß das alles gut läuft.Es gab noch keine deutsche Bundesregierung, dieeine so wenig ambitionierte Europapolitik gemacht hatwie die unter Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Ich will Ihnen das an einem Punkt, der für meinePartei wichtig ist, ganz emotional vorhalten.
Ich weiß, daß Sie, Herr Bundeskanzler, HerrSchlauch, Herr Fischer und übrigens auch Herr Lafon-taine, mit der deutschen Wiedervereinigung Problemehatten. Man kann Ihnen Ihre entsprechenden Aussagenvorhalten, die damals von Ihnen zitierfähig vorgebrachtwurden. Aber daß ausgerechnet Sie als Bundeskanzlerund als Bundesaußenminister die Länder vertrösten, diedie Wiedervereinigung Deutschlands befördert haben,dafür sollten Sie sich schämen. Das halten wir für uner-träglich.
Sie vernachlässigen mit Ihrer Europapolitik ein Kon-stituens deutscher Politik, das genau zu den Grundsäulender Bundesrepublik Deutschland geführt hat, die uns ausder größten Katastrophe der deutschen Geschichte her-ausgeführt haben. Vergessen Sie jetzt meine kritischenEinwände zu den 630-DM-Verträgen, zu Ihren dilettan-tischen Versuchen, die Rente doch noch zu reformieren,und zu Ihren Versuchen – die Sie wahrscheinlich imHerbst machen werden – zurückgenommene Reformendoch wieder einigermaßen nach vorne zu bringen. Dasmag unseren innenpolitischen Streitigkeiten unterliegen.Aber die Unverläßlichkeit, die Sprunghaftigkeit und dieunhistorische Dimension Ihrer Europapolitik sind es, dieunsere Nachbarn bestürzen und mich besorgt machen.Ein Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,hier auch vertreten durch den Sprecher der SPD-Fraktion, mag – mit kleiner innenpolitischer Münze –mit uns einen Schlagabtausch über das führen, was wirfrüher gemacht oder nicht gemacht haben und was Siejetzt machen wollen, aber noch nicht gemacht haben.Aber im Kernpunkt der deutschen Außen-, Sicherheits-und Europapolitik zieht die Opposition nicht nur dasFlorett. Für den Fall, daß Sie Ihre Politik so fortsetzen,indem Sie keine Ambitionen auf die Osterweiterung ha-ben, nur mit der nationalen Karte – das heißt mit derForderung nach Rückgabe von zuviel gezahltem Geldund dem Vorwurf an Herrn Stoiber, er ziehe die natio-nale Karte, obwohl Sie sie dauernd ziehen – arbeitenund unseren Nachbarn sagen, man wolle aus der Kern-energie aussteigen, völkerrechtliche Verträge bzw.Euratom interessierten uns einen Dreck, Entschädi-gungszahlungen würden nicht geleistet, aber ansonstenwolle man alles so haben, daß es deutschen Interessendiene, sage ich Ihnen voraus, daß Sie am Ende mit lee-ren Händen dastehen werden.Es ist nicht nur eine nationale Frage, ob Sie mit lee-ren Händen dastehen werden. Sie werden am Ende derRatspräsidentschaft internationales Vertrauen zerstörthaben, und das kann uns in der BundesrepublikDeutschland nicht gleichgültig sein.
Die Bildungsministerin – das haben Sie im Wahl-kampf doch auch angekündigt – hat der jungen Genera-tion erklärt: Wir sind eure Vertreter; wir sind für einVerbot von Studiengebühren; wir verdoppeln den Bil-dungsetat. Es war gestern schon Gegenstand der Aus-sprache, daß die Sozialdemokraten mit den Grundre-chenarten ihre Schwierigkeiten haben. Auch wenn Sie esnoch so sehr umrechnen: 1 Milliarde DM stellt in die-sem Jahr keine Verdoppelung dar; wenn Sie bei denSteigerungsraten bleiben, ist das auch in vier Jahren kei-ne Verdoppelung.Mich interessiert nicht nur das, mich interessiert dieGlaubwürdigkeit Ihrer Aussage – Sie waren Minister-präsident in Niedersachsen –, für ein Verbot von Studi-engebühren eintreten zu wollen. In Ihrem Land ist eineArt von Studiengebühren eingeführt worden; ob man sie„Verwaltungskosten“ nennen kann, mag dahingestelltbleiben. Der Gesetzentwurf zum Verbot von Studienge-bühren, den Sie der jungen Generation versprochen ha-ben – das war aus meiner Sicht völlig falsch –, wirdnicht eingebracht. Ihre Bundesbildungsministerin ringtum ein Verwaltungsabkommen. Das hätten Sie schon inder letzten Legislaturperiode haben können; das war derVorschlag von CDU/CSU und F.D.P. im Vermittlungs-ausschuß.Das zeigt aber die Struktur Ihres Denkens. Sie wollen– so denken Sie – alles flächendeckend, einheitlich undkollektiv in Deutschland regeln.
Dr. Wolfgang Gerhardt
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1508 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Warum überlassen Sie den Hochschulen nicht dieEntscheidung über ihre Finanzierung? Sie könnten sichdoch dann ruhig zurücklehnen, wenn alle so denken wieSie: Dann werden doch die Studenten diese teuren Lehr-anstalten verlassen und zu den kostenfreien der SPD ge-hen. Nur, ich sage Ihnen: Sie haben keine junge Genera-tion vom Schlage der 68er vor sich. Diese Generationlegt Wert auf die Qualität des Angebots; sie ist eher be-reit, Gebühren zu zahlen, wenn sie dafür zeitig zum Ab-schluß geführt wird.
Deshalb ist Ihr Denken so falsch.Da Sie immer nach den Alternativen fragen, nenneich Ihnen sie auch: Vielfalt, Wettbewerb, kürzere Studi-enzeiten, Autonomie der Hochschulen, Grundhaushalt,Eigenmittelwerbung, Drittmittel, eigene Finanzierungs-vorstellungen. Wir sind gegen staatlich regulierte, vomöffentlichen Dienstrecht überwölbte Hochschulen, derenHaushalt von einer zentralen Instanz abgesegnet wurdeund die eine einheitliche und kollektive Hochschulland-schaft darstellen.Sie haben weiterhin gefragt, welche denn unsere Vor-stellungen sind. Ich will sie Ihnen nennen. In bezug aufdas Staatsangehörigkeitsrecht kennen Sie unsere Vor-stellungen. Der Gesetzentwurf liegt vor. Sie werden sichauf ihn zubewegen müssen. Ansonsten haben Sie keineAlternative.Weil der Bundesinnenminister immer darüber redetund das mit dem Satz belegt „Das Boot ist voll“, habenwir einen Gesetzentwurf zur Einwanderungsbegrenzungin der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt. Er ist be-ratungsfähig. Er sieht Mechanismen vor. Ihm könnenSie so zustimmen. Es ist ein guter Entwurf.Sie haben eine Ökosteuer vorgelegt. Wir haben in un-serem Gesetzentwurf ein anderes Steuermodell vorge-legt. Schaffen Sie die Kraftfahrzeugsteuer ab, und legenSie das, was Sie dadurch eingenommen haben, auf dieMineralölsteuer um. Sie können dem Gesetzentwurf zu-stimmen; er hat eine ökologische Lenkungswirkung: Erläßt die Menschen selbst entscheiden, wann sie Autofahren. Durch ihn soll nicht einfach nur abkassiert wer-den.Sie fragen nach weiteren Alternativen. Im Mai, glau-be ich, Herr Bundesfinanzminister, steht eine Steuer-schätzung bevor. Wir sind bereit, den Entwurf einesSteuergesetzes einzubringen, der eine Nettoentlastungfür alle vorsieht, Investitionsimpulse setzt und die Be-schäftigung anregt.
Ich schlage Ihnen vor: Stellen Sie Ihren Gesetzent-wurf so lange zurück, beraten Sie lieber auf der Grund-lage unseres Entwurfs! Wenn für ihn eine Mehrheit ge-funden werden könnte, würde das eine wesentlich besse-re Steuerpolitik für Deutschland bedeuten.
Wir können auf allen Feldern eine Alternative zu IhrerPolitik aufzeigen. Wir sind in der Lage, in den Kernfra-gen deutscher Politik, ob Europapolitik, Außenpolitikoder Sicherheitspolitik, unsere Konturen aufzuzeigen,und sind bereit, das, wo nötig, hier gemeinsam zu be-schließen.In Fragen des Arbeitsmarktes setzen Sie auf kollek-tive Systeme; Sie sind gegen eine Flexibilisierung desArbeitsmarktes, den Sie verriegeln und verrammelnwollen. Wir dagegen können Gesetzentwürfe einbrin-gen, die gerade eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktesvorsehen. Das berühmte „Bündnis für Arbeit“ ist nichtallein deshalb schon eine wichtige Veranstaltung, weiles von Fernsehkameras festgehalten wird, Herr Bundes-kanzler. Das „Bündnis für Arbeit“ hat nur dann einenSinn, wenn diejenigen, die am Tisch sitzen, in ihrem je-weiligen Bereich auch ihre Verantwortung wahrnehmen.
Die IG-Metall hat mit ihrer 6,5-Prozent-Lohn-forderung – nach den entsprechenden Bemerkungen desFinanzministers über das Ende der Bescheidenheit – ihreVerantwortung nicht wahrgenommen, und jeder hier imHaus weiß das. Der Schlichterspruch geht über den Pro-duktivitätsfortschritt der deutschen Volkswirtschaft hin-aus. Dieser Abschluß ist damit ein Abschluß für Ar-beitsplatzbesitzer und gegen Arbeitslose.
Wenn man ein Bündnis für Arbeit will, dann mußman diejenigen, die am Tisch sitzen, in ihren jeweiligenBereichen zur Verantwortung bringen. Da Sie, HerrBundeskanzler, mit am Tisch sitzen, ist es Ihre Aufgabe,den Beteiligten deutlich zu machen, wie Sie die Rah-menbedingungen als verantwortlicher Bundeskanzlersetzen. Die Rahmenbedingungen eines Landes, das sichim weltweiten Wettbewerb befindet, können nicht sein:Ökosteuern, Mehrwertsteuererhöhung, Umschichtungen,kleines Umverteilungsglück. Vielmehr können sie nurlauten: deutliche Steuersenkungen, Beschäftigungsim-pulse, Vertrauen in die Aktivität und Verantwortungsbe-reitschaft der Menschen.
Sie bieten keine vernünftigen Rahmenbedingungen, unddie Tarifvertragsparteien machen Abschlüsse, die derProduktivität nicht gerecht werden, die Arbeitslosigkeiteher erhöhen.Das, was sich in diesem Frühjahr in bezug auf das,worauf Sie Wert legen, vollzieht, zeigt es ja auch: DieArbeitslosenzahlen gehen nicht zurück, sondern steigenan; Attentismus macht sich breit; wir warten zu, wir ha-ben keine Traute. Das alles zeigt doch, daß Sie nicht –wie der Kollege Struck sagt – glänzende Gesetzentwürfevorgelegt haben. Die erhöhte Arbeitslosigkeit ist einge-treten, weil sich in Deutschland niemand mehr im klarendarüber ist, was Sie als Bundesregierung eigentlichwollen.
Das haben Sie mit Ihrem Start erreicht.Dr. Wolfgang Gerhardt
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Herr Bundeskanzler, Sie – und zwar Sie als Person –tragen Verantwortung für die Politik. Sie verantwortendie Koalitionsvereinbarung, Sie verantworten die inter-nationalen Belehrungsvorträge Ihres Finanzministers,Sie verantworten den Elefanten im internationalen Por-zellanladen Trittin, Sie verantworten die kümmerlicheErhöhung des Bildungsetats,
das komplette Scheitern abgegebener Erklärungen.Sie verantworten einen Zug von Politik, den sich eineMehrheit nicht erlauben kann: Es begann damit, daß derFinanzminister leise Forderungen nach Umbesetzungenim Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt-wirtschaftlichen Entwicklung vortrug. Es war doch nichtso, daß man sich Sorgen machte, weil jemand aus Al-tersgründen ausschied.
Vielmehr hat dem Finanzminister dessen Positionnicht gepaßt. Er begann damit, die personelle Zusam-mensetzung langsam zu verändern, weil er sich über dasHerbstgutachten natürlich nicht freuen konnte.Die Gesundheitsministerin veränderte die Zusam-mensetzung des Sachverständigenrats im Gesundheits-wesen – doch nicht, weil jemand die Pensionsgrenze er-reicht hätte, sondern weil ihr das Votum zu der einge-leiteten Politik nicht gefiel. Herr Trittin löste die Reak-torsicherheitskommission auf. Die Kritik, die aus demKanzleramt kam – das sei nicht mit dem Bundeskanzlerabgesprochen gewesen –, mögen sie unter sich ausma-chen. Das ist nicht mein Interesse, ob das mit Ihnen ab-gesprochen war. Mich interessiert die Art und Weise.Und mich interessiert, daß die Koalitionsvereinbarungdazu führt, daß Sie im Zusammenhang mit der Wahl desBundespräsidenten den Grünen, damit sie an Ihrer Seitebleiben, einen Vorschlag zur Besetzung der EU-Kom-mission gegönnt haben.
Eine Mehrheit kann nicht alles, und eine Mehrheitdarf nicht alles. Wer drauf und dran ist – durch Auflö-sung von Gremien –, sachverständige Kritiker mundtotzu machen, der trifft auf unseren entschiedensten Wider-stand im Deutschen Bundestag.
Dieser Vorgang ist bemerkenswert, weil Sie dochimmer auftreten als Verfechter der Vielfalt, der Refor-men, des Fortschritts, der kritischen Stimmen. Sie be-trachten sich doch geradezu als Anwalt einer kritischenÖffentlichkeit. Ihnen hat doch sonst noch nicht einmaldas Prädikat Wissenschaftler gereicht. Nein, es mußteein „kritischer“ Wissenschaftler sein – so, als sei dasnoch etwas besonders Bemerkenswertes. Da, wo Ihnenjetzt Kritiker entgegentreten – die Ihnen beispielsweisesagen, die globale Budgetierung im Gesundheitswesenführe zu nichts –, nehmen Sie sich das nicht zu Herzenund überlegen noch einmal, sondern schaffen die Kriti-ker ab. Da, wo Ihnen der Sachverständigenrat sagt, Siegehen einen völlig falschen Weg – in einer globalisier-ten Welt kann sich Deutschland nicht als Insel betrach-ten und nur auf Nachfrageimpulse setzen –, nehmen Siesich das nicht zu Herzen, sondern verändern dessen per-sonelle Zusammensetzung. Da, wo eine Reaktorsicher-heitskommission – die im übrigen, ob es sich um Kern-energiegegner oder -befürworter handelte, allein auf dieSicherheit der deutschen Kernkraftwerke verpflichtetwar – Ihnen etwas anderes sagt, als Sie meinen, lösenSie diese Kommission auf.Das ist ein Stil, der in Deutschland nicht einreißendarf. Die Opposition hat auch ein Wächteramt für die,die nicht mit Ihrer Politik einverstanden sind, und diesemüssen wir vertreten.
Das ist auch mehr als eine Stilfrage; das ist ein Verlustan Souveränität. Das ist absolut engstirnig, ein ganzkleines Karo.
Aber so habe ich Sie eingeschätzt. Mich überrascht dasnicht. Das ist das Denken, das aus der alten 68er Gene-ration kommt, die meint, sie hätte die Wahrheit gepach-tet, könnte das Bildungssystem mit ihren kollektivenVorstellungen reformieren, könnte Gerechtigkeit in derWelt durch staatliche Verteilungsmaßnahmen herstellen,bräuchte nur genügend große kollektive Solidargemein-schaften und die soziale Sicherheit wäre gegeben. Dasist nicht die Zukunft unseres Landes.Ludwig Erhard hat 1953, als er seine revolutionärenEntscheidungen traf, in bemerkenswerter Weise im„Bulletin“ der Bundesregierung geschrieben, damalsseien ihm viele entgegengetreten, die ihm gesagt hätten,er könne so nicht entscheiden, er könne die Preisbindungnicht aufheben, er könne nicht so schnell in eine freiemarktwirtschaftliche Ordnung führen. Man habe ihmRohstoffbilanzen und Außenhandelsbilanzen vorgelegt,man habe ihm vorgetragen, das ginge alles so nicht.Ludwig Erhard hat dann geschrieben, das, was man ihmvortrage, sei „strukturell sklerotisches Denken“; denndiese Persönlichkeiten – dazu gehört ihr Neigungsöko-nom aus dem Saarland – hätten niemals begriffen, daßMenschen, denen man Entscheidungen überläßt, und vorallem Menschen, denen man mehr vom Ertrag ihrer Lei-stung beläßt, volkswirtschaftlich und sozial für ein Landdurch eigene Anstrengungen mehr zustande bringen alsder Staat mit vorher bei den Menschen abkassiertem undüber seine Kanäle umverteiltem Geld.
Das ist das Denkmodell, das ich Ihnen entgegenstelle.So einfach ist die Alternative.Sie regieren mit der Vorstellung des Umverteilungs-glücks und mit der Vorstellung von Gerechtigkeit, diedurch den Staat und große kollektive Solidargemein-schaften hergestellt werden soll. Wir glauben, daß einDr. Wolfgang Gerhardt
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1510 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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freiheitliches Land wieder wissen muß, wo die Quellenseiner freiheitlichen Verfassung liegen. Da führt keinWeg an eigener Verantwortungs- und Leistungsbe-reitschaft vorbei.Ich meine, man soll auch seine eigene Regierungszeitkritisch und in Verantwortung beleuchten. Daher mußich feststellen: Wir waren zu langsam. Wir hätten zügi-ger entscheiden müssen. Wir hätten schneller den Durch-bruch zu Reformvorhaben schaffen müssen.
Wir waren zu zögerlich. Wir waren manchmal zu ängst-lich. Aber nur couragierte Entscheidungen führen wei-ter. Das ist die Lehre aus langer, gemeinsamer Verant-wortung, die offen ausgesprochen werden muß.Aber diese Lehre ist für Deutschland immer nochbesser gewesen als der komplette Rückmarsch, den Siejetzt antreten, im übrigen als einzige sozialdemokrati-sche Partei in Europa. Es ist ein Jammer, daß ausgerech-net Deutschland die strukturkonservativste Sozialdemo-kratie am Hals hat, die es in Europa gibt.
Dagegen anzugehen ist die Aufgabe der Opposition.Ich sehe das mit großer Gelassenheit. Ich sage Ihnenhier voraus: Sie werden nicht aus eigenen Wünschenund selbst, wenn Sie das Parteiprogramm der SPD än-dern – dazu haben Sie gar keine Kraft, Herr Bundes-kanzler –, die Rückkehr antreten müssen, weil die The-men der Zeit gegen Sie gerichtet sein werden. Der The-mendruck der Zeit läuft in die Richtung meiner Vor-stellungen, die ich hier vorgetragen habe. Wir begegnenuns ein zweites Mal – das sage ich Ihnen voraus –,
und zwar dann, wenn Sie die Rente reformieren und dieGesundheitsreform wieder flexibler gestalten müssen,wenn Sie vor Steuererhöhungen stehen und marode Sy-steme finanzieren müssen, die Sie nicht reformiert ha-ben, wenn Sie im Laufe der EU-Ratspräsidentschaft er-fahren, daß Sie jetzt den Kessel unter Dampf haltenmüssen, und wenn Sie am Ende eine Regierungserklä-rung abgeben müssen, die lautet: „Wir haben einen Irr-weg eingeschlagen. Ich bitte die Mitglieder des Bun-destages, eine neue Regierungserklärung entgegenzu-nehmen. Wir haben uns jetzt zu mutiger Reformpolitikentschlossen. Mit dem Althergebrachten geht das nichtmehr so. Auf zu neuen Ufern!“ – Das werden Sie ma-chen. Sie können das; das wissen wir. Aber bis dahinhaben wir zuviel Zeit verloren. Je schneller Sie es ma-chen, desto besser für Deutschland.Danke.
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grü-
nen, Rezzo Schlauch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Gerhardt, mich überraschen Sie und Ihre F.D.P.nicht. In Rheinland-Pfalz sind Sie für die erleichterteEinbürgerung – 3 000 Stimmen über den Durst in Hes-sen, dann schmeißen Sie sich ohne zu Zögern an dieSeite von Stoibers Sendboten, der auf übelste Weise ge-gen jede Form von Doppelstaatlichkeit polemisiert hatund der Ihnen in Hessen jede Reform versagt. In Bonnschließlich sind Sie für ein starkes Sowohl-Als-auch.Herr Gerhardt, eine Partei, die für alles offen ist, ist fürmich nicht ganz dicht.
Ich kann Ihnen ja Ihre 5,1 Prozent gönnen. Aus meinerErfahrung mit 6,7 Prozent wünsche ich Ihnen viel Spaßin Hessen!
Wir haben in Hessen verloren – das ist richtig –, undzwar an diesem im wahrsten Sinne schwarzen Sonntag.Wir nehmen diesen Warnschuß ernst, wir nehmen ihnnicht auf die leichte Schulter, und wir haben die Bürge-rinnen und Bürger an diesem Punkt verstanden. Wir alsGrüne sollten als allererste davon lernen; wir müsseninsgesamt lernen, unsere Arbeit in Bonn besser zu tun.
Eines werden wir mit Sicherheit nicht: Wir werden nieso langweilig, nie so statisch und nie so rückwärtsge-wandt werden wie die alte Regierung.
Herr Bundeskanzler, Sie haben neulich gesagt, Sieseien der „Kanzler aller Autos“. Wenn Sie der „Kanzleraller Autos“ sind, dann sind wir Grünen der ADAC. Wirwerden mithelfen, den Reformstau aufzulösen.
Meine Damen und Herren, wo gehobelt wird, da fal-len Späne; das wissen wir alle. Das ist allemal besser,als wenn die Regierungswerkstatt nur ab und zu vondem Regierungsvorsteher besucht wird und dann ge-schaut wird, ob alle noch gut schlafen, der Staub desStillstands aber liegenbleibt.
Das war das System von Schwarzgelb. Die RegierungFischer und Schröder geht die Probleme an.
Wir werden – und wir haben es schon – den Staub desStillstands wegfegen und werden die Regierungswerk-statt wieder in Fahrt bringen.
Dr. Wolfgang Gerhardt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1511
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Genießen Sie also Ihren hessischen Triumph, solangeSie noch können. Denn eins ist sicher: Diese Regierungist nicht am Ende; wir fangen erst an!
Herr Schäuble, Sie lachen. Bündnis 90/Die Grünenwar nicht der einzige Verlierer der Hessenwahl. DieWahl hatte noch einen Verlierer, und das sind Sie, HerrSchäuble. Am Wahlabend frohlockten Sie noch, Sie sei-en noch nie so stark gewesen. Das sei Ihnen an diesemAbend gegönnt! Schaut man aber genauer hin, so habennicht Sie, sondern hat Stoibers Sendbote die Wahl inHessen gewonnen.
Die Wahl hatte ein eindeutiges Ergebnis, das wir heutebesichtigen können: Künftig gibt es bei Ihnen mehrStoiber und weniger Schäuble.
Herr Schäuble, wer mit Herrn Stoiber zusammen in derersten Reihe sitzt, der sitzt – das kann Ihnen Herr Wai-gel gut erzählen – sehr bald in der zweiten Reihe.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Sie, Herr Schäuble,in der Rolle des dialogoffenen Konservativen glänzenkonnten. Ihre Unterschriftenkampagne hat die Bevöl-kerung gespalten, und der Riß geht mitten durch Ihre ei-genen Reihen.
Herr Schäuble weiß aus Baden-Württemberg, daß dortdie Unterschriftenlisten in den Kreisgeschäftsstellen derCDU vergammeln. Sie haben eine Lawine losgetreten,die donnernd zwischen Ihnen und der „Neuen Mitte“niedergegangen ist.
Sie haben sich rechts davon gestellt, und dort sitzen Siefest.
Sie werden sie auch nicht zurückgewinnen, wenn Siedie Kurdenkrawalle instrumentalisieren, wie Sie es inder letzten Woche getan haben. Sie werden sie insbe-sondere nicht vor dem scheinheiligen Hintergrund zu-rückgewinnen, daß Ihre Regierung mit der PKK paktierthat und sich Abgeordnete von Ihnen mit Herrn Öcalanhaben ablichten lassen.
– Herr Lummer hat sich mit Herrn Öcalan getroffen undmit ihm paktiert.Wir Grünen erteilen jeglicher Form von Gewalt eineklare Absage, und unser Rechtsstaat hat alle Mittel, umder Gewalt Herr zu werden. Diese werden wir anwenden.Nur ein souveräner Staat ist ein starker Staat und nichtderjenige, der immer nach schärferen Gesetzen ruft.
Wir werden die Kluft, die in den letzten Jahren zwi-schen Staat und Gesellschaft entstanden ist, wiederschließen. Wir setzen auf Gesellschaftspolitik statt aufpuren Machterhalt und pure Machtpolitik.
Gesellschaftliche Diskussionen haben wieder Platz indiesem Parlament, und das zeigt auch die Diskussionüber die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, dieSie 16 Jahre lang verschlafen haben.
Ein Staat, der große Teile seiner Bevölkerung von derPartizipation ausschließt, hat sich ein Problem geschaf-fen. Meine Damen und Herren, Sie hatten bisher vierJahre lang Gelegenheit, beispielsweise mit unseremKollegen Herrn Özdemir zu sprechen und ihn zu erle-ben. Ich kann nur sagen: Die Menschen, die hier gebo-ren sind und dauerhaft hier leben, sind doch ein Gewinnfür diese Gesellschaft und dieses Parlament. Wir solltensie in diesem Land willkommen heißen und ihre Einbür-gerung erleichtern, statt sie wegzudrücken. Vielleichtverdrängen Sie das aber nur deshalb, weil es mehr Men-schen wie Herrn Özdemir gibt
und Sie vor solchen Menschen möglicherweise Angsthaben.
Dabei ist doch die doppelte Staatsbürgerschaft –Herr Gerhardt, das wissen Sie doch ganz genau – nie einZiel für uns gewesen,
sondern nur eine Übergangsform. Sie war doch keinSelbstzweck. Ich gebe Ihnen ein gutes Beispiel, das Siewahrscheinlich kennen.Ich komme aus Stuttgart, und dort gibt es eine Firma,die früher Daimler-Benz hieß. Heute heißt diese FirmaDaimler-Chrysler. Ist das jetzt eine deutsche Firma, istes eine amerikanische Firma? In der Wirtschaft interes-siert der Status dieser Firma keinen Menschen.
Rezzo Schlauch
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1512 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Was für die Wirtschaft gilt, muß doch erst recht für dieMenschen gelten. Wir werden unsere Politik für dieMenschen machen.
Jetzt frage ich Sie: Was ist für das außenpolitischeAnsehen unseres Landes besser: eine Regierung, dienach außen immer Weltoffenheit gepredigt und im In-nern nichts, aber auch gar nichts dafür getan hat, odereine Regierung, in der Innen- und Außenpolitik im Ein-klang stehen? Ich sehe es Ihnen an, Herr Gerhardt, undmerke es, wenn Sie hier reden, wie es Sie jeden Tag in-nerlich zerfrißt, daß nach nur 120 Tagen die ganze Weltdas F.D.P.-geführte Außenamt längst vergessen hat. Fi-scher ist frischer, Deutschland hat endlich wieder einenAußenminister, der nicht nur redet, sondern auch weiß,wovon er spricht.
Herr Schäuble, das kann man von Ihrer Fraktion leidernicht sagen.
Herr Rühe, der ja nicht irgendwer, sondern Ihr Stell-vertreter ist, sagt in der „Saarbrücker Zeitung“ vom 20.Januar dieses Jahres: Fischer schielt auf die eigene Basisanstatt auf die Toten im Kosovo. Das ist auf dem Hin-tergrund des Engagements unseres Außenministers einunglaublicher Vorgang, der an Schäbigkeit, Verlogen-heit und Anstandslosigkeit nicht zu überbieten ist.
Ich fordere Sie auf – entweder ihn selbst oder Sie –,sich für diese Aussage zu entschuldigen.
Zeigen Sie so, daß die CDU wieder zur außenpolitischenVerantwortung unseres Landes steht und sich nicht da-von verabschiedet. Ob Sie es wollen oder nicht – ich zi-tiere jetzt den geschätzten Kollegen Struck, der diessagte; dem ist nichts hinzuzufügen –: Fischer ist der be-ste Außenminister seit Willy Brandt.
– Ich weiß, daß Ihnen das weh tut.Aber auch in einem anderen Bereich ist die Gesell-schaft weiter als die Politik. Es ist der Bereich der dy-namischen Beschäftigungsverhältnisse. Mit der Neure-gelung der 630-DM-Jobs – das ist doch keine Frage –hatten wir Schwierigkeiten. Aber diese Diskussion hatuns gezeigt, daß diese 630-Mark-Regelung eben nochviel zu statisch ist. Was wir nicht wollen, ist ein Entwe-der-Oder: Entweder keine soziale Sicherheit oder volleAbgabenlast.Angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen müssen wiralles daransetzen, um Arbeitskraft zu mobilisieren. DerArbeitswille der Menschen darf nicht an unflexiblenrechtlichen Lösungen scheitern. Wir stellen uns dieserHerausforderung. Wir wollen dabei mehrere Fliegen miteiner Klappe schlagen: Wir wollen neue Impulse für denArbeitsmarkt, neue Chancen für Niedrigqualifizierte undneue Möglichkeiten für Eltern, Familie und Beruf mit-einander vereinbaren. Die dynamischen Beschäftigungs-verhältnisse müssen Sprungbrett in den statt Rutschbahnaus dem Arbeitsmarkt werden.Bislang gibt es dazu viele Modelle und viele Tabus.Es gilt, die Modelle auf ihre Praxistauglichkeit zu über-prüfen und die Tabus zu überwinden. Arbeit statt Ar-beitslosigkeit finanzieren, haben wir im Wahlkampf ge-sagt. Diese Leitlinie haben wir noch nicht ganz ausge-füllt. Im Bereich der dynamischen Beschäftigungsver-hältnisse haben wir die Chance und stehen wir in derPflicht, diesen Anspruch auf der Grundlage europäischerArbeitskultur auch zu verwirklichen.
Noch an einem anderen Thema zeigt sich, warum dieRegierung von gestern die Opposition von heute ist. Ichspreche von der Energiepolitik. Über Jahre haben CDUund F.D.P. eine Energiepolitik gegen die Interessen derBevölkerung betrieben. Sie, Frau Merkel – ich sehe siegerade nicht, sie war vorhin da –, haben die Castortrans-porte regelrecht inszeniert, um die Gesellschaft zu spal-ten, um den starken Staat mit Tausenden von Polizeibe-amten zu exekutieren, ohne Not und ohne Notwendig-keit.
Mit dieser Politik ist Schluß. Wir setzen auf eine neueEnergiepolitik, die nicht gegen, sondern für die und mitder Gesellschaft betrieben wird. Die neue Bundesregie-rung wird die Nutzung der Atomkraft beenden. Es istnicht mehr die Frage, ob, sondern nur noch die Frage,wie ausgestiegen wird. Dabei gibt es auf der Seite derAtomindustrie, die keineswegs nur mit einer Stimmespricht, sowohl Falken als auch Tauben. Dieser Teil desHauses scheint sich offensichtlich mit den Falken ver-binden zu wollen. Wir sind allerdings verläßliche Part-ner, Herr Bundeskanzler, gemeinsam mit unserem Um-weltminister Trittin.
– Ich weiß, daß es Ihnen nicht paßt, wenn wir mit denreformwilligen Menschen in der Atomwirtschaft Kon-sensgespräche führen.
Wir jedenfalls wollen mit diesen reformwilligen Kräftenin der Frage der Restlaufzeiten und der Wiederaufbe-reitung zu akzeptablen Ergebnissen kommen. Allerdingserwarten wir dann genauso die Unterstützung, wenn wiran den Falken wie Ihnen scheitern sollten und im Bun-destag eine gesetzliche Regelung beraten und verab-schieden müßten.Rezzo Schlauch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1513
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Ich appelliere an alle, die in den letzten Jahren mituns für den Ausstieg aus der Atomkraft gekämpft haben:Auch wenn wir einen längeren Weg gehen müssen, wer-den wir am Ziel ankommen. Bei uns wird der Castornämlich aufs Abstellgleis gestellt.Die Atomkraft ist ja nicht nur gesellschaftlich, sondernauch wirtschaftlich gescheitert. Sie von der Oppositiontragen die Verantwortung beispielsweise dafür, daß dieMenschen in den neuen Ländern von den Strommonopo-listen abgezockt werden. Es ist doch kein Grund ersicht-lich, daß die Menschen in den neuen Ländern 20 Prozentmehr für ihren Strom zahlen als im Westen.
Die Ängste der Beschäftigten in der Atomindustrieund deren Familien lassen uns nicht kalt. Durch die För-derung neuer Energietechnologien werden wir ungleichmehr zukunftssichere Jobs schaffen. Wir schaffen dasweltweit eindrucksvollste Programm zur Förderung derSonnenenergie. Wo war denn da der Herr Rexrodt? Erhat doch in dieser Frage acht oder zehn Jahre lang ge-schlafen. Wir schaffen damit neue Anreize für Zu-kunftsmärkte und Jobs.
Diese neue Energiepolitik hat einen klaren Gewinnerin der Wirtschaft: den Mittelstand und das Handwerk inallen Regionen.
An den Grünen scheitert eine Wirtschaftspolitik für die-se „Neue Mitte“ nicht. Wir wissen um die Bedeutungder kleinen und mittleren Unternehmen für die Schaf-fung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Deshalb re-det die neue rotgrüne Regierung nicht von Mittel-standspolitik, sondern sie macht sie. Das heißt in hartenZahlen: Der Mittelstand wird im neuen Haushalt gegen-über den Ansätzen der Vorgängerregierung um 3,5 Mil-liarden DM entlastet.
Zum erstenmal seit Jahren sinken wieder die Lohnne-benkosten. Menschliche Arbeit wird für die Unterneh-men endlich wieder billiger. Neue Beschäftigungsanrei-ze entstehen.Herr Schäuble und meine Damen und Herren von derOpposition, vielleicht werden Sie sich in den nächstenTagen und Wochen schwarz ärgern, wenn Sie Anzeigenmit der Überschrift „Unsere Antwort auf die Ökosteuer –die Benzinsparmodelle“ in den Illustrierten lesen. Interes-sant ist dabei, daß diese Anzeigen nicht von einem deut-schen, sondern von einem ausländischen Autokonzern ge-schaltet werden. Im Ausland hat man offensichtlich be-griffen, was wir mit der Ökosteuer wollen. Sie haben esnicht begriffen, oder Sie wollen es nicht begreifen.
Die Einkommensteuerreform entlastet kleine undmittlere Einkommen. Die Verlierer Ihrer Politik erhaltenso endlich einen gerechten Ausgleich.All dies schultern wir trotz der angespannten Haus-haltslage, trotz der hohen Verschuldung und trotz desErbes der Vorgängerregierung. Wir haben in diesemHaushalt auch erreicht, daß die Neuverschuldung sinkt.Unser Ziel ist ein Haushalt im Gleichgewicht.Die eigentliche Herausforderung liegt mit dem Haus-halt 2000 allerdings noch vor uns. Mit diesem Haushaltwerden wir all das anpacken, was sie haben liegenlas-sen. Wir werden die Staatsfinanzen konsolidieren. Wirwerden die Unternehmensteuerreform endlich anpacken.Wir werden die Renten auch für die jüngeren Generatio-nen sichern. Wir werden die Gesundheitsreform auf denWeg bringen.Nicht zuletzt, sondern zuvorderst werden wir – jetztkomme ich zu Ihnen, Herr Schäuble – das Urteil desBundesverfassungsgerichts in Sachen Familie umset-zen.
Wer für ein Urteil verantwortlich ist, das besagt, daßFamilien in den letzten Jahren 22 Milliarden DM vor-enthalten worden sind – dieses Urteil ist an Sie und nichtan uns gegangen –, der sollte für meine Begriffe vomWert der Familie ganz bescheiden reden.
Diesen Beschluß haben wir Ihrer Politik zu verdan-ken, die über Jahre hinweg die materiellen und damitauch die ideellen Grundlagen der Familien hat erodierenlassen. Sie haben die Familie im Munde geführt, aber inIhrer praktischen Politik nichts anderes getan, als dieDeregulierung, die Globalisierung und Materialisierungunserer Gesellschaft auf dem Rücken der Menschen undihrer Familien zu betreiben.
Die neue rotgrüne Politik wird mit dieser Politik zu La-sten der Menschen und der Familien Schluß machen.Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zeigtuns aber auch, wie tief das Mißtrauen in die Handlungs-fähigkeit der alten Politik war. Das hohe Gericht schreibtbis ins Detail vor, wie die finanziellen Verhältnisse vonFamilien zu verbessern sind. Diesen Auftrag nehmenwir an. Familie ist dabei für uns im Gegensatz zu Ihnenallerdings nicht durch Ideologie verengt. Auch ohneTrauschein gibt es, ob es die CDU will oder nicht,am Ende des 20. Jahrhunderts Lebensgemeinschaftenmit Kindern, und auch die Alleinerziehenden sindFamilien.
Wir wollen jede Form von Familie fördern. Für unssteht des Leben mit Kindern im Mittelpunkt und nichtdie juristisch wie auch immer geartete Lebensgemein-Rezzo Schlauch
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1514 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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schaft der Eltern. Wir sind nicht nur in diesem Punktdas, meine Damen wnd Herren Kollegen von derF.D.P., was Sie einmal waren: In diesem Punkt sind wirliberal.
Heute ordnet die F.D.P. dem Primat des schlankenStaates alles unter. Sie sind verliebt in ein Mißverständ-nis der Idee von Adam Smith, nämlich den Nacht-wächterstaat. Es ist kein Zufall, Herr Gerhardt, daß dasThema Kinder in Ihrer gesamten Rede nicht vorgekom-men ist.
Ihre Politik ist ohne Herz, ist ohne Rationalität, sie isteinfach nur kalt.
Wir vollziehen den Kurswechsel zugunsten der Fa-milien. Dazu gehört, daß in der Haushalts- und Renten-politik die Lasten nicht weiter den kommenden Genera-tionen aufgebürdet werden. Wir wollen einen neuen Ge-nerationenvertrag, der diesen Namen auch wieder ver-dient. Wir wollen einen Generationenvertrag, dessenGrundlage die Generationengerechtigkeit ist.Hier sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wiruns alle einmal an die eigene Brust klopfen sollten.Wenn der Bundespräsident Herzog in Berlin davon re-det, es müsse ein Ruck durch diese Gesellschaft gehen,dann gibt es Beifall durch alle Reihen. Wenn aber nurein Rückle angekündigt wird, wie beispielsweise vonHerrn Riester, dann sagen alle: So haben wir es abernicht gewollt. Das wollen wir nicht. – Das ist unglaub-würdig. Wenn wir diesen Punkt wollen und brauchen,dann sollten wir ihn auch gestalten
und in diesem Punkt zusammenarbeiten. Das biete ichIhnen in der Frage der Rentenstrukturreform aus-drücklich an.
Zu einer Politik zugunsten der Familien gehört auch,daß wir die bessere Vereinbarkeit von Familie und Berufermöglichen. Im „Bündnis für Arbeit“ setzen wir unsfür flexible Arbeitszeitmodelle ein, denn sie bringennicht nur mehr Menschen in Arbeit, sie erleichtern auchfür junge Väter und Mütter den Einstieg in das Berufsle-ben. Unsere Ministerin Andrea Fischer wird in diesem„Bündnis für Arbeit“ dafür sorgen, daß diese Punkte mitbehandelt werden und die grüne Stimme nicht verloren-geht.Die Bundesregierung hat der Jugendarbeitslosigkeitden Kampf angesagt. Herr Schäuble, wer das Programmzur Schaffung von 100 000 Arbeitsplätzen so abhandeltwie Sie, wer sagt, daß wir damit die Jugendlichen ruhig-stellen,
der nimmt eine menschenunwürdige Haltung gegenüberdiesen Jugendlichen ein.
Zu dieser Haltung kann ich nur sagen: Wir kümmernuns um die, die unten sind. Sie mögen sich um diekümmern, die oben sind, obwohl die selber durchkom-men. Unsere Solidarität gilt denen, die hier Schwierig-keiten haben, und nicht denjenigen, die sowieso schonoben auf der Karriereleiter sind.
Wir wollen wieder allen Jugendlichen einen Einstiegin das Arbeitsleben ermöglichen. Qualifikation ist hier-für die zentrale Bedingung. Bildung ist, wie Bundesprä-sident Herzog es ausgedrückt hat, das Megathema derZukunft. Dem tragen wir bereits im Haushalt 1999Rechnung. 1 Milliarde DM mehr wird in die Bildungunserer Kinder investiert. Unser Ziel ist die Verdoppe-lung der Investitionen für Bildung und Forschung. Dafürhaben Sie in den letzten Jahren nichts anderes als Kür-zungen übriggehabt. Die jungen Menschen in unseremLand sind leistungsbereit. Sie sind fit für die Globalisie-rung. Unser Bildungssystem ist es nicht. Das werden wirändern, indem wir eine zweite Bildungsreform auf denWeg bringen.
Wir greifen heute das auf, was Kollege Geißler langezurück in der Vergangenheit begonnen hat. KollegeGeißler war damals schon auf dem richtigen Weg. Wäreseine Partei Herrn Geißler gefolgt, ginge es den Famili-en heute bei weitem besser, und das Bundesverfas-sungsgericht hätte sein Urteil in dieser Form nicht ge-fällt. Die Besserstellung der Familien wird d a s Pro-jekt der rotgrünen Regierung sein. Das treibt uns um.Hieran haben wir bereits gearbeitet. Ich nenne nur dieStichwörter „Kindergeld“, „Entlastung der kleinen undmittleren Einkommen“ sowie „Erhöhung der Freibeträ-ge“. Hieran werden wir die nächsten Monate und Jahremit Hochdruck arbeiten. Wir machen Haushaltspolitiknicht zum Selbstzweck. Wir machen Haushaltspolitikfür die Familien und die Menschen in unserem Land.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Vorsitzende der Fraktion der PDS, Gregor
Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Herr Schlauch, Sie haben – an dieAdresse aller Parteien hier im Hause – von der Notwen-digkeit eines Rucks in der Gesellschaft gesprochen. Ichfinde, einen Mangel an Rucken gibt es zumindest beiden Grünen nicht. Wenn ich mir ansehe, wie sich diePositionen der Grünen in den letzten Jahren verändertRezzo Schlauch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1515
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haben, dann muß man feststellen, daß sie schon man-chen Ruck hinter sich haben. Wenn man das sieht, dannmuß man sich auch vor den Rucken fürchten, die unsnoch bevorstehen.
Sie haben heute erklärt, daß die Grünen der ADACDeutschlands seien. Das ist in etwa so real, als ob HerrGerhardt sagen würde, die F.D.P. sei die Partei der so-zialen Gerechtigkeit, oder ich behaupten würde, die PDSsei die parteipolitische Zukunft Bayerns.
Deshalb meine ich, wir sollten versuchen, den Rahmenbei Vergleichen nicht zu sprengen.
Herr Bundeskanzler, Sie stellen seit mehr als hundertTagen diese Bundesregierung. Sie haben Kontinuität inder Außen- und in der Innenpolitik betont und durch Ih-re Minister Fischer und Schily auch zum Ausdruck ge-bracht, vielleicht mit Ausnahme bei der Staatsbürger-schaftsfrage. Sie haben Kontinuität auch in der Verteidi-gungspolitik durch Herrn Scharping betont. Die Konti-nuität in diesen drei Politikfeldern ist nach meiner Ein-schätzung so groß, daß wir uns den Regierungswechselhätten sparen können, wenn es nur um diese drei Mi-nisterien gegangen wäre. Es hat sich leider nichts verän-dert.
Wir werden morgen die Gelegenheit haben, über Au-ßenpolitik zu sprechen. Ich sage Ihnen schon heute: DieArt und Weise, wie die Verhandlungen in Rambouilletzustande gekommen sind, und die Art und Weise derAndrohung militärischer Gewalt gegen Jugoslawienwerden dieses Europa und diese Welt verändern. Es istnach der UN-Charta verboten, militärische Gewalt an-zudrohen. Schon im Zivilrecht ist jeder Vertrag nichtig,der durch vorgehaltene Pistole zustande kommt. ImVölkerrecht gilt genau dasselbe.Natürlich wünschen auch wir uns, daß es einen Ver-trag in Rambouillet gibt, der das Blutvergießen in Jugo-slawien beendet und Krieg verhindert. Aber der Makel,von dem ich hier gesprochen habe, bleibt bestehen.
Ich füge hinzu, daß Sie ein Konzept der USA unter-stützen, wonach die NATO vom Völkerrecht freigestelltwird. Das wird Konsequenzen haben. Wenn die UN-Charta nicht mehr für die NATO gilt, dann gilt sie auchfür andere Staaten nicht mehr und dann haben Sie eineWeltordnung, wie sie nach 1945 entstanden ist, besei-tigt, ohne eine bessere zu besitzen. Das wird in dieserWelt Folgen haben.
Darauf weist übrigens kein anderer als der CDU-Politiker Wimmer sehr deutlich hin. Ich werde ihn mor-gen zitieren, was bei mir wirklich selten vorkommt. Ichfinde, daß er in vielen Punkten seiner Einschätzung rechthat.Ich bin davon überzeugt, daß die französische und dieitalienische Regierung die Absicht haben, in gleicherAugenhöhe mit den USA zu sprechen. Dazu brauchensie aber das Einvernehmen mit der deutschen Regierung.Weil der Ruf ein anderer ist, sind Sie jedoch bemüht,täglich zu beweisen, daß Sie die treuesten Verbündetender USA sind. Ich meine aber, man muß auch eigeneInteressen artikulieren.Was hier im Oktober beschlossen worden ist, warnichts anderes als eine völkerrechtswidrige Aggression;denn das ist es nun einmal, wenn man einen Staat an-greift, der einen nicht selbst angegriffen hat, und wennes keinen Beschluß des Sicherheitsrates nach KapitelVII der UN-Charta gibt. Ein solches Vorgehen verändertPolitik dauerhaft.Ich komme nun zur Innenpolitik. Es ist richtig, daßSie Wahlversprechen auch erfüllt haben. Im Dezemberist hier eine Menge beschlossen worden, zum Kündi-gungsschutz, zur Senkung der Zuzahlung bei Medika-menten – wenngleich die Beschlüsse hierzu unzurei-chend waren –, zur Erhöhung des Kindergeldes, zurLohnfortzahlung im Krankheitsfall und zur Aussetzungder Kürzung des Rentenniveaus. Das waren wichtigeEntscheidungen.Ich habe mich gefragt: Warum sind Sie damit so we-nig in der Öffentlichkeit umgegangen, und warum habenSie andere Themen so in den Mittelpunkt gestellt?Manchmal hatte ich das Gefühl, daß es einige gab, diedas zwar mit beschlossen haben, die aber nicht sicherwaren, ob diese Politik der richtige Weg ist, weswegensie sich so selten dazu geäußert haben.Wir haben diese Gesetzesvorhaben unterstützt; aberdamit sind noch lange nicht alle Ihre Wahlversprechen,Herr Bundeskanzler, erfüllt. Ich muß sagen: Das gingrelativ zügig und klar; allerdings war bei dem, was da-nach passiert ist, das Wirrwarr so gewaltig, daß auch icherstaunt war. Man muß mit einer Regierung nicht in denpolitischen Zielen übereinstimmen; man kann sogarganz anderer Auffassung sein. Aber von jeder Regierung– egal, von wem sie gestellt wird – muß man wenigstenshandwerkliche Sauberkeit verlangen. In dieser Hinsichtist in dieser Regierungspolitik vieles durcheinanderge-raten.
Ich fange mit dem Staatsbürgerschaftsrecht an.Natürlich ist es notwendig, unser Staatsbürgerschafts-recht zu modernisieren. Natürlich haben wir hier eingroßes Problem. Aber, Herr Bundeskanzler, wie konntenSie zulassen, daß die Aufklärung in der Öffentlichkeitallein von der CDU/CSU bestritten wurde? Weshalb ha-ben Sie nichts an Aufklärung dagegengesetzt? Das wäredoch dringend erforderlich gewesen, weil man die Zu-stimmung in der Gesellschaft zu einem solchen Vorha-ben braucht.
An die Adresse von Herrn Schäuble und vor allenDingen von Herrn Stoiber sage ich: Was Sie in unsererDr. Gregor Gysi
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1516 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Gesellschaft angerichtet haben, wird langfristige Folgenhaben, die wir alle sehr teuer bezahlen werden. Mit dem,was Sie hier zu Europa vorgetragen haben, hat das über-haupt nichts zu tun. Wer europäische Integration will,der weiß, daß irgendwann auch eine europäische Staats-bürgerschaft kommt, und der weiß, daß wir uns mit an-deren Ländern diesbezüglich zu verständigen habenwerden. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß sich dieNiederlande, Frankreich, Großbritannien und andereLänder auf unser Staatsbürgerschaftsrecht aus dem vori-gen Jahrhundert einlassen werden. Das ist doch absurd!
Anstatt Wege nach vorn zu gehen, wollen Sie unsereGesellschaft zurückführen.Ich habe mit Interesse eines zur Kenntnis genommen:CDU und CSU haben die Straße wiederentdeckt. Sieführen einen starken außerparlamentarischen Kampf. Ichstelle mit Interesse fest, daß Herr Schäuble heute plötz-lich von den Arbeitsloseninitiativen gesprochen hat.Schon dieses Wort hat er in den letzten 16 Jahren nichtin den Mund genommen.
Wenn denn der Mehrheitswille der Bevölkerung für Sieso wichtig ist, dann lassen Sie uns doch mit der notwen-digen Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag denVolksentscheid einführen.
Dann klären wir die Bevölkerung gemeinsam auf undlassen sie über die Staatsbürgerschaftsfrage entscheiden.Dann wären wir wirklich einen Schritt weiter, auch beider Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durchElemente unmittelbarer Demokratie. Aber die Straßeimmer nur zu rufen, wenn man glaubt, sie für polemi-sche Zwecke nutzen zu können, und ansonsten Volks-entscheide abzulehnen, das ist in höchstem Maße un-glaubwürdig.
Nun habe ich aber auch eine Bitte, Herr Bundes-kanzler: Nehmen Sie die Wahlniederlage in Hessen unddie Kampagne der CDU/CSU nicht zum Anlaß, IhrePolitik in der Staatsbürgerschaftsfrage zu ändern. Be-weisen Sie Mut, werden Sie nicht ein Kanzler der Zu-rückweichung, sondern ein Kanzler des Vorwärts-schreitens. Darum geht es auch in dieser Frage.Ich finde, daß es auch beim Atomausstieg ziemlichhanebüchen zugegangen ist. Ein Gesetzentwurf, der ab-gesprochen wurde und im Bundestag auf der Tagesord-nung stand – es war ein ganzer Freitag dafür vorgesehen–, war noch nicht einmal im Kabinett beschlossen, weilSie alles so eilig hatten. Dann wird den Abgeordnetenhier mitgeteilt, der ganze Freitag fällt aus, ein Ersatzta-gesordnungspunkt steht nicht zur Verfügung – und dasalles, weil das Kabinett den Entwurf nicht verabschiedethat. Ich muß Ihnen dazu sagen: Ich bin jetzt seit 1990 imBundestag und habe hier schon viel erlebt. Aber so et-was habe ich zum erstenmal erlebt. Das spricht vonmangelndem Durchsetzungsvermögen und auch vonmangelnder handwerklicher Solidität in solchen Fragen.Sie müssen wenigstens wissen, was Sie wollen, dannkönnen wir ja darüber streiten. Setzen Sie hier aber kei-ne Tagesordnungspunkte auf, wenn Sie noch gar nichtwissen, was Sie vorhaben. Das geht nicht. Das will ichdeutlich gesagt haben.
Das Thema Reichtum und Armut wird uns nochüber viele Jahre hinweg beschäftigen. Ich glaube, Sie,Herr Bundeskanzler, versuchen da etwas, weil Sie derKanzler des Konsenses sein wollen. Nun weiß ich na-türlich, wie wichtig Konsens in der Gesellschaft ist. Ichweiß, wie wichtig es ist, Gruppen zusammenzuführenund einen Interessenausgleich herbeizuführen. Das giltin jeder Partei, aber natürlich auch in der Gesamtgesell-schaft. Wer aber regieren will, muß auch irgendwannsagen: Das sind die Interessen, die ich durchsetzen will;das heißt, ich stelle mich auch gegen andere. Sie werdennicht immer alle in ein Boot bekommen. Wenn dasmöglich wäre, müßte die Gesellschaft gar nicht regiertwerden.
Das ist das Problem des Regierens und auch die Kunstdes Regierens. Dazu braucht man Mut.Wenn Sie also Armut wirksam bekämpfen wollen,haben Sie keine andere Chance, als Reichtum zu be-grenzen. Wenn Sie nicht den Mut haben, Reichtum zubegrenzen, werden Sie Armut nicht wirksam bekämpfenkönnen. Sie müssen sich eines Tages entscheiden. Siewerden das nicht ewig hinausschieben können.
– Ich wäre an Ihrer Stelle einmal ganz ruhig. Es magviele Fehlentscheidungen gegeben haben. Wenn ich aberdaran denke, welche Güter Ihr Prinz von Sachsen-Anhalt aus Hannover jetzt in Sachsen-Anhalt zurückzu-erhalten versucht, kann ich Ihnen nur sagen: Uns war jaklar, daß die DDR abgewickelt wird und daß der Kapi-talismus wieder eingeführt wird. Daß Sie aber gleichzum Feudalismus zurückwollen, haben Sie am 3. Okto-ber 1990 nicht angekündigt.
Ich nehme hier auch mit großem Interesse zur Kennt-nis, wie sich die F.D.P. und auch die CDU/CSU überden Tarifabschluß in der Metallindustrie aufregen.Das ist ja wirklich ein starkes Stück. Zunächst einmalmuß man die Regierung verteidigen; sie saß ja gar nichtmit am Verhandlungstisch. Unterschrieben haben es dieArbeitgeber und die Gewerkschaften. Das möchte icheinfach nur einmal wegen der Wahrheit festhalten. Inso-fern ist das auch eine Kritik an den Arbeitgebern, die Siehier erstaunlicherweise vornehmen.Sie regen sich also über 3,2 Prozent und ein weiteresProzent – also reden wir ruhig von etwas über 4 Prozent –Dr. Gregor Gysi
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1517
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Lohnerhöhung auf und behaupten, das sei gegen dieWirtschaft und gegen die Arbeitslosen gerichtet usw. Ichsage Ihnen dazu nur eines: Heute wird VW folgendeZahlen veröffentlichen: Im letzten Geschäftsjahr ist derGewinn bei VW nach Steuern, nicht vor Steuern, um64 Prozent gestiegen. Da ist doch die Forderung derGewerkschaften wirklich ausgesprochen moderat.
Stellen Sie sich einmal vor, was dann los gewesen wäre,wenn sie gesagt hätten: Wir wollen den gleichen Anstiegwie bei den Gewinnen.Seit Jahren haben Sie zugesehen, wie die Gewinnejährlich gestiegen sind. Noch nie hat einer von IhnenBescheidenheit hinsichtlich der Gewinne in die Diskus-sion gebracht und gefordert, daß die Gewinne für Inve-stitionen und für die Schaffung von Arbeitsplätzen ver-wendet werden. Sie regen sich hier schon auf, wenn dieGewerkschaften nur wollen, daß wenigstens die Teue-rungsrate und andere Kostensteigerungen ausgeglichenwerden. Das zeigt den unsozialen Charakter Ihrer ge-samten Politik. Wegen dieser Politik sind Sie im Sep-tember 1998 abgewählt worden.
Mit großer Sorge nehme ich auch zur Kenntnis, daßdarüber debakelt wird, diesen Abschluß für Ost-deutschland nicht zu übernehmen, sondern dort niedri-gere Tarife einzuführen. Das heißt im Klartext, daß nichtnur der wirtschaftliche Abstand zwischen Ost und Westzunimmt, sondern daß auch die Lohnabstände wiedergrößer werden. Der Abstand bleibt noch nicht einmalgleich, sondern er wird größer. Da Sie dieses Thema zurChefsache erklärt haben, kann ich Ihnen, Herr Bundes-kanzler, nur sagen: Kümmern Sie sich darum! Ein weite-res Auseinanderdriften der Einkommen zwischen Ostund West verträgt diese Gesellschaft nicht und ist denMenschen in den neuen Bundesländern in Anbetrachtder Preise von 100 Prozent nicht zumutbar.
Wenn man Arbeitslosigkeit bekämpfen will, danngenügt es nicht, Herr Bundesfinanzminister, darauf hin-zuweisen, daß man dem zweiten Arbeitsmarkt eine Mil-liarde DM mehr zur Verfügung stellt und daß man be-stimmte Finanzumverteilungen vornimmt. Diese Vorha-ben sind zwar zu begrüßen, und wir haben natürlich diedamalige Regierung sehr kritisiert, als sie diese Mittelgekürzt hat. Wir brauchen jetzt aber eine Verstetigungund einen allmählichen Übergang vom zweiten Ar-beitsmarkt hin zu einem öffentlich geförderten Be-schäftigungssektor mit dauerhaften Arbeitsverhältnis-sen.
Wir brauchen den Mut zur Arbeitszeitverkürzung. Mitder Änderung des Arbeitszeitgesetzes könnte der Bun-destag insbesondere hinsichtlich des Abbaus von Über-stunden etwas leisten.Wir brauchen natürlich eine Steuerreform, die end-lich an das Geschäftsergebnis von Wirtschaftsunterneh-men anknüpft und nicht länger die Substanz und dieSchaffung von Arbeitsplätzen bestraft. Das wäre eineReform, die diesen Namen wirklich verdient hätte.Ich betone: Wir brauchen auch einen neuen Ansatzfür die Lohnnebenkosten. Wir haben immer daraufhingewiesen, daß es sehr viel günstiger wäre, die Unter-nehmen bezahlten die Abgaben in die Versicherungssy-steme nach ihrer Wertschöpfung und nicht nach der Zahlihrer Beschäftigten und nach der Höhe der Bruttolöhne.Die alte Regelung ist steuerrechtlich und abgabenrecht-lich gesehen ein Kontrapunkt zur Schaffung von Ar-beitsplätzen. Wir benötigen dringend eine entsprechendeReform am Ende dieses Jahrhunderts.
Natürlich brauchen wir nicht nur irgendwelche indi-rekten Steuerentlastungen. Wir brauchen eine direkteund gezielte Förderung kleiner und mittelständischerUnternehmen in Ost und West. Dazu müssen wir dieMacht der Banken begrenzen. Es geht nicht so weiter,daß – wie es in den neuen Bundesländern, aber auchschon zu einem großen Teil in den alten Bundesländernder Fall ist – faktisch eine oder zwei Banken darüberentscheiden, ob ein kleines oder mittelständisches Un-ternehmen überhaupt eine Chance hat, und daß der Ge-setzgeber tatenlos zuschaut. In diesem Bereich brauchenwir dringend Reformen.
Es gibt weitere Wahlversprechen, die Sie bisher nichterfüllt haben. Ich habe den Eindruck, daß Ihre Absicht,sie zu erfüllen, nicht besonders groß ist. Ich nenne dasSchlechtwettergeld, die Vermögensteuer
und die Beseitigung der Einschränkung des Streikrechts– Stichwort: § 116 des alten AFG.
Von der Sozialdemokratie wird seit Jahren versprochen,daß der alte Zustand wiederhergestellt wird. Das giltauch für andere Fragen der Wirtschaftsdemokratie.Als weiteres Beispiel nenne ich die Sonntagsarbeitbei Banken, die es seit dem 1. Januar 1999 gibt. Dabeiwerden doch nicht nur die Rechte der Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer beeinträchtigt. Lassen Sie unsauch einmal darüber nachdenken, welche Folgen sichfür eine Gesellschaft ergeben, wenn Sonn- und Feiertagezu ganz gewöhnlichen Tagen werden und die Gesell-schaft dadurch keine besondere kulturelle Eigenheitmehr besitzt! Ich halte diesen Ansatz für sehr verhee-rend und unterstütze diesbezüglich die Kirchen.
Ich muß Ihnen folgendes vorhalten: Wir haben zu alldiesen Punkten Anträge eingebracht, die zum größtenTeil noch nicht einmal über Ihre Wahlversprechen hin-ausgehen, um es Ihnen besonders leichtzumachen. Dochwas tun Sie? Sie blockieren unsere Anträge in den Aus-Dr. Gregor Gysi
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1518 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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schüssen und lassen nicht zu, daß hier in zweiter Lesungüber sie abgestimmt wird. Man kann der CDU/CSU undder F.D.P. viel vorwerfen, aber nicht die Blockade unse-rer Anträge. Sie hat nie verhindert, daß über unsere An-träge im Bundestag abgestimmt wurde. Sie hat unsereAnträge zwar abgelehnt – das ist klar –, aber sie hat im-merhin die Abstimmung zugelassen. Sie lassen die Ab-stimmung aus einem ganz einfachen Grunde nicht zu:Sie wollen nicht ja zu unseren Anträgen sagen, und Sietrauen sich nicht, öffentlich nein dazu zu sagen. Das istIhr Problem. Aber den Mut, sich eindeutig zu äußern,müssen Sie schon aufbringen.
Ich sage deshalb: Her mit den Gesetzentwürfen; lassenSie uns darüber streiten und entscheiden!Dann haben Sie eine Einkommensteuerreform in An-griff genommen, zu der ich mich heute nicht äußernwerde. Wir haben dazu später noch Gelegenheit.Sie haben ein 630-Mark-Gesetz vorgelegt. HerrBundeskanzler, Sie haben sogar eine Aktuelle Stundegenutzt – das sollte man als Bundeskanzler nie machen –,um Ihr eigenes Modell vorzustellen. Das ist inzwischenvielfach geändert worden. Ich unterstütze alle Anträge,die auf die Absetzung dieses Gesetzes abzielen. Dennman muß doch wenigstens noch die Zeit haben, denneuesten Stand einmal durchzulesen und zu verstehen,wie die Regelung augenblicklich aussehen soll.
Gestern abend haben unsere Expertinnen und Expertenversucht, uns zu erklären, was sich durch die vierte Fas-sung nun eigentlich geändert hat. Wir sind damit nichtzu Rande gekommen. Sie überfordern uns in gewisserHinsicht. Das ist selten, aber in diesem Fall tun Sie eswirklich.Deshalb meine Bitte: Legen Sie einen Entwurf vor,wenn Sie wissen, was Sie wollen, statt nachträglich an-zufangen, zu überlegen, was man wollen könnte, und ei-ne vierte und fünfte Fassung vorzulegen. Nachher pas-siert uns dann nämlich folgendes: Wir verabschiedenhier ein Gesetz, und keiner weiß, in welcher Fassung.Ich finde, das geht zu weit.
Hier werden Sie uns als Opposition kennenlernen.Zu Ihren neuen Denkansätzen muß ich sagen: Sie ha-ben ein bißchen Rücksicht genommen auf die Argu-mentation der Opposition hinsichtlich der Verfassungs-widrigkeit des vorhergehenden, des dritten Entwurfs.Aber auch der vierte Entwurf ist noch nicht verfas-sungskonform. Er löst keine sozialen Probleme, und erlöst auch keine wirtschaftlichen Probleme. Wir werdenihm in dieser Fassung nicht zustimmen können.Mit der ökologischen Steuerreform ist es nicht vielbesser. Wir sollen sie am Freitag verabschieden. HabenSie sich einmal überlegt, wie viele Änderungen in denletzten Wochen und Monaten an diesem Gesetzeswerkvorgenommen worden sind? Es kennt ja kaum jemandden letzten Stand dieses Entwurfs. Das ist für das Par-lament eine Zumutung.Im übrigen verzichtet dieses Gesetz auf die ökologi-sche Lenkungswirkung. Wenn Sie nicht Primärenergie-erzeugung besteuern, können Sie doch gar nicht zwi-schen den Arten unterscheiden, wie Energie erzeugtwird. Sie nehmen die Industrie faktisch raus und erlegenihr eine viel kleinere Steuer auf als allen anderen. Dannbekommt sie noch den größten Teil erstattet, wenn esdennoch zu einer Mehrbelastung kommt. Das heißt, dergrößte Energieverbraucher ist am wenigsten belastet.Können Sie mir einmal erklären, worin dann die ökolo-gische Lenkungswirkung bestehen soll?Darf ich noch etwas fragen: Wieso muß die Land-wirtschaft die Steuer voll bezahlen und die Industrie fastgar nicht? Das gilt auch für Dienstleistungseinrichtun-gen und für andere. Was ist das für eine Ungerechtigkeitin der Behandlung der Unternehmen?
– Wenn Sie schon wieder einen neuen Stand haben,richtet sich Ihr Lachen diesmal gegen Sie. Wer jedenTag Gesetzentwürfe ändert, kann in einem Parlamentnicht mehr ernst genommen werden. Das will ich deut-lich sagen.
Das Soziale kommt bei dieser ökologischen Steuerre-form völlig zu kurz. Die Sozialhilfeempfängerinnen undSozialhilfeempfänger, die Rentnerinnen und Rentnersowie die Arbeitslosen zahlen drauf und haben von derLohnnebenkostensenkung entweder gar nichts oder fastgar nichts. Das ist die Realität. Das wird sich für sienicht rechnen, und sie können, im Unterschied zur Indu-strie, nicht zum Zollamt gehen und eine Differenz gel-tend machen. Wieso überhaupt zum Zollamt? WissenSie, daß wir da 500 neue Leute einstellen müssen? Dasist zwar eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, aber esbedeutet auch das Zehnfache an Bürokratie.Auch daß das Steuerrecht dadurch leichter werdenwürde, können Sie nicht behaupten. Die Steuerberaterwerden das mit Wohlwollen zur Kenntnis nehmen, aberauch sie werden langsam überfordert sein; davon bin ichüberzeugt.Lassen Sie mich noch etwas zum Osten sagen. Ichhabe schon über den Abschluß in der Metallindustrie ge-sprochen. Sie haben das zur Chefsache erklärt. Ich frage
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wo bleibt die Initiative für dieAnerkennung der beruflichen Abschlüsse der Menschenaus den neuen Bundesländern?
Das hakt noch immer an allen Ecken und Enden. Daskostet gar kein Geld. Ergreifen Sie doch diesbezüglicheinmal eine Initiative, damit wir das Problem aus derWelt schaffen.Dr. Gregor Gysi
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Wo bleibt die Initiative zur Sicherung der Rechte vonNutzerinnen und Nutzern an Grundstücken, damit dieFreunde der F.D.P. aus dem Königshaus von Sachsen-Anhalt in Hannover auf dieser Strecke nicht so schnellzu Erfolgen kommen können? Wo bleibt die Anglei-chung der Renten, die Überführung der Rentenlücken?Sie kennen alle diese Beispiele. Lassen Sie mich hiernur eines nennen: Alle Ballettänzerinnen und Ballettän-zer der DDR hatten mit 35 Jahren einen Rentenan-spruch, wenn sie nicht mehr tanzen konnten. Er ist ihnendurch das Rentenüberleitungsrecht entzogen worden.Wann endlich wird das korrigiert?
Da könnte ich Ihnen noch viele andere Beispiele nennen,auch Ihre Klientel betreffend, zum Beispiel mithelfendeFamilienmitglieder im Handwerk und Gewerbe.
Herr Kollege
Gysi, ich muß Sie leider darauf hinweisen, daß die Zeit
Ihrer Fraktion schon ausgeschöpft ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich akzeptiere das, Frau
Präsidentin. Ich bin gehalten, mich nach den Zeitvorga-
ben zu richten.
Eine neue Zeit hat begonnen, Herr Bundeskanzler.
Sie wollten unbedingt regieren. Meine Bitte ist: Jetzt tun
Sie es auch. Darauf warten wir noch ein bißchen.
Das Wort hat
jetzt Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schäublehat in seiner Rede zum politischen Wettbewerb um dieMitte aufgerufen. Aber er hat wohl übersehen, daß derIdeengeber der politischen Mitte nicht Charles Darwin ist.Ich glaube, Herr Schäuble, wenn Sie, wie es Ihre Redeausgewiesen hat, die politische Mitte am rechten Randsuchen, dann werden Sie enttäuscht.
Die Ideen der politischen Mitte entstammen mehrder Französischen Revolution als Ihrem Parteipro-gramm. Sie handeln von Freiheit – gewiß –, sie handelnvon Gleichheit, und sie handeln von Brüderlichkeit.Freiheit – das habe ich Ihrer Rede entnommen – definie-ren Sie vor allen Dingen als Gewerbefreiheit.
Das ist in Ordnung, aber das reicht nicht, meine Damenund Herren.
Für die Realisierung von Gleichheit fehlt Ihnen der po-litische Wille – das überrascht hier niemanden –, undzur Brüderlichkeit fehlt Ihnen jede Sensibilität.
Indessen weiß die politische Mitte in Deutschland,wissen Menschen mit guter Ausbildung, Menschen mitdurchaus anständigem Einkommen, daß sie ihre Mög-lichkeiten und das, was sie sich für sich individuell vor-stellen, in einer Gesellschaft nur ausleben können, wenndiese nicht sozial zerrissen ist. Das übersehen Sie. Siehaben es 16 Jahre lang übersehen.
Sie haben nämlich 16 Jahre lang, zunehmend zum SchlußIhrer Regierungszeit, dafür gesorgt, daß die sozialeBalance, die weltweit das Kennzeichen Deutschlandswar, verlorengegangen ist.
Das ist der Grund, warum wir im Interesse der „NeuenMitte“ in den ersten 100 Tagen darangegangen sind, die-se soziale Balance wiederherzustellen.
Sie, Herr Schäuble, haben sich über Freiheit und In-dividualität verbreitet, und zwar mit den üblichen Flos-keln. Sie haben dabei übersehen, daß der Beschäftigte ineinem großen oder kleinen Betrieb, der da sein Ein-kommen und Auskommen finden muß durch seinerHände Arbeit, nur dann frei ist, wenn er auch ein Min-destmaß an Sicherheit hat.
Um ihm diese Sicherheit in existentiellen Situationen,zum Beispiel bei langandauernder Krankheit, zu geben,haben wir die Lohnfortzahlung wieder eingeführt.
Das war der Grund. Er hat vielleicht nichts mit IhrerForm von Individualität zu tun, aber mit unsererschon.
Zur Freiheit – ich denke, das wird Ihr Teil des Hausesimmer übersehen – gehört auch die Freiheit, die mitAbwesenheit von Angst zu tun hat.
Wer sich und seine Familie mit Arbeit durchbringenmuß – das ist die übergroße Mehrheit unseres Volkes –,Dr. Gregor Gysi
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1520 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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der braucht auch die Abwesenheit von der Angst, raus-geschmissen zu werden.
Das ist ein Stück seiner Freiheit. Nicht darin, daß wiretwas, was Sie durchgesetzt haben, zurückdrehen wol-len, sondern genau in diesem Verständnis von Freiheitliegt der Grund dafür, daß wir den Menschen wieder denKündigungsschutz gegeben haben, der ökonomisch ver-nünftig und sozialpolitisch sinnvoll ist.
Dann haben Sie – leider nur mit den üblichen Flos-keln – über den Wert der Familie gesprochen.
Dieser Wert wird von niemandem in diesem Hause inAbrede gestellt. Indessen: Was war denn der Grund da-für, daß wir nach den letzten 16 Jahren Ihrer Regierungin den ersten drei Monaten unserer Regierungszeit denEingangssteuersatz abgesenkt haben? Das hat eineganze Menge mit der Situation der Familien in unseremLand zu tun: nicht „Ihrer“ Familien, sondern der Durch-schnittsfamilie in Deutschland.
Warum haben wir das Existenzminimum, das steuer-frei ist, erhöht? Das hat nichts zu tun mit der sozialenWirklichkeit, aus der Sie kommen. Aber es hat zum Bei-spiel viel zu tun mit der sozialen Wirklichkeit alleiner-ziehender Mütter. Für die ist damit – unabhängig vonder 630-Mark-Regelung und dem, was Sie davon halten– etwas getan worden.
Die Familienpolitik, die wir ernst nehmen und nichtnur in Floskeln beschwören, hat vor allem etwas zu tunmit den materiellen Grundlagen der Familien. Warumsind Sie nicht darangegangen und haben das Kindergeldanständig erhöht?
Sie hatten doch 16 Jahre Zeit, Familienpolitik zu betrei-ben und nicht nur darüber zu reden.
Die Fraktionsvorsitzenden der Koalition haben bereitsdarauf hingewiesen, daß das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts eine Bankrotterklärung Ihrer Familien-politik ist und nicht unserer.
Sie haben nach dem Urteil des Gerichtes den Familien22 Milliarden DM vorenthalten.
Wir stehen jetzt vor der Aufgabe, den Familien zu ihremRecht zu verhelfen, einem Recht, das Sie ihnen genom-men hatten. Angesichts dessen stellen Sie sich hierhinund erzählen uns etwas über Familienpolitik. Das findeich schon sehr merkwürdig. Das muß ich Ihnen einmalsagen.
Was wir getan haben, war nötig, um die eingetretenesoziale Schieflage in der Gesellschaft und die damit ver-bundenen Gefahren für deren friedliche Entwicklungaufzuarbeiten, eine Arbeit, die wegen Ihrer Politik not-wendig war und deren Tempo man kritisieren mag. Aberin der Sache gibt es für diejenigen, die ernst nehmen,uns in ihre Programme schreiben, nichts zu kritisieren.
Oder betrachten Sie ein anderes Beispiel, das in die-ser Diskussion auch schon eine Rolle gespielt hat: dieSituation der jungen Menschen im Land. Wie ist esdenn Jahr um Jahr gewesen?
Jahr um Jahr sind Sie zu den Menschen gegangen undhaben wohlfeile Versprechungen gemacht, die da hei-ßen: Wir schaffen das schon allein. – Nichts haben Siegeschafft! Sie haben die Jugendlichen und die Arbeitslo-sen, vor allem die Langzeitarbeitslosen, allein gelassen.Meine Regierung hat zum erstenmal nach Ihren aufdiesem Gebiet jämmerlichen 16 Jahren dafür gesorgt,daß 100 000 Jugendliche in diesem Land eine faireChance erhalten. Darauf bin ich verdammt stolz.
Darauf bin ich stolz, weil es sich vor allen Dingen umJugendliche handelt, die schon seit Jahren in den Stati-stiken der Arbeitsämter verschwinden, um die sich nie-mand kümmert – was nicht hingenommen werden kann– und deren Fähigkeit sowie Willigkeit, ausgebildet zuwerden, entscheidend zurückgegangen sind. Wer aberseine Fähigkeit verloren hat, auf dem Ausbildungsmarktzu konkurrieren, den darf man in dieser Gesellschaftnicht allein lassen, wenn sie sich „gerecht“ nennen will;dem muß man helfen. Das geschieht mit diesem Pro-gramm.
Das hat übrigens auch etwas mit freier Entfaltung derJugendlichen zu tun.Im übrigen, verehrter Herr Kollege Schäuble, umeines bitte ich Sie wirklich: Den Satz, den Sie sich dahaben aufschreiben lassen – wenn man auf dem Stuhldes Kanzlers sitzt, kann man ja gut sehen, worausvorgelesen wird –, nämlich mit diesem 100 000-Ausbil-Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1521
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dungsplätze-Programm wollten wir die Jugendlichendurch Beschäftigung ruhigstellen, lassen Sie entwederim Protokoll dieser Bundestagssitzung verändern, oderSie entschuldigen sich dafür.
Wäre ich zu dieser Form der politischen Auseinander-setzung, wie Herr Schäuble sie heute morgen gebotenhat, fähig und willig, dann würde ich, bezogen auf die-ses Thema, sagen: Ihre bewußte Hinnahme der Ju-gendarbeitslosigkeit treibt die Jugendlichen in die Kri-minalität. Diese Antwort müßte man Ihnen geben, wennSie sich nicht entschuldigen, und für diese Antwort sindSie verantwortlich, Herr Schäuble, Sie ganz persönlich.
Herr Bundes-
kanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Fraktions-
vorsitzenden der CDU/CSU?
Nein, ichmöchte im Zusammenhang vortragen.
Ich komme zum nächsten Punkt, meine Damen undHerren. Er betrifft die Renten.
– Ich verstehe gar nicht, warum Sie so herumschreien.Es ist doch ganz klar: Glauben Sie wirklich, daß aus Ih-ren Reihen eine intelligente Zwischenfrage kommenkönnte?
Ich komme zu den Renten. Das hat auch viel mit derFreiheit des einzelnen und mit der Frage zu tun, ob es inder Gesellschaft ein zureichendes Maß an Solidaritätgibt oder nicht.
– Ich verstehe ja, daß Sie ungern über die Rentenfragereden und daß Sie laut lärmen, wenn ich über ältereMenschen und deren Schicksal rede. Aber das liegt miram Herzen; Ihnen geht es wohl offenkundig nur darum,zu stören. Das sollten Sie sich einmal überlegen.
Lassen Sie uns über die Renten und vor allen Dingenüber die Rentnerinnen und Rentner reden; denn um die-se geht es uns, um ihre Freiheit und um ihre Sicherheit.Das alles hat sehr viel damit zu tun, wie man mit ihnenumgeht. Was haben Sie gemacht? – Sie haben ein pau-schales Kürzungsprogramm durchgezogen, das dazu ge-führt hätte, daß zumal die Frauen, die von ihren Män-nern abgeleitete Erwerbsbiographien haben, sich unter-halb der Sozialhilfegrenze wiederfinden, daß sie in denSozialhilfebezug getrieben werden.
Ich sage Ihnen: Das wird der Lebensleistung dieserMenschen, dieser Frauen zumal, in keiner Weise ge-recht.
Das ist der Grund dafür, daß wir gesagt haben: Refor-men mit solchen Wirkungen sind das Gegenteil von Re-formen.
Wir halten das an und entwickeln ein Rentenreform-programm, das nicht eine derartige Form unsozialenEingehens auf das demographische Problem in sichträgt.
Wir werden dieses Programm ja noch zu beraten haben.Aber es war nötig, das zurückzunehmen, was die Men-schen bedrückt, was sie in und unter die Sozialhilfetreibt. Das haben wir gemacht – nicht weil wir prinzi-piell Ihre Politik der letzten 16, 17 Jahre korrigierenwollen, sondern weil sie Menschen mit diesen Lebens-leistungen bedrückt.
Die Kostenprobleme im Gesundheitssystem und diePatientenbelastungen haben doch Sie in den letzten Jah-ren verursacht, zumeist jedenfalls. Wer hat denn diePolitik gemacht? Daß wir das jetzt korrigieren, hat damitzu tun, daß Sie das verkehrt gemacht haben.Wenn Frau Fischer nun sagt, im Mittelpunkt meinerReformbemühungen stehen nicht irgendwelche Interes-sengruppen, sondern stehen – zum erstenmal seit langerZeit – wieder die Patienten, dann ist das genau der rich-tige Ansatz, den man nicht dick genug unterstreichenkann.
Für ein gewiß kompliziertes System der Gesundheits-vorsorge brauchen wir, so Frau Bundesministerin Fi-scher, zumal für die älteren Frauen und Männer, so et-was wie einen Lotsen, der ihnen bei der Abnahme derunterschiedlichsten Leistungen hilft, die für sie richtigenauszusuchen. Wenn sie jetzt den guten alten, ich solltebesser sagen: den guten jungen Hausarzt als einen sol-chen Lotsen stärken will, dann sollten Sie das nicht kri-tisieren, sondern unterstützen, weil es ein richtiger An-satz ist, der den Patienten hilft.
Darüber hinaus sagt sie, bei 50 000 Medikamenten –sind es so viele?; Sie nickt; das muß man sich einmalklarmachen – macht es doch Sinn, aus einer Liste, an derBundeskanzler Gerhard Schröder
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1522 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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man sich orientieren kann, die auszuwählen, die wirk-sam sind, die wirklich helfen können und die als ver-nünftig zu bezeichnen sind.
Jeder draußen, der uns zuhört – wenn er es denn nochhören kann, was man angesichts Ihrer Zwischenrufe,Herr Glos, bezweifeln mag –, wird doch sagen: DieseArt von Hilfe in einem komplizierter gewordenen Sy-stem dient dem Patienten, und deswegen ist das unter-stützenswert. Das werden die Menschen draußen sagen,und das ist gut so. Deswegen wird die Reform ja ge-macht.
Viel ist über Energiepolitik geredet worden, einschwieriges Feld. Das weiß niemand besser als ich.
– Es wird niemand bestreiten, daß ich an einem Punktschon sehr lange arbeite: eine Energiepolitik zu machen,die uns Schritt für Schritt wegbringt vom unsinnigenEinsatz der Atomenergie in der Grundlast der Versor-gung.
Wer sich mit dem Begriff der Versorgungssicherheitnicht ideologisch – auch das gibt es, auf vielen Seiten;das gebe ich gerne zu – auseinandersetzt, der wird mirim Grundsatz zustimmen. Dabei rede ich gar nicht überDeutschland, nicht einmal, was die Sicherheit angeht,über Frankreich, sondern über das, was wir in Tscherno-byl erleben. – Ich meine nicht nur, was wir erlebt haben,sondern auch was wir erleben. – Es wird deutlich, daßdie internationale Staatengemeinschaft bislang nicht –und wenn es gelingen wird, nur unter großen Mühen,auch unter großen finanziellen Mühen – in der Lage ist,Tschernobyl abgeschaltet zu bekommen. Der Sarko-phag, der die gefährlichen Rückstände des Unfalls sichereinschließen soll, ist nicht finanziert. Das haben wir beiÜbernahme der Akten feststellen können. Ich will dasgar nicht einseitig zuweisen. Das hat auch etwas miteiner anderen energiepolitischen Vorstellung in anderenLändern zu tun, keine Frage.Aber eins ist doch klar: Zumindest die Kraftwerks-typen, die dort am Netz sind und deren Nachrüstung wirnicht haben finanzieren können – wir können das nichtgegen die Interessen der betroffenen Länder durchsetzen –,sind doch eine Gefahr, die auch Sie auf der anderenSeite dieses Hauses beschäftigen müßte.
– Ich komme gleich zu dem, was ich Ihnen klarmachenwill. – Deswegen macht es doch Sinn, an einer Verände-rung der Energieversorgung auch und gerade inDeutschland zu arbeiten; denn über eines müssen Siesich im klaren sein – das lehrt die Erfahrung vonTschernobyl –: Wenn – gleichgültig, wo in der Welt,gleichgültig, aus welchen Ursachen – auf diesem Feldetwas passiert, dann ist es aus mit der Versorgungssi-cherheit, und zwar auch in Deutschland, auch wenn un-sere Kernkraftwerke sicherer sind; denn die Menschenwerden dann Panik bekommen. Deswegen ist eine Poli-tik, die langfristig darauf setzt, Kernenergie zu überwin-den, eine Politik, die gleichermaßen den Sicherheitsin-teressen und der ökonomisch gerechtfertigten Versor-gungssicherheit in Deutschland dient. Zumindest diesenZusammenhang müssen Sie begreifen können, wenn Sieschon den anderen nicht begreifen wollen.
Eine Energiepolitik, die diese Form der Strompro-duktion ersetzen will – was aus den unterschiedlichstenGründen, auch aus ökonomischen, vernünftig ist –, auchnur in Ansätzen möglich zu machen, haben Sie die letz-ten 17 Jahre systematisch verhindert. Das ist der Punkt!Und weil das so ist, bitte ich alle, auch diejenigen in dereigenen Partei oder beim Koalitionspartner, die Ergeb-nisse auf diesem Sektor früher haben wollen, als ich siefür möglich halte, eines zu verstehen: Versorgungssi-cherheit hat etwas zu tun mit Sicherheit industriellerProduktion. Deswegen müssen wir die Versäumnisseaus 17 Jahren nicht stattgefundener Energiepolitik – einVersäumnis ist, daß keine Alternativen entwickelt wor-den sind, jedenfalls in der Grundlast – Schritt für Schrittaufarbeiten. Da liegt der innere Zusammenhang, den ichzu verstehen bitte: daß wir mehr Zeit brauchen, als dereine oder andere sich vorstellt. Es ist nicht Unwilligkeitauf seiten der Regierung oder auf meiner Seite. Es istEinsicht in die Notwendigkeit, sich dafür Zeit zu lassen.Bekanntlich hat Einsicht in die Notwendigkeit auchetwas mit Freiheit zu tun.
– Von wem stammt das, Herr Fraktionsvorsitzender?
– Ich kenne es von Hegel, aber wir werden das nachprü-fen lassen. Ich kann aber auch Engels zitieren, damithabe ich kein Problem.
– Da ruft einer „Alter Juso“. Sie müssen sich schonüberlegen, was Sie mir vorwerfen wollen: Kontinuitätoder Wechselhaftigkeit. Für eines sollten Sie sich ent-scheiden.
Bevor ich etwas zu Europa und zu den außenpoliti-schen Fragen sage, will ich noch etwas zum „Bündnisfür Arbeit“ sagen. Wir haben vor, gesellschaftlichenKonsens für Reformmaßnahmen, die durchgreifenderNatur sind, herzustellen. Das folgt auch der Erkenntnis,daß ein Wahlsieg immer nur eine Momentaufnahme inder Gesellschaft ist und daß es insbesondere Aufgabeder Sieger ist, dafür zu sorgen, daß die Mehrheiten, diesie am Wahltag bekommen haben, als gesellschaftlicheBundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1523
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Mehrheiten dauerhaft zur Verfügung stehen. Das ist dieAufgabe, die sich uns stellt.
Das „Bündnis für Arbeit“ dient dazu, einen solchenKonsens in wichtigen sozialen, ökonomischen und steu-erpolitischen Fragen herstellen zu helfen. Es dient dazu,den Arbeitgebern wie den Gewerkschaften das Angebotzu machen: Laßt uns in dem Bündnis doch über diezweite Stufe einer Steuerreform reden! Die Unterneh-mensteuerreform muß kommen; das wissen wir doch.Laßt uns reden! Das ist ein Angebot, über die Frage zusprechen, wie sie ausgestaltet sein soll. Laßt uns – weildas gleichermaßen gemacht werden muß – darüber re-den, wie man im Zusammenhang mit der Unternehmen-steuerreform den Familienlastenausgleich, den zu regelnuns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat, an-geht!Das sind Probleme, zu deren Debatte und zu derenLösung ich insbesondere das „Bündnis für Arbeit“ ein-lade. Das ersetzt nicht die Entscheidungsnotwendigkei-ten im Parlament – das weiß ich sehr wohl. Es geht aberdarum, daß diejenigen im Bündnis, die bislang Kritik anVorschlägen üben, an denen sie nicht beteiligt waren,die Chance ergreifen, diesmal teilzunehmen. Im übrigengeschieht das schon in den Arbeitsgruppen beim Bun-desfinanzminister. Das wird vernünftige Ergebnisse ha-ben – zu einer Zeit, in der diese Ergebnisse gebrauchtwerden. Hierin liegt der Grund, warum ich den Betei-ligten am „Bündnis für Arbeit“ – angesichts vieler Er-klärungen, insbesondere auf Arbeitgeberseite – einesgerne öffentlich sagen möchte: Das „Bündnis für Ar-beit“ wäre falsch interpretiert, wenn man es als eine In-stitution betrachtete, der man entweder beitritt oder siewieder verläßt – je nachdem, wie man in der Tages- oderTarifpolitik abgeschnitten hat. Das ist nicht Sinn der Sa-che; das muß ich sehr deutlich sagen.
Wer ankündigt, nicht zu kommen – und das dannvielleicht auch nicht macht –, der darf sich anschließendnicht beschweren, wenn sich seine Interessen nicht sowiederfinden, wie er es gerne hätte.
– Das ist keine Drohung, das ist eine Feststellung. Dro-hen tun andere. Ich denke gar nicht daran, irgend etwaszu machen
in dieser Richtung.Es ist doch klar: Wer gebotene Teilhabemöglichkei-ten nicht nutzt, darf sich nicht beschweren, wenn ent-schieden wird, ohne daß seine Teilhabemöglichkeiteneingerechnet werden. Das ist doch der Punkt, um den esgeht.
Über eins bin ich mir im klaren: Dort wird über vielesoziale Themen geredet werden. Es ist auch schon gere-det und teilweise sogar entschieden worden. Denken Siean die Arbeitnehmerabfindungen! Dort wird auch überArbeitszeit geredet werden. Aber über eins – das klangbei Ihnen, Herr Schäuble, ein bißchen an – wird sicher-lich nicht geredet werden: über Einschränkungen beimStreikrecht. Auch das hat etwas mit einer freien Gesell-schaft zu tun, daß die Sozialpartner prinzipiell überKampfmaßnahmen – die ich nicht wollte und an derenVerhinderung ich mich beteiligt habe – verfügen.
Wer das Streikrecht – mit welchen Gründen auch immer– einschränken will – ich müßte sagen: weiter ein-schränken will –, der legt die Axt an eine Institution, dieDeutschland stark und erfolgreich gemacht hat, nämlichdie Tarifautonomie.
Über das, was wir mit der Veränderung des Staats-bürgerschaftsrechts verbinden, ist viel geredet worden.Ich will nur soviel hinzufügen: Ich finde es richtig, daßDeutschland ein Staatsbürgerschaftsrecht bekommt, dasvom alten Abstammungsprinzip weggeht.
Ich finde es richtig, daß Menschen, die in Deutschlandgeboren sind – in welcher Generation auch immer –, unddie Kinder dieser Menschen eine Chance erhalten, Deut-sche zu werden. Das finde ich richtig!
Ich weiß sehr wohl, daß wir veränderte Mehrheitenim Bundesrat zur Kenntnis nehmen müssen und daß wirdeswegen – dafür wird der Innenminister sorgen – einenGesetzentwurf vorzulegen haben, der das Ziel der Inte-gration, das wir nicht aufgeben werden, und zwar wederbei den Kindern noch bei den Erwachsenen,
mit dem verbindet, was Landesregierungen im Bundes-rat zu beschließen bereit sind.
Ich weiß sehr wohl, daß wir das beachten müssen. –Was das heißt, bekommen Sie mitgeteilt, wenn HerrSchily seinen Gesetzentwurf vorgelegt hat.
Ich habe jedenfalls nicht vor, diese Debatte mit Leutenzu führen, die hier im Deutschen Bundestag über Tole-ranz reden und auf den Straßen Deutschlands jeden An-satz von Toleranz kaputtmachen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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1524 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Wir haben dann Erstaunliches über Europa gehört,zum Beispiel ungeheuer Substantielles von HerrnSchäuble und noch mehr Substanz von Herrn Gerhardt.Das war nun wirklich ein Meisterstück.Schauen Sie, was gegenwärtig passiert. Der bayeri-sche Ministerpräsident sagt: Herr Bundeskanzler, Siemüssen bei den Verhandlungen zur Agenda 200014 Milliarden DM für Deutschland zurückbringen. – ImMonat, Herr Stoiber, oder im Jahr?
Herr Pflüger – ich glaube, er ist Mitglied Ihrer Frak-tion – sagt: besser gar nichts. Herr Lamers – Respekt,muß ich sagen – sagte im „Stern“, 1 Milliarde DM wäreauch schon eine Leistung. – Irgendwann müssen Sie sicheinmal entscheiden; denn zwischen 14 Milliarden und 0gibt es doch eine Differenz. Das hat etwas mit Substanzzu tun, Herr Schäuble. Ich sage das, um das deutlichwerden zu lassen.
Irgendwann müssen Sie entscheiden, was Sie wollen.Wollen Sie eine Politik, für die Herr Dr. Kohl stand undsteht, wirklich auf diese unmögliche Weise verschleu-dern, oder wollen Sie das nicht? Das ist die Frage, dieSie beantworten müssen und die Sie beantworten kön-nen;
denn soviel ist klar: Die Nettozahlerposition Deutsch-lands – 22 Milliarden DM netto mehr –, Herr Stoiber,habe doch nicht ich zu verantworten, sondern Ihre Leu-te. Sie haben das im Bundesrat immer feste mitbeschlos-sen.
– Ja, klar.Jetzt stellen Sie nach dem Motto „Haltet den Dieb!“solche Forderungen. Ich bestreite doch gar nicht, daßdas überall beschlossen worden ist. Das habe ich dochauch gesagt. Ich möchte jetzt aber keine Debatte überdie Verantwortlichkeiten der letzten 16 Jahre führen. Eswird jetzt eine demagogische Debatte – eine solche De-batte möchte ich nicht – darüber geführt, wie man das,was in 16 Jahren aufgehäuft worden ist, in einem halbenJahr deutscher Präsidentschaft abschaffen könnte. Dasist doch Ihre Forderung, mit der Sie sich auseinanderset-zen müssen.
Weil diese Europapolitik – für die es sogar guteGründe gegeben hat – über diesen Zeitraum hinweg imDeutschen Bundestag und im Bundesrat fast einhelligbeschlossen worden ist, läßt sie sich nicht in einem hal-ben Jahr ändern. Wenn überhaupt, dann nur unter Ein-schluß der Tatsache, daß wir einen einstimmigen Be-schluß fassen. Dazu brauchen wir mehr Zeit. Das ist derZusammenhang, den man sehen muß.
Es geht doch nicht nach der bayerischen Hauruck-Methode. Das ist doch eine Erfahrung, die man zumin-dest gemacht haben könnte. Wenn nur über einen länge-ren Zeitraum hinweg veränderbar ist, was verändertwerden muß, dann ist doch das, was ich dazu formulierthabe, nur unterstützenswert.Ich nehme zur Kenntnis: Vor dem Hintergrund Ihrereigenen Politik – ich nehme Herrn Stoiber aus – sind Siejedenfalls nicht der Auffassung, daß es möglich ist, diedeutsche Nettozahlerposition, die in 17 Jahren entstan-den ist, über Nacht auf Null zu bringen. Es ist im übri-gen weder möglich noch vernünftig.
Wenn wir uns da einig sind und Sie Herrn Stoiber sa-gen, daß seine 14-Milliarden-Forderung genauso Unsinnist, dann haben wir doch schon mal eine Basis für einevernünftige Europapolitik.
Aber bevor Sie ihm das nicht gesagt haben, stellen Siesich nicht hier hin und reden über einen Mangel an Sub-stanz bei anderen! Das ist Ihr Mangel an Substanz, derda deutlich wird, und kein anderer, Herr Schäuble.
Was werden wir bei der Agenda machen, und wasmüssen wir wirklich machen? – Bei der Agenda müssenwir zunächst einmal dafür sorgen – auch das geht nureinstimmig –, daß die Ausgaben nur noch real wachsendürfen. Reale Ausgabenkonstanz ist das, woran wirDeutschen – und nicht nur wir Deutschen – ein Interessehaben.
– „Bauernopfer“, das höre ich gerne. Das kommt vondenjenigen, die weniger Mittel nach Europa geben wol-len aber gleichzeitig die EU möglichst morgen erweiternund gleichzeitig den deutschen Nettobeitrag senkenwollen. Das ist vielleicht eine Politik; das müssen Siesich wirklich dreimal überlegen.
Wir müssen eine reale Ausgabenkonstanz durchset-zen, und das ist schon schwer genug; denn die Länder –ich will sie jetzt gar nicht alle nennen –, die zum Bei-spiel von den Kohäsionsfonds, von den Strukturfondsam meisten profitieren, sind die Länder, die im Zuge derVertretung ihrer nationalen Interessen sagen: Zu Hauseüben wir Stabilität, aber in Europa ist das nicht ganz sowichtig. – Das ist nicht die deutsche Position. Ich wäreschon dankbar dafür, wenn das gesamte Haus deutlichmachen könnte, daß die deutsche Forderung nach realerAusgabenkonstanz im Finanzierungszeitraum von 2000Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1525
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bis 2006 eine gemeinsame Position ist und daß diezweite gemeinsame Position ist, die Nettozahlerpositionnicht über Nacht zu beseitigen.
Das gelingt nicht. Gelingen aber kann, meine Damenund Herren, in den jetzt anstehenden Verhandlungendurchzusetzen, daß die Kurve der deutschen Nettozah-lungen nicht weiter nach oben geht, sondern im Finan-zierungszeitraum sinkt. Das ist unser Ziel. Ich bin ganzsicher, daß das überall in Europa verstanden wird.
Zu Ihnen, Herr Gerhardt – bevor Sie wieder laut wer-den –, nur noch soviel: Sie reden ziemlich unverant-wortlich davon, daß wir etwas gegen die Osterweiterunghätten.
Es ist falsch, was Sie da sagen. Gerade derjenige, derin der eben beschriebenen Weise dafür streitet, daß dieFinanzierung Europas in der Zeit von 2000 bis 2006 ge-sichert bleibt, daß sie rational ist, tut mehr für dieOsterweiterung als Sie durch Ihre flotten Sprüche.
Denn über eines müssen Sie sich im klaren sein: DieOsterweiterung hat sehr viel mit Finanzierbarkeit zu tun.
Das muß man einmal Herrn Stoiber sagen. Ich höreimmer wieder die Forderung, die Agenda müsse jetzt garnicht beschlossen werden – das hat er erzählt –, denn dasschade den deutschen Bauern. Aber auch da müssen Siesich entscheiden: Wenn die Agenda jetzt nicht beschlos-sen wird, dann können Sie doch nicht nach Ungarn fah-ren und sich da für Ungarns Beitritt zur EU stark ma-chen. Das paßt doch nicht zusammen; das ist doch keineverantwortliche Politik.
Die Agenda zustande zu bringen und einen fairenAusgleich der Interessen deutlich werden zu lassen istdie Basis dafür, daß die Osterweiterung zügig durchver-handelt werden kann, und nicht das Gegenteil. Wer überdie Agenda schimpft, wer erzählt, mit Rücksicht auf na-tionale Einzelinteressen dürfe die Agenda nicht be-schlossen werden, der sollte zumindest so ehrlich sein zusagen, daß er der eigentliche Gegner der Osterweiterungist, und den Leuten nichts anderes versprechen.
Wir haben vor, die Agenda im März abzuschließen,was schwer genug ist. Das hat viel damit zu tun, daß wirEuropa – auch für die Deutschen – bezahlbar halten,Europa für neue Mitglieder aufnahmefähig machen undEuropa solidaritätsfähig halten wollen. Das sind dieKernpunkte unserer Politik.Nun noch ein Wort zu der Interessenvertretung, diemir von Herrn Gerhardt vorgeworfen worden ist. Beidem Vorhaben, die Agenda zustande zu bringen, stelltman fest, daß in Portugal und Spanien gesagt wird, beiden Kohäsionsfonds dürfe sich nichts verändern. InFrankreich sagt man, eine Kofinanzierung in der Land-wirtschaft dürfe es auf keinen Fall geben.
– Nicht erst, seit ich da bin. Das geht schon ein bißchenlänger so; da können Sie ganz sicher sein. – Die Britensagen, sie wollten den Beitrag, den sie erkämpft hätten –Sie kennen Frau Thatcher, Herr Dr. Kohl –, auf jedenFall behalten. Alle anderen haben ähnliche nationaleInteressen. Als ich Herrn Gerhardt hier gehört habe,hatte ich den Eindruck, er verstehe die Interessen alleranderen Staaten, nur die deutschen nicht. Aber das istdoch nicht unsere Aufgabe, meine Damen und Herren.
– Natürlich, so haben Sie doch geredet: Sie verstehennur die Interessen der Deutschen nicht.
– Nein, ich habe jetzt wenig Zeit, weil der ägyptischePräsident gleich unser Gast ist. – Herr Gerhardt, nur diedeutschen Interessen haben Sie nicht erwähnt.
Dagegen halte ich es für richtig, den Partnern inEuropa verständlich zu machen, daß auch die Deutschenein Recht auf die Vertretung ihrer Interessen haben.
Inhalt meiner Politik ist es, klarzumachen, daß die Deut-schen selbstbewußt ihre Interessen vertreten,
dabei aber immer wissen – vielleicht sogar mehr als an-dere; darüber will ich aber gar nicht rechten –, daß ineinem einheitlichen Europa die eigenen Interessen nurim Respekt vor den Interessen der anderen durchgesetztwerden können. Nur darum geht es.
Ich möchte abschließend etwas zu dem sagen, wasuns heute und morgen beschäftigen wird, nämlich zuden Veränderungen in der Außenpolitik. Zu Anfangmöchte ich denjenigen meinen Dank sagen, die in Ram-bouillet verhandelt und dafür gesorgt haben, daß dieKontaktgruppe unter Einschluß von Rußland – das istBundeskanzler Gerhard Schröder
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1526 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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dick zu unterstreichen – eine gemeinsame Position zurSchaffung von Frieden in dieser gebeutelten Region her-stellen konnte.
Ich füge mit großem Respekt hinzu: Der deutsche Au-ßenminister hat einen großen Anteil daran.
Niemandem in der Regierung und auch niemandemhier im Haus – davon gehe ich aus – fällt es leicht, diesefundamentale Veränderung deutscher Außenpolitik ein-fach so zu beschließen; das wird auch von niemandemerwartet. Aber es haben sich nun einmal Veränderungenergeben, auf die wir reagieren müssen. Wir müssenpartnerschaftsfähig bleiben, und die Partner sehen dieVeränderungen genauso wie wir. Wir müssen in der La-ge sein, über Prinzipien, die uns in den letzten Jahr-zehnten wichtig gewesen sind und über die wir alle mit-einander, von unterschiedlichen Positionen kommend, inden letzten Jahren gestritten haben, unter verändertenBedingungen neu nachzudenken, zumal wir es nicht zu-lassen dürfen, daß sich das, was in Bosnien war, im Ko-sovo wiederholt.
In Bosnien mußten erst Hunderttausende sterben, bevordie Staatengemeinschaft die Kraft fand einzugreifen. In-halt dessen, was wir heute und morgen – ich hoffe, ingroßer Gemeinsamkeit – beschließen können und wollenist, genau das nicht wiederkehren zu lassen.Ich habe großen Respekt vor denjenigen, die fra-gen: Ist es angesichts der Geschichte des Zweiten Welt-krieges vernünftig, daß die Deutschen dabei sind? DieFrage, ob die Deutschen dabeisein sollen, kann manstellen, und es ist keine zynische Frage. Aber für michgilt, daß man diesen Satz auch umkehren kann: Geradewenn es historische Schuld in dieser Region gibt, kannman sie auch dadurch abtragen, daß man weiteres Mor-den verhindern hilft.
Meine Damen und Herren, wer die Bilanz zieht undwer sie fair zieht, der wird manches zu kritisieren fin-den, keine Frage. Aber wer hinter die vordergründigeKritik schaut und sich mit den Tatsachen auseinander-setzt, der wird sehen, daß bereits in den ersten drei, vierMonaten deutlich geworden ist,
daß wir dabei sind, Modernität mit sozialer Gerechtig-keit zu verbinden,
daß wir dabei sind, unter völlig neuen und anderen Be-dingungen in der Außenpolitik Kontinuität und Partner-fähigkeit zu beweisen. Weil das so ist, verehrte Opposi-tion: Bellen Sie ruhig, die Karawane zieht weiter.
Das Wort hat
jetzt der Herr Ministerpräsident des Freistaates Bayern,
Edmund Stoiber.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meinesehr verehrten Herren! Diese Regierung ist gut hundertTage im Amt. Ich weiß, daß nach so kurzer Zeit natür-lich noch keine umwälzenden konkreten Erfolge zu er-warten sind. Doch ich glaube, eines ist in der breiten Öf-fentlichkeit sehr deutlich geworden: Der Kurs der Bun-desregierung ist unklar, und soweit überhaupt etwas klarist, geht unseres Erachtens der Kurs in die falscheRichtung.
Herr Bundeskanzler, Sie müssen sich schon einmaldarüber im klaren sein: Wollen Sie eine gewisse Konti-nuität zur Regierung Kohl in verschiedenen Bereichenakzeptieren – das tun Sie verbal –, oder wollen Sie imGrunde genommen für alle Probleme, die heute vor allenDingen aus der Internationalisierung und der Globalisie-rung entstehen, einfach die 16 Jahre Helmut Kohl ver-antwortlich erklären? Das geht nicht zusammen.Die Probleme, die Sie heute haben – soviel will ichnur zur Vergangenheit sagen –, hatten wir in dieser Wei-se 1982 natürlich nicht. Ich erinnere mich noch sehr gutan das Scheitern der Regierung Schmidt und die be-rühmte Rede von Helmut Schmidt in der SPD-Fraktion,wo er klarlegte: Die sozialen Sicherungssysteme sindzerrüttet; mit euch sind keine Einschränkungen möglich;mit mir sind keine weiteren Schuldenerhöhungen mög-lich. – Das war das Scheitern der Regierung Schmidt.Das hat die Regierung Kohl in der Phase von 1982 bis1989 repariert. Das waren gute Jahre für die Bundesre-publik Deutschland. Das muß man deutlich sagen.
Danach kamen die spezifischen Probleme der Wie-dervereinigung. Ich will darüber nicht mehr sagen, alsdaß sie natürlich die Voraussetzungen für die gesamtePolitik verändert haben. Wir hätten sicherlich heute an-dere Staatsfinanzen, wenn wir die Wiedervereinigungnicht gehabt hätten. Ich bin allerdings froh und glücklichüber diese Wiedervereinigung. Sie verdanken wir nichtIhnen, sondern uns.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1527
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Wenn Sie sich nunmehr hier hinstellen und sagen:„Jetzt reden wir über die Zukunft. Wir haben in den er-sten hundert Tagen die soziale Balance wieder herge-stellt“, dann muß ich Sie, sehr geehrter Herr Bundes-kanzler, fragen, was Sie unter sozialer Balance verste-hen. Ich verstehe unter sozialer Balance eine Politik– wenn ich Ihre Worte im Wahlkampf und davor alsGrundlage heranziehe, dann muß ich feststellen, daß wirhier gleicher Meinung sind –, die Arbeit schafft. Wie dieArbeitslosigkeit bewältigt werden kann, ist neben vielenFragen, die sich uns stellen, die entscheidende gesell-schaftspolitische Frage, die wir zu lösen haben.Ich muß feststellen, daß der prognostizierte Rückgangdes Wachstums in den Jahren 1999 und 2000 nicht allei-ne auf die Entwicklungen in Asien und in Südamerikasowie auf die zu erwartenden Exportprobleme zurückzu-führen ist. Die Bundesbank sagt ganz eindeutig, daßnatürlich auch die hausgemachten Probleme – das nichtgelöste Problem der Steuerreform, Attentismus und dieTatsache, daß jeden Tag etwas Neues vorgeschlagenwird; darüber hat Kollege Schäuble ausführlich gespro-chen – dazu führen, daß zum Beispiel 60 Prozent der In-vestitionen im privaten Wohnungsbau gegenwärtig ge-stoppt worden sind. Auch die Industrie- und Handels-kammern in Deutschland gehen davon aus, daß zwi-schen 20 und 35 Prozent der für 1998 und 1999 geplan-ten Investitionen zunächst nicht stattfinden, weil IhreSteuerreform im Grunde genommen mittelstandsfeind-lich ist.
Deswegen sage ich Ihnen, sehr geehrter Herr Bun-deskanzler: Sie haben – das war für die meisten erstaun-lich – im Mai des letzten Jahres in der Sendung „Wasnun?“ gesagt: Der Rückgang der Arbeitslosigkeit istmein Aufschwung; allein meine Kandidatur bringt soviel Optimismus in dieses Land, daß jetzt investiertwird.
Diese Sätze muß man sich noch einmal deutlich vorAugen halten. Wenn ich jetzt den Anstieg der Arbeits-losenzahl sehe – auch wenn ich alle saisonalen Problemeherausrechne –, dann muß ich Ihnen sagen, daß der An-stieg der Arbeitslosigkeit und der Rückgang des Auf-schwungs angeblich Ihr Abschwung sind, Herr Bundes-kanzler, genauso wie es 1998 Ihr Aufschwung war.
Wir werden uns noch über die Folgewirkungen derökologischen Steuerreform unterhalten. Wir werden unsauch noch über die Diskussionen um die Kernenergiesowie über die dadurch verursachten Verunsicherungenund Verwirrungen unterhalten. Hier erlaube ich mir,eine Anmerkung von Ihnen aufzugreifen: Wenn Sie ar-gumentieren, daß ein – hoffentlich nie eintretendes –zweites Tschernobyl die Energiebasis der westlichenLänder zerstören würde, dann ist das ein ernstzuneh-mendes Argument, über das wir uns, Herr Bundeskanz-ler, auseinandersetzen müssen. Aber ich halte den Weg,den Sie eingeschlagen haben, nämlich den Ausstieg ausder Kernenergie auf diese Weise in einer zusammen-wachsenden Welt – fast kein anderer Industriestaat folgtIhnen in dieser Frage –, für völlig verkehrt. Sie müssensich darum kümmern, daß Mochovce, Temelin undKozloduj nachgerüstet werden. Die Bulgaren und dieRumänen steigen nicht aus der Kernenergie aus. Nichteinmal die Ukraine kann den Block abschalten, weil siesonst die Energiebasis ihres Landes zerstören würde.Vor diesem Hintergrund können Sie sich nicht hier hin-stellen und so tun, als würden Sie in einem Nationalstaatleben und als wenn es Sie nicht mehr zu interessierenhätte, was in der Welt außerhalb Deutschlands passiert.
Daß Sie als Bundeskanzler eines hochentwickeltenIndustrielandes, das in der Sicherheitstechnik von Kern-kraftwerken eines der Spitzenländer ist, die Anwendungder Kernenergie heute zurückfahren, während andereweiterhin Kernenergieanlagen bauen – wir haben 400Kernenergieanlagen in der Welt; gegenwärtig werden90 weitere geplant und gebaut, und zwar nicht mehr vondeutschen Firmen, sondern hauptsächlich von den Ame-rikanern, von Westinghouse, Framatome und vielen an-deren –, ist eine verhängnisvolle, falsche Politik, die unsmassiv Arbeitsplätze kostet. Sie haben in diesem Punktdie Mehrheit der Menschen nicht mehr auf Ihrer Seite.
Die Kernenergie macht nicht einmal 10 Prozent derEnergiebasis von Rußland aus. Ein solches Land könnteviel leichter und schneller als Länder wie Deutschland, dasmehr als ein Drittel seines Stroms aus der Kernenergiebezieht, aus der Kernenergie aussteigen. Sie wissen, daßder Süden Deutschlands sogar zwei Drittel seinesStroms aus der Kernenergie bezieht. Trotzdem steigtRußland nicht aus der Kernenergie aus; vielmehr baut esweitere Kernkraftwerke, weil es ohne diese Basis seinenEnergiebedarf nicht decken kann.Denken Sie an China. Ein Land mit 1,2 MilliardenMenschen, das den Sprung zu wirtschaftlichem Wachs-tum und Wohlstand schaffen will, baut genauso auf dieKernenergie. Und Sie glauben, Deutschland könnte bei-spielgebend sein, wenn es aus einer sicher beherrschba-ren Energie aussteigt? Sie machen einen ganz entschei-denden Fehler für Deutschland.
In bezug auf die Jugendarbeitslosigkeit möchte ichSie an Ihre frühere Verantwortung erinnern. In Ihrer frü-heren Verantwortung als Ministerpräsident von Nieder-sachsen hatten Sie in den letzten Jahren eine wesentlichhöhere Jugendarbeitslosigkeit als die süddeutschen Län-der zu verzeichnen. Ich habe Ihnen immer vorgeworfen,daß Sie mit Ihrer Landespolitik mit dazu beigetragenhaben.
– Wenn Sie „Unsinn“ schreien, dann sage ich Ihnen: DerBundeskanzler hat davon gesprochen, daß es auch dar-Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
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1528 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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um geht, die jungen Leute zu befähigen, einen anständi-gen Ausbildungsberuf zu ergreifen. Sie, Herr Bundes-kanzler, waren jahrelang Ministerpräsident des LandesNiedersachsen. Schauen Sie sich einmal die Bildungs-situation in Niedersachsen im Vergleich zu Bayern undBaden-Württemberg an!
Diese Probleme darf man nicht allein aus der ma-kroökonomischen Sicht der Bundesregierung sehen.Schauen Sie sich einmal an, wieviel Unterricht in Nie-dersachsen ausgefallen ist und ausfällt! Erklären Sieeinmal, warum Sie keine neuen Lehrer mehr eingestellthaben! Sie haben nicht einmal mehr alle freiwerdendenPlanstellen wieder besetzt. Jetzt stellen Sie sich als Bun-deskanzler hier hin und sprechen von Chancengerech-tigkeit bei Ausbildungsberufen, während Sie in Ihrerfrüheren Verantwortung in diesem Punkte nicht das er-reicht haben, was Sie nun als Ihr Ziel vorgeben.
Es war ja übrigens nicht ich, sondern Ihr ehemaligerStellvertreter und heutiger Nachfolger, der einmal inHintergrundgesprächen gesagt hat: Zieht ein bayeri-sches Kind nach Niedersachsen, dann muß es sich ersteinmal zwei Jahre lang hängen lassen, damit es denniedersächsischen Standard erreicht. Darin steckt, mei-ne sehr verehrten Damen und Herren, auch eine Ant-wort auf die Forderung, die Jugendarbeitslosigkeit ab-zubauen. Dazu brauchen Sie eine exzellente Ausbil-dung in den Schulen.
Wenn Sie sich – das ist mir schon gewaltig aufgesto-ßen – hier hinstellen und den Kollegen Schäuble und inbesonderem Maße mich für europapolitische Positionenangreifen, dann stellt sich für mich die Frage: Was wol-len Sie jetzt? Auf dem Saarbrücker Parteitag haben SieBundeskanzler Helmut Kohl massiv angegriffen und ge-sagt, er habe im Grunde genommen mit Scheckbuch-Diplomatie und mit offenen Kassen die Probleme Euro-pas gelöst.
Da seien Milliarden verbraten worden – „verbraten“ ha-ben Sie wörtlich gesagt –, und damit müsse endgültigSchluß sein. Ein paar Tage später versuchen Sie alsNachfolger von Helmut Kohl, mich bei Ihrer Rede beimAschermittwoch in Vilshofen in einen Gegensatz zu ihmzu bringen. Sie haben wörtlich gesagt: Man müsse sichschon einmal klarwerden, ob man der Politik Kohls folgtoder eine neue Politik macht.
Ich frage Sie: Was wollen Sie denn eigentlich für einePolitik?
So leicht, Herr Bundeskanzler, kommen Sie nicht da-von. Zu Ihren Ausführungen über die Frage der Agen-da 2000
sage ich Ihnen: Seien Sie nicht so hochmütig; Sie wer-den sich sicherlich auch noch daran gewöhnen müssen,daß man Ihnen widerspricht. Anscheinend sind Sie garnicht mehr gewöhnt, daß man Ihnen widerspricht.
Wenn Sie hier Wolfgang Schäuble und mir vorwer-fen, es sei unredlich,
eine erhebliche Senkung des Nettobeitrags der Bundes-republik Deutschland an die EU zu fordern,
dann möchte ich Ihnen darauf deutlich antworten: Sehrgeehrter Herr Bundeskanzler, Sie haben vorgetragen,daß wir einen Nettobeitrag von 22 Milliarden DM lei-sten, was ein Skandal wäre, wie Sie selbst sinngemäßgesagt haben. Aber Ihr Finanzminister hat sich zu den14 Milliarden DM – gemessen am Bruttosozialproduktnach Kaufkraftparität, was im Juni des Jahres 1997 dieMeßlatte der Finanzminister aller deutschen Länder ein-schließlich des niedersächsischen Finanzministers gewe-sen ist – selbst bekannt. Damals hatte die Finanzmi-nisterkonferenz festgestellt, daß der deutsche Haushaltum Zahlungen in Höhe von 14 Milliarden DM, wenn esgerecht zuginge, an die EU entlastet werden müßte. Dasist nicht meine Zahl, sondern diese Zahl stammt von denFinanzministern der Länder. Sehr geehrter Herr Bundes-kanzler, der Bundesrat hat sich am 28. November 1997
– Sie waren damals Ministerpräsident – den Finanzmini-sterbeschluß zu eigen gemacht. Jetzt können Sie alsBundeskanzler mir doch nicht Vorwürfe machen, wennich an Beschlüssen festhalte, die auch Sie mitgetragenhaben. Das ist doch unglaubwürdig.
Wenn ich an die geplanten gesetzlichen Regelungenzu den 630-Mark-Jobs und an viele Fragen der Atomno-velle denke, wird mir Ihr Vorgehen klar: einmal raus,einmal rein, wieder raus und wieder rein, aber keinerweiß, was los ist. In diesem Zusammenhang muß ich Siedaran erinnern, daß wir am 8. Juni letzten Jahres – dasist noch kein Jahr her – eine Sonderministerpräsidenten-konferenz hatten, bei der Herr Ministerpräsident Lafon-taine und Herr Ministerpräsident Schröder dabei waren.Auf dieser Konferenz gab es die einstimmige Auffas-sung der Ministerpräsidenten, die alten Beschlüsse derFinanzministerkonferenz zu bekräftigen. Ich halte es– mit Verlaub – für eine Unverfrorenheit, wenn Sie mirheute Vorhaltungen über das machen, was Sie selber mitMinisterpräsident Dr. Edmund Stoiber
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beschlossen haben, nämlich daß es am gerechtestenwäre, in Europa an unserem Anteil am Bruttosozialpro-dukt gemessen zu werden. Diesen Punkt will ich deut-lich herausstellen.
Ich will noch ein weiteres Beispiel für Unredlichkeitgeben. Bleiben wir beim Thema Europa, dem Sie einengroßen Teil Ihrer Rede gewidmet haben. In diesem Zu-sammenhang haben Sie große Versprechungen gemacht.Herr Bundeskanzler, die im Jahre 1991 in Edinburghbeschlossene Finanzierung habe ich niemals kritisiert.Ich habe die Beschlüsse vielleicht insofern kritisiert
– man wird doch über diese Fragen noch vernünftig mit-einander reden können –, daß ein Wohlstandskoeffizientzum Maßstab genommen wurde, der im Prinzip dem Zu-stand der alten Bundesrepublik Deutschland entsprach.Aber im Rahmen der Diskussion der letzten Jahre „Waspassiert im Jahre 1999, wenn die Beschlüsse von Eding-burgh auslaufen?“ haben wir frühzeitig, auch auf derMinisterpräsidentenkonferenz, unsere Position darge-stellt. Unsere Position war, daß sich unsere Situationgemessen am Wohlstandskoeffizienten in den Jahren1996 bis 1998 gegenüber anderen Ländern dramatischverändert hat. Wie soll ich denn den Menschen im Lan-de erklären, daß Luxemburg, Belgien oder gar Däne-mark Finanzausgleichsleistungen von uns bekommen,während wir Deutsche Probleme haben, unsere Aufga-ben im Inneren zu bewältigen? Unsere Bitte und Auf-forderung waren deshalb, daß die anderen Nationen un-sere Position akzeptieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ein Stück
mehr Glaubwürdigkeit täte Ihrer Politik und Ihrer Person
weiß Gott gut. Auf Dauer werden Sie die mangelnde
Glaubwürdigkeit nicht mit lockeren Sprüchen überspie-
len können. Die Probleme werden Sie mit Sicherheit
einholen.
Sie haben die Bauern genannt und in diesem Zusam-
menhang meine Reise nach Ungarn angesprochen. Ich
will kurz auf diesen Punkt eingehen. Herr Bundeskanz-
ler, der ehemalige Landwirtschaftsminister von Nieder-
sachsen und jetzige Bundeslandwirtschaftsminister hat
vor einem halben Jahr die Position der Regierung Kohl
und des damaligen Bundeslandwirtschaftsministers Bor-
chert zur Agenda 2000 mit einem „Nein, so nicht!“ voll
und ganz zurückgewiesen.
Ein halbes Jahr später nimmt er plötzlich die Be-
schlüsse im Rahmen der Agenda 2000 in toto als
Grundlage für seine Politik, obwohl er selbst die Aus-
wirkungen dieser Beschlüsse beklagt, nämlich daß zum
Beispiel 30 000 bis 40 000 Bauernhöfe in Deutschland –
vor allen Dingen in Süddeutschland – vernichtet wür-
den. Man kann dieses Problem nicht so bewältigen, wie
das mit der Agenda 2000 versucht wird; man kann nicht
die Bedingungen des Weltmarktes für die deutsche
Landwirtschaft akzeptieren, wenn in Deutschland ganz
andere Produktionsbedingungen auf Grund ökologischer
Erfordernisse bestehen, die man so zum Beispiel in
Amerika nicht findet. Daher muß man während der
Übergangsphase mehr Schutz für unsere Bauern fordern.
Ich freue mich, daß auch Sie den politischen Ascher-
mittwoch in Bayern entdeckt haben. Bei dieser Gele-
genheit haben Sie in Vilshofen zu den protestierenden
Bauern gesagt – Sie sind der Bundeskanzler; die Bauern
wollen deshalb Ihnen ihre Sorgen beschreiben –: „Was
wollt ihr eigentlich? Ihr habt doch die CSU oder die
CDU gewählt! Ich kann doch nicht in hundert Tagen all
das ändern, was eure alte Regierung versaubeutelt hat.“
– Es ist gut, daß da geklatscht wird. – Ich halte das für
einen absoluten Zynismus,
denn es geht nicht um die Vergangenheit, sondern es
geht darum, was morgen und übermorgen kommt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben in Ihrer SaarbrückerRede versprochen, daß Sie entscheidende Veränderun-gen der Agenda 2000 hinsichtlich der Strukturpolitik er-reichen, daß Sie in der Landwirtschaftspolitik einigesverändern und daß Sie in der Frage des Finanzbeitragesetwas ändern. Wir Deutsche sind durch die Agenda 2000– Entwicklung Europas von 2000 bis 2006 – wohl amallermeisten betroffen. Deswegen habe ich Ihnen gesagt:Es wird schwierig werden, all diese Probleme im Inter-esse Deutschlands und im Interesse Europas auf einenSchlag zu lösen. Ich habe Ihnen auch gesagt: Natürlichmuß die Agenda kommen. Die Agenda 2000 ist dieVoraussetzung für die Osterweiterung. Aber eine fal-sche Agenda 2000 wird natürlich keine Bereitschaft füreine Erweiterung Europas bringen.Ich bin im Krieg geboren und betrachte mich als derunmittelbaren Nachkriegsgeneration zugehörig. Natür-lich kann ich auf Grund meiner Kriegserlebnisse alskleines Kind beurteilen, welche enorme Leistung be-züglich der Integration Europas von Adenauer bis Kohlerbracht wurde.
Das ist doch gar keine Frage. Aber meine Kinder, dieden Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit nichtmehr erlebt haben, wollen Europa aus sich heraus be-gründet haben. Wenn Sie den Menschen in Deutschlanddie Probleme nicht erläutern und ihnen nicht Ihre Bereit-schaft zeigen, sich dafür einzusetzen, dann machen Sieeinen schweren Fehler für Deutschland und auch für dieweitere Akzeptanz der europäischen Integration, was ichfür außerordentlich schädlich halten würde.
Wir werden genau messen, was Sie erreichen. Ich binjedenfalls sehr skeptisch.Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
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1530 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Sie haben auf der Arbeitsebene im Zusammenhangmit der Förderung notleidender Betriebe in Deutschlandeiner ganz erheblichen Beschränkung der Souveränitätvon Entscheidungen auf Bundes- und auf Landesebenezugestimmt. Was bedeutet es denn, wenn sich FrauWulf-Mathies und die Europäische Kommission mit ih-rer Agenda in der Frage der Strukturförderung – einwichtiger Punkt der Agenda – durchsetzen? Es bedeutet,daß dann in verschiedenen Ländern, zum Beispiel inBaden-Württemberg oder in Bayern, künftig nichts mehrdurch europäische Mittel, aber auch nichts mehr oderfast nichts mehr durch Bundesmittel und schon garnichts mehr durch Landesmittel gefördert werden könn-te. Es kann doch nicht sein, daß ich als Ministerpräsidentden Menschen in Hof oder in Schweinfurt, wo esStrukturprobleme gibt, dann, wenn die Agenda 2000 sodurchkommt, wie sich Frau Wulf-Mathies das vorstellt,sagen muß: Es tut mir leid, ich kann euch nicht helfen,denn gemessen an der Estremadura in Spanien lebt ihr ineiner wunderbaren Situation. Ihr müßt euch gedulden,bis ihr in einer schlechteren Situation seid; vorher kannich euch nicht mit bayerischen Mitteln fördern.Das ist eine unmögliche Entscheidung, Herr Bundes-kanzler. Sie haben das als Ministerpräsident immergegeißelt. Deswegen wundere ich mich, daß die Bundes-regierung auch gegenüber der Kommission auf derArbeitsebene einknickt.
Wenn die Entscheidungen in der Agenda 2000, vondenen Deutschland betroffen ist und die schon am18. März 1998 gefallen sind, genuine deutsche Ent-scheidungen wären, wenn Sie also die politischen Ent-scheidungen, die der Agenda 2000 zugrunde liegen,noch in absoluter Souveränität entscheiden könnten,dann wäre im letzten Jahr hier im Bundestag und in deröffentlichen Diskussion einiges los gewesen. Darumgeht es: Wir brauchen eine öffentliche Diskussion überdiese europäische Innenpolitik. Das ist keine Außen-politik mehr. Das betrifft uns elementar.Wenn Strukturförderung in Bayern nicht mehr mög-lich ist und durch die Agenda 2000 innerhalb einigerMonate allein bei uns 30 000 landwirtschaftliche Betrie-be draufgehen mit Zigtausenden von Arbeitsplätzen,dann können Sie sich Ihr Bündnis für Arbeit letzten En-des hinter die Ohren kleben; denn Sie rufen durch fal-sche Entscheidungen massive Arbeitslosigkeit mit her-vor.
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung: Ich halte esschon für unverfroren
– das ist Ihre Bewertung –, die Bevölkerung in einer we-sentlichen Frage so zu diffamieren.
– Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werdenauch ohne Bundeskanzler weiterreden können.
Ich halte es für eine Unverfrorenheit, sich hier hinzu-stellen und den Integrationsbemühungen verschiedenerLänder und der geplanten Änderung des Staatsangehö-rigkeitsrechtes so zu begegnen, wie es geschehen ist.Ich sage Ihnen eines: Es gibt ganz wenige Länder – dazugehört mit Sicherheit nicht Niedersachsen –, nämlichzwei, und zwar Bayern und Nordrhein-Westfalen, dieinsgesamt tausend Lehrer allein dafür abstellen, denKindern aus der Türkei und Jugoslawien – oder wo im-mer sie herkommen – Deutschunterricht zu geben, sie anden Regelunterricht heranzuführen.Wir stellen 200 Lehrer ab, um den Kindern, wie esaußer in Nordrhein-Westfalen nirgendwo üblich ist,islamischen Ethikunterricht zu geben, und zwar nichterst jetzt, sondern schon jahrelang. Diese Lehrer werdenvon 24 ausgewiesenen Lehrern beobachtet. Sie achtendarauf, daß diese 200 Lehrer bei der Praktizierung desislamischen Ethikunterrichts in türkischer Sprache aufdem Boden des Grundgesetzes stehen.Wir in Bayern haben die geringste Ausländerkrimi-nalität, die geringste Zahl von Angriffen auf Ausländerund auch die geringste Ausländerarbeitslosigkeit.
Ich lasse mir doch nicht von dem Bundeskanzler, derMinisterpräsident eines Bundeslandes war, hier Vorhal-tungen machen. In welchen Ländern, in denen die jetzi-gen Mitglieder der Bundesregierung früher Verantwor-tung trugen, gibt es denn einen islamischen Ethikunter-richt? Wo gibt es denn da Integrationsbemühungen?Nein, Ihre Koalitionsvereinbarung war es, die unsaufgeschreckt hat,
Ihre Absicht, die Staatsangehörigkeit mehr oder we-niger allein an dem achtjährigen legitimen Aufenthalt indiesem Lande festzumachen. Ich war froh, Herr Schily,daß Sie selber in einem Interview der „SüddeutschenZeitung“ deutlich gemacht haben: Ja, das bedeutet in derTat die Hinnahme der generellen doppelten Staatsange-hörigkeit. Das ist in der Tat eine epochale, eine histori-sche Entscheidung. Sie haben gesagt, das sei eine Ver-änderung des allgemeinen Staatsverständnisses.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Ministerpräsi-
dent, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich halte es jetzt wie der Bundeskanzler, meinesehr verehrten Damen und Herren.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1531
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Die Hinnahme der generellen doppelten Staatsange-hörigkeit ist eine wichtige Detailfrage für weitere Inte-grationsbemühungen und die Reform unseres Staatsan-gehörigkeitsrechts. In dieser wichtigen Detailfrage ha-ben wir schon immer eine fundamental andere Auffas-sung als die Grünen und die SPD gehabt. Aber solch ge-ringe Voraussetzungen für den Erwerb der deutschenStaatsangehörigkeit, wie sie in der Koalitionsvereinba-rung festgeschrieben sind, habe ich noch nie von IhrerSeite gehört.Deswegen war es notwendig, Fragen zu stellen: Wasist mit den Parallelgesellschaften? Was passiert im Be-reich des Nachzugs? Das ist nicht damit gelöst, HerrSchily, daß Sie sagen, es handle sich um ein paar hun-dert, während der Gemeindetag und der Städtetag, diedas dann bezahlen müssen, sagen: Es ist mit 600 000 bis800 000 Zuzüglern zu rechnen. Sie können von mir ausdas 630-Mark-Gesetz schlampig angehen. Das sindWirkungen, die man später korrigieren kann. Aber dieSchlampigkeit, mit der Sie Änderungen in bezug auf dasStaatsangehörigkeitsrecht vornehmen wollten, will dieMehrheit des Volkes in Deutschland nicht.
Erlauben Sie mir gerade im Zusammenhang mit derEntwicklung des Prozesses gegen Öcalan und all dem,was damit zusammenhängt, noch ein Wort zur innerenSicherheit in unserem Lande zu sagen. Ich will michauf einen Punkt konzentrieren und alles andere unter-streichen, was Wolfgang Schäuble in diesem Zusam-menhang gesagt hat. Ich frage mich schon, welchenKurs die Bundesregierung in dieser Frage hat, wenn In-nenminister Schily öffentlich fordert, gegen die Ge-walttäter in Deutschland mit Entschiedenheit und Härtevorzugehen,
die Ausländergesetze, wenn nötig, zu verschärfen unddie Möglichkeiten der Abschiebung von gewalttätigenKurden zu erweitern.Ich war selber einmal Innenminister. Ich habe in denJahren 1992 bis 1995 über all diese Forderungen zu-sammen mit dem Kollegen Schäuble im Bundestag undim Bundesrat diskutiert. Wir sind in dieser Frage auf denerbitterten Widerstand von seiten der Grünen und derSPD gestoßen. Es ist schon bemerkenswert: Es mußimmer erst ein fürchterliches Ereignis eintreten, damitSie zu notwendigen Korrekturen im Interesse des inne-ren Friedens in unserem Land bereit sind.
Was soll ich von Ihren Ankündigungen halten, Aus-ländergesetze, wenn nötig, zu verschärfen und die Mög-lichkeiten der Abschiebung von gewalttätigen Kurdenzu erweitern? Vorgestern fand das Treffen der zuständi-gen Staatssekretäre von Bund und Ländern statt. DerStaatssekretär des Bundesinnenministers hat zur glei-chen Zeit, als Sie das öffentlich angekündigt haben, kei-nerlei Bereitschaft zur Änderung des entsprechendenGesetzes im Hinblick auf eine Erleichterung der be-schleunigten Ausweisung und auf eine Abschiebung vonGewalttätern gezeigt und die Ankündigungen als wenighilfreich bezeichnet.
Ich halte es wiederum für ein Wesensmerkmal IhrerPolitik, draußen groß zu reden und irgendwelche An-kündigungen zu machen. Dann aber, wenn es um diekonkrete Umsetzung geht, ziehen Sie – aus welchenGründen auch immer – den Schwanz ein, wenn ich daseinmal so brutal sagen darf.
Leider ist der Bundeskanzler nicht mehr anwesend.– Ich respektiere, daß er einen Termin mit einer auslän-dischen Delegation hat. – Er wird sich dieser Auseinan-dersetzung nicht entziehen können. Vielleicht ist es ihmunangenehm, das anzuhören, was er hier hören muß.
Der ehemalige Ministerpräsident des Landes Nieder-sachsen
hat im Juli 1997 in einem Interview der „Bild am Sonn-tag“ vollmundig erklärt – ich zitiere wörtlich aus diesemInterview, das Fragen der inneren Sicherheit behandelte –:Wer unser Gastrecht mißbraucht, für den gibt esnur eins: raus, und zwar schnell!
Dann gab es in Teilbereichen der Wählerschaft derUnion Respekt vor dieser Aussage von seiten des HerrnSchröder. Ich habe als Ministerpräsident versucht, dieseAussage in der zweiten Kammer, im Bundesrat, eini-gungsfähig zu machen. Siehe da, es war nicht mehr eini-gungsfähig, was öffentlich gefordert worden ist. HerrSchily, Sie wissen, daß eine ganze Reihe von Verände-rungsvorschlägen vorliegt. Nichts ist passiert.Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, dieBevölkerung verbal zu beruhigen und nichts zu ändernund dann, wenn plötzlich Probleme auftreten, wiederumverbal zu beruhigen. So kann man Deutschland nicht re-gieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchteauch noch einen anderen Punkt ansprechen, den HerrStruck und auch der Bundeskanzler angesprochen ha-ben. Es kommen immer wieder in der Frage der Kern-energie die Vorwürfe, wir wären nicht bereit, Lasten zuübernehmen.
Ich will Sie nur daran erinnern, daß die Wiederaufar-beitungsanlage in Wackersdorf nicht von der Bayeri-schen Staatsregierung gekippt worden ist, sondern vonder Energiewirtschaft selber. Wir waren bereit, schwer-ste Auseinandersetzungen durchzustehen und einen gro-Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
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1532 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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ßen Teil der Entsorgung der deutschen Kraftwerke zuübernehmen.
Herr Struck, wenn Sie uns vorwerfen
– das würde ich so locker nicht sagen –,
wir würden uns hier unserer Verpflichtung entziehen,
dann sage ich Ihnen: Geben Sie uns das Recht – dannkönnen wir sofort darüber reden –, nicht nur über dieEntsorgung, sondern auch über die Energieversorgungeigenständig in den Ländern zu entscheiden. Wenn ichdiesen Bundestag dazu nicht mehr bräuchte und in Bay-ern die Energiebasis selber bestimmen könnte, dannwürde ich sie anders bestimmen, als das heute der Fallist. Aber Sie können nicht sagen, daß wir die Entsorgungübernehmen sollten. Dazu haben Sie sich vertragsmäßigim September 1979 verpflichtet; dieser Vertrag ist nochnicht aufgekündigt, er ist noch nicht gelöst.
Statt politischer Führung und Gestaltungskraft bietetdie Bundesregierung eine parteipolitisch motivierte Be-handlung der süddeutschen Länder. Ich möchte jetzteinen Punkt ansprechen, bei dem ich die Kritik der baye-rischen SPD vermisse, die sich hier sozusagen nurstramm vor jenen verbeugt, die in Bonn die Verantwor-tung tragen.
– Sie erwecken den Eindruck.Ich beziehe mich jetzt auf die Aussage des Herrn Fi-nanzministers, die ich im „Spiegel“ gelesen habe – Siehaben sie leider nicht widerrufen oder korrigieren lassen –,so ungefähr nach dem Motto: Bringt mir doch Projekteaus Bayern, bei denen ich kürzen kann. – Ich halte das,Herr Bundesfinanzminister, für eine Unverschämtheitgegenüber der Bevölkerung in Bayern.
Der Bundeskanzler hat am Aschermittwoch erklärt:Wenn Stoiber nicht lernt, bekommen die Bayern Steinestatt Brot. Die „Süddeutsche Zeitung“ kommentiert die-se Entgleisung – jetzt zitiere ich –: Das ist eine durchden Amtseid nicht gedeckte Drohung; bereits der Ver-such wäre strafbar.
Begreifen Sie sich etwa nur noch als eine Regierung be-stimmter Regionen? Solange Sie die Bundesregierungstellen, haben Sie für ganz Deutschland die Verantwor-tung zu tragen.
Ich muß Sie, Herr Lafontaine und Herr Fischer, ja auchertragen, obwohl SPD und Grüne bei weitem nicht dieMehrheit der zwölf Millionen Einwohner Bayerns ha-ben. Ich erwarte dann natürlich auch, daß Sie Bayernund Baden-Württemberg fair behandeln, wie das auchIhr Vorgänger unter umgekehrten Vorzeichen getan hat.
Diese Bundesregierung
und ihre Politik
sind weit weg von der Bevölkerung. Das werden Sienoch feststellen, vor allen Dingen bei den nächstenWahlen. Am 13. Juni entscheidet die deutsche Bevölke-rung über den europapolitischen Kurs der CDU undCSU und der SPD. Natürlich spielt hier auch die Politikder Bundesregierung eine ganz besondere Rolle. Ichschaue diesem 13. Juni – genauso wie WolfgangSchäuble – mit großem Optimismus entgegen. Sie wer-den noch mehrere Hessen erleben – das sage ich Ihnenvoraus –, wenn Sie diese Politik weiter betreiben.
Nach hundert Tagen rotgrüner Regierung kann mannur festhalten: Das war kein Aufbruch. Ich habe es Ih-nen erspart, aus dem Hundert-Tage-Programm derSPD vorzulesen, das Sie als Partei am 20. August desJahres 1998 beschlossen haben, in dem Sie festgehaltenhaben, was Sie in den ersten hundert Tagen alles ma-chen werden. Ich stelle anheim, einmal nachzulesen,was da alles versprochen worden ist.Sie machen sich Gedanken über die Frage derGlaubwürdigkeit der respräsentativen Demokratie. AberSie schaden der Glaubwürdigkeit dieser repräsentativenDemokratie, wenn Sie ein schnelles Wort in die Weltsetzen, es dann korrigieren oder hoffen, daß die Leutedieses Hundert-Tage-Programm vergessen haben, undSie nicht an dem, was Sie versprochen haben, sondernnur an minimalen Ergebnissen messen.Wenn Sie sich den wirklichen HerausforderungenDeutschlands stellen würden und sich den tatsächlichenProblemen unseres Landes und seiner Menschen wid-men würden, wenn Sie ideologiefrei und zukunftsorien-tiert eine Politik für Wachstum und Arbeitsplätze ma-chen, dann werden Sie auch in den Unionsparteien einekonstruktive Opposition finden. Aber diese Bundesre-gierung muß die Themen der Bürger auf die Tagesord-nung der Politik setzen – das, was die Menschen bewegt,die Befindlichkeit von Herrn und Frau Jedermann, diebei Teilen von Ihnen anscheinend keine Rolle mehrspielen. Deswegen beschimpfen Sie die Menschen, diesich in den Unterschriftslisten eintragen. Wie kommenSie eigentlich dazu, diese Menschen als „braune Flut“,als „Bodensatz“, als „rechtsradikalen Sumpf“ zu be-zeichnen?
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1533
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Wir werden alles daransetzen, die SPD an ihren Ver-sprechungen zu messen. CDU und CSU jedenfalls wer-den ihren Anteil daran nehmen, zu versuchen, Rotgrünals eine Episode in der Geschichte der BundesrepublikDeutschland erscheinen zu lassen.Herzlichen Dank, meine Damen, meine Herren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, die Parlamentarischen Geschäftsführer
haben sich interfraktionell darauf geeinigt, die Ausspra-
che zum Etat des Bundeskanzleramtes hiermit auszuset-
zen.
Ich rufe deshalb jetzt den Etat des Bundesministeri-
ums des Auswärtigen auf und erteile zunächst dem Bun-
desminister Joseph Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Stoi-ber, das war laut. Aber außer dem Schrei nach Subven-tionen, außer der Mobilisierung von Vorurteilen, außereinem weinerlichen Wehklagen darüber, daß Bayern an-geblich benachteiligt werde, habe ich zur Sache relativwenig gehört.
Respektive dort, wo Sie zur Sache gesprochen haben –ich will gleich ausführlich auf die Agenda 2000 einge-hen –, kam nicht viel.Ich hätte es begrüßt, wenn der bayerische Minister-präsident – der meint, er gehöre mittlerweile zu den Ver-folgten – jetzt, nachdem es ihm gelungen ist, Theo Wai-gel aus dem Amt des CSU-Vorsitzenden zu hieven, die-se Geste der Solidarität, die er einklagt, einmal gegen-über den Menschen in den neuen Bundesländern gezeigthätte.
Aufkündigung des Finanzausgleichs durch die CSU,Aufkündigung der gemeinsamen Sozialversicherung –das ist die Sprache, die die CSU dann spricht, wenn siesich stark fühlt. Wenn sie sich schwach fühlt, dann stelltsie sich hierhin, beschwert sich und weint herum, sie be-komme keine Subventionen mehr. Das ist Edmund Stoi-ber pur.
Dazu kann ich nur sagen: Vor einer solchen Politik mö-ge uns ein gütiges Schicksal bewahren.Daß Sie, Herr Stoiber, hier heute morgen den Zwei-kampf der Oppositionsführer in der Auseinandersetzunginnerhalb von CDU und CSU betrieben haben, ist zu ak-zeptieren. Daß Sie, Herr Schäuble, hier heute unter demBanner, es müsse Substanz kommen, eine Politik desgrassierenden Gedächtnisschwundes hinsichtlich Ihrereigenen 16 Jahre Regierungszeit dargeboten haben, ha-ben Sie mit Herrn Stoiber sogar gemeinsam.Aber gestatten Sie mir, daß ich hier in aller Ausführ-lichkeit auf den europapolitischen Teil eingehe; denndaran wird die ganze Widersprüchlichkeit und, wie ichfinde, auch die Durchsichtigkeit, die SubstanzlosigkeitIhrer Position klar. Ich frage mich, was in Bundeskanz-ler a. D. Dr. Helmut Kohl bei Ihrer Rede vorgegangensein muß. Theo Waigel hat sich den Schmerz erspart,Sie anzuhören; denn vermutlich wäre es für ihn nochschlimmer geworden.
– Dann habe ich seine Leidensfähigkeit unterschätzt.Das gebe ich ganz offen zu.
Ich möchte bei diesem Punkt wirklich zur Sachesprechen. Daß Sie nach 16 Jahren CDU/CSU-Regierungdie Stirn haben, ein Papier zu verabschieden, wonach eseine Reduzierung des deutschen Nettobeitrages gebensoll – 14 Milliarden DM bei Stoiber oder 7 MilliardenDM, wie von anderen zu hören war –, ist eine Verab-schiedung von der Politik Helmut Kohls, für die derBundeskanzler a. D. Helmut Kohl hier immer eine weitüber das Regierungslager hinausgehende Mehrheit hatte.
Ich kenne mich mit Fundis in unserer Partei wirklichaus. So, wie ich Sie, Herr Stoiber, heute erlebt habe,kann ich nur sagen: Sie sind wirklich ein Fundi.Ich hatte jüngst den Besuch eines ehemaligen Mi-nisterpräsidenten eines EU-Mitgliedslandes. Dieses Landhat sehr enge Wirtschaftsbeziehungen mit Bayern. Ichsagte ihm, ich hätte nie verstanden, warum Stoiber alsbayerischer Ministerpräsident gegen den Euro ist undwarum er dagegen ist, daß Deutschland Mitglied derWährungsunion wird, wenn der Euro kommt – wasdurch die historische Entscheidung von Helmut Kohlklar war. Dazu sagte er, das habe er sich auch gefragt. Ersei deshalb auch nach München gefahren, habe sich mitdem bayerischen Ministerpräsidenten getroffen und mitihm geredet. Der bayerische Ministerpräsident habe ge-sagt, er müsse das aus innenpolitischen Gründen so ma-chen, weil er eine Partei rechts von der CSU verhindernwolle.Mit der Sache hat das nichts zu tun. Das ist das Mo-bilisieren von Emotionen und somit reine Parteipolitik.
Das war Ihr Beitrag zur Agenda 2000. Statt dessenhätten wir hier einen überparteilichen Konsens findenmüssen, der realisierbar ist. Sie wissen nur zu gut, daßdas, was Sie – auch in Ihrem gemeinsamen Papier – vor-schlagen, nicht realisierbar ist.
– Ihre Meßlatte können Sie sich sonstwo hinhängen. Dasinteressiert mich nun weiß Gott nicht. Ihre Meßlatte isteine innerparteiliche Meßlatte in der Auseinanderset-Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
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1534 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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zung mit Herrn Schäuble und der CDU; das ist mir völ-lig klar.
– „Meßlatten-Stoiber“, meinetwegen. Sie geraten mehrund mehr zur Inkarnation der Meßlatte in der Europapo-litik. Entsprechend sieht das dann auch aus.Ich empfehle Ihnen wirklich einmal eine Reise nachParis. Im CDU-Papier steht, wir sollten einen50prozentigen nationalen Finanzierungsanteil bei dendirekten Einkommensbeihilfen, der sogenannten Ko-finanzierung, erreichen. Wie Sie das einstimmig, imEinvernehmen mit unserem französischen Partner,durchsetzen wollen, weiß ich nicht. Um das durchzu-setzen, helfen Ihnen auch fünf Wallfahrten nach Altöt-ting nicht. Sie wissen so gut wie ich, daß das gegen-wärtig völlig illusionär und irreal ist. Sie verkünden eshier dennoch.Das Kuriose ist dann, daß Edmund Stoiber auf deranderen Seite nicht bereit ist zu liefern. Was fordert EdiStoiber? – Da stellt er sich hin – in äußerster Konsistenz;er ist ja ein Einser-Jurist, deswegen sind die Deduktio-nen astrein – und fordert, wir sollten eine entsprechendeReduzierung von den Franzosen verlangen. Gleichzeitigaber sagt er: Rührt mir die bayerischen Bauern nicht an!– Wenn Sie von den anderen schon etwas wollen, dannwerden Sie denen auch sagen müssen, wo Sie bereitsind, Kompromisse zu machen, verehrter Herr Minister-präsident.
Kompromisse sehen eben nicht so aus wie am Ascher-mittwoch in Passau, wo einer drei Stunden lang vonoben etwas verkündet und schreit und die anderen dazuBeifall klatschen. So funktioniert das in der Europäi-schen Union nicht. Lassen Sie sich das einmal von Hel-mut Kohl berichten! Da geht es in der Tat anders zu.
Der große Europäer Stoiber ist voller Heiterkeit.Noch unter dem Eindruck der Faschingskampagne warer in Ungarn. Wenn Edmund Stoiber eine Reise tut,sozusagen nach der Maßgabe: nur so weit wie die Ent-fernung von München nach Passau im Quadrat, dannnimmt seine europäische Orientierung zu, und zwar umso mehr, je weiter er weg ist. Er hat also Budapest be-sucht. Nun weiß er so gut wie ich, daß die drängendsteFrage in Budapest lautet: Wann werden wir Mitgliedder Europäischen Union? Dort will man alles dafür tun,daß das so schnell wie möglich geschieht. Wenn wir,die wir hier sitzen, Politikerinnen und Politiker in Po-len, Ungarn, Tschechien oder wo auch immer wären,würden wir genauso denken. Es geht dabei nicht nurum Ökonomie, nicht nur um Geld, nicht nur um einengemeinsamen Markt, nicht nur um den gemeinsamenWohlstand, sondern darum, daß diese Länder nie wie-der alleine auf der falschen Seite Europas stehen wol-len. Sie haben – wie auch unsere ostdeutschen Mitbür-gerinnen und Mitbürger – 40 Jahre die Zeche für unsalle bezahlt. Deshalb habe ich für ihre Haltung vollstesVerständnis.
Herr Stoiber, eines werfe ich Ihnen vor: Sie sind zu-tiefst unseriös. Sie reden mit doppelter, mit gespaltenerZunge.
Keiner weiß das so gut wie Theo Waigel, denn der hates auszubaden gehabt. Bei einer Rede im Jagdsaal desParlaments in Ungarn waren Sie voller Versprechungen,was die Osterweiterung betrifft. Ja, Sie waren sogarvoller Humor. Er ist ja durchaus zu Humor fähig, wennauch zu unfreiwilligem.
Die Ungarn haben das nur nicht gemerkt. Als ich dasgelesen habe, habe ich fast den Kaffee über den Früh-stückstisch geprustet, denn ich dachte: Na, was einSchlitzohr, unser Edi!
Ich zitiere die „FAZ“, die ja nicht in Verdacht steht,Ihnen nicht wohlgesonnen zu sein:Erst mit dem Beitritt der Reformstaaten Mittel- undOsteuropas auch zur EU werde diese ihrem Namenund ihrer Zielsetzung gerecht.Richtig; da stimme ich Ihnen völlig zu.Die bayerische Staatsregierung habe sich seit je alsVorkämpferin für die Ost-Erweiterung gesehen.
Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen las-sen!Stoiber schloß mit den Worten, die EU braucheUngarn, ohne freilich zu sagen, bis wann.Jetzt betrachten wir einmal seine Position zur Agenda2000.
– Ich war immer für den Euro. Wir hatten einen breitenüberparteilichen Konsens; wir haben als Opposition diePositionen der damaligen Bundesregierung, die Positio-nen von Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundes-außenminister Kinkel unterstützt.
– Ich schlage vor, Sie sollten einmal nachschauen. Ichhabe mich dafür eingesetzt, weil ich diesen Europakursim Interesse Deutschlands für alternativlos halte, meineDamen und Herren.
Bundesminister Joseph Fischer
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Die Positionen, die Sie vertreten – –
– Ebensowenig, wie es zulässig ist, von der Regierungs-bank Zwischenrufe zu machen – auch wenn mich dasselbst juckt –, ist das für die andere Seite des Hauses,Herr Stoiber, zulässig.
Aber ich habe nichts dagegen.
– Warum geben wir 60 Milliarden DM dazu?
– Regt euch nicht auf! Ich liebe Zwischenrufe, vor allemvon Edmund Stoiber.Herr Stoiber, es ist doch nicht die neue rotgrüne Bun-desregierung, die das Geld gibt. 16 Jahre hat doch eineandere Mehrheit die Verantwortung getragen, unter an-derem die CSU. Das müssen Sie endlich einmal wissen.
– Ach, die Kommission! Die Beschlüsse sind alle im Ratgefaßt worden.
– Herr Stoiber, ich komme zu Ihrer These zur Agenda2000. Sie sagen, Sie seien für eine schnelle Osterweite-rung, das sei nach dem Euro der zweite historischeSchritt, den wir leisten müßten. Ich appelliere an unsereLandsleute: Lassen Sie sich nicht von nationalen odergar nationalistischen Tönen – egal, ob von rechts odervon links – in die falsche politische Ecke locken! Dennwenn das Projekt „Europa“ stockt oder gar scheitert,wird die Bundesrepublik Deutschland derjenige Staatsein, der am meisten zu verlieren hat – und zwar nichtnur materiell, sondern auch politisch, kulturell und inbezug auf unsere Sicherheit.
Deswegen sind diese ganzen Rechnungen – das sage ichunseren Landsleuten – falsch.Schauen Sie sich an, wie viele Arbeitsplätze in Bay-ern, in Nordrhein-Westfalen und anderswo in Deutsch-land von Europa abhängen. Was wir in Form vonStrukturhilfen und über den Kohäsionsfonds in die süd-lichen Länder geben, wirkt auf die Entwicklung dort po-sitiv und gleichzeitig auf unsere Arbeitsplätze. FragenSie doch einmal, wer die U-Bahn in Athen und andereInfrastrukturprojekte baut und wie viele Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer mit ihrem Inlandsarbeitsplatzdavon abhängen! Sie wissen das nur zu gut, Sie sagen esaber nicht, weil Sie die nationale Flöte spielen wollen,Herr Stoiber.
– Warum ich so schreie? – Ich tue das, weil mich HerrStoiber in diese Tonhöhe gebracht hat. Er hat mir 30Minuten lang die Ohren abgeschrien. Ich bin gern bereit,sofort herunterzukommen.Sie meinen, wir sollen die Agenda 2000 möglichstschnell, aber auch realistisch – das heißt: finanzierbar –machen. Gleichzeitig wollen Sie die Strukturreform biszum Jahre 2002. Diese halten wir ebenfalls für dringendgeboten; deswegen schlagen wir eine Regierungskonfe-renz bis 2001 vor und wollen diese bei dem Europäi-schen Rat in Köln zum Abschluß underer Präsident-schaft einleiten. Ich hoffe, das findet Ihre allergnädigsteZustimmung; aber ich nehme an, Sie werden auch daranetwas zu kritisieren haben. Wenn die Agenda 2000 alsoin der Tat die Voraussetzung für die Erweiterungsfähig-keit ist – das entnehme ich dem Papier der CDU/CSU –,
können Sie mir dann mit der Logik des Einser-Juristenerklären, warum Sie jetzt für die Verschiebung plädie-ren, und zwar mit dem Argument, daß wir während un-serer Präsidentschaft unsere nationalen Interessen nichtdurch- und umsetzen können, weil wir auf Ausgleichsetzen müssen?Spätestens da muß Helmut Kohl die Ohren aufDurchzug stellen, oder er hält es nicht mehr aus. DieTerminplanung für die Agenda 2000 ist doch in ver-schiedenen Sitzungen des Europäischen Rates, an denenHelmut Kohl und Theo Waigel teilgenommen haben,beschlossen worden. Das war doch nicht unsere Be-schlußlage. Wenn Sie sich jetzt, Herr Stoiber – das ha-ben Sie hier mehrmals gesagt –, hinstellen und sagen,mir paßt der Kurs der Agenda 2000 nicht mehr – so ha-ben Sie das vor einigen Jahren in einem Interview in der„Süddeutschen Zeitung“ gesagt, und Sie haben das in Ih-rer letzten Rede in der alten Legislaturperiode schoneinmal klar herausgearbeitet –, weil Sie die Osterweite-rung so lange wie möglich hinauszögern wollen – dassteckt dahinter –, dann steht hinter der Vertagungsforde-rung nichts anderes als entweder nationaler Egoismusoder, noch schlimmer, eine Vertagung der Beitrittsmög-lichkeiten für die mittelosteuropäischen Länder.
Genau das ist es, was Sie in Ihrem kleinbayerischenEgoismus wollen. Wenn man sich Ihre Rede anhört,kann man das sehr gut heraushören.
Sie werfen mir vor, ich hätte etwas gegen die süd-deutschen Länder. Ich habe etwas gegen die CSU, aberBundesminister Joseph Fischer
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ich achte sie als politischen Gegner und als eine demo-kratische Partei mit einer großen Tradition, die jetzt lei-der in die Hände von Leuten gerät, die, wie ich finde,auch im Rahmen dessen, was ich beim politischen Geg-ner akzeptiere, zu Instrumenten greifen, um die Machtzurückzuerobern, die ich für verwerflich halte.
– Lassen Sie sich das doch von einem alten Steinewerfersagen, der weiß, wohin es führt, wenn man in die falscheRichtung geht! Lassen Sie sich das doch einmal sagen.
Daß man da ein paar Kämpferqualitäten mitbekommt,darauf können Sie sich verlassen.Ich kann Ihnen, Herr Stoiber, nur sagen: Was ichIhnen bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtsvorwerfe, ist nicht, daß Sie eine völlig andere Positionhaben. Was ich Ihnen bei der Debatte über den Doppel-paß vorwerfe, ist nicht, daß Sie meinen, er wäre derUntergang des deutschen Volkes, unserer Identität. Dasist meiner Meinung nach Unsinn. Was ich Ihnen vorwer-fe, ist Ihre Kampagne, die etwas völlig anderes mobili-siert.In Hessen hatten Sie damit Erfolg. Ich muß nur in dieCDU hineinhören. Sie hatten den Erfolg, die Wähler-schaft zu mobilisieren. Unsere Leute, die dort waren undzugehört haben, haben mir erzählt, das ging nach derDevise „Wo kann man hier gegen Ausländer unter-schreiben?“ Genau das finde ich schlimm. Das sollte indiesem Land nicht mehr möglich sein! Das genau ist derPunkt.
Wir stehen in der Europapolitik jetzt vor sehr schwie-rigen Entscheidungen. Es gibt einen engen Zusammen-hang zwischen der Europapolitik, den sicherheitspoliti-schen Fragen und den Krisen, mit denen wir es zu tunhaben. Ich hatte in den letzten Tagen und Wochen vorallem mit dem Kosovo zu tun. Es waren sehr, sehr harteVerhandlungen. Stunden um Stunden wurde versucht,Konfliktparteien zu überzeugen, die eigentlich nichtüberzeugt werden wollten.
– Nein. Da Sie das mit der eigenen Partei ansprechen,will ich sagen: Ich brauche mich da überhaupt nicht zuverstecken. Wir Grüne haben in der Frage: „Wie reagie-ren wir auf Srebrenica?“ eine in der Sache faire Ausein-andersetzung gehabt, die aber gleichzeitig eine der här-testen innerparteilichen Auseinandersetzungen um unserBekenntnis zum Pazifismus, das ich aus guten Gründenachte, war. Wir müssen uns da überhaupt nicht verstek-ken.Wir alle haben da Fehler gemacht. Das sage ich auchganz selbstkritisch, was meine Person angeht, der ichzuerst ein Nichtinterventionist war und nach Srebrenicazum Interventionisten wurde. Freunde von mir – Ma-rieluise Beck oder Daniel Cohn-Bendit – hatten frühereine andere Position wie Herr Schwarz-Schilling beiIhnen. Das achte ich. Es wurden Fehler gemacht bei-spielsweise in Form der zu frühen oder falsch konditio-nierten Anerkennungspolitik. Wir sollten daraus abergemeinsam die Konsequenz ziehen, daß wir diese Fehlernicht wiederholen.Nur: Umgekehrt nützt es nichts, angesichts der Wutund der Hilflosigkeit, die viele auf Grund des Mordensverspüren, den Emotionen nachzugeben. Wir haben ver-sucht – übrigens in Kontinuität –, die Staatengemein-schaft auf einer gemeinsamen Grundlage zusammenzu-führen und die Konfliktparteien zu zwingen, daß es zueinem Frieden kommt.In dem Zusammenhang möchte ich Ihnen, Herr Stoi-ber, sozusagen über die Parteigrenzen hinweg eine Posi-tion mitteilen: Gerade bei diesen Krisen erlebt man, wieschwach Europa ist. Statt jetzt eine solche Debatte, wieSie sie gerade aufgemacht haben, im Hinblick auf denEuropawahlkampf zu führen, müßten wir alles tun, da-mit die Europäer schneller zusammenfinden, damit sieenger zusammenfinden, damit das europäische Gewichtauch in der Friedens- und Sicherheitspolitik endlich zumTragen kommt. Dem weiß sich diese Bundesregierungverpflichtet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister,mit lhrem letzten Appell – das weiß ich sehr wohl – ren-nen Sie bei Edmund Stoiber offene Türen ein.
– Doch! Es gibt unzählige entsprechende Äußerungenvon ihm. Es gibt sogar ein Papier, das er gemeinsam mitdem Bürgermeister von Dünkirchen für den Ausschußder Regionen Europas verfaßt hat – ich empfehle es Ih-rer Lektüre; ich habe es mit Genuß und Zustimmunggelesen – und in dem ausdrücklich eine GemeinsameAußen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Uniongefordert wird, und zwar im Sinne einer Vergemein-schaftung. Darin sind wir uns absolut einig. Man kannEdmund Stoiber hier nicht als Buhmann hinstellen, ohnedaß man genau weiß, was er gesagt hat.Sie haben beispielsweise aus dem Interview in der„Süddeutschen Zeitung“ von vor einigen Jahren zitiert.Das habe ich auch gelesen. Was hat er damals gesagt? –Worum es mir im Kern geht, ist der Erhalt der Staatlich-keit Bayerns. Dies ist ein Punkt, über den wir schon seitlangem diskutieren. Die europäische Politik reicht nichtnur immer tiefer in die Innenpolitik der Teilnehmerlän-der hinein, sondern auch in die innere Struktur. ImGrunde führen wir seit langem eine Verfassungsdebat-te. Ich bin der Meinung, wir müssen sie bald einmalformalisieren, damit wir klarmachen, was auf der euro-päischen, was auf der nationalen und was auf der subna-Bundesminister Joseph Fischer
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tionalen Ebene zu geschehen hat. Daß es darüber imeinzelnen unterschiedliche Meinungen gibt, ist keinSchaden, sondern eine ganz natürliche Sache.In einem Punkt aber sind wir uns in der CDU/CSUeinig: In der Außenpolitik brauchen wir endlich Ge-meinsamkeit. Europa muß auf diesem Felde einig undhandlungsfähig sein. Da sind wir überhaupt nicht aus-einander.Ein weiterer Punkt: Daß Sie das Papier der CDU/CSU-Fraktion so darzustellen versuchen, wie Sie eseben getan haben, kann ich zwar verstehen; aber ichmuß Ihnen eindeutig widersprechen. Lieber Herr Kolle-ge Fischer, in dem Papier ist auf einen Beschluß der Mi-nisterpräsidenten und Landesfinanzminister hingewiesenworden, unter denen sich damals auch der heutige Bun-deskanzler Gerhard Schröder befand.
In unserem Papier steht nirgendwo – hören Sie bitteeinmal zu, damit Sie in Zukunft nicht noch einmal fal-sche Dinge behaupten –, es werde erwartet, daß dieBundesregierung jetzt mit einem Erfolg von 14 Milliar-den DM aus Brüssel zurückkehre. Jedermann weiß, daßdas nicht geht, und auch ich habe gesagt, daß dies kurz-fristig nicht möglich sei. Einen solchen Maßstab hat derheutige Bundeskanzler selber aufgestellt.Wenn Sie Aussagen von uns zitieren und sagen, sieschafften bei unseren Partnern böses Blut, dann möchteich Sie an Aussagen Ihres Bundeskanzlers erinnern.Herr Kollege Fischer, im Zusammenhang mit der Agen-da 2000 und der Finanzierung der Europäischen Uni-on hat er gesagt, es müsse damit Schluß sein, daß wiruns das Wohlwollen unserer Partner erkauften. Darauf-hin habe ich von meinen ausländischen Freunden Anrufebekommen, die mich gefragt haben, ob sie in der Ver-gangenheit käuflich gewesen seien oder ob die Deut-schen versucht hätten, sie zu kaufen.Darüber hinaus hat Ihr Bundeskanzler gesagt, es müs-se damit Schluß sein, daß wir europäische Kompromissemit deutschem Geld finanzierten. Daraus wird nur deut-lich, daß der Bundeskanzler überhaupt nichts vom euro-päischen System sowie davon verstanden hat, daß vondessen Funktionieren niemand abhängiger ist alsDeutschland.
Man wird beim besten Willen nicht sagen können,daß er irgendwann einmal zu erkennen gegeben habe,daß er etwas von Europa versteht. Andernfalls hätte erauch nicht die berechtigte Forderung nach einer Redu-zierung des deutschen Beitrages unter anderem mit demHinweis darauf begründet, daß wir außerordentliche La-sten für die Herstellung der inneren Einheit zu tragenhaben. Das erweckt bei unseren Partnern nämlich ver-ständlicherweise den Eindruck, als gelte das Wort vonHelmut Kohl nicht mehr, deutsche Einheit und euro-päische Einigung gehörten zusammen. Es gibt vielegute Gründe für die Forderung nach Reduzierung desdeutschen Nettobeitrages; die deutsche Einheit ist aberkein Grund, zumal der europäische Solidartransfer inüberhaupt keinem Verhältnis zum innerdeutschen Trans-fer steht.Wenn Sie hier polemisieren, dann sollten Sie alsozumindest einmal „intra muros“ – daß Sie das hier nichtöffentlich tun, kann ich ja verstehen – mit Ihrem Bun-deskanzler über seine Art des Auftretens reden.Wie ich gehört habe, sagte der Innenminister in dergestrigen Debatte – ich konnte leider nicht dabeisein –,ich sei ein Mensch mit einem abgewogenen, seriösenUrteil. Das freut mich natürlich, und ich kann bestätigen,daß jedenfalls das stimmt.
Ich muß Ihnen aber sagen, daß das Urteil unsererPartner über die neue Regierung lautet: Die verstehennichts von Außenpolitik.
– Doch, das ist so. Außenpolitik beginnt nämlich zu-nächst einmal damit, daß man versucht, die Welt undsich selbst mit den Augen des anderen zu sehen. Das tutIhr Bundeskanzler aber bestimmt nicht.Auch die Art und Weise, Herr Kollege Fischer, wieder Bundeskanzler immer davon spricht, daß wir nunendlich die deutschen Interessen selbstbewußt vertretenmüßten, ist doch mehr als befremdlich. Die Partner fra-gen, ob die Deutschen das nicht schon längst getan hät-ten und ob sie nicht so erfolgreich gewesen seien, daßsie ihnen schon fast zu stark und zu mächtig gewordensind. Was soll denn dieser Unsinn?
Nationale Interessen haben wir immer vertreten; dafürsind wir selbstverständlich da. Aber wir haben nicht jedeForderung – häufig handelt es sich ja um Partikularin-teressen – als nationales Interesse verkauft. Manchmalhat man ja den Eindruck, das sei eine neue Wortprä-gung. Jedenfalls müssen unsere Partner denken, wennwir solche Forderungen erheben, wir wollten etwas an-deres als bislang.Sie haben nichts als Unsicherheit verbreitet. Dazu ha-ben Sie beigetragen, Herr Kollege Fischer. Sie haben –das will ich gleich klar sagen – in Straßburg eine wun-derbare Rede gehalten. Aber mit Ihren Äußerungen zurNuklearstrategie haben Sie nicht nur in den Vereinig-ten Staaten – die können sich leicht darüber hinwegset-zen –, sondern vor allen Dingen auch bei unseren euro-päischen Partnern Frankreich und Großbritannien – ichhabe da einige Kontakte und weiß, wovon ich rede – tie-fe Unsicherheit hervorgerufen. Wesentlich mehr habenaber der Bundeskanzler und vor allen Dingen Herr La-fontaine Unsicherheit hervorgerufen, was unsere wirt-schaftlichen Beziehungen vor allem mit den VereinigtenStaaten angeht. Selbst Herr Strauss-Kahn mußte ihn inseinen Vorstellungen über Zielzonen bei den Wechsel-kursen korrigieren.Ich will nun noch – die Zeit erlaubt es nicht, längerbei diesem Thema zu verweilen – ein Wort zum Kosovosagen. Herr Minister, dazu haben Sie nicht viel gesagt.Karl Lamers
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1538 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Ich meine schon, Sie haben hier engagiert gekämpft.Daß es keinen endgültigen Erfolg gegeben hat, ist nichtder Bundesregierung anzulasten. Aber es gibt eben keinAbkommen. Jetzt hat die Bundesregierung dem Deut-schen Bundestag einen Antrag vorgelegt, der in dieserForm nicht zustimmungsfähig ist, um Ihnen das gleichdeutlich zu sagen. Es ist wirklich befremdlich, daß Siediesen Antrag formuliert haben, bevor Rambouillet zuEnde war. Das kann politische Gründe haben; das ver-stehe ich. Aber Sie hätten ihn heute ganz schnell auf denneuesten Stand bringen können. Die Formulierungenstimmen einfach nicht.Zudem erwarten wir Klarstellungen in folgenden Be-reichen: Erstens. Wie hoch soll denn die Aufstockungder Extraction Forces sein? Dazu gibt es nur eine unkla-re und unpräzise Formulierung, die Sie uns um die Oh-ren geschlagen hätten, wenn wir es so formuliert hätten.
Das ist unmöglich. Ich kann das nicht anders interpretie-ren, als daß die Extraction Forces, die derzeit nur 250Mann umfassen, bis auf 4 750 Mann aufgestockt werdenkönnen.
Das muß doch präzisiert sein.Zweiter Punkt. Es muß klargestellt werden, daß deut-sche Soldaten wie natürlich auch die Soldaten der Part-nerländer eindeutig unter einem NATO-Kommando ste-hen. Das steht in dieser Weise in dem Antrag nicht drin.Was Sie heute vorgelesen haben, ist eine Formulierung,die Sie auch in den Antrag hineinschreiben können.Dann ist die Sache insoweit in Ordnung.Dritter und wichtigster Punkt. Es handelt sich, ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen, bei dem Antrag derBundesregierung ganz ohne jeden Zweifel um einenVorratsbeschluß, etwas, was Sie uns immer mit allemNachdruck abgelehnt haben und was der frühere Vertei-digungsminister von Ihnen zu verlangen sorgfältigstvermieden hat. Es ist ein Vorratsbeschluß, ein Beschluß„für den Fall, daß ...“ Ob das eintritt, wissen wir allenicht. Wir hoffen es, aber es ist durchaus zweifelhaft.Nun sagt der Verteidigungsminister: Ich muß michverpflichten. – Das kann er tun; wir können ihn dazuermächtigen. Aber über den Einsatz muß entschiedenwerden, wenn der Fall eingetreten ist.
Ich bitte Sie, dies wirklich klarzustellen.Ich will noch eines sagen: Die alte Regierung hat sichdas Vertrauen der Opposition seinerzeit mit harter, sorg-fältiger, präziser Arbeit verdient, vor allem Volker Rühean der Spitze. Sie haben das anerkannt. Es war in IhremFall ungleich schwieriger, als uns jetzt zu überzeugen.Auch das werden Sie zugeben müssen. Ich kann bislangkein ausreichendes Bemühen der Regierung feststellen,sich gegenüber der heutigen Opposition ebenso zu ver-halten. Es handelt sich nicht nur um diesen Fall, son-dern, weil es ein neuer Fall ist, um ein Präjudiz für dieZukunft. In diesem Fall müssen Sie sich noch bewegen.Überlegen Sie sich bitte im Interesse der Sache, in IhremInteresse, aber auch im Interesse des Parlaments, ob Siediesem Petitum nicht bald nachkommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Christoph Zöpel.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir habenheute die erste umfängliche Debatte über die Außen-politik der Bundesrepublik Deutschland nach den Bun-destagswahlen. International ereignisreiche Wochen lie-gen hinter uns, ohne daß wir diese Debatte führenkonnten. Dennoch oder gerade deshalb macht es Sinn,zwei Stichwörter aufzunehmen, die Sie, Herr KollegeLamers, gebraucht haben, nämlich in dieser Debatte dieGemeinsamkeit nicht zu vergessen und ein seriöses Ur-teil zu haben.Nach dieser Vorbemerkung will ich auf einige Maß-stäbe, an denen die SPD die Außenpolitik der Bundes-regierung mißt, zu sprechen kommen. Es gibt Grundla-gen für unsere Außenpolitik. Das sind die geopolitischeLage, am Ende des 20. Jahrhunderts die institutionelleVerortung, und das ist schließlich eine wertbezogeneZielsetzung von Außenpolitik.Die geopolitische Lage am Ende des 20. Jahrhun-derts bedeutet: Deutschland ist das bevölkerungsreichtseLand in der Mitte Europas. Daraus resultieren einHöchstmaß an Sensibilität für die Belange anderer Völ-ker und Staaten in Europa und eine ganz besondere Ver-antwortung, Gefühle und Forderungen nationalistischerPrägung bei uns und andernorts in Europa nicht entste-hen zu lassen. Das ist der Maßstab, der sich aus der geo-politischen Lage ergibt.
Es macht auch keinen Sinn, diesen Maßstab mitPolemik gegen die Bundesregierung im Zusammenhangmit der EU-Finanzierung zu vermischen. Dort, wo es be-rechtigt ist nachzurechnen – ich greife hier Herrn Stoi-ber sinngemäß auf –, ob sich die Finanzkraft der Mit-gliedstaaten der Europäischen Union zugunsten andererund zu Lasten Deutschlands verändert hat, macht esauch Sinn, die festgestellten Ergebnisse in die Zahlen-werke des EU-Haushalts nüchtern einzubringen, so wieauch Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen es in-nerhalb des föderalen Finanzausgleichs der Bundesrepu-blik Deutschland tun. Es macht keinen Sinn, diesesnüchterne Rechnen mit dem Vorwurf des Nationalismuszu belegen. Ich füge hinzu: Ich kann bei der Bundesre-gierung an keiner Stelle erkennen, daß dieses nüchterneRechnen, das innerhalb der Europäischen Union not-wendig ist, etwas mit Nationalismus zu tun hat.
Nun zweitens zur institutionellen Verortung: Anerster Stelle steht dabei die Verortung im Nordatlanti-schen Bündnis, weil ohne Frieden – ich zitiere hierWilly Brandt sinngemäß – und äußere Sicherheit allesKarl Lamers
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Dr. Christoph Zöpelandere nichts ist. Deshalb sind sie Vorbedingungenaußenpolitischen Handelns. Die Bundesregierung hält andieser Verortung ohne jeden Zweifel fest. Jeder, der diesbeobachten will, konnte das in den letzten Wochen fest-stellen.
Es ist überhaupt kein Gegensatz dazu, wenn es in die-sem Bündnis zwischen den pluralistischen politischenSystemen der beteiligten Staaten unterschiedliche Mei-nungen gibt. Es ist völlig unbenommen, daß in den poli-tischen Systemen anderer NATO-Mitgliedstaaten man-ches verwunderlich erscheint, was in Deutschland pas-siert. Es ist auch erlaubt, daß in Deutschland die Wirk-lichkeit des politischen Systems der Vereinigten Staatenhinterfragt wird. Das betrifft nicht nur das Urteil überdas Impeachment-Verfahren, sondern in diesen Tagenauch unsere Meinung über das Strafrechtssystem und dieTodesstrafe. Hier hat die Bundesregierung zu Rechtnoch einmal versucht, im Falle eines zum Tode verur-teilten Deutschen Einfluß zu nehmen. Dazu gehört auch– das halte ich in einer aufgeklärten Welt für zwingend –,daß im Nordatlantischen Bündnis darüber diskutiertwerden kann, wie man in Zukunft mit Atomwaffen um-gehen soll. Wenn es nicht erlaubt wäre, über solchePunkte zu diskutieren, dann entfiele eine Wertbasis desnordatlantischen Systems, nämlich die Diskussionsbe-reitschaft, die an der Aufklärung orientiert ist.
Das Ergebnis der Diskussion über first use ist, daß dieMeinung der Bundesregierung derzeit im Bündnis nichtmehrheitsfähig ist.
– Das ist interessant. Wenn man Ihren Zwischenruf, manwußte vorher, daß das nicht mehrheitsfähig sei und des-halb solle man nicht diskutieren, befolgt, dann würdedas bedeuten, daß damit fast jeder Fortschritt verhindertwird.
Die Aufklärung hat aber gerade damit begonnen, daßeinzelne gegen den Widerstand übermächtiger Institu-tionen gewagt haben, ein Problem zu thematisieren.Hierin besteht das Grundprinzip der Aufklärung. Es mußdeshalb erlaubt sein, auch eine solche Frage zu diskutie-ren; denn über das Ziel kann es dabei eigentlich keinenZweifel geben: Eine Welt ohne die Möglichkeit einesAtomwaffeneinsatzes wäre viel schöner als die Welt, diewir jetzt haben.
– Sie war überhaupt nicht mißverstanden. Ich halte esfür sinnvoll, daß in diesem Bündnis diskutiert werdenkann und man am Ende zu Entscheidungen kommt.Die zweite institutionelle Verortung betrifft die Euro-päische Union. Die Bundesregierung ist gleich zu Be-ginn ihrer Amtszeit verpflichtet, den Vorsitz in derEuropäischen Union auszuüben. Das macht die Haupt-aufgabe in diesen Monaten, bei der Agenda 2000 zueinem Ergebnis zu kommen, besonders schwierig. Den-noch frage ich mich immer wieder: Was wäre hier pas-siert, wenn trotz der besonderen Verantwortung aufGrund des Vorsitzes nicht darüber gesprochen wordenwäre, daß sich die finanzielle Leistungsfähigkeit dereinzelnen Mitgliedstaaten verändert hat?Ich beziehe mich auf den sachlichen Teil des bayeri-schen Ministerpräsidenten: Die finanzielle Situation hatsich geändert. Nur in diesem Sinne, Herr KollegeLamers, ist zu verstehen, daß man den berechtigtenHinweis geben kann, bestimmte Indikatoren der finan-ziellen Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik hättensich durch die deutsche Vereinigung in der Tat geändert.Wie man dem Statistischen Jahrbuch entnehmen kann,ist das ganz unstreitig.Dies anzuführen ist berechtigt, und es ist das Gegen-teil von dem, was Sie folgern. Es handelt sich um dieintegrative Verknüpfung der deutschen Vereinigung mitdem europäischen Einigungsprozeß, zu dem auch ge-hört, daß sich in Deutschland vor allem bei Pro-Kopf-Rechnungen die fiskalische Leistungsfähigkeit veränderthat.Damit möchte ich bruchlos zur Osterweiterung derEU übergehen. Die Osterweiterung ist nur möglich,wenn auch die finanziellen Handlungsmöglichkeiten ge-geben sind. Bei dieser Aufgabe laufen wir in der Aus-einandersetzung zwischen den Parteien Gefahr, Porzel-lan zu zerschlagen, indem wir uns beim Anführen vonGesprächspartnern aus mittelosteuropäischen Länderndiejenigen auszusuchen, die in die Argumentation pas-sen.Wir müssen es uns aber bewahren, über die Ost-erweiterung der Europäischen Union vor dem Hinter-grund fast eines Wunders zu sprechen. Ich möchte einepersönliche Bemerkung machen: Ich bin in Gleiwitz ge-boren, ich bin vor 1989 vorsätzlich dorthin nie gefahren,wohl aber danach. Ich fühle mich dem Land Polen ineinem sehr starken europäischen Sinne verbunden. Ichhalte es für historische Wunder, daß wir heute, zehn Jah-re nach 1989, im großen und ganzen keine ernstzuneh-menden Konflikte zwischen Deutschen und Polen ha-ben. Wir sind sogar einen Schritt weiter: deutsche undpolnische Soldaten konnten unter einem gemeinsamenOberkommando in Bosnien-Herzegowina für Friedensorgen.
Mit diesem Wunder sollten wir so sensibel wie irgendmöglich umgehen.Viele haben dazu beigetragen: der Kniefall WillyBrandts in Warschau; die engen Beziehungen von Bun-deskanzler Kohl vor allem mit dem polnischen Pre-mierminister Mazowiecki. Viele Kolleginnen und Kol-
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legen von uns – ich nenne beispielhaft Rita Süssmuthund Markus Meckel – haben dazu beigetragen. Manch-mal wurden sie gestört durch oft aufgeregte und an derSache vorbeigehende Diskussionen einer kleinen „com-munity“ in Warschau, man mache in Deutschland rechtswie links gegenüber Polen alles falsch.Mein letzter Besuch in Warschau zusammen mitKollegen Markus Meckel diente vor allem der Begeg-nung mit den Abgeordneten der derzeitigen Regierungs-partei, der Nachfolgeorganisation der GewerkschaftSolidarnosc. Wir waren uns darüber sehr schnell einig– das war überraschend –, daß gerade in diesem Teil despolitischen Systems Polens Zeit für die europäische In-tegration gebraucht wird; denn Polen muß vor allem so-zialpsychologisch manches begreifen, lernen und inner-lich akzeptieren, wenn es den traditionell katholischenPolen, die unter kommunistischen Verhältnissen soziali-siert wurden, gelingen soll, tatsächlich auch mit ihrerSeele in das pluralistische Europa hineinzuwachsen. Dasist die Realität.
Vor diesem Hintergrund ist eine Scheindiskussionüber Jahreszahlen hinsichtlich des Beitritts geradezu fa-tal. Die SPD-Bundestagsfraktion wird es nicht tolerie-ren, wenn es von deutscher Seite – von welcher Seiteauch immer, auch nicht von seiten der Bundesregierung,wovon ich aber nicht ausgehe – schuldhafte Verzöge-rungen des Tempos des Integrationsprozesses gäbe.
Umgekehrt muß aber auch vermieden werden, daß manvorschnelle Entscheidungen trifft, die dann vor allemPolen nicht ertragen könnten; denn sie haben es schwe-rer mit der Integration als wir.
Man kann viele Beispiele anführen, wer an welcherStelle durch welche Aktion wieder etwas an diesemwunderbaren Verhältnis gefährdet. Ich zitiere absichtlichaus keiner Partei irgendein Ereignis der vergangenenMonate, das zu Irritationen geführt hat. Ich verzichteauch darauf, die politischen Äußerungen und Forderun-gen in der Bundesrepublik zu werten, durch welche dasnoch schwierigere deutsch-tschechische Verhältnis, dasnoch nicht den Zustand dieses polnisch-deutschen Wun-ders erreicht hat, in den letzten Monaten gefährdet wur-de. Ich hege dabei die Hoffnung, daß sich alle, die diesesWunder tatsächlich so anerkennen, wie es anzuerkennenist, Mühe geben, es gegenüber Polen zu bewahren undgegenüber Tschechien und Ungarn möglich zu machen.
Diese Hoffnung hat auch damit zu tun, daß es hierviele gibt, die durch ihre Biographie dieser europäischenDimension verpflichtet sind. Ich habe das Beispiel mei-ner Person genannt. Ich bin mir bezüglich des Außenmi-nisters völlig sicher, seitdem ich weiß, daß seine Elternaus Budakeszi stammen. Damit brauche ich zu Ungarnnicht mehr zu sagen.Fest steht für mich auch – damit komme ich zu derersten Aufgabe unserer Außenpolitik, nachdem wir dieVerortung, wie sie sich uns stellt, gesichert haben –: DieErweiterung der Europäischen Union kann nicht an denGrenzen der Länder enden, mit denen derzeit offiziellverhandelt wird. Es muß der Leitgedanke für all das,was wir derzeit an politischen Entscheidungen im Zu-sammenhang mit dem Morden und den Verbrechen imehemaligen Jugoslawien treffen, sein: Auch diese Staa-ten gehören zu Europa, so fern es auch liegen mag. DerGrund für diesen ganzen Einsatz kann nur sein, daß wiruns wünschen, noch zu Lebzeiten selbst von Menschenmeines Alters – also jetzt Mitte 50 – erleben zu können,daß diese Länder Mitgliedstaaten einer demokratischenund pluralistischen und auf dem Weg des Wohlstandessich befindenden Europäischen Union sind. Sonst machtdas, was wir da machen, alles keinen Sinn.
Alle müssen dabei sehr viel lernen. An Ihren, HerrKollege Lamers, hin und wieder getätigten Hinweisen,Sie hätten es mit der damaligen SPD-Opposition soschwer gehabt,
habe ich meine Zweifel. Wer hätte sich denn 1988 inIhrer Partei Szenarios ausmalen können, welche Heraus-forderungen durch das damals noch bestehende Jugo-slawien auf die deutsche Außen- und Sicherheitspoli-tik zukommen würden. Das hätten Sie und auch anderesich nicht ausmalen können.
Es war ein gemeinsamer Lernprozeß der Übernahme un-angenehmer und vor allem für die betroffenen Soldatenschwieriger Aufgaben. Wir haben uns dazu durchgerun-gen, friedenssichernde Kräfte dort hinzuschicken. Ichgebrauche viel lieber den Ausdruck: mit polizeilichenFunktionen betraute Menschen dort hinzuschicken, dievermeiden, daß gemordet wird.
Das war die erste Lektion, die wir gelernt haben.Als nächste Stufe in diesem Lernprozeß haben dieMitglieder dieses Hauses kurz vor der Übernahme ih-res neuen Mandats erleben können, daß dies nichtreichte und wir wegen neuer Herausforderungen mitdem noch von der alten Bundesregierung vorgelegtenBeschluß über die Androhung von Gewalt den näch-sten Schritt gehen mußten. Die alte Bundesregierungwar es noch – zu Recht, sonst hätten wir nicht zuge-stimmt –, die gesagt hat: Zu der Komponente, daß wirunter bestimmten Voraussetzungen entscheiden, dortSicherheitskräfte hinzuschicken, kommt als Kompo-nente, daß wir auch mit Gewalt durch Angriffe aus derLuft, an denen sich deutsche Tornados beteiligen soll-ten, drohen müssen. Dies kann immer nur vorher ge-schehen; denn die Logik der Gewaltandrohung bestehtDr. Christoph Zöpel
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darin, daß man von der Hoffnung ausgeht, es sei nichtnötig, sie anzuwenden.
Von diesen beiden Komponenten der Konfliktvermei-denden Sicherheitspolitik geht der Deutsche Bundestagseit Oktober aus; die zweite Komponente ist von deralten Bundesregierung auf den Weg gebracht worden.Jetzt komme ich zu der heutigen Vorlage. Ich unter-stelle, alle Parteien haben sie wie wir kritisch geprüft.Der Beschluß, den uns die Bundesregierung vorgelegthat, beinhaltet die Möglichkeit der Gewaltandrohung:deshalb der Verweis auf den Bundestagsbeschluß vomOktober. Die offene Situation läßt es nicht zu, daß manerst dann, wenn man ganz genau weiß, was dort passiert,einen Beschluß verabschiedet, in dem alles detailliertgeregelt ist. In der Kombination aus Einsatz von Sicher-heitskräften nach Vertragsabschluß – in der Zwischen-zeit müssen im Ernstfall die OSZE-Vertreter evakuiertwerden können – und der Androhung von Gewalt, umgegebenenfalls eine humanitäre Katastrophe zu verhin-dern, ist die Vorlage der Bundesregierung nach unsererEinschätzung zustimmungsfähig. Das will ich an dieserStelle deutlich hervorheben.
Die derzeitige Hauptaufgabe deutscher Außenpolitikist, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß es einvereintes Europa einschließlich Mostar, Belgrad undPristina geben kann. Manchmal stellt sich die Frage:Kann Europa die Verantwortung, die es in dieser eu-ropäischen Krisenregion übernimmt, in der ganzen Weltübernehmen? Die Antwort kann nur lauten: Im Sinneder Werte der deutschen Außenpolitik ja. Am Anfangmeiner Rede habe ich sie nicht genannt; jetzt will ich sieaber einführen: Am besten werden sie von ImmanuelKant im ausgehenden 18. Jahrhundert formuliert, näm-lich eine Welt zu schaffen, die demokratische Verfas-sungen hat und in der es keine Gewaltkonflikte gibt, inder sich die Länder der Welt an diesen Werten orientie-ren.Die Besinnung auf die Realität der geopolitischenLage aber ergibt, daß man sich zuerst dort für dieseWerte einsetzen sollte, wo der Erfolg am ehesten zu er-warten ist, also in der Nachbarschaft. Hier muß diesesZiel notfalls unter Androhung von – hoffentlich nichtanzuwendender – Gewalt und durch Absicherung mittelsSicherheitskräften erreicht werden. Wenn man sich dieGröße Europas anschaut, dann muß man aber feststellen,daß ein solches Engagement Europas weltweit nichtmöglich ist.Das weltweite Engagement muß anders sein, als es inEuropa möglich und deshalb notwendig ist. Die Sozial-demokratie engagiert sich stark für ein effektiveresSystem internationaler Organisationen. Dieses Engage-ment findet seinen Niederschlag in einer UNO-orientierten Politik. Diese Politik sieht die UNO nichtnur als eine politische, sondern auch als ein ökonomi-sches System an.Vor Monaten haben sich auch kluge Menschen nochgeweigert, aus der Asienkrise institutionelle Konsequen-zen zu ziehen. Jetzt besteht Ratlosigkeit zwischen Re-gierungen hinsichtlich der Möglichkeiten zur Abwehrfinanzieller Spekulationen, die die Finanzwelt in der Tatgefährdet haben. Entsprechende Vorschläge könnenauch hier nur sinnvoll sein. Ich sage ganz deutlich: Wirstehen auch dann zu den Vorschlägen unserer Regie-rung, wenn sie zur Zeit noch nicht überall Zustimmungfinden. Es ist notwendig, daß Regierungen ein Höchst-maß an kreativer Phantasie und an Bereitschaft entwik-keln, diese Welt ökonomisch besser zusammenzuhalten.Hier leistet Oskar Lafontaine Beispielhaftes.
Es wäre hilfreicher, wenn Herr Rubin den Mut hätte,sozusagen über den Schatten seines privatwirtschaftli-chen Backgrounds zu springen, als wenn Sie sich dar-über aufregen, daß ein deutscher Finanzminister Mut zuentsprechenden Vorschlägen hat.
– Das kommt ganz darauf an, wie Sie Weltsozialismusdefinieren. Wenn sich der Weltsozialismus dadurch aus-gedrückt, daß demokratisch legitimierte Vertreter allerVölker, die in den jeweiligen Parlamenten die Regierun-gen kontrollieren, in Vertreterversammlungen – ange-fangen bei der Parlamentarischen Versammlung derNATO über die OSZE bis zu einer ausgebauten IPU –darüber diskutieren, wie Schaden auch auf sozialem Ge-biet von der Welt abgewendet werden kann, dann mußich sagen, daß ich für den Weltsozialismus bin.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Da wir heute den Etat des AuswärtigenAmtes debattieren, möchte ich gerne die Gelegenheitwahrnehmen, einmal den Mitarbeitern des Hauses unse-ren herzlichen Dank auszusprechen. Die Zusammenar-beit war immer außerordentlich ersprießlich, und daranhat sich seit dem Regierungswechsel dankenswerterwei-se auch nichts geändert.
Ich habe das deshalb gesagt, weil ich den Beamtenund sonstigen Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes kei-ne Schuld daran geben kann und will, daß die deutscheAußenpolitik im Augenblick – wie es mein KollegePartei- und Fraktionsvorsitzender Wolfgang GerhardtDr. Christoph Zöpel
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1542 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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heute früh schon ausgeführt hat – leider einen desaströ-sen Eindruck macht.Herr Fischer, ich muß Ihnen neidlos bestätigen, daßSie sich bemühen, „bella figura“ zu machen, und daßIhnen das in aller Regel auch recht gut gelingt. Wenn ichaber betrachte, wie Ihre Kabinettskollegen – die vondem anderen Koalitionspartner, aber auch Ihr eigenerParteikollege Trittin – durch die Weltgeschichte taumelnund Schaden anrichten, kann ich nur sagen: Ich stelle zumeiner Befriedigung fest, daß die neue Bundesregierungzumindest den Ländern Liechtenstein und Belize bishernoch nicht zu nahe getreten ist, was die Beziehungen zudiesen Ländern sicher sehr fördern wird.
Fangen wir einmal mit den Franzosen an. Herr Trittingeht nach Frankreich und sagt, er wolle keinen Schaden-ersatz zahlen; sofortiger Ausstieg aus der Wiederauf-arbeitung. Die Franzosen sagen: Wir haben aber Verträ-ge, worauf Herr Trittin sagt: Das ist höhere Gewalt. Soschafft man sich Freunde, insbesondere dann, wenn man– Stichwort: Agenda 2000 – von ihnen Konzessionenhaben will. Dasselbe gilt in Großbritannien.Lieber Herr Fischer, Sie haben eben gesagt, sie seieneinmal Steinewerfer gewesen. Sie sind das heute noch,denn Sie sitzen im Glashaus und werfen mit Steinen. Siewerfen uns vor, wir betrieben Innenpolitik, wenn wirbestimmte Dinge kritisierten. Sie haben eben Herrn Stoi-ber erheblich angegriffen und gesagt, er betreibe bayeri-sche Innenpolitik. Das tut er sicher; das mag richtig sein.Aber Sie tun doch nichts anderes. Wenn Sie nachWashington gehen und dort völlig unnötigerweise – undzwar nicht in einer Debatte in NATO-Kreisen, sondernöffentlich – erklären, die NATO-Strategie müsse jetzt ge-ändert werden, dann stoßen Sie die Amerikaner vor denKopf, was Sie nicht deshalb getan haben, weil Ihnen dasThema so am Herzen liegt, sondern deshalb, weil Sieeinen Parteitag der Grünen zu bestehen hatten, die zu ih-rer Verblüffung feststellen mußten, daß ungefähr 98 Pro-zent grüner Programmatik an der Garderobe der Machtund der Ministerien abgegeben worden sind.
Herr Zöpel, ich stimme Ihnen ohne weiteres zu, wennSie sagen – da hatte Herr Lamers nicht recht –, daß dieSPD in der Außenpolitik keine schwierige Oppositions-partei gewesen sei. Ich habe mich über die SPD in ihrerZeit in der Opposition immer gefreut. Es wäre mir sehrrecht, wenn ich mich heute ebenso über die SPD an derRegierung freuen könnte. Da hört mein Vergnügen abersehr bald auf.Ich will Ihnen auch sagen, warum in erster Linie. Ichwar entsetzt, als Bundeskanzler Schröder im Dezemberhier gestanden und die Regierungserklärung zum Wie-ner EU-Gipfel abgegeben hat. Die ganze Rede lief näm-lich auf einen einzigen Punkt hinaus – Maggie Thatcherhoch drei –: I want my money back. Hier war nichts an-deres mehr zu spüren. Ich rede ja nicht von Visionen.Man kann der alten Regierung vielleicht vorwerfen, daßsie hin und wieder einen etwas altbackenen und biederenEindruck gemacht hat. Aber sie war geradezu tollkühnavantgardistisch in ihren außenpolitischen Konzeptenund Visionen, wenn man das mit der erbärmlichen Bie-derkeit und Piefkigkeit der neuen Regierung und ihremaußenpolitischen Agieren vergleicht.
Uninspiriert ist noch gar kein Ausdruck. Sie haben aufalles verzichtet, was uns im Sinne Europas, der Zukunftunseres Kontinents und damit der Zukunft unseres eige-nen Landes und Volkes wichtig sein muß. Denken Sieeinmal darüber nach! Hier ist gesagt worden, Herr Stoiberhabe sich zwiespältig zu der Osterweiterung geäußert; erwolle sie gar nicht. Wer hat denn hier die Verzögerungenbei der Osterweiterung zu vertreten? Das waren doch Sie!Es war doch Herr Schröder, der hier gestanden hat undgesagt hat, die Osterweiterung kommt erst viel später, alssich das alle gewünscht haben.Wolfgang Gerhardt hat auch das heute früh schon ge-sagt, aber ich will es noch einmal unterstreichen: Daswar doch eine Ohrfeige für all diejenigen in unserenNachbarländern in Mittel- und Osteuropa, die sich nichtssehnlicher wünschen, als nach über 40 Jahren gewaltsa-mer Trennung endlich wieder dazuzugehören. Das istdoch auch Symbolik.Hier ist von nationalen Interessen die Rede gewesen.Natürlich müssen wir diese vertreten; auch die alte Bun-desregierung hat nichts anderes gemacht. DeutschePolitik ist nämlich um so nationaler, je europäischer sieist. An diesen alten Satz sollte man immer wieder ein-mal erinnern.
Es ist doch in unserem Interesse, daß wir die Nachbarnin die EU aufnehmen, und zwar möglichst rasch. Was wä-re denn, wenn wir nicht dazu beitragen, daß in den neuenDemokratien Mittel- und Osteuropas Stabilität entstehtund bewahrt werden kann? Dann setzen sich doch dieTurbulenzen fort. Dann kommen die Flüchtlinge zu uns.Einige hier sagen, es sei gefährlich, Arbeitnehmer hierhinkommen zu lassen. Ich habe aber lieber Arbeitnehmer ausden mittel- und osteuropäischen Ländern hier als Flücht-linge. Wir tragen zur Stabilität unserer eigenen Zukunftbei, wenn wir diese Länder aufnehmen.Lassen Sie mich zuletzt sagen, Herr Fischer, daß ichmich sehr freuen würde, wenn Sie beim NATO-Gipfelim März wieder einen Vorstoß unternähmen, die Politikder offenen Tür zu verdeutlichen. Es wäre an der Zeit,an Slowenien und auch an die Slowakei eine Einladungergehen zu lassen. Wir haben immer gesagt, daß für dieAufnahme der Slowakei das Meciar-System das Hinder-nis sei. Das slowakische Volk hat das Meciar-System inden Orkus geschickt, wo es hingehört. Ich meine, wirsollten dies honorieren und die Zeichen setzen, daß dieNATO für diejenigen, die hinein wollen und die Quali-fikation dafür mitbringen, offenbleibt.Ich bedanke mich.
Ulrich Irmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1543
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte dem Herrn Bun-
desaußenminister in Erinnerung rufen, daß er an sich be-
ste Voraussetzungen dafür hatte, etwas umzusetzen, was
im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist. Um einige
Stichworte zu nennen: Völkerrecht, Menschenrechte,
Dialogbereitschaft, Gewaltverzicht, Vertrauensbildung
und die kategorische Feststellung, daß deutsche Außen-
politik Friedenspolitik ist. Ich glaube, daß es viele Mög-
lichkeiten gab, dies unter Beweis zu stellen. Die Aus-
gangsbedingungen waren außerordentlich günstig: ein
überzeugender Wahlsieg, ein Umfeld in Europa mit
einer Mehrheit von sozialdemokratisch und sozialistisch
regierten Ländern und die EU-Ratspräsidentschaft. All
dies hat Chancen geboten.
Das, was die Regierung daraus gemacht hat, ist mei-
nes Erachtens nicht überzeugend. Ich sage das ohne
Häme. Eigentlich tut es mir sogar leid, weil ich kein In-
teresse daran habe, daß diese rotgrüne Bundesregierung
scheitert. Die Alternativen dazu – davon konnte man
sich heute an Hand der Debatte in diesem Hause auch
sinnlich überzeugen – sind gräulich.
Es ist aber auch keine Lösung, über die Probleme
hinwegzureden. Das ist eher peinlich; denn so löst man
keine Probleme. Insofern fand ich die engagierte Rede
des Kollegen Schlauch zu der Tätigkeit des Außenmi-
nisters doch etwas lobhudelnd. Ich weiß nicht, ob es
dem Kollegen Fischer nicht auch ein bißchen peinlich
gewesen ist.
Ich möchte versuchen, meine Position an einigen Bei-
spielen deutlich zu machen, wo die Regierung meiner
Meinung nach erhebliche Defizite zugelassen hat.
Beispiel Nummer eins ist das Völkerrecht. Ich finde,
die Regierung hat, anstatt für die Verrechtlichung der
internationalen Beziehungen einzutreten, mit dazu bei-
getragen, daß das Völkerrecht ausgehöhlt wird. Um nur
einige Punkte zu nennen: Ohne ein Mandat des Sicher-
heitsrates der UNO wurden noch vom alten Bundestag
in fragwürdiger Weise die Militärschläge gegen die
Bundesrepublik Jugoslawien beschlossen. Was damals
noch Ausnahme und Erblast der alten Regierung war,
scheint leider der Normalfall zu werden. Als die USA
und Großbritannien den Irak bombardierten mit dem be-
kannten Ergebnis, daß nun überhaupt keine UNO-
Inspektionen mehr stattfinden, hat die Regierung eilig
und deutlich Beifall geklatscht. In Mazedonien haben
wir ohne jegliche rechtliche Absicherung als Drohkulis-
se an einem militärischen Aufmarsch teilgenommen.
Statt an einem Völkerrecht, so ist mein Eindruck,
schreibt die Regierung mit an einem Interventionsrecht.
Beispiel Nummer zwei: die neue NATO. Die Selbst-
mandatierung der NATO, die von dieser Regierung mit-
getragen wird und in der neuen NATO-Strategie fixiert
werden soll, ist ein Zurück von der Dominanz des
Rechtes zum Recht des Stärkeren. Sie nutzt nicht nur die
gegenwärtige Schwäche Rußlands, sondern sie unter-
gräbt auch die bestehende Weltordnung. Aber genau
dies ist gefährlich und höchst destabilisierend, wenn
man keine neue, keine bessere hat. Der Außenminister
redet nach meinem Geschmack zuwenig der OSZE das
Wort.
Er spricht unter der Losung der Selbständigkeit Europas
als militärischer Arm der Europäischen Union zuviel
über die WEU.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin sehr
dafür, mehr eigenständige Akzente auf europäischer
Ebene in der Außen- und Sicherheitspolitik zu setzen.
Aber sie sollten friedlich, zivil und völkerrechtlich gesi-
chert sein.
Ich bin auch für die Entfaltung der transatlantischen
Beziehungen, aber nicht für eine offenkundig unkriti-
sche Unterordnung unter die Interessen der USA. Was
Frau Albright im Namen der USA zum Beispiel gegen-
über Jugoslawien durchzusetzen versucht, erinnert mich
sehr an die Breschnew-Doktrin von der begrenzten
Souveränität. Ich finde, das sollte eine deutsche Regie-
rung nicht mittragen.
Beispiel drei: Abrüstung. Von Abrüstung, Atomwaf-
fenabbau, ja selbst vom Vorschlag des Verzichtes auf
den Ersteinsatz von Nuklearwaffen ist immer weniger zu
hören. Ich sehe eine besondere Tragik darin, daß eine
rotgrüne Regierung bereit war, ja zu sagen zur deutschen
Beteiligung an Bombenabwürfen und Truppeneinsätzen
in Jugoslawien.
Obwohl es mir ausgesprochen peinlich ist, finde ich
die formale und die rechtliche Argumentation von Herrn
Lamers zu dem, was hier vorliegt und was dem Bun-
destag abgefordert wird, nämlich Rahmenbedingungen
für einen Vertrag mitzuschaffen, der überhaupt noch
nicht abgeschlossen ist, wobei es außerordentlich frag-
lich ist, ob er in dieser Form abgeschlossen wird – denn
sonst wäre er bereits abgeschlossen worden –, korrekt,
das Ansinnen der Bundesregierung hingegen eine Zu-
mutung. Zur inhaltlichen Seite habe ich natürlich eine
völlig andere Position als die, die Herr Lamers hier vor-
getragen hat.
Ich finde, das Ganze spiegelt sich – das ist Beispiel
vier – auch im Haushalt wider. Allein für Auslandsein-
sätze der Bundeswehr sieht die Planung bis jetzt einen
Beitrag von 1 Milliarde DM vor. Welche Einsätze im
Rahmen der NATO-Strategie noch erfolgen, ist offen.
Diesem Betrag von vorläufig 1 Milliarde DM stehen
Beträge von geplanten 68 Millionen DM für humanitäre
Leistungen, 10 Millionen DM für friedenserhaltende
Maßnahmen der UNO und 16 Millionen DM für das
weltweite Minenräumen gegenüber. Das sind noch nicht
einmal 100 Millionen DM für friedenspolitische Akti-
vitäten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, bittedenken Sie an Ihre Redezeit.
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1544 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich denke die ganze Zeit
an meine Redezeit, die leider so knapp ist, daß ich zum
Schluß kommen muß.
– Man kann darüber streiten, wessen Zeit abgelaufen ist
und wessen Zeit gerade anfängt oder wiederbeginnt. Ich
habe ja heute mit Freude vernommen, daß der Kanzler
Friedrich Engels zitiert hat. Mein Kollege Zöpel hat vom
Weltsozialismus gesprochen. Das sind doch optimisti-
sche Perspektiven, die hier eröffnet werden.
Nun komme ich zum Schluß. Ich hoffe sehr, daß die
Regierung kritischer über ihre Außenpolitik nachdenkt,
und ich glaube, daß wir eine öffentliche Debatte über die
Außenpolitik brauchen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Friedbert Pflüger,
CDU/CSU.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Fischer hatsoeben in seiner Rede gesagt, daß er darunter leide, imZusammenhang mit dem Kosovo die MachtlosigkeitEuropas zu spüren. Ich glaube, daß wir alle dieses Lei-den teilen. Denn Europa ist in der Tat noch immer nichtso stark, wie es sein könnte und wie wir es uns alle wün-schen. Es ist nicht der Faktor in der Weltpolitik, den derEuro und die wirtschaftliche Kraft Europas eigentlich er-fordern würden.In dem Bestreben nach einem stärkeren und hand-lungsfähigeren Europa, Herr Kollege Fischer, läßt sichdie CDU/CSU von niemandem übertreffen. Da brauchenwir von niemandem Nachhilfeunterricht. Wir sind diePartei, die in der Tradition von Konrad Adenauer undHelmut Kohl steht. Wir wollen und wir werden Europagemeinsam stärker machen.
Wenn wir diese Stärke Europas bekommen, erhaltenund ausbauen wollen, ist entscheidend, daß die deutscheAußenpolitik berechenbar und stabil bleibt, daß sie an-gesichts der Unordnung der Welt der Stabilitätsankerbleibt. Ich stelle die Frage, ob denn die Bundesregierungmit dem, was sie in den ersten 100 Tagen gemacht hat,diesem Ziel gedient hat. Ich sage: In wesentlichen Teilender Politik hat insbesondere der Bundeskanzler dazubeigetragen, daß die Berechenbarkeit dessen, was ausDeutschland kommt, verlorengegangen ist, daß dieLeute im Westen, im Osten und in Amerika nicht mehrgenau wissen, was die Linie der deutschen Außenpolitikist. Das ist das Allerschlechteste – wenn man Europavoranbringen will –, daß wir Deutsche als Stabilitätsan-ker ausscheiden.
Herr Kollege Fischer, ich glaube, an vier Punktenkann man sehen, daß das Vertrauen, das aufgebaut wor-den ist, bedroht ist. Der erste Punkt ist die Nuklearpoli-tik, der zweite Punkt ist das Thema Osterweiterung, derdritte Punkt sind die Muskelspiele von Gerhard Schröderzum Thema Nettozahlerposition, und der vierte Punkt istdas Gerede über die EZB, ist das Schwachreden des Eu-ro und sind die Äußerungen des Bundesfinanzministersüber unsere neue Währung.Zum ersten Punkt. Es war eine Ihrer ersten Aktionenim neuen Amt, die Nuklearoption der NATO in Fragezu stellen, die Nuklearoption, die unsere BundesrepublikDeutschland 50 Jahre lang geschützt hat. Damit ist dieMöglichkeit gemeint, im Notfall einen nuklearen Erst-einsatz gegen andere Völker durchzuführen, die uns– von wo auch immer sie kommen mögen – angreifen.Warum haben Sie das gemacht? Sie haben gesagt, dieweltpolitische Situation hat sich geändert. Natürlich istdas wahr. Rußland ist nicht mehr im Herzen Europas.Übrigens ist das ein ganz großer Erfolg der RegierungKohl, daß Rußland nicht mehr im Herzen Europas steht.Daß sich Rußland aus Europa herausgezogen hat, dafürsind wir alle dankbar. In der Tat braucht man – da habenSie recht – die Nuklearoption nicht mehr gegen die gro-ße konventionelle Übermacht, die die damalige Sowjet-union hatte. Sie hat es früher gegeben, und sie gibt esheute nicht mehr.Aber dafür gibt es heute andere Gefahren. Massen-vernichtungswaffen sind verbreitet wie nie zuvor in derGeschichte. Wir werden es demnächst mit B- und C-Waffen von Ländern wie Irak, Iran, vielleicht von Liby-en und anderen zu tun bekommen. Es wird vielleichtauch nuklearen Terrorismus geben. Angesichts dieserneuen Gefahren ist es doch unsinnig, auf diese Optionzu verzichten; im Falle eines Angriffs auf unser Landund seine Bürger müssen wir uns diese Option offen-halten.Vor allen Dingen ist es aber deshalb unsinnig, weildie Frage gestellt werden muß: Ist es eigentlich klug,daß wir, die 50 Jahre lang diesen nuklearen SchutzAmerikas gehabt haben, uns an die Spitze derjenigensetzen, die in dieser Frage eine neue Debatte fordern?Wir sind bisher klug beraten gewesen, in diesen Dingenetwas vorsichtiger zu sein. Ich glaube, daß Sie hier einenwirklichen, entscheidenden Fehler gemacht haben, derbis heute überall im Bündnis zur Irritation beiträgt.Bitte werden Sie in Fragen der NATO und der trans-atlantischen Beziehungen wieder ein berechenbarerPartner, weil Sie sonst das Gewicht der BundesrepublikDeutschland gegenüber den USA aufs Spiel setzen.
Der zweite Punkt ist das Thema Osterweiterung.Hier spreche ich weniger Sie, Herr Außenminister, an,als vielmehr den Bundeskanzler. Praktisch vom Beginnseiner Amtszeit an hat er gesagt, damit müßten wir unsjetzt mehr Zeit lassen; es gebe riesige Probleme; es müs-se ein neuer Realismus her; es habe bisher nur Illusionengegeben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1545
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Was hat denn diese Diskussion bewirkt? Die Folgewar, daß man in Polen, in Ungarn, in Tschechien, aberauch im Baltikum, in Bulgarien, in Rumänien, überall inMittel- und Osteuropa die Frage stellte: Was verändertsich da am deutschen Kurs? Wollen die Deutschen dasnicht mehr wie früher? Sind die Deutschen nicht mehrdie Lokomotive bei der Erweiterung –, man müßteeigentlich sagen: der Wiedervereinigung Europas? Dasist doch nicht etwas, was die Union erfunden hat, wasdas Konrad-Adenauer-Haus zur Verunsicherung derMenschen in die Gegend streut.Wenn Sie nach Polen, nach Ungarn – wohin Siewollen – fahren, sagen Ihnen doch die Politiker sofort:Wir hoffen, daß ihr Deutschen weiter unser Anwaltbleibt.
– Herr Kollege Zöpel, ich glaube Ihnen, daß Sie dasweiter wollen. Aber es sind Irritationen entstanden. Die-se Irritationen sind nicht in unserem deutschen Interesse.Bisher haben wir in diesen Ländern unendlich viel Ver-trauen gewonnen; wir haben übrigens auch neue Märktein diesen Ländern gewonnen, weil man dort gesagt hat:Die Deutschen sind in dieser Frage auf unserer Seite.Mit diesem neu erkämpften Gut muß man sehr vorsich-tig umgehen.Ich glaube, daß die Osterweiterung das erste strategi-sche Interesse der Bundesrepublik Deutschland ist, weilwir aus unserer Randlage herauskommen.
Wir kommen aus der deutschen Randlage heraus, wirsind nur noch von stabilen Partnern umgeben. Das so zubehandeln, wie es der Herr Bundeskanzler mit seinenÄußerungen getan hat – nicht wie Sie, Herr Fischer! –,ist, glaube ich, in der Tat fahrlässig.Wir exportieren inzwischen nach Mittel- und Ost-europa mehr als in die USA. Mittel- und Osteuropa sindfür uns eine Wachstums- und Konjunkturmaschine.Wollen wir all das aufgeben, indem wir die ganze Sachejetzt abbremsen? Herr Kollege Zöpel, es geht nicht dar-um, jetzt ein Datum festzulegen.
Ich verstehe, daß man erst einmal die Agenda 2000 hin-bekommen muß. Aber wir brauchen bald ein Datum;denn sonst verunsichern wir die Reformer in diesenLändern. Vor allen Dingen dürfen wir keinen Hauch vonZweifel an unserer Entschlossenheit in dieser Richtunghaben. Den Herren Brecht und Zöpel glaube ich das,beim Bundeskanzler bin ich da nicht überzeugt.
Zum dritten Punkt, der Diskussion um die Nettozah-lerposition. Herr Schröder hat sich heute sehr wortreichund sehr lautstark darüber beklagt – an die Adresse desbayerischen Ministerpräsidenten gewandt –, man legedie Meßlatte mit 14 Milliarden DM zu hoch. Der KollegeLamers hat für die Fraktion der CDU/CSU eben zunächstklargestellt, daß die 14 Milliarden DM auf einen Beschlußder Finanzminister und Ministerpräsidenten vor einigenJahren – unter Einschluß von Schröder und anderen – zu-rückgingen, und darauf hingewiesen, daß dieser Betragzwar in dem Papier zitiert wird, aber dies nicht das ist,was die Union letztlich erwartet. Denn wir sind Realistenund wissen, daß es Kompromisse geben muß.Wer hat denn die ganze Diskussion um die Netto-zahlerposition herbeigeführt? Wer hat denn den Ein-druck vermittelt, das wichtigste Ziel in Europa sei, Geldzu sparen? Das war Herr Schröder mit seiner unglaubli-chen, populistischen Bemerkung auf dem SaarbrückerDelegiertentag der SPD, Brüssel verbrate unser Geld,das wir hier in Deutschland hart erarbeiten müßten.
Das ist doch an Populismus nicht zu übertreffen gewe-sen. Damit hat er Geister gerufen, die man jetzt natürlichnur schwer wieder los wird.Wir müssen sehr aufpassen, und zwar alle miteinan-der, daß der Gipfel, vor dem wir stehen – der wirklichsehr wichtig ist, übrigens auch für die Stabilität des Euro–, nicht zu einem Verteilungsgipfel wird, sondern daß esein Gestaltungsgipfel wird. Das Ziel dieses Gipfels ist,Europa fit zu machen für die großen Aufgaben, die voruns liegen. Das ist das Entscheidende, und diesbezüglichhat Herr Schröder am Anfang falsche Töne gesetzt. HerrKollege Fischer, das sollten Sie innerhalb der Koalitionzur Kenntnis nehmen.Der vierte Punkt betrifft die Europäische Zentral-bank und den Euro. Auch das ist – das können Sie dochüberall nachlesen – keine Erfindung des Konrad-Adenauer-Hauses. Nach einer langen Tradition der Sta-bilität des Geldes, für die unsere Bundesbank und unsereFinanzpolitik standen, stellt sich der Finanzminister jetzthin und sagt, die EZB, die Europäische Zentralbank, seinicht nur für Stabilität, sondern auch für Wachstum undBeschäftigung verantwortlich.
Das steht zwar im Statut der EZB; als solche ist dieseÄußerung gar nicht schlecht. Nur, sie signalisiert der ge-samten Welt eine Veränderung der deutschen Prioritä-ten. Sie signalisiert der gesamten Welt, daß die Deut-schen jetzt nicht mehr der Hüter der Stabilität sind, son-dern hier ein bißchen großzügiger werden.Daraufhin sinkt der Wert des Euro. Aber anstatt sichbesorgt zu zeigen und etwas zu unternehmen, um denEuro wieder stark zu machen, sagt man: Ach, soschlecht ist das gar nicht; denn unserem Export dient daskurzfristig. – Auch das ist wahr. Kurzfristig dient es un-serem Export. Nur, wenn Deutschland und Europa ge-genüber anderen Teilen dieser Welt langfristig wettbe-werbsfähig bleiben wollen, dann muß die Stabilität desEuro an erster Stelle stehen. Jeder, der sich daran ver-geht, macht wirklich einen bösen und ganz gefährlichenFehler.
Dr. Friedbert Pflüger
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1546 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Die anderen haben nicht mehr den Eindruck, daß wir esernst meinen mit dieser Stabilität. Das ist die große Ge-fahr.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.Außen- und Europapolitik leben von der Stabilität undder Berechenbarkeit. Es gibt Bemühungen des Außen-ministers, manche Fehler zu korrigieren. Aber der Bun-deskanzler muß auf diesem Gebiet wirklich zulernen,und vor allen Dingen muß er Interesse entwickeln fürdas Thema. Er muß Interesse entwickeln für andereLänder und darf nicht glauben, er könne die Außen- undEuropapolitik sozusagen nebenbei machen, immer mitAugenmerk auf die nächsten Wahlen.Man muß verantwortlich Außenpolitik betreiben. Da-zu bedarf es einer klaren Linie. Diese Linie finden wirbisher weder in der Außen- noch in der Europapolitik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmel-dungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie dar-über informieren, daß interfraktionell vereinbart wordenist, die Debatte über den Geschäftsbereich des Bundes-kanzleramtes nicht fortzuführen.Deshalb kommen wir jetzt zum Geschäftsbereich desBundesministeriums der Verteidigung. Die Aussprachewird eröffnet vom Bundesminister der Verteidigung,Rudolf Scharping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Die Beratung des Haushaltes des Bundes-verteidigungsministeriums findet statt in einer Zeit, inder sich schon erhebliche Veränderungen vollzogen ha-ben und noch weitere vollziehen werden. Man kann dasan wenigen Beispielen deutlich machen.In der Bundesrepublik Deutschland waren zum Zeit-punkt der deutschen Einheit etwa 1,5 Millionen Soldatenstationiert. Es sind jetzt weniger als 500 000. Die Bun-deswehr hatte zum Zeitpunkt der deutschen Einheit etwa700 000 Angehörige. Es sind jetzt etwas weniger als340 000. Allein diese Zahlen machen deutlich, welcheenorme Veränderung schon stattgefunden hat.Dies läßt sich auch im internationalen Bereich de-monstrieren; denn die Bundesrepublik Deutschland iststärker, als sich das mancher beispielsweise vor zehnoder fünf Jahren hat vorstellen können, an internatio-naler Friedenssicherung beteiligt – übrigens nicht nurin Bosnien; ich will darauf hinweisen, daß sie zum Bei-spiel auch Hilfsflüge unternommen hat, um eine Hun-gerkatastrophe im Südsudan verhindern zu helfen, oderdaß sie an der Kontrolle und der gewaltfreien Regulie-rung eines Konfliktes beteiligt ist, den es im georgisch-abchasischen Gebiet gibt. Dies sind zwei Beispiele ne-ben vielen anderen, die man erwähnen könnte, die nocheinmal illustrieren, wie enorm und wie tiefgreifend dieVeränderungen sind.In einer solchen Zeit tiefgreifender Veränderungen,die sich insgesamt sehr positiv für unser Land auswir-ken, kommt es darauf an, daß die von den Veränderun-gen in ihre beruflichen und in sozialen Belangen unmit-telbar betroffenen Menschen – die Soldatinnen und Sol-daten der Bundeswehr, die zivilen Angestellten und de-ren Familien – ein möglichst großes Maß an planeri-scher und sozialer Sicherheit haben.Die Bereitschaft zur Veränderung – das ist im übrigenauch in der Rede des Bundeskanzlers deutlich geworden– hängt auch sehr stark davon ab, daß man zwei Dingesicherstellt: nämlich einerseits ein festes Fundament, dasich mit den Stichworten der planerischen und sozialenSicherheit bezeichne, andererseits Leistung, Motivationund die Bereitschaft, die Verantwortung und den Lei-stungswillen von Menschen zu fördern und voranzu-bringen. Das gilt ganz selbstverständlich auch innerhalbder Bundeswehr und ihrer zivilen Verwaltung.Insofern drücken die Zahlen des Einzelplanes 14 einegewollte Politik aus, die auf der einen Seite die be-schriebenen Ansprüche einlösen wird und auf der ande-ren Seite die Bundeswehr fähig machen soll, mit denHerausforderungen der Zukunft umzugehen und ihren– im übrigen unverzichtbaren – Beitrag für die Sicher-heit, die freiheitliche und friedliche Entwicklung unseresLandes und unserer Partner und Freunde zu gewährlei-sten.Ich will das wiederum an nur einem Beispiel deutlichmachen, nämlich an der Frage, wie sich denn die Bun-deswehr auf solche neuen Herausforderungen einrichtenkann und worin sie tatsächlich bestehen. Es ist schondeutlich geworden, daß sich die BundesrepublikDeutschland viel stärker als in der Vergangenheit anMaßnahmen der internationalen Friedenssicherung be-teiligt. Das kann man nicht allein auf den militärischenBeitrag zu solcher Friedenssicherung beschränken. Zueiner integrierten oder kohärenten Politik gehören auchvorbeugende Krisenbekämpfung, schnelle Beseitigungvon Krisenursachen und Hilfe bei der zivilen Entwick-lung eines Landes oder einer Region.Das hat Auswirkungen auf vielfältige internationaleInstitutionen, beispielsweise auf die Vereinten Nationenund ihre Entwicklungsagentur. Es hat Auswirkungen aufdie Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland, dieVereinten Nationen zu stärken und im Interesse dieserStärkung entsprechende Möglichkeiten zur Verfügungzu stellen. Es hat auch Auswirkungen auf die Diskussionum eine neue Strategie der NATO und die Rolle derEuropäer innerhalb der NATO.Dazu kurz folgende Hinweise. Im Rahmen der neuenNATO wird ein neues strategisches Konzept beraten,das auf folgende Entwicklungen sehr genau eingehenwird: die Kooperation mit anderen Partnern der gemein-samen Sicherheit in Europa wie beispielsweise – abernicht alleine – Rußland und die Ukraine, die Aufnahmeneuer Mitglieder in die NATO und die Unterstreichungder Tatsache, daß es eine offene Tür für weitere Mit-gliedschaften in der NATO gibt. Allerdings füge ichhinzu, daß gerade die NATO nicht irgendein politischeroder gar sozialer Club ist, sondern ein militärischesDr. Friedbert Pflüger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1547
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Bündnis mit Aufgaben, die in der festen und zuverlässi-gen Friedenssicherung ruhen. Folgerichtig müssen vonden Staaten, die NATO-Mitglied werden wollen, auchgewisse Anforderungen erfüllt werden. Das sind Anfor-derungen an Ihre demokratische Kultur; das sind Anfor-derungen an ihre parlamentarische Festigkeit; und dassind Anforderungen an ihre militärische Leistungsfähig-keit.Nicht zuletzt wird es darauf ankommen, das Gewichtder Europäer innerhalb der NATO zu stärken, was aufzweierlei Weise geschehen soll. Es ist das Ziel der dop-pelten Präsidentschaft – der Präsidentschaft der Bundes-republik Deutschland in der Europäischen Union wie inder Westeuropäischen Union –, dafür zu sorgen, daß zu-nächst, noch vor dem Gipfel in Washington, die Verein-barungen, auf die man sich schon vor Jahren in Berlinverständigt hatte, nun endlich formalisiert werden unddaß die Europäer im Rahmen der westeuropäischenUnion fähig werden, unter Nutzung von NATO-Strukturen und NATO-Möglichkeiten eigenständig zuhandeln.Nach dem Washingtoner Gipfel wird ein zweiterSchritt unternommen werden, und zwar mit einerInitiative der Bundesregierung, die das Ziel hat, eineIntegration der Westeuropäischen Union in die Euro-päische Union schrittweise auf den Weg zu bringen.Damit ist für solche NATO-Mitgliedstaaten, die nochnicht Mitglied der Europäischen Union sind, ein Brük-kenschlag verbunden, der ihnen im Rahmen der ge-meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine engereZusammenarbeit mit der Europäischen Union ermögli-chen soll.Vor diesem international und politisch beschriebenenHintergrund taucht die Frage auf, ob die Bundeswehr inihrer Struktur, in ihrer Ausrüstung und in ihrem Umfangsolchen Aufgaben gewachsen ist. Es ist das Ziel derBundesregierung, sicherzustellen, daß sich die Bundes-republik Deutschland an allen Aufgaben, die sich inter-national stellen, dem Gewicht der BundesrepublikDeutschland entsprechend beteiligen kann. Es gibt in derStruktur wie auch in der Ausrüstung der Bundeswehrganz offensichtlich Bedarf, entsprechende Veränderun-gen herbeizuführen. Das will ich ausdrücklich auch imLichte einer Serie von insgesamt sechs Tagungen mitAngehörigen der Bundeswehr sagen, auf denen man vielüber das Innenleben der Bundeswehr, aber auch man-ches darüber erfährt, wie die Leistungsfähigkeit derBundeswehr von denen beurteilt wird, die sie von derBasis und vom alltäglichen Betrieb her kennen.Vor diesem Hintergrund ist es mir wichtig, daß derInvestitionsanteil im Haushalt des Bundesverteidi-gungsministeriums zum ersten Mal seit Jahren nichtmehr sinkt, sondern wieder steigt.
– Daß Sie das bezweifeln, Herr Breuer, erklärt sich ausIhrer Rolle heraus, aber nicht aus den Tatsachen.
Es gehört ja zum pflichtschuldigen Programm einerjeden Opposition, etwas zu bezweifeln.
Es ist nicht notwendig, alle Fehler zu wiederholen,die in den letzten 16 Jahren gemacht wurden. Im übrigenhabe ich nichts dagegen, wenn die Opposition jetzt wie-der 16 Jahre dauert. Aber das ist Ihre Sache, nicht sosehr meine.Der Investitionsanteil – den Haushalt und seine Ver-abschiedung vorausgesetzt – in der Größenordnung vonetwas mehr als 25 Prozent ist in seiner Steigerung er-freulich, aber auf Dauer – das ist festzuhalten – ist einInvestitionsanteil von 25 Prozent zu niedrig. Es hatüberhaupt keinen Sinn, sich daran vorbeizumogeln.
Denn mit Blick auf die Aufgaben, die sich aus dem be-schriebenen Umfeld stellen, ist ein dauerhafter Investi-tionsanteil von 25 Prozent im Vergleich zu 1998 und denVorjahren zwar eine erfreuliche Steigerung, es wird fürdie Zukunft allerdings nicht reichen. Ich sage das auch imHinblick darauf, daß man in der Haushaltspolitik nichtnur ein Haushaltsjahr betrachten, sondern eine langfristigepolitische Linie deutlich werden lassen sollte.Vor diesem Hintergrund wird vielleicht verständlicher,weshalb es mir und der Führung auf der Hardthöhe be-sonders wichtig ist, jetzt schon alle Maßnahmen zu ergrei-fen, die eine höhere Effizienz bei der Verwendung vonSteuermitteln sicherstellen und die gewährleisten sollen,daß die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr gesteigert unddie manchmal knebelnde Bürokratie reduziert werden.Auch das ist ein Ergebnis solcher Tagungen.
Ich will das Parlament ausdrücklich einladen, imRahmen der Haushaltsberatungen mit der Bundesregie-rung und dem Bundesverteidigungsminister darübernachzudenken, wie man zusätzliche Möglichkeiten indem gerade beschriebenen Interesse, nämlich Effizienzund Leistungsfähigkeit steigern und Bürokratie abbauen,entsprechend verankern kann.Sie wissen, daß die Bundeswehr eine außerordentlichmoderne Verwaltung hat. Das soll uns aber nicht daranhindern, diese Verwaltung weiter zu modernisieren. Dashat mit Stichworten zu tun, die sich zunächst sehrtechnokratisch anhören: Verantwortung für Kosten undLeistung, flexible Budgetierung und andere Dinge mehr,die ich jetzt nicht alle aufzählen will. Sie alle haben einZiel – das habe ich ganz zu Anfang genannt –: Lei-stungsfähigkeit, Motivation, Verantwortungsbereitschaftsind auf der Grundlage planerischer und sozialer Sicher-heit die Voraussetzung dafür, daß man solche Verände-rungen mit den Menschen macht und sie zur Gestaltung,zur Mitverantwortung einlädt, anstatt Sparprozesse ge-gen sie zu organisieren und sie immer wie eine Bela-stung erscheinen zu lassen.
Bundesminister Rudolf Scharping
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1548 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Im übrigen geht es weniger ums Sparen selbst, sondernum die beschriebenen Ziele der Effizienz, der Leistungs-steigerung und der wirtschaftlichen Verwendung vonMitteln.Das wird mit Blick auf den Haushalt auch im Zu-sammenhang mit der Rüstungsplanung und der Art undWeise, wie sie vorgenommen und verwirklicht wird, be-stimmte Konsequenzen haben. Eine will ich hier andeu-ten. Die Hardthöhe wird noch in diesem Jahr und paral-lel zur Verabschiedung des Haushalts Methoden einesControlling einführen, wie es in der privaten Wirtschaftgang und gäbe ist, leider Gottes aber bei so hohen Inve-stitionen von knapp 12 Milliarden DM in der Bundes-wehr bisher nicht gang und gäbe war.
Ich will darauf aufmerksam machen, daß eine Füllevon Fragen, ganz unbeschadet der zukünftigen Gestaltder Bundeswehr und der Erörterung, die innerhalb derZukunftskommission zu führen sein werden, heuteschon klar erkennbar vor uns liegt. Wenn sie klar er-kennbar vor uns liegt, wäre es ziemlich dumm, auf dieEmpfehlung der Kommission zu warten. Was entscheid-bar ist, wird auch entschieden werden.Mit Blick auf das finanzielle Volumen registriere ichmit Aufmerksamkeit und, wie Sie vielleicht verstehenwerden, mit Zufriedenheit den Antrag der Bundesregie-rung im Zusammenhang mit dem möglichen Engage-ment im Kosovo. Wir werden darüber im Laufe dernächsten Stunden in den Ausschüssen und dann im Ple-num des Deutschen Bundestages reden können.Der Haushalt ist jedoch – das soll meine abschließen-de Feststellung sein –, wie man in anderen Zusammen-hängen sagt, sehr knapp und auf den Rand genäht. Es istnicht so, daß man ihn als Steinbruch mißverstehenkönnte. Es ist auch nicht so, daß man den 340 000 An-gehörigen und den über 120 000 Zivilangestellten derBundeswehr signalisieren sollte – das wird die Regie-rung, das wird der Bundesverteidigungsminister auchnicht tun –, als könne man den Haushalt des Bundes-verteidigungsministeriums als Verfügungsmasse zurErledigung anderer Aufgaben betrachten; denn dieSicherheit eines Landes ist ein langfristiges Gut undkein konjunkturelles oder Moden unterworfenes Gut.
Der Raum für die Verantwortung der BundesrepublikDeutschland wird größer, und zwar nicht nur durch dieAufnahme dreier neuer NATO-Mitglieder, was einhistorischer Prozeß und Fortschritt ist, den wir in dennächsten Tagen endgültig vollziehen werden.Vor diesem Hintergrund gestatten Sie mir eine ab-schließende Feststellung: Es gibt Menschen, diemanchmal danach fragen, wo bei diesen enormen Ver-änderungen unserer sicherheitspolitischen Lage undunseres sicherheitspolitischen Umfeldes und den Verän-derungen in der Bundeswehr selbst – in Umfang, Auf-gabenstellung usw. – die Friedensdividende bleibe.In der zweiten Hälfte der 80er Jahre hat die Bundes-republik Deutschland 25 Prozent ihrer Steuereinnahmenfür Zwecke des Einzelplans 14, also für Verteidigungausgegeben. Jetzt gibt die Bundesrepublik Deutschlandetwa 14 Prozent der Steuereinnahmen des Bundes fürVerteidigung aus. Das ist ein Unterschiedsbetrag vonjährlich etwa 35 Milliarden DM.Gleichzeitig ist durch das Engagement auch der Bun-deswehr, was die militärische Absicherung des Abkom-mens von Dayton und die friedliche Entwicklung inBosnien-Herzegowina angeht, und auch durch eine sehrumfangreiche zivilmilitärische Zusammenarbeit, die dieBundeswehr in vorbildlicher Weise in Bosnien prakti-ziert,
die Möglichkeit geschaffen worden, daß die Zahl derFlüchtlinge, die Deutschland beherbergt hatte, und zwarmit gutem Grund – ich finde es immer ehrenvoll,Flüchtlingen zu helfen –,
von zirka 350 000 auf weniger als 100 000 zurückge-gangen ist. In dieser Zahl steckt zugleich – obwohl dasnicht der wichtigste Gesichtspunkt ist, sollte man ihn be-rücksichtigen – eine Veränderung in den finanziellenAufwendungen von deutlich über 10 Milliarden DM.
Wenn man diese beiden Summen – die Veränderun-gen hinsichtlich dessen, was wir aus den Steuereinnah-men des Bundes für Verteidigung aufwenden, und hin-sichtlich dessen, was insbesondere Gemeinden durchfriedliches Engagement sparen können oder gespart ha-ben – zusammenrechnet, dann wird man feststellen, daßdie Friedensdividende nur aus diesen beiden Positionenetwa so hoch ist wie der Verteidigungshaushalt heute.Das, meine ich, ist beachtlich; denn das heißt, die Bun-deswehr ist um 42 Prozent reduziert worden, und mitBlick auf den Gesamthaushalt sind die Aufwendungenfür die Bundeswehr um rund 50 Prozent reduziert wor-den. Das ist ein beachtlicher Fortschritt. Aber die quan-titativen Grenzen sind erreicht. Jetzt geht es darum, diequalitativen Möglichkeiten zu erweitern, und dazumöchte ich Sie ausdrücklich einladen.
Bevor ich das Wortweitergebe, muß ich, an den Kollegen Kubatschka ge-richtet, der nicht im Saal ist, leider sagen, daß ich seinenAusdruck, den er während der Rede des Ministerpräsi-denten Stoiber verwendet hat, als unparlamentarisch zu-rückweise.
Bundesminister Rudolf Scharping
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1549
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– Sie wollen mich doch wohl nicht provozieren, denAusdruck hier zu verlesen?
Er ist nicht nur unparlamentarisch, sondern – wenn ichdas einmal sagen darf – auch unbayerisch.
Ich gebe nun dem Kollegen Dietrich Austermann vonder CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsetat istmehr noch als der Außenetat, über den wir eben gespro-chen haben, ein Spiegelbild, eine Antwort auf die Frage,wie wir mit unseren Soldaten umgehen. Ich möchte zuBeginn meiner Rede sagen: Wenn man die internatio-nalen Einsätze sieht, die die Bundeswehr hinter sich hat,und die Einsätze sieht, die möglicherweise vor der Bun-deswehr liegen, wenn man die jahrzehntelange Verteidi-gungsbereitschaft in unserem Lande sieht, dann ist es,glaube ich, gut, an dieser Stelle zuerst unseren Soldaten,den Wehrpflichtigen und den zivilen Mitarbeitern für dieSicherung des Friedens und die Sicherung der Freiheitnicht nur in unserem Land zu danken.
Wir danken für die Einsätze von Kambodscha bis Bos-nien und für die Verteidigungsbereitschaft.Wenn ich das sage, dann muß ich darauf hinweisen,daß sich die Zeiten in einem derart rasanten Tempo än-dern, daß es einem kaum gelingt, seinem Erstaunen überVeränderungen Ausdruck zu geben. Wer, liebe Kolle-gen, hätte vor einem Jahr gedacht, daß sozialdemokrati-sche Verteidigungspolitiker im Bündnis mit den GrünenÜberzeugungsarbeit bei der Union zu leisten versuchen,um den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr im Aus-land vorzubereiten?
Noch vor wenigen Jahren stellte sich der jetzigeAußenminister, der das eben auch eingestanden hat, ge-gen seine Fraktionsmehrheit und widersprach sogarBlauhelmeinsätzen. Als es zum erstenmal um die Siche-rung der Menschenrechte in Bosnien ging, mußten wiruns in einer Haushaltsdebatte von einer grünen Abge-ordneten vorhalten lassen, wir wiederholten den Einsatzder Wehrmacht in Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg.Es ist noch nicht einmal ein Jahr her, daß uns vorgewor-fen wurde, das mehr proklamierte als realisierte Leitbildvom Staatsbürger in Uniform würde von uns zugunstendes universellen Kämpfers ausgehöhlt. Von Militarisie-rung der Außenpolitik war die Rede, und es hieß, dasWort „Menschenrechte“ werde instrumentalisiert und zueinem ideologischen Begriff zur Durchsetzung der In-teressen der Reichen und der Wohlhabenden pervertiert.Das waren doch alles Ihre Worte, Frau Beer. Ich erwarteeigentlich, daß Sie heute zum erstenmal von dieserStelle aus sagen, Sie hätten sich geirrt, die Position, dieSie bisher eingenommen hätten, sei falsch gewesen undhabe der Bundeswehr, die Anspruch darauf hat, daß sievom gesamten Parlament unterstützt und getragen wird,eher geschadet.
Das gilt insbesondere dann, wenn man sich vor Augenhält, daß Sie, die Sie noch vor zehn Monaten den Koso-vo-Einsatz abgelehnt haben, nun mit Fernsehkameras andie Stätte Ihrer bisherigen Menschenrechtsverweigerungdrängen.
– Sie können ja gern dazu Stellung nehmen.Wenn in den Regierungsfraktionen insoweit tatsäch-lich ein neuer Kurs Platz greift, dann frage ich mich,warum Sie in Zukunft – das steht in der Koalitionsver-einbarung – die militärische Ausstattungshilfe der Bun-deswehr verweigern wollen, die eine Hilfe für die Ärm-sten der Armen auf der Welt darstellt. Die Beendigungder militärischen Ausstattungshilfe wäre ein Unfug, weilsie gerade in vielen Ländern Schwarzafrikas den Men-schen in den letzten Jahren im medizinischen und hu-manitären Bereich großartig geholfen hat.Noch vor einem Jahr war es richtig, wenn man dieSituation so beschrieben hat: Ungarn will in die NATO,die Grünen wollen raus, Ungarn und Polen wollen in dieEU, und Rotgrün sagt nein.Wir haben immer gesagt, der Auftrag der Streit-kräfte bestehe nach dem politischen Umbruch der ver-gangenen Jahre nicht nur in der Befähigung zur Vertei-digung des eigenen nationalen Territoriums, sondernauch in humanitären Hilfsmaßnahmen bei Katastro-phen und Notlagen im Frieden. Dies war, wie gesagt,bis vor kurzem nicht in allen Teilen des Bundestagesselbstverständlich. Ich bitte deshalb um Verständnisdafür, wenn wir diejenigen, die bisher und viel zu lan-ge nein gesagt haben, auf dem Weg zur Vernunft oderauf dem Weg in die Gegenwart nicht besonders herz-lich begrüßen. Gerade jetzt braucht die Bundeswehr dievolle und nicht nur die halbherzige Unterstützung. Dahaben viele noch einen langen Weg vor sich. VolleUnterstützung ist vor allem im wehrtechnischen undmateriellen Bereich vonnöten.Ich komme zur finanziellen Seite des Etats für dieBundeswehr. Der Bundesverteidigungsminister hat be-reits darüber gesprochen. Herr Scharping, es war einekluge Entscheidung, den Waigel-Entwurf für den Ver-teidigungsetat im wesentlichen zu übernehmen. Sie reihtsich in andere kluge Entscheidungen in Ihrem Hause ein,die Kontinuität in der Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik bedeuten können.
Nicht klug war, daß der Finanzminister den Etat um235 Millionen DM gekürzt hat. Wir werden bei denHaushaltsberatungen versuchen, diese Kürzung wiederrückgängig zu machen. Es war auch nicht klug, daß ergestern gesagt hat, wenn künftig weitere Kürzungen er-forderlich seien, dann werde auch der Verteidigungsetatnicht ungeschoren bleiben können.Vizepräsident Rudolf Seiters
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1550 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Wir sind für Planungssicherheit, Festhalten an derWehrpflicht, Fortführung der bedarfsgerechten Ausstat-tung der Streitkräfte, Aufrechterhaltung der Haushalts-ansätze für Ausbildung und Übungen – das sage ich ge-rade im Blick auf die Unglücksfälle, die vor allem dieLuftwaffe in letzter Zeit ereilt haben –, Fortsetzung derinternationalen Einsätze im ehemaligen Jugoslawiensowie für die Erweiterung der NATO zum nächstmögli-chen Termin. Insoweit scheint es Kontinuität zu geben,und das begrüßen wir.Der Verteidigungsetat mit 47,3 Milliarden DM, alsounser Entwurf aus dem letzten Jahr inklusive eines so-genannten Konsolidierungsbeitrages, reicht knapp aus,den von mir genannten politischen Vorgaben zu entspre-chen. Seit dem Regierungswechsel hat sich an den Auf-gaben der Bundeswehr nichts geändert. Das, was jetztneu hinzukommt, muß auch finanziell neu bewertetwerden. Deshalb begrüßen wir es, daß die zusätzlichenfinanziellen Mittel in Höhe von 620 Millionen DM ausdem Einzelplan 60 und nicht aus dem Verteidigungsetatherausgeschnitten werden, wenn es zum internationalenEinsatz kommt.
Herr Kollege Breuer wird zu dieser Frage gleich nochStellung nehmen.Der Etat darf nicht gekürzt werden. Die verteidi-gungsinvestiven Ausgaben sind, Herr Minister, nichtzum erstenmal in den letzten Jahren gestiegen. Sie stei-gen seit drei Jahren ständig. Wir können da eigentlichimmer nur wieder darauf hinweisen, daß gerade die da-malige Opposition dafür sorgen wollte, daß im Bereichvon Übungen, Materialerhaltung und -beschaffung, vonwehrtechnischer Forschung usw. gekürzt würde. Wärenwir dem damals gefolgt, sähen Ihre Handlungsmöglich-keiten heute deutlich schlechter aus.Der Etat darf nicht verringert werden, denn es bestehtsonst die Gefahr, daß weitere Vorhaben verschleppt oderaufgegeben werden und dann vorhandenes Gerät längerals geplant benutzt wird, mit der Folge höherer Ausga-ben bei der Materialerhaltung. Wir haben hier in denletzten beiden Jahren Mittel aufgestockt. Hier besteht inder Tat ein weiterer Bedarf.Wir begrüßen die Entscheidung, die zusätzlichenMittel, wie gesagt, aus dem anderen Etat zu entnehmen.Trotzdem bleibt auch dieser Verteidigungsetat mit440 Millionen DM für internationale Einsätze belastet.In dieser Situation könnte man denken, es ist alles inOrdnung, die überwältigende Mehrheit des Parlaments hatsich der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung an-geschlossen, die hinter der Bundeswehr und auch hinterder Zahl der Soldaten steht, wenn man nicht aus Vorge-sprächen zu den Haushaltsberatungen den Eindruck ge-wönne, daß sich Haushaltspolitiker, rotgrüne Koalitions-abgeordnete, anschicken, die Zahl der Wehrpflichtigenum 3 000, die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten um 1 000noch in diesem Jahr abzusenken, um damit einen Beitragzu leisten, Einnahmelücken insbesondere auf Grund desSteueränderungsgesetzes zu decken.
– Ich stelle das fest. Wenn es Märchen sind, um so bes-ser. Der eine oder andere aus Ihrer Fraktion läßt erken-nen, daß dies die Absicht ist. – Es ist kontraproduktiv imHinblick auf die Bemühungen, auch über den Verteidi-gungsetat etwas zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeitzu tun, wenn man im Bereich der Wehrpflicht sparenwill.
Sie können an anderer Stelle überall erkennen, daß esdurchaus solche Absichten gibt. Ich verweise auf eineaktuelle Schrift der Kollegen Kröning und Verheugen.Kollege Kröning ist im Haushaltsausschuß jetzt für denVerteidigungsetat verantwortlich. In ihr wird gesagt, dieZahl der Soldaten sollte auf 250 000, die Ausgaben derBundeswehr auf 37,5 Milliarden DM reduziert werden.Was heißt das denn anderes, als daß Standorte rasiertwerden, wenn die Zahl der Soldaten verringert wird?Wir wissen seit langem, daß die Grünen, daß sich FrauBeer damit befaßt, die Bundeswehr ständig zu verklei-nern. Die letzte Zahl, die sie vor kurzem genannt hat,waren 150 000 Mann. Wir sagen: Mit uns nicht! Mit unswird auch an der Wehrpflicht nicht herumgefummelt.
Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen, der mirwichtig zu sein scheint. Man kann die Aktivität derBundeswehr auch anders beeinträchtigen als dadurch,daß man ihr Geld entzieht. Der schleswig-holsteinischeUmweltminister, durch die „Pallas“-Affäre unrühmlichbekanntgeworden
– ist leider noch im Amt –, ist dabei, in einer Vorlagesämtliche Standortübungsplätze der Bundeswehr unterNaturschutz zu stellen, sie als FFH-Gebiete nach Brüs-sel zu melden. Man muß sich das einmal vorstellen: Wirschicken Soldaten in internationale Einsätze, und HerrSteenblock sagt, Übungsmöglichkeiten im Inland sindnicht mehr. Den Wehrpflichtigen wird verboten, beiÜbungen auf den Standortübungsplätzen tiefer als einenMeter zu graben, Äste abzubrechen und sich zu tarnen.Wir schicken sie in internationale Einsätze, und Um-weltschützer sagen dann: Standortübungsplatz wird Na-turschutzgebiet. In meinem Wahlkreis liegt in der Mel-dorfer Bucht eine Munitionserprobungsstelle. Solangeich im Bundestag bin, sind die Grünen und einzelneSPD-Abgeordnete dabei, zu sagen, das muß dort endlichaufhören. Wo will ich denn neue Verteidigungsgeräte,die unsere Soldaten brauchen, damit sie optimal ge-schützt sind, erproben, wenn nicht zum Beispiel auf die-sem Übungsplatz? Umweltschützer können doch nichtdie Verteidigungspolitik der Bundesrepublik konterka-rieren.Mir sagen Bundeswehrangehörige, überall dort, woRotgrün an der Regierung ist, macht man das gleiche.Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Der Truppen-übungsplatz Wildflecken erstreckt sich über mehrereBundesländer. Der hessische Teil ist Naturschutzgebiet;der Teil, der anders und ordentlich regiert wurde, istkein Naturschutzgebiet. Wir sollten den Bürgern klar-Dietrich Austermann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1551
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machen: Wenn man diese Bundeswehr will und sie ver-teidigungsbereit halten will, muß man ihr auch dieÜbungsmöglichkeit geben und darf ihr sie nicht aus derHand schlagen.Lassen Sie mich schließen. Im Rahmen der Haus-haltsberatungen werden wir für eine solide Finanzie-rung der internationalen Einsätze, eine Aufrechterhal-tung des Haushaltsvolumens des Waigel-Entwurfs undDetailverbesserungen eintreten. Die Bundeswehr istseit der Wiedervereinigung in einem ständigen Wandelbegriffen. Internationale Einsätze in Kambodscha, So-malia, Bosnien, nun wohl auch im Kosovo waren mitjeweils steigendem Gefährdungspotential und wach-senden militärischen Anforderungen über die Verteidi-gungsbereitschaft hinaus verbunden. Diese sich ständigverändernde Armee kann auf die Unterstützung derUnion rechnen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die
Kollegin Angelika Beer vom Bündnis 90/Die Grünen.
HerrPräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! HerrAustermann, ich muß Ihnen gratulieren. Sie haben zu-mindest die Koalitionsvereinbarung von uns gelesen.Allerdings haben Sie bei Ihrer Liste der Übeltaten derfrüheren Oppositionspolitikerin Angelika Beer verges-sen, daß sie noch vor einem dreiviertel Jahr auf der Stra-ße gegen den Eurofighter gekämpft hat und in Kürzeeinem Verteidigungshaushalt zustimmen wird.
Unsere Politik mag für Sie intellektuell nicht nach-vollziehbar sein. Aber ich will versuchen, ihre Grundzü-ge zu umreißen. Es geht uns darum, daß wir in Zukunfteine präventive Außen- und Sicherheitspolitik nichtnur formulieren, sondern auch gestalten wollen, um da-mit Defizite der 16jährigen CDU/CSU-F.D.P.-Koalitionzu beseitigen.Der Haushalt 1999 ist ein Übergangshaushalt. AufGrund der unkontrollierten Beschaffungspolitik unterVolker Rühe und der vertraglichen Festlegungen aufgroße Zeiträume haben wir in der Tat geringe Spielräu-me, um diesen Haushalt zu gestalten. Aber ich glaube,daß wir dort, wo wir es getan haben, auf dem richtigenWeg sind.
Wir werden den Haushalt so gestalten, wie es unsererVerantwortung, die wir bewußt übernommen haben,entspricht.Eine bloße Fortschreibung des Rüheschen Plans istaus verschiedenen Gründen nicht möglich. Das zeigt dieHalbwertszeit der Bundeswehrpläne, die früher vorge-legt worden sind. Das Motto „schieben und strecken“kann von uns auf Dauer nicht weiter befolgt werden;denn es würde die Bundeswehr in ein finanzielles undsicherheitspolitisches Desaster führen.Die strukturelle Ausrichtung der Bundeswehr ist ausunserer Sicht sicherheitspolitisch überdimensioniert undüberholt. Wir können sie in dieser Form nicht weiterfinanzieren. Deswegen ist es wichtig, daß die Kommis-sion „Zukunft der Bundeswehr“ eingesetzt wird undab April ihre Arbeit aufnimmt und daß bereits vorher– wie es der Verteidigungsminister ausgeführt hat – imRahmen vorsichtiger und nachvollziehbarer Anpas-sungsprozesse Korrekturen vorgenommen werden, dieohne Probleme und ohne tiefgreifende Einschnittedurchführbar sind. Insofern werden wir auch im Rahmender Einzelplanberatungen im Verteidigungsausschußeinige Projekte wie den „Tiger“ und die Bewaffnung fürein panzerlastiges Heer in Frage stellen und überlegen,ob wir dort, wo es Überfluß gibt, nicht reduzieren kön-nen.Ich möchte ganz klar sagen, daß die Versäumnisseder Vergangenheit bereits in den nächsten Monaten ak-tives Handeln erfordern. Es wird eine Diskussion unddie Entscheidung über die NATO-Strategie geben; derAmsterdamer Gipfel wird stattfinden. Wir werden auchfeststellen – das ist offensichtlich –, daß es einen Ge-staltungszwang im gesamten Bündnis geben wird, alsonicht nur in Deutschland bezüglich der Bundeswehr.Das zeigt auch die jüngste Ankündigung des spanischenPartners, die Wehrpflicht abzuschaffen.
Eine Umstrukturierung der Bundeswehr kann vor die-sem Hintergrund zumindest nicht von vornherein ausge-schlossen werden. Die Streitkräfte der NATO-Mit-gliedsländer und ihre Ausrüstungen müssen auch imHinblick auf die internationalen und multinationalenEinsätze kompatibel sein.In der Öffentlichkeit hat inzwischen eine Diskussionüber die zukünftige Rolle der Bundeswehr begonnen.Diese Diskussion ist dringend notwendig. Daß sie be-gonnen hat, ist zum einen dem Beschluß, die Kommis-sion „Zukunft der Bundeswehr“ einzusetzen, und zumanderen ganz sicherlich auch dem Stil des neuen Vertei-digungsministers Scharping zu verdanken, der mit demTabu des Nichtdiskutierens und mit der Maulkorbideo-logie Rühes gebrochen hat, der den Dialog mit denStreitkräften sehr bewußt führt und damit dafür sorgt,daß sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Armeeselbst die zukünftige Bundeswehr mit ihrer Struktur undihrem Auftrag, der neue Dimensionen annehmen wird,getragen werden wird.Wir dürfen Sicherheitspolitik heute nicht mehr nurnoch als eine Frage der Bundeswehr betrachten. Sicher-heitspolitik ist die Aufgabe der Außenpolitik. Politik hatdie Aufgabe, Krieg und den Ausbruch von Gewalt zuvermeiden. Hier sind in der Vergangenheit erheblicheDefizite entstanden. Die frühere Bundesregierung hatnicht genug dafür getan, daß man auf frühzeitig erkenn-bare Warnsignale, die es in Bosnien und im Kosovo ge-geben hat – ich möchte jetzt nur diese beiden BereicheDietrich Austermann
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nennen –, rechtzeitig mit nichtmilitärischen Mitteln rea-gieren kann, um zu verhindern, daß die Bundeswehroder die NATO eingesetzt werden muß.Die frühere Regierung hat es versäumt, die Instru-mente einer präventiven Außen- und Sicherheitspolitikaufzubauen. Damit hat sie darauf verzichtet, Eskalatio-nen im Vorfeld zu verhindern. Die Instrumente, derenEntwicklung wir vereinbart haben, werden wir in dennächsten Jahren konsequent schrittweise aufbauen, umdafür zu sorgen, daß es genau das Dilemma, das wirheute in der Kosovo-Debatte spüren – jahrelang gewar-tet zu haben und sich nun in einer Situation zu befinden,in der der Handlungsspielraum höchstens noch einenZentimeter breit ist –, nicht wieder gibt.Wir von der Regierungskoalition müssen hier undheute über die Möglichkeiten, weitere Eskalationen zuverhindern, entscheiden. Wir werden uns davor nichtdrücken. Deswegen werden wir diesen Antrag hinsicht-lich der Beteiligung an der Kosovo-Mission in denBundestag einbringen. Wir orientieren uns dabei an un-serem politischen Ziel: Die Bundeswehrsoldaten werdenzukünftig nur noch dann eingesetzt, wenn vorher alle zi-vilen Mittel und Instrumente ausprobiert und eingesetztworden sind und wenn sie keine Wirkung erzielt haben.Erst wenn das geschehen ist, haben wir das Recht, zusagen, daß die Bundeswehr in multinationalen Einsätzenversuchen muß, weitere Eskalationen zu verhindern.
– Ich habe es nicht anders gesehen; vielmehr erzähle ichder alten Bundesregierung seit 1987, daß sie nicht in derLage ist, politisch adäquat auf Krisenherde in Europaeinzuwirken. Sie hat darauf verzichtet, eine europäischeAußen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu for-mulieren. Darin besteht das Dilemma, das mit dazu ge-führt hat, daß die Situation in Bosnien und vor allenDingen auch im Kosovo überhaupt eskalieren konnte.
– Ich sage Ihnen das ganz ehrlich. Wir haben andereKriterien als Sie. Ist es so schwer, das zu begreifen?
Es gibt für uns die Verpflichtung einer europäischenAußen- und Sicherheitspolitik, sich in dem Fall, daß of-fensichtlich Menschenrechte verletzt werden, Gedankendarüber zu machen, mit welchen Instrumenten man die-se Menschenrechtsverletzungen beenden kann.Weil wir wissen, daß wir ganz neue Formen von eth-nischen Konflikten in Europa haben und auch in der Zu-kunft haben werden, weil unser Blick weiter als bis zuden Grenzen Deutschlands oder denen des engerenNATO-Raums gehen muß, weil wir mit der Osterweite-rung der NATO im baltischen, im osteuropäischen undim gesamteuropäischen Raum Verpflichtungen auf unsgenommen haben, eine Sicherheitsperspektive zu ge-stalten, die vor einem Militäreinsatz ansetzt, werden wirentsprechende Instrumente aufbauen, um zukünftig vondieser leicht kopflosen Reaktionsweise der alten Regie-rung wegzukommen und das zu tun, was der Verteidi-gungsminister eben ausgeführt hat.
Das betrifft dann allerdings nicht den Einzelplan 14,sondern den Einzelplan 05 und den Einzelplan desBMZ.Vielen Dank.
Ich gebe dem Kol-
legen Günther Nolting von der F.D.P.-Fraktion das
Wort.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Ich stelle nach dem,was wir von der Kollegin Beer gerade gehört haben,fest, daß die Magdeburger Beschlüsse der Grünenweiterhin Bestand haben. Sie hat es etwas verklausuliertvorgetragen: Es geht den Grünen letztendlich nach wievor um die Abschaffung der Bundeswehr, mit dem er-sten Schritt der Abschaffung der Wehrpflicht. Es gehtum die Auflösung der NATO, wie es in den Magdebur-ger Beschlüssen steht.
Ich will den Horrorkatalog dieser Beschlüsse der Grünennicht weiter erläutern.Frau Kollegin Beer, das, was Sie hier zum möglichenKosovo-Einsatz gesagt haben, war für uns unverständ-lich.
Es war nicht nachzuvollziehen, und es war auch unehr-lich. Ich bin einmal gespannt, wie Sie in den nächstenTagen den möglichen Einsatz im Kosovo aus der Sichtder Grünen als Vorratsbeschluß, wie er jetzt noch be-steht – Sie selbst haben von einem Vorratsbeschluß ge-sprochen –, begründen werden.Herr Minister, Sie haben davon gesprochen, daß derEtat nicht reduziert wird. Ich möchte Ihnen entgegnen,daß es im Vergleich zum Etat der letzten Bundesregie-rung doch eine leichte Absenkung gegeben hat. Im Blickauf die Größe dieses Einzelplanes spreche ich hier aller-dings wirklich nur von einer leichten Reduzierung.Ich will Ihnen für die F.D.P. auch ganz bewußt sagen:Wir haben mit Interesse zur Kenntnis genommen, daßbis zum Jahr 2002 die Investitionsrate im Haushalt aufüber 28 Prozent ansteigen soll. Dies wird von uns aus-Angelika Beer
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drücklich begrüßt, weil es erstrebenswert und notwendigist.
Ich hoffe, daß Sie allen Begehrlichkeiten, die es ja IhremEinzelplan gegenüber gibt, widerstehen können. Ich er-innere auch den Bundeskanzler an seine Zusage, daß derEinzelplan 14 nicht angetastet wird.Wir begrüßen ebenso – das sage ich auch ganz aus-drücklich für die F.D.P.-Bundestagsfraktion –, daß esIhnen gelungen ist, daß die Finanzen für die möglicheKosovo-Friedensmission nicht dem Einzelplan 14 auf-gebürdet wurden.
Wir sollten hier – ich glaube, der Verteidigungsministerhat es selber gefordert – fraktionsübergreifend eine dau-erhafte und vernünftige Lösung finden.Herr Minister, ich möchte aber kritisch anmerken,daß der Anteil des Verteidigungsetats am Bruttoin-landsprodukt zur Zeit nur bei 1,2 Prozent liegt. DieBundesrepublik Deutschland liegt mit dieser Zahl imNATO-Vergleich nach Spanien und Luxemburg andrittletzter Stelle. Dies ist kein gutes Signal im Sinnevon Burden-sharing. Ich denke, die finanzielle Situationdes Verteidigungsetats muß sich insgesamt verbessern.Sie haben hier von der Stärkung der Leistungsfähigkeit,von höherer Effizienz und vom Abbau der Bürokratiegesprochen. Dabei haben Sie die ausdrückliche Unter-stützung auch der F.D.P.-Fraktion. Sie müssen aber auchin Ihrem Haus alle Möglichkeiten zur Rationalisierungund Privatisierung nutzen.
Wir erinnern an unseren Vorschlag, auch externe Ex-perten mit einzubeziehen und unter anderem einen Be-auftragten einzusetzen, der dem Verteidigungsministerdirekt unterstellt wird. Damit könnte über das hinaus,was jetzt schon erreicht wurde, effektiv weitergearbeitetwerden. Genauso müssen Sie mit mehr Nachdruck dafürsorgen, daß die flexible Budgetierung rasch auf alleDienststellen, bei denen es möglich ist, übertragen wird.Hier bis zum Jahr 2004 zu warten, halten wir für falsch.
Ich will kritisch erwähnen, daß es im Entwurf desEinzelplans 14 Ausgabenreduzierungen bei den militäri-schen Anlagen gibt. Es genügt nicht, Herr Minister, diedurchaus sinnvolle Vollendung mehrerer Großprojektein Ostdeutschland zu gewährleisten. Es muß auch dafürSorge getragen werden, daß in Kasernen und Liegen-schaften in Westdeutschland Mindeststandards einge-halten werden. Hier gibt es vielerorts Probleme undMißstände. Diese müssen beseitigt werden. Ich denke,wir werden bei den anstehenden Haushaltsplanberatun-gen im Verteidigungsausschuß darauf auch noch einmalzu sprechen kommen.Ich möchte, meine Damen und Herren, noch die so-genannte Wehrstrukturkommission ansprechen. DieF.D.P.-Fraktion hält eine solche Kommission keines-wegs für den Königsweg. Trotzdem werden wir, wenndiese Kommission kommt, ihre Arbeit auch mit Anre-gungen konstruktiv begleiten.
Wir sind darauf vorbereitet und dazu auch bereit. Ich sa-ge aber für die F.D.P.Fraktion dazu: Diese Kommissiondarf nicht zu einer Alibiveranstaltung werden. Die Ver-antwortung muß bei Regierung und Parlament verblei-ben. Ich sage es ganz offen: Die Koalition und die Re-gierung dürfen sich nicht hinter den Ergebnissen dieserKommission, wie ich sie befürchte, verstecken. Wirwerden sie hier vielmehr beim Namen nennen.
Deswegen kritisiere ich an dieser Stelle, daß in dieserKommission niemand aus der aktiven Truppe mit militä-rischem Sachverstand vertreten ist
und daß in ihr auch keine verteidigungspolitischenFachleute aus dem Parlament vertreten sind. Herr Mi-nister, ist es wirklich Ihre Absicht, die militärische Füh-rung und das Parlament aus der Kommissionsarbeit aus-zublenden?
Dies sollte noch einmal überdacht werden.
– Wo der Kollege Koppelin recht hat, hat er recht. Ichdarf wiederholen, was er gesagt hat: Weil bei den Grü-nen kein politischer Sachverstand vorhanden ist, soll of-fensichtlich das Parlament ausgeschaltet werden.
– Nein, das ist überhaupt nicht primitiv. Ich kann michnur dem anschließen, was der Kollege Koppelin dazugesagt hat.Herr Minister, ich will noch auf einen Punkt hinwei-sen, der die Kommissionsarbeit betrifft. Die Zeit darfnicht verstreichen, ohne daß bereits in EinzelbereichenVerbesserungen vorgenommen werden. Ich denke, daßauch in der weiteren Arbeit des Verteidigungsausschus-ses und des Haushaltsausschusses der Mensch für dieBundeswehr im Mittelpunkt stehen muß. Dies kann bei-spielsweise durch den Abbau von Beförderungsstaus inverschiedenen Laufbahnen sowie durch verbesserte Be-dingungen für die Grundwehrdienstleistenden gesche-hen. Auch hierüber werden wir bei den Beratungen imVerteidigungsausschuß zu sprechen haben.Günther Friedrich Nolting
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Lassen Sie mich zum Abschluß ein paar Sätze überden Antrag der Bundesregierung zum möglichen Koso-vo-Einsatz sagen. Ich bitte den Verteidigungsministerund den Außenminister eindringlich, diesen Antrag zupräzisieren. Ich habe vorhin schon davon gesprochen,daß auch aus den Reihen der Grünen dieser Beschluß alsVorratsbeschluß gesehen wird. Wir brauchen im Interes-se der Angehörigen der Bundeswehr eine breite Zu-stimmung. Diese breite Zustimmung bekommen Sie,wenn Sie den vorliegenden Antrag überarbeiten. Ichdenke, die Angehörigen der Bundeswehr haben diesverdient.Vielen Dank.
Das Wort hat die
Abgeordnete Heidi Lippmann-Kasten von der PDS-
Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Die Schwierigkeiten von Rambouillet zeigen einmalmehr, daß Konflikte, die sich schon weit aufgeschaukeltund gewalttätig entladen haben, nur noch schwer zu bän-digen sind. Ob die Verhandlungen erfolgreich gewesensind, wird sich frühestens am 15. März zeigen. Dochletztendlich sind sie nur unter Androhung massiver mili-tärischer Gewalt und Härte zustande gekommen.Frieden militärisch erzwingen zu wollen darf nichtzum zukünftigen Primat der Außen- und Sicherheits-politik werden, denn in den allermeisten Fällen – daszeigt der Blick auf viele Konfliktherde in dieser Welt –wird dies nicht funktionieren. Statt das militärische In-strumentarium auszubauen – dieser Haushaltsentwurf istein Bestandteil dessen –, brauchen wir eine Politik derEntmilitarisierung und Zivilisierung der internationalenBeziehungen.Dabei geht es zentral auch darum, daß an die Stelledes Rechts der Mächtigen die Herrschaft des Rechtsgesetzt wird. Dazu ist erforderlich, die Vereinten Natio-nen und ihre Regionalorganisationen wie die OSZE, zustärken; denn sie sind für den Weltfrieden und für dieinternationale Sicherheit zuständig und nicht in ersterLinie die NATO oder die Bundeswehr. Nur auf diesemWege können nationale, regionale oder sonstige Macht-interessen eingeschränkt werden; nur so wird ein ge-rechter Friedensschluß in vielen Fällen erst möglich. Esist auch erforderlich, Konflikte möglichst frühzeitig zuerkennen, bevor sie eskaliert sind, und ihre Ursachendann anzugehen, wenn dies noch möglich ist. Der Koso-vo ist das beste Beispiel hierfür.Zwar hat die neue Bundesregierung im Hinblick aufKonflikterkennung und -prävention zumindest inihrer Koalitionsvereinbarung neue Akzente gesetzt, dochdie praktische Politik – dazu gehört auch dieser Haushalt– scheint stärker von den Legitimationsinteressen derAtlantischen Allianz geprägt zu sein als von diesen Ein-sichten. Es reicht nicht aus, 6 Millionen DM für zivileFriedensdienste und ein paar D-Mark mehr für die Frie-densforschung in den Haushalt einzustellen, wenn Sieauf der anderen Seite bezüglich des Wehretats denTrend der Vorgängerregierung fortsetzen und die Rü-stungsausgaben weiter steigen lassen.Der vorliegende Haushaltsentwurf ist paradox.Paradox, weil die Diskussion über Milliardenlöcherim Bundeshaushalt, zunehmende Arbeitslosig-keit und Aufkündigungen des Solidarvertragesschlichtweg nicht mit einem Verteidigungshaushaltvereinbar sind, der im Vergleich zu den anderenTiteln überproportional ansteigt und nach NATO-Kriterien rund 60 Milliarden DM verschlingenwird. Paradox, weil eine offensichtlich in allen Be-reichen handlungsunfähige Regierung glaubt, immilitärischen Bereich durch eine weitere Aufrü-stung noch Handlungsfähigkeit vortäuschen zukönnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ichhätte jetzt eigentlich euren Applaus erwartet, denn genaudiese Sätze hat Angelika Beer zu dem Haushaltsentwurf1998 der alten Regierung im September 1997 gesagt.Schade, daß dieser Applaus nicht gekommen ist. Daransieht man halt, wie sich die Positionen verändern. Ichmuß natürlich zugeben, daß es ein anderer Haushalt ist.Ich zitiere die Kollegin Angelika Beer weiter:Die Grünen wollen erstens die Einsparpotentiale imVerteidigungsbereich ausnutzen und auf Wahn-sinnsprojekte wie den Eurofighter verzichten.Angesichts der im vorliegenden Entwurf geplanten Aus-gabenerhöhung für neue Waffensysteme um knapp1 Milliarde DM, davon allein 322 Millionen DM für dasWahnsinnsprojekt Eurofighter, stellt sich die Frage, weroder was nun paradox ist.
Ihre Politik, die sich in den vergangenen Monatenabgezeichnet hat und die auf militärische Interventionund Rüstungszuwachs gerichtet ist, Herr Bundesmi-nister, ist in dieser Frage mindestens genauso fragwür-dig – um nicht zu sagen: paradox – wie die Politik deralten Bundesregierung.
Es mag zwar ehrenwert sein, eine Kommission „Zu-kunft der Bundeswehr“ einzusetzen und den ergebnis-offenen Dialog mit den gesellschaftlichen Gruppen su-chen zu wollen, doch man kann von einer Regierungschon verlangen, daß sie ein paar „Duftmarken“ setzt, inwelche Richtung ihrer Meinung nach die Reise gehensoll.Oder wollen Sie sich darauf beschränken, eine Politikdes „Weiter so“ zu betreiben? Wollen Sie weiterhin ander jetzigen Personalstärke der Bundeswehr mit 340 000Mann und 120 000 Zivilkräften festhalten, weiterhinKrisenreaktionskräfte aufstellen und in großem Stil neueGünther Friedrich Nolting
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Großwaffensysteme beschaffen, was dann unweigerlichRüstungssteigerungen nach sich ziehen würde? Falls ja,Kollegen und Kolleginnen von der SPD und von denGrünen, müssen Sie aber auch begründen, wozu wirnach NATO-Kriterien die Militärausgaben von knapp60 Milliarden DM brauchen und gegen wen sie im Not-fall eingesetzt werden sollen.Falls Sie aber die Chance zu einer spürbaren Entla-stung der öffentlichen Haushalte wenigstens mittelfristignutzen wollen und Ihre Politik verstärkt auf Entmilitari-sierung und Zivilisierung ausrichten wollen, sollten Siemöglichst rasch damit beginnen. Unsere Änderungsan-träge zu diesem Haushalt bieten Ihnen genügend Chan-cen.
Das Wort hat der
Kollege Peter Zumkley von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Der vom Bundesminister der Verteidi-
gung vorgelegte Entwurf des Verteidigungshaushalts
1999 trägt verantwortungsvoller deutscher Sicherheits-
und Verteidigungspolitik Rechnung und leitet bei der
Finanzierung unserer Streitkräfte neue Wege ein. Der
Regierungsentwurf des Verteidigungshaushalts 1999 hat
ein Gesamtvolumen von 47,283 Milliarden DM. Er
steigt damit gegenüber 1998 um 1,3 Prozent.
Der investive Anteil am Gesamtplafond erhöht sich
auf 25,4 Prozent in 1999. In der mittelfristigen Finanz-
planung wird er sogar auf 28,6 Prozent verbessert. Diese
erfreuliche Entwicklung begrüßen wir sehr.
Dieser Anstieg ist für den Erhalt einer modernen und
leistungsfähigen Bundeswehr von hoher Bedeutung.
Damit ist der Weg zu einer durchgreifenden Konsolidie-
rung vorgegeben. Die rüstungstechnischen Kapazitäten
der Industrie können auf dem für die Sicherheitsvorsor-
ge erforderlichen Niveau gehalten werden.
Die Personalausgaben konnten gegenüber dem
Vorjahr um über 97 Millionen DM gesenkt werden. Sie
liegen bei knapp über 50 Prozent der Gesamtausgaben
des Einzelplans 14. Damit wird auch bei den Personal-
kosten behutsam gegengesteuert.
Bei der Materialerhaltung steigen die Ausgaben ge-
ringfügig, insbesondere für die Ersatzteilbeschaffung
und die Erhaltung von Feldzeugmaterial, Schiffen und
Flugzeugen. Die Einsatzbereitschaft der wesentlichen
Waffensysteme kann im Haushaltsjahr 1999 bei allen
Teilstreitkräften aufrechterhalten werden.
Die übrigen Betriebsausgaben sinken durch Einspa-
rungen im wesentlichen bei der Bewirtschaftung. Ein-
griffe in den Ausbildungs- und Übungsbetrieb werden
vermieden.
Die Mittelansätze für Forschung, Entwicklung und
Erprobung sind so dimensioniert, daß der Anschluß an
die wehrtechnische Entwicklung gehalten werden kann
und laufende Entwicklungsvorhaben plangerecht fortge-
setzt werden können.
Die Ausgaben für militärische Beschaffung steigen
um knapp 1 Milliarde DM. Damit kann die Finanzierung
aller aktuellen Großvorhaben gesichert werden.
Das Ausgabevolumen für militärische Anlagen geht
gegenüber dem Vorjahr um 3 Prozent zurück. Der Erhalt
der vorhandenen Bausubstanz ist jedoch gewährleistet.
Die planmäßige – das ist wichtig – Fertigstellung der
Großprojekte in den neuen Bundesländern ist gesichert,
der Aufbau Ost wird fortgesetzt.
Die schwierige Finanzlage erfordert von allen
schmerzhafte Abstriche. Die Bundeswehr kann hiervon
nicht ausgenommen werden.
Herr Kollege Austermann, Sie haben ebenso wie ich
bedauert, daß auch der Einzelplan 14 gekürzt werden
muß, und zwar um 235 Millionen DM. Dies ist ein
Sparbeitrag, der weh tut, aber notwendig ist. Ich komme
jetzt aber einmal zu den Kürzungen, die unter Ihrer
Verantwortung vorgenommen wurden. Was haben Sie
eigentlich in den letzten Jahren gemacht? Sie haben in
den laufenden Haushaltsjahren gegenüber der Planung
wie folgt Kürzungen vorgenommen: 1991 in Höhe von
2,2 Milliarden DM, 1992 in Höhe von 2 Milliarden DM,
1993 in Höhe von 1,4 Milliarden DM, 1994 in Höhe von
1,2 Milliarden DM, 1995 in Höhe von 0,7 Milliarden DM,
1996 in Höhe von 1,8 Milliarden DM, 1997 in Höhe von
1,9 Milliarden DM und 1998 – keine; das war das
Wahljahr. Herr Kollege Austermann, das sind ganz an-
dere Zahlen. Diese können Sie gern im Haushaltsaus-
schuß, dem Sie angehören, überprüfen.
Ich bitte um Nach-
sicht. Es ging heute nachmittag bei dem Gespräch der
Parlamentarischen Geschäftsführer um einen Austausch,
der auch den heutigen Ablauf des Plenums berührt.
Deswegen war ich etwas abgelenkt.
Aber ich frage Sie jetzt: Sind Sie bereit, Fragen aus
dem Plenum zu beantworten?
Wenn Sie das nicht auf mei-
ne Redezeit anrechnen, gerne.
Dann gebe ich zu-
nächst dem Kollegen Rossmanith das Wort zu einer
Frage.
Herr KollegeZumkley, wenn die Litanei, die Sie gerade vorgetragenhaben, schon so schlimm war – ich stimme Ihnen da fastuneingeschränkt zu –, sind Sie dann nicht auch der Mei-Heidi Lippmann-Kasten
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nung, daß eine weitere „Strafaktion“ für dieses Jahrdurch eine Kürzung um 235 Millionen DM vermiedenwerden sollte?
Herr Kollege Rossmanith,
ich sehe das nicht als „Strafaktion“ an. Ich habe die
Kürzungen von 1991 bis 1998 nur genannt, um die
Relation zwischen den Kürzungen, die unter Ihrer Ver-
antwortung in den jeweiligen Haushaltsjahren erfolgt
sind, und dem, was jetzt ansteht, einmal deutlich zu
machen.
Gestatten Sie auch
eine Frage des Kollegen Austermann?
Ja, Herr Präsident.
Herr Austermann,
ich hoffe, Sie haben sich nicht zu einer Kurzintervention
gemeldet.
Ganz im Ge-
genteil. Ich will es kurz machen.
Herr Kollege Zumkley, können Sie erstens bestäti-
gen, daß in der Zeit, in der der Etat scheinbar gekürzt
worden ist, die Zahl der Soldaten in Deutschland von
700 000 auf 350 000 zurückgegangen ist und daß
zweitens die Sozialdemokraten über die Kürzungen
hinaus, die Sie eben mit Recht genannt haben, im Bun-
desrat jährlich weitere Kürzungen in Milliardenhöhe
gefordert haben?
Herr Kollege Austermann,
letzteres kann ich überhaupt nicht bestätigen.
– Nein. Wir haben uns schon einmal darüber auseinan-
dergesetzt. Sie haben schon damals fälschlicherweise ein
Papier angezogen, das einen Vorschlag irgendeines Un-
terausschusses des Bundesrates beinhaltete. Das Ergeb-
nis im Bundesrat war anders; das wissen Sie ganz genau.
Deswegen ist es unzulässig, dies erneut zu behaupten.
Zum ersten Teil Ihrer Frage: Es ist nicht „scheinbar“
gekürzt worden; es ist gekürzt worden. Dafür gab es
wahrscheinlich auch Gründe.
Und nehmen Sie es bitte zur Kenntnis: Auch für die
Kürzung in Höhe von 235 Millionen DM, die auch ich
bedaure – das habe ich eingeräumt –, gibt es gute Grün-
de. Diese kennen Sie genauso gut wie wir.
Auch der Kollege
Nolting hat noch eine Zwischenfrage.
Herr Kollege
Zumkley, wir alle bedauern diese Kürzungen. Aber kön-
nen Sie bestätigen, daß die SPD-Fraktion im Verteidi-
gungsausschuß und im Haushaltsausschuß des Deut-
schen Bundestages über die Kürzungen hinaus, die Sie
gerade vorgelesen haben und die Sie bedauern, in jedem
Jahr weitere Kürzungsvorschläge gemacht hat, die dann
die damalige Koalition zu Ihrem Bedauern abgelehnt
hat? Können Sie das bestätigen, oder soll ich Ihnen bei
nächster Gelegenheit diese Liste vorlesen?
Herr Kollege Nolting, natür-lich haben auch wir Kürzungsanträge gestellt. Aber siesind von Ihnen deshalb abgelehnt worden
– einen Moment, hören Sie einmal genau zu –, weil Sieselber eine viel höhere Summe durch Kürzungen einge-spart haben. Das und nichts anderes ist die Wahrheit.
– Ja, so ist es nun einmal, Herr Kollege Raidel.Wir werden die vorhandenen Haushaltsmittel sehrsorgfältig einsetzen. Denn unsere Verantwortung ver-langt, daß unsere Streitkräfte für die Bewältigung ihrerAufgaben die angemessene Ausrüstung, die notwendi-ge Vorbereitung und die beste Ausbildung erhalten.Wir brauchen eine gut ausgebildete und ausgerüsteteBundeswehr, die in der Lage ist, ihre Aufgaben mit be-stem Schutz zu erfüllen.
– Vielen Dank.Leistungen, die aus operativen Gründen nicht zwin-gend in den Streitkräften wahrgenommen werden müs-sen und zum Erhalt von wehrtechnischen Mindestkapa-zitäten beitragen, werden im Wettbewerb oder mittels„market testing“ vergeben. Dabei erwarten wir, daß je-der einzelne Fall sorgfältig und intensiv geprüft wirdund die spezifischen Besonderheiten angemessen be-rücksichtigt werden. Durch die in dieser Weise gesenk-ten betrieblichen Ausgaben werden Freiräume für dieMaterialbewirtschaftung geschaffen, die dem Bedarf derTeilstreitkräfte aufgabenorientiert und angemessenRechnung tragen.Natürlich muß gespart werden, und deshalb müssenPrioritäten gesetzt werden. Defizite können nur Schrittfür Schritt abgebaut werden. Vorrang haben deshalbmoderne Informationstechnik, Transportkapazität, Ein-satzlogistik sowie persönliche Ausrüstung und Schutzder Soldaten.Insgesamt sind und bleiben unsere Streitkräfte mo-dern ausgerüstet. Sie werden auch in den nächsten Jah-ren neues Gerät erhalten. Ich nenne nur wenige Bei-spiele: Das sind beim Heer das GTK, der Unterstüt-zungshubschrauber Tiger, der TransporthubschrauberNH 90. Das Gefechtsübungszentrum in Altmark wirdKurt J. Rossmanith
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die Ausbildung unserer Verbände unter Nutzung mo-dernster Technik effektiver gestalten. In der Luftwaffewird die Luftverteidigung angemessen verbessert. Fürdie Marine sind neue Fregatten und U-Boote unter Ver-trag. Mit den Einsatzgruppenversorgern wird die logisti-sche Reichweite deutlich erhöht. Mit diesen Investitio-nen in alle Teilstreitkräfte sichern wir auch Arbeitsplätzein Deutschland und fördern eine wettbewerbs- und ko-operationsfähige Hochtechnologie mit Synergieeffektenfür nichtmilitärische Entwicklungen.Einen wichtigen Aspekt des Haushaltsentwurfes willich allerdings noch besonders herausstellen: Ich meinedie gesellschaftspolitische Verpflichtung zur Beseiti-gung der Arbeitslosigkeit. Auch hierzu werden dieStreitkräfte einen stärkeren Beitrag leisten. Zukünftigwerden deutlich mehr junge Menschen eine zivilberuf-liche Ausbildung in der Bundeswehr erlangen können.Die notwendigen Haushaltsmittel für zusätzliche Lehr-stellen – über die bereits vorhandenen zirka 1 400 Aus-bildungsplätze eines Altersjahrgangs hinaus – sind ein-gestellt.
Im laufenden Jahr stellt die Bundeswehr jungen Frauenund Männern insgesamt 4 400 zivilberufliche Ausbil-dungsplätze bereit.
Darüber hinaus hat der Verteidigungsminister bereitsein Sonderprogramm für arbeitslose Grundwehrdienst-leistende eingerichtet. Junge Rekruten, die vor ihrerEinberufung arbeitslos waren und denen nach ihrerDienstzeit wieder die Arbeitslosigkeit droht, können biszu zwölf Monate länger im Dienst bleiben und sich da-bei auch zivilberuflich weiterqualifizieren. Meine Da-men und Herren, dieses Programm ist ein weitererwichtiger Beitrag zum Abbau der Jugendarbeitslosig-keit.
Insgesamt läßt sich zum vorliegenden Verteidigungs-haushalt folgendes Fazit ziehen: Die Bundesregierunghat mit dem Verteidigungshaushalt 1999 eine solide, si-chere und zuverlässige Basis geschaffen, um die Bun-deswehr am Anfang des 21. Jahrhunderts aufgabenge-recht und bündnispolitisch angemessen gestalten zukönnen.Parallel hierzu wird die Kommission „Zukunft derBundeswehr“, Kollege Nolting, auf der Grundlage derderzeit laufenden Bestandsaufnahme bis Herbst 2000ihre Vorschläge vorlegen. Bis dahin müssen notwendigeSach- und Haushaltsentscheidungen so getroffen wer-den, daß Vorfestlegungen hinsichtlich der zu untersu-chenden Bereiche grundsätzlich nicht erfolgen.Von der militärischen Führung erwarten wir weiter-hin sachgerechte und fachkompetente Beratung. Wirsetzen auf den synergetischen Effekt von politischer undmilitärischer Kompetenz im Sinne des von RudolfScharping neu eingeleiteten Prozesses der vertrauens-vollen und kooperativen Zusammenarbeit unter demPrimat der Politik. Dieser Weg wird uns in den nächstenJahren zum Ziel bringen.Vielen Dank.
Ich gebe das Wort
dem Abgeordneten Paul Breuer von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich die wohl-klingenden Worte der Kollegen von der SPD – ob dasnun der geschätzte Kollege Zumkley oder der Verteidi-gungsminister ist – höre, dann komme ich zu dem Er-gebnis:
Beim Verteidigungsetat ist alles in Butter.
Es leidet niemand Not; es ist alles in Butter.Ich kann mich noch erinnern, wie das in den letztenJahren – bei ähnlicher Höhe des Etats – geklungen hat.Auf der Regierungsbank sitzt ein mir sehr vertrauterKollege, nämlich der jetzige Parlamentarische Staatsse-kretär Walter Kolbow.
Er hat in den letzten Jahren, als es um ähnliche Tatbe-stände ging – lieber Walter Kolbow, Sie können bestäti-gen, daß es so ist –, von einer „dramatischen Unterfi-nanzierung“ gesprochen.
Das war die Formulierung, die wir in den letzten Jahrengehört haben. Ich denke, daß ich einen Beitrag dazu lei-sten kann, wie der Haushalt wirklich zu bewerten ist.Lassen Sie mich zunächst einmal sagen – das will ichkurz machen –: Die Beratung des Verteidigungsetats er-folgt in meinen Augen nach besonderen Kriterien. Dasbedeutet – das sage ich für die CDU/CSU-Fraktion –,daß auch wir diesem Verteidigungsetat grundsätzlichzustimmen können. Wir sind nicht von der Sorte Men-schen, die, aus welchen Gründen auch immer – das ha-ben wir in der Vergangenheit vorgeführt bekommen –,einen Verteidigungsetat ablehnen. Wir empfinden es alseine nationale Verpflichtung – wenn nicht alles dane-bengegangen ist –, einen solchen Etat grundsätzlich zuunterstützen. Das unterscheidet die Verteidigungspolitikvon anderen Bereichen.
Peter Zumkley
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Ich will auch noch ein Zweites sagen, Herr MinisterScharping – ich habe das schon im Verteidigungsaus-schuß gesagt, und ich wiederhole es hier –: Sie habenmit den Tagungen, die Sie in den letzten Wochen mitden Soldaten durchgeführt haben, einen guten Stil be-wiesen und einen guten Ton im Umgang mit den Solda-ten der Bundeswehr gefunden. Ich hebe das lobend her-vor und sage das auch heute.
Was den Haushalt angeht, auf den ich jetzt eingehenmöchte, so meine ich allerdings, daß die Worte, die manhier hört, etwas zu gut klingen. Mir drängt sich nämlichder Eindruck auf, daß Sie von dem, was Sie in den letz-ten Jahren gesagt haben, nun überhaupt nichts mehr wis-sen wollen. Sie haben doch selbst eine Meßlatte gelegt,über die Sie jetzt springen müssen. An ihr werden wirSie auch messen. In bezug auf den Verteidigungsetatstelle ich nicht etwa fest, daß Sie kein Erinnerungsver-mögen besitzen; vielmehr stelle ich fest: Die Realität hatSie eingeholt. Wie sieht die Realität aus? Zunächst istdie Garantie gegeben worden – so hat Herr Scharpinggesagt; er sprach von einer Garantie vom Bundeskanzlerund vom Finanzminister –, daß der Verteidigungsetatkeine Einbußen erleiden würde. Das ist dann auch inder Koalitionsvereinbarung festgelegt worden.Jetzt schauen wir, was sich wirklich ereignet hat: Ichbehaupte, schon im ersten Etat, den Sie, Herr Scharping,vorlegen, hat Ihnen Ihr bester Freund, Oskar Lafontaine,einen Strich durch die Rechnung gemacht – insofern, alszwar offen nur 235 Millionen DM herausgestrichenworden sind; klammheimlich aber verlieren Sie, mit Listund Tücke des Finanzministers, mehr als 1 MilliardeDM in diesem Haushalt. Erst wird Harmonie verbreitet –das hat Lafontaine in anderen Bereichen, parteiintern, jaschon einmal gemacht –, und dann fängt er langsam an,das Messer zu wetzen.Diese 1 Milliarde DM setzt sich aus folgenden Positio-nen zusammen: Von den 235 Millionen DM ist ebenschon gesprochen worden. Darüber hinaus müssen Sie140 Millionen DM für den Kosovo-Einsatz bezahlen, ne-ben ohnehin mehr als 300 Millionen DM – genau sind es306 Millionen DM; denn 90 Millionen DM bekommenSie aus dem Einzelplan 60 – für Bosnien. 270 MillionenDM bleiben in 1999 für die Fortführung des Tarifvertrags1998 hängen. 100 Millionen DM müssen Sie für dasJugendausbildungsprogramm zahlen. Diesen Betrag gibtIhnen Herr Riester nicht; das müssen Sie zahlen.Und Sie werden die Tarifrunde 1999 bezahlen müs-sen. Wenn die Forderungen der Gewerkschaft ÖTVauch nur annähernd so aussehen, wie das jetzt in der Ta-rifrunde der Metallindustrie der Fall war, wird Sie dasmit etwa 300 Millionen DM treffen. Das „Ende der Zu-rückhaltung“ trifft angesichts dieser Zahlen – wenn derVerteidigungsetat tatsächlich mehr als 1 Milliarden DMverliert – den Verteidigungshaushalt besonders. Denn esmuß zur Kenntnis genommen werden, daß die Verteidi-gung mittlerweile der größte Personaletat des Bundesist. Wenn Sie dies nicht feststellen, Herr Bundesvertei-digungsminister, tun Sie diesem Verteidigungsetatnichts Gutes, sondern tragen mit dazu bei, daß Schadenentsteht, der abgewandt werden muß.
Gegen diese Angriffe der rotgrünen Regierung istkeine Hilfe in Sicht, vor allem deshalb nicht, weil nie-mand um Hilfe ruft. Sie ergeben sich in Ihr Schicksal.Aus der Erfahrung der Vergangenheit kann ich an Sienur appellieren – der Kollege Zumkley hat dazu einigesgesagt –, das zu thematisieren. Sonst werden Sie vondemjenigen, der hier in der ersten Reihe der Regie-rungsbank sitzt, schonungslos über den Tisch gezogen.Statt zu kämpfen und politischen Druck zu machen,fügen Sie sich in Ihr Schicksal – und verabreichen Beru-higungspillen. Nach Jahren des stürmischen Umbruchsist die Bundeswehr dafür natürlich sehr empfänglich.Natürlich ist es richtig, daß die Bundeswehr eigentlichRuhe braucht. Aber warum sagen Sie denn nicht offen,was Sie mit der Bundeswehr vorhaben?Sie setzen jetzt die Wehrstrukturkommission ein,um, wie Sie sagen, mit gesellschaftlich relevanten Grup-pen über die Zukunft der Bundeswehr zu diskutieren.Politische Verantwortung sieht anders aus. Diskussionmit gesellschaftlichen Gruppen – das ist in Ordnung;aber sagen Sie doch erst einmal, was Sie mit der Bun-deswehr vorhaben. Dann können Sie mit den Gruppendarüber diskutieren, wie das zu verstehen ist und was diedavon halten. Sie drücken sich vor der Verantwortung!Herr Scharping sagt nicht, was er mit der Bundes-wehr in der Zukunft vorhat.
Er setzt eine Wehrstrukturkommission ein – bzw. eineKommission „Zukunft der Bundeswehr“, wie er sienennt –, ohne zu sagen, welche Zukunft die Bundeswehrhaben wird. Sie können sich nicht aus der politischenVerantwortung stehlen, Herr Minister Scharping. Nen-nen Sie Ihre Vorstellungen für die Bundeswehr!
Und auch die SPD kommt nicht daran vorbei, klar zusagen, was sie mit der Bundeswehr will.Man sagt, diese Kommission tage „ergebnisoffen“.Wer sich das genau anschaut, der stellt fest: So ganzehrlich ist das nicht. Einerseits hat die SPD kein Kon-zept für die Bundeswehr – ich kenne kein Konzept; daskennt niemand; Fehlanzeige! –,
andererseits höre ich auf Nachfragen in der Fragestunde,daß dieser Kommission „Leitlinien für die Weiterent-wicklung der Streitkräfte“ an die Hand gegeben werdensollen. Dann müssen Sie klar sagen, was Sie in die Leit-linien hineinschreiben wollen. Jedenfalls ist die Veran-staltung so, wie Sie sie jetzt vorhaben, weder glaubwür-dig noch ehrlich.
Paul Breuer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1559
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Wenn Sie dann noch fast zwei Jahre, Herr KollegeZumkley, diskutieren wollen, mit einem ungeheuren öf-fentlichen Getöse, bei dem ich mir vorstellen kann, daßsich Frau Kollegin Beer bei ihrem basarartigen Bieten,wie groß die Bundeswehr sein soll, von niemandemübertreffen läßt – derzeit sind Sie, glaube ich, bei etwa200 000 angelangt –,
wird vieles kaputtgeredet; das muß man feststellen. Las-sen Sie es nicht zu, daß die Bundeswehr durch einen nichtenden wollenden Diskussionsprozeß von Qualifiziertenoder Unqualifizierten kaputtgeredet wird! Sagen Sie ganzklar, was Sie mit der Bundeswehr vorhaben! Das ist Ihrepolitische Pflicht, und dafür tragen Sie Verantwortung.
Ich gehe noch einmal auf den investiven Anteil desVerteidigungsetats ein. Von Ihren Forderungen undMahnungen aus der Oppositionszeit und auch von dem,was hier heute vorgetragen worden ist, finde ich bei nä-herer Betrachtung des Etats nichts. Öffentlich senkenSie den Investitionsanteil von 25,8 auf 25,4 Prozent. Daswerden wir im Verteidigungsausschuß auszudiskutierenhaben. Aber durch die zusätzlichen Kosten, Herr Kolle-ge Scharping, verlieren Sie, wenn Sie sie im Bereich derMaterialwirtschaft, also im Bereich der Investitionenerwirtschaften – oder Sie müßten sie im Bereich desPersonals erwirtschaften –, zusätzlich drei Prozent-punkte. Das heißt, die Investitionen fallen auf 22 Pro-zent. Das ist keine Modernisierung der Bundeswehr, imGegenteil: Hier erfolgt Abrüstung durch Abrostung.Dies muß vermieden werden.Selbst nach dem von Ihnen vorgelegten Entwurf fürden Verteidigungsetat müßten Sie in den nächsten Jahrennoch fast 6 Prozent, also gut 2 Milliarden DM – ich be-haupte: 3 Milliarden DM –, auf den Investivanteil drauf-legen, wenn Sie die 30-Prozent-Marke, die auch wir wol-len, erreichen möchten. Da ist die Frage zu stellen: Woherwollen Sie diese 3 Milliarden DM nehmen? Aus dem Per-sonalbereich? Wenn Sie die aus dem Personalbereichnehmen wollen, bedeutet das einen drastischen Eingriffbeim Personal der Bundeswehr. Wenn Sie das wollen,müssen Sie das öffentlich sagen. Ich bin dagegen, es zutun. Aber die Konzeption, die jetzt vorliegt, weist für die-sen Verteidigungsetat keine Zukunft aus.Wer hier vor das Plenum tritt und sagt „Alles in But-ter“, der wird seiner Verantwortung für die deutscheVerteidigungspolitik nicht gerecht. Das ist die Feststel-lung, die ich zum Zeitpunkt der ersten Lesung des Ein-zelplans 14 vor dem Plenum des Deutschen Bundestagestreffen muß.Ich bedanke mich.
Weitere Wortmel-dungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht mehrvor. Ich rufe die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf: a) Beratung des Antrags der BundesregierungDeutsche Beteiligung an der militärischen Um-setzung eines Rambouillet-Abkommens für denKOSOVO sowie an NATO-Operationen imRahmen der Notfalltruppe
– Drucksache 14/397 –
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Inter-nationalen Privatrecht für außervertraglicheSchuldverhältnisse und für Sachen– Drucksache 14/343 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD,CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieallgemeine und die repräsentative Wahlstati-stik bei der Wahl zum Deutschen Bundestagund bei der Wahl der Abgeordneten des Eu-ropäischen Parlaments aus der Bundesrepu-blik Deutschland– Drucksache 14/401 –
Martin Bury, Ernst Schwanhold, Klaus Barthel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFörderung der Luftfahrttechnologie– Drucksache 14/395 –
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1560 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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ausschusses
Sammelübersicht 15 zu Petitionen– Drucksache 14/322 – d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 16 zu Petitionen– Drucksache 14/323 – e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 17 zu Petitionen– Drucksache 14/324 –Zunächst zur Sammelübersicht 15 auf Drucksache14/322: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 15 ist bei Ent-haltung der PDS mit den Stimmen aller übrigen Fraktio-nen angenommen.Zur Sammelübersicht 16 auf Drucksache 14/323: Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?– Die Sammelübersicht 16 ist gegen die Stimmen derCDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen der übrigen Frak-tionen angenommen.Zur Sammelübersicht 17 auf Drucksache 14/324: Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?– Die Sammelübersicht 17 ist gegen die Stimmen derCDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen der übrigen Frak-tionen angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Öffnung der Sozial- und Steuerverwaltungfür den Euro
– Drucksache 14/229 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/406 –Berichterstattung:Abgeordnete Birgit Schnieber-JastramIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschußfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmigangenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist einstimmig angenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist beantragt,jetzt eine Sitzung des Ältestenrates durchzuführen, undzwar für den Zeitraum von etwa einer Stunde.Deshalb unterbreche ich die Sitzung des DeutschenBundestages bis 17.05 Uhr.
Verehrte Kol-leginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbrocheneSitzung wieder.Vizepräsident Rudolf Seiters
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Wir setzen die Haushaltsberatung fort und kommenzum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Ju-stiz. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete AlfredHartenbach.
Verehrte Frau Präsiden-tin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ichfreue mich, daß ich auch die Damen und Herren der Op-positionsparteien wieder in voller Lebensgröße sehe. Eswar eben im Rechtsausschuß ohne Sie etwas einsam. Esist schön, daß Sie wieder dabei sind.
Wir diskutieren heute über einen Haushalt, der äu-ßerlich zu den weniger umfangreichen gehört, der mit721 Millionen DM sicherlich auch zu den Haushaltenmit den geringsten Ausgaben gehört, der aber, denkeich, von seinem Inhalt her das gesellschaftliche Leben inwesentlichen und wichtigen Punkten bestimmt. Es gehtnämlich nicht nur um den Haushalt des Bundesjustizmi-nisteriums, in dem die Richtlinien der Justizpolitik be-stimmt werden, sondern auch um die Haushalte unsererobersten Gerichte.
– Selbstverständlich auch den des Patentamtes, das übri-gens als einziges ein Plus macht. Da sieht man einmal,daß Justiz Geld kostet. Aber das ist nicht weiter drama-tisch.Der vorliegende Haushalt wird aber auch ein Neuan-fang in der Justizgeschichte der 80er und 90er Jahresein.Wir haben heute zunächst einmal eine kurze Bilanzdessen zu ziehen, was 16 Jahre lang in der Justizpolitiknicht gemacht worden ist. Sie haben in all den 16 Jahrennichts dazu beigetragen, daß wir eine moderne, bürger-nahe und leistungsstarke Justiz bekommen. Sie haben indiesen 16 Jahren nicht einmal einen Finger gerührt, umden seit Kaiser Wilhelms Zeiten bestehenden Justizauf-bau zu ändern.
So haben wir heute ein Justizsystem, das noch im-mer aus rund 700 Amtsgerichten, 21 Oberlandesgerich-ten plus Kammergericht und Bayerisches Oberstes Lan-desgericht, 19 Landesarbeitsgerichten, 16 Landessozial-gerichten, 19 Finanzgerichten und 16 Oberverwaltungs-gerichten, aus insgesamt 24 000 Richterinnen undRichtern und etwa 4 000 Staatsanwältinnen und Staats-anwälten besteht.
Die Belastung der Gerichte ist in dieser Zeit immer grö-ßer geworden; aber es hat sich, sieht man von etwasFlickwerk, von etwas wenig strukturierten Dingen ab,nichts getan, damit man hier besser klarkäme.Auch die Ausbildung der Juristinnen und Juristenentspricht in ihren Grundzügen noch der zu Kaiser Wil-helms Zeiten.
Noch heute haben Juristinnen und Juristen denselbenAusbildungsgang, wie ich ihn schon vor 30 Jahren hatte.
Immer noch wird nicht die universitäre Ausbildung inden Vordergrund gestellt, sondern die jungen Leutemüssen zum Repetitor laufen, um sich ihr Wissen zuholen. Immer noch haben wir eine Juristenausbildung,die nicht modernen Anforderungen entspricht.
– Herr Rüttgers, davon merkt man aber nicht viel.Mit dem Haushalt, den wir heute einbringen, werdenwir eine neue Zeit in der Justiz beginnen.
Wir streben eine Justizreform an und laden Sie sehrherzlich ein, dabei mitzumachen. Wir werden das anti-quierte und teilweise unüberschaubare Rechtsmittelsy-stem so modern und vernünftig gestalten,
daß es auch der einfache Bürger versteht.
Wir werden die Instanzen so gestalten, daß Recht invertretbarer Zeit gewährt wird.Ich komme noch einmal auf die Ausbildung der Ju-ristinnen und Juristen zu sprechen. Sie ist im europäi-schen Vergleich eigentlich ein Jammer. Trotz Repetito-rium beträgt die durchschnittliche Ausbildung an derUniversität 12 bis 14 Semester. Dabei bilden wir jungeJuristinnen und Juristen mit einem Wissen aus, das Sieanschließend in aller Regel nicht mehr brauchen. ZumTeil werden sie für die universitäre Forschung ausgebil-det. Danach schließt sich eine praktische Ausbildung an,die auch nur zum Teil das beinhaltet, was Juristinnenund Juristen später einmal in ihrem Berufsleben brau-chen.Sie alle haben vernünftigerweise einer EuropäischenWirtschafts- und Währungsunion zugestimmt, die eineVorstufe zu einem vereinigten Europa ist. Wir schickenunsere Juristinnen und Juristen in einem Alter in die be-rufliche Laufbahn, in dem Juristinnen und Juristen ausanderen Ländern schon längst Fuß gefaßt haben. Es wirddaher dringend notwendig sein, das, was in den letztenJahren versäumt wurde, nämliche eine moderne und denBedürfnissen angepaßte Juristinnen- und Juristenausbil-dung, nach vorne zu bringen.Wir wollen gemeinsam mit den Ländern die Justizre-form, und wir wollen gemeinsam mit den Ländern, dennnur mit ihnen geht es, eine moderne Ausbildung derVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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1562 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Juristinnen und Juristen. Ich bin sicher, diese Debatte istder erste Schritt dazu. Wir werden diesen Weg sehr kon-sequent gehen. Ich bin überzeugt, daß Sie sich, meineDamen und Herren der Koalition, liebe Freunde und lie-be Rechtsfreunde auf der Seite der Opposition, an die-sem Weg voller Begeisterung beteiligen werden.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans Jochen Henke.
Frau Präsiden-tin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Justiz istein Bereich, wie Herr Hartenbach bereits angesprochenhat, der von unseren Bürgerinnen und Bürgern mit be-sonderer Sensibilität wahrgenommen wird. Daher darfich für die CDU/CSU zunächst etwas Grundsätzlichesanmerken. Wir werden Sie, Frau Ministerin, gerne über-all dort unterstützen, wo Sie mit praxisnahen Reformen,Herr Hartenbach, Verfahren vereinfachen und erleich-tern und zu einer Entlastung der Justiz nachhaltig beitra-gen. Wo aber Zentralismus, Ideologie und Bürokratie IhrLeitbild sind, da werden wir mit Entschlossenheit dage-genhalten und uns dem widersetzen.
Wir debattieren heute einen Haushaltsentwurf, dernicht nur schriftlich vorliegt. Er wird im Gegensatz zuvielen anderen Projekten von dieser Koalition wohl auchgemeinsam getragen, ein Vorteil, der in diesen Tagen soselbstverständlich gar nicht mehr ist. Nachteil der Haus-haltsdebatte zum jetzigen Zeitpunkt ist das Fehlen ganzkonkreter rechtspolitischer Vorhaben dieser neuen Re-gierung. Man hört zwar Unterschiedliches zu unter-schiedlichen Themen. Aber auch hier gilt: Etwas Ge-naues weiß man nicht, und wo man etwas Genaues zuwissen meint, weiß man nicht, ob dies auch morgennoch Geltung hat. Zwar liegt der Anteil des Etats desBundesjustizministeriums, am Rekordentwurf von HerrnLafontaine gemessen, lediglich im Promillebereich.Nichtsdestotrotz ist die Arbeit des Justizministeriumsvon ganz entscheidender Bedeutung für die Arbeit einerjeden Bundesregierung.Wenn wir uns, verehrte Kolleginnen und Kollegen,die Echternacher Springprozession dieser Regierung inden letzten Wochen vergegenwärtigen, dann sind Sie,Frau Ministerin, um Ihre Aufgabe in doppelter Hinsichteigentlich nicht zu beneiden.
Zum einen sind Sie über Gebühr und ständig damit be-schäftigt, handwerkliche Fehler Ihrer Kabinettskollegenwegzuräumen, zum anderen stehen Sie mit in der Ge-samtverantwortung für eine höchst gefahrgeneigte Ge-samtrichtung. Wenn hier von einer neuen Zeitrechnungim Justizbereich die Rede ist,
dann ist das noch viel mehr als die Ankündigung inWahlkampfzeiten und in der Regierungserklärung, daßman zwar nicht alles anders, aber vieles besser machenwolle. Widerstehen Sie der Versuchung, in dieselbenFehler wie Ihre Kolleginnen und Kollegen zu verfallen,alles gleichzeitig machen zu wollen! Setzen Sie dierichtigen Prioritäten! Dann wird auch das Personal inIhrem Haus reichen, und es wird obendrein hochmoti-viert sein.Nicht zufällig meinte der Präsident eines mittelständi-schen Industrieverbandes kürzlich, während man der al-ten Regierung zu Recht vorwerfen konnte, daß sie zuvielgedacht und manchmal zuwenig gehandelt habe, sei derVorwurf, der der neuen Regierung gemacht werdenmüsse, viel gravierender. Sie handele allzuoft, ohne et-was zu denken.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-legen, wenn das nicht zu denken gibt.
Im Haushaltsausschuß wird in den nächsten Wochenüber Einzelheiten des Entwurfs und damit zusammen-hängende Fragen zu reden sein. So laufen zum Beispielseit vier Jahren im Justizministerium Untersuchungenüber eine zukunftsorientierte Reorganisation mit ent-sprechenden Arbeits- und Ablaufoptimierungen. In Kür-ze, so vernimmt man, sollen diese Untersuchungen ab-geschlossen sein. Wir sind auf die Ergebnisse und diezusätzlichen Freiräume, die damit hoffentlich zur Verfü-gung stehen, gespannt.Frau Ministerin, Sie wollen für den europäischen Ju-stizministerrat wenig ausgeben. Das verdient Anerken-nung. Aber statt dessen wollen Sie zusätzliche interna-tionale Seminare veranstalten lassen. Es ist verständ-lich, daß die Justizministerin hier zusätzliche Chancensieht, um Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Aber dafürgibt es genügend andere Etatansätze in Ihrem Einzel-plan, so zum Beispiel für internationale rechtliche Zu-sammenarbeit. Ich weiß nicht, ob EU-Seminare wie„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nachdem Amsterdamer Vertrag“ oder „Videotechnologie imStrafverfahren“ vorrangige Angelegenheiten der Justizoder der Bundesregierung sein müssen.Man muß auch über die Stellen im Haushalt reden, andenen geplant ist, daß der Bund zusätzliche Kostenübernehmen soll, die die Länder bei Gemeinschaftspro-jekten nicht länger oder gar nicht zu tragen bereit sind,zum Beispiel bei der Servicestelle „Täter-Opfer-Ausgleich“ oder dem Forum „Kriminalprävention“. Dieskann nicht alleinige oder überwiegende Aufgabe desBundes sein, genausowenig, wie für ausfallende Länder-anteile einzuspringen.Aus dem Bundespatent- und Markenamt kann manden Wunsch nach zusätzlichen Patentprüfern hören.
Sogar der Bundesrechnungshof will hier 17 zusätzlicheStellen – so die wörtliche Formulierung – „hinnehmen“.Alfred Hartenbach
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1563
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Aber aus einem KPMG-Gutachten geht hervor, daß der-zeit eingesetzte Informationstechnologien mit modernerArbeitsorganisation nicht kompatibel sind. Die Erkennt-nisse über Modernisierung und Reorganisation müssenrasch und im Zusammenhang umgesetzt werden. DerÜbergang muß funktionieren und bewältigt werden. Eiletut in der Tat not. Wir bitten Sie, uns Konkretes überUmfang, Kosten und den Zeitplan der notwendigen Mo-dernisierung einschließlich der personellen Konsequen-zen vorzulegen. Schlagen Sie uns vor, wie diese Maß-nahmen mit dem Haushalt in Einklang gebracht werdenkönnen.Das Hohe Haus wäre auch dankbar, wenn jetzt Klar-heit über die Kosten für den Umbau des Reichsge-richtshofs zum Bundesverwaltungsgericht in Leipziggeschaffen werden könnte. Im Haushalt stehen 169 Mil-lionen DM dafür bereit. Der Bundesrechnungshof hält110 Millionen DM, der Bundesfinanzminister 130 Mil-lionen DM und Ihr Haus 150 Millionen DM für dierichtige Größenordnung. Was ist denn nun richtig?Diese Frage stellt sich auch bei einigen der wichtig-sten Probleme im rechtspolitischen Bereich. Es gibt zumBeispiel Ihr Ziel einer dreistufigen Gerichtsbarkeit,mit dem bereits vor 25 Jahren eine Regierung unter so-zialdemokratischer Führung angetreten und gescheitertist. Eine solche Reform hätte für Flächenstaaten wiezum Beispiel Baden-Württemberg gravierende Nachteilefür eine bürgernahe Rechtspflege. Sie hätte dort dieSchließung von 30 Amtsgerichten, also den Rückzug derortsnahen Rechtsprechung, mit nur geringen Stellenein-sparungen zur Folge.
Wir können uns in diesem Zusammenhang vorstellen, –
– daß die Mehrkosten für die Länder angemessen aufge-fangen werden.Ein weiterer Punkt betrifft die weitgehende Gebüh-renfreiheit der sozialgerichtlichen Verfahren. Wollenwir diese in der Zukunft beibehalten? – Gebührenfreiheithat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. 98 Prozent der Ko-sten tragen die Steuerzahler. Es kommt nicht von unge-fähr, daß die Präsidentinnen und Präsidenten der Lan-dessozialgerichte wiederholt die Einführung von Ge-richtsgebühren gefordert haben. Hier sollte über Ände-rungen nachgedacht und dem Gerechtigkeitsprinzip überKostenhilfe Rechnung getragen werden.Ein anderes Lieblingskind der Ministerin ist dasStrafgeld. Bisher sind mit beschleunigten Verfahrensehr gute Erfahrungen gemacht worden. Ob hier eineweitere Sanktionskategorie die richtigen Signale setzt,ist ebenso fraglich wie die Vereinbarkeit mit demSchuldgrundsatz und anderen Fragen.Lassen Sie mich abschließend beispielhaft die in derletzten Legislaturperiode weit vorangebrachte Projektioneiner zweiten Stufe des Rechtspflege-Vereinfachungs-gesetzes mit der Konzentration auf eine Tatsachenin-stanz und weiteren Verbesserungen ansprechen. Letzt-endlich ist dieses wichtige zukunftsweisende Projekt amBundesrat und damit an der Ländermehrheit gescheitert.Machen Sie sich die von der Vorgängerregierung gelei-stete gute Vorarbeit zu eigen!Frau Ministerin, Ihr kleiner, aber feiner Einzelplanbietet hinreichende Chancen für die Modernisierung un-seres Rechtssystems. Wir sind bereit, auf diesem Wegkritisch, aber konstruktiv mitzugehen.Danke schön.
Herr Kollege
Henke, das war Ihre erste Rede im Parlament. Ich
möchte Ihnen im Namen des Hauses dazu gratulieren.
Bei der nächsten Rede haben Sie bestimmt alle Unterla-
gen bei sich.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Hen-ke, es ist am heutigen Tage wie so oft: Man muß derOpposition einmal den Tip geben, sich zu entscheiden,wofür sie uns kritisiert: Entweder handeln wir allzuhektisch, wie Sie meinen, ohne zu denken,
oder wir haben zuwenig vorgelegt.
Wir haben uns gerade in der Rechtspolitik Zeit ge-nommen, um nachzudenken und gründlich zu arbeiten.Sie sollten nicht bedauern, daß noch nicht so viele Ge-setzentwürfe vorliegen; denn wir wollen mit dieser hek-tischen Gesetzgeberei ohne Sinn und Verstand, wie wirsie in den letzten vier Jahren erlebt haben, Schluß ma-chen.
Ich wundere mich auch über einige Punkte der Kritikam Haushalt. Sie kritisieren, ein Seminar über dieVideotechnologie im Gerichtssaal sei nicht Aufgabedes Justizministeriums. Es geht nicht darum, Richternbeizubringen, wie ein Videogerät zu bedienen ist, son-dern darum, in einer wichtigen Frage des Opferschutzesvoranzukommen.
Wir haben in der letzten Wahlperiode die Videover-nehmung im Hauptverfahren eingeführt. Wir müssenentscheiden, ob die Regelung ausreicht, um alles zu tun,damit kindliche Opfer von sexuellem Mißbrauch vorMehrfachvernehmungen geschützt werden. Das ist einHans Jochen Henke
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1564 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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sehr ernsthaftes Anliegen. Das, was wir in der letztenWahlperiode beschlossen haben, hat einige Tücken. Wirmüssen zum einen die Sensibilität bei den Rechtsan-wendern schärfen, und wir müssen zum anderen überle-gen, ob wir noch mehr für die kindlichen Opferzeugentun können. Ich meine, man sollte ganz heftig unterstüt-zen, daß das Justizministerium dieses Anliegen auf-greift.Gleichzeitig muß ich sagen: Das Servicebüro fürden Täter-Opfer-Ausgleich beschäftigt uns in denHaushaltsdebatten nun schon vier lange Jahre. Am An-fang ging es um 300 000 DM; jetzt geht es um 150 000DM. Die Kosten dieses Büros stehen in keinem Verhält-nis zur Diskussion, die wir um die Finanzierung dieserwichtigen Einrichtung führen.Es geht darum, im Strafprozeßrecht und im Strafrechtein wesentliches, neues Element zu stärken. Wir brau-chen einheitliche Standards, damit die RechtsanwenderVertrauen zu diesem Instrument finden, und es häufigereinsetzen. Es ermöglicht einen ganz entscheidendenneuen Umgang mit dem Strafrecht. Es ist für die Reso-zialisierung ein Gewinn, weil sich der Täter in einemTäter-Opfer-Ausgleichsverfahren mit dem Unrecht sei-ner Tat individuell auseinandersetzen muß. Übrigens sa-gen auch viele Opfer: Ich habe mehr davon, wenn derTäter lernt, was er mir angetan hat, wenn er sich darumbemüht, seine Straftat wiedergutzumachen, und wennich weiß, daß es zukünftig von diesem Täter in diesemDeliktbereich keine Opfer mehr geben wird. Das sollteuns diese 150 000 DM wert sein.
Ich kann auch noch einmal die Haushälter auffordern,hier den Sperrvermerk wegzunehmen und noch ein paarMark daraufzulegen. Ich hätte es eigentlich richtig ge-funden, wenn wir die 300 000 DM stehengelassen hät-ten, die wir in der Vergangenheit im Bundeshaushalthatten, damit dieser Bereich in gesicherten Gleisen wei-terlaufen kann.Meine Damen und Herren, die Koalition will Altla-sten in Form von Ungerechtigkeiten beseitigen, mehrGerechtigkeit und Bürgernähe in der Rechtspolitikdurchsetzen, ein Bündnis gegen Gewalt und Diskrimi-nierung schmieden sowie den Schutz der Schwachendurch das Recht stärken und ihre Rechte in der Rechts-staatlichkeit neu verankern.Ich will Ihnen ein paar Punkte nennen, die wir uns imBereich des auf die neuen Länder zutreffenden Rechtsvorgenommen haben. Bei der Aufarbeitung der Vergan-genheit müssen wir noch einiges verbessern, zum Bei-spiel die Entschädigung der Opfer des SED-Regimesund die Höhe der Haftentschädigung. Wir wollen auchdie Stärkung der Stiftung für ehemalige politische Häft-linge in Angriff nehmen. Bündnis 90/Die Grünen wer-den Sie allerdings nicht dazu bekommen, hier für einegenerelle Amnestie für in der DDR begangene Straftatenzu stimmen. Ich wünschte – das möchte ich der PDSschon sagen – mir mehr Unterstützung für die Anliegender Opfer des SED-Regimes, statt soviel über die Amne-stie für die Täter zu reden. Hier müssen wir eineSchieflage feststellen.
Wir müssen auch versuchen, im Vermögensrechteinige Dinge, die im Einigungsvertrag für die Nutznie-ßer grundsätzlich verkorkst angelegt sind, zu reparieren.Wir können den Einigungsvertrag nicht neu schreiben.Man muß politisch falsche Entscheidungen als Grundla-ge zunächst einmal akzeptieren. Bei der Frage der Nut-zungsentgelte usw. sollten wir noch einmal neu darübernachdenken, ob wir nicht zu gütlicheren und besserenLösungen für die Menschen in den neuen Ländernkommen können.Ich habe es schon angesprochen: Wir wollen einBündnis gegen Gewalt schmieden. Dazu gehören auchganz entscheidende Signale der Rechtspolitik, zum Bei-spiel soll eine Absage an Gewalt von Grund auf imRecht verankert werden. Deshalb ist es ganz entschei-dend, daß wir uns vorgenommen haben, den Anspruchvon Kindern auf gewaltfreie Erziehung zu verankern.Dabei geht es nicht darum, den Staatsanwalt in die Fa-milien zu schicken, sondern es geht darum, Gewalt zuächten und ein für allemal klarzumachen, daß Gewalt alsErziehungsmittel nicht geeignet ist. An der Tatsache,daß in gewaltbetroffenen Familien zwei- bis dreimalhäufiger Gewalttäter herangezogen werden, zeigt sich,wie bedeutsam eine solche Frage ist. Deshalb nehmenwir das in Angriff.
Wir müssen auch den Schutz von Opfern sexuellerund nichtsexueller Gewalt im Nahbereich stärken. Wirwerden deshalb in dieser Wahlperiode über das Woh-nungszuweisungsverfahren und über neue Opferschutz-konzepte zu reden haben. Wir sollten unseren Blick aucheinmal ins Ausland schweifen lassen, zum Beispiel auf„Go-order“, wie es in den USA praktiziert wird, oder aufganz vernünftige Regelungen, wie wir sie in Österreichfinden. Davon können wir uns einiges abschauen, umden Schutz der Schwachen durch das Recht wesentlichzu verbessern.Wir haben uns auch vorgenommen zu überprüfen, obes notwendig ist, im Strafrecht den Schutz der Wider-standsunfähigen vor sexuellem Mißbrauch zu verbes-sern. Wir wollen auf jeden Fall gesellschaftspolitischklarstellen, daß es ein sehr großes Unrecht ist, wenn dieWiderstandsunfähigkeit von behinderten Menschen imZusammenhang mit sexuellen Übergriffen ausgenutztwird, und daß der Gesetzgeber das nicht minder wichtignimmt als die Vergewaltigung von erwachsenen Men-schen oder den sexuellen Mißbrauch von Kindern.
Wir sehen auch eine große rechtspolitische Aufgabedarin, eine integrative Gesellschaftspolitik rechtlich zuVolker Beck
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1565
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gestalten. Es geht darum, die Minderheiten, die in unse-rer Gesellschaft leben – das sind einige, und dahintersteht eine große Zahl von Menschen –, durch eine inte-grative Rechtspolitik hereinzuholen. Wir haben das beider Diskussion über das Staatsbürgerschaftsrecht ange-fangen. Ich möchte angesichts der Diskussion, die wir inden letzten Wochen und Monaten geführt haben, alleeinladen, nicht nur abstrakt um rechtliche Grundsätze zustreiten, sondern sich wirklich darüber den Kopf zu zer-brechen, wie wir 7 Millionen hier lebende Menschenohne deutschen Paß in die Mitte unserer Gesellschaftmit gleichen Rechten holen; die gleichen Pflichten ha-ben sie in der Regel schon.
Ich bitte Sie, einmal zu überlegen, was Sie in diesemBereich tun können. Sie sprechen zwar von erleichterterEinbürgerung, aber Sie haben keinen rechtspolitischenVorschlag gemacht, wie wir diese Erleichterung umset-zen können. Dies zum Thema Ausländer.Es geht aber auch darum, durch ein Antidiskriminie-rungsgesetz endlich die Benachteiligung von Behin-derten abzubauen. Wir hatten in den letzten Jahrenskandalöse Urteile im Zusammenhang mit dem Reise-vertragsrecht oder auch zu der Frage, ob die Art der Ge-räusche von Behinderten eine besondere Belästigungdarstellt, die es rechtfertigt, die Rechte von Behindertenweiter als die Rechte von Nichtbehinderten einzu-schränken. Wir brauchen klare rechtliche Regeln, so daßniemand in unserem Land auf Grund seiner ethnischenZugehörigkeit, seiner Behinderung oder auch auf Grundseiner sexuellen Identität benachteiligt wird. Das Rechtmuß diese Menschen vor Diskriminierung schützen.Ein ganz wichtiger Punkt ist, daß wir die Gebärden-sprache gesetzlich anerkennen wollen. Dazu müssenwir – Frau Ministerin, diese Anregung können Sie ausdieser Debatte mitnehmen – auch eine Regelung imBGB ändern. § 828 BGB besagt nämlich, daß Taub-stumme für einen Schaden zivilrechtlich genauso wenigverantwortlich sind wie Jugendliche, denen die erfor-derliche Einsicht fehlt. Sie werden nach unserem Gesetzalso geistig nie erwachsen. Diese Regelung müssen wirändern, denn sie entspricht nicht dem Wertebild unsererVerfassung.
In diesem Kontext werden wir dafür sorgen, daß mitder Rechtlosigkeit gleichgeschlechtlicher Lebensge-meinschaften endlich Schluß gemacht wird. Auch hiergeht es darum, Diskriminierung abzubauen und diehomosexuellen Bürgerinnen und Bürger mit gleichenRechten und Pflichten in diese Gesellschaft zu integrie-ren.Vielen Dank.
Bevor ich den
nächsten Redner aufrufe, möchte ich allen Kolleginnen
und Kollegen bekanntgeben, daß es um 19.30 Uhr eine
nochmalige Unterbrechung der Sitzung gibt, weil die
CDU/CSU eine Fraktionssitzung durchführt.
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat jetzt der
Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Der Justizhaushalt ist in der Tatvergleichsweise klein. Aber er ist wie das Ministeriumselbst bedeutend. Unsere Rechtsordnung ist für dasfriedliche Zusammenleben der Menschen in unseremStaat ein hohes Gut.Gerade, wenn man mit ausländischen Gästen über un-sere deutsche Rechtsordnung spricht, kann man fest-stellen, daß diese ausländischen Gäste unsere Rechts-ordnung ganz besonders schätzen und daß sie Gesetze,Verordnungen, ja das ganze Rechtssystem am liebstenvon uns übernehmen würden.Nicht zu Unrecht haben wir aus diesem Grunde nochunter dem damaligen Justizminister Dr. Kinkel eineStiftung für Internationale Zusammenarbeit gegründet,die große Verdienste beim Aufbau des rechtsstaatlichenSystems in den osteuropäischen und südosteuropäischenStaaten erworben hat.
– Richtig.Wir wollen, daß die Zuständigkeit dieser Stiftungüber die 11 oder 12 Staaten Osteuropas hinaus erweitertwird. Die Ressourcen, die wir in bezug auf den Rechts-staat in der Bundesrepublik Deutschland haben, müssenwir bündeln. Es geht nicht an, daß diese Aufgaben vonder GTZ, also von der Gesellschaft für Technische Zu-sammenarbeit, mehr schlecht als recht mitverwaltetwerden. Ich plädiere dafür, daß die Fragen der interna-tionalen rechtlichen Zusammenarbeit im Bundesju-stizministerium gebündelt werden. Frau Ministerin, Siehaben unsere volle Unterstützung, wenn Sie an diesemWerk mitarbeiten wollen.
Auch wenn wir manchmal zu etwas kompliziertenGesetzen neigen, halte ich unseren Rechtsstaat für vor-bildlich. Das soll so bleiben.
Der Rechtsstaat ist aber kein Selbstzweck, sondernhat dem rechtsuchenden Bürger, einschließlich der Wirt-schaft, zu dienen. Der Bürger erwartet, daß er sein Rechtbekommt, und das möglichst schnell, denn nur dadurchwird der Rechtsfrieden unserer Gesellschaft gewährlei-stet.An diesen Prämissen werden wir, Frau Ministerin,Ihre Bemühungen um die Justizreform messen. Eskann nicht Sinn der Justizreform, die Herr Hartenbacheben angesprochen hat, sein, Rechtsmittelinstanzen zuverkürzen und Streitwertgrenzen heraufzusetzen.
Volker Beck
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1566 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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– Lieber Herr Hartenbach, Sie wissen ganz genau, wiewir dazu gekommen sind: Die Länder haben uns mit ih-ren Anträgen im Bundesrat dauernd gezwiebelt, hier miteinem Reförmchen einen kleinen Schritt zu machen, sodaß wir nicht zu dieser Justizreform gekommen sind. In-soweit sind wir mit der Justizministerin völlig einerMeinung, daß wir die Justizreform benötigen. Aber siedarf nicht zu einer Verkürzung des Rechtsschutzes desBürgers führen, sondern wir müssen den Rechtsschutzdes Bürgers eher ausbauen.
– Ausbauen und effektiver machen ist vielleicht fastidentisch.
In diesem Zusammenhang ärgere ich mich natürlichgelegentlich auch über die Länder; das sage ich ganz of-fen. Wir haben die Insolvenzrechtsreform in diesemHause gemeinsam beschlossen. Die Länder haben daraufgehofft, daß die neue Insolvenzordnung nicht zum 1. Ja-nuar 1999 eingeführt wird. Sie wollten sie verschieben.Sie haben auch nicht dafür gesorgt, daß beispielsweisedie Schuldnerberatung ausgebaut werden konnte. Inmeiner Heimatstadt Hamburg zum Beispiel bekommtman erst nach sechs Monaten einen Termin bei derSchuldnerberatungsstelle. Das nenne ich einen Skandal.
Das ist im übrigen in anderen Ländern genauso, aller-dings nicht in allen; das gebe ich zu. Wenn die Länderwollen, daß wir an der Justizreform mitwirken, erwarteich von ihnen aber auch bundesfreundliches Verhalten.In der letzten Legislaturperiode haben wir eine Reihevon sehr effektiven wirtschaftsrechtlichen Gesetzenumgesetzt. Das heißt jedoch nicht, daß wir uns jetzt ein-fach zurücklehnen und sagen können: „Nun ist Schluß;wir haben das KonTraG geschaffen, das Transportrechtusw. reformiert“, sondern wir müssen weiter daran ar-beiten, es aktualisieren und weiterentwickeln. Interna-tionaler Wettbewerb, auch auf den Kapitalmärkten, istnotwendig. Wir brauchen dazu die rechtliche Beglei-tung. Dazu zählen die Weiterentwicklung des Finanz-rechts und des Wettbewerbsrechts, die Behandlung vonOptionen im Aktienrecht, das Übernahmerecht und dasgesamte Publizitätsrecht im Hinblick auf die Bestim-mungen der Europäischen Kommission.
– Nein, das sind keine Sünden der Vergangenheit. Wirhaben in der letzten Legislaturperiode eine Reihe vonDingen gemacht; das haben Sie auch lobend erwähnt.
– Das müssen wir tun, und zum Teil haben wir es schongetan. Aber der Europäische Gerichtshof hat dann an-ders entschieden. Das wird Ihnen genauso gehen, denndie Interessen sind natürlich auch da gelegentlich unter-schiedlich, Herr Kollege Stiegler. Wir haben gemeinsamam Urheberrecht gearbeitet. Auch da waren wir zu-nächst etwas zögerlich, weil es in der BundesrepublikDeutschland unterschiedliche wirtschaftliche Interessengibt und gab, die man austarieren muß. Das ist nichtimmer ganz einfach.Dasselbe gilt für das Transportrecht. Wir haben dasTransportrecht reformiert, aber wir müssen es durch dasSeehandelsrecht ergänzen, das in der Tat über 100 Jahrealt ist und das wir das letzte Mal ausgeklammert haben.Aber gerade wegen der Haftungsfragen müssen wir indieser Legislaturperiode darangehen. Da habe ich alsHamburger Abgeordneter natürlich ein besonderes In-teresse. Insoweit sichere ich Ihnen, Frau Ministerin, un-sere Mithilfe zu.Frau Ministerin, ich sehe mit großer Sorge, daß Sie inIhrem Hause gelegentlich von Ihrem Kollegen, demBundesfinanzminister – wie soll ich es sagen? –, gelinktwerden.
– Ja, ich sage das ganz bewußt.Ich komme gleich zum Schluß; durch die Unterbre-chung bin ich etwas in Zeitverzögerung gekommen.Sie haben in Ihrem Hause auch die Rechtsförmlich-keit zu prüfen.
Ich bewundere, daß Sie zum Beispiel die vielen Anträge,die Sie noch in den letzten Tagen aus dem Bundes-finanzministerium bekommen haben, zum Teil –
Herr Kollege,
ich darf Sie doch jetzt bitten. Das können Sie nicht mehr
alles ausdrücken.
– große Konvolute, rechts-
förmlich geprüft haben. Ich möchte Sie auffordern, diese
Prüfung in Zukunft noch gründlicher vorzunehmen.
Denn das, was in Ihren eigenen Prüffragen geregelt ist,
konnten Sie auf keinen Fall wahrnehmen. Ich glaube, es
ist wichtig, daß Sie in Zukunft diese Aufgabe intensiver
wahrnehmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Evelyn Kenzler.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Auch im Haushaltsjahr 1999 wird die Justiz wiederumunter Geld- und Personalknappheit leiden. Die zur Ver-fügung stehenden Haushaltsmittel werden angesichtsRainer Funke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1567
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des ständig wachsenden Geschäftsanfalls, hinzuge-kommener personalintensiver Aufgaben und einerkomplizierter werdenden Rechtsmaterie äußerst engbemessen sein.Zu Recht wird von vielen Justizpraktikern undRechtswissenschaftlern eine neue Qualität der Rechts-und der darin eingeschlossenen Justizpolitik gefordert.Hierzu gehören eine grundlegende Reform der Justiz,die den Gerichtsaufbau, den Instanzenweg, außer-gerichtliche Schlichtungsmöglichkeiten, die Stellungehrenamtlicher Richter, Fragen der gerichtlichen Selbst-verwaltung, eine Reform der Juristenausbildung, größereTransparenz und Bürgernähe und vieles andere mehrumfaßt. Eine moderne Rechtspolitik muß in der Lagesein, gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderun-gen vorauszusehen und sich hierauf rechtzeitig einzu-stellen.Wir müssen uns nichts vormachen: Diese Reformenwerden langfristig bestimmte Spareffekte mit sich brin-gen; sie erfordern aber zunächst nicht unbeträchtlicheHaushaltsmittel bei Bund und Ländern. Eine Justizre-form, die diesen Namen verdient, ist nicht zum Nulltarifzu haben. Ein solches Jahrhundertprojekt zur Überwin-dung der Dauerkrise in der Justiz erfordert umfänglicheInvestitionen bei ihrer Umstrukturierung, bevor tatsäch-lich ein Qualitätssprung für die Bürger und eine Entla-stung für die in der Justiz Tätigen erlebbar ist. So ist dieEinrichtung außergerichtlicher Schlichtungsstellen zu-nächst mit erheblichen Mittelzuwendungen aus den Ju-stizhaushalten verbunden. Sie wird langfristig jedoch zueiner wirklichen und spürbaren Entlastung der Justizführen.Am Anfang müssen allerdings ausgereifte Konzeptestehen. Was ist jedoch bisher aus dem Justizministeriumgekommen? Über die Rechtspolitik der Bundesregie-rung zu reden ist derzeit noch sehr schwierig, da kaumetwas vorliegt, das man befürworten oder ablehnenkönnte, abgesehen von Absichtserklärungen in derKoalitionsvereinbarung und einigen Einzelvorschlägen.Die bisherigen Regierungsvorlagen, das Gesetz zum In-ternationalen Privatrecht für außervertragliche Schuld-verhältnisse und für Sachen, das Gesetz zur Änderungdes Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung und dasGesetz zur Änderung von Zuständigkeiten nach demSorgerechtsübereinkommens-Ausführungsgesetz, stam-men sämtlich aus der 13. Wahlperiode. Bilanz: Außerder Aufarbeitung einiger Restanten aus der letztenWahlperiode hat noch kein rechtspolitisches Projekt derneuen Bundesregierung parlamentarisch das Licht derWelt erblickt.Frau Ministerin, es erwartet niemand, daß die Regie-rung ausgereifte Konzeptionen für die angekündigtenrechtspolitischen Reformen in Gestalt von Parlaments-vorlagen aus der Schublade zieht. Das wäre unseriös.Dazu ist der Reformstau zu groß, die Krise zu verfestigt;dazu haben sich schon zu viele Justizminister daran dieZähne weitgehend ergebnislos ausgebissen. Das entla-stet die Regierung jedoch nicht davon, diese Projektemit allem Nachdruck und aller gebotenen Zügigkeit zubetreiben. Davon ist jedoch immerhin fünf Monate nachder Bundestagswahl wenig spürbar.Völlig unbefriedigend ist, daß selbst Initiativen derOpposition, die kurzfristig in Angriff genommen werdenmüssen, auf die lange Bank geschoben werden.
So sind seit der Einbringung des Schuldrechtsanpas-sungsänderungsgesetzes und des Antrages zur Änderungder Nutzungsentgeltverordnung bereits wiederum zweiMonate ins Land gegangen. Durch das Justizministeriumwerden Vorhaben zu diesen brennenden Fragen für frü-hestens Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres ange-kündigt. Die gegebene Pauschalbegründung der gebote-nen Gründlichkeit überzeugt auf Dauer insbesondere dieBetroffenen nicht.Bei dieser gesamten Diskussion müssen wir uns dar-über im klaren sein, daß es um zwei für den Rechtsstaatexistentielle Fragen geht. Zum einen führt die dauerndeKrise in der Justiz zu einem schleichenden Verlust vonRechtsschutz, der für die Bürger ein wesentlicherParameter für Rechtsstaatlichkeit ist. Rainer Voss, derVorsitzende des Deutschen Richterbundes, wies un-längst zu Recht darauf hin, daß Rechtsgewährung zu denoriginären Aufgaben des Staates gehört, die er vor allenanderen zu erfüllen hat.Zum anderen ist der immer weiter zurückgehendeStellenwert der Justiz Ausdruck des sich verschiebendenKräfteverhältnisses zwischen den drei Staatsgewaltenzu Lasten der dritten Gewalt. Das zeigt sich zum Bei-spiel an den jüngsten Vorschlägen, Strafbefugnisse imBereich der Bagatellkriminalität auf die Polizei zu ver-lagern. Eine innovative Justizpolitik erfüllt deshalb kei-nen Selbstzweck und ist somit auch kein lästiges finan-zielles Anhängsel im Haushalt, sondern berührt denKernbereich des Rechtsstaats.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Norbert Geis.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Bei der Vereidigungder Bundesregierung hat das halbe Kabinett auf die Got-tesformel verzichtet. Das muß man respektieren. Es istallemal besser, es schwört jemand nicht beim NamenGottes, wenn er davon nichts hält, als wenn er es nurtäte, um den Menschen zu gefallen. – So weit, so gut.Die Sache hat allerdings auch eine andere Seite. DieGottesformel findet ihre Parallele in der Präambel desGrundgesetzes, wo es heißt: „im Bewußtsein seiner Ver-antwortung vor Gott und den Menschen“. Die Kom-mentatoren des Grundgesetzes sind sich einig darüber,daß der Staat mit diesem Hinweis auf eine andere In-stanz hinweisen will und daß er aufzeigen will, daß er,wie es Böckenförde sagt, von Voraussetzungen lebt, dieer nicht garantieren kann, die er aber braucht, um Be-stand zu haben.Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes habensich von der Erkenntnis leiten lassen, daß unser StaatDr. Evelyn Kenzler
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1568 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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nicht ohne die religiöse und moralische Substanz seinerBürgerinnen und Bürger auskommt. Sie wollten in garkeinem Fall einen Staat ohne die Verantwortung vorGott und den Menschen. Gerade aus der Erfahrung dernationalsozialistischen Zeit wollten sie das nicht.Das gilt natürlich auch für unsere Rechtsordnung. Sieentstammt einem Wertgerüst, das unserem Staat vorge-geben ist und das in unserer Rechtsordnung umgesetztwird. Der Staat muß alles dazu tun, daß diese Wertord-nung erhalten bleibt. Er muß für diese Wertordnungauch in der Gesellschaft werben.Wenn nun der Verzicht auf die Gottesformel einSignal dafür wäre, daß wir von diesen Voraussetzungenabrückten, dann wäre dies ein, wie ich meine, gefähr-licher Irrweg. Wir werden uns mit allen Mitteln dagegenstemmen.Verehrte Frau Ministerin, wir hatten volles Verständ-nis dafür, daß Sie sich in den ersten 100 Tagen IhrerAmtszeit erst einmal zurechtfinden mußten und daß Sieversuchen mußten, Ihre Gesetzgebungsvorhaben durch-zudiskutieren. Aber wir haben schon bedauert, daß Sienicht den Weg in den Rechtsausschuß gefunden undmit uns über Ihre rechtspolitischen Vorstellungen disku-tiert haben, sondern daß wir die erst aus der Presse ent-nehmen mußten. Sie haben sich ja auch, verehrte FrauMinisterin, dem Rechtsausschuß des Bundesrates ge-stellt und haben dort über Ihre rechtspolitischen Vorha-ben gesprochen. Es wäre, wie ich meine, gut und richtiggewesen, dies auch im Rechtsausschuß des Bundestageszu tun.
Wir meinen, das Parlament hat Vorrang. Nehmen Siedas nicht als Kritik, sondern als Anregung. Sie werdenin der nächsten Woche bei uns sein, und wir werden hof-fentlich eine offene Diskussion über all Ihre Vorhabenführen.Überhaupt meine ich, daß sich die Regierungspar-teien ein wenig Gedanken darüber machen müssen, wiesie mit der Opposition bzw. dem Parlament umgehen.
Ich halte es jedenfalls nicht für richtig, wenn Sie unsheute im Ausschuß einen Packen von Anträgen auf denTisch legen
und von uns erwarten, daß wir in einer für unsere Repu-blik sehr wichtigen Frage
– ich lasse keine Zwischenfrage zu – dezidiert rechts-politisch Stellung nehmen.
Ich halte dies für eine Mißachtung der parlamentari-schen Rechte, und wir sind deshalb mit Recht heute aus-gezogen.
Ich meine überhaupt, daß Sie sich ein wenig Gedankendarüber machen müssen, wie Sie sich bei den Gesetz-entwürfen angestellt haben, die wir vorgelegt haben.
Die Reaktion, die Sie da gezeigt haben, war unter allerKritik. Herr Hartenbach, Sie haben sich hier hingestelltund haben zu einer Justizentlastung, die wir vorgelegthaben und die wir in der letzten Legislaturperiode Punktfür Punkt mit Ihnen abgesprochen haben – wir habenalle strittigen Punkte herausgelassen; wir haben einenEntwurf vorgelegt, der den Konsens widerspiegelt, denwir erzielt haben –, ausgeführt, das sei alles Blödsinn.Zweimal haben Sie gesagt, es sei alles Blödsinn.
Das haben Sie auf diesen Gesetzentwurf bezogen, undSie haben sich sogar noch erkühnt, zu sagen: Dafürnehme ich gern eine Rüge in Kauf. – Wer so spricht,mißachtet das Parlament.
Ich kann auch gar nicht verstehen, daß Sie sich sosehr gegen diese die Justiz entlastenden Maßnahmenstemmen. Sie widersprechen überhaupt nicht dem Vor-haben der Regierung in bezug auf die Justizreform. Wirhaben da zwar Bedenken; das wissen Sie. Die Justizre-form wird lange diskutiert. Wir sind nach wie vor derMeinung, daß die streitwertgeteilte Zuständigkeit vonAmts- und Landgericht richtig ist, in einem Flächenstaatallemal. Wir wollen diese Vorhaben, Frau Ministerin,nicht rundweg ablehnen, sondern wir wollen darüber mitIhnen diskutieren, weil das schon lange überlegt wird.Ich meine aber nicht, daß der von uns vorgelegte Ge-setzentwurf in bezug auf eine Justizentlastung dem wi-derspricht, auch nicht dem Vorhaben, die Rechtsmittel-reform zu ändern, der gegenüber wir offen sind. Es gibtdazu ja eine Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Bayern,die demnächst einen Vorschlag unterbreiten wird, undwir hoffen, daß wir diesen Vorschlag in aller Offenheitdiskutieren und vielleicht auch umsetzen können. Hiergibt es viele Gedanken, und wir werden in vielen Fra-gen, so hoffe ich, Übereinstimmung erzielen. Wir wol-len es nicht so handhaben wie die Regierungsparteien.Sie könnten Ihre gesamten Vorhaben auch nur innerhalbder Koalitionsparteien beschließen; dann bräuchten Siedas Parlament nicht mehr. Wir sind keine Alibiveran-staltung für Ihre Regierungsvorhaben. Das müssen Sieeinfach einmal akzeptieren.
Norbert Geis
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1569
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Verehrte Frau Ministerin, Sie wollen – so steht es inder Koalitionsvereinbarung, und so liest man es auch inder Presse – die gleichgeschlechtlichen Lebensgemein-schaften an die ehelichen Lebensgemeinschaften an-gleichen, wobei Sie allerdings betonen – darin stimmenwir mit Ihnen überein –, daß es keine Gleichstellungsein soll. Sie unterscheiden sehr wohl – das registrierenwir – zwischen Ehe und Familie, wie sie die Verfassungvorsieht, und der Angleichung der gleichgeschlechtli-chen Lebensgemeinschaften. Nur meinen wir, daß eskeinen Grund gibt, die gleichgeschlechtlichen Lebens-gemeinschaften vor anderen Lebensgemeinschaften au-ßerhalb der Ehe zu privilegieren. Welchen Grund gibt esdenn dafür? Man kann doch diese gleichgeschlechtli-chen Lebensgemeinschaften nicht auf die sexuellen Be-ziehungen reduzieren; damit würde man diesen LeutenUnrecht tun, und das wäre zu trivial. Wenn man das abernicht kann, ist es logisch überhaupt nicht begründbar,diese Lebensgemeinschaften anderen Lebensgemein-schaften außerhalb der Ehe vorzuziehen. Deshalb mei-nen wir, daß dies eher eine grüne Ideologie ist, als daßda viel Vernunft dahintersteckt.
Herr Kollege
Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Westerwelle, oder gestatten Sie grundsätzlich keine?
Herr Westerwelle, ich
habe vorhin keine Zwischenfrage zugelassen; bitte sehen
Sie mir nach, wenn ich konsequent bleibe. Dies sage ich,
obgleich es vielleicht meine Redezeit verlängert hätte
und ich noch ein paar Gedanken zusätzlich hätte anfüh-
ren können.
Lassen Sie mich fortfahren. Sie wollen den § 1631
BGB, der die Gewalt in Ehe und Familie zum Gegen-
stand hat, wieder ändern; wir haben ihn ja erst geändert.
Wir haben ihn ja gerade erst geändert. Wir haben ent-
würdigende Erziehungsmaßnahmen verurteilt und dies
im Kindschaftsrecht so festgehalten. Das ist nicht einmal
ein Jahr Gesetz.
Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn man Gesetze allzu
schnell wieder ändert. Aber wenn es eine andere Regie-
rung gibt, dann hat sie wohl das Recht dazu. Das muß
man akzeptieren und respektieren. Aber ist es sehr ver-
nünftig? Was machen wir mit einem Kind, das morgens
nicht aufstehen, nicht zur Schule gehen will und das am
Ende, weil es schulpflichtig ist, von der Polizei mit Ge-
walt in die Schule gebracht werden muß? Wo ist denn
da die gewaltfreie Erziehung? Lassen Sie diese Formel
weg! Das sind meiner Meinung nach nichts als Schlag-
wörter, die in der Sache nicht weiterbringen.
Wenn man sie ernst nimmt, dann kann es – im Ge-
gensatz zu dem, was Herr Beck sagt – tatsächlich sein,
daß die Eltern Gefahr laufen, allzu schnell mit dem
Strafrecht in Konflikt zu geraten. Damit würde eine sol-
che Reform der Regelungen mehr Unfrieden bringen, als
sie zum Frieden beiträgt.
Ich meine, daß wir uns Gedanken machen müssen,
was wir im strafrechtlichen Bereich angehen müssen.
Sie liefern Stichworte wie „Schwitzen statt sitzen“ und
„elektronische Fußfesseln“ und bringen das inzwischen
geläufige Thema Strafgeld in die Diskussion. Wir ha-
ben Bedenken, Frau Ministerin, ob die Einführung eines
Strafgeldes nicht doch auf eine Entkriminalisierung des
Ladendiebstahls hinausläuft. Daneben haben wir auch
Bedenken, ob dadurch die Polizei nicht noch mehr bela-
stet wird, ob damit auf die Polizei nicht noch mehr Ver-
waltungszuständigkeiten zukommen, so daß sie am Ende
stärker belastet ist, als das jetzt der Fall ist. Landauf,
landab klagt sie über Stellenabbau. Dann allerdings
müssen die Länder bereit sein, die Zahl der Personal-
stellen bei der Polizei zu erhöhen.
Ich meine, daß in der Sache nicht viel gewonnen wer-
den kann. Unser Hauptbedenken liegt in der Befürchtung
einer Entkriminalisierung. Wir meinen, die Staatsanwalt-
schaft hat schon jetzt genügend Möglichkeiten, dieser
Massendelikte – wir wollen gar nicht verschweigen, daß
es sich um solche handelt – Herr zu werden.
Zu einem weiteren Punkt, dem Schutz der Kinder
vor Sexualstraftätern. Mit dem 6. Strafrechtsreformge-
setz haben wir ein umfangreiches Gesetzeswerk einge-
bracht und in dessen Zuge das Strafmaß ganz gehörig
erhöht. Übereinstimmung gab es diesbezüglich quer
durch alle Parteien. Aber inzwischen hat der Bundesge-
richtshof Urteile gefällt, aus denen hervorgeht, daß man-
che Regelungen des 6. Strafrechtsreformgesetzes milder
sind als vorher. Das widerspricht dessen Intention. Des-
halb müssen wir, so meinen wir, auch hier noch einmal
drüberschauen und überlegen, ob nicht gesetzliche Än-
derungen notwendig sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gäbe
natürlich noch viele Punkte anzuführen. Ich hoffe, daß
wir in ein gutes Gespräch kommen, und gehe davon aus,
daß im Rechtsausschuß nach wie vor das Argument und
nicht die Ideologie zählt.
Ich danke Ihnen.
Zu einer Kurz-intervention erteile ich nun dem Abgeordneten Ströbeledas Wort.
sprochen, als Sie die Situation im Rechtsausschuß heuteerwähnt haben. Etwa um 14.15 Uhr hat die CDU/CSU-Fraktion beantragt, die Sitzung zu unterbrechen, damitdie Mitglieder der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDSins Plenum gehen und der allgemeinen Debatte lauschenkönnen.
Norbert Geis
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1570 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Ich hatte eine gewisse Sympathie für diesen Antragund habe mich deshalb der Stimme enthalten, aus grund-sätzlichen Erwägungen der Einhaltung von Regeln derparlamentarischen Demokratie. Denn ich denke, einesolche Debatte im Plenum ist schon so wichtig, daß manda hingehen können muß.Wir haben dann noch relativ kurz ohne Sie weiterverhandelt.
Als ich mich dann hier unten hingesetzt habe, habe ichgeguckt, wo Sie denn waren. Sie sind zwar aus Protestaus dem Rechtsausschuß ausgezogen, aber hier war kei-ner.
Also war das Ganze doch offenbar nur ein Manöver, um– unter Mißbrauch dieses richtigen Gedankens – partei-ideologische Ziele zu verfechten.
Herr Kollege
Geis, es gibt noch eine Kurzintervention des Kollegen
Westerwelle. Sie dürfen dann auf beide zusammen ant-
worten.
Erstens muß ich
sagen: Eine solche Ironisierung eines, wie ich finde,
völlig unparlamentarischen Vorgangs – das Wort
„Schweinsgalopp“ war die höfliche Umschreibung des-
sen, was hier jetzt stattfindet – –
Herr Kollege
Westerwelle, ich muß Sie unterbrechen. Sie dürfen nicht
auf eine andere Kurzintervention eingehen, sondern nur
auf den letzten Redner, also den Kollegen Geis. Nur das
steht Ihnen nach den Regeln zu.
Frau Präsidentin,
ich danke Ihnen sehr. – Herr Kollege Geis, das Wort
„Schweinsgalopp“ saß, und Sie haben recht.
Ich möchte auf einen zweiten Punkt zu sprechen
kommen, zu dem ich mich schon als Zwischenfrager
gemeldet hatte. Sie haben davon gesprochen, es handele
sich bei der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Le-
bensgemeinschaften um eine Privilegierung gegenüber
der Ehe. Sie haben das Wort „Privilegierung“ ausdrück-
lich benutzt. Ich habe mich mit der Sache sehr auseinan-
dergesetzt. Ich habe keine Privilegierung erkennen kön-
nen. Privilegierung heißt ja: Besserbehandlung gegen-
über anderen Instituten. Vielleicht habe ich es falsch
verstanden. Wenn ich diese Privilegierung übersehen
habe, dann bitte ich Sie darum, uns das zu sagen. Viel-
leicht habe ich es völlig falsch verstanden. Eine Privile-
gierung ist auch aus unserer Sicht natürlich nicht beab-
sichtigt, wohl aber eine Abschaffung der Diskriminie-
rung. Eine Abschaffung von Diskriminierung ist jedoch
keine Privilegierung.
Jetzt, Herr
Kollege Geis, haben Sie die Möglichkeit, auf beide
Kurzinterventionen zu antworten.
Verehrte Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst
möchte ich Herrn Ströbele antworten. Wir haben uns
entschlossen, den Beratungen aus zwei Gründen nicht
weiter zu folgen. Der erste Grund ist, daß wir meinen:
Es muß grundsätzlich der Vorzug der Auseinanderset-
zung im Plenum des Bundestages gegenüber der Aus-
einandersetzung im Ausschuß gewahrt bleiben. Hier hat
das Plenum des Bundestages einen entsprechenden Vor-
rang, ganz absolut und ganz unabhängig davon, wer sich
im Plenum befindet.
Zweitens sind wir vor allem deshalb ausgezogen, weil
wir es als unerträglich empfunden haben, daß wir kurz
vor Sitzungsbeginn einen Packen von Anträgen bekom-
men haben – es müssen 30 an der Zahl gewesen sein –,
mit denen wir uns als Rechtspolitiker innerhalb von
zwei Stunden hätten auseinandersetzen müssen. Wir
hielten das nicht für richtig. Wir waren der Meinung,
daß man so nicht mit uns umgehen kann. Wir haben uns
als eine Alibiveranstaltung verstanden. Da wollten wir
nicht mitmachen.
Herr Westerwelle, ich habe gesagt, daß die gleichge-
schlechtlichen Lebensgemeinschaften nicht privile-
giert werden können gegenüber anderen Lebensgemein-
schaften außerhalb der Ehe, von denen man sich viele
vorstellen kann. Ich sehe in dem, was bislang diskutiert
worden ist – es liegt ja noch kein Gesetzentwurf vor –,
eine Privilegierung gegenüber anderen Lebensgemein-
schaften außerhalb der Ehe. Ich kann dem aber nicht
folgen. Ich halte das nicht für logisch.
Liebe Kolle-ginnen und Kollegen, das Wort hat jetzt die Frau Bun-desministerin der Justiz, Herta Däubler-Gmelin.Hans-Christian Ströbele
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1571
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Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Verehrter Herr Kollege Geis, als ich gerade Ihre Klagegehört habe, habe ich gedacht: So schwer kann Opposi-tion sein! Jetzt können Sie sich endlich vorstellen, wiesehr wir unter Ihnen gelitten haben.
Ich habe den Vorzug, daß ich heute an dieser denk-würdigen Sitzung des Rechtsausschusses nicht teilge-nommen habe. Aber ich kann Ihnen sagen: Das, was Siehier geäußert haben, haben wir in den vergangenen16 Jahren mit großem Recht sehr häufig gedacht undhäufig auch gesagt. Ich denke, wir brauchen parlamenta-risches Verhalten auf allen Seiten. Der Rechtsausschußwar insgesamt gesehen grosso modo eigentlich immerein Hort der Auseinandersetzung; und so soll es auchbleiben. Insofern stimme ich Ihnen völlig zu.Wir beraten heute über den Justizhaushalt 1999. Esist das erste Mal ein etwas veränderter Haushalt. MeineBitte ist, meine Damen und Herren – und natürlich wen-de ich mich an die Kolleginnen und Kollegen des Haus-haltsausschusses, an den Kollegen Schneider in ganz be-sonderer Weise, an den Kollegen Henke, an den Kolle-gen Hoyer, an die Kollegin Ehlert und an den KollegenBerninger –, ihn noch weiter zu verändern, und zwareinfach deswegen, weil ich glaube, daß das, was ge-macht werden muß, es auch wert ist. Ich bedanke mich– bei aller unterschiedlichen Sicht – ganz ausdrücklichfür Ihre Worte; das ist gar keine Frage. Über die einzel-nen Dinge muß man reden; auch das ist keine Frage. Ichglaube, daß der Justizhaushalt noch etwas verändertwerden kann, und dafür möchte ich heute ausdrücklichwerben.Seit etwa 50 Jahren hat der Justizhaushalt ohne Zwei-fel – ich habe mir das gerade noch einmal angeschaut –immer Gemeinsamkeiten und Auffälligkeiten, auf dieman schnell stößt. Er ist klein, aber fein; so ist es auchweiterhin. Er macht, glaube ich, 1,5 Promille des Ge-samtvolumens aus.
– Ja.
– Rechnen Sie einmal nach! Ich weiß schon, wovon ichrede.
– Entschuldigung, was haben Sie gesagt?
– Unsachlich sicher nicht!
– Ach so! Woher die Promillediskussion kommt, lieberHerr Geis, das wissen wir. Es sind natürlich Prozent, Siehaben völlig recht.Wir haben praktisch kaum nachgeordnete Behörden;über eine müssen wir gleich noch reden. Die Gerichte,die in unseren Geschäftsbereich fallen – das sind übri-gens hinsichtlich der Kosten nicht das Bundessozial-gericht und das Bundesarbeitsgericht –, sind keine nach-geordneten Behörden. Daß ich das erwähne, hat denGrund, daß jede Stelleneinsparung der vergangenenJahre den Bundesjustizhaushalt – ich denke an die Ar-beitsfähigkeit – sofort ins Mark getroffen hat.Die dritte Gemeinsamkeit ist immer wieder allenHaushalten des Bundesjustizministeriums – ich darf hin-zusagen: gerade auch den Haushalten meiner Vorgänge-rinnen und Vorgänger – bescheinigt worden: Stets istder sparsame Ansatz gelobt worden. Ich denke, wennich Ihnen versichere, daß es so auch bleiben soll, werdenSie es mir glauben. Alles andere wäre extrem unschwä-bisch. Wir bieten Ihnen, gerade auch den Kolleginnenund Kollegen aus dem Haushaltsausschuß, unsere volleOffenheit an, so wie wir schon begonnen haben.An dieser Stelle sage ich den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern des Bundesjustizministeriums herzlichenDank. Sie haben gerade in den letzten Monaten der Ver-änderung ein hohes Maß an Engagement und Motivationgezeigt, für das ich mich herzlich bedanken möchte.
Herr Kollege Henke, selbstverständlich haben Sievöllig recht: Über Einzelheiten wird man reden müssen.Zwei, drei Dinge, die Sie angesprochen haben, möchteich gerne aufgreifen. Sie haben zwei Seminare bzw.Konferenzen erwähnt, die Sie nicht für gut befunden ha-ben. Sie sollten sich das noch einmal überlegen. DieseVeranstaltungen sind weniger dazu da, daß ich da hin-gehe, sondern dienen dazu, daß im europäischen Rechts-raum nicht nur die Harmonisierung der Gesetze, sondernauch eine Verbesserung der Zusammenarbeit sowohl imstraf- als auch im zivilgerichtlichen Bereich vorange-trieben wird. Lassen Sie uns deshalb noch einmal dar-über reden. Sie werden sehen: Das ist nicht nur deswe-gen vernünftig, weil es schon geplant war, als ich dieHaushaltsverantwortung übernommen habe. Das istnicht neu.Zudem bitte ich darum, daß wir uns den Zustandbeim Deutschen Patentamt noch einmal anschauen.Auch dort gibt es besondere Probleme, die sehr leichtund sehr schnell zu schildern sind. In Deutschland habenwir viele Erfinder, und wir sind stolz darauf. Deswegenund weil wir die internationale Wettbewerbsfähigkeitgroßschreiben, wollen wir, daß Patentanmeldungen undPatentprüfungen schnell vor sich gehen. Wenn wir daszu einigermaßen vernünftigen und wettbewerbsfähigenBedingungen machen wollen, benötigen wir auch dienotwendige Zahl der Prüferinnen und Prüfer. Die habenwir heute nicht. Daher wird das eine der Bitten sein, mitdenen wir auf Sie zukommen.
Die letzte Frage, die ich ansprechen will – auf denTäter-Opfer-Ausgleich ist bereits hingewiesen worden;
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ganz herzlichen Dank –, bezieht sich auf den Umzug indas Reichsgerichtsgebäude in Leipzig. Ich habe denEindruck, daß hier die Linie, die das Bundesbauministe-rium und auch das Bundesministerium der Justiz verfol-gen, richtig ist. Wir müssen eine vernünftige Lösungfinden, die Sparsamkeit mit der Notwendigkeit verbin-det, dieses Symbol nutzbar zu machen.Meine Bitte ist, die Funktionsfähigkeit und die Be-deutung genau dieses Gebäudes für die Rechtspflege inden östlichen Ländern unseres wiedervereinigten Landesdeutlich zu sehen. Ich denke, wir werden in den kom-menden Tagen und Wochen noch miteinander darüberreden können.Nun gibt es die traditionelle Funktion der Diskussionum den Justizetat, daß man sich noch einmal überlegt:Was ist überhaupt das Wesen dieser Arbeit? Bei unsstellt sich die Frage: Was ist das Wesen der Rechtspoli-tik? Ich danke Ihnen, Herr Kollege Geis, insofern, alsSie mit Ihren Bemerkungen dazu übergeleitet haben.Ich bin in der Tat der Meinung, daß der Justizhaushaltauch dieses Verständnis widerspiegeln muß. Sie habenvöllig recht: Rechtspolitik hat den Auftrag, zu dem zu-rückzuführen, was uns unsere Verfassung aufgegebenhat. Nur wenn sie ihn erfüllt, ist sie gut. Das bedeutet,die Grundentscheidungen für eine freiheitliche, rechts-staatliche und soziale Demokratie in unserer Zeit mitden Mitteln des Rechts, einschließlich Schutz desSchwachen, durch Recht sichtbar zu machen.
Herr Geis, Sie waren bei meiner Vereidigung dabeiund wissen, daß ich Ihnen folge, daß es in der Wert-ordnung unseres Grundgesetzes zur Menschenwürde– sprechen wir es ganz konkret aus – natürlich vorstaat-liche Bindungen gibt, die wir nicht missen möchten. Siewissen: Ich habe die religiöse Eidesformel gewählt, abernicht jeder, der sie wählt, sieht das so wie ich. Sichermachen sich andere auch andere Überlegungen. Nichtjeder, der nicht die religiöse Formel wählt, sieht es nichtso wie ich. Deswegen lassen Sie uns es einfach so sehen,daß die Einhaltung unseres Grundgesetzes mit seinerzentralen Verpflichtung zur Bewahrung der Unantast-barkeit der Menschenwürde unsere Aufgabe ist.Jetzt will ich noch etwas zur Methode sagen. Ich habedas schon an einigen Stellen ausgeführt und will es hiernoch einmal sehr deutlich machen. Die Methode derRechtspolitik, nicht nur ihre Rückbindung an den Auf-trag des Grundgesetzes muß wieder deutlich werden.Die Methode muß sein – damit komme ich wahrschein-lich wieder in die Richtung, die der Kollege Henke ein-geschlagen hat –, eine Bauhütte zu errichten, so wie esRadbruch einmal gesagt hat. Das heißt, das Bauwerkund die Rückbindung müssen klar sein. Man darf nichtmeinen, man könne hektisch, raus oder rein, ruck oderzuck alles neu machen wollen, sondern man muß dasBauwerk und die Rückbindung deutlich machen – ichwill das noch einmal verdeutlichen –, um Schritt fürSchritt in eine vernünftige Richtung zu gehen.Wir wissen, daß unsere Bundesländer einen Großteilder Verantwortung im Justizbereich tragen. Deswegenmuß diese Methode der Verwirklichung von Reformengemeinsam mit den Ländern praktiziert werden. Ich ladeSie, die Damen und Herren von der Opposition, aus-drücklich dazu ein, uns nicht nur zu begleiten, sondernmitzudiskutieren.An dieser Stelle, verehrter Herr Geis, lassen Sie michauf folgendes hinweisen: Ich war zu lange Mitglied undauch Vorsitzende des Rechtsausschusses, um hier auchnur in den Verdacht zu geraten, daß ich die Kolleginnenund Kollegen nicht mit der gleichen Hochachtung unddem gleichen Respekt bedenken würde, wie Sie ihn hiergeschildert haben.Ich darf zwei Dinge sagen. Zum einen: Ich war aufmeine Anregung hin am 2. Dezember, also knapp sechsWochen nach meiner Ernennung, im Rechtsausschußdes Deutschen Bundestages und habe selbstverständlichüber all das informiert, über das zu informieren war.Zum anderen: Wenn Sie den Kollegen Vorsitzendendes Rechtsausschusses fragen, werden Sie auch von ihmerfahren, daß schon seit längerer Zeit – das ergibt sichauch aus dem Sitzungsplan des Rechtsausschusses – fürden 3. März gegen 12 Uhr, nach der Kabinettssitzung,vorgesehen ist, daß wir in aller Ausführlichkeit über dieFragen reden, die wir bereden müssen. Ich halte das fürabsolut selbstverständlich.Wir werden dann auch darüber reden müssen, daß eseine Menge an Aufgaben gibt, die wir zum Teil weiter-führen, zum Teil wieder aufnehmen. Diese Aufgabenreichen von der Verbesserung des Zeugnisverweige-rungsrechts bis zur schleunigen Umsetzung lange verab-schiedeter EG-Richtlinien. Es macht einen verdammtschlechten Eindruck, wenn die Bundesregierung durchihre Minister Umsetzungsfristen zustimmt und sie dannnicht einhält. Da wird also eine Menge aufgearbeitetwerden müssen.Das geht dann weiter bis zur Korrektur – auch daswird auf den Rechtsausschuß zukommen – des DNA-Gesetzes – Stichwort: genetischer Fingerabdruck – undzum Strafverfahrensänderungsgesetz, das seit mehrals 15 Jahren überfällig ist und die Grundsätze des Da-tenschutzes und damit auch den Persönlichkeitsschutzim Strafverfahren umsetzen soll. Alles das wird eineRolle spielen. Darüber werden wir uns im einzelnen un-terhalten.Ich würde – nicht nur weil mir das wichtig ist, son-dern auch weil Sie das angesprochen haben – noch gernzu vier Feldern und einem besonderen Punkt vortragen.Das ist zum einen der Bereich einer Verbesserung derGerechtigkeit im deutsch-deutschen Rechtsverhältnis.Wir wissen alle ganz genau – da haben Sie völlig recht,Frau Kollegin –, daß hier das eine oder andere aufgear-beitet werden muß. Keine Sorge, ich will jetzt nicht aufdie Frage eingehen, ob die grundlegenden Entscheidun-gen 1990 in jedem Fall richtig waren. Sie sind getroffenworden, und wir haben uns heute mit den Folgen aus-einanderzusetzen.Aber ich halte es für völlig falsch, weiterhin so zuverfahren, wie das in den letzten vier Jahren eingerissenist, das heißt, hier etwas zu flicken und da etwas zu flik-Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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ken, gleichzeitig aber wieder ein Loch aufzureißen undetwas aufzunehmen, was interessant oder auch wichtigsein könnte oder ist.Daher haben wir uns vorgenommen, daß wir jetzt zu-nächst einmal sammeln und eine Runde mit den fünfjungen Ländern machen; das wird Ende April stattfin-den. Dann wollen wir das, was jetzt repariert, verändertoder an Gerechtigkeit hergestellt werden muß, zusam-men als einen Schwerpunkt einbringen. Da kann mandann inhaltlich anderer Meinung sein. Aber ich glaube,Herr Kollege Funke, von der Methode her ist das genauder richtige Weg. Dazu gehören übrigens auch die Prüf-fragen, auf die wir großen Wert legen.Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, ist dieeuropäische Zusammenarbeit. Das hat uns natürlich inden letzten 121 Tagen ganz unmittelbar beschäftigt, undzwar in der Vorbereitung, aber dann auch in der Wahr-nehmung der europäischen Präsidentschaft für den Be-reich der Rechtspolitik.Um was es geht, wissen wir alle. Wir brauchen deneinheitlichen europäischen Rechtsraum, und zwar des-wegen, Herr Kollege Henke, weil wir nicht zu einerpolitischen Union kommen, sondern in der Wirtschafts-union steckenbleiben, wenn wir nicht auch eine Rechts-union unter Beachtung der Subsidiarität haben. Ich gehedavon aus, daß das die einheitliche Meinung aller Frak-tionen dieses Hauses ist. Aber wir müssen halt auchnoch etwas dafür tun. Das heißt: Harmonisierung derVorschriften, Verbesserung der strafrechtlichen Zusam-menarbeit, Verbesserung auch der zivilrechtlichen Zu-sammenarbeit in Europa und – das ist eine der Aufga-ben, die wir jetzt erledigen müssen – eine gute und ver-nünftige Überleitung vom Regime des MaastrichterVertrages in den Amsterdamer Vertrag.Es gibt noch zwei Dinge, die wir aufgreifen werden.Wir müssen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit – des-wegen habe ich vorher noch einmal auf das GrundgesetzBezug genommen – auch in diesem einheitlichen euro-päischen Rechtsraum deutlicher und stärker zum Durch-bruch bringen.Wir brauchen auch einen Grundrechtekatalog, dasheißt eine Grundrechtscharta. Dazu führen wir zusam-men mit der Europäischen Kommission Ende März eineVeranstaltung in Köln durch, zu der ich Sie herzlicheinlade. Ich glaube, hier können wir noch ein neues Si-gnal geben.Der nächste Punkt, der mir wichtig ist – auch dieserist angesprochen worden –, ist die Justizreform. LieberHerr Kollege Henke, Sie haben mich immer auf IhrerSeite, wenn es gegen Zentralisten geht. Nicht einmal derbaden-württembergische Justizminister hält die Auffas-sung aufrecht, wir wollten irgendwo an die Amtsge-richte heran. Nichts wäre falscher. Ich habe das in die-sem Hause schon mehrfach gesagt. Wie die Eingangsge-richte organisiert werden, wie sie heißen oder ob es daeines oder zwei gibt, gehört nicht zu den Aufgaben desBundesgesetzgebers. Damit kann man vielleicht nochStimmung machen, aber das wäre von der Sache hernatürlich nicht gerechtfertigt.Es geht darum, die Ziele Bürgernähe, Transparenzund Effizienz unter Berücksichtigung auch der Kosten-problematik der Länder zu erreichen. Zugleich geht es– das habe ich gerade angesprochen – um den Einbaudes deutschen Justizsystems in das Rechtssystem Euro-pas. Wenn wir das wollen, dann ist es vernünftig, dieEingangsgerichte zu stärken und die außergerichtlicheStreitschlichtung obligatorisch vorzuschalten, die Mit-telgerichte auf die Fehlerkontrolle zu konzentrieren unddie Obergerichte auf die Wahrung von Rechtseinheit-lichkeit und Rechtsfortbildung auszurichten. Dort kön-nen wir vielleicht – auch mit diesem Vorschlag werdeich auf Sie zukommen – die Verfahrensrüge ansiedeln,weil ansonsten das Bundesverfassungsgericht, das wirdringend brauchen, erstickt. Das ist die Grundidee, HerrHenke.Über die Frage, wie wir anfangen, sind wir schon mitden Ländern, aber auch mit Ihnen im Gespräch. Klar ist,daß die eben erwähnten Ziele nur Schritt für Schritt zuerreichen sind. Beginnen wollen wir in diesem Jahr imBereich der Zivilgerichtsbarkeit mit der Rechtsmittelre-form. Im nächsten Jahr wird es dann im Bereich derStrafgerichtsbarkeit weitergehen. Damit kommen wir,wie ich glaube, vernünftig zum Ziel.Ein weiterer Schwerpunkt ist das Bündnis gegenGewalt. Dazu ist hier schon vieles gesagt worden, wasich für richtig halte. Nur wäre es mir sehr recht, HerrGeis, wenn wir aus dem europäischen Rechtsraum her-aus zur Kenntnis nähmen, welche guten Erfahrungen be-reits jene Länder gemacht haben, die verbindlich in dasFamilienrecht geschrieben haben, daß ein Kind nicht nurein Recht auf eine Erziehung, sondern auch auf eine ge-waltfreie Erziehung hat, daß also Gewalt als Erzie-hungsmittel nicht erlaubt ist. Ich weiß doch, daß Sie alsVater den Beispielfall, den Sie gewählt haben, auchnicht dadurch lösen würden, daß Sie das Kind mit ge-waltsamen Methoden herausholten. Sie hätten früher an-gesetzt und die Möglichkeiten der Erziehung genutzt,die Erwachsenen zu Gebote stehen. Uns muß es darumgehen, nicht nur am Sonntag über die zunehmende Ge-walt und Gewaltbereitschaft in unserem Land zu klagen,sondern in den Bereichen zu handeln, in denen Politikund Gesellschaft etwas tun können. Deswegen haltenwir an dem Bündnis gegen Gewalt fest.Ein letzter Punkt ist die Frage der Erweiterung desSanktionensystems. Diese Erweiterung muß sein. Hierkönnen wir auf der Arbeit einer Kommission aufbauen,die Sie unter der Leitung des verdienten bisherigenKollegen von der CDU, Horst Eylmann, dankenswer-terweise eingerichtet haben. Wir haben diese Kommissi-on personell etwas erweitert und sie gebeten, die Arbei-ten zeitlich zu straffen. Das Ziel der Erweiterung desSanktionensystems im Bereich des Erwachsenenstraf-rechts muß es sein, daß wir rechtsstaatlich tat- undschuldangemessen bestrafen können und daß wir dort– darauf kommt es mir an –, wo es heute nicht mehrfunktioniert, einen Denkzettel derart verabreichen, daß dieBetroffenen die Einhaltung der demokratisch beschlosse-nen Gesetze nachvollziehen können und akzeptieren.Meine Damen und Herren, da wird nun alles vomselbständigen Fahrverbot über die Ersatzfreiheitsstrafe,Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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die durch gemeinnützige Arbeit abgelöst werden soll– „Schwitzen statt Sitzen“ –, und den Täter-Opfer-Ausgleich bis hin zum überwachten Hausarrest, aberauch das Vorgehen gegen Alltagskriminalität erörtertwerden, so daß wir danach relativ schnell mit Vorschlä-gen auf Sie zukommen können. Das muß nach unsererAuffassung nicht nur um des Rechtsstaates willen sein,sondern auch deswegen, weil wir erreichen müssen, daßdiejenigen, die ins Gefängnis gehören, dort auch wiederresozialisiert werden können. Das brauchen wir unterdem Gesichtspunkt des Schutzes der Opfer und desSchutzes vor Wiederholungstätern.Sie sehen, lieber Herr Kollege Henke, der Justizhaus-halt ist wichtig. Er muß sich noch verändern. Ich werbeum Ihre Unterstützung. Es ist wichtig, daß wir hier eini-ge Schritte nach vorne kommen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Weitere Wort-
meldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums des Innern. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Ludwig Stiegler.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Die Innenpolitik hatKonjunktur. Der Bundesinnenminister hat vom erstenTag seiner Amtsführung an stürmische Zeiten erlebt. Ichfinde, er hat eine wirklich gute Figur abgegeben. Ichmöchte ihm herzlich für das danken, was er gemachtund auch durchgestanden hat.
Er hat schon mit der richtigen Dimension begonnen.Wir haben gelernt, daß die Innenpolitik keine allein na-tionale Angelegenheit mehr ist. Der Raum der Freiheit,des Friedens und des Rechts ist eine europäische Veran-staltung. Wenn Sie sich ansehen, wie die europäischeInnenpolitik in den letzten Wochen und Monaten inten-siviert worden ist, dann stellen Sie fest, daß das wirklichdie Handschrift eines europäischen Bürgers trägt, dereben erkannt hat, daß wir das mit nationalen Maßnah-men allein nicht mehr bewältigen.
Herzlichen Dank für diese Europäisierung und für dieseBreite. – Daß ihr beide blind seid, ist schon bekannt. Dasmüßt ihr jetzt nicht unterstreichen.
– Ich weiß, Sie wollen lieber gehen.Meine Damen und Herren, er hat auch die richtigenAkzente gesetzt, nämlich weg von der reinen Repressionund hin zur Prävention. Eine der ersten Maßnahmenwar die Teilnahme am Präventionstag, auf dem deutlichgeworden ist, daß man allein mit einer schwarzen Hau-drauf-Politik die Probleme der inneren Sicherheit nichtlöst, sondern daß das Thema der Prävention, der Krimi-nalitätsvermeidung mindestens so wichtig ist wie dasThema der Kriminalitätsbekämpfung. Das wäre endlicheinmal zu lernen, und danach wäre endlich einmal zuhandeln. Aber das wollen Sie nicht. Dann hätten Sie garkeine Möglichkeit mehr herumzupolemisieren. Deshalbwerden Sie auf das differenzierte Geschäft der Präven-tion mental nie eingestellt sein.
Sie haben doch aus diesem Grund eine schwere Stö-rung des inneren Friedens in diesem Lande herbeige-führt. Wenn ich die unsägliche Unterschriftenaktionsehe, wenn ich sehe, was Sie an braunem und völki-schem Sumpf hochgespült haben,
so ist das wirklich ein Anschlag auf den inneren Frieden.Sie haben mit geradezu kriegswissenschaftlichen Me-thoden der Mobilisierung des müden Vereins CDU nachder Methode CSU Krawall gemacht. So sieht doch dieSituation aus.
So dient man dem inneren Frieden nicht. Nichts ge-gen ernste Besorgnisse; aber diese Art und Weise desVorgehens ist durch nichts zu rechtfertigen. Sie werdenmit dieser Methode das Projekt einer wirklichen Re-form des Staatsbürgerschaftsrechts nicht verhindernkönnen. Sie werden es nicht schaffen, daß wir etwa denAuftrag des Bundesverfassungsgerichts nicht erledigen,das einen Zusammenhang zwischen der Übereinstim-mung von Staatsvolk und Gesetzesunterworfenen undder Einbürgerung hergestellt hat. Wir werden die Ein-bürgerung erleichtern. Herr Rüttgers hat ein schönes Pa-pier über Integration gemacht und hat viele Versäum-nisse aufgezählt. Was Herr Rüttgers aufschreibt, istnichts anderes als ein Schuldanerkenntnis der Versäum-nisse der Vergangenheit. Er hat zugegeben, daß in die-sem Bereich bisher nichts geschehen ist.
Aber Sie haben es für eine billige Polemik verwendet.Ähnlich ist es im Bereich Flucht und Asyl. Wir müs-sen zusammen mit den für Äußeres zuständigen Politi-kern endlich beginnen, die Fluchtursachenbekämpfungwirklich ernst zu nehmen. Innen- und Außenpolitikmüssen auf diesem Felde intensiver zusammenarbeiten.Wir fordern natürlich auch die Härtefallregelung ein.Hier erwarten wir von den Ländern, daß sie mit demBundesinnenminister kooperieren.Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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Zur Integration gehört auch die Integration der Aus-siedler. Sie haben Millionen Menschen ins Land geholt,aber für die Integration herzlich wenig unternommen.Ich denke an die Probleme der jugendlichen Aussiedler,ich denke an Sprachprobleme, ich denke an die damitzusammenhängende Kriminalität. Das ist das eigentlicheThema. Ich danke dem neuen Aussiedlerbeauftragtender Bundesregierung, unserem Kollegen Jochen Welt,daß er den Integrationsetat trotz der schwierigen Haus-haltslage aufstocken konnte. Das ist ein Zeichen, daßwir die Integration miteinander ernst nehmen.
Ich kann hier nicht alle Projekte durchgehen. Wir ha-ben ein weiteres wichtiges Projekt, nämlich den Daten-schutz. Hier haben Sie es versäumt, europäische Richt-linien umzusetzen. Es droht eine Verurteilung, die ab-gewendet werden muß. Deshalb ist es wichtig, daß wirhier bald mit einer ersten Datenschutznovelle Ihreschwere Erblast überwinden und endlich wieder „à jour“mit den Pflichten sind, die wir zu erledigen haben.Zum Zuständigkeitsbereich des Innenministers gehörtauch der Sport. Auch hier hat der Innenminister sofortZeichen gesetzt.
Seine internationale und nationale Sportpolitik kann sichwirklich sehen lassen. Ich möchte ihm herzlich dafürdanken, daß er gerade der Dopingbekämpfung einesolche Aufmerksamkeit gewidmet hat. Wir müssen denSportverbänden klarmachen, daß wir dann, wenn sieselber keine rechtsstaatliche Lösung finden, in der Poli-tik mithelfen werden, um eine solche Lösung zu errei-chen. Ich danke meiner Kollegin Dagmar Freitag, diemit ihrer Arbeitsgruppe „Sport“ hier wesentliche Vorar-beiten geleistet hat, auf die der Bundesinnenministerzählen kann, wenn es um Anregungen und um Kontaktezum Sport geht. Hier wollen wir Akzente setzen.
Als Fußballer kann ich nur herzlichen Dank für dieUnterstützung der Bewerbung um die Fußballweltmei-sterschaft sagen. Auch das ist eine tolle Sache.
– Das stinkt dir jetzt, daß Franz Beckenbauer die Bun-desregierung lobt. Aber das ist euer Pech. Ihr habt soetwas ja nicht zustande gebracht. Otto Schily hat diesesTor geschossen. Herzlichen Glückwunsch! Sie haben zulange geschlafen.
– Das würde ich eher schaffen als Sie. Für Sie müßteman eine „Mundwerksmeisterschaft“ austragen, damitSie gute Chancen hätten. Aber wir wollen eine Fußball-meisterschaft.Es gibt einen Punkt in unserem Haushalt, um den wirmit unseren Haushältern ringen müssen. Ich schaue da-bei Hans Georg Wagner, aber auch die anderen Haus-hälter an. Wir wollen, daß der Goldene Plan Ost auchim Haushalt seinen Niederschlag findet.
Wir wollen, daß der Aufbau einer Breitensportbewegunghier seinen Niederschlag findet. Ich komme aus demehemaligen Zonenrandgebiet. Wir haben eine hervorra-gende nationale Zonenrandförderung gehabt, mit der wirunglaublich vielen Sportvereinen helfen konnten. Wirwollen vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit derfrüheren Breitensportförderung im Zonenrandgebietdem Sport gerade in den neuen Ländern zum Durch-bruch verhelfen.
Hier sollten wir alle zusammen die Haushälter nerven,so wie es in der Bibel beschrieben wird, nämlich sie-benmal die Mauer von Jericho umkreisen, bis sie endlicheinfällt. Wir müssen das so lange machen, bis wir dierichtigen Entscheidungen treffen können. Wir werdenalso unsere Gruppe „Sport“ aktiv unterstützen, damit wirdas gemeinsam voranbringen.Ich möchte auch noch ein schwieriges Thema anspre-chen. Viele werden im Wahlkreis ähnliche Erfahrungengemacht haben: Viele Vereine haben Probleme mit derSteuerprüfung und der Sozialversicherung. Unglaublichviele Vereine stehen vor dem Konkurs. Da ist auch vielLumperei betrieben worden, aber wir werden uns in allerRuhe mit den Sportverantwortlichen, mit den Finanz- undSozialversicherungsfachleuten zusammensetzen. Es kannnicht sein, daß viele Vereinsvorsitzende aus Angst vor derHaftung für Dinge, die sie nicht voll durchschauen, in ih-ren Aktivitäten gebremst werden. Wir haben als Parla-mentarier die Pflicht, hier alle Sportlerinnen und Sportlersowie die aktiven Verantwortungsträger zu schützen.
– Das ist nur ein Thema von vielen. Entscheidend ist,daß die Vereinsvorsitzenden mit ihren Aufgaben zu-rechtkommen und nicht steuerlich überfordert werden.Es gibt zwar Großvereine, die als Gewerbebetriebe ge-führt werden. Ich habe das erste Handbuch über die Bi-lanzierung von Fußballern und über die Abschrei-bungsmöglichkeiten auf dem Tisch. Das mag ja allesrichtig sein. Aber unsere Sorge muß auch dem Breiten-sport gelten, soweit er durch Bundesgesetze betroffenist, wenn auch sonst allein die Förderung des Spitzen-sportes Aufgabe des Bundes ist.In der Innenpolitik gibt es eine spannende Zeit. Wirhaben einen starken Innenminister und freuen uns, daßwir mit ihm zusammen diese Aufgaben bewältigen kön-nen. Sie werden es nicht schaffen, durch Ihren Versuch,die Menschen aufzuhetzen, den inneren Frieden zu stören.
Ludwig Stiegler
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Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Jürgen Rüttgers.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zur Rede die-ses Abgeordneten Stiegler sage ich nichts. Während wirin Berlin eine ausgesprochen schwierige Sicherheitslagehaben, äußert er hier Diffamierungen und macht Aus-führungen zu Übungsleitern.
Das soll verstehen, wer will, aber jede Rede hat halt dasNiveau, das dem Redner entspricht.Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Das istdie erste Lesung des Einzelplans des Bundesinnenmi-nisters. Nach einem alten parlamentarischen Brauch istes gute Übung, daß der zuständige Minister seinen Ein-zelplan hier vorträgt und begründet. Der jetzt amtierendeBundesinnenminister hat sich geweigert, als erster indieser Debatte zu sprechen; deshalb mußten wir dieAusführungen von Herrn Stiegler hören. Herr Schily, ichkann verstehen, daß Sie sich schämen, diesen Einzelplanhier vorzutragen. Sie werden jetzt am Schluß reden. Siekommen anscheinend immer zu spät.
Nach etwas mehr als 100 Tagen steht der Bundesin-nenminister Schily vor dem Scherbenhaufen seinerPolitik bei der Zuzugsbegrenzung von Ausländern, beider Staatsangehörigkeit und auch im Fall Öcalan. Es gibteine alte Erkenntnis – auch in der Innenpolitik –: WerSchwäche sät, der erntet Gewalt. So sieht das ResultatIhrer Politik im Fall Öcalan aus.Ängstlich und leichtfertig hat die Schröder-Regierunggehandelt, als sie im November auf die Auslieferungvon Öcalan verzichtet hat.
Sie hat damit eine schwere Verantwortung auf sich ge-laden. Die Justiz wurde aus Opportunitätsgründen darangehindert, Recht zu sprechen. Internationale Haftbefeh-le, von deutschen Behörden veranlaßt, wurden Makula-tur. Die Bundesrepublik Deutschland setzt sich demVerdacht der Erpreßbarkeit aus.Die Schröder-Regierung – ich erinnere an die gestrigeRegierungserklärung von Herrn Schily – hat versucht,die Kapitulation des Rechtsstaats damit zu rechtferti-gen, daß bei einem Strafverfahren gegen Öcalan inDeutschland gewaltkriminelle Ausschreitungen aufdeutschen Straßen zu befürchten seien. Jetzt haben wirbürgerkriegsähnliche Zustände trotz dieser Kapitulation.Was hat die Schröder-Regierung eigentlich nationalwie international seit Dezember unternommen? Wo istder internationale Gerichtshof, der hier groß angekün-digt worden ist? Wo ist der internationale Gerichtshof,vor den Öcalan gebracht werden sollte, damit auch seineMenschenrechte gewahrt bleiben? – Nichts ist passiert!Schlechter als jetzt konnte man es jedenfalls im Ergeb-nis nicht machen.
Herr Schily, damit das klar ist: Ich werfe weder derBundesregierung noch Ihnen vor, daß Sie eine Schuld anden Krawallen, die zuletzt stattgefunden haben, haben.Aber Sie haben durch Ihr Verhalten den Eindruck er-weckt, daß der deutsche Rechtsstaat den Kopf einzieht,wenn es schwierig wird, und daß er vor Drohungen aufdie Knie geht. Sie haben ein Umfeld der Erpreßbarkeitund der Nachgiebigkeit geschaffen.
Niemals darf Deeskalation so weit gehen, daß Politikund Rechtsstaat vor der Gewalt kapitulieren.
Eine Kapitulation des Rechtsstaats war der Verzichtauf das Auslieferungsbegehren. Eine Kapitulation desRechtsstaats ist aber auch das, was wir in den vergange-nen Tagen gesehen haben: daß Unterstützer der verbote-nen PKK alles kurz und klein geschlagen und anschlie-ßend freien Abzug bekommen haben. Der Bundeskanz-ler und der Bundesinnenminister haben davon gespro-chen, daß die gewaltkriminellen Demonstranten die gan-ze Härte des Gesetzes treffen müsse. – Richtig! Wiepaßt aber dazu das Vorgehen – besser gesagt: dasNichtstun – in Düsseldorf und in Hamburg? Büros undGeschäftsräume wurden verwüstet. Ich war da und habemir das Konsulat und auch die mittelständische Firma,die zufällig das Pech hatte, zwischen zwei Etagen desKonsulates zu liegen, angesehen. Nichts paßte dortmehr.
– Ich war wenigstens da; sonst war keiner anwesend,weder von der Bundesregierung noch von der Düssel-dorfer Regierung. Ich finde es übrigens ziemlich schä-big, diejenigen Menschen, die Gewalt erlebt und Angstgehabt haben, völlig alleine zu lassen.
Nachdem dort alles verwüstet war, zogen die Täter völ-lig unbehelligt ab, von Festnahme keine Spur, nichteinmal die Personalien sind aufgenommen worden.
All das wird durch handwerkliches Unvermögen,peinliche Informationspannen im Kanzleramt und imInnenministerium umrahmt.
Es ist ein Aberwitz, daß Kurdenorganisationen undNachrichtenagenturen Stunden vor den zuständigen Mi-nistern über die Verhaftung Öcalans unterrichtet waren.Herr Schily, kümmern Sie sich endlich um Ihr Ministe-
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rium! Sorgen Sie endlich für Sicherheit in unseremLand, statt immer nur zu reden, zu prüfen und anzukün-digen.
Gegen die Gewalttäter muß entschlossen und konse-quent vorgegangen werden – bis hin zur Ausweisungund Abschiebung. Wir können und wir dürfen nichtdulden, daß innertürkische Konflikte gewaltsam aufdeutschem Boden ausgetragen werden. Deutsche Ge-setze gelten für alle, für Kurden, für Türken und fürDeutsche.
Wer hier Straftaten begeht, seien sie politisch motiviertoder nicht, verwirkt sein Gastrecht und muß raus.
Die Kurdenkrawalle geben eine Lehre über den Taghinaus.
Ich weiß, daß Sie das nicht gerne hören, aber ich sage estrotzdem.
– Sie können hier soviel schreien, wie Sie wollen, ichhabe jetzt das Wort. Wir sind noch nicht soweit, daß indiesem Parlament jemand durch Brüllen mundtot ge-macht wird, Herr Penner, damit das ein für allemal klarist.
Ich wiederhole, ob Sie das nervt oder nicht: Über denTag hinaus kann man lernen: Die doppelte Staatsange-hörigkeit als Regelfall darf nicht eingeführt werden.
Wären die Pläne der Schröder-Regierung bereits gelten-des Recht, wären viele der kurdischen Gewalttäter längstdeutsche Staatsbürger und könnten alleine schon deshalbnicht ausgewiesen oder abgeschoben werden.
Jetzt hat der Bundesinnenminister angekündigt, erwolle Gesetzesverschärfungen im Bereich des Auswei-sungsrechts prüfen. Herr Schily, wir nehmen Sie beimWort. Es darf aber nicht wie so oft bei Verbalkosmetikbleiben.
Es darf nicht nur geredet werden, es muß auch gehandeltwerden. Im übrigen ist es ja auch noch gar nicht so langeher, daß SPD und Grüne im Bundestag wie übrigensauch im Bundesrat Vorschläge der CDU/CSU-Fraktionsowie entsprechende Initiativen der Bayerischen Staats-regierung zur Verschärfung des Ausweisungsrechtesscharf bekämpft haben.
Wir schlagen folgende Gesetzesänderungen vor:Erstens. Zwingende Ausweisung muß künftig bereitsbei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einem Jahrstattfinden.Zweitens. Ausländer, die an kollektiven und gewalt-tätigen, insbesondere extremistischen Ausschreitungenteilnehmen, müssen auch ohne rechtskräftige Verurtei-lung ausgewiesen und abgeschoben werden können.
Schon die nachweisliche Beteiligung an gewalttätigenDemonstrationen muß zwingend zur Ausweisung füh-ren.
– Das ist noch nicht so, Herr Westerwelle.Drittens. Auch die Unterstützung einer verbotenenOrganisation, wie sie die PKK ist, muß zwingend zueiner Ausweisung führen.
Viertens. Der Ausweisungserlaß ist wertlos ohne tat-sächliche Abschiebung. Bereits Bundesminister Kantherhatte mit seinem türkischen Amtskollegen eine Verfah-rensabsprache für die Rückführung von PKK-Anhän-gern getroffen.
Diese stellt sicher, daß kein Abgeschobener nach Rück-kehr in die Heimat rechtsstaatswidrig behandelt wird.
Wir sind der Auffassung, daß diese Vereinbarung jetztkonsequent angewendet werden muß.Sollten Sie der Auffassung sein, daß dies nicht aus-reicht, dann fordere ich die Bundesregierung auf,schnellstens eine entsprechende völkerrechtliche Rege-lung mit der Türkei abzuschließen. Es darf nicht sein,daß ausländische Straftäter nur deshalb vor Abschiebungin die Türkei geschützt sind, weil sie sich hier zur PKKbekennen. Es ist pervers, wenn PKK-Mitglieder nicht indie Türkei abgeschoben werden können, weil sie inDeutschland Gewalt anwenden. Es kann nicht bei demparadoxen Ergebnis bleiben, daß Kurden vor Abschie-Dr. Jürgen Rüttgers
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bung um so besser geschützt sind, je mehr sie sich hierdurch antitürkische Gewaltaktionen hervortun. Das Be-gehen von Straftaten darf nicht länger mit einem Bleibe-recht in Deutschland belohnt und prämiert werden.
Meine Damen und Herren, die Wähler in Hessen ha-ben der doppelten Staatsangehörigkeit eine Abfuhr er-teilt. Jetzt sucht die Regierung nach einem Ausweg.
Sie glaubt, ihn in dem Optionsmodell gefunden zu ha-ben. Die SPD irrt, wenn sie meint, dieses Modell ließesich ohne die CDU/CSU durchsetzen. Richtig ist viel-mehr, daß das Optionsmodell verfassungsfest nur durcheine Änderung des Art. 16 eingeführt werden könnte.
Das entspricht übrigens auch der Auffassung des Bun-desinnenministers. Art. 16 unseres Grundgesetzes läßteine Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit nichtzu. Eine Einführung von Verlustgründen ist nur unterbestimmten engen Voraussetzungen möglich. Unver-zichtbar dafür ist – diesen Punkt hat das Bundesverfas-sungsgericht nachdrücklich klargestellt – eine aktiveMitwirkung des Betroffenen.
Eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Optionsfristkann also nur dann vorgesehen werden, wenn gleichzei-tig Art. 16 des Grundgesetzes dahin gehend ergänztwird, daß auch ohne aktives Mitwirken des Betroffenen,zum Beispiel im Falle seiner Untätigkeit die deutscheStaatsangehörigkeit kraft Gesetzes untergehen kann.
Eine solche Verfassungsänderung ist nur mit Zu-stimmung der CDU/CSU-Fraktion möglich. Wer alsoetwas von uns will, der muß mit uns verhandeln.
Dazu muß die Regierung aber zunächst einmal sagen,was sie überhaupt will und was sie überhaupt durchset-zen kann. Ich habe mit großem Interesse der Presse ent-nommen, daß 18 Abgeordnete der SPD-Fraktion ineinem Papier das Optionsmodell als „größten anzuneh-menden Unfug“ bezeichnet haben.
Herr Kollege
Rüttgers, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Bitte.
Herr Kollege Rüttgers,
nachdem Sie eingangs Ihrer Rede moniert haben, der
Bundesinnenminister ergreife zu Beginn der Debatte
über den Einzelplan 06 nicht das Wort, muß ich fragen:
Ist denn noch damit zu rechnen, daß Sie etwas zu diesem
Haushalt sagen?
Ich gehöre nichtzu den Menschen, die neuen Kollegen vorwerfen, daßsie noch nicht die notwendige Erfahrung haben. Ich darfIhnen trotzdem sagen, daß die erste Lesung immer dieDebatte über die Politik, die hinter dem Haushalt steht,beinhaltet.
Ich beschäftige mich mit der Politik des Bundesinnen-ministers. Insofern bin ich genau beim Thema. WennSie wollen, erkläre ich Ihnen diesen Sachverhalt nachheretwas genauer.
– Das ist keine schwache Antwort, sondern genau diepassende Antwort auf die Frage. Es kann doch nichtsein, daß wir angesichts der schwierigen Lage im Landejetzt beispielsweise über Übungsleiter diskutieren. Wirdiskutieren jetzt über die Sicherheitslage und die großenThemen, die die Menschen interessieren. Vor lauterMachtbesoffenheit kapieren Sie nicht mehr, was dieMenschen interessiert. Wir dagegen versuchen, die Sor-gen der Menschen aufzunehmen.
Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,daß mit der Union die Einführung der regelmäßigendoppelten Staatsangehörigkeit nicht zu machen ist. Wasvom Abgeordneten Stiegler eben zur Meinungsäußerungvon vielen Millionen Menschen in diesem Land mittelsder Unterschriftenaktion gesagt worden ist – ich willseine Äußerungen über eine angebliche Schuldaner-kenntnis gar nicht näher qualifizieren, ist mir zu billig.
Sie sollten einmal zur Kenntnis nehmen, Herr Stiegler– vielleicht fällt Ihnen das nicht so auf, gerade weil Sieaus Bayern kommen –, daß in Bayern eine sehr fort-schrittliche Integrationspolitik gemacht worden ist. Ichschildere Ihnen einmal die Situation seit Jahren im rot-grün regierten Nordrhein-Westfalen: Für 500 000 aus-ländische Kinder stehen in Nordrhein-Westfalen nur3 500 Lehrer für Förderunterricht zur Verfügung.
Jedes Kind bekommt also pro Woche nur acht MinutenFörderunterricht. Sich dann hier hinzustellen und vonDr. Jürgen Rüttgers
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1579
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Integration zu sprechen ist eine Heuchelei und nichtsanderes.
Man müßte sich jetzt noch im Detail – Stichwort:Verfassungstreue und Sprachfähigkeit – mit den Plänenauseinandersetzen, die Herr Schily vorgelegt hat. Eslohnt sich aber nicht mehr, weil wir gerade erfahren ha-ben, daß Herr Schily seinen Entwurf zurückziehenmußte. Er ist also mit seinem Entwurf gescheitert undmuß ihn überarbeiten.
Herr Schily, ich sage Ihnen: Wenn Sie noch einmalsolche Ungereimtheiten wie im ersten Entwurf vorlegensollten, dann werden Sie damit ein weiteres Mal schei-tern. Ihre Tragik ist – insoweit können Sie einem schonfast leid tun –,
daß Sie von anderen in Schlachten geschickt und dannplötzlich allein gelassen werden. Das ist Ihnen nicht nurin der Frage des Staatsangehörigkeitsrechtes passiert,sondern jetzt leider auch bei den Tarifverhandlungen.Wer Sie etwa gestern bei Ihrem Gefühlsausbruch beob-achtet hat, der kann spüren, wie verkrampft und unsicherSie geworden sind.
Sie werden ins Feuer geschickt und dann allein gelas-sen. Der Bundesfinanzminister animiert die Gewerk-schaften, bei Lohnforderungen nicht zimperlich zu sein.Damit untergräbt er gleichzeitig Ihre Position bei denTarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst. HerrSchily, ich sage Ihnen: Wehren Sie sich rechtzeitig,sonst werden Sie auch in diesem Bereich scheitern!Es reicht nicht, den Zuhörern das zu sagen, was Siegerne hören wollen, dann aber etwas anderes zu tun. Siehaben dem Deutschen Beamtenbund in Kissingen versi-chert, Sie stünden zum Berufsbeamtentum. Der BMFbeginnt bereits mit der Umwandlung von Beamtenstel-len.
Ich sage Ihnen für meine Fraktion: Die Beamten, An-gestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes habenein Recht auf uneingeschränkte Teilhabe an der allge-meinen Einkommensentwicklung. Wir greifen nicht indie Tarifverhandlungen ein, aber Sonderopfer für Be-amte sind mit uns nicht zu machen. Es gibt überhauptkeinen Grund, die Prinzipien des Art. 33 des Grund-gesetzes für den öffentlichen Dienst in Frage zu stellenoder gar kaputtzureden.
Bisher galt: Wer viel schafft, macht Fehler. Nur wernichts tut, macht keine Fehler. Seitdem es diese rotgrüneRegierung gibt, gilt etwas Neues: Sie tut fast nichts undmacht trotzdem nur Fehler.
Ich bitte um
ein bißchen mehr Ruhe. Ich habe es eben mit der Glocke
versucht. Sie soll eigentlich sagen, daß es im Plenum
etwas ruhiger sein sollte.
Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Cem Özdemir.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Wer vorhin dierechtspolitische Debatte mitbekommen hat, hat die Sen-sibilität der Kolleginnen und Kollegen von der Unionerlebt und erfahren, wie wichtig ihnen die Würde desParlaments und die Achtung vor dem Parlament ist. Weraber gerade die Rede des Kollegen Rüttgers gehört hat,muß feststellen: Das war unterirdisch. Mit Achtung vordem Parlament und Debattenkultur hatte das nicht sehrviel zu tun.
Aber jetzt zum Thema. Ich bin froh, daß wir einenInnenminister haben, Innenminister Schily, der sich mitSachlichkeit bemüht, klarzumachen, daß in der Innen-politik eine neue Epoche begonnen hat, indem mit denBürgerinnen und Bürgern gemeinsam versucht wird, dieProbleme in dieser Gesellschaft zu lösen. Herr Stieglerhat auf einen sehr wichtigen Punkt hingewiesen: Zu-künftig spielt neben der entschiedenen Bekämpfung vonKriminalität, neben der Durchsetzung von innerer Si-cherheit auch der Gedanke der Prävention die Rolle, dieer einnehmen muß.Ich möchte auf einen Punkt eingehen, den ich für sehrwichtig halte und der in der Debatte bisher leider zuwe-nig behandelt worden ist. Wir brauchen dringend eineModernisierung von Staat und Verwaltung. Wirwollen mehr Bürgerbeteiligung, mehr Transparenz inder Gesellschaft. Dazu gehört – das wurde kurz ange-sprochen – auch das Überdenken der hergebrachtenGrundsätze des Berufsbeamtentums. Wir wollen, daß,ausgenommen bei hoheitlichen Aufgaben, zukünftigAngestellte der Regelfall werden. Ich finde es ausdrück-lich lobenswert – die neue Bundesregierung hat ihrenBeitrag dazu geleistet –, daß weltweit Maßnahmen ge-gen Korruption und Bestechung durchgesetzt werden.Was wir mindestens genauso dringend auf den Wegbringen müssen, sind Akteneinsichtsrechte, wie wir siein der Koalitionsvereinbarung vorgesehen haben. Auchdas wird dazu beitragen, daß diese Demokratie ausge-baut wird und daß der Bürger und die Bürgerin das Ge-fühl haben, daß sich der Staat nicht vor ihnen versteckt,sondern der Staat der Bürger ist.
Dr. Jürgen Rüttgers
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1580 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Wir wollen eine Mitmachgesellschaft, eine Zivilge-sellschaft, in der wir die Kompetenz der Menschen ein-beziehen wollen. Diese Regierung stellt sich den Bürge-rinnen und Bürgern; sie versteckt sich nicht vor ihnen.
– Auf die Staatsbürgerschaft gehe ich gleich ein, HerrKollege Marschewski. Aber bevor ich auf diesen Punkteingehe, gestatten Sie mir eine Bemerkung zur PKK.Ich dachte eigentlich, daß wir diese Debatte gestern frühabgeschlossen hätten. Offensichtlich hat der KollegeRüttgers sie nicht mitbekommen. Deshalb will ich gernenoch einmal einen Kernbestandteil wiederholen.Es ist nicht die Fraktion der SPD, und es ist auchnicht die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, sondernes war die Fraktion der CDU/CSU, die jahrelang Ge-heimkontakte zur PKK unterhalten hat. In Ihrer Fraktionwar ein Abgeordneter, der mehrfach dort war und sichmit Herrn Öcalan unterhalten hat. Ich möchte den In-nenminister Schily fragen, ob er nicht einmal prüfenkann, was in diesen Gesprächen genau vereinbart wurde.Mich würde beispielsweise interessieren – soviel zumThema innere Sicherheit –, ob stimmt, was wir gehörthaben – das Parlament hat das Recht, dies zu erfahren –,daß ein wichtiges Thema dabei war, daß die PKK einenGewaltverzicht in Deutschland erklären sollte. Michwürde interessieren: Hat Herr Lummer sich auch dafüreingesetzt, daß dieser Gewaltverzicht ebenso für Kur-dinnen und Kurden gilt, die nicht bei der PKK sind?Galt dieser Gewaltverzicht auch für türkische Einrich-tungen? Ich kann Ihnen mehrere Beispiele nennen, wovon PKKlern türkische Einrichtungen angegriffen undKonzertveranstaltungen bedroht worden sind, wo mangesagt hat, das Konzert dürfe nicht stattfinden. Hat HerrLummer auch darüber geredet?
Oder hat er immer nur den Willen gehabt, für die deut-schen Einrichtungen zu sorgen? Das würde mich sehrinteressieren.Mich würde auch interessieren, ob dabei beispiels-weise gesagt wurde: Woanders dürft ihr gerne Randalemachen, nur in Deutschland bitte nicht. – Das Parlamenthat das Recht, dies zu erfahren. Was wurde hier bespro-chen? Was hat Herr Lummer mit Herrn Öcalan zu be-sprechen gehabt?Noch ein Punkt, da wir gerade beim Thema PKKsind. Sie haben das Staatsangehörigkeitsrecht angespro-chen. Was Sie da sagen, wird nicht dadurch wahrhafti-ger, daß Sie Unwahrheiten wiederholen. Es war die alteBundesregierung, die Herrn Ghasi, den Deutschlandver-treter, den Quasidiplomaten der PKK, eingebürgert hat.Herr Innenminister Schily hat einen Entwurf vorgelegt,der von uns getragen wird und der genau dies zukünftigverhindern würde.
Zukünftig werden Extremisten, Angehörige derGrauen Wölfe, PKK-Aktivisten nicht mehr eingebürgert.Sie haben dies zugelassen. Wir alle kennen die Beispie-le.
Es war doch die CSU in Bayern, die beispielsweisezu Herrn Türkesch, einem der schlimmsten Faschistender Türkei, beste Kontakte unterhalten hat. Wir werdengenau dies nicht machen.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wester-
welle?
Gerne.
Herr Kollege, Sie
haben jetzt zur PKK gesprochen. Gestern hat der Bun-
desinnenminister in der Debatte, auf die Sie sich eben
bezogen haben, ausdrücklich erklärt, daß die neue Bun-
desregierung am Verbot der PKK festhält. Was mich
interessieren würde, da Sie auch innenpolitischer Spre-
cher Ihrer Fraktion sind: Ist das auch die Meinung der
grünen Bundestagsfraktion? Kann der Bundesinnenmi-
nister auf die Unterstützung einer wichtigen Fraktion im
Deutschen Bundestag, der grünen Bundestagsfraktion,
zählen, wenn es um diese Verbotsentscheidung geht?
Ich frage das deshalb, weil mir heute ein Antrag der
Grünen in Niedersachsen gegeben wurde – die grüne
Fraktion im Landtag fordert, das Verbot der PKK aufzu-
heben – und weil ich ein Interview von Frau Beer in der
„Berliner Zeitung“ vom 8. Dezember im Kopf habe, in
dem sie erklärt hat, das Verbot der PKK müsse aufgeho-
ben werden. Wie ist die Position der Fraktion der Grü-
nen, die uns der innenpolitische Sprecher jetzt sicherlich
mitteilen kann?
Sehrgeehrter Herr Kollege, ich danke Ihnen für diese Frage.Die Äußerung der Kollegin Beer fand zu einem Zeit-punkt statt, bevor Herr Öcalan in die Türkei entführtwurde. Es ist völlig klar, daß zum gegenwärtigen Zeit-punkt eine Aufhebung des PKK-Verbotes kein Themasein kann. Wir teilen die Position von InnenministerSchily in dieser Frage ohne jede Einschränkung.
Auch dazu will ich etwas sagen. Das wird Sie viel-leicht wundern. Es betrifft weniger Sie, Herr Wester-welle, als die Kolleginnen und Kollegen von der Union.
Cem Özdemir
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– Hören Sie einmal zu! Jetzt kommt etwas ganz Interes-santes für Sie. – Wie sind wir in der Praxis mit demPKK-Verbot umgegangen, und zwar auch in den unions-regierten Ländern? Viele Vereine, die der PKK nahe-standen, sind – auch Herr Kinkel weiß das sicher noch –verboten worden. Was ist passiert? Die Leute sind nichtvom Erdboden verschwunden; sie sind nicht alle aufeinmal unsichtbar geworden. Sie haben zum Teil neueVereine gegründet. Auch in CDU-regierten Ländernwurden viele dieser Vereine nach Rücksprache mit derPolizei und dem Verfassungsschutz zugelassen, weilman sich gesagt hat – fragen Sie den Kollegen Lummer–: Solange wir sicher sein können, daß von ihnen keineGewalt ausgeht, werden wir sie zulassen. Sie haben alsodamals Pragmatismus praktiziert, den Sie uns jetzt vor-werfen. Ich glaube nicht, daß das eine sehr ehrlichePolitik ist.
Aber lassen Sie mich jetzt zum Staatsbürgerschafts-recht, weil ich kaum noch Zeit habe, folgendes sagen:Wir wollen ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht,nicht gegen die Bevölkerung, sondern mit der Bevölke-rung. Nach Umfragen sagen 71 Prozent der Bevölke-rung: Wir brauchen ein neues, modernes Staatsangehö-rigkeitsrecht. Ich will gerne zugeben, daß es uns nichtgelungen ist, deutlich genug zu machen, was wir mitdiesem Gesetzentwurf vorhaben. Ich bin mir sicher, daßwir dies in Zukunft besser machen werden.Ich will Ihnen noch eines sagen, weil vorhin derKollege Stiegler sehr eindrucksvoll zum Thema Sportgeredet hat. Im Grunde geht es hier auch darum: Wollenwir in Deutschland wieder eine Fußballnationalmann-schaft, für die man sich nicht schämen muß? Wollen wirendlich wieder eine Nationalmannschaft, die gewinnt, sowie die Franzosen, die Engländer, die Holländer erfolg-reiche Nationalmannschaften haben,
die erfolgreich sind und einen Querschnitt der Bevölke-rung wiedergeben, oder wollen wir eine Nationalmann-schaft, in der die Kinder, die bei uns aufwachsen und aufder Straße Fußball spielen, nicht mitspielen dürfen wer-den?
Ich garantiere Ihnen: Unsere Politik wird dazu führen,daß auch in der Nationalmannschaft die Kinder, die indiesen Jahren in dieser Gesellschaft geboren werden undzukünftig als deutsche Staatsbürger aufwachsen, spielendürfen.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Mit der Reformdes Staatsangehörigkeitsrechtes endet die Arbeit nicht;dann beginnt sie erst. Dann kommen Themen wie Spra-che, religiöse Integration, interreligiöser Dialog etc. Ichfordere die Opposition nochmals auf: Hören Sie auf zupolemisieren! Hören Sie auf, Wahlkampf auf dem Rük-ken von Minderheiten zu machen! Das haben wir bisherin Deutschland nicht getan, und das sollten wir auchnicht einreißen lassen. Lassen Sie uns gemeinsam umbessere Konzepte kämpfen! Ich warte immer noch aufden Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit ihrem Modellzum Staatsangehörigkeitsrecht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Werner Hoyer.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Jetzt habe ich an diesemAbend doch noch etwas gelernt: Wir brauchen die dop-pelte Staatsangehörigkeit, um endlich wieder einmal dieFußballweltmeisterschaft gewinnen zu können. Dies isteine ganz neue Erkenntnis. Ich denke, wir sollten unswirklich wieder um die Probleme kümmern, die denMenschen in diesem Lande auf den Nägeln brennen.Wir Liberale sind für weniger Staat. Wir sind derAuffassung, der Staat sollte sich zurücknehmen – ne-benbei bemerkt auch aus dem Bereich des Sports. Ersollte ein bescheidener Staat sein und sollte zum einenden Bürgerinnen und Bürgern Entscheidungen zurück-geben, die sie auch selber treffen können, und zum ande-ren darauf verzichten, ihnen das Geld in einer Weise ausder Tasche zu ziehen, die in höchstem Maße motiva-tions- und leistungsmindernd wirkt.Das bedeutet allerdings nicht, daß wir übersehen, daßder Staat auch Aufgaben übernehmen muß, für die ereinen leistungsfähigen, motivierten öffentlichen Dienstbraucht.
Zu diesem öffentlichen Dienst, lieber Herr Kollege Pen-ner, stehen wir. Der öffentliche Dienst ist im übrigenkein Steinbruch für eine anderweitig verfehlte Haus-haltspolitik. Es ist natürlich unheimlich leicht, gegen denöffentlichen Dienst Stimmung zu machen. Man kannüber ihn auch wunderschöne Karikaturen malen. Aberdamit kann man sehr leicht die Grenze zum billigenPopulismus überschreiten und den Menschen, die dorteine große Leistung erbringen müssen, Unrecht tun.
Deswegen fand ich es nicht besonders überzeugend,als Kollege Metzger uns den Vorschlag machte, denPensionären im öffentlichen Dienst das Weihnachtsgeldzu streichen – was nicht gerade zum Alimentationsprin-zip paßt – oder die Bezüge im öffentlichen Dienstgrundsätzlich zu reduzieren. So geht es nicht. Wir brau-chen einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst.Cem Özdemir
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1582 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Herr Bundesminister, Sie werden in der nächsten Zeitdie Aufgabe haben, das Thema „Reform der öffentli-chen Verwaltung“ voranzutreiben. Das ist eine Riesen-aufgabe. Sie haben dies auch in der Koalitionsvereinba-rung aufgegriffen. Sie sprechen dort vom „aktivierendenStaat“. Wenn man genauer hinschaut, was damit ge-meint ist, dann stellt man fest, daß das alter Wein inneuen Schläuchen ist. Dies ist nichts anderes als das,was die alte Koalition ernsthaft angegangen ist und ver-folgt hat, nämlich das Thema „schlanker Staat“.
Nur, bisher haben Sie es noch nicht fertiggebracht,diesen alten Wein durch neuen Wein zu ersetzen. Wirwarten auf Ihre Vorschläge. Daß Sie in Kissingen gesagthaben, Sie bräuchten zehn bis fünfzehn Jahre dazu, hatuns nicht gerade überzeugt. Das Thema „Verschlankungdes Staates“ muß jetzt weiter angepackt werden.Ein ganz besonderes Sorgenthema beim Komplex öf-fentlicher Dienst ist selbstverständlich all das, was mitinnerer Sicherheit zu tun hat. Herr Spinrath, der Vorsit-zende der GdP, hat uns nachdrücklich klargemacht, wiesehr das im Bereich der Polizei vorhandene Potentialgegenwärtig ausgereizt ist und daß die Grenzen der Be-lastbarkeit überschritten sind. Darauf haben wir hier ein-zugehen, und zwar nicht nur dadurch, daß wir feierlicheErklärungen abgeben, indem wir den Angehörigen derPolizei danken. Es wird sich vielmehr an ihrer Situationetwas verbessern müssen.Das ist nicht nur eine quantitative Frage, obwohl sichzumindest einige Bundesländer die Frage stellen lassenmüssen, ob sie auf diesem Gebiet genügend getan ha-ben. Dies ist auch eine Frage des qualitativen Umfeldes,in dem Polizeiarbeit zu leisten ist. Daran werden wir et-was tun müssen; denn die Motivationslage im Bereichder Polizei und übrigens parallel dazu im Bereich derVerfassungsschutzbehörden ist nicht gerade sehr beein-druckend.Das hat Gründe. Ich nenne Ihnen dazu drei Beispiele.Erstes Beispiel: Wenn Sie betrachten, wie sich das ur-sprünglich sicherlich einmal gutgemeinte neue Beur-teilungssystem im Bereich der Polizei auswirkt, dannkann ich dazu nur sagen: Herr Minister Schily, gehenSie an dieses Thema bald heran und schaffen Sie hierRemedur! Der Seufzer der Erleichterung beim BKA undBGS wird unüberhörbar sein.Zweites Beispiel: die technische Ausstattung im Be-reich der Sicherheitsbehörden. Das ist ein ausgesproche-ner Motivationskiller, den wir in der Realität zu beob-achten haben. Das gilt für die Länder, aber eben auch fürden Bund.Drittes Beispiel: Im „Focus“ war vor einigen Wochenein sehr hart aufgemachter Artikel über die Situation derUnterbringung der Bahnpolizei, der Bundesgrenz-schutzbeamten bei der Bahn, zu lesen. Leider ist dieserBericht in keiner Weise überzogen. Er bildet die Realitätder Bahnpolizei ziemlich präzise ab. Ich frage mich,warum das nicht im Vordergrund der Investitions-schwerpunkte des Innenministers steht. Vielleicht wer-den wir dazu anläßlich der Haushaltsplanberatungenmehr erfahren.
Das, was ich zum Bereich der Polizei gesagt habe,gilt auch für den Bereich des Verfassungsschutzes. Ichhalte es schon für ein ziemlich dolles Ding, wie sehrjetzt einige ihr Herz für den Verfassungsschutz ent-deckt haben. Da werden tatsächliche oder vermeintlicheKommunikationsdefizite der Sicherheitsbehörden zuForderungen an den Verfassungsschutz aufgeblasen, diedieser schlecht erfüllen kann, wenn auf der anderenSeite ein erheblicher Teil des Hauses bisher – und viel-leicht noch heute – ein offensichtlich ziemlich ver-klemmtes Verhältnis zu dem gesamten Thema Verfas-sungsschutz und polizeilicher Staatsschutz hat.
Das hat doch bis vor kurzem geradezu etwas Anrü-chiges gehabt – wahrscheinlich für manchen von Ihnenbis heute –, wenn man sich mit diesem Thema befaßt.Wie soll denn das eigentlich motivationsfördernd wir-ken, wenn Sie, lieber Herr Kollege Stiegler, hier einehöhere Leistung und Effizienz des Verfassungsschutzesund seiner Mitarbeiter verlangen, wenn aber gleichzeitigzum Beispiel das sozialdemokratisch regierte Sachsen-Anhalt die Auflösung des Landesamtes für Verfassungs-schutz beschließt?
– Das ist, sehr verehrter Kollege Stiegler, nicht zu be-streiten. Das paßt zu der Widersprüchlichkeit Ihrer Poli-tik.
Deswegen sollten wir uns dem Thema der Sicherheiternsthaft zuwenden und nicht in der Art und Weise, wieSie es bisher getan haben.Lassen Sie mich nun doch noch ein Wort zum ThemaSport sagen. Ich bin der Auffassung – ich habe es amAnfang gesagt –, der Staat sollte nun auf Grund derThemen, die Sie dankenswerterweise auch in Lausanneangesprochen haben, nicht den Fehler machen, zu glau-ben, er sollte plötzlich den Sport regeln. Ich hoffe, daßder Sport ein Bereich bleibt, der in seinen Interna mög-lichst weitgehend staatsfrei ist. Trotzdem danke ichIhnen für Ihre Bemühungen zum Thema Doping undauch für Ihre Bemühungen, dem IOC und der olym-pischen Bewegung wieder mehr Glaubwürdigkeit zuverschaffen.Herr Minister, der Bereich, bei dem ich Sie bitte, inden Haushaltsberatungen noch einmal sehr flexibel zusein, ist der Behindertensport. Es hat dazu schon Vor-gespräche gegeben, die aussichtsreich erschienen. Aberes gibt hier zweifellos eine Bundeszuständigkeit, eineBundeskompetenz. Ich halte es für wichtig, daß geradediejenigen, die oft genug auf der Schattenseite leben unddie durch den Sport in besonderer Weise Lebensfreude,Motivation und auch Leistungssteigerung erfahren kön-Dr. Werner Hoyer
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nen, hier ein klares politisches Signal bekommen. Wir Li-berale werden uns in den Haushaltsverhandlungen beson-ders für den Bereich des Behindertensports engagieren.
Abschließend noch ein Wort. Für den riesigen Perso-nalkörper, für den Sie, Herr Minister Schily, verant-wortlich sind – das ist natürlich insbesondere der Be-reich der inneren Sicherheit, aber das geht auch darüberhinaus –, muß endlich gelten: Der Mensch im Mittel-punkt und nicht der Mensch als Mittel, – Punkt!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Ich bin ziemlich entsetzt über die Debatte,die hier schon seit gestern geführt wird. Ich bin deswe-gen entsetzt, weil Sie, Herr Rüttgers, und andere in denletzten Tagen eine Stimmung schaffen, die ich unerträg-lich finde. Man kann über Ausschreitungen diskutieren.Aber ich meine, gerade Abgeordnete aus diesem Hausesollten zu einer Versachlichung der Debatte beitragenund auch ernsthaft darüber nachdenken, wie man zu Lö-sungen kommt.
Es kann einfach nicht sein, daß man miteinander darüberwetteifert, wer der bessere Abschieber ist; es kann dochnicht sein, daß man miteinander darüber wetteifert, werdie besten Verschärfungen in das Ausländerrecht ein-führt. Das kann und darf meiner Meinung nach nicht diePolitik nach dieser Entwicklung in der Kurdenfragesein.Das ist auch mein Vorwurf an die neue Bundesregie-rung: daß sie eigentlich in der Sache selbst nicht sehrviel neue Vorschläge gemacht hat. Der jetzige Innenmi-nister Schily hat in den vergangenen Jahren häufig da-von gesprochen, daß er mehr Demokratie wagen möch-te, daß er die konservative, repressive Politik beendenmöchte, daß er einen Politikwechsel einleiten will. Ichmeine, daß es gerade an der Kurdenfrage nicht ersicht-lich ist, daß wir mit der neuen Regierung auch eine neueEntwicklung bekommen. Erst kürzlich durften wir ineiner Antwort der neuen Bundesregierung auf eine An-frage, wie sie es mit den Waffenlieferungen halten wird,lesen, daß die Bundesregierung nicht zu erkennen ver-mag, daß in Kurdistan deutsche Waffen zum Einsatzkommen. Ich sage Ihnen: Genau das war die Antwortder alten Bundesregierung und des damaligen Innenmi-nisters Kanther.Auch ich bin der Meinung, daß eine Konfliktlösungnicht darin bestehen kann, hier einseitig Verschärfungenvorzuschlagen. Vielmehr muß ernsthaft darüber disku-tiert werden, wie es zu einem Friedensprozeß in derTürkei und Kurdistan kommen kann und wie es möglichist, mit Kurden ins Gespräch zu kommen und den Frie-densprozeß auch in diesem Land voranzutreiben. Dennich bin sicher: Wenn die Politik, die wir heute von HerrnRüttgers gehört haben, umgesetzt würde, dann guteNacht! Das würde den Frieden in diesem Lande sicher-lich nicht befördern.In einem Punkt muß ich der F.D.P. recht geben: DerHaushalt des Innenministers unterscheidet sich in derTat weitgehend nicht von dem, was wir von der altenRegierung zu sehen bekommen haben.Nehmen wir das Beispiel des Staatsangehörigkeits-rechtes – es wurde heute abend schon angesprochen –:Ich bin der Meinung, man sollte auch hier nicht soforteinknicken, nur weil die CDU/CSU diese Hetzkampagnegemacht, diese Unterschriftensammlung durchgeführthat. Offensichtlich ist sie bei der Bevölkerung ange-kommen, weil sie den Menschen suggeriert, die Betrof-fenen würden mit einem neuen Staatsbürgerschaftsrechtbzw. mit der doppelten Staatsangehörigkeit mehr Rechtebekommen. Man hätte – das ist meine feste Überzeu-gung – zu dieser Hetzkampagne eine Gegenkampagnestarten sollen, anstatt gleich einzuknicken.
Noch zu einigen Fragen des Haushaltes, die wir mitSicherheit noch im Innenausschuß diskutieren werden:Der Haushaltsentwurf von Innenminister Schily schlägtfür Organisationen, die rechtsextremistisches und anti-semitisches Gedankengut verbreiten können – wir habendies in der Vergangenheit immer wieder angegriffen –,haargenau dieselben Haushaltsmittel vor. Ich meinedamit beispielsweise den Bund der Vertriebenen. Um eshier ganz deutlich zu sagen: Solange deren Vorsitzendengegen Osteuropa und die Freundschaftsverträge mit denbenachbarten osteuropäischen Ländern hetzen können,kann es nicht angehen, daß diese Vertriebenenver-bände weiter finanziert werden.Ich möchte hier deutlich sagen, daß ich es richtig fin-de, mehr Mittel für die Integration von Aussiedlern inden Haushalt aufzunehmen. Was ich aber überhauptnicht begreife, ist, daß diese Mittel dem Bund der Ver-triebenen in die Hände gegeben werden, um entspre-chende Projekte durchzuführen. Ganz konkret frage ichdie Grünen und die SPD, die in den vergangenen Legis-laturperioden immer wieder gefordert haben, diese vonder alten Bundesregierung veranlaßten Projektförderun-gen zu überprüfen, warum davon plötzlich nicht mehrdie Rede ist und im Haushalt die Mittel für die Vertrie-benenverbände nicht reduziert, sondern – ganz im Ge-genteil – aufgestockt werden. Solange man diesem Ver-band nicht vertrauen kann, dürfen Mittel der Projektför-derung nicht in dessen Hände gegeben werden.Ich kann Sie nur darauf verweisen, daß wir in derletzten Legislaturperiode in diversen Kleinen Anfragennachgewiesen haben, daß die Vertriebenenverbände– nicht in Gänze, aber Teile ihrer Organisation – rechts-Dr. Werner Hoyer
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1584 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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extremistische Publikationen herausgeben, Antisemitis-mus verbreiten und revanchistische Auffassungen ver-treten. Ich erwarte von einer rotgrünen Regierung, daßsie diesen Organisationen, diesem Gedankengut dasWasser abgräbt, anstatt ihnen noch zusätzliches Geld zugeben.Zu einem weiteren Punkt, dem Verfassungsschutz.Auch hier frage ich mich: Wo bleibt die Kritik der ver-gangenen Jahre? Wir können leider nicht erkennen, daßeine neue Politik mit mehr Kontrolle und Durchsichtig-keit einhergeht. Man hüllt sich – ob das den Stellenplanoder andere Fragen betrifft – in Schweigen. Ich meine,so kann es nicht gehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluß.
Zum Ende möchte ich Ihnen nur noch folgendes sa-
gen: Es kann nicht sein, daß auf der einen Seite die
Bundeszentrale für politische Bildung diverse Gruppen
und Organisationen fördert, denen wir nachgewiesen
haben, daß dort Rechtsextremisten referieren dürfen,
während es auf der anderen Seite in diesem neuen Haus-
halt keinen einzigen Topf für NS-Opfer gibt. Der Zy-
nismus gipfelt darin, daß die Unternehmer und Unter-
nehmerinnen – die ehemals Millionen von Menschen
mittels Zwangsarbeit ausgebeutet haben –, die in die
neue Stiftung für die Zwangsarbeiter und Zwangsarbei-
terinnen einzahlen, ihre Zahlungen auch noch von der
Steuer absetzen dürfen. Ein solcher Haushalt wird unse-
re Zustimmung nicht bekommen.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner istder Abgeordnete Christian Ströbele, Bündnis 90/DieGrünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich gehöre einer Generation und einer politischenGruppe, Bündnis 90/Die Grünen, an, die sehr stark voneinem Staat geprägt sind, den sie als repressiv erfahrenhaben. Zu dem, was der Kollege Rüttgers hier geradeverkündet hat, muß ich sagen: Das ist genau das, wasmich vor 10, vor 15, vor 20 Jahren entscheidend geprägthat. Immer dann, wenn im Staat schwierige Situationen,Krisensituationen eingetreten sind, wurden rechtsstaat-liche Grundsätze mit einer Handbewegung über Bordgeworfen. Genau das, was Sie jetzt wollen, daß Kurdenin die Türkei abgeschoben werden und dort der Gefahrder Folter ausgesetzt sind, hat mich dazu veranlaßt, amRechtsstaat zu zweifeln.Wenn Sie sagen, wir könnten – wie schon Herr Kan-ther – von der türkischen Regierung eine Erklärungverlangen, die Folter ausschließt, kann ich Ihnen nurantworten: Wer einen politischen Gefangenen wie Öca-lan in dieser Weise täglich weltweit, seiner Würde ent-kleidet, öffentlich vorführt,
auf dessen Wort ist in Fragen der Menschenrechte undder Antifolter überhaupt kein Verlaß. Das Wort der Tür-kei ist überhaupt nichts wert. Die können aufschreiben,was sie wollen.
Aber dazu wollte ich eigentlich gar nichts sagen, weildie Debatte schon gestern geführt worden ist.
Aus den Erfahrungen, die ich und Bündnis 90/DieGrünen gemacht haben, haben wir ein Konzept über einneues, ein anderes Verhältnis von Staat und Bürgerentwickelt, das wir gern verwirklichen wollen.
Für uns ist maßgeblich, daß die Bürgerinnen und Bürgerder Staat sind. Es gab einmal einen König in Frankreich,der gesagt hat: L'état, c'est moi! Der Staat bin ich! Wirsagen: Der Staat sind die Bürgerinnen und Bürger. Da-nach müssen sich alle Regeln des Staates ausrichten.Genauso wie der Sonnenkönig in Frankreich zu sei-nen Dienern in die Amtsstuben gehen, die Akten ein-sehen und sich über alles Wissen informieren konnte,genauso wollen wir den Bürgerinnen und Bürgern miteinem Informationsfreiheitsgesetz die grundsätzlicheMöglichkeit schaffen, Informationen, die es in der Ver-waltung gibt, einzusehen, natürlich unter Schutz derDaten Dritter. Die Verwaltung soll Partner des Bürgerssein.Genauso wie wir nicht wollen, daß wir bespitzeltwerden, wie wir nicht wollten, daß in der Vergangenheitandere bespitzelt wurden, wie wir natürlich ein gesundesMißtrauen gegenüber Geheimdiensten haben, genausowollen wir in Zukunft sicherstellen, daß die bundesdeut-schen Geheimdienste effektiver Kontrolle unterworfensind.Dieses partnerschaftliche Verhältnis ist in der Koali-tionsvereinbarung niedergelegt: daß wir zu einem ande-ren Verhältnis zwischen Bürger und Staat kommenwollen. Das soll sich in allen Bereichen des Verhältnis-ses von Bürgerinnen und Bürgern mit dem Staat auswir-ken. Wenn wir das erreichen können, dann können wir,denke ich, von den Bürgerinnen und Bürgern auch ver-langen, daß sie in diesem Staat eine Mitverantwortungübernehmen und daß sie sich in Krisensituationen, wiewir sie jetzt haben, wie wir sie in Berlin, in Düsseldorf,in Stuttgart, in Hamburg gehabt haben, einmischen, daßsie nicht vorbeigehen, daß sie nicht nur berichten, wasUlla Jelpke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1585
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sie gesehen haben, sondern daß sie, wie wir das gemachthaben, versuchen, in solchen Situationen deeskalierend,mäßigend einzuwirken, um den Frieden auf der Straßezu sichern. Das ist das andere partnerschaftliche Ver-hältnis, das sich diese Regierung mit der Unterstützungder Bündnisgrünen vorgenommen hat.Wir können zu vielen Punkten der Koalitionsverein-barung sagen: Das reicht noch nicht. Aber es ist dierichtige Richtung. In dieser Richtung wollen wir etwasentwickeln, um die bundesdeutsche parlamentarischeDemokratie nach 50 Jahren an die Seite und gleich mitden Demokratien in den Vereinigten Staaten, in Englandund in anderen Ländern einzuordnen, in denen das Ver-hältnis Bürger/Staat ein anderes war und noch heute ist.Das wollen wir zum 50. Jahrestag des Grundgesetzes aufden Weg bringen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Abgeordnete Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein,
CDU/CSU.
nen und Kollegen! Als Sie, Herr Minister Schily, den
Entwurf des jetzigen Einzelplans 06 vorlegten, war ich
ein wenig überrascht. Überrascht deswegen, weil er die
Handschrift Ihres Vorgängers trägt. Ein Kompliment an
Sie, ihn zum überwiegenden Teil so zu übernehmen, wie
Kanther ihn vorgelegt hat. Ich sehe darin eine Kontinui-
tät, bin allerdings, da wir uns schon eine gewisse Zeit
kennen, ein bißchen überrascht, wenn ich vergleiche,
wie Sie uns in der vergangenen Legislaturperiode in
puncto innere Sicherheit ständig angegriffen haben und
wie Sie mit dem Thema jetzt in ihrem Einzelplan umge-
hen. Dies genug an Lob.
Jetzt möchte ich etwas zu einigen Themen sagen, die
zum Einzelplan 06 gehören. Ich bedauere sehr, Herr
Schily, daß Sie so wenig um den Kulturbereich ge-
kämpft haben. Der Kulturbereich war blendend in den
Einzelplan 06 eingegliedert und ist dort gut betreut ge-
wesen. Sie, der immer klar und deutlich signalisiert, daß
der Staat weniger macht, lassen jetzt zu, daß Ihr Kanzler
eine neue Behörde aufbaut, die eigentlich nicht in das
Kanzleramt gehört; denn der Kanzler sollte sich um an-
dere Dinge kümmern. Er hat sich ja auf die Fahne ge-
schrieben, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Leider
können wir in diesem Bereich wenig feststellen. Jetzt
gibt es im Kanzleramt die Behörde mit 143 neuen Mit-
arbeitern. Überall dort, wo eine neue Behörde aufgebaut
wird, kann man davon ausgehen, daß Mehrkosten ent-
stehen und der Synergieeffekt verlorengeht.
Zum Thema innere Sicherheit und BGS. Ich darf
mich ganz herzlich dafür bedanken, daß Sie im Bereich
der Anhebungen viel getan haben. Denn wir brauchen
eine motivierte Gruppe. Die Aufgaben werden erheblich
schwieriger. Deswegen ist es sehr wichtig – Herr Rütt-
gers und andere haben das schon angesprochen –, daß
wir sehr sorgfältig darauf achten, daß die Mannen und
Frauen des BGS auch hinsichtlich von Waffen gut aus-
gerüstet werden. Ich bitte Sie darum, sich um diese
Thematik zu kümmern.
Im Einzelplan 06 ist der Sport in gleicher Höhe wie
im letzten Einzelplan verankert. Sie selbst haben den
Bereich Doping schon des öfteren angesprochen, Herr
Schily. Wer sich zum Beispiel an die Tour de France
und daran erinnern kann, wie viele Mannschaften dort
ausschieden, wird verstehen, daß es meines Erachtens
– Spitzensportler sollten Vorbilder dieser Nation sein –
von allergrößter Wichtigkeit ist, an diesen Bereich nicht
so halbherzig heranzugehen. Vielleicht ist es, Herr Mi-
nister, sogar möglich, über die Parteigrenzen hinweg ein
Gesetz zu verabschieden, das weiter geht als die jetzigen
Vorschriften. Im Augenblick ist der Handel mit Anabo-
lika strafbar, nicht aber der Besitz. Vielleicht können wir
hier über alle Grenzen hinweg gemeinsam etwas tun.
Ein zweiter Bereich ist das Doping. Doping kommt
nicht nur im Spitzensport, sondern sogar überwiegend
im Breitensport, vor allem bei den Jugendlichen, vor.
Deswegen bitte ich darum, daß Sie sich mit großer Kraft
gegen das Doping einsetzen.
Ist der Kollege Stiegler noch da?
– Ich bewundere Sie, und Sie haben meine volle Unter-
stützung beim Goldenen Plan Ost. Er hatte einmal das
unvorstellbare Volumen von 25 Milliarden DM. Dann
ist er auf 100 Millionen DM gekürzt worden. Ich habe in
einer Frankfurter Zeitung gelesen, daß Ihre Arbeitsgrup-
pe mit den Grünen in Kärnten war und sich dort intensiv
mit dieser Thematik beschäftigt hat.
Ich finde im Einzelplan 06 dazu überhaupt keinen
Titel.
Deswegen müssen Sie nicht uns anmahnen, sondern den
Innenminister und noch mehr den Finanzminister. Er ist
zwar abwesend, aber dafür ist sein Staatssekretär Karl
Diller da – der möglichst nicht soviel lesen, sondern lie-
ber sorgfältig zuhören sollte. Er sollte sich darum bemü-
hen, daß dieser Titel in den Einzelplan 06 aufgenommen
wird, und zwar nicht mit 15 Millionen DM, sondern mit
100 Millionen DM. Ich bin erstaunt, daß kein Aufschrei
von den Grünen und der SPD aus den fünf neuen Bun-
desländern dazu kam, daß bisher noch nichts passiert ist.
Ich hoffe, daß dies in Kürze der Fall sein wird. Sie wer-
den meine Unterstützung als Berichterstatter der
CDU/CSU für den Goldenen Plan und den neuen Ein-
satz erhalten.
Ich darf mich ganz herzlich bedanken und hoffe, daß
wir zumindest in diesem Bereich zu Gemeinsamkeiten
kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner indieser Debatte ist der Bundesminister des Innern, OttoSchily.Hans-Christian Ströbele
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1586 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
(C)
Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich be-danke mich ausdrücklich bei dem Kollegen von Ham-merstein, dem Kollegen Hoyer und dem KollegenStiegler für ihre sehr sachlichen Beiträge, die ich alssehr wohltuend empfunden habe; denn ich glaube, dasThema Innenpolitik lebt von Sachlichkeit.
Ich möchte zunächst einmal etwas zu den sportpoliti-schen Erwägungen sagen. Ich habe nur wenig Zeit, inso-fern kann ich das nicht in aller Breite tun. Die Anregungdes Kollegen Hoyer, etwas für den Behindertensportzu tun, unterstütze ich. Ich weiß, daß sich der KollegeDr. Kinkel dieser Frage besonders annimmt. Ich habemit ihm ein Gespräch darüber geführt, und ich hoffe,daß wir in dieser Frage vorankommen.Ich bedanke mich bei Herrn von Hammerstein. Siehaben recht: Doping ist ein Thema, das uns alle interes-sieren sollte. Es ist für den Sport und gerade für unsereJugend verderblich, wenn die Vorbilder im Sport nichterhalten bleiben. Wenn wir einen Chemie- und keinenSportwettbewerb durchführen, geht etwas ganz Zentra-les in unserer Gesellschaft verloren.
Herr von Hammerstein, Sie haben natürlich eineWunde bei mir aufgerissen; das werden Sie verstehen.Jede Frau, jeder Mann weiß, daß ich der Kultur in be-sonderer Weise zugetan bin. Ich meine, daß es eine inne-re Verbindung zwischen Kultur und Innenpolitik gibt.
Sie kennen meinen Satz: Wer Musikschulen schließt,schadet der inneren Sicherheit. Ich wiederhole ihn hiernoch einmal, weil ich aus meiner Biographie weiß, wiewichtig es ist, daß junge Menschen in einem sehr frühenStadium ihres Lebens etwas von künstlerischer Erzie-hung erfahren. Das bildet den Charakter und macht siespäter immun gegen Anfechtungen im Leben. Insoferngibt es einen Zusammenhang, den ich durchaus bestä-tige.Man kann in verschiedenen Organisationsformenüber diese Dinge zusammenwirken. Ich denke dabei anmeinen Freund Michael Naumann. Ich muß Ihnen sa-gen: Die Bundespolitik hat seit Jahrzehnten keinen sobegabten Kulturpolitiker gesehen wie Michael Nau-mann.
Er hat ja schon im Vorfeld etwas erreicht. Die Kultur-politik war auf Bundesebene quasi unsichtbar. Unge-achtet der guten Arbeit im Ministerium des Innern hatsie in der Führungsebene gar nicht stattgefunden. Abersiehe da: Seit es Michael Naumann gab, hat sich sogarder frühere Bundeskanzler Kohl gedrängt gefühlt, in der„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ auf zwei Seiten imFeuilleton ein Interview über Kulturpolitik zu geben.
Michael Naumann hat also bereits im Vorfeld derRegierung etwas erreicht. Ich meine, es war gut, daß wirdiesen Mann dafür gewonnen haben. Aber ich will dasThema, weil doch noch andere Dinge anzusprechensind, nicht weiter vertiefen.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-ginnen und Kollegen!Es gibt wohl kaum ein Thema, das die Verquickungvon Innen- und Außenpolitik so sehr deutlichmacht wie das Thema Türkei.Ich könnte auch sagen Kurden.Weil das so ist, müssen wir, so glaube ich, der darininnewohnenden Versuchung widerstehen, innen-politisch populistisch zu argumentieren.
Ich verwende heute die gleiche Methode wie gestern.Diese beiden Sätze sind wörtlich von dem KollegenLamers am 13. April 1994 ausgesprochen worden. Imdamaligen Protokoll findet sich „Beifall bei Abgeord-neten der CDU/CSU und der F.D.P.“ Diesen Beifall ha-be ich heute nicht gesehen. Das ist bedauerlich; dennHerr Lamers hat mit seiner Bemerkung völlig recht.
Meine Damen und Herren, es gibt eine Sinnver-wandtschaft zwischen innerer Sicherheit und inneremFrieden. Herr Kollege Rüttgers, Sie sollten darüber zuHause noch einmal nachdenken. Ihr heutiger Beitrag hatdem inneren Frieden nicht gedient.
Wir können jetzt im Bundestag natürlich eine Bilanzüber Ereignisse in den Ländern ziehen. Dann kann manloben oder tadeln, wie immer Sie das halten wollen.
Sie haben das gemacht – wie ich finde, in nicht guterForm – gegenüber Hamburg und gegenüber Nordrhein-Westfalen. Ich werde mich hüten, in gleicher Weise überdie Deeskalationsstrategie des Kollegen Werthebach,der Ihrer Partei angehört, in Berlin zu sprechen. Er hatnämlich ausdrücklich gesagt – so wurde mir berichtet –,daß er in Abkehr von seinem Vorgänger eine Deeskala-tionsstrategie für richtig hält.Bisher war es im Kreis der Innenminister so – ichkenne den Kreis der Innenminister ganz gut –, daß wirein Konsensprinzip haben und daß wir zusammenwirkenund zusammenstehen, Herr Kollege Dr. Rüttgers. Gera-de wenn es um die Bedrohung der inneren Sicherheit,also um den Kern unserer Gesellschaft geht, dann mußsich dieses Prinzip bewähren.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1587
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Deshalb würde ich Ihnen empfehlen, einmal darübernachzudenken – nachdenken schadet ja nicht –
und nachzulesen, wie sich die damalige Opposition, dieSPD, im Jahre 1994 in den Debatten verhalten hat, obsie wie Sie versucht hat, in billiger Form daraus einenparteipolitischen Vorteil zu ziehen oder ob sie sich ver-antwortlich verhalten hat. Sie werden, wenn Sie dasnachlesen, erkennen, daß sie sich verantwortlich ver-halten hat. Ich sage das ganz ohne Polemik. Ich bitte Sie,einmal darüber nachzudenken und sich dann zu überle-gen, ob Sie auf diese Weise weiterkommen.Nun komme ich zu einem anderen Thema. Ich habeüberhaupt nichts dagegen, daß man für seine Auffassun-gen Zustimmung sucht und daß man über eine soschwierige Frage wie die Neuregelung des Staatsbür-gerschaftsrechts aus unterschiedlichen Positionen her-aus argumentiert. Das alles ist in Ordnung. Sie könnenalle meine Pläne in Grund und Boden kritisieren; das istIhr gutes Recht, und das kreide ich Ihnen nicht an. Aberwie Sie es tun, halte ich für bedenklich. Das muß ichIhnen ganz offen sagen. Ich habe heute Herrn Stoibergehört, der einfach so, wie es seine Art ist, gesagt hat, essei alles schlampig.
– Nein, er hat nicht recht.
– Hören Sie doch einmal zu! Ich mache es hier dochganz freundlich.Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daßder bekannteste Kommentator zum Ausländerrecht,Günter Renner – Kanein/Renner ist der Standardkom-mentar zum Ausländerrecht –, der nun wirklich etwasvon der Materie versteht,
und der Professor Hailbronner, den Sie früher mit derVertretung der Bundesregierung vor dem Bundesverfas-sungsgericht beauftragt haben, der also der frühereRechtsberater der Bundesregierung war, übereinstim-mend sagen, daß der beste Entwurf, der auf dem Tischliege, von Bundesinnenminister Schily stamme. Dessenbrauche ich mich doch wohl nicht zu schämen.
Nun sage ich gar nicht, daß es nicht auch andereEntwürfe gibt – –
– Herr Kollege, ich bitte um Entschuldigung. Ich habenoch sechs Minuten Redezeit und möchte noch auf eini-ge Themen eingehen. Normalerweise bin ich mit derErlaubnis von Zwischenfragen sehr großzügig.Lassen Sie uns also über die bessere Lösung streiten.Aber tun Sie das nicht in der üblen Polemik, in der esleider vorkommt.Wir können uns natürlich auch auf Umfragen berufenund sagen, was das Volk denkt. Aber machen wir nichteinen Fehler, wenn wir immer nur eine Umfrage zitierenund damit versuchen, uns gegenseitig matt zu setzen?Sie haben hier in einer, wie ich finde, nicht guten Weiseüber den Fall Öcalan gesprochen. Sie sagen immer, wirsollten nicht auf unsere Mehrheiten bauen – in dem Zu-sammenhang haben Sie von „machtbesessen“ gespro-chen –,
sondern uns am Volk orientieren. Nun habe ich heuteeine Umfrage auf den Tisch bekommen, in der es heißt,eine Mehrheit von 63 Prozent der Deutschen hält diePosition der Bundesregierung für richtig, den kurdischenPKK-Führer Öcalan nicht an Deutschland ausliefern zulassen.
– Ich könnte Ihnen ja einiges darüber erzählen, wer dasintern auch noch vertreten hat. Ich will das aber nichttun, weil ich es nicht für fair halte. Aber Herr Becksteinhat es ganz offen gesagt. Übrigens auch Sie, verehrterHerr Kollege Rüttgers, haben seinerzeit gesagt, der Pro-zeß müsse nicht unbedingt in Deutschland stattfinden.Nun behaupten Sie, ohne es nachgeprüft zu haben,wir hätten keine Bemühungen unternommen, eine ande-re Lösung für ein Gericht zu finden. Das ist schlichtfalsch. Ich biete Ihnen an, einmal ein vertrauliches, sehroffenes Gespräch mit der Kollegin Däubler-Gmelin zuführen. Dann werden Sie erfahren, daß es schlicht falschist, was Sie behauptet haben. Wenn Sie an einer sach-lichen Debatte interessiert sind, machen Sie bitte davonGebrauch.Ich warne im übrigen davor, immer auf Umfragenabzustellen, obwohl ich gerade eine zitiert habe. Ich ha-be heute eine Umfrage gesehen, in der es heißt, 49 Pro-zent der Deutschen seien dafür, straffällig gewordeneKurden in die Türkei abzuschieben, auch wenn ihnendort Folter und Todesstrafe drohen. Meine Damen undHerren, das ist möglicherweise das Ergebnis einer fal-schen Sprechweise der Politik. Ich mache daraus nie-mandem einen Vorwurf. Aber das ist ein Ergebnis einerbösartigen und schlimmen Emotionalisierung dieserFragen.
Sollte es für diese Ansicht sogar eine Mehrheit in derBevölkerung geben, werde ich gegen diese Mehrheit ar-gumentieren, weil ich auf die rechtsstaatlichen Prinzi-pien vereidigt bin.
Bundesminister Otto Schily
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1588 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Auch habe ich die Menschenrechtskonvention, die Be-standteil der Verfassung ist, zu achten. Ich werde michdaher nicht der Mehrheit anpassen.
Man kann Mehrheiten auch verändern. Der Euro warin den Umfragen ganz lange Zeit unbeliebt. Vielleicht ister im Moment auch wieder unbeliebt; ich weiß es nicht.Aber wir waren gemeinsam der Überzeugung, daß esrichtig ist, ihn einzuführen. – Versuchen wir also, zueiner Versachlichung der Debatte zurückzukehren.Herr Rüttgers, Sie haben den Etat angesprochen. Ichmuß dazu noch ein paar Bemerkungen machen. Ich habeleider viel zuwenig Zeit, um es Ihnen im einzelnendeutlich zu machen. Ich bedanke mich ausdrücklich da-für, daß von der Opposition angesprochen worden ist,was der Bundesinnenminister bei der Verbesserung derPersonalstruktur des Bundesgrenzschutzes geleistet hat.Es gibt eine Verdoppelung der Planzahlen bei der Per-sonalentwicklung. Es war, auch für den Bundesfinanz-minister, nicht einfach, das zu erreichen. Wir haben na-türlich einen Aufwuchs bei der sachlichen Ausstattungund bei den Baulichkeiten. 1997 gab es bei den Baulich-keiten einen Ansatz von, ich glaube, 87 Millionen DM,1999 gibt es einen Ansatz von 93 Millionen DM. Wirhaben eine 20prozentige Steigerung des anderen Etatbe-reichs.Herr Hoyer, Sie haben das Modell des schlankenStaats angesprochen. Bei der Sicherheit ist dieses Mo-dell nicht gut. Wir brauchen einen starken Staat zurVerteidigung. – Da nickt sogar Herr Rüttgers. Ich be-danke mich dafür. Immerhin, heute habe ich ein Nickenvon Herrn Rüttgers geerbt. Das ist viel wert, da sind wirja schon wieder ein Stück weiter, Herr Rüttgers.
Wir brauchen selbstverständlich einen starken Staat,wenn wir die Grundrechte, das Leben, die Gesundheit,die Freiheit, das Sacheigentum unserer Bürgerinnen undBürger verteidigen wollen.Sie haben von Kontinuität gesprochen. Wo Konti-nuität angebracht ist, ist sie völlig richtig. Ich habe inder Opposition mit Ihnen zum Teil sehr konstruktiv zu-sammengearbeitet. Das wissen Sie doch.
– Ja, bei der akustischen Wohnraumüberwachung. – Eswäre ganz schön, wenn Sie bei der Staatsangehörigkeits-reform genauso konstruktiv mitarbeiten würden. Dannwären wir schon ein Stückchen weiter.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, keineZwischenfragen. Ich bin gleich am Ende. Es tut mirfurchtbar leid.
– Herr Zeitlmann, Sie sollten nun ganz still sein. Sie ha-ben in diesen Tagen einen völlig unsinnigen Vorschlaggemacht, nämlich ein Demonstrationsverbot für Aus-länder allgemein. So etwas Verfassungswidriges habeich von Innenpolitikern nicht erwartet.
Meine Damen und Herren, ich müßte jetzt sehr viellänger Zeit haben, um über Prävention und ähnliches zureden. Ich habe ein paar Zitate über die Staatsangehörig-keitsreform mitgebracht. Sie haben in der Presse vielüber Tadel und Lob nachlesen können. Ich zitiere auseiner ganz konservativen Zeitung:Wer gegen die Reform zu Felde zieht, müßte guteArgumente dafür vorbringen, daß der Status quobessere Möglichkeiten bietet, den bedrohlichenTendenzen der Gettoisierung entgegenzuwirkenund die wachsende Entfremdung der sogenanntendritten Generation von dem Land, in dem sie auf-wächst, und dem, in dem sie bleiben wird, zu be-enden.Das schreibt Ihnen die „Frankfurter Allgemeine Zei-tung“ ins Stammbuch.In einer anderen Zeitung heißt es:Die Unionsparteien, die derzeit so lautstark gegendie geplante Reform des Staatsangehörigkeitsrechtsprotestieren, sollten sich ganz kleinlaut ihre eigeneBilanz vor Augen halten, eine Bilanz, die den ab-surden Umstand zuläßt, daß heute jemand die deut-sche Staatsbürgerschaft erhalten kann, obwohl erkaum Deutsch spricht, mit entsprechend schlechtenChancen in der Gesellschaft und auf dem Arbeits-markt. Die alte Koalition konnte sich nicht auf einReformkonzept einigen. Jetzt sind andere dran.Das schreibt die „Rheinische Post“, die auch nicht imVerdacht steht, ein Mitteilungsblatt der sozialdemokrati-schen Partei zu sein.
Ich muß es leider im Eiltempo machen. Mir ist sehrwillkommen gewesen, daß Kollege Stiegler auf dieeuropäische Dimension hingewiesen hat. Dazu müßteich eigentlich mindestens noch einmal 15 Minuten redendürfen. Aber mir ist signalisiert worden, daß ich mich daganz disziplinieren soll.Ich will nur auf eines hinweisen, auch Ihnen gegen-über, Herr Kollege Rüttgers. Sie haben eine Beziehungzwischen Entscheidungen der Bundesregierung und demAuftreten von PKK-Gewalttätigkeiten hergestellt. Siewissen doch, daß in sehr vielen europäischen Staatensolche Aktionen stattgefunden haben, obwohl dort ande-re Entscheidungen als bei uns getroffen worden sind. Siewissen doch, daß alle europäischen Staaten von diesenBundesminister Otto Schily
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1589
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Ereignissen überrascht worden sind. Vielleicht gibt daseinen Hinweis darauf, mit was das zu tun haben könnte.Das wollen wir hier in aller diplomatischen Vorsichtnicht weiter erörtern. Daß Sie nur die Bundesregierungfür diese Aktionen in Haftung nehmen wollen, finde ichein ziemlich gewagtes Vorgehen.Ich könnte Ihnen hier einiges über Entscheidungen,die in der vergangenen Legislaturperiode, also in IhrerRegierungszeit, getroffen wurden, und über die perso-nelle und materielle Ausstattung von Einrichtungen sa-gen, die der Sicherheit dienen. Aber das sollte man nichtauf dem öffentlichen Markt tun, das machen wir lieberim Innenausschuß. Ich finde, es ist ein Kompliment,wenn Sie meinen, daß ich alles, was Sie in 16 Jahrennicht zustande gebracht haben, in vier Monaten wiederin Ordnung bringen kann. Für dieses Kompliment be-danke ich mich bei Ihnen.
Ich habe gerade die EU-Innenminister im Rahmender deutschen Präsidentschaft zusammenrufen lassen.Die Innenminister haben sich alle dafür bedankt, daß wirdie Initiative ergriffen haben. Wir werden dafür sorgen,daß die europäische Zusammenarbeit in Fragen der inne-ren Sicherheit verbessert wird. Das ist notwendig. Hierhaben wir die richtigen Wege beschritten. Wir könnenuns auch dazu beglückwünschen, daß es uns wahr-scheinlich gelingen wird – bei Ihnen hat das immerhinvier Jahre gedauert; ich mache Ihnen keinen Vorwurfdaraus; ich weiß, wie schwierig der Weg ist –, daßEuropol während der Zeit der deutschen Präsidentschaftaller Voraussicht nach seine Arbeit aufnehmen wird.Zum Abschluß möchte ich Ihnen sagen: Unter allenInnenministern, mit denen ich in allerengstem Kontaktstehe und mit denen ich in Fragen der Migration, desAsyls usw. eng zusammenarbeite, hat es keinen einzigengegeben, von dem ich auch nur eine Silbe des Tadelswegen unseres Staatsangehörigkeitsrechts gehört hätte.Es gab nur Anerkennung und Respekt. Vielleicht neh-men Sie auch das mit nach Hause, um Ihre heutigennicht sehr sachlichen Ausführungen zu überdenken.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt dem Kollegen Guido Wester-
welle, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Minister, Sie
haben hier zur Sachlichkeit, Mäßigung und Differenzie-
rung in der Diskussion nach den Kurdenkrawallen auf-
gerufen. Das kann man gut nachvollziehen. Sie haben
Umfragen zitiert und – wie die Redner vor Ihnen auch –
auf die tatsächlichen und völkerrechtlichen Schwierig-
keiten hingewiesen, die mit Abschiebungen zusammen-
hängen, wie Folter und Todesstrafe. Aber wen haben Sie
in diesem Hause damit ansprechen wollen? – Augen-
scheinlich haben Sie nicht die eigene Mannschaft ange-
sprochen.
In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen aus
einem Interview, das Bundeskanzler Schröder dem
„Stern“ gegeben hat und das morgen erscheint, zitieren:
Frage: Können Sie Abschiebungen in ein Land ver-
antworten, in dem gefoltert wird?
Antwort: Das Völkerrecht setzt hier Grenzen. Aber
kein Rechtsbrecher sollte glauben, daß er sich da-
hinter verstecken kann. Wir werden prüfen, ob wir
an der Abschiebepraxis etwas ändern müssen. Hier
besteht Handlungsbedarf.
Wenn also selbst unser alleroberster und äußerst
flexibler Bundeskanzler in einem solchen Interview auf
eine solche Frage antwortet, daß die Abschiebepraxis
erst überprüft werden müsse,
dann heißt das unter kundigen Thebanern natürlich, daß
er die Abschiebepraxis verändern will.
– Sie sind zwar neu im Parlament, aber da ich Sie ken-
nengelernt habe, weiß ich, daß Sie kein bißchen blau-
äugig sind. Das ist doch albern.
Natürlich ist Bundeskanzler Schröder ein wichtiger
Teil in der Diskussion und setzt bei der Abschiebungs-
diskussion Akzente, die auch meine Partei gefordert hat.
Meine Partei hat beispielsweise gesagt, daß Gewalttäter
im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen und einer
menschlichen, rechtlich korrekten Behandlung – das ist
selbstverständlich – auch abgeschoben werden müssen.
Als Bundesinnenminister müßten Sie aber Ihrem eige-
nen Bundeskanzler viel mehr als dem überwiegenden
Teil dieses Hauses vortragen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer weiteren
Kurzintervention erteile ich das Wort dem Abgeordne-
ten Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
innenminister vorhin gesagt hat, erlaube ich mir insbe-
sondere an den Vorredner Herrn Rüttgers den Hinweis,
daß hinsichtlich der Geschehnisse in Berlin nicht nur der
Innensenator der Stadt, der von der CDU gestellt wird,
die Praxis der Polizei gebilligt hat; vielmehr haben alle
im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien nach einer
Sitzung des dortigen Innenausschusses erklärt, daß die
polizeitaktische Praxis der Deeskalation, die auch von
Herrn Westerwelle in einer früheren Rede schon gerügt
worden ist, richtig war und wahrscheinlich dazu geführt
hat, Menschenleben, zumindest die Gesundheit von
Menschen, zu erhalten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesinnen-
minister, zur Erwiderung erteile ich Ihnen das Wort.
Herr Kol-lege Westerwelle, ich habe nicht Ihr Privileg, schonBundesminister Otto Schily
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1590 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
(C)
heute das Vorabexemplar des „Stern“ zu sehen. Ichnehme an, daß Sie korrekt zitiert haben.Aus dieser Äußerung können Sie aber wahrlich nichtden Schluß ziehen, daß der Bundeskanzler eine Ab-schiebepraxis befürwortet, die einen Verstoß gegen dieEuropäische Menschenrechtskonvention darstellt. Dasist schlicht eine Unterstellung, die in keiner Weise be-gründet ist.
Wie immer die Form der Abschiebung aussehen mag,nach der wir selbstverständlich suchen: Es geht nichtdarum, zu einer Abschiebepraxis unter Mißachtung die-ser Grundsätze zu gelangen. Herr Rüttgers hat diesenBriefwechsel erwähnt. Hiermit sind große Problemeverbunden. Herr Rüttgers, Sie kennen die Details nicht.Man hat in der Folge dieses Briefwechsels 200 Fälle ge-funden, die eine Abschiebung ermöglicht hätten. DieLänder haben davon nur in einer Größenordnung von 20bis 30 Fällen Gebrauch gemacht. Etwa das Land Bayern,das sonst oft vorausgeht – Herrn Stoiber haben wir heutegehört –, hat in genau vier Fällen Menschen abgescho-ben. Dabei handelte es sich nur zu einem ganz geringenTeil – soweit Abschiebungen mit entsprechenden Ga-rantien überhaupt in Betracht gezogen wurden – umPKK-Sympathisanten oder ähnliche Personenkreise.Damit wir hier ein ganz klares Bild haben, muß ichallerdings hinzufügen – ich glaube, vom Kollegen Strö-bele sind Äußerungen dazu gekommen –:Es hat in kei-nem der Fälle, die dort zur Ausführung gelangt sind,etwas stattgefunden, was mit den Vereinbarungen nichtim Einklang war. Nichts dergleichen hat stattgefunden,weil man dort für die Gewährleistung der Vereinbarun-gen ein Überwachungssystem geschaffen hat. Ob dasauch unter den veränderten aktuellen Umständen aus-reicht, muß man vorurteilsfrei prüfen.Ungeachtet der Tatsache, daß die Wogen hochgehenund ich in keiner Weise billigen kann, was im Momentim Fall Öcalan in der Türkei geschieht – es steht mitrechtsstaatlichen Prinzipien in keiner Weise in Überein-stimmung –, bin ich der Auffassung, daß wir mit derTürkei auch weiterhin im Gespräch bleiben müssen, umzu einer Veränderung dieser Verhältnisse zu gelangen.Es hat gar keinen Zweck, hier nur in einer einseitigenForm über diese Dinge zu sprechen.Wir müssen das Kurdenproblem im Blick haben. Wirmüssen dafür sorgen, daß sich die Türkei von Europanicht entfernt. Wir müssen dafür sorgen, daß in der Tür-kei die Europäische Menschenrechtskonvention respek-tiert wird. Das ist eine schwierige Aufgabe, der ich michselbstverständlich stellen werde.Herr Kollege Westerwelle, unterstellen Sie dem Bun-deskanzler bitte nicht, daß er auch nur im entferntestendaran denkt, die Grundsätze der Europäischen Men-schenrechtskonvention nicht einzuhalten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmel-
dungen liegen zu diesem Geschäftsbereich nicht vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie dar-
auf verweisen, daß interfraktionell vereinbart worden ist,
die Sitzung jetzt bis zu einer Stunde zu unterbrechen. Es
ist möglich, daß wir wieder eher anfangen. Bitte infor-
mieren Sie sich.
Der Wiederbeginn der Sitzung und damit der Aufruf
und der Beginn der Debatte über den Geschäftsbereich
„Wirtschaftliche Zusammenarbeit“ wird rechtzeitig be-
kanntgegeben.
Die Sitzung ist unterbrochen.
LiebeKolleginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbrocheneSitzung wieder.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung. Das Wort hat Frau BundesministerinHeidemarie Wieczorek-Zeul.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es steht mirvielleicht nicht zu, aber da ich auch Parlamentarierinbin, möchte ich darauf hinweisen, daß der DeutscheBundestag zukünftig ein Stück mehr Kohärenz bei derEinteilung der Tagesordnungspunkte zur Diskussionzeigen sollte. Wenn Entwicklungspolitik nach Innen-,Justiz- und Außenpolitik diskutiert wird, dann ist dasschwer nachvollziehbar. Ich bin auch bereit, dies jedem,der für die Organisation verantwortlich ist, ins Gesichtzu sagen. So viel dazu.
Die Aufgabe unserer Entwicklungspolitik und derentwicklungspolitischen Zusammenarbeit ist die Mitge-staltung der Globalisierung. In diesem Sinne nehmenwir unsere Verantwortung in den internationalen Orga-nisationen wahr und versuchen, unseren Einfluß auf dieWTO und die neue Verhandlungsrunde zu organisieren.In diesem Sinne unterstützen wir mit unserem Haushaltvor allen Dingen auch regionale Zusammenschlüsse alseine Brücke zwischen lokalem und globalem Handelnund Denken.Ein aktueller Punkt ist das Lomé-Nachfolge-abkommen zwischen den europäischen und den AKP-Staaten. Wir sind hier in einer entscheidenden Phase.Wir müssen das Abkommen neu aushandeln. Bei derMinisterkonferenz Anfang Februar dieses Jahres in Da-kar haben wir unter deutscher EU-Ratspräsidentschaftwichtige Fortschritte bei der Neuaushandlung erzielt.Aber wir werden die endgültigen Verhandlungen vomPlanungsablauf her erst Ende dieses Jahres bzw. Anfangnächsten Jahres zu Ende bringen können.An dieser Stelle will ich ausdrücklich betonen, daßwir ganz engagiert darauf hinarbeiten, daß in diesemBundesminister Otto Schily
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1591
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neuen Abkommen, das politischer sein muß, verant-wortungsvolle Staatsführung, also „good gouvernance“,ein elementares Prinzip sein muß, nicht deshalb, weil dieEuropäer den Entwicklungsländern Vorschriften machenwollen; vielmehr wollen wir dies auch mit dem Ziel er-reichen, daß die Finanzmittel, die von den europäischenLändern gegeben werden, wirklich ankommen, zur Ent-wicklung beitragen und nicht in falsche Kanäle gelan-gen. Insofern ist „good gouvernance“ eine ganz wichtigeVoraussetzung dafür, daß in diesem Abkommen Ergeb-nisse erreicht werden.
Ein weiterer Punkt, der zur Gestaltung von Rahmen-bedingungen beiträgt, ist unsere Entschuldungsinitia-tive. Ich weiß um die Probleme hier. Ich könnte mirauch einen größeren Umfang vorstellen. Aber dasAllerwichtigste ist doch, daß die extreme Verschuldungmancher armer Entwicklungsländer jeden Entwicklungs-fortschritt für die Menschen dort zunichte macht. Ichmöchte das noch einmal in Erinnerung rufen. Berech-nungen der Vereinten Nationen zeigen, daß dann, wennrund 30 Milliarden DM Schulden erlassen, die Finanz-mittel umgewidmet und in das Gesundheitswesen, inden Erziehungsbereich und in den Ausbildungsbereichder Länder fließen würden, sieben Millionen Kinder ineinem Jahr gerettet werden könnten. Deshalb fordereich: Wir brauchen eine solche Entschuldungsinitiative,die wir mit Blick auf den Kölner Gipfel der G 7 vorge-schlagen haben. Wir wollen auch erreichen, daß sich dieanderen G-7-Staaten an dieser Initiative beteiligen.
Dazu sage ich auch ausdrücklich: Mit dieser Initiativewollen wir aber nicht nur Schulden erlassen; vielmehrwollen wir auch – Herr Blüm, Sie waren dabei, als diekatholische Organisation Misereor darauf hingewiesenhat – eine qualitative Konditionierung und einen quali-tativen Schuldenerlaß erreichen. Das heißt: Das Zielmuß auch darin bestehen, daß beim Erlaß von Schulden– wir wollen hier weitergehen, als es die HIPC-Initiativevorsieht – die Entwicklungsländer ihren Weg in Rich-tung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit sowieArmutsbekämpfung einschlagen. Deshalb wollen wirdiese Initiative auch für eine solche Entwicklung dieserLänder nutzen und sie darauf entsprechend verpflichten.Wir haben gesagt, unsere Vorstellung von Entwick-lungspolitik bestehe darin, zu erreichen, daß sie als Frie-denspolitik verstanden wird. In diesem Haushalt gibt eserste Ansätze für den Aufbau eines zivilen Friedens-dienstes. Dieser zivile Friedensdienst ist als ein Einsatzvon Friedensfachkräften in der politisch-gesellschaft-lichen Konfliktbearbeitung im Rahmen von anerkanntenstaatlichen und nichtstaatlichen Entwicklungsdienstenkonzipiert.Es wäre eine ganz großartige Sache, wenn es nach derDiskussion über die weiteren Organisationsfragen, indenen wir sehr offen sind, möglich wäre, bereits in die-sem Jahr mit der Ausbildung von Friedenskräften zu be-ginnen, so daß Einsätze in gezielten Bereichen bereitsdenkbar wären. Das wäre ein Zeichen ganz großer Ini-tiative in Richtung auf einen solchen Friedenseinsatz.
Wir unterstützen – ich verkürze meine Ausführungenetwas – vor allen Dingen auch den Friedensprozeß imNahen Osten. Wir unterstützen die Region mit Pro-grammen in Höhe von 140 Millionen DM. Es handeltsich vorwiegend um Mittel für die palästinensischenGebiete. Warum? Wir müssen doch ein großes Interessedaran haben, daß die Menschen in den palästinensischenGebieten sehen, daß die wirtschaftliche Situation für sieendlich besser wird, damit auch für sie der Friedenspro-zeß mit einer Verbesserung ihrer eigenen wirtschaftli-chen Lage verknüpft ist, damit sie auf die Art und Weisedem Friedensprozeß verbunden bleiben und damit demExtremismus entgegengearbeitet wird. Auch deshalb istdies wichtig.
Mit dem jetzt vorgelegten Bundeshaushaltsplan ha-ben wir den Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltesgestoppt und die Grundlage für eine Aufwärtsentwick-lung geschaffen. Schon mit Blick auf das Finanzministe-rium bin ich weit davon entfernt, zu sagen: Wir sindvöllig zufrieden. Aber, es ist so: Der jahrelange Ab-wärtstrend des Entwicklungshaushaltes, eines Entwick-lungshaushalts, der als Steinbruch für andere Haushaltebenutzt worden ist – in den letzten sechs Jahren war indiesem Bereich ein Minus von 9 Prozent zu verzeichnen–, ist gestoppt, und der Aufbau und die Vorbereitungendafür, daß in diesem Bereich neue Schwerpunkte gesetztwerden können, ist sowohl beim Plafond – da werdenwir 124 Millionen DM zusätzlich haben – als auch vorallen Dingen bei den Verpflichtungsermächtigungendeutlich gemacht worden, wo 500 Millionen DM zu-sätzlich vorgesehen sind. Das ist jedenfalls ein wichtigerSchritt dahin, Jahr für Jahr wiederaufbauen zu könnenund zu müssen.
Wir als Bundesregierung sehen in diesem Haushaltvor, daß wir vor allen Dingen im Bereich der multilate-ralen Institutionen, in die insgesamt 20 Prozent derAusgaben des Einzelplans 23 fließen, wieder an das an-schließen, was unser vorher von der internationalenStaatengemeinschaft und auch von Deutschland akzep-tiertes Niveau ist. Das gilt zum Beispiel für die Beiträgezur Weltbank und zu den Regionalbanken. Wir habenden internationalen Fonds für Entwicklung der Welt-bank entsprechend unseren Verpflichtungen wiederauf-gebaut. Auch die Kollegin Eid hat sich um den Afrikani-schen Entwicklungsfonds sehr bemüht.Wir sehen in unserem Haushalt zum erstenmal vonunserer Seite aus einen Beitrag zur Entschuldung desTreuhandfonds der Weltbank vor. Das heißt, wir redennicht nur von Entschuldung, sondern wir haben in unse-rem Haushalt auch einen entsprechenden Beitrag fürdiesen Treuhandfonds vorgesehen.Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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1592 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Leider war es nicht möglich – das sage ich an dieAdresse der christdemokratischen Kolleginnen und Kol-legen –, die Kürzungen, die Theo Waigel in seinemHaushaltsentwurf für UNDP vorgesehen hatte, in diesemHaushalt rückgängig zu machen. Warum, liebe Kollegin-nen und Kollegen? Weil von Altlast Theo Waigel 400Millionen DM aus dem Europäischen Entwicklungsfondsfür STABEX überhaupt nicht etatisiert waren.Das heißt, am Ende eines laufenden Prozesses vonLomé waren diese 400 Millionen DM nicht etatisiert.Das Finanzministerium hat verlangt – dagegen kann ichin Zeiten von Haushaltsklarheit und -wahrheit nichtseinwenden –, daß sie etatisiert werden. Wir konnten er-reichen, daß in den nächsten vier Jahren jeweils 100Millionen DM veranschlagt werden. Wegen all der an-deren Schwerpunkte ist es nicht möglich gewesen, dieKürzungen im Bereich UNDP rückgängig zu machen.Ich sage Ihnen aber: Wir werden, sobald es irgend mög-lich ist – allerspätestens beim nächsten Haushalt –, dieseKürzungen rückgängig machen, weil wir UNDP ent-sprechend unseren Verpflichtungen finanzieren möch-ten.
Ich halte aber auch ausdrücklich fest: Denjenigen vonkonservativer Seite, der jetzt sagt, das sei alles nicht inOrdnung, frage ich: Wo waren Sie eigentlich, als derWaigelsche Haushalt vorgelegt worden ist? Vor allenDingen frage ich: Wo waren Sie, als die Diskussion überdie Frage geführt wurde, daß diese 400 Millionen DMüberhaupt nicht etatisiert wurden? Sie sollten sich dasdann schon selbst fragen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben der multila-teralen Zusammenarbeit ist der Bereich bilateraler Zu-sammenarbeit nach wie vor mit 45 Prozent der Mitteldie größte Säule unserer Arbeit. Wir verwenden dieseMittel vorwiegend für Armutsbekämpfung und tragendadurch maßgeblich zur Verwirklichung von internatio-nalen Strategien in diesem Bereich bei.Im Haushalt haben wir einen neuen Schwerpunkt, denwir auch in den Länderprogrammen umsetzen werden,gesetzt: Wir haben für Klimaschutz und regenerativeEnergien Mittel bis zur Höhe von 300 Millionen DMfür ein Programm zur Verfügung gestellt, das dazu bei-tragen soll, daß in den Entwicklungsländern eine Um-orientierung auf erneuerbare Energien stattfindet undKlimaschutzprogramme praktiziert werden. Das ist imInteresse dieser Länder, aber auch in unserem Interesse,denn es gibt auch eng mit der Wirtschaft verbundeneInteressen, von unserer Seite aus einen solchen Schwer-punkt zu setzen.
Ein ganz besonders wichtiger Ansatz unserer Ent-wicklungspolitik liegt in der engen Zusammenarbeit mitnichtstaatlichen Trägern. Ich will an dieser Stelle daraufhinweisen, daß für die konkrete Projektarbeit der priva-ten Träger zusätzlich 2 Millionen DM vorgesehen sindund für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit ebensolcher Initiativen der Ansatz insgesamt um 37 Prozentausgeweitet worden ist. Auch da kann, wie gesagt, im-mer noch mehr gemacht werden, aber ich denke, wir ha-ben hier wichtige erste Schritte gemacht. Den Punkt derPartnerschaft mit der Wirtschaft in Entwicklungsfra-gen habe ich angesprochen. Auch das sollte an dieserStelle erwähnt werden.An Sie alle gerichtet, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, sage ich: Der Entwurf des Entwicklungshaushaltsgeht nun zur Beratung in die parlamentarischen Aus-schüsse. Ihren Verbesserungsvorschlägen stehen wirnatürlich offen gegenüber. Vor allen Dingen sind wirauch gerne bereit, wenn noch Rückfragen zu einzelnenElementen bestehen, diese entsprechend abzuklären.Ich möchte aber Sie alle, liebe Kolleginnen und Kol-legen, um Unterstützung für verstärkte Investitionen inglobale Zukunftssicherung und damit um Unterstützungfür ein Stück konstruktiver Friedenspolitik in unsererWelt bitten. Wenn man sieht – dabei sage ich nichts zuden Debatten, die uns in diesen Tagen bewegen –, wie-viel in letzter Konsequenz immer dann ausgegeben wird,wenn es um militärische Dinge geht,
dann kann man doch daraus nur den Schluß ziehen, daßdazu beigetragen werden muß, daß auch in diesem BereichFortschritte erreicht werden. Ich weiß, daß jeder sagt, nochetwas mehr wäre willkommen. Lassen Sie uns aber inobigem Sinne die Finanzierung dieses Stücks globalerFriedens- und Zukunftssicherung konstruktiv angehen.Ich bedanke mich sehr herzlich.
Als
nächster Redner hat der Kollege Michael von Schmude
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundes-regierung hat auch im Bereich der Entwicklungshilfegroße Erwartungen geweckt, Kompetenz vorgetäuscht,Hoffnungen und Versprechungen gemacht; aber mit derStunde der Vorlage des Haushalts kommt auch dieStunde der Wahrheit. Frau Ministerin, es hilft keinSchönreden: Ihrer Zielsetzung fehlt die finanzielleGrundlage. Sie sollten auch nicht den Versuch machen,sich reich zu rechnen. Die Wirklichkeit sieht nämlichganz anders aus.Sie sprechen von einem Ausgabeplafond von – aufden Pfennig genau – 7,8 Milliarden DM. Der Betrag istauffällig glatt, ja aalglatt gerechnet. Das Ergebnis feiernSie, indem Sie sagen, es handele sich um einen Anstiegvon 1,8 Prozent gegenüber dem alten Entwurf. Tatsacheist aber, daß der alte Regierungsentwurf mit 7,676 Mil-liarden DM plus 200 Millionen DM aus Forderungsver-Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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käufen um 76 Millionen DM höher gelegen hat als derEntwurf, den Sie uns heute vorlegen.Wenn man das Endergebnis des Haushalts 1998 mitdem Entwurf vergleicht, der jetzt auf dem Tisch liegt,dann kann man feststellen, daß die Negativentwicklungnoch deutlicher wird. Die Differenz beträgt 102 Millio-nen DM. Ich stelle fest – das können Sie nicht bestreiten –:Der Anteil am Bundeshaushalt sinkt von 1,7 Prozent auf1,6 Prozent.
– Das ist das Ergebnis, wenn man Ihren Etat auf 488Milliarden DM bezieht.Wie ist es nun zu diesem Desaster gekommen? DerBundesfinanzminister hat den alten Regierungsentwurfgenommen und dann 200 Millionen DM aus Forde-rungsverkäufen dazugerechnet. Dann haben Sie sichaber 76 Millionen DM für Minderausgaben abziehenlassen. Davon wurden völlig voreilig und verfehlt 29Millionen DM für Wechselkursdifferenzen abgezogen.Außerdem haben Sie bei einem weiteren Punkt nichtaufgepaßt: Er hat Ihnen weitere 20 Millionen DM vomPlafond genommen, die er ausgeglichen hat, indem erIhnen aus MOE-Mitteln ganze 20 Millionen DM darauf-gepackt hat. Auf diese Weise kommen Sie auf den Be-trag von 7,8 Milliarden DM.Eine wirkliche Erhöhung gibt es nicht. Der Finanz-minister hat keinen Pfennig dazubezahlt. Im Gegenteil:Sie lassen es zu, daß er in Ihre Kasse greift, indem er dieForderungsverkäufe, die im Einzelplan 23 mit 124 Mil-lionen DM ausgewiesen sind, für seinen BMF-Haushaltvereinnahmt.
Herr
Kollege von Schmude, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dr. Schuster?
Ja, natürlich.
Herr
Schuster, bitte.
Herr von Schmude,
darf ich Ihre Ausführungen so verstehen, daß Ihre Frak-
tion im Rahmen der noch ausstehenden parlamentari-
schen Beratungen mit Deckungsvorschlägen zu Nach-
besserungen bereit ist?
Ich kommenoch zu den Deckungsvorschlägen. Trotzdem bin ichIhnen für diese Zwischenfrage dankbar. Lieber HerrKollege Schuster, ich werde noch darauf hinweisen, wowir Möglichkeiten sehen, durch Umschichtungen diesenHaushalt mit Substanz anzureichern, und wo wir zumehr Haushaltswahrheit beitragen können, als dies bis-her der Fall ist.Wir haben ferner festzustellen, daß der Bundesfi-nanzminister vollmundig angekündigt hat, den Schat-tenhaushalt, nämlich die Erlöse durch den Verkauf vonForderungen, aus dem Einzelplan 23 zu entfernen. Erweist aber nirgendwo in seinem Haushalt aus – wederim Einzelplan 32 noch im Einzelplan 60 –, wo der Erlösaus diesen Forderungsverkäufen bleibt. Er steckt denBetrag von 124 Millionen DM irgendwo in seinen gro-ßen Haushalt, ohne ihn auszuweisen. Dieses Vorgehenist nicht seriös. Sie haben sich auch in diesem Punkt,Frau Ministerin, vom BMF über den Tisch ziehen las-sen.Wir haben im vorigen Jahr gehört, daß das Volumender Entwicklungshilfe weniger als ein Drittel der Ein-nahmen aus der Tabaksteuer ausmacht. Ich stelle fest,daß das Verhältnis in diesem Jahr noch schlechter wird.Wir haben ein Minus von 1,3 Prozent gegenüber denEntwicklungshilfeleistungen, die tatsächlich im Jahre1998 geleistet wurden. Wenn Sie sich die Steigerungs-rate in der Finanzplanung ansehen, dann werden Siefeststellen, daß die Entwicklung noch düsterer wird. DerEtat wird im Jahr 2000 nämlich nochmals um 1,6 Pro-zent zurückgehen. Nein, es geht nicht aufwärts, wie Siegesagt haben, sondern abwärts.Abwärts geht es auch auf Grund der Wechselkurse.Sie haben im Haushalt mit einem Wechselkurs gegen-über dem Dollar von 1,6695 DM kalkuliert. Sie müssenheute schon 30 Millionen DM vom Bundesfinanzmi-nister nachfordern, damit Sie nicht an die Substanz her-angehen müssen, um die Differenz auf Grund des tat-sächlichen Wechselkurses auszugleichen. Ich hoffe, daßdie Oppositionserfahrung bei einigen Kolleginnen undKollegen noch ausreicht, um sich dafür einzusetzen.Ich habe den Eindruck, daß der Bundesfinanzministerdiesen Haushalt als eine Art Reservekasse betrachtet, dieman noch kräftig anzapfen kann. Er rechnet nämlichfolgendermaßen: Die Einnahmen aus Zinsen und Til-gung lagen im letzten Jahr rund 500 Millionen DM hö-her als der mit 1,742 Milliarden DM veranschlagte Be-trag. Was soll das? Ein mehrjähriger Vergleich zeigt,daß hier ganz andere Summen anzusetzen sind. Wirwerden da auf eine Korrektur drängen.Das gleiche gilt für den Verkauf von Forderungen.Wir wollen, daß diese Mehreinnahmen wieder voll demEinzelplan 23 zugute kommen, Herr Dr. Schuster, undnicht nebulös irgendwo im großen Wust des Bundesfi-nanzministers verschwinden.
Klärungsbedürftig ist auch die Tatsache, daß Sie sichauf der einen Seite über fehlende Stellen in Ihrem Hausebeklagen, auf der anderen Seite aber Personalkosten-steigerungen von 4,3 Prozent ausweisen. Gleichzeitiggibt es aber eine Stellenkürzung von 1,5 Prozent, und essoll eine Lohnnebenkostensenkung auf breiter Basis er-folgen. Wir werden diesen Punkt noch besonders unter-suchen.Von großer Bedeutung sind die FZ und die TZ. Wirhatten bei der FZ 1998 ein Ergebnis von 2,533 Milliar-Michael von Schmude
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1594 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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den DM. Jetzt wollen Sie nur noch 2,289 Milliarden DMansetzen. Das ist nicht zu akzeptieren.Für die nächsten Jahre wollen Sie außerdem auf1,5 Milliarden DM Forderungen verzichten.Vorrangig sollte nach meiner Meinung von dem In-strument der Umwandlung von Schulden in nationaleMaßnahmen zur Armutsbekämpfung usw. Gebrauchgemacht werden. Hier haben wir gesehen, daß die hier-für bereitgestellten 210 Millionen DM erstmalig 1998fast voll ausgeschöpft wurden. Sie haben unsere Unter-stützung, wenn es darum geht, diesen Titel auszuweiten;da sind wir dabei.Die Mittel für die Technische Zusammenarbeit sindleicht erhöht worden, aber auch hier besteht eine Täu-schung. Wir haben jetzt 1,165 Milliarden DM; 1998 wa-ren es tatsächlich 1,151 Milliarden DM. Wir wollen, daßdieser Titel aufgestockt wird. Ich werde dazu noch einenDeckungsvorschlag machen.Die Verbundfinanzierung ist um 500 Millionen DMerhöht worden. Das begrüßen wir, aber das haben wirbereits im eigenen Regierungsentwurf so vorgesehen.Nun komme ich zu den europäischen Zahlungen.Diese Bundesregierung sagt immer: Wir zahlen zuvielan Europa. Ja, wir zahlen zuviel an Europa; wir zahlenauch jetzt zuviel. Die STABEX-Beiträge sind noch garnicht fällig, aber sie werden voreilig zurückgeführt. Ihreigener Staatssekretär legt den Berichterstattern ein Pa-pier auf den Tisch, nach dem man auch ganz anders ver-fahren könnte. Ich könnte Ihnen das im einzelnen vor-tragen, aber mir fehlt hier die Zeit. Er sagt, man könnebeispielsweise in diesem Jahr 75 Millionen DM odernoch weniger zurückführen. Wir haben hier keinenHandlungszwang, so schnell zu reagieren.Ich sage Ihnen auch: Die Mittel für die Programmedes EEF sind viel zu hoch veranschlagt. 1998 hatten wirsie 12 Millionen DM zu hoch, 1997 238 Millionen DMzu hoch und 1996 sogar 420 Millionen DM zu hoch ver-anschlagt. Vor dem Hintergrund der schleppenden Pro-grammittelumsetzung in Brüssel werden wir Kürzungenin diesem Titel zugunsten der FZ und der TZ sowie zu-gunsten von UNDP fordern.
Skandalös ist die Tatsache, daß Brüssel jetzt von unsSTABEX-Beiträge zurückgezahlt bekommt, für derenStundung wir allerdings Zinsen zahlen müssen.
Aber die Europäische Union braucht dieses Geld garnicht. Sie legt es bei den Banken als Termingeld an. Dasmuß dem deutschen Steuerzahler einmal vermittelt wer-den.
Da bin ich der Meinung, Sie sollten Ihren Kanzler auf-fordern, hier als EU-Ratspräsident für Abhilfe zu sorgen.Ich sage Ihnen ebenfalls, daß beim EEF-Titel nichtsauber gearbeitet wurde, auch seitens des BMF. Hierwird als Wechselkurs jetzt der offizielle Euro-Kurs von1,95583 zugrunde gelegt. Die alte Bundesregierungmußte noch schätzen. Sie hat ihn mit 1,97632 geschätzt.Aber an der Gesamtsumme hat sich im Entwurf nichtsgeändert. Das heißt, Sie haben jetzt 10 Millionen DMLuft in diesem Titel. Diese muß abgelassen werden.Entweder macht das der Finanzminister, oder wir sorgengemeinsam dafür, daß das Geld dem Haus durch Um-schichtung erhalten bleibt. Ich bin dabei.Unzureichend ist natürlich auch der Ansatz für dieExpo. Sie haben hier nur 30 Millionen DM vorgesehen,aber 45 Millionen DM müßten es sein. Darüber hinauslegt die Bundesregierung fest, daß es für die Expo keineVerpflichtungsermächtigung geben soll. Wir haben abereine Bundesbürgschaft beschlossen, und es ist so gut wiesicher, daß diese Bürgschaft in Anspruch genommenwerden muß. Wir lassen das durch den Rechnungshofund auch durch andere prüfen. Hier liegt ein Verstoßgegen geltendes Haushaltsrecht vor. Wenn erkannt wird,daß eine Bürgschaft gefährdet ist, muß eine Verpflich-tungsermächtigung ausgebracht werden.Ich weise ausdrücklich darauf hin, daß wir dies sonicht hinnehmen können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Haushalt hatversteckte und offenkundige Mängel. Neue Akzente sindkaum erkennbar. Der Wille zum Sparen ist ebensowenigzu spüren wie das Ausnutzen von Möglichkeiten, denEinzelplan effizienter und effektiver zu machen. Einenegative Signalwirkung geht von diesem Haushalt fürdie deutsche Entwicklungshilfe aus.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Antje Hermenau von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schmu-de, haben Sie einen Zwillingsbruder? Die Zeiten ändernsich; wir ändern uns in ihnen. Das will ich Ihnen zubilli-gen. Aber heute haben Sie mich einigermaßen verblüf-fen können. Aber zumindest weiß ich jetzt aus Ihrer Re-de, was Sie in den nächsten zehn Monaten zu machengedenken. Sie bewegen sich auf der Suche nach denSchnupperpreisen, den 124 Millionen DM, die Sie ir-gendwo versteckt vermuten. Aber reden wir über diesenEtat. Ich gehe auf bestimmte Punkte, die Sie gebrachthaben, gerne ein.In den letzten Jahren ist das Bemühen darum, in derschwierigen Lebenswelt vieler Bürger in diesem LandeVerständnis dafür zu finden und um Verständnis dafürzu werben, wie wichtig die entwicklungspolitische Zu-sammenarbeit ist, von Ihnen kontinuierlich verachtetworden. Sie haben sich dem nicht gestellt, obwohl dasMichael von Schmude
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Aufkommen an Spenden aus privaten Vermögen derBürgerinnen und Bürger eine Ermutigung dargestellthätte, diese Debatte offensiv und nicht defensiv zu füh-ren.
Reden wir über die Erblasten dieses Etats. Ich bin Ih-nen, Herr Kollege von Schmude, übrigens dankbar da-für, daß Sie selbst auf eine ganze Reihe von schwierigenVerhaltensweisen des vorigen Finanzministers aufmerk-sam gemacht haben, die in dieser Deutlichkeit von IhrerFraktion bisher noch nie zur Sprache gebracht wordensind.Sprechen wir zum Beispiel über das Verhältnis vonmultilateraler und bilateraler Zusammenarbeit. Inden letzten Jahren bestand, von Ihnen konservativ-politisch vorgeschlagen, die Tendenz, mehr und mehraus der multilateralen in die bilaterale Zusammenarbeitzu wechseln, weil die Kontrolle besser ist, und zwar indoppelter Weise. Auf der einen Seite sei es uns somöglich, die europäischen Partner unter Kontrolle zuhalten, die das Geld sowieso nur verschlampten; aufder anderen Seite sei in der bilateralen Zusammenar-beit die Kontrolle über die Empfängerländer besser.Die Frage ist, wohin dieser Standpunkt führt. Er hat si-cherlich auf der einen Seite dazu geführt, daß wir eineReihe von finanzpolitischen Instrumenten in der bilate-ralen Zusammenarbeit verschärfen und präzisierenkonnten; das halte ich für gelungen. Er hat aber auf deranderen Seite dazu geführt, daß wir uns aus unserereuropäischen Verantwortung in der multilateralen Zu-sammenarbeit verabschiedet haben, und zwar, wennSie mich fragen, mehr aus Knauserigkeit als aus politi-schen Gründen.Jetzt ist eine Pendelbewegung nötig. Oder hat sichDeutschland aus der Debatte in der Europäischen Unionverabschiedet, als man für die Währungsunion gesorgthatte? Hat man gesagt, jetzt mag Europa werden, wie eswill; wir nehmen nicht mehr gestaltend an den Debattenin Europa teil? – Doch wie wollen wir an der Gestaltungder Debatten teilnehmen, wenn wir uns weigern, unserePflichtbeiträge zu zahlen? Dieser Zusammenhang mußhergestellt werden. Es war ziemlich wohlfeil, im Wahl-kampf zu behaupten, jetzt werde alles anders, man wer-de jetzt die multilaterale Hilfe aufstocken; selbst dieKonservativen haben das gesagt.Die 75 Millionen DM, die jetzt für UNDP vorgese-hen sind, sind eine der traurigen Erblasten dieses Etats.
Ich denke, es ist möglich, noch einmal daran zu arbeiten.Wir werden sehen, wie die Haushaltsberatungen imParlament verlaufen. Ich halte es nicht für ausgeschlos-sen, daß wir da noch Verbesserungen erreichen.Aber ich möchte auf eines hinweisen: Es wird immerwieder versucht, einen Konflikt zwischen denjenigen,die als entwicklungspolitische Fachpolitiker gelten, unddenjenigen, die als haushaltspolitische Fachpolitikergelten, herzustellen. Damit möchte ich konstruktiv auf-räumen. Ich halte das für falsch.
Wenn es den Finanzpolitikern nicht gelingt, entwick-lungspolitische Schwerpunktsetzungen zu verstehen, esaber andererseits den Entwicklungspolitikern nicht ge-lingt, sich mit der finanzpolitischen Verantwortung fürdas Ganze auseinanderzusetzen, dann werden wir weitergroße Reibungsverluste in der parlamentarischen Arbeithaben. Aber es geht auch anders, und ich hoffe, daß dasin den Beratungen des 99er Haushaltes spürbar zu wer-den beginnt. Ich hoffe sehr, daß angesichts der schwieri-gen strukturellen Veränderungen, die wir in den näch-sten vier Jahren gerade in diesem Etat vornehmen müs-sen, die Zusammenarbeit fruchtbar verläuft.Da sind wir wieder bei den Erblasten aus dem altenEtat. Denken wir zum Beispiel an die Pipeline bei denVerpflichtungsermächtigungen. Da kann man hiernatürlich groß vom Leder ziehen und sagen: Dieser undjener Baransatz fehlt; da und dort müßten noch 10 Mil-lionen DM hinzugefügt werden. Sie selber, Herr Kollegevon Schmude, wissen, wie sich die Abwärtsschraube derVerpflichtungsermächtigungen in den letzten Jahren ge-dreht hat.Für diejenigen, die nicht wissen, was eine Verpflich-tungsermächtigung ist: Das ist das Vorhaben einer Geld-ausgabe für das nächste und das übernächste Jahr. Manverpflichtet sich sozusagen, in den Folgejahren soundsoviel für etwas auszugeben. Die Höhe dieser Verpflich-tungsermächtigungen wurde immer weiter herunterge-schraubt. Dann waren im folgenden Jahr auch wenigerBarmittel eingestellt worden, weil ja die Höhe der Ver-pflichtungsermächtigung geringer war, und dann hatsich die Schraube immer weiter nach unten gedreht.Mit dieser sehr linearen, sehr einfachen und wenigkonfliktfähigen Haushaltstitelverwaltung, mit einemEtat, der jahrelang an einem Tropf gehangen hat, trauenSie sich jetzt hier in die Debatte und versuchen, uns dieschwierigen Bemühungen, diesen Etat strukturell wiederlebensfähig und nachhaltig zu machen, vor die Füße zuwerfen. Sie bemühen sich überhaupt nicht, sich an einerVerbesserung konstruktiv zu beteiligen.
Sich über ein unerwartetes Problem wie die STA-BEX-Beiträge herzumachen, das ist schon frech undbraucht eine gewisse Chuzpe. Sie wissen ganz genau,daß diese Beiträge in den letzten Jahren nicht abgefor-dert wurden und daß sie zum Wohl des Gesamthaushal-tes, aber nicht zum Wohl des BMZ verwendet wordensind. Insofern ist in der Sache durchaus eine Bringschulddes Gesamthaushaltes festzustellen.Die Frage, was machbar ist, müssen wir aber im De-tail besprechen. Ich werbe in dieser Diskussion dafür,daß wir sehr konstruktiv versuchen, die strukturellenDefizite, die Sie über Jahre aufgehäuft haben, Schritt fürAntje Hermenau
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1596 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Schritt und Jahr für Jahr abzubauen und diesen Haushaltlebensfähiger zu machen. Ich weiß, daß es in der ent-wicklungspolitischen Gemeinde eine große Ungläubig-keit darüber gibt, ob das ernstgemeint sein kann. Sieschüren das auch noch auf verantwortungslose Art.
Ich bin der Meinung: Wenn wir es jetzt nicht schaf-fen, diesen Haushalt nachhaltig und strukturbildend zugestalten, dann verpassen wir wirklich die Chance, diedie entwicklungspolitische Zusammenarbeit auch fürDeutschland verheißt.An dieser Stelle möchte ich auf die Instrumente ein-gehen, die wir zur Verfügung haben. Es gibt ja – das istzu Recht so festgestellt worden – zwei gegenläufigeEntwicklungen: Die eine betrifft Länder, deren Situationsich wirtschaftlich deutlich verbessert und die zuSchwellenländern werden und mehr und mehr ohne un-sere Unterstützung auskommen oder andere Formen un-serer Unterstützung, die durch mehr Eigenverantwor-tung gekennzeichnet sind, in Anspruch nehmen können.Die andere betrifft die Länder, die aus der Verschul-dungsfalle nicht herauskommen und noch mehr verar-men. Diese beiden Tendenzen sind vorhanden. Zur Un-terstützung dieser Länder gibt es Instrumente, wobei wires jetzt in Angriff nehmen müssen, diese Instrumente zumodernisieren, zu verfeinern und zu differenzieren.Sprechen wir über die finanzielle Zusammenarbeit.Wir sollten die Möglichkeiten der finanziellen Zusam-menarbeit – das sage ich hier in aller Klarheit – berei-chern und erweitern. Denn die kärglichen Möglichkeitendes Bundesetats werden auf Dauer nicht ausreichendsein. Ich stehe für eine konstruktive Debatte über eineVerbundfinanzierung bereit. Ich bin der Meinung, daßwir im Bereich der finanziellen Zusammenarbeit mitSchwellenländern dieses Mittel durchaus deutlich stär-ker ausschöpfen können, als dies in den letzten Jahrengeschehen ist.Ich bitte darum, daß wir uns nicht mehr mit einer ge-wissen falschen Scham dahinter verstecken, um Gotteswillen keine wirtschaftlichen Interessen mit der Ent-wicklungszusammenarbeit verbinden zu wollen. Ich fin-de, es ist Zeit für eine neue Ehrlichkeit, die darin be-steht, daß man zugibt: Es gibt Länder, bei denen wir vonchristlicher Nächstenliebe und menschlicher Solidaritätsprechen. Da wird es sicherlich ein Unding sein, vonwirtschaftlichen Interessen zu sprechen. Aber es gibtauch Schwellenländer, wo gemeinsame wirtschaftlicheInteressen auch gemeinsam wahrgenommen und ausge-handelt werden können.
Diese Debatte werden wir in den nächsten Jahren füh-ren. Denn wenn es uns gelingt, die finanzielle Zusam-menarbeit mehr und mehr in den wirtschaftlichen Sektoreinzufügen, dann haben wir wieder Luft für eine Stabili-sierung der technischen Zusammenarbeit. Die, glaubeich, ist dringend geboten. Wir müssen die technischeZusammenarbeit stabilisieren. Das soll in den nächstenvier Jahren der Trend sein.Ich möchte folgendes zum Schuldenerlaß, der hiervon konservativer Seite kritisiert worden ist, sagen: Wiekönnen wir denn den in Deutschland entwickelten Maß-stab der Haushaltssanierung, der darin besteht, nach undnach die Verschuldung abzubauen – wir haben deutlichgesagt, daß das eines unserer wichtigsten Ziele ist; dennwir denken auch an unsere Kinder und an die Nachhal-tigkeit auf diesem Gebiet –, nicht auf die Entwicklungs-länder übertragen, indem wir ihnen zumuten, neue Gel-der aufzunehmen und uns die Zinsen für ihre Schuldenbei uns zu zahlen?
Ich möchte noch auf ein letztes Beispiel eingehen:Vielleicht wissen die einen oder anderen, daß die Öko-bank ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert hat. Wenn esetwas gibt, was wir aus dem zehnjährigen Bestehen derÖkobank lernen können, dann ist es das, daß man nichtunbedingt auf eine Rendite verzichten muß. Wir spre-chen nicht immer nur vom „Gutmenschentum“, wie Siees immer diffamieren. Vielleicht könnte man sich ja auf-raffen, zugunsten ökologischer und sozialer Ziele auf diehöchstmögliche Rendite zu verzichten.Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Joachim Günther von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit großemInteresse habe ich in unserer ersten Ausschußsitzung alsNeuer in diesem Ausschuß Ihre Ausführungen, FrauMinisterin, verfolgt, und ich habe mir gesagt: Donner-wetter, jetzt versucht sie, aus dem BMZ wieder ein rich-tiges Ministerium zu machen, das heißt, wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklungspolitik sollen nichtals notwendiges Übel betrachtet werden. So haben Siedas dargestellt.Ihre Hauptpunkte waren, die Entwicklungspolitikmüsse in den Kernbereich von Politik gestellt und dortverankert werden; es gehe um die Bündelung der ent-wicklungspolitischen Aufgaben – die Federführung beiden Verhandlungen von Lomé soll also beim BMZ lie-gen; das soll auch für den gesamten Bereich der Trans-form-Programme für Osteuropa gelten –, und andereTeilbereiche, die verstreut in anderen Ministerien ange-siedelt sind, wollen Sie zurückholen. Gemessen an denguten Absichten, ist der Haushaltsansatz mit seiner Stei-gerung um 1,8 Prozent – wenn ich das, was Herr vonSchmude gesagt habe, hinzunehme, muß ich sagen, daßdieser Haushaltsansatz unter dem des letzten JahresAntje Hermenau
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1597
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bleibt – noch nicht ein Ergebnis, das diesen ersten An-kündigungen entspricht.
Ich weiß ja auch, wie schwierig solche Verteilungs-kämpfe sind. Aber daß die Entwicklungszusammen-arbeit in dem vom Bundespresseamt herausgegebenenArbeitsprogramm der Bundesregierung für 1999 mitüberhaupt keinem Wort erwähnt wird, das finde ichschon bedenklich. Wir möchten Sie dabei unterstützen,wenn Sie Ihr Ressort wieder im Kernbereich von Politikverankern wollen.
Es gibt aber auch Festlegungen Ihrer Regierung,deren Interpretation mir größte Schwierigkeiten bereitet.So sprechen Sie von einer Aufwertung der Entwick-lungspolitik zu einer globalen Strukturpolitik, undgleichzeitig lassen Sie die zur Wahrnehmung dieserAufgaben zur Verfügung stehenden Planstellen zum31. Dezember 2000 entfallen. Das ist eigentlich un-glaubwürdig. Wenn jetzt auch noch der deutsche Beitragzum UN-Entwicklungsprogramm – Sie haben es zwarvorhin mit Altlasten begründet – um 25 Prozent gekürztwird, dann steht das eigentlich im Widerspruch zu IhremKoalitionsvertrag,
in dem eine eindeutige Stärkung des UN-Entwick-lungsprogramms angekündigt wird. Abgesehen davon,daß hierdurch das Ansehen Deutschlands als eines zu-verlässigen Partners der Entwicklungsländer geschädigtwird, wäre die Kürzung auch entwicklungssystematischein Fehler.Daß international koordinierte Entwicklungshilfe ef-fizienter ist als eine Vielzahl von bilateralen Ansätzen,ist eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der letzten Zeit,und deshalb wäre nicht eine Streichung, sondern eineErhöhung des deutschen Beitrags – Sie haben davon ge-sprochen, daß Sie das pro Jahr um 100 Millionen DMaufstocken wollen, wenn ich Sie richtig verstanden habe– ein Gebot der Stunde. Darüber hinaus ist offensichtlichübersehen worden, daß Sie mit diesen Kürzungsplänenauch das in Bonn angesiedelte UN-Freiwilligenpro-gramm, eine Unterorganisation des UNDP, indirekttreffen.Im übrigen wäre die Bundesregierung gut beraten,wenn sie ihre Koordinierungsrolle im Rahmen der deut-schen EU-Präsidentschaft bei den Verhandlungen überdie zukünftige Entwicklungszusammenarbeit der Euro-päischen Union mit den AKP-Ländern nicht durch Kür-zungen belasten würde.
Unsere Partner erwarten, daß von der deutschen EU-Präsidentschaft entscheidende Impulse für die laufendenVerhandlungen ausgehen. Bisher sind noch keine klarenStandpunkte erkennbar,
und wir müssen die Gestaltung einer zukünftigen euro-päischen Entwicklungspolitik deutlicher erkennbar wer-den lassen.Dem von Außenminister Fischer bei der EU/AKP-Ministerkonferenz am 8. Februar 1999 in Dakar ange-kündigten neuen Schub für die Verhandlungen müssenjetzt Taten folgen. Sie haben gesagt: bis Jahresende. Dasheißt, wir brauchen ein umfassendes Reformkonzept,das durch die deutsche EU-Präsidentschaft unterstütztwird.Neben der Armutsbekämpfung sollte dabei vor allemder Stärkung der Eigeninitiative Vorrang eingeräumtwerden. Voraussetzung hierfür sind rechtsstaatlicheRahmenbedingungen, Wettbewerb, Privatisierungen, diewirksame Bekämpfung von Korruption und die Her-stellung von Bedingungen für einen freien Handel. Siehaben gesagt, daß verantwortungsvolle Staatsführungein wichtiges Thema der nächsten Zeit ist. Das ist rich-tig; denn verantwortungsvolle Staatsführung, Eigen-initiative und freier Handel haben im Endeffekt für diedritte Welt eine viel größere Bedeutung als die gesamteöffentliche Entwicklungshilfe. Die F.D.P.-Fraktion wirddaher einen eigenen Antrag zur europäischen Entwick-lungspolitik einbringen. Im Mittelpunkt stehen dabei dieStärkung der Eigenverantwortlichkeit, die Rechtsstaat-lichkeit und eine marktwirtschaftlich orientierte Wirt-schafts- und Handelspolitik.Aus den vier Jahrzehnten der Entwicklungspolitikhaben wir gelernt, daß reine Ressorttransfers und neueVerteilungsmechanismen das Ziel einer nachhaltigenEntwicklung eher behindern. Die zur Verfügung stehen-den Mittel müssen vorrangig zur Förderung von nach-haltiger Eigeninitiative eingesetzt werden. StaatlicheEntwicklungspolitik sollte in ihrer Rahmenplanung ne-ben dem multilateralen Ansatz in erster Linie auf dieKooperation mit der Privatwirtschaft setzen.Das beachtliche entwicklungspolitische Potential wirt-schaftlicher Investitionen muß stärker gefördert werden.Es ist selbstverständlich, daß eine so verstandene echtewirtschaftliche Zusammenarbeit für beide Seiten vonNutzen sein muß. Ebenso selbstverständlich sollte esdaher sein, daß die finanzielle staatliche Flankierung derZusammenarbeit zumindest dort, wo es möglich ist, mitentsprechenden Lieferbindungen verbunden wird.Warum zum Beispiel sollten Wasserpumpen für deut-sche Bewässerungsprojekte in der Sahelzone nicht auchin Deutschland gekauft werden? Für unsere britischenund französischen Partner ist es eine Selbstverständlich-keit, daß der Einsatz derartiger Mittel auch der heimi-schen Wirtschaft zugute kommt.
In Zeiten knapper Kassen gilt es, über die Entwick-lungspolitik generell nachzudenken. 60 Prozent derWeltwirtschaftshilfe kommen aus Europa. Um es ausmeiner Sicht zu sagen: Jeder kocht sein eigenes Süpp-chen. Die EU vergibt Projekte – es erfolgt lediglich einkritisches Abnicken durch die Staatssekretärsrunde –,die Länder machen Einzelprojekte, und zur Freude vie-ler, die sich auf diesem Gebiet schon kennen, trifft mansich irgendwo im Urwald wieder.Joachim Günther
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1598 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Die F.D.P. möchte Sie, Frau Ministerin, auffordern,die gegenwärtige Krise der EU-Kommission zu nutzen,um für eine Neuordnung der Verhältnisse zwischen denEU-Staaten und in der EU selbst zu sorgen. Wir brau-chen eine klare Arbeitsteilung, die aufeinander richtigabgestimmt ist. Nicht über mehr finanzielle Mittel istmehr Einfluß zu erreichen, sondern durch politischeEntscheidungen. Man muß einmal den Mut haben, Posi-tionen in Weltbank, regionalen Entwicklungsbankenund anderen Entscheidungsgremien verstärkt mit deut-schem Personal zu bestücken bzw. dies zumindest zuversuchen.
Zusammengefaßt kann ich sagen, daß der Einzelplan 23noch nicht alle Möglichkeiten einer effektiven Ent-wicklungshilfe aufzeigt. Aber wir sichern zumindest un-sere Unterstützung zu.Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Carsten Hübner von der
PDS-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Mi-nisterin, nach der Durchsicht des Einzelplans 23 war ich– das möchte ich meinen Erörterungen gleich voranstel-len – doch ziemlich enttäuscht. Das hat vor allem damitzu tun, daß ich den meisten Äußerungen von Ihnen, FrauMinisterin, aus den letzten Monaten auch konzeptionellzustimmen konnte und ich es für unabdingbar im Sinneeiner nachhaltigen und solidarischen Entwicklung inallen Teilen der Welt halte, daß die bisherigen Struktu-ren der Entwicklungszusammenarbeit evaluiert und imSinne einer internationalen Strukturpolitik transformiertwerden.Gleiches gilt für die Frage der Schuldenpolitik und– um auch die EU-Ebene anzusprechen – für die laufen-den Verhandlungen im Rahmen des Lomé-Nachfolgeprozesses, wo aus Sicht der PDS ein deut-liches Zeichen gegen das Ansinnen gesetzt werden muß,die EU/AKP-Zusammenarbeit künftig über Freihandels-abkommen zu strukturieren. Natürlich fand auch dieVerpflichtung im Koalitionsvertrag unsere Zustimmung,dem international vereinbarten Ziel von 0,7 Prozent amBruttosozialprodukt für Maßnahmen der Entwicklungs-zusammenarbeit wieder näherkommen zu wollen undden bisherigen Abwärtstrend umzukehren. Denn die Erb-last der alten Bundesregierung mit einem Anteil von0,28 Prozent am Bruttosozialprodukt war nicht nuraußen- und entwicklungspolitisch ein Skandal; auch mo-ralisch war das eine Bankrotterklärung.
Aber welche Konsequenz haben Sie daraus gezogen –oder sollte ich sagen: ließ man Sie daraus ziehen, FrauMinisterin? Welche konkreten Schritte wurden einge-leitet, um der internationalen Verantwortung eines derreichsten Länder auch tatsächlich gerecht zu werden?Ich habe dabei nicht den entwicklungspolitischen Zau-berstab erwartet – das nicht! Was ich aber erwartet habe;war eine Gewichtsverlagerung in Ihrer Regierungspoli-tik, waren Phantasie und Kreativität und der Bruch zu-mindest mit einem Teil der bisherigen Konzepte und derbisherigen Praxis. Aber genau das ist leider nicht zu er-kennen: nicht im Haushalt und nur äußerst beschränkt inder Schuldenfrage. Was das Gewicht innerhalb der neuenRegierungspolitik betrifft, ist die Trendwende, wennüberhaupt, nur zu erahnen. Erinnern Sie sich etwa an dasunwürdige Gedränge Ihres Kollegen Fischer im Rahmender deutschen Delegation zur Ministerrunde in Dakar,das nicht nur zu einer merkwürdigen Kompetenzvertei-lung geführt hat, sondern das man auch als ein politi-sches Signal werten könnte: mehr Fischer und dafür we-niger Wieczorek-Zeul. Wenn das so sein sollte, bedauereich das sehr; das sage ich Ihnen ganz ehrlich.
Doch nun zum Haushalt. Auf Grund der kurzen Re-dezeit nenne ich nur Stichpunkte mit Beispielcharakter;denn die eigentlichen Debatten stehen in den nächstenWochen erst noch an.Erstens. Der Haushaltsansatz für 1999 bleibt trotzzunehmender regionaler Krisen, sich verschärfender Er-nährungsprobleme und dem sich verstetigenden Prozeßder wirtschafts-, entwicklungs- und infrastrukturpoliti-schen Abkoppelung großer Teile der sogenannten drittenWelt hinter dem Ist-Stand des Haushalts 1998 zurück.Selbst die Steigerung im Einzelplan 23 im Vergleichzum Soll für 1998 entspricht nicht einmal dem Wachs-tum des Gesamthaushaltes. Er fällt damit weiter zurück,wohl auch im Vergleich zum Bruttosozialprodukt. Ichkann meinem Kollegen von Schmude in dieser Frageleider nur recht geben.Zweitens. Insgesamt kann man zudem feststellen, daßnicht nur die Höhe des Haushalts, sondern auch seineStruktur nahezu gleichgeblieben ist, quasi Spranger-sche Handschrift trägt. Wo sind die neuen Ansätze, dieAlternativen? Wo bleibt Ihre politische Entschlossen-heit, mit der Sie in der Öffentlichkeit bisher für das An-liegen einer modernen und vor allem effizienteren Ent-wicklungszusammenarbeit und für die Korrektur bishe-riger Fehlentwicklungen aufgetreten sind, etwa wenn esum die Kritik der Politik der direkten und indirekten Ex-portförderung deutscher Unternehmen als wesentlichesElement der bisherigen Entwicklungszusammenarbeitgeht?Drittens. Was wurde aus Ihrem Anspruch in der Ko-alitionsvereinbarung, für die Reform und Stärkung derEntwicklungsprogramme der Vereinten Nationenmehr Verantwortung übernehmen zu wollen? Kürzungdes Beitrages für UNDP um 25 Prozent – bereits mehr-fach angesprochen –, leichte Kürzung für UNIDO, star-ke Einschnitte bei Beiträgen zur Globalen Umweltfazi-lität und keine Anhebung – auch das ist ein Signal – fürdas Frauenförderprogramm UNIFEM der UNDP, ob-wohl Sie doch zu Recht mehrfach darauf hingewiesenJoachim Günther
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haben, welche Bedeutung den Frauen im Rahmen ent-wicklungspolitischer Maßnahmen zukommt.Auch die Schrödersche Schuldeninitiative, die, be-vor sie auf dem G-7/G-8-Gipfel überhaupt eingebrachtwird, schon zahlreiche öffentliche Vorschußlorbeerenerhalten hat, ist als angekündigte Trendwende viel zuzaghaft, weil im Haushalt nur minimale Konsequenzengezogen wurden. Wie ist es etwa mit der Forderung un-ter anderem der Erlaßjahrkampagne, die haushaltsrecht-lichen Bestimmungen dergestalt zu verändern, daß auchunabhängig vom Pariser Club Schuldenerlasse bilateralvorgenommen werden können? Was ist mit den DDR-Schulden, die auch nach den heutigen Aussagen vonStaatssekretärin Eid auf einer WEED-/Terre-des-hommes-Veranstaltung ein Antagonismus sind?
Herr
Kollege, ich bitte, zum Schluß zu kommen.
Ich bin so gut wie fertig. –
Warum soll auch weiterhin der Schuldendienst an den
Finanzminister und nicht in einen Fonds für Projekte der
Armutsbekämpfung oder des Umwelt- und Ressourcen-
schutzes fließen? Wir werden diese Fragen im einzelnen
in den nächsten Wochen erarbeiten. Deshalb nur noch
einen Satz: Es gibt auch abseits der wirtschaftsliberalen
Globalisierungsdoktrin ein internationales Denken und
Handeln. Die Frage einer gerechten Weltwirtschafts-
ordnung steht neben der Menschenrechtsfrage in dessen
Zentrum. Diesem grenzüberschreitenden, solidarischen
Denken zum Durchbruch zu verhelfen muß Anspruch
unserer Entwicklungspolitik sein, oftmals auch erst wer-
den. Dabei steht die rotgrüne Bundesregierung in einer
hohen Verantwortung.
Vielen Dank.
Das
Wort hat der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!Auch wenn man es nicht hören will, muß es wiederholtwerden: Der Haushalt sackt gegenüber dem Ist des Jah-res 1998 ab. Ich kann das nicht ändern. Ich kenne dieSchwierigkeiten, sich mit dem Finanzminister zu unter-halten, aus eigener Erfahrung. Ich will das nicht weiterausbreiten. Aber zumindest, was den beamteten Staats-sekretär betrifft, befinden Sie sich in einer guten Konti-nuität. Wir hatten unsere Schwierigkeiten; Sie haben Ih-re Schwierigkeiten. Aber die Fakten sind nun einmal,wie sie sind. Deshalb müssen sie noch einmal wiederholtwerden: Der Einzelplan 23 1998 weist genau 7,916 Milli-arden DM aus; der jetzt vorliegende Haushaltsplan sieht7,8 Milliarden DM vor. Ich gebe zu, ich war in Mathe-matik schlecht; dennoch sind das 116 Millionen DMweniger. Das sind die Fakten. Von einer Steigerungkann also nicht die geringste Rede sein.Folgendes kommt hinzu. Die Sache mit STABEX istvöllig überflüssig. Herr von Schmude hat darauf hinge-wiesen, jetzt wird aus Ihrem Hause selbst – Frau Mi-nisterin, vielleicht sind Sie noch nicht darüber informiert– angeregt, die 100 Millionen DM nicht vorzusehen.Reden Sie darüber noch einmal mit dem Finanzminister,der dem BMZ etwas aufdrücken möchte, was überhauptnicht erforderlich ist. Ich wiederhole es: Tatbestand ist,daß die Mittel von der EU nicht benötigt werden. Wiesoll man dem deutschen Steuerzahler erklären, daß wirGeld überweisen, für das wir einen Kredit aufnehmenmüssen, das bei der EU auf die hohe Kante gelegt wird,und die EU dafür Zinsen bezieht? Das können Sie nie-mandem erklären.
Das sind die Fakten. Deshalb ist es auch nicht notwen-dig, die Summen entsprechend auszuweisen. Wir sindgerne bereit, uns über Zwischenschritte zu unterhalten.Auf jeden Fall werden wir beim EEF bei den Haus-haltsberatungen einen drastischen Kürzungsvorschlagunterbreiten.
Immer wieder klang heute durch, daß diskutiert wür-de, schrittweise den Anteil der multilateralen Ausga-ben am Haushalt zugunsten der bilateralen zurückzufüh-ren. Ich möchte alle Kollegen sehr sorgfältig daran erin-nern, daß es sich um einen gemeinsamen Beschluß desHaushaltsausschusses aus der vorletzten Legislaturperi-ode handelt. Es kann keine Rede davon sein, daß das einEinfall der damaligen Koalition gewesen sei; das war imdamaligen Haushaltsausschuß einvernehmlich beschlos-sen. Wenn man das ändern will, dann muß der Haus-haltsausschuß eine bestimmte Korrektur vornehmen.Auch sonst stimmt es nicht: Der Anteil des Multilate-ralen ist – durch manchmal sehr großzügige Zusagen desfrüheren Bundeskanzlers gegenüber den Franzosen – ge-rade im EEF nachhaltig angestiegen, so daß wir vondem Ziel, unter 30 Prozent zu kommen, noch weit ent-fernt sind. Wenn jetzt plötzlich im Zusammenhang mitdem UNDP geklagt wird, so muß ich sagen: Das hat unsin der Tat der Finanzminister der alten Regierung aufge-drückt. Aber warum haben Sie es nicht geändert? Siehaben doch angekündigt, wie wichtig Ihnen die multila-teralen Organisationen sind. Wenn man alles besser ma-chen will, kann von Erblast überhaupt keine Rede sein.Hätten Sie es doch besser gemacht! Sie haben es abernicht gemacht, also muß man Ihnen das entsprechendvorwerfen.Als nächstes möchte ich einen Bereich ansprechen,der uns große Sorgen macht und der auch im Haushaltdas eine oder andere widerspiegelt: Das ist die Situationin Afrika. Wir müssen feststellen, daß die Bundesregie-rung hilflos, zum Teil auch ratlos vor den Problemensteht, wobei ich einräume, daß niemand ein Patentrezeptzur Lösung der Probleme in Afrika hat. Im zuständigenFachausschuß ist aber zum Beispiel die präzise Frageder Opposition „Was machen Sie eigentlich, wenn diemilitärischen Interventionen einer Reihe von afrikani-schen Staaten fortgesetzt werden, mit der Entwicklungs-Carsten Hübner
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hilfe?“ nicht beantwortet worden. Simbabwe zum Bei-spiel sind sogar vor kurzem noch einmal 55 MillionenDM zugesagt worden. Wie soll man es dem deutschen,dem europäischen Steuerzahler oder überhaupt den Ar-men auf dieser Welt erklären, wenn Millionen undAbermillionen aus dem direkten und aus dem verdeck-ten Staatshaushalt eines Landes wie Simbabwe für einmilitärisches Abenteuer im Kongo bereitgestellt werdenund wir – möglicherweise nicht nur wir Deutschen allei-ne, sondern die internationale Gebergemeinschaft – dasim Haushalt ausgleichen? Darauf muß eine Antwort ge-geben werden. Die Bundesregierung verweigert bisherdiese Antwort.Wenn ein Staat wie Angola, dessen Erdöleinnahmenim offiziellen Staatshaushalt überhaupt nicht auftauchen,irgendwo militärisch interveniert, müssen daraus Kon-sequenzen für die entwicklungspolitische Zusammenar-beit gezogen werden. Auch darauf erwarten wir in ab-sehbarer Zeit eine Antwort der Bundesregierung.
Frau Ministerin, wir hatten Ihnen das Angebot zurkooperativen Zusammenarbeit gemacht. Im Grundsatzsteht dieses Angebot noch, es ist aber keine Einbahn-straße. Damit spreche ich ein etwas schwieriges Probleman. Was – „in Gottes Namen“ kann man in diesem Zu-sammenhang als Theologe nicht sagen – hat Sie eigent-lich geritten, gegen alle Gewohnheiten der Personalpoli-tik im BMZ bei der Neubesetzung der Abteilungsleiternicht einen einzigen CDU-Mann zu berücksichtigen?Die alte Administration hat immer einen RepräsentantenIhrer Partei berücksichtigt. Ich halte das für einen mie-sen Stil.
Überlegen Sie noch einmal, ob das die Voraussetzungfür eine konstruktive Zusammenarbeit ist.Bisher ist der Bereich der Entwicklungspolitik immernoch einer gewesen, der nicht in den klassischen partei-politischen Streit hineingezogen worden ist. Bisher istdie Zusammenarbeit im AWZ hervorragend, dafürmöchte ich mich bei allen Kollegen ausdrücklich bedan-ken. Ich darf aber auch die Bundesministerin bitten,durch ihre Personalentscheidung atmosphärisch einenBeitrag zu einer konstruktiven und soliden Zusammen-arbeit zwischen Opposition und Regierung zu leisten.
Ein Punkt sollte bei der grundsätzlichen Debatte überunsere Entwicklungspolitik noch angesprochen werden.Wir müssen in Zukunft stärker darauf achten, daß unserePartnerländer eine größere Eigenverantwortung über-nehmen.
Diesem Punkt haben wir seit vielen Jahrzehnten, auswelchen Gründen auch immer – ich will gar nicht an dieZeit des kalten Krieges zurückdenken, in der es macht-politische Überlegungen waren –, nicht die ausreichendeAufmerksamkeit gewidmet. Deshalb begrüße ich durch-aus, was Sie zu „good governance“ gesagt haben.Wir müssen darauf bestehen – anders macht Ent-wicklungshilfe keinen Sinn, und wird Entwicklung nichtmöglich –, daß unsere Partnerländer die Rahmenbedin-gungen, die Voraussetzungen für Entwicklung schaffen.Eine Frage müssen wir intensiver diskutieren: Ist eseigentlich unsere Aufgabe, in einem Schwellenland wiezum Beispiel Indien die Armutsbekämpfung mit deut-scher Entwicklungshilfe zu finanzieren, während diesesLand Geld für militärische Operationen hat und sichverweigert, selber eine durchgreifende Armutsbekämp-fung zu betreiben?
Mein Freund Christian Ruck sagt immer, wenn wirdiese Frage diskutieren: Wenn wir es nicht machen, wermacht es dann? Die machen es doch nicht. Dazu kannich nur sagen: Hier müssen alle politischen und sonsti-gen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um unserePartnerländer an ihre Eigenverantwortung zu erinnern.
Es kann nicht sein, daß ärmere Entwickungsländernicht die ausreichenden Ressourcen für die Befriedigungvon Grundbedürfnissen, für Basisgesundheitssysteme,für die Grundbildung und für die primitivsten Formenvon Wohnungsbau zur Verfügung stellen, obwohl siediese Ressourcen haben, während wir gleichzeitig in ei-nem zunehmenden Maße korruptive Strukturen in unse-ren Partnerländern feststellen müssen. Das heißt, wir ap-pellieren, die Eigenverantwortung unserer Partnerländerstärker als bisher zu einem Grundsatz unserer entwick-lungspolitischen Zusammenarbeit zu machen.Ein letztes kurzes Wort zur Verschuldung: Viel-leicht, Frau Ministerin, liegen wir gar nicht so weitauseinander. Auch wir sind dafür, daß der Schulden-berg abgetragen wird. Wir müssen aber sicherstellen,daß wir nicht im Jahre 2005 oder im Jahre 2010 dasgleiche Problem haben. Deshalb ist Voraussetzung, daßdie Länder sich in diesem Zusammenhang auf Situa-tionen beschränken, in denen Verschuldung wirklichsinnvoll ist.Herr Tietmeyer von der Deutschen Bundesbank hatin einem bemerkenswerten Aufsatz – ich kann Ihnen nurempfehlen, ihn nachzulesen – zu den ethischen und öko-nomischen Aspekten von Schuldenerlaß darauf hinge-wiesen – ich darf zitieren –: Es ist keineswegs sicher,daß ein genereller Schuldenerlaß tatsächlich die Bedürf-tigen erreichen würde. Was wir aber sicherstellen müs-sen, ist, daß Schuldenerleichterung die Armen erreichtund nicht die Korrupten.Herzlichen Dank.
DasWort hat erneut die Bundesministerin HeidemarieWieczorek-Zeul.Klaus-Jürgen Hedrich
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Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich habe jetzt nur zwei Mi-nuten Zeit, um einige Punkte richtigzustellen. Zunächsteinmal erspare ich mir Kommentare zu dem, was Siehier gesagt haben, Herr Hedrich. Denn es ist schon einegewisse Peinlichkeit, wenn diejenigen, die in den letztenJahren die politische Verantwortung getragen haben,sich hier hinstellen und den Eindruck vermitteln, es seialles völlig anders. Sie haben wirklich lange genug Zeitgehabt, etwas anders zu machen.
Ich möchte noch einmal fragen: Wo war eigentlichder Protest derjenigen, als der Waigel-Etat hier vorge-stellt worden ist und die UNDP-Kürzungen vorgelegtworden sind?
Ich möchte an die Adresse derer aus dem CDU-Lager,die hier gesprochen haben – ich danke der F.D.P. dafür,daß sie das hier sehr differenziert betrachtet hat –, sagen:In sechs Jahren ist der Entwicklungsetat, verglichen mitden anderen Etats, um 9 Prozent reduziert worden, unteranderem auch während Ihrer Regierungszeit. Das ist derEtat mit den umfangreichsten Kürzungen und Strei-chungen gewesen.Wer sich hier hinstellt und nicht ein Stück Eigenver-antwortung für die heutige Situation einräumt, der han-delt zutiefst unehrlich und heuchlerisch; das muß ichIhnen wirklich sagen.
Wir müssen das, was Sie über viele Jahre angerichtethaben, jetzt rückgängig machen. Dafür erwarte ich IhreUnterstützung und kein Herumgemäkel.Um es einmal klarzustellen: Nach dem VorschlagWaigels sollte der Anteil des Entwicklungshaushalts amGesamthaushalt 1,65 Prozent betragen. Nach unseremVorschlag liegt der Anteil des Entwicklungshaushaltsam Gesamthaushalt bei 1,7 Prozent.
Das ist die einzig präzise Aussage zu den Relationen,die man da treffen kann. Alles andere ist der Versuch,eine Sache schlechtzureden, die Sie selbst in Ihrer Re-gierungszeit nie hinbekommen haben.Dann möchte ich noch einiges zu den Zahlen sagen.Man kann natürlich nicht, wie es der eine oder anderegemacht hat, die Ist-Zahlen 1998 mit den Soll-Zahlen1999 vergleichen. Das ist ein Vergleich von Äpfeln undBirnen. Jeder weiß – zumindest auch Herr Hedrich –,daß in den Ist-Zahlen in diesem Bereich auch nicht ab-geflossene Mittel enthalten sind. Die Ist-Zahlen 1998und die Ist-Zahlen 1999 kann man vergleichen. Mankann aber nicht die Ist-Zahlen 1998 mit den Soll-Zahlen1999 vergleichen. Wer das tut, argumentiert nicht, son-dern versucht, Stimmung zu machen, und erweckt fal-sche Vorstellungen.Zum Schluß möchte ich etwas an die Adresse derje-nigen sagen, die Lomé angesprochen haben. Liebe Kol-leginnen und Kollegen, das Mandat für Lomé ist imletzten Herbst erteilt worden, also nicht zu Zeiten derjetzigen Bundesregierung, sondern zu Zeiten der frühe-ren. Ich bin gehalten, entsprechend diesem Mandat imRahmen der EU-Ratspräsidentschaft zu verhandeln.Man kann sich da auch etwas anderes vorstellen. Aberich bin gehalten, mich daran zu orientieren. Über jedeandere Frage zur Afrikapolitik, über Details zu Lomébin ich gern bereit zu diskutieren. Aber ich sage vorallem an die Adresse der CDU: Es ist mehr Ehrlichkeitund mehr Anstand im Umgang mit der Geschichte, dieSie beim Entwicklungshaushalt selbst zu verantwortenhaben, erforderlich.
Als
letzte Rednerin hat die Kollegin Adelheid Tröscher von
der SPD-Fraktion das Wort.
Bitte schön, Frau Tröscher.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Wie so oft findet die Debatte überEntwicklungspolitik zu später Stunde statt. Aber wirwissen, wie wichtig wir sind, und wir werden immerwichtiger.Wir wollen die Entwicklungspolitik entlang denLeitlinien einer globalen Strukturpolitik reformieren,weiterentwickeln und effizienter gestalten. Wir wollennatürlich auch die Eigenverantwortung stärken, HerrHedrich, die Korruption bekämpfen und „good gov-ernance“ belohnen. Um in diesen Politikbereich eineLeitlinie hineinzubringen, dazu hatten Sie allerdings vielZeit. Die neue Bundesregierung hat Wort gehalten. Wirsind stolz darauf, daß hier einiges gelungen ist, und sindauch zuversichtlich, daß noch Weiteres auf den Weg ge-bracht werden wird.Als einen ganz zentralen Punkt ihrer Arbeit haben dieKoalitionsparteien vereinbart, den Abwärtstrend desEntwicklungshaushaltes umzukehren und vor allem dieVerpflichtungsermächtigungen kontinuierlich und maß-voll zu erhöhen. Auch in diesem Punkt haben wir Wortgehalten. Wir haben den Abwärtstrend des Einzelplans 23gestoppt und die Grundlage für den Aufwärtstrend ge-legt. Vor allen Dingen wollen wir Klarheit in den Haus-halt bringen, also die Schattenhaushalte auflösen, damitwir wirklich mit den Zahlen rechnen können, die derHaushaltsplan ausweist.
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1602 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Wir haben die systematischen Kürzungen der altenBundesregierung im Einzelplan 23 gestoppt, die Mittelinsgesamt erhöht und die Eingriffe vor allem bei denVerpflichtungsermächtigungen beendet. Das ist ein gu-tes und richtiges Signal der neuen Bundesregierung anunsere Partnerländer im Süden und im Osten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, von besondererRelevanz ist auch, daß die Aufsplittung der entwick-lungspolitischen Aufgaben in unterschiedlichen Ressortsnunmehr aufgehoben wird und hier für mehr Kohärenzgesorgt werden kann.Das BMZ – darum beneiden uns einige in der CDUsehr – ist insgesamt gestärkt worden. Dies war auchdringend erforderlich. Wir machen wieder eine globaleStrukturpolitik, was in den letzten Jahren nicht der Fallwar.
Die neue Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt,die globalen Rahmenbedingungen inhaltlich mitzugestal-ten und ihre Aufgaben und Verpflichtungen im Rahmenvon multilateralen Institutionen wie der Weltbank, desIWF und der Vereinten Nationen verstärkt wahrzunehmenund zu intensivieren. So wurde beispielsweise – das istauch schon gesagt worden – die Ausstattung des afrikani-schen Entwicklungsfonds um rund 100 Millionen DM er-höht. Das ist, wenn wir gerade an den afrikanischen Kon-tinent denken, von ganz besonderer Bedeutung. Außer-dem werden erstmals 50 Millionen DM für die Entschul-dungsinitiative der Weltbank ausgewiesen, und zur Er-füllung des Montrealer Protokolls werden ebenfalls weite-re Mittel bereitgestellt.So etwas nennen wir eine Stärkung der multila-teralen Zusammenarbeit. Sie können davon ausgehen,daß die neue Bundesregierung die Effizienz der multi-lateralen Finanzierungsmaßnahmen durch entwicklungs-und sozialverträgliche Strukturanpassungsprogrammeund durch eine bessere Verzahnung mit den bilateralenProgrammen erhöhen wird. Daran hat es in der letztenZeit gefehlt.
Noch ein Wort zu UNDP: Wir haben stets betont, daßwir für eine Reform und eine Stärkung der Entwick-lungsprogramme der Vereinten Nationen eintreten. Diesist und bleibt so. Wieviel Mittel nun an UNDP fließen,werden die laufenden Haushaltsberatungen zeigen. Un-sere Haushälter haben signalisiert – wir haben das mitgroßer Freude wahrgenommen –, daß sie in diesemPunkt geprächsbereit sind.
Wir hoffen, daß dabei eine Erhöhung um 25 MillionenDM herausspringt. Wir werden auf jeden Fall daran ar-beiten und zusammen mit den Haushältern ganz be-stimmt eine Lösung finden, die auch UNDP gefallenwird. In den zukünftigen Haushalten werden die UNDP-Mittel erhöht werden. Eine Zusammenarbeit mit UNDPkann auch unserer eigenen bilateralen Entwicklungs-politik nur guttun.
Sie haben von den Altlasten gehört, die wir zu tragenhaben. Wir bleiben aber bei unserem Ziel, unser Engage-ment bei den internationalen Organisationen zu verstär-ken, wobei, wie gesagt, UNDP besonders zu erwähnenist. Das, was Sie, meine Damen und Herren von der Op-position, in den letzten Jahren unter anderem bei UNDPgekürzt haben, werden wir wieder rückgängig machen. Inden letzten zwei Jahren waren es allein 45 Millionen DM;das ist natürlich schon ein stolzer Betrag.In der Koalitionsvereinbarung hatten SPD und Grüneweiterhin festgelegt, daß wir das Bewußtsein für inter-nationale Zusammenhänge stärken wollen und deshalbein besonderes Gewicht auf die entwicklungspolitischeArbeit der NROs, der Nichtregierungsorganisationen,legen und deren Arbeit verstärkt fördern wollen. ImRahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeitkommt nämlich den NROs eine hohe Bedeutung zu. Wirhaben das wiederholt gesagt, und ich sage es fast in je-der Rede. Ich denke, die NROs sind in der Entwick-lungszusammenarbeit unverzichtbar.
Ihre der Partnerschaft verpflichtete Arbeit zielt daraufab, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und die vorhandenenPotentiale der Partner in den Entwicklungsländern zunutzen. Ich möchte deswegen an dieser Stelle auch ein-mal all jenen kirchlichen Organisationen und den politi-schen Stiftungen, lokalen wie überregionalen Organisa-tionen und all den vielen Nord-Süd-Foren meinenbesonderen Dank und meine Anerkennung für die vonihnen täglich geleistete Arbeit aussprechen.
Wir müssen unsere Anstrengungen intensivieren, dieBevölkerung durch Informations- und Bildungsarbeitüber die Zusammenhänge internationaler Politik undInteressen Deutschlands aufklären. Demokratie lebt un-ter anderem auch vom Vertrauen der Bürger in die Qua-lität politischen Handelns. Ich bin deshalb sehr dankbar,daß die neue Bundesregierung die Mittel für die kon-krete Projektarbeit der privaten Träger erhöht hat, daßvor allem der Ansatz bei der Inlandsarbeit für die ent-wicklungspolitische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeitgegenüber 1998 – da war der Abwärtstrend besondersdrastisch – um fast 40 Prozent erhöht wird. Wir werdendas in den nächsten Jahren kontinuierlich weiter tun.Dies ist ein guter Schritt in die richtige Richtung undwird die Zusammenarbeit mit den NROs stärken helfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegendeEinzelplan 23 ist ein überzeugender Schritt in die rich-Adelheid Tröscher
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1603
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tige Richtung, Entwicklungspolitik zu einer globalenStrukturpolitik weiterzuentwickeln und aufzuwerten.Insgesamt kann man sagen: Die Mittel sind erhöht wor-den, das Ministerium wurde gestärkt, und die richtigenSchwerpunkte wurden gesetzt.Ich danke Ihnen.
WeitereWortmeldungen liegen nicht vor.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Donnerstag, den 25. Februar,9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.
Adelheid Tröscher
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1594 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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den DM. Jetzt wollen Sie nur noch 2,289 Milliarden DMansetzen. Das ist nicht zu akzeptieren.Für die nächsten Jahre wollen Sie außerdem auf1,5 Milliarden DM Forderungen verzichten.Vorrangig sollte nach meiner Meinung von dem In-strument der Umwandlung von Schulden in nationaleMaßnahmen zur Armutsbekämpfung usw. Gebrauchgemacht werden. Hier haben wir gesehen, daß die hier-für bereitgestellten 210 Millionen DM erstmalig 1998fast voll ausgeschöpft wurden. Sie haben unsere Unter-stützung, wenn es darum geht, diesen Titel auszuweiten;da sind wir dabei.Die Mittel für die Technische Zusammenarbeit sindleicht erhöht worden, aber auch hier besteht eine Täu-schung. Wir haben jetzt 1,165 Milliarden DM; 1998 wa-ren es tatsächlich 1,151 Milliarden DM. Wir wollen, daßdieser Titel aufgestockt wird. Ich werde dazu noch einenDeckungsvorschlag machen.Die Verbundfinanzierung ist um 500 Millionen DMerhöht worden. Das begrüßen wir, aber das haben wirbereits im eigenen Regierungsentwurf so vorgesehen.Nun komme ich zu den europäischen Zahlungen.Diese Bundesregierung sagt immer: Wir zahlen zuvielan Europa. Ja, wir zahlen zuviel an Europa; wir zahlenauch jetzt zuviel. Die STABEX-Beiträge sind noch garnicht fällig, aber sie werden voreilig zurückgeführt. Ihreigener Staatssekretär legt den Berichterstattern ein Pa-pier auf den Tisch, nach dem man auch ganz anders ver-fahren könnte. Ich könnte Ihnen das im einzelnen vor-tragen, aber mir fehlt hier die Zeit. Er sagt, man könnebeispielsweise in diesem Jahr 75 Millionen DM odernoch weniger zurückführen. Wir haben hier keinenHandlungszwang, so schnell zu reagieren.Ich sage Ihnen auch: Die Mittel für die Programmedes EEF sind viel zu hoch veranschlagt. 1998 hatten wirsie 12 Millionen DM zu hoch, 1997 238 Millionen DMzu hoch und 1996 sogar 420 Millionen DM zu hoch ver-anschlagt. Vor dem Hintergrund der schleppenden Pro-grammittelumsetzung in Brüssel werden wir Kürzungenin diesem Titel zugunsten der FZ und der TZ sowie zu-gunsten von UNDP fordern.
Skandalös ist die Tatsache, daß Brüssel jetzt von unsSTABEX-Beiträge zurückgezahlt bekommt, für derenStundung wir allerdings Zinsen zahlen müssen.
Aber die Europäische Union braucht dieses Geld garnicht. Sie legt es bei den Banken als Termingeld an. Dasmuß dem deutschen Steuerzahler einmal vermittelt wer-den.
Da bin ich der Meinung, Sie sollten Ihren Kanzler auf-fordern, hier als EU-Ratspräsident für Abhilfe zu sorgen.Ich sage Ihnen ebenfalls, daß beim EEF-Titel nichtsauber gearbeitet wurde, auch seitens des BMF. Hierwird als Wechselkurs jetzt der offizielle Euro-Kurs von1,95583 zugrunde gelegt. Die alte Bundesregierungmußte noch schätzen. Sie hat ihn mit 1,97632 geschätzt.Aber an der Gesamtsumme hat sich im Entwurf nichtsgeändert. Das heißt, Sie haben jetzt 10 Millionen DMLuft in diesem Titel. Diese muß abgelassen werden.Entweder macht das der Finanzminister, oder wir sorgengemeinsam dafür, daß das Geld dem Haus durch Um-schichtung erhalten bleibt. Ich bin dabei.Unzureichend ist natürlich auch der Ansatz für dieExpo. Sie haben hier nur 30 Millionen DM vorgesehen,aber 45 Millionen DM müßten es sein. Darüber hinauslegt die Bundesregierung fest, daß es für die Expo keineVerpflichtungsermächtigung geben soll. Wir haben abereine Bundesbürgschaft beschlossen, und es ist so gut wiesicher, daß diese Bürgschaft in Anspruch genommenwerden muß. Wir lassen das durch den Rechnungshofund auch durch andere prüfen. Hier liegt ein Verstoßgegen geltendes Haushaltsrecht vor. Wenn erkannt wird,daß eine Bürgschaft gefährdet ist, muß eine Verpflich-tungsermächtigung ausgebracht werden.Ich weise ausdrücklich darauf hin, daß wir dies sonicht hinnehmen können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Haushalt hatversteckte und offenkundige Mängel. Neue Akzente sindkaum erkennbar. Der Wille zum Sparen ist ebensowenigzu spüren wie das Ausnutzen von Möglichkeiten, denEinzelplan effizienter und effektiver zu machen. Einenegative Signalwirkung geht von diesem Haushalt fürdie deutsche Entwicklungshilfe aus.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Antje Hermenau von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schmu-de, haben Sie einen Zwillingsbruder? Die Zeiten ändernsich; wir ändern uns in ihnen. Das will ich Ihnen zubilli-gen. Aber heute haben Sie mich einigermaßen verblüf-fen können. Aber zumindest weiß ich jetzt aus Ihrer Re-de, was Sie in den nächsten zehn Monaten zu machengedenken. Sie bewegen sich auf der Suche nach denSchnupperpreisen, den 124 Millionen DM, die Sie ir-gendwo versteckt vermuten. Aber reden wir über diesenEtat. Ich gehe auf bestimmte Punkte, die Sie gebrachthaben, gerne ein.In den letzten Jahren ist das Bemühen darum, in derschwierigen Lebenswelt vieler Bürger in diesem LandeVerständnis dafür zu finden und um Verständnis dafürzu werben, wie wichtig die entwicklungspolitische Zu-sammenarbeit ist, von Ihnen kontinuierlich verachtetworden. Sie haben sich dem nicht gestellt, obwohl dasMichael von Schmude
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Aufkommen an Spenden aus privaten Vermögen derBürgerinnen und Bürger eine Ermutigung dargestellthätte, diese Debatte offensiv und nicht defensiv zu füh-ren.
Reden wir über die Erblasten dieses Etats. Ich bin Ih-nen, Herr Kollege von Schmude, übrigens dankbar da-für, daß Sie selbst auf eine ganze Reihe von schwierigenVerhaltensweisen des vorigen Finanzministers aufmerk-sam gemacht haben, die in dieser Deutlichkeit von IhrerFraktion bisher noch nie zur Sprache gebracht wordensind.Sprechen wir zum Beispiel über das Verhältnis vonmultilateraler und bilateraler Zusammenarbeit. Inden letzten Jahren bestand, von Ihnen konservativ-politisch vorgeschlagen, die Tendenz, mehr und mehraus der multilateralen in die bilaterale Zusammenarbeitzu wechseln, weil die Kontrolle besser ist, und zwar indoppelter Weise. Auf der einen Seite sei es uns somöglich, die europäischen Partner unter Kontrolle zuhalten, die das Geld sowieso nur verschlampten; aufder anderen Seite sei in der bilateralen Zusammenar-beit die Kontrolle über die Empfängerländer besser.Die Frage ist, wohin dieser Standpunkt führt. Er hat si-cherlich auf der einen Seite dazu geführt, daß wir eineReihe von finanzpolitischen Instrumenten in der bilate-ralen Zusammenarbeit verschärfen und präzisierenkonnten; das halte ich für gelungen. Er hat aber auf deranderen Seite dazu geführt, daß wir uns aus unserereuropäischen Verantwortung in der multilateralen Zu-sammenarbeit verabschiedet haben, und zwar, wennSie mich fragen, mehr aus Knauserigkeit als aus politi-schen Gründen.Jetzt ist eine Pendelbewegung nötig. Oder hat sichDeutschland aus der Debatte in der Europäischen Unionverabschiedet, als man für die Währungsunion gesorgthatte? Hat man gesagt, jetzt mag Europa werden, wie eswill; wir nehmen nicht mehr gestaltend an den Debattenin Europa teil? – Doch wie wollen wir an der Gestaltungder Debatten teilnehmen, wenn wir uns weigern, unserePflichtbeiträge zu zahlen? Dieser Zusammenhang mußhergestellt werden. Es war ziemlich wohlfeil, im Wahl-kampf zu behaupten, jetzt werde alles anders, man wer-de jetzt die multilaterale Hilfe aufstocken; selbst dieKonservativen haben das gesagt.Die 75 Millionen DM, die jetzt für UNDP vorgese-hen sind, sind eine der traurigen Erblasten dieses Etats.
Ich denke, es ist möglich, noch einmal daran zu arbeiten.Wir werden sehen, wie die Haushaltsberatungen imParlament verlaufen. Ich halte es nicht für ausgeschlos-sen, daß wir da noch Verbesserungen erreichen.Aber ich möchte auf eines hinweisen: Es wird immerwieder versucht, einen Konflikt zwischen denjenigen,die als entwicklungspolitische Fachpolitiker gelten, unddenjenigen, die als haushaltspolitische Fachpolitikergelten, herzustellen. Damit möchte ich konstruktiv auf-räumen. Ich halte das für falsch.
Wenn es den Finanzpolitikern nicht gelingt, entwick-lungspolitische Schwerpunktsetzungen zu verstehen, esaber andererseits den Entwicklungspolitikern nicht ge-lingt, sich mit der finanzpolitischen Verantwortung fürdas Ganze auseinanderzusetzen, dann werden wir weitergroße Reibungsverluste in der parlamentarischen Arbeithaben. Aber es geht auch anders, und ich hoffe, daß dasin den Beratungen des 99er Haushaltes spürbar zu wer-den beginnt. Ich hoffe sehr, daß angesichts der schwieri-gen strukturellen Veränderungen, die wir in den näch-sten vier Jahren gerade in diesem Etat vornehmen müs-sen, die Zusammenarbeit fruchtbar verläuft.Da sind wir wieder bei den Erblasten aus dem altenEtat. Denken wir zum Beispiel an die Pipeline bei denVerpflichtungsermächtigungen. Da kann man hiernatürlich groß vom Leder ziehen und sagen: Dieser undjener Baransatz fehlt; da und dort müßten noch 10 Mil-lionen DM hinzugefügt werden. Sie selber, Herr Kollegevon Schmude, wissen, wie sich die Abwärtsschraube derVerpflichtungsermächtigungen in den letzten Jahren ge-dreht hat.Für diejenigen, die nicht wissen, was eine Verpflich-tungsermächtigung ist: Das ist das Vorhaben einer Geld-ausgabe für das nächste und das übernächste Jahr. Manverpflichtet sich sozusagen, in den Folgejahren soundsoviel für etwas auszugeben. Die Höhe dieser Verpflich-tungsermächtigungen wurde immer weiter herunterge-schraubt. Dann waren im folgenden Jahr auch wenigerBarmittel eingestellt worden, weil ja die Höhe der Ver-pflichtungsermächtigung geringer war, und dann hatsich die Schraube immer weiter nach unten gedreht.Mit dieser sehr linearen, sehr einfachen und wenigkonfliktfähigen Haushaltstitelverwaltung, mit einemEtat, der jahrelang an einem Tropf gehangen hat, trauenSie sich jetzt hier in die Debatte und versuchen, uns dieschwierigen Bemühungen, diesen Etat strukturell wiederlebensfähig und nachhaltig zu machen, vor die Füße zuwerfen. Sie bemühen sich überhaupt nicht, sich an einerVerbesserung konstruktiv zu beteiligen.
Sich über ein unerwartetes Problem wie die STA-BEX-Beiträge herzumachen, das ist schon frech undbraucht eine gewisse Chuzpe. Sie wissen ganz genau,daß diese Beiträge in den letzten Jahren nicht abgefor-dert wurden und daß sie zum Wohl des Gesamthaushal-tes, aber nicht zum Wohl des BMZ verwendet wordensind. Insofern ist in der Sache durchaus eine Bringschulddes Gesamthaushaltes festzustellen.Die Frage, was machbar ist, müssen wir aber im De-tail besprechen. Ich werbe in dieser Diskussion dafür,daß wir sehr konstruktiv versuchen, die strukturellenDefizite, die Sie über Jahre aufgehäuft haben, Schritt fürAntje Hermenau
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1596 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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Schritt und Jahr für Jahr abzubauen und diesen Haushaltlebensfähiger zu machen. Ich weiß, daß es in der ent-wicklungspolitischen Gemeinde eine große Ungläubig-keit darüber gibt, ob das ernstgemeint sein kann. Sieschüren das auch noch auf verantwortungslose Art.
Ich bin der Meinung: Wenn wir es jetzt nicht schaf-fen, diesen Haushalt nachhaltig und strukturbildend zugestalten, dann verpassen wir wirklich die Chance, diedie entwicklungspolitische Zusammenarbeit auch fürDeutschland verheißt.An dieser Stelle möchte ich auf die Instrumente ein-gehen, die wir zur Verfügung haben. Es gibt ja – das istzu Recht so festgestellt worden – zwei gegenläufigeEntwicklungen: Die eine betrifft Länder, deren Situationsich wirtschaftlich deutlich verbessert und die zuSchwellenländern werden und mehr und mehr ohne un-sere Unterstützung auskommen oder andere Formen un-serer Unterstützung, die durch mehr Eigenverantwor-tung gekennzeichnet sind, in Anspruch nehmen können.Die andere betrifft die Länder, die aus der Verschul-dungsfalle nicht herauskommen und noch mehr verar-men. Diese beiden Tendenzen sind vorhanden. Zur Un-terstützung dieser Länder gibt es Instrumente, wobei wires jetzt in Angriff nehmen müssen, diese Instrumente zumodernisieren, zu verfeinern und zu differenzieren.Sprechen wir über die finanzielle Zusammenarbeit.Wir sollten die Möglichkeiten der finanziellen Zusam-menarbeit – das sage ich hier in aller Klarheit – berei-chern und erweitern. Denn die kärglichen Möglichkeitendes Bundesetats werden auf Dauer nicht ausreichendsein. Ich stehe für eine konstruktive Debatte über eineVerbundfinanzierung bereit. Ich bin der Meinung, daßwir im Bereich der finanziellen Zusammenarbeit mitSchwellenländern dieses Mittel durchaus deutlich stär-ker ausschöpfen können, als dies in den letzten Jahrengeschehen ist.Ich bitte darum, daß wir uns nicht mehr mit einer ge-wissen falschen Scham dahinter verstecken, um Gotteswillen keine wirtschaftlichen Interessen mit der Ent-wicklungszusammenarbeit verbinden zu wollen. Ich fin-de, es ist Zeit für eine neue Ehrlichkeit, die darin be-steht, daß man zugibt: Es gibt Länder, bei denen wir vonchristlicher Nächstenliebe und menschlicher Solidaritätsprechen. Da wird es sicherlich ein Unding sein, vonwirtschaftlichen Interessen zu sprechen. Aber es gibtauch Schwellenländer, wo gemeinsame wirtschaftlicheInteressen auch gemeinsam wahrgenommen und ausge-handelt werden können.
Diese Debatte werden wir in den nächsten Jahren füh-ren. Denn wenn es uns gelingt, die finanzielle Zusam-menarbeit mehr und mehr in den wirtschaftlichen Sektoreinzufügen, dann haben wir wieder Luft für eine Stabili-sierung der technischen Zusammenarbeit. Die, glaubeich, ist dringend geboten. Wir müssen die technischeZusammenarbeit stabilisieren. Das soll in den nächstenvier Jahren der Trend sein.Ich möchte folgendes zum Schuldenerlaß, der hiervon konservativer Seite kritisiert worden ist, sagen: Wiekönnen wir denn den in Deutschland entwickelten Maß-stab der Haushaltssanierung, der darin besteht, nach undnach die Verschuldung abzubauen – wir haben deutlichgesagt, daß das eines unserer wichtigsten Ziele ist; dennwir denken auch an unsere Kinder und an die Nachhal-tigkeit auf diesem Gebiet –, nicht auf die Entwicklungs-länder übertragen, indem wir ihnen zumuten, neue Gel-der aufzunehmen und uns die Zinsen für ihre Schuldenbei uns zu zahlen?
Ich möchte noch auf ein letztes Beispiel eingehen:Vielleicht wissen die einen oder anderen, daß die Öko-bank ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert hat. Wenn esetwas gibt, was wir aus dem zehnjährigen Bestehen derÖkobank lernen können, dann ist es das, daß man nichtunbedingt auf eine Rendite verzichten muß. Wir spre-chen nicht immer nur vom „Gutmenschentum“, wie Siees immer diffamieren. Vielleicht könnte man sich ja auf-raffen, zugunsten ökologischer und sozialer Ziele auf diehöchstmögliche Rendite zu verzichten.Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Joachim Günther von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit großemInteresse habe ich in unserer ersten Ausschußsitzung alsNeuer in diesem Ausschuß Ihre Ausführungen, FrauMinisterin, verfolgt, und ich habe mir gesagt: Donner-wetter, jetzt versucht sie, aus dem BMZ wieder ein rich-tiges Ministerium zu machen, das heißt, wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklungspolitik sollen nichtals notwendiges Übel betrachtet werden. So haben Siedas dargestellt.Ihre Hauptpunkte waren, die Entwicklungspolitikmüsse in den Kernbereich von Politik gestellt und dortverankert werden; es gehe um die Bündelung der ent-wicklungspolitischen Aufgaben – die Federführung beiden Verhandlungen von Lomé soll also beim BMZ lie-gen; das soll auch für den gesamten Bereich der Trans-form-Programme für Osteuropa gelten –, und andereTeilbereiche, die verstreut in anderen Ministerien ange-siedelt sind, wollen Sie zurückholen. Gemessen an denguten Absichten, ist der Haushaltsansatz mit seiner Stei-gerung um 1,8 Prozent – wenn ich das, was Herr vonSchmude gesagt habe, hinzunehme, muß ich sagen, daßdieser Haushaltsansatz unter dem des letzten JahresAntje Hermenau
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bleibt – noch nicht ein Ergebnis, das diesen ersten An-kündigungen entspricht.
Ich weiß ja auch, wie schwierig solche Verteilungs-kämpfe sind. Aber daß die Entwicklungszusammen-arbeit in dem vom Bundespresseamt herausgegebenenArbeitsprogramm der Bundesregierung für 1999 mitüberhaupt keinem Wort erwähnt wird, das finde ichschon bedenklich. Wir möchten Sie dabei unterstützen,wenn Sie Ihr Ressort wieder im Kernbereich von Politikverankern wollen.
Es gibt aber auch Festlegungen Ihrer Regierung,deren Interpretation mir größte Schwierigkeiten bereitet.So sprechen Sie von einer Aufwertung der Entwick-lungspolitik zu einer globalen Strukturpolitik, undgleichzeitig lassen Sie die zur Wahrnehmung dieserAufgaben zur Verfügung stehenden Planstellen zum31. Dezember 2000 entfallen. Das ist eigentlich un-glaubwürdig. Wenn jetzt auch noch der deutsche Beitragzum UN-Entwicklungsprogramm – Sie haben es zwarvorhin mit Altlasten begründet – um 25 Prozent gekürztwird, dann steht das eigentlich im Widerspruch zu IhremKoalitionsvertrag,
in dem eine eindeutige Stärkung des UN-Entwick-lungsprogramms angekündigt wird. Abgesehen davon,daß hierdurch das Ansehen Deutschlands als eines zu-verlässigen Partners der Entwicklungsländer geschädigtwird, wäre die Kürzung auch entwicklungssystematischein Fehler.Daß international koordinierte Entwicklungshilfe ef-fizienter ist als eine Vielzahl von bilateralen Ansätzen,ist eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der letzten Zeit,und deshalb wäre nicht eine Streichung, sondern eineErhöhung des deutschen Beitrags – Sie haben davon ge-sprochen, daß Sie das pro Jahr um 100 Millionen DMaufstocken wollen, wenn ich Sie richtig verstanden habe– ein Gebot der Stunde. Darüber hinaus ist offensichtlichübersehen worden, daß Sie mit diesen Kürzungsplänenauch das in Bonn angesiedelte UN-Freiwilligenpro-gramm, eine Unterorganisation des UNDP, indirekttreffen.Im übrigen wäre die Bundesregierung gut beraten,wenn sie ihre Koordinierungsrolle im Rahmen der deut-schen EU-Präsidentschaft bei den Verhandlungen überdie zukünftige Entwicklungszusammenarbeit der Euro-päischen Union mit den AKP-Ländern nicht durch Kür-zungen belasten würde.
Unsere Partner erwarten, daß von der deutschen EU-Präsidentschaft entscheidende Impulse für die laufendenVerhandlungen ausgehen. Bisher sind noch keine klarenStandpunkte erkennbar,
und wir müssen die Gestaltung einer zukünftigen euro-päischen Entwicklungspolitik deutlicher erkennbar wer-den lassen.Dem von Außenminister Fischer bei der EU/AKP-Ministerkonferenz am 8. Februar 1999 in Dakar ange-kündigten neuen Schub für die Verhandlungen müssenjetzt Taten folgen. Sie haben gesagt: bis Jahresende. Dasheißt, wir brauchen ein umfassendes Reformkonzept,das durch die deutsche EU-Präsidentschaft unterstütztwird.Neben der Armutsbekämpfung sollte dabei vor allemder Stärkung der Eigeninitiative Vorrang eingeräumtwerden. Voraussetzung hierfür sind rechtsstaatlicheRahmenbedingungen, Wettbewerb, Privatisierungen, diewirksame Bekämpfung von Korruption und die Her-stellung von Bedingungen für einen freien Handel. Siehaben gesagt, daß verantwortungsvolle Staatsführungein wichtiges Thema der nächsten Zeit ist. Das ist rich-tig; denn verantwortungsvolle Staatsführung, Eigen-initiative und freier Handel haben im Endeffekt für diedritte Welt eine viel größere Bedeutung als die gesamteöffentliche Entwicklungshilfe. Die F.D.P.-Fraktion wirddaher einen eigenen Antrag zur europäischen Entwick-lungspolitik einbringen. Im Mittelpunkt stehen dabei dieStärkung der Eigenverantwortlichkeit, die Rechtsstaat-lichkeit und eine marktwirtschaftlich orientierte Wirt-schafts- und Handelspolitik.Aus den vier Jahrzehnten der Entwicklungspolitikhaben wir gelernt, daß reine Ressorttransfers und neueVerteilungsmechanismen das Ziel einer nachhaltigenEntwicklung eher behindern. Die zur Verfügung stehen-den Mittel müssen vorrangig zur Förderung von nach-haltiger Eigeninitiative eingesetzt werden. StaatlicheEntwicklungspolitik sollte in ihrer Rahmenplanung ne-ben dem multilateralen Ansatz in erster Linie auf dieKooperation mit der Privatwirtschaft setzen.Das beachtliche entwicklungspolitische Potential wirt-schaftlicher Investitionen muß stärker gefördert werden.Es ist selbstverständlich, daß eine so verstandene echtewirtschaftliche Zusammenarbeit für beide Seiten vonNutzen sein muß. Ebenso selbstverständlich sollte esdaher sein, daß die finanzielle staatliche Flankierung derZusammenarbeit zumindest dort, wo es möglich ist, mitentsprechenden Lieferbindungen verbunden wird.Warum zum Beispiel sollten Wasserpumpen für deut-sche Bewässerungsprojekte in der Sahelzone nicht auchin Deutschland gekauft werden? Für unsere britischenund französischen Partner ist es eine Selbstverständlich-keit, daß der Einsatz derartiger Mittel auch der heimi-schen Wirtschaft zugute kommt.
In Zeiten knapper Kassen gilt es, über die Entwick-lungspolitik generell nachzudenken. 60 Prozent derWeltwirtschaftshilfe kommen aus Europa. Um es ausmeiner Sicht zu sagen: Jeder kocht sein eigenes Süpp-chen. Die EU vergibt Projekte – es erfolgt lediglich einkritisches Abnicken durch die Staatssekretärsrunde –,die Länder machen Einzelprojekte, und zur Freude vie-ler, die sich auf diesem Gebiet schon kennen, trifft mansich irgendwo im Urwald wieder.Joachim Günther
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Die F.D.P. möchte Sie, Frau Ministerin, auffordern,die gegenwärtige Krise der EU-Kommission zu nutzen,um für eine Neuordnung der Verhältnisse zwischen denEU-Staaten und in der EU selbst zu sorgen. Wir brau-chen eine klare Arbeitsteilung, die aufeinander richtigabgestimmt ist. Nicht über mehr finanzielle Mittel istmehr Einfluß zu erreichen, sondern durch politischeEntscheidungen. Man muß einmal den Mut haben, Posi-tionen in Weltbank, regionalen Entwicklungsbankenund anderen Entscheidungsgremien verstärkt mit deut-schem Personal zu bestücken bzw. dies zumindest zuversuchen.
Zusammengefaßt kann ich sagen, daß der Einzelplan 23noch nicht alle Möglichkeiten einer effektiven Ent-wicklungshilfe aufzeigt. Aber wir sichern zumindest un-sere Unterstützung zu.Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Carsten Hübner von der
PDS-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Mi-nisterin, nach der Durchsicht des Einzelplans 23 war ich– das möchte ich meinen Erörterungen gleich voranstel-len – doch ziemlich enttäuscht. Das hat vor allem damitzu tun, daß ich den meisten Äußerungen von Ihnen, FrauMinisterin, aus den letzten Monaten auch konzeptionellzustimmen konnte und ich es für unabdingbar im Sinneeiner nachhaltigen und solidarischen Entwicklung inallen Teilen der Welt halte, daß die bisherigen Struktu-ren der Entwicklungszusammenarbeit evaluiert und imSinne einer internationalen Strukturpolitik transformiertwerden.Gleiches gilt für die Frage der Schuldenpolitik und– um auch die EU-Ebene anzusprechen – für die laufen-den Verhandlungen im Rahmen des Lomé-Nachfolgeprozesses, wo aus Sicht der PDS ein deut-liches Zeichen gegen das Ansinnen gesetzt werden muß,die EU/AKP-Zusammenarbeit künftig über Freihandels-abkommen zu strukturieren. Natürlich fand auch dieVerpflichtung im Koalitionsvertrag unsere Zustimmung,dem international vereinbarten Ziel von 0,7 Prozent amBruttosozialprodukt für Maßnahmen der Entwicklungs-zusammenarbeit wieder näherkommen zu wollen undden bisherigen Abwärtstrend umzukehren. Denn die Erb-last der alten Bundesregierung mit einem Anteil von0,28 Prozent am Bruttosozialprodukt war nicht nuraußen- und entwicklungspolitisch ein Skandal; auch mo-ralisch war das eine Bankrotterklärung.
Aber welche Konsequenz haben Sie daraus gezogen –oder sollte ich sagen: ließ man Sie daraus ziehen, FrauMinisterin? Welche konkreten Schritte wurden einge-leitet, um der internationalen Verantwortung eines derreichsten Länder auch tatsächlich gerecht zu werden?Ich habe dabei nicht den entwicklungspolitischen Zau-berstab erwartet – das nicht! Was ich aber erwartet habe;war eine Gewichtsverlagerung in Ihrer Regierungspoli-tik, waren Phantasie und Kreativität und der Bruch zu-mindest mit einem Teil der bisherigen Konzepte und derbisherigen Praxis. Aber genau das ist leider nicht zu er-kennen: nicht im Haushalt und nur äußerst beschränkt inder Schuldenfrage. Was das Gewicht innerhalb der neuenRegierungspolitik betrifft, ist die Trendwende, wennüberhaupt, nur zu erahnen. Erinnern Sie sich etwa an dasunwürdige Gedränge Ihres Kollegen Fischer im Rahmender deutschen Delegation zur Ministerrunde in Dakar,das nicht nur zu einer merkwürdigen Kompetenzvertei-lung geführt hat, sondern das man auch als ein politi-sches Signal werten könnte: mehr Fischer und dafür we-niger Wieczorek-Zeul. Wenn das so sein sollte, bedauereich das sehr; das sage ich Ihnen ganz ehrlich.
Doch nun zum Haushalt. Auf Grund der kurzen Re-dezeit nenne ich nur Stichpunkte mit Beispielcharakter;denn die eigentlichen Debatten stehen in den nächstenWochen erst noch an.Erstens. Der Haushaltsansatz für 1999 bleibt trotzzunehmender regionaler Krisen, sich verschärfender Er-nährungsprobleme und dem sich verstetigenden Prozeßder wirtschafts-, entwicklungs- und infrastrukturpoliti-schen Abkoppelung großer Teile der sogenannten drittenWelt hinter dem Ist-Stand des Haushalts 1998 zurück.Selbst die Steigerung im Einzelplan 23 im Vergleichzum Soll für 1998 entspricht nicht einmal dem Wachs-tum des Gesamthaushaltes. Er fällt damit weiter zurück,wohl auch im Vergleich zum Bruttosozialprodukt. Ichkann meinem Kollegen von Schmude in dieser Frageleider nur recht geben.Zweitens. Insgesamt kann man zudem feststellen, daßnicht nur die Höhe des Haushalts, sondern auch seineStruktur nahezu gleichgeblieben ist, quasi Spranger-sche Handschrift trägt. Wo sind die neuen Ansätze, dieAlternativen? Wo bleibt Ihre politische Entschlossen-heit, mit der Sie in der Öffentlichkeit bisher für das An-liegen einer modernen und vor allem effizienteren Ent-wicklungszusammenarbeit und für die Korrektur bishe-riger Fehlentwicklungen aufgetreten sind, etwa wenn esum die Kritik der Politik der direkten und indirekten Ex-portförderung deutscher Unternehmen als wesentlichesElement der bisherigen Entwicklungszusammenarbeitgeht?Drittens. Was wurde aus Ihrem Anspruch in der Ko-alitionsvereinbarung, für die Reform und Stärkung derEntwicklungsprogramme der Vereinten Nationenmehr Verantwortung übernehmen zu wollen? Kürzungdes Beitrages für UNDP um 25 Prozent – bereits mehr-fach angesprochen –, leichte Kürzung für UNIDO, star-ke Einschnitte bei Beiträgen zur Globalen Umweltfazi-lität und keine Anhebung – auch das ist ein Signal – fürdas Frauenförderprogramm UNIFEM der UNDP, ob-wohl Sie doch zu Recht mehrfach darauf hingewiesenJoachim Günther
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haben, welche Bedeutung den Frauen im Rahmen ent-wicklungspolitischer Maßnahmen zukommt.Auch die Schrödersche Schuldeninitiative, die, be-vor sie auf dem G-7/G-8-Gipfel überhaupt eingebrachtwird, schon zahlreiche öffentliche Vorschußlorbeerenerhalten hat, ist als angekündigte Trendwende viel zuzaghaft, weil im Haushalt nur minimale Konsequenzengezogen wurden. Wie ist es etwa mit der Forderung un-ter anderem der Erlaßjahrkampagne, die haushaltsrecht-lichen Bestimmungen dergestalt zu verändern, daß auchunabhängig vom Pariser Club Schuldenerlasse bilateralvorgenommen werden können? Was ist mit den DDR-Schulden, die auch nach den heutigen Aussagen vonStaatssekretärin Eid auf einer WEED-/Terre-des-hommes-Veranstaltung ein Antagonismus sind?
Herr
Kollege, ich bitte, zum Schluß zu kommen.
Ich bin so gut wie fertig. –
Warum soll auch weiterhin der Schuldendienst an den
Finanzminister und nicht in einen Fonds für Projekte der
Armutsbekämpfung oder des Umwelt- und Ressourcen-
schutzes fließen? Wir werden diese Fragen im einzelnen
in den nächsten Wochen erarbeiten. Deshalb nur noch
einen Satz: Es gibt auch abseits der wirtschaftsliberalen
Globalisierungsdoktrin ein internationales Denken und
Handeln. Die Frage einer gerechten Weltwirtschafts-
ordnung steht neben der Menschenrechtsfrage in dessen
Zentrum. Diesem grenzüberschreitenden, solidarischen
Denken zum Durchbruch zu verhelfen muß Anspruch
unserer Entwicklungspolitik sein, oftmals auch erst wer-
den. Dabei steht die rotgrüne Bundesregierung in einer
hohen Verantwortung.
Vielen Dank.
Das
Wort hat der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!Auch wenn man es nicht hören will, muß es wiederholtwerden: Der Haushalt sackt gegenüber dem Ist des Jah-res 1998 ab. Ich kann das nicht ändern. Ich kenne dieSchwierigkeiten, sich mit dem Finanzminister zu unter-halten, aus eigener Erfahrung. Ich will das nicht weiterausbreiten. Aber zumindest, was den beamteten Staats-sekretär betrifft, befinden Sie sich in einer guten Konti-nuität. Wir hatten unsere Schwierigkeiten; Sie haben Ih-re Schwierigkeiten. Aber die Fakten sind nun einmal,wie sie sind. Deshalb müssen sie noch einmal wiederholtwerden: Der Einzelplan 23 1998 weist genau 7,916 Milli-arden DM aus; der jetzt vorliegende Haushaltsplan sieht7,8 Milliarden DM vor. Ich gebe zu, ich war in Mathe-matik schlecht; dennoch sind das 116 Millionen DMweniger. Das sind die Fakten. Von einer Steigerungkann also nicht die geringste Rede sein.Folgendes kommt hinzu. Die Sache mit STABEX istvöllig überflüssig. Herr von Schmude hat darauf hinge-wiesen, jetzt wird aus Ihrem Hause selbst – Frau Mi-nisterin, vielleicht sind Sie noch nicht darüber informiert– angeregt, die 100 Millionen DM nicht vorzusehen.Reden Sie darüber noch einmal mit dem Finanzminister,der dem BMZ etwas aufdrücken möchte, was überhauptnicht erforderlich ist. Ich wiederhole es: Tatbestand ist,daß die Mittel von der EU nicht benötigt werden. Wiesoll man dem deutschen Steuerzahler erklären, daß wirGeld überweisen, für das wir einen Kredit aufnehmenmüssen, das bei der EU auf die hohe Kante gelegt wird,und die EU dafür Zinsen bezieht? Das können Sie nie-mandem erklären.
Das sind die Fakten. Deshalb ist es auch nicht notwen-dig, die Summen entsprechend auszuweisen. Wir sindgerne bereit, uns über Zwischenschritte zu unterhalten.Auf jeden Fall werden wir beim EEF bei den Haus-haltsberatungen einen drastischen Kürzungsvorschlagunterbreiten.
Immer wieder klang heute durch, daß diskutiert wür-de, schrittweise den Anteil der multilateralen Ausga-ben am Haushalt zugunsten der bilateralen zurückzufüh-ren. Ich möchte alle Kollegen sehr sorgfältig daran erin-nern, daß es sich um einen gemeinsamen Beschluß desHaushaltsausschusses aus der vorletzten Legislaturperi-ode handelt. Es kann keine Rede davon sein, daß das einEinfall der damaligen Koalition gewesen sei; das war imdamaligen Haushaltsausschuß einvernehmlich beschlos-sen. Wenn man das ändern will, dann muß der Haus-haltsausschuß eine bestimmte Korrektur vornehmen.Auch sonst stimmt es nicht: Der Anteil des Multilate-ralen ist – durch manchmal sehr großzügige Zusagen desfrüheren Bundeskanzlers gegenüber den Franzosen – ge-rade im EEF nachhaltig angestiegen, so daß wir vondem Ziel, unter 30 Prozent zu kommen, noch weit ent-fernt sind. Wenn jetzt plötzlich im Zusammenhang mitdem UNDP geklagt wird, so muß ich sagen: Das hat unsin der Tat der Finanzminister der alten Regierung aufge-drückt. Aber warum haben Sie es nicht geändert? Siehaben doch angekündigt, wie wichtig Ihnen die multila-teralen Organisationen sind. Wenn man alles besser ma-chen will, kann von Erblast überhaupt keine Rede sein.Hätten Sie es doch besser gemacht! Sie haben es abernicht gemacht, also muß man Ihnen das entsprechendvorwerfen.Als nächstes möchte ich einen Bereich ansprechen,der uns große Sorgen macht und der auch im Haushaltdas eine oder andere widerspiegelt: Das ist die Situationin Afrika. Wir müssen feststellen, daß die Bundesregie-rung hilflos, zum Teil auch ratlos vor den Problemensteht, wobei ich einräume, daß niemand ein Patentrezeptzur Lösung der Probleme in Afrika hat. Im zuständigenFachausschuß ist aber zum Beispiel die präzise Frageder Opposition „Was machen Sie eigentlich, wenn diemilitärischen Interventionen einer Reihe von afrikani-schen Staaten fortgesetzt werden, mit der Entwicklungs-Carsten Hübner
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1600 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
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hilfe?“ nicht beantwortet worden. Simbabwe zum Bei-spiel sind sogar vor kurzem noch einmal 55 MillionenDM zugesagt worden. Wie soll man es dem deutschen,dem europäischen Steuerzahler oder überhaupt den Ar-men auf dieser Welt erklären, wenn Millionen undAbermillionen aus dem direkten und aus dem verdeck-ten Staatshaushalt eines Landes wie Simbabwe für einmilitärisches Abenteuer im Kongo bereitgestellt werdenund wir – möglicherweise nicht nur wir Deutschen allei-ne, sondern die internationale Gebergemeinschaft – dasim Haushalt ausgleichen? Darauf muß eine Antwort ge-geben werden. Die Bundesregierung verweigert bisherdiese Antwort.Wenn ein Staat wie Angola, dessen Erdöleinnahmenim offiziellen Staatshaushalt überhaupt nicht auftauchen,irgendwo militärisch interveniert, müssen daraus Kon-sequenzen für die entwicklungspolitische Zusammenar-beit gezogen werden. Auch darauf erwarten wir in ab-sehbarer Zeit eine Antwort der Bundesregierung.
Frau Ministerin, wir hatten Ihnen das Angebot zurkooperativen Zusammenarbeit gemacht. Im Grundsatzsteht dieses Angebot noch, es ist aber keine Einbahn-straße. Damit spreche ich ein etwas schwieriges Probleman. Was – „in Gottes Namen“ kann man in diesem Zu-sammenhang als Theologe nicht sagen – hat Sie eigent-lich geritten, gegen alle Gewohnheiten der Personalpoli-tik im BMZ bei der Neubesetzung der Abteilungsleiternicht einen einzigen CDU-Mann zu berücksichtigen?Die alte Administration hat immer einen RepräsentantenIhrer Partei berücksichtigt. Ich halte das für einen mie-sen Stil.
Überlegen Sie noch einmal, ob das die Voraussetzungfür eine konstruktive Zusammenarbeit ist.Bisher ist der Bereich der Entwicklungspolitik immernoch einer gewesen, der nicht in den klassischen partei-politischen Streit hineingezogen worden ist. Bisher istdie Zusammenarbeit im AWZ hervorragend, dafürmöchte ich mich bei allen Kollegen ausdrücklich bedan-ken. Ich darf aber auch die Bundesministerin bitten,durch ihre Personalentscheidung atmosphärisch einenBeitrag zu einer konstruktiven und soliden Zusammen-arbeit zwischen Opposition und Regierung zu leisten.
Ein Punkt sollte bei der grundsätzlichen Debatte überunsere Entwicklungspolitik noch angesprochen werden.Wir müssen in Zukunft stärker darauf achten, daß unserePartnerländer eine größere Eigenverantwortung über-nehmen.
Diesem Punkt haben wir seit vielen Jahrzehnten, auswelchen Gründen auch immer – ich will gar nicht an dieZeit des kalten Krieges zurückdenken, in der es macht-politische Überlegungen waren –, nicht die ausreichendeAufmerksamkeit gewidmet. Deshalb begrüße ich durch-aus, was Sie zu „good governance“ gesagt haben.Wir müssen darauf bestehen – anders macht Ent-wicklungshilfe keinen Sinn, und wird Entwicklung nichtmöglich –, daß unsere Partnerländer die Rahmenbedin-gungen, die Voraussetzungen für Entwicklung schaffen.Eine Frage müssen wir intensiver diskutieren: Ist eseigentlich unsere Aufgabe, in einem Schwellenland wiezum Beispiel Indien die Armutsbekämpfung mit deut-scher Entwicklungshilfe zu finanzieren, während diesesLand Geld für militärische Operationen hat und sichverweigert, selber eine durchgreifende Armutsbekämp-fung zu betreiben?
Mein Freund Christian Ruck sagt immer, wenn wirdiese Frage diskutieren: Wenn wir es nicht machen, wermacht es dann? Die machen es doch nicht. Dazu kannich nur sagen: Hier müssen alle politischen und sonsti-gen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um unserePartnerländer an ihre Eigenverantwortung zu erinnern.
Es kann nicht sein, daß ärmere Entwickungsländernicht die ausreichenden Ressourcen für die Befriedigungvon Grundbedürfnissen, für Basisgesundheitssysteme,für die Grundbildung und für die primitivsten Formenvon Wohnungsbau zur Verfügung stellen, obwohl siediese Ressourcen haben, während wir gleichzeitig in ei-nem zunehmenden Maße korruptive Strukturen in unse-ren Partnerländern feststellen müssen. Das heißt, wir ap-pellieren, die Eigenverantwortung unserer Partnerländerstärker als bisher zu einem Grundsatz unserer entwick-lungspolitischen Zusammenarbeit zu machen.Ein letztes kurzes Wort zur Verschuldung: Viel-leicht, Frau Ministerin, liegen wir gar nicht so weitauseinander. Auch wir sind dafür, daß der Schulden-berg abgetragen wird. Wir müssen aber sicherstellen,daß wir nicht im Jahre 2005 oder im Jahre 2010 dasgleiche Problem haben. Deshalb ist Voraussetzung, daßdie Länder sich in diesem Zusammenhang auf Situa-tionen beschränken, in denen Verschuldung wirklichsinnvoll ist.Herr Tietmeyer von der Deutschen Bundesbank hatin einem bemerkenswerten Aufsatz – ich kann Ihnen nurempfehlen, ihn nachzulesen – zu den ethischen und öko-nomischen Aspekten von Schuldenerlaß darauf hinge-wiesen – ich darf zitieren –: Es ist keineswegs sicher,daß ein genereller Schuldenerlaß tatsächlich die Bedürf-tigen erreichen würde. Was wir aber sicherstellen müs-sen, ist, daß Schuldenerleichterung die Armen erreichtund nicht die Korrupten.Herzlichen Dank.
DasWort hat erneut die Bundesministerin HeidemarieWieczorek-Zeul.Klaus-Jürgen Hedrich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1601
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Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich habe jetzt nur zwei Mi-nuten Zeit, um einige Punkte richtigzustellen. Zunächsteinmal erspare ich mir Kommentare zu dem, was Siehier gesagt haben, Herr Hedrich. Denn es ist schon einegewisse Peinlichkeit, wenn diejenigen, die in den letztenJahren die politische Verantwortung getragen haben,sich hier hinstellen und den Eindruck vermitteln, es seialles völlig anders. Sie haben wirklich lange genug Zeitgehabt, etwas anders zu machen.
Ich möchte noch einmal fragen: Wo war eigentlichder Protest derjenigen, als der Waigel-Etat hier vorge-stellt worden ist und die UNDP-Kürzungen vorgelegtworden sind?
Ich möchte an die Adresse derer aus dem CDU-Lager,die hier gesprochen haben – ich danke der F.D.P. dafür,daß sie das hier sehr differenziert betrachtet hat –, sagen:In sechs Jahren ist der Entwicklungsetat, verglichen mitden anderen Etats, um 9 Prozent reduziert worden, unteranderem auch während Ihrer Regierungszeit. Das ist derEtat mit den umfangreichsten Kürzungen und Strei-chungen gewesen.Wer sich hier hinstellt und nicht ein Stück Eigenver-antwortung für die heutige Situation einräumt, der han-delt zutiefst unehrlich und heuchlerisch; das muß ichIhnen wirklich sagen.
Wir müssen das, was Sie über viele Jahre angerichtethaben, jetzt rückgängig machen. Dafür erwarte ich IhreUnterstützung und kein Herumgemäkel.Um es einmal klarzustellen: Nach dem VorschlagWaigels sollte der Anteil des Entwicklungshaushalts amGesamthaushalt 1,65 Prozent betragen. Nach unseremVorschlag liegt der Anteil des Entwicklungshaushaltsam Gesamthaushalt bei 1,7 Prozent.
Das ist die einzig präzise Aussage zu den Relationen,die man da treffen kann. Alles andere ist der Versuch,eine Sache schlechtzureden, die Sie selbst in Ihrer Re-gierungszeit nie hinbekommen haben.Dann möchte ich noch einiges zu den Zahlen sagen.Man kann natürlich nicht, wie es der eine oder anderegemacht hat, die Ist-Zahlen 1998 mit den Soll-Zahlen1999 vergleichen. Das ist ein Vergleich von Äpfeln undBirnen. Jeder weiß – zumindest auch Herr Hedrich –,daß in den Ist-Zahlen in diesem Bereich auch nicht ab-geflossene Mittel enthalten sind. Die Ist-Zahlen 1998und die Ist-Zahlen 1999 kann man vergleichen. Mankann aber nicht die Ist-Zahlen 1998 mit den Soll-Zahlen1999 vergleichen. Wer das tut, argumentiert nicht, son-dern versucht, Stimmung zu machen, und erweckt fal-sche Vorstellungen.Zum Schluß möchte ich etwas an die Adresse derje-nigen sagen, die Lomé angesprochen haben. Liebe Kol-leginnen und Kollegen, das Mandat für Lomé ist imletzten Herbst erteilt worden, also nicht zu Zeiten derjetzigen Bundesregierung, sondern zu Zeiten der frühe-ren. Ich bin gehalten, entsprechend diesem Mandat imRahmen der EU-Ratspräsidentschaft zu verhandeln.Man kann sich da auch etwas anderes vorstellen. Aberich bin gehalten, mich daran zu orientieren. Über jedeandere Frage zur Afrikapolitik, über Details zu Lomébin ich gern bereit zu diskutieren. Aber ich sage vorallem an die Adresse der CDU: Es ist mehr Ehrlichkeitund mehr Anstand im Umgang mit der Geschichte, dieSie beim Entwicklungshaushalt selbst zu verantwortenhaben, erforderlich.
Als
letzte Rednerin hat die Kollegin Adelheid Tröscher von
der SPD-Fraktion das Wort.
Bitte schön, Frau Tröscher.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Wie so oft findet die Debatte überEntwicklungspolitik zu später Stunde statt. Aber wirwissen, wie wichtig wir sind, und wir werden immerwichtiger.Wir wollen die Entwicklungspolitik entlang denLeitlinien einer globalen Strukturpolitik reformieren,weiterentwickeln und effizienter gestalten. Wir wollennatürlich auch die Eigenverantwortung stärken, HerrHedrich, die Korruption bekämpfen und „good gov-ernance“ belohnen. Um in diesen Politikbereich eineLeitlinie hineinzubringen, dazu hatten Sie allerdings vielZeit. Die neue Bundesregierung hat Wort gehalten. Wirsind stolz darauf, daß hier einiges gelungen ist, und sindauch zuversichtlich, daß noch Weiteres auf den Weg ge-bracht werden wird.Als einen ganz zentralen Punkt ihrer Arbeit haben dieKoalitionsparteien vereinbart, den Abwärtstrend desEntwicklungshaushaltes umzukehren und vor allem dieVerpflichtungsermächtigungen kontinuierlich und maß-voll zu erhöhen. Auch in diesem Punkt haben wir Wortgehalten. Wir haben den Abwärtstrend des Einzelplans 23gestoppt und die Grundlage für den Aufwärtstrend ge-legt. Vor allen Dingen wollen wir Klarheit in den Haus-halt bringen, also die Schattenhaushalte auflösen, damitwir wirklich mit den Zahlen rechnen können, die derHaushaltsplan ausweist.
Metadaten/Kopzeile:
1602 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999
(C)
Wir haben die systematischen Kürzungen der altenBundesregierung im Einzelplan 23 gestoppt, die Mittelinsgesamt erhöht und die Eingriffe vor allem bei denVerpflichtungsermächtigungen beendet. Das ist ein gu-tes und richtiges Signal der neuen Bundesregierung anunsere Partnerländer im Süden und im Osten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, von besondererRelevanz ist auch, daß die Aufsplittung der entwick-lungspolitischen Aufgaben in unterschiedlichen Ressortsnunmehr aufgehoben wird und hier für mehr Kohärenzgesorgt werden kann.Das BMZ – darum beneiden uns einige in der CDUsehr – ist insgesamt gestärkt worden. Dies war auchdringend erforderlich. Wir machen wieder eine globaleStrukturpolitik, was in den letzten Jahren nicht der Fallwar.
Die neue Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt,die globalen Rahmenbedingungen inhaltlich mitzugestal-ten und ihre Aufgaben und Verpflichtungen im Rahmenvon multilateralen Institutionen wie der Weltbank, desIWF und der Vereinten Nationen verstärkt wahrzunehmenund zu intensivieren. So wurde beispielsweise – das istauch schon gesagt worden – die Ausstattung des afrikani-schen Entwicklungsfonds um rund 100 Millionen DM er-höht. Das ist, wenn wir gerade an den afrikanischen Kon-tinent denken, von ganz besonderer Bedeutung. Außer-dem werden erstmals 50 Millionen DM für die Entschul-dungsinitiative der Weltbank ausgewiesen, und zur Er-füllung des Montrealer Protokolls werden ebenfalls weite-re Mittel bereitgestellt.So etwas nennen wir eine Stärkung der multila-teralen Zusammenarbeit. Sie können davon ausgehen,daß die neue Bundesregierung die Effizienz der multi-lateralen Finanzierungsmaßnahmen durch entwicklungs-und sozialverträgliche Strukturanpassungsprogrammeund durch eine bessere Verzahnung mit den bilateralenProgrammen erhöhen wird. Daran hat es in der letztenZeit gefehlt.
Noch ein Wort zu UNDP: Wir haben stets betont, daßwir für eine Reform und eine Stärkung der Entwick-lungsprogramme der Vereinten Nationen eintreten. Diesist und bleibt so. Wieviel Mittel nun an UNDP fließen,werden die laufenden Haushaltsberatungen zeigen. Un-sere Haushälter haben signalisiert – wir haben das mitgroßer Freude wahrgenommen –, daß sie in diesemPunkt geprächsbereit sind.
Wir hoffen, daß dabei eine Erhöhung um 25 MillionenDM herausspringt. Wir werden auf jeden Fall daran ar-beiten und zusammen mit den Haushältern ganz be-stimmt eine Lösung finden, die auch UNDP gefallenwird. In den zukünftigen Haushalten werden die UNDP-Mittel erhöht werden. Eine Zusammenarbeit mit UNDPkann auch unserer eigenen bilateralen Entwicklungs-politik nur guttun.
Sie haben von den Altlasten gehört, die wir zu tragenhaben. Wir bleiben aber bei unserem Ziel, unser Engage-ment bei den internationalen Organisationen zu verstär-ken, wobei, wie gesagt, UNDP besonders zu erwähnenist. Das, was Sie, meine Damen und Herren von der Op-position, in den letzten Jahren unter anderem bei UNDPgekürzt haben, werden wir wieder rückgängig machen. Inden letzten zwei Jahren waren es allein 45 Millionen DM;das ist natürlich schon ein stolzer Betrag.In der Koalitionsvereinbarung hatten SPD und Grüneweiterhin festgelegt, daß wir das Bewußtsein für inter-nationale Zusammenhänge stärken wollen und deshalbein besonderes Gewicht auf die entwicklungspolitischeArbeit der NROs, der Nichtregierungsorganisationen,legen und deren Arbeit verstärkt fördern wollen. ImRahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeitkommt nämlich den NROs eine hohe Bedeutung zu. Wirhaben das wiederholt gesagt, und ich sage es fast in je-der Rede. Ich denke, die NROs sind in der Entwick-lungszusammenarbeit unverzichtbar.
Ihre der Partnerschaft verpflichtete Arbeit zielt daraufab, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und die vorhandenenPotentiale der Partner in den Entwicklungsländern zunutzen. Ich möchte deswegen an dieser Stelle auch ein-mal all jenen kirchlichen Organisationen und den politi-schen Stiftungen, lokalen wie überregionalen Organisa-tionen und all den vielen Nord-Süd-Foren meinenbesonderen Dank und meine Anerkennung für die vonihnen täglich geleistete Arbeit aussprechen.
Wir müssen unsere Anstrengungen intensivieren, dieBevölkerung durch Informations- und Bildungsarbeitüber die Zusammenhänge internationaler Politik undInteressen Deutschlands aufklären. Demokratie lebt un-ter anderem auch vom Vertrauen der Bürger in die Qua-lität politischen Handelns. Ich bin deshalb sehr dankbar,daß die neue Bundesregierung die Mittel für die kon-krete Projektarbeit der privaten Träger erhöht hat, daßvor allem der Ansatz bei der Inlandsarbeit für die ent-wicklungspolitische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeitgegenüber 1998 – da war der Abwärtstrend besondersdrastisch – um fast 40 Prozent erhöht wird. Wir werdendas in den nächsten Jahren kontinuierlich weiter tun.Dies ist ein guter Schritt in die richtige Richtung undwird die Zusammenarbeit mit den NROs stärken helfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegendeEinzelplan 23 ist ein überzeugender Schritt in die rich-Adelheid Tröscher
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Februar 1999 1603
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(D)
tige Richtung, Entwicklungspolitik zu einer globalenStrukturpolitik weiterzuentwickeln und aufzuwerten.Insgesamt kann man sagen: Die Mittel sind erhöht wor-den, das Ministerium wurde gestärkt, und die richtigenSchwerpunkte wurden gesetzt.Ich danke Ihnen.
Weitere
Wortmeldungen liegen nicht vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 25. Februar,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.