Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zur voraussichtlich letzten Plenar-
sitzung in diesem Jahr .
– Ich hätte eigentlich damit rechnen können, dass das von
dem einen oder anderen als Anregung verstanden werden
könnte . So war es aber ausdrücklich nicht gemeint . Es
gibt heute nicht einmal mehr Veränderungen in der Ta-
gesordnung oder andere Formalitäten zu verkünden und
zu billigen .
Wir kommen daher gleich zu dem Tagesordnungs-
punkt 22:
Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen-
tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Stellungnahme des Parlamentarischen Beira-
tes für nachhaltige Entwicklung zum Indika-
torenbericht 2014 „Nachhaltige Entwicklung
in Deutschland“ des Statistischen Bundesam-
tes
und
Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2016
der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie
Drucksache 18/7082
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Das scheint
einvernehmlich zu sein . Also können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Carsten Träger für die SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ein Jahr geht zu Ende, und da ist es Brauch,
dass man zurückblickt auf das Jahr: auf das Erreichte und
vielleicht auf das Unvollkommene . Da passt es gut, dass
wir heute, am letzten Plenartag des Jahres, den Indika-
torenbericht zum Stand der nachhaltigen Entwicklung
in Deutschland debattieren . Darin geht es um die langen
Linien, die großen Trends . Wohin führt unsere Entwick-
lung? Wo läuft es gut? Wo besteht Handlungsbedarf? Ich
ziehe eine positive Bilanz aus mehreren Gründen .
Ich habe es schon an anderer Stelle erwähnt – aber
man kann es gar nicht oft genug betonen –: Deutschland
ist mit seiner Architektur der Nachhaltigkeit weltweit
beispielgebend . Wir können stolz darauf sein, dass wir
seit 2002 eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie haben,
dass wir einen Rat für Nachhaltigkeit haben und dass
wir einen Parlamentarischen Beirat haben . Wir können
auf diese Institutionen und auf die Arbeit, die sie leisten,
stolz sein . Aber wir müssen sie weiterentwickeln .
Ein fester Bestandteil der Nachhaltigkeitsstrategie ist
der regelmäßige Indikatorenbericht, den wir heute debat-
tieren . Alle zwei Jahre misst das Statistische Bundesamt
anhand von 21 Indikatoren den Fortschritt in den Kern-
bereichen Generationengerechtigkeit, Lebensqualität
und sozialer Zusammenhalt .
Im Bericht 2014 stehen positive Trends wie der Aus-
bau der erneuerbaren Energien, der Abbau der Schulden
und die Erhöhung des Beschäftigungsniveaus . Dann gibt
es Ziele, die sich zwar in die richtige Richtung entwi-
ckeln, gleichwohl zu langsam . Dazu zählen die Energie-
und Rohstoffproduktivität, der Primärenergieverbrauch,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514514
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die Gleichstellung sowie die Flächeninanspruchnahme .
Hier sind weitere Anstrengungen nötig, ganz klar .
Und dann gibt es negative Trends in den Bereichen
Mobilität, Zukunftsinvestitionen und Artenvielfalt . Dort
liegt der Indikatorenwert bei 63 Prozent des Zielwerts .
Das ist der schlechteste jemals gemessene Wert . Alarmie-
rend ist auch der Teilindikator für das Agrarland . Dieser
ist auf 56 Prozent des Zielwerts gesunken . Er hat sich in
den letzten zehn Jahren deutlich verschlechtert .
Wir müssen die Belange des Natur- und Artenschutzes
in der Landwirtschaft stärken . Wir haben eine nationale
Biodiversitätsstrategie . Trotzdem wird Biodiversitätspo-
litik nicht als Querschnittsaufgabe verstanden . Hier ha-
ben wir Handlungsbedarf .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Mal geht
es bei der Fortschreibung des Indikatorenberichts nicht
nur darum, die Ziele und Indikatoren ein weiteres Mal
fortzuschreiben . Denn wir haben im September dieses
Jahres die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele, die SDGs,
verabschiedet . Deshalb geht es dieses Mal darum, unsere
Strategie an diese 17 Ziele und die 169 Unterziele an-
zupassen . Denn, seien wir ehrlich, gemessen an diesen
globalen Zielen sind auch wir ein Entwicklungsland . Es
mag den einen oder anderen Nationalisten überraschen:
Auch unsere Nachhaltigkeitsstrategie ist weit davon ent-
fernt, perfekt zu sein . Sie muss weiterentwickelt werden .
Dazu bieten die SDGs jetzt eine Chance . Wir sollten sie
ergreifen .
Ich möchte hier für einen Konsumindikator plädieren .
Für mich geht es letztlich darum, dass, wie Ernst Ulrich
von Weizsäcker es formuliert, die Preise die Wahrheit
sagen müssen . Wenn wir ein T-Shirt für 3 Euro kaufen,
sind damit die Kosten für die Faser, die Herstellung, den
Transport und den Verkauf wirklich abgedeckt? Das alles
für 3 Euro?
Ein anderes Beispiel: Ist ein Stück billiges Fleisch
wirklich so billig? Wie sähe es ohne Subventionen in
der Landwirtschaft aus, oder wie sähe es mit veränder-
ten Subventionen in der Landwirtschaft aus, die etwa den
Naturschutz belohnen? Wie kann man das messen? Und
wie kann man wirklich dafür sorgen, dass die Preise die
Wahrheit sagen? Ich finde, das ist eine spannende Auf-
gabe .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 2015 war ein gu-
tes Jahr für die Nachhaltigkeit . Wie erwähnt, haben wir
im September in New York den Weltzukunftsvertrag
geschlossen, ohne den das Klimaschutzabkommen von
Paris niemals zustande gekommen wäre . Genauso wie
wir die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – Wirt-
schaft, Ökologie und Soziales – mittlerweile gemeinsam
denken, müssen wir diese beiden Verträge miteinander
betrachten . Sie bedingen einander . Dass es gelungen ist,
beide Verträge ins Werk zu setzen, ist ein starkes Signal
der Hoffnung für unseren Planeten . Dafür danke ich allen
Beteiligten, vor allem unserer Umweltministerin Barbara
Hendricks und ihrem Team, das auf beiden Konferenzen
Großartiges geleistet hat .
Liebe Barbara Hendricks, mit diesen Verträgen ist
Historisches gelungen . In Zeiten großer internationaler
Krisen sind diese Verträge rechtzeitig zu Weihnachten
das schönste Geschenk: die Hoffnung, dass die Welt
rechtzeitig zur Besinnung kommt .
Vielen Dank .
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Birgit
Menz das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Ich würde mich freuen, wenn die
Frage, wie wir eine nachhaltige Zukunft erreichen und
gestalten wollen, häufiger den Platz im Parlament ein-
nehmen würde, den sie verdient .
Denn Nachhaltigkeit ist im Kern ein hochpolitischer Be-
griff . Das sehen wir auch an den Debatten, die wir im
Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
führen . Dass am Ende dieser Debatten Konsensentschei-
dungen stehen, wie auch bei der vorliegenden Stellung-
nahme, ist gut so, bedeutet aber vor allem für die Oppo-
sition viele Kompromisse .
Die Linke steht für eine sozial-ökologische Transfor-
mation unserer Gesellschaft . Dieses Leitbild unterschei-
det sich zum Teil deutlich von dem, was in der nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie abgebildet wird . Wir werden
deshalb im Rahmen des Beirats darauf hinarbeiten, dass
die Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele in
Deutschland neue, auch politisch unbequeme Schwer-
punkte setzen kann .
Mit den Forderungen nach neuen Zielen zur Förde-
rung nachhaltigen Konsums und zur Bekämpfung von
Ungleichheiten weist die Stellungnahme hier in eine
richtige Richtung . Was aber in der Nachhaltigkeitsstra-
tegie bisher deutlich zu kurz kommt, ist die Tatsache,
dass Nachhaltigkeit längst zur sozialen Frage unseres
Jahrhunderts geworden ist . Wir müssen zum Beispiel fol-
gende Fragen neu denken: Wie schaffen wir einen fairen
globalen Lastenausgleich bei der Bekämpfung des Kli-
mawandels? Was erkennen wir als Gesellschaft jenseits
der klassischen Lohnarbeit als Arbeit an, und wie kann
Arbeit gerecht verteilt werden?
Wir haben im vergangenen Jahrzehnt erlebt, wie eine
zunehmende soziale und wirtschaftliche Verunsicherung
der Bevölkerung den Widerstand gegen die stete Aus-
Carsten Träger
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dehnung der Verwertungslogik auf den Menschen, seine
Fähigkeiten und seine Arbeit erfolgreich gebrochen hat .
Wirtschaftlicher Nutzen wurde immer mehr zum Kern
der Möglichkeit, Anerkennung in der Gesellschaft zu er-
fahren . Diesen Zusammenhang müssen wir aufbrechen .
Wir werden eine nachhaltige Gesellschaft nur erreichen
können, wenn wir allen eine sichere Grundlage geben,
auf der sie frei und mutig neue Zukünfte denken und ge-
stalten können .
Deshalb brauchen wir endlich gute Arbeit und Teilhabe-
chancen für alle, wir brauchen eine gerechte Umvertei-
lung von Wohlstand und Ressourcen .
Diese Umverteilung müssen wir unter der Vorgabe er-
reichen, dass Wachstum nicht grenzenlos ist . Wir müssen
anerkennen, dass unser Wachstum oftmals zulasten ande-
rer geht und schon jetzt seine klaren Grenzen an der öko-
logischen Belastbarkeit unserer Umwelt gefunden hat .
Das schulden wir unseren Mitmenschen weltweit ebenso
wie den nachfolgenden Generationen . Denn auf einem
toten Planeten gibt es nicht nur keine Arbeit, wie die
Gewerkschaft treffend mitteilt, sondern auf einem toten
Planeten gibt es auch keine Zukunft . Um den Einwand
„Müssen wir uns also einschränken?“ vorwegzunehmen,
antworte ich: Wenn damit gemeint ist, dass wir weniger
verbrauchen, weniger Müll produzieren und auf umwelt-
schädliche und unverantwortliche Technologien wie zum
Beispiel das Fracking verzichten müssen, dann lautet die
Antwort: Ja .
Wenn damit aber der Mangel an Lebensqualität ge-
meint ist, dann lautet die Antwort ebenso eindeutig:
Nein . Denn Lebensqualität hängt nicht vom Massen-
konsum ab . Umverteilen setzt Umdenken voraus . Wir
müssen den strukturellen Wachstumszwang überwinden,
der soziale Ungerechtigkeit verschärft und unsere Um-
welt zerstört, und wir müssen Räume schaffen, in de-
nen gemeinwohlorientiertes Wirtschaften entstehen und
funktionieren kann . Das betrifft zum Beispiel die Frage,
wie wir in Deutschland zentrale Wirtschaftssektoren wie
Energie und Mobilität demokratisch und nachhaltig ge-
stalten können . Das betrifft aber auch die Architektur
des Handels, die Steuerpolitik, das Arbeitsrecht und den
Sozialschutz, all das, was aktuell einem für Mensch und
Umwelt verheerenden globalen Standortwettbewerb un-
terworfen ist . Hier müssen wir globale Übereinkünfte
und entsprechende Strukturen anstreben; denn wir ha-
ben auch die Verantwortung dafür zu übernehmen, wel-
che Auswirkungen unser Handeln, unsere Politik für die
Chancen auf eine gerechte, ökologisch verträgliche so-
ziale Entwicklung weltweit hat . Die überarbeitete Nach-
haltigkeitsstrategie muss diese internationale Verantwor-
tung als Aufgabe aller Politikbereiche definieren. Die
drei großen Gipfel in Addis Abeba, New York und Paris
haben noch einmal klargemacht, dass es ein Weiter-so
nicht geben darf . Dazu haben wir uns alle bekannt . Nun
gilt es, zu beweisen, dass wir es ernst meinen .
Zum Schluss möchte ich mich bei meinen Kollegin-
nen und Kollegen und deren Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern für die gute Zusammenarbeit im Beirat bedanken .
Lassen Sie uns weiter streiten und jene Irritationen schaf-
fen, die es uns ermöglichen, aus den bekannten Denk-
mustern auszubrechen, sie zu hinterfragen und Neues zu
denken . Lassen Sie uns mutig sein!
Danke .
Andreas Lenz ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue
mich, dass wir zu so prominenter Zeit heute das Thema
Nachhaltigkeit hier im Hohen Haus diskutieren . Das
zeigt auch, dass das Leitbild einer nachhaltigen Entwick-
lung fundamentaler Bestandteil bundesdeutscher Politik
ist . Schaut man sich den Koalitionsvertrag an, dann stößt
man 69-mal auf den Begriff der Nachhaltigkeit, manch-
mal in einem etwas unglücklichen Zusammenhang . Aber
nichtsdestotrotz zeigt das einmal mehr, wie wichtig der
Begriff der Nachhaltigkeit und nachhaltige Politik für
Deutschland sind . Das ist wichtig für die Bundesregie-
rung, aber auch für das Parlament . Wir setzten hier ganz
gezielte Akzente .
Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie wird durch den
Indikatorenbericht begleitet . Hier wird die Zielerreichung
gemessen, die einzelnen Punkte werden begutachtet . Ich
will die im Indikatorenbericht genannten Punkte anhand
einiger Beispiele deutlich machen und aufzeigen, in wel-
chen Bereichen wir Verbesserungen erreichen konnten .
Für mich ist das wichtigste Beispiel der ausgeglichene
Haushalt, den wir mittlerweile zum dritten Mal anstreben
und auch erreichen werden . Das ist deshalb nachhaltig,
weil ohne die maßvolle Haushaltsführung die Bewälti-
gung der mit der Flüchtlingskrise einhergehenden He-
rausforderungen nicht möglich wäre . Gleichzeitig wer-
den die Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere in
die digitale und in die Verkehrsinfrastruktur, konsequent
fortgesetzt . Das ist Nachhaltigkeit, auch im Sinne der
Generationengerechtigkeit .
Kaum woanders werden die Unschärfen des Begriffes
der Nachhaltigkeit so klar wie beim Thema Energiewen-
de . Uns ist die Entkoppelung von Energieverbrauch und
Wirtschaftswachstum gelungen .
Birgit Menz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514516
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Die erneuerbaren Energien sind Deutschlands wichtigste
Stromquelle . Der Anteil der erneuerbaren Energien am
Stromverbrauch lag im ersten Halbjahr 2015 erstmals bei
über 30 Prozent . Dabei konnte die EEG-Umlage stabili-
siert werden . Die soziale Dimension von Nachhaltigkeit
gilt es eben auch zu berücksichtigen, ebenso wie die öko-
nomische .
Im Bereich der Innovationen hat Deutschland viel er-
reicht . Die Ausgaben des Bundes für Bildung und For-
schung haben sich seit 2005 verdoppelt, aber auch die
Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind gesamt-
wirtschaftlich deutlich angestiegen .
Gerade die Forschung und der Transfer von Techno-
logien, die einer nachhaltigen Entwicklung dienen, bie-
ten wirtschaftliche Chancen . Es gibt also wesentliche
Fortschritte im Bereich einer nachhaltigen Entwicklung .
Deutschland ist hier nach wie vor Vorbild, aber – wir ha-
ben es gehört – Deutschland ist auch Entwicklungsland .
Natürlich hindert uns niemand daran, noch besser zu wer-
den . Es gibt auch Bereiche, in denen dies notwendig ist .
Im Bereich der Mobilität erreichen wir unserer Ziele
nicht . Der Endenergieverbrauch im Sektor Verkehr war
2014 rund 1,7 Prozent höher als 2005 . Die Gütertransport-
intensität steigt weiter . Der Beirat fordert hier, umwelt-
freundliche Antriebstechnologien, auch die Elektromo-
bilität, durch sinnvolle Maßnahmen stärker zu fördern .
Auch beim Klimaschutz sind weitere Anstrengun-
gen notwendig . Das Klimaschutzabkommen von Paris
schafft dafür gute Voraussetzungen . Der Kohleausstieg
muss gelingen . Der Beirat fordert, dass Deutschland bei
der Verringerung der Pro-Kopf-Emissionen weiterhin
ambitioniert vorangeht .
Deutschland leistet viel im Bereich der Entwicklungs-
zusammenarbeit, der Armutsbekämpfung, der Friedens-
sicherung und der Demokratieförderung . Dennoch sind
in diesem Bereich die selbstgesteckten Ziele finanziell
noch nicht erreicht . Wir brauchen also weiterhin ein am-
bitioniertes Vorgehen, um die nationalen Ziele tatsäch-
lich zu erreichen, und wir können die Ziele erreichen .
Nachhaltigkeitspolitik ist mehr als Indikatoren; so
wichtig diese auch sind . Insgesamt 195 Länder haben
sich am 25 . September dieses Jahres auf 17 übergeord-
nete globale Nachhaltigkeitsziele geeinigt . Das ist wirk-
lich eine historische Einigung . Die Ziele, wie Armut und
Hunger zu beenden, ein gesundes Leben zu ermöglichen,
Zugang zu Bildung zu schaffen usw ., bieten letztendlich
auch die Grundlage dafür, Perspektiven zu schaffen und
die Fluchtursachen langfristig global und effektiv zu be-
kämpfen .
Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung muss
gelingen . Es handelt sich um nicht weniger als einen
Weltzukunftsvertrag, wie es unser Minister für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung formu-
lierte . Es ist das eine, Ziele zu verabschieden, aber das
andere ist, sie auch umzusetzen . Jetzt muss auf die Um-
setzung geachtet werden . Klar ist, dass die Prioritäten
der einzelnen Länder unterschiedlich sind . Es geht um
Common But Differentiated Responsibility, also um eine
gemeinsame, aber unterschiedliche Verantwortung . Es
ist erstaunlich bzw . beachtlich, was man feststellt, wenn
man in Neu-Delhi, in Indien, am Flughafen landet: Ein
Plakat mit den 17 Nachhaltigkeitszielen ist dort an pro-
minenter Stelle platziert . Das spricht doch dafür, dass das
Bewusstsein für eine globale Verantwortung durch diese
Ziele gestärkt werden kann .
Deutschland hat sich als eines von neun Ländern
verpflichtet, die Ziele möglichst früh vollständig umzu-
setzen . Dazu muss es gelingen, die Inhalte der globalen
Nachhaltigkeitsziele verständlich zu kommunizieren .
Die Bundesregierung wird deshalb im Rahmen der
Fortschreibung der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie
zügig einen Umsetzungsplan vorlegen . Wir als Nachhal-
tigkeitsbeirat werden diesen Prozess konstruktiv, aber
natürlich, wie es unsere Art ist, auch kritisch begleiten .
Der Beirat ist sozusagen der Stachel im Fleisch der nati-
onalen Nachhaltigkeitspolitik . Wir werden die Nationale
Nachhaltigkeitsstrategie anpassen müssen, ebenso die
Indikatoren, die zur Prüfung dienen .
Aber auch auf europäischer Ebene ist eine Weiterent-
wicklung der Nachhaltigkeitsstrategie notwendig . Auf
dieser Ebene sind wir als Beirat in Gesprächen ebenfalls
aktiv . Angesichts der globalen Herausforderungen gilt es,
noch einmal die Notwendigkeit einer globalen nachhal-
tigen Entwicklung zu betonen . Auch wenn es schwierig
ist, weil die Länder unter Nachhaltigkeit etwas Unter-
schiedliches verstehen, gilt: Wir haben dank der globa-
len Nachhaltigkeitsziele eine Chance, die wir ergreifen
sollten .
Achten wir also, wie Papst Franziskus es in seiner En-
zyklika sagt, aufeinander und haben wir sorgsam Acht
auf die Schöpfung. Das ist, wie ich finde, eine sehr schö-
ne Definition von Nachhaltigkeit.
Herzlichen Dank .
Das Wort erhält nun die Kollegin Valerie Wilms für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wieder ist ein Jahr vorbei .
Woran merken wir das? Wir haben mal wieder das The-
ma Nachhaltigkeit auf der Tagesordnung des Plenums,
und das zu prominenter Stunde, in der sogenannten Kern-
zeit . Das scheint mir fast eine vorweihnachtliche Tradi-
tion zu werden . Kollege Lenz, Kollege Träger, Kollegin
Menz, vielleicht schaffen wir das nächstes Jahr ja auch
wieder . Gucken wir mal .
Dr. Andreas Lenz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14517
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Viele sind heute gekommen, um zuzuhören . Das ist
etwas Neues . Das haben wir bei Nachhaltigkeitsthemen
sonst nicht unbedingt . Das Auditorium ist zwar nicht so
groß, wie wenn wir über ein riesiges Streitthema debat-
tieren, aber es sind doch eine ganze Menge Abgeordnete
da .
Nachhaltigkeit ist also nicht länger ein kleines Ni-
schenthema, um das sich eine Handvoll Leute kümmert .
Nein, Nachhaltigkeit geht uns alle an, werte Kolleginnen
und Kollegen . Generationengerechtigkeit, Lebensqua-
lität, sozialer Zusammenhalt und internationale Verant-
wortung – wer sich von diesen Themen überhaupt nicht
angesprochen fühlt, möge die Hand heben . Der Nachhal-
tigkeitsgedanke ist so allumfassend, dass eben jeder und
jede betroffen ist .
Mit der Verabschiedung der 17 globalen Nachhaltig-
keitsziele, der schon mehrfach angesprochenen SDGs,
und dem wegweisenden Klimavertrag von Paris – Frau
Hendricks, herzlichen Dank – bekommt die Nachhaltig-
keitspolitik neuen Schwung . Beide Verträge bedeuten
Umsetzungsanstrengungen, auch hierzulande .
Frau Hendricks, daran mangelt es noch massiv . Vielleicht
sollten Sie Ihren Koalitionspartner ein bisschen einnor-
den, wenn ich das als Norddeutsche einmal so sagen darf .
Der Zug fährt, und er fährt in die richtige Richtung .
Jetzt muss man nur noch einsteigen . Deswegen möchte
ich die Bundesregierung bitten, nicht nur mitzufahren
und im Bordrestaurant über das gute Leben zu sinnie-
ren – dazu später noch ein bisschen mehr –; nein, sie soll
vorne Platz nehmen und den Zug mit steuern . Das wäre
ihre Aufgabe .
Die Voraussetzungen dafür sind durchaus gut . Wir ha-
ben bereits seit 2002 – Herr Kauder, daran sollten auch
Sie sich einmal zurückerinnern; Sie sind ja lange genug
dabei –
eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie . Wir haben eine
Kanzlerin – da spreche ich jetzt auch die Union an –, die
sich auch einmal als „Klimakanzlerin“ bezeichnet hat .
Das scheint ihr bei der nationalen Umsetzung der Kli-
mapolitik aber leider öfter zu entfallen . Irgendwie ist das
verloren gegangen .
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich mache mir gro-
ße Sorgen, dass sich die Bundesregierung hier verzettelt .
Die Nachhaltigkeitsstrategie soll nächstes Jahr fortge-
schrieben und an die sogenannten SGDs angepasst wer-
den . So weit, so gut .
Die Regierung hat sich dazu ein aufwendiges Prozedere
ausgedacht: Es gibt Regionalkonferenzen . Bürgerinnen
und Bürger und die Zivilgesellschaft können sich vor Ort
oder im Netz einbringen . Das klingt so weit gut .
Aber irgendwie kenne ich das . Das gleiche aufwendi-
ge Prozedere gibt es noch ein zweites Mal: bei der so-
genannten Gut-Leben-Strategie . Hier gibt und gab es
100 Bürgerdialoge und eine aufwendige, wissenschaft-
lich begleitete Auswertung . An deren Ende soll stehen –
ich zitiere von der Homepage der Bundesregierung –:
Die gewonnenen Erkenntnisse münden in Indikato-
ren für Lebensqualität, an denen sich die Bundesre-
gierung künftig orientieren wird . Ein Bericht wird
über den Stand sowie die Entwicklung von Lebens-
qualität in Deutschland Auskunft geben .
Das kommt Ihnen bekannt vor? Ja, mir auch, liebe Bun-
desregierung . Aufwachen und nicht weiter Geld ver-
plempern! Das alles gibt es bereits seit 2002 .
Das nennt sich nämlich Nachhaltigkeitsstrategie . Die
hätten Sie nur regelmäßig anwenden und aktualisieren
müssen . Die Indikatoren der Nachhaltigkeitsstrategie
und einen Bericht über deren Entwicklung finden Sie alle
zwei Jahre in einer schönen Veröffentlichung des Statisti-
schen Bundesamtes mit dem Titel „Nachhaltige Entwick-
lung in Deutschland“ . Ich habe sie einmal mitgebracht;
die anderen Kollegen haben sie ja noch nicht gezeigt .
Dies ist Anlass unserer heutigen Debatte . Der Parlamen-
tarische Beirat für nachhaltige Entwicklung bewertet den
Bericht und die Entwicklung der Indikatoren . Er mahnt
Verbesserungen an und zeigt, wo Konzepte und Verände-
rungen nötig sind – das alles übrigens im Konsens und
in guter Zusammenarbeit mit allen Fraktionen, wofür ich
mich an dieser Stelle herzlich bedanke; das klappt näm-
lich wirklich toll .
Auch wenn es ein mühsamer Prozess ist, schaffen wir
es, sozusagen die größte Schnittmenge, die wir hier im
Haus finden können, darzustellen, und das abseits allen
Tagesstreits .
Der Indikatorenbericht zeigt auf den ersten Blick, dass
noch lange nicht alle Ziele erreicht sind; manche sind
nicht einmal auf einem guten Weg . Beispiel: Güterver-
Dr. Valerie Wilms
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kehr . Er wurde von Herrn Lenz ja schon angesprochen;
ich gehe damit noch ein bisschen härter um . Eine Verla-
gerung weg vom Lkw hin zu Schiene oder Wasserstraße
hätte positive Umweltauswirkungen . Insbesondere im
Hinblick auf die Klimakonferenz in Paris ist die bessere
Umweltbilanz von Schiene und Wasserstraße ein wichti-
ger Faktor . Leider stagnieren beide Werte, bzw . sie ent-
wickeln sich rückläufig. Die gesetzte Zielmarke ist also
weit, weit entfernt . Da müssen wir ran .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ich frage mich
schon: Was sind die Ziele eines Berichts zum sogenann-
ten guten Leben? Wohin führt uns ein weiteres Indikato-
renset? Soll da nur die Doppelarbeit der Enquete-Kom-
mission aus der letzten Wahlperiode fortgesetzt werden?
Machen Sie hier etwa vorgezogene Wahlwerbung mit
Steuermitteln? Die Gefahr der Doppelung verschiede-
ner Indikatoren mit der Nachhaltigkeitsstrategie ist recht
hoch . Was ist, wenn sich die Indikatoren gegenseitig
widersprechen? Nach Planung der Bundesregierung be-
kommen wir im Sommer 2016 einen Bericht und einen
Aktionsplan für das sogenannte gute Leben .
Im Herbst 2016 kommt dann die Fortschreibung der
Nachhaltigkeitsstrategie, ebenfalls mit neuen Indikato-
ren .
Verstehen Sie mich nicht falsch: Bürgerbeteiligung ist
begrüßenswert; wir Grünen stehen voll dahinter .
Auch das Messen politischer Ziele und deren tatsächliche
Durchsetzung sind eine gute Sache . Ich frage mich aber:
Warum werden mit so großem Aufwand immer wieder
neue Strategien und Konzepte erarbeitet?
Warum konzentriert man sich nicht einfach einmal auf
die Umsetzung bereits etablierter Konzepte? Oder muss
jede neue Koalition, Herr Kauder, immer wieder das Rad
neu erfinden, nur damit es etwas Neues gibt?
Die Nachhaltigkeitsstrategie ist wirklich nicht neu und
im Kanzleramt als zentraler Regierungsstelle definitiv
verankert . Trotzdem bekommen wir im Beirat heute im-
mer noch häufig Gesetzentwürfe, aus denen klar hervor-
geht, dass die Existenz dieser Strategie nicht bis in alle
Äste der Regierung vorgedrungen ist .
Die Nachhaltigkeitsprüfung in den Gesetzen wird bes-
ser . Dafür möchte ich mich an dieser Stelle einmal bei
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Ministeri-
en bedanken .
Aber sie ist immer noch nicht überall bekannt . Deshalb
sollten wir unsere Energie auf das Vorhandene verwen-
den . Wir müssen die Nachhaltigkeitsstrategie ernst neh-
men und mit Leben füllen,
statt immer wieder neue Strategien ins Leben zu rufen
und planlos nebeneinanderzustellen . Das vernebelt und
verwirrt nämlich nur . Nachhaltigkeitspolitik muss aber
genau das Gegenteil erreichen: Wir müssen klarer sehen,
was wir mit unserer heutigen Politik in der Zukunft an-
richten . Das ist die entscheidende Frage . Deswegen lau-
tet meine eindeutige Aufforderung: etwas weniger PR
für diese Wohlfühlkoalition und etwas mehr klassisches
politisches Handwerk .
In diesem Sinne sollten wir schauen, dass wir gut ins
nächste Jahr kommen, und uns dann wieder hier zu die-
sem Thema treffen .
Herzlichen Dank .
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Lars
Castellucci das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachhaltigkeit
ist wirklich eine Überlebensfrage für die Menschheit . Es
ist aber gleichzeitig eine Chance auf mehr Lebensqualität
für Menschen, denen es deutlich schlechter geht als den
Menschen bei uns . Und auch bei uns gibt es Menschen,
denen es schlecht geht . Wirtschaftlichen Wohlstand, die
Bewahrung der Schöpfung und das soziale Miteinander
in Einklang zu bringen, dafür intelligente Lösungen zu
finden und über Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten:
Das ist wirklich ein großes Versprechen und ein Ansporn
für uns in der Politik .
Ich zitiere jetzt einmal etwas:
Nachhaltige Entwicklung heißt, mit Visionen, mit
Fantasie und Kreativität die Zukunft zu gestalten,
Neues zu wagen und unbekannte Wege zu erkunden .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist nicht
von Greenpeace oder WWF, sondern von der Bundesre-
gierung .
Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine kritische Refle-
xion unseres Arbeitens: Wie häufig ist ein Kompromiss,
den wir finden, dann doch nur ein bisschen etwas von
dem einen und etwas von dem anderen und eben noch
nicht die intelligentere Lösung, die wir brauchen? Ge-
rade jetzt am Jahresende erleben wir, wie Kolleginnen
und Kollegen von einem Termin zum anderen hetzen . Ich
frage uns einmal: Wo ist denn der Raum für Fantasie und
Kreativität im politischen Bereich?
Dr. Valerie Wilms
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14519
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(D)
Nehmen wir einmal den Begriff der Nachhaltigkeit .
Für diesen Begriff könnten wir hier wahrscheinlich sehr
viele unterschiedliche Definitionen finden, aber in einem
stimmen wir doch überein: Es geht um Langfristigkeit,
um etwas, das auf Dauer angelegt ist . Wie sehr sind wir
auch im politischen Betrieb bei dem, was wir tagtäglich
tun, von der Nachrichtenlage beeinflusst?
Ich glaube, wir brauchen gar nicht zu streiten, ob das
Glas zurzeit halb leer oder halb voll ist, sondern wir
können, wie es auch schon angeklungen ist, gemeinsam
feststellen: Beim Thema Nachhaltigkeit ist noch viel Luft
nach oben, auch in Deutschland .
Gleichzeitig ist jetzt ein guter Zeitpunkt, über Nach-
haltigkeit zu sprechen; denn gerade haben wunderbare
Ereignisse wie der Gipfel in New York und der Klima-
gipfel in Paris stattgefunden . Das gibt uns Rückenwind .
Ich will auch sagen, dass die Flüchtlinge, die zu uns
kommen, uns zeigen, dass die Probleme, die es auf dieser
Welt gibt, eben nicht weit weg sind, sondern auch mit uns
etwas zu tun haben, und dass diese Probleme, wenn wir
unserer Verantwortung nicht gerecht werden – so gut wir
das als eine starke Nation und ein starkes Europa eben
können –, auch zu unseren Problemen werden .
Außerdem ist unsere Bevölkerung derzeit auf Mitma-
chen getrimmt, wie wir das nie zuvor – abgesehen von
der Zeit, als das Land in Trümmern lag – erlebt haben .
Diesen guten Zeitpunkt für eine Fortschreibung der na-
tionalen Nachhaltigkeitsstrategie müssen wir engagiert
nutzen .
Da bald Weihnachten ist, wünsche ich mir etwas: Ich
wünsche mir, dass wir ehrgeizige Ziele finden, dass wir
wirklich aufgreifen, was in New York verabschiedet wur-
de, und dass wir nicht Ziele definieren, die wir ohnehin
erreichen, weil wir stark sind, sondern dass wir ehrgeizi-
ge Ziele erarbeiten, mit denen wir wirklich einen Beitrag
zur Erreichung der globalen Ziele leisten .
Ich wünsche mir, dass wir an 1992 anknüpfen und et-
was schaffen, was es damals gegeben hat, nämlich einen
wirklichen gesellschaftlichen Aufbruch zu mehr Nach-
haltigkeit . Ich denke an die Lokale Agenda 21 . Wir brau-
chen so etwas wie eine Lokale Agenda 2 .0, die wir jetzt
ausgehend von der Diskussion über die nationale Nach-
haltigkeitsstrategie starten müssen .
Und wir müssen uns als Parlament – das ist auch
schon angeklungen – das Thema Nachhaltigkeit stärker
aneignen, als das in der Vergangenheit geschehen ist .
Es ist doch so: Das Thema Nachhaltigkeit fristet eher ein
Nischendasein, als dass es wirklich Leitbild und Zentrum
der nationalen Politik ist . Darum lautet meine Forderung,
dass wir die nationale Nachhaltigkeitsstrategie nicht nur
zur Kenntnis nehmen, sondern dass sie einem Beschluss
des Deutschen Bundestages zugeführt wird, dass wir sie
hier im Parlament diskutieren und verabschieden .
Wir haben aufgrund der Gipfelergebnisse Grund, opti-
mistisch zu sein, und wir haben, wie es Karl Popper sagt,
sogar die Pflicht, optimistisch zu sein. Es ist kein Opti-
mismus im Sinne von „Es wird schon werden“, sondern
ein Optimismus der Tat . Vielleicht nicht mehr vor Weih-
nachten, aber im nächsten Jahr wollen wir damit enga-
giert weitermachen .
Alles Gute und vielen Dank allen, die sich für dieses
Thema engagieren .
Sabine Leidig ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke .
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
kann mich Herrn Castellucci nur anschließen . Auch ich
wünsche mir ehrgeizigere Ziele für die Veränderung un-
serer Produktions- und Lebensweise; denn nichts anderes
steht eigentlich auf der Tagesordnung, wenn wir es wirk-
lich schaffen wollen, nachhaltig zu leben .
Nun ist es aber so – das haben einige der Vorredner
und Vorrednerinnen auch schon gesagt –, dass die Rele-
vanz dieser Nachhaltigkeitsstrategie nicht in allen Berei-
chen des parlamentarischen und des Regierungshandelns
zu spüren ist . In manchen Feldern passiert immer wieder
das Gegenteil . Das Thema „Mobilität und Verkehr“ wur-
de ja schon angesprochen .
Ich würde gerne einen Vorschlag machen, mit dem ich
ein bisschen von den großen strategischen Linien herun-
tergehe, auf denen es immer extreme Widersprüche gibt,
über die wir uns als politische Parteien durch eine Dis-
kussion über das Wie der Umsetzung auseinandersetzen
müssen: Ich möchte Ihnen vorschlagen, wie der Parla-
mentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung tatsäch-
lich zum Stachel werden kann .
Ich finde, das ist ein richtiger Anspruch. Das erreichen
wir, indem wir uns darum kümmern, wie der Bundestag
selber handelt und welche konkreten Maßnahmen in un-
serem eigenen Haus umgesetzt werden oder nicht .
Ich will hier zwei Beispiele nennen, die ganz aktuell
sind:
Erstens . Unser Fahrdienst RocVin, den einige mehr,
andere weniger häufig benutzen, will die 55 VW Passat,
Dr. Lars Castellucci
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514520
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die im Mai letzten Jahres angeschafft worden sind, durch
Mercedes-Fahrzeuge ersetzen .
– Sie sagen, das sei nachhaltig .
RocVin sagt, diese Fahrzeuge seien imagestärker . Ich
weiß nicht, ob es wirklich nachhaltig ist, und finde, dar-
um müsste man sich kümmern .
Den zweiten Punkt finde ich noch wichtiger. Derzeit
werden etwa 30 Leute eines IT-Service, die die IT von
400 Abgeordnetenbüros betreuen, entlassen . Der IT-Ser-
vice wird vom Bundestag alle zwei Jahre neu ausge-
schrieben . Jetzt werden diese Leute entlassen, weil ein
anderes Unternehmen diesen Service billiger anbietet .
Ob das sicherer, sinnvoller, nachhaltiger und sozialer ist,
ist mit großen Fragezeichen zu versehen, und ich bitte
darum, dass sich der Parlamentarische Beirat zum Für-
sprecher einer nachhaltigen Personalpolitik im Bundes-
tag macht .
Sorgen Sie dafür, dass mit diesem Unsinn Schluss ge-
macht wird; denn dadurch werden die Leute immer wie-
der in existenzielle Unsicherheit gestürzt und wir Abge-
ordnete und Mitarbeiter des Bundestages müssen uns mit
immer wieder anderen Leuten ständig neu einarbeiten .
Im Hinblick auf die soziale Nachhaltigkeit wäre das ein
sehr konkreter und sehr wirksamer Schritt .
Danke schön .
Der nächste Redner ist der Kollege Andreas Jung für
die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will zu Beginn an meine Vorrednerin anknüpfen und un-
terstreichen, dass sich der Parlamentarische Beirat durch-
aus als Fürsprecher dafür versteht, dass wir als Deutscher
Bundestag mit dem, was wir hier tun, Vorreiter für nach-
haltige Entwicklung sind und dass das, was wir fordern,
beispielsweise im Bereich der nachhaltigen Mobilität,
sich als Erwartung an das eigene Haus, an den eigenen
Fahrdienst richtet .
Ich will in diesem Zusammenhang auch betonen,
dass es – sicher nach langem Ringen und vielen Dis-
kussionen – gelungen ist, die Grenzwerte für die Autos
im Fahrdienst des Bundestages zu verschärfen und die-
se verschärften Grenzwerte auch einzuhalten . Der Par-
lamentarische Beirat fordert jetzt, dass hier verstärkt
Elektroautos eingesetzt werden . Nach Gesprächen mit
dem Ältestenrat vertrauen wir darauf, dass es genau so
kommt . Ich möchte diesen Ort dafür nutzen, dieser For-
derung noch einmal Nachdruck zu verleihen . Wenn wir
Elektromobilität insgesamt voranbringen wollen, dann
müssen wir selber mit diesen Autos fahren . Deshalb ist
es der richtige Weg, das hier zu betonen .
Wir sprechen heute über den Indikatorenbericht, mit
dem das Vorankommen der Nachhaltigkeitsstrategie
geprüft wird . Die Nachhaltigkeitsstrategie sind qua-
si die Zehn Gebote für eine nachhaltige Entwicklung
in Deutschland, und dieser Bericht ist die unabhängige
Überprüfung als Vorlage für das Beichtgespräch . Dabei
stellt sich die Frage: Wo kommen wir gut voran, und wo
kommen wir weniger gut voran?
Ich will zunächst einmal die internationalen Entwick-
lungen aufgreifen, die schon angesprochen worden sind .
Da kann man nun sagen, dass wir in diesem Jahr ausge-
sprochen gut vorangekommen sind . Wir haben gestern
in der Aktuellen Stunde über den Weltklimavertrag dis-
kutiert, der nach langem Ringen in Paris endlich verab-
schiedet werden konnte, ein Erfolg dieser Bundesregie-
rung .
Ich will heute verstärkt auf den Nachhaltigkeitsver-
trag, den Weltzukunftsvertrag, eingehen, der auch durch
den Einsatz der Bundesregierung mit den internationalen
Partnern im September dieses Jahres in New York ver-
abschiedet werden konnte und der einen Paradigmen-
wechsel in der internationalen Politik für Nachhaltigkeit
darstellt . 13 Jahre nach dem Umweltgipfel von Rio ist es
endlich gelungen, in diesem Jahr in beiden Bereichen,
Entwicklung und Umwelt, Verträge zu schließen und
damit einen Knopf dranzumachen . Damit wird in New
York ein Wechsel vollzogen: von den Millenniumszie-
len – damals vertrat man noch die Denkweise: das sind
Entwicklungsziele für die Entwicklungsländer; sie sollen
im Prinzip so werden wie wir, dann wird alles gut – hin
zu der Denkweise: Wir alle müssen uns entwickeln; denn
wenn die Menschen in den Entwicklungsländern mit
Ressourcen, Energie und Flächen so umgehen würden
wie wir, dann bräuchten wir zwei Planeten . Wir haben
aber nur einen, und den müssen wir gemeinsam bewah-
ren . Deshalb sind diese Verträge ein Erfolg . Sie sind aber
jetzt vor allem auch Auftrag .
Zu diesem Auftrag gehört unsere internationale Ver-
antwortung. Ich will an dieser Stelle betonen: Ich fin-
Sabine Leidig
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de, es ist ein großer Erfolg, dass es gelungen ist, den
Etat für Entwicklungshilfe in den nächsten Jahren um
8,3 Milliarden Euro aufwachsen zu lassen . Das ist ein
ganz erheblicher Fortschritt . Wir können sagen: Wenn es
die Bundesregierungen vor uns genauso gemacht hätten
wie diese Bundesregierung, dann müssten wir uns keine
Sorgen über die Einhaltung des 0,7-Prozent-Ziels – also
0,7 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für Entwick-
lungshilfe bereitzustellen – machen . Da haben wir jetzt
einen wichtigen Punkt gemacht .
Trotzdem müssen wir, weil das in der Vergangen-
heit eben nicht erfolgt ist, den Finger immer wieder in
die Wunde legen und sagen: Das müssen wir erreichen .
Dieses Versprechen wurde über Jahre und Jahrzehnte
von unterschiedlichen Bundesregierungen gegeben . Das
muss eingehalten werden . Dafür brauchen wir einen ganz
konkreten Stufenplan, der auch gegenüber den Partnern
in den Entwicklungsländern zeigt: Wir nehmen unsere
Verantwortung wahr, und wir lösen unsere Versprechen
ein . – Das gehört zur Glaubwürdigkeit dazu . Das müssen
wir auch tun .
In dem Bericht wird mit Blick auf die internationale
Verantwortung darauf hingewiesen, dass unser Handel
mit Entwicklungsländern stagniert . Da müssen wir vor-
ankommen . Wir brauchen Wertschöpfung in diesen Län-
dern . Nur durch diese Wertschöpfung wird es dort auch
Perspektiven geben . Nur dann werden die Menschen dort
ihre Zukunft sehen und vor Ort bleiben .
Deshalb brauchen wir Fortschritte – das betrifft das
Ressort von Gerd Müller –: Wir müssen die Transparenz
der Lieferketten engagiert angehen und uns dafür einset-
zen, dass das, was dort produziert und hier verkauft wird,
sich nicht in einer Sphäre vollzieht, in der unsere sozialen
und ökologischen Standards nicht eingehalten werden .
Das Beispiel der T-Shirts ist bereits angesprochen wor-
den . Wir haben uns im Beirat mit Kakao und Schokolade
aus nachhaltigem Anbau beschäftigt . Das, was wir hier
konsumieren, muss nachhaltig produziert werden . Dafür
tragen auch wir Verantwortung, und deshalb unterstützen
wir diese Aktivitäten .
Was das angeht, was in letzter Zeit nicht so gut ge-
laufen ist, will ich die Europäische Union ansprechen .
Wir werden den Prozess einer internationalen Nachhal-
tigkeit nur dann prägen können, wenn wir als Europäer
geschlossen auftreten . Das war bei der Konferenz in New
York der Fall . Aber die Europäische Union wollte ihre
eigene Nachhaltigkeitsstrategie einstampfen . Sie sollte
nur noch ein Unterpunkt der Strategie Europa 2020 sein .
Dazu haben wir als Beirat über alle Fraktionsgrenzen
hinweg gesagt: Das kann nicht sein .
Die Bundesregierung hat uns in Brüssel unterstützt .
Wir haben gefordert, dass die Strategie fortgeführt wird,
und nach langem Ringen und vielen Gesprächen gibt es
jetzt Anzeichen, dass die EU die Nachhaltigkeitsstrategie
fortführt .
Das ist wichtig und notwendig . Alles andere wäre auch
ein Armutszeugnis gewesen .
Zu dem, was wir in Deutschland machen, gibt es in
dem Bericht vieles, das einen optimistisch stimmen
kann . Andreas Lenz hat auf die ausgeglichenen Haushal-
te hingewiesen . Ich will hinzufügen: Dazu tragen auch
die Quote der Jugendlichen, die eine qualifizierte Aus-
bildung abschließen, die hohe Beschäftigungsquote und
die geringe Arbeitslosenquote bei . Das ist ein Beitrag
zur Generationengerechtigkeit und zur nachhaltigen Ent-
wicklung . Damit sind wir auf einem guten Weg, und den
gilt es weiter voranzuschreiten .
Ich will aber zum Schluss auch ansprechen, dass wir
Hausaufgaben haben . Ich will einige wenige Bereiche
ansprechen . Wir haben vor allem Hausaufgaben im Be-
reich der Artenvielfalt . Die Zahlen sind drastisch und
dramatisch: Arten verschwinden, und wenn eine Art erst
einmal verschwunden ist, dann kann man das nicht mehr
korrigieren; dann ist sie für immer weg . Deshalb müssen
wir jetzt konsistent über alle Ressorts und Fachbereiche
hinweg – Umwelt, Landwirtschaft, Forsten und Städte-
bau – handeln; da besteht Handlungsbedarf .
Ich will noch einen Bereich hinzufügen: Das gilt auch für
das Vorankommen des Ökolandbaus . Da sind die Öster-
reicher noch besser als wir, und wir sollten entsprechend
aufholen .
Es gibt also noch einiges zu tun . Wir werden das als
Parlamentarischer Beirat beherzt angehen . Ich will mich
zum Ende dieses Jahres bei allen Kolleginnen und Kolle-
gen für die ausgesprochen gute und konstruktive gemein-
same Arbeit an der Sache und für die Sache bedanken .
Alles Gute .
Das Wort hat nun der Kollege Bernd Westphal für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der heutigen Debatte geht es um die anste-
hende Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie .
Durch die neuen globalen Nachhaltigkeitsziele haben
Andreas Jung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514522
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sich die Anforderungen erhöht . Deutschland muss sicht-
bar seine Vorreiterrolle behalten . Wir müssen technolo-
gisch, wirtschaftlich, sozial und ökologisch stark bleiben .
Ich möchte auf einige der insgesamt 21 Indikatoren
eingehen . Wir brauchen ein klares Ja zur Energiewende
und zur Energieeffizienz. Nur dadurch ist eine Senkung
des Primärenergieverbrauchs möglich . Wir müssen die
Treibhausgase in den bisher festgelegten Pfaden reduzie-
ren . Allerdings ist auch die hohe industrielle Wertschöp-
fung in Deutschland zu berücksichtigen . Sie hat uns gera-
de in der Finanzkrise enorm geholfen . Dekarbonisierung
darf nicht Deindustrialisierung bedeuten .
Bei den erneuerbaren Energien brauchen wir glo-
bal mehr Anstrengungen für eine umweltverträgliche
Strom erzeugung . Die bisherige weltweite Entwicklung
mit steigendem Energie- und Stromverbrauch und stei-
genden CO2-Emissionen muss durchbrochen werden . In
Deutschland sind wir gerade im Strombereich auf einem
guten Weg und müssen nun den Strommarkt und die vo-
latilen erneuerbaren Energien aufeinander abstimmen .
Nachholbedarf gibt es im Wärme- und Verkehrsbereich
sowie in der Landwirtschaft . Anstrengungen auf Bun-
desebene, Landesebene und kommunaler Ebene müssen
mehr verzahnt und koordiniert werden .
Was die wirtschaftliche Zukunftsvorsorge angeht:
Deutschland ist nach wie vor eine der bedeutendsten In-
dustrienationen der Welt . Wohlstand und Beschäftigung
hängen deshalb mehr als in anderen Ländern in hohem
Maße von der industriellen Produktion ab . Auch aus der
Innovationskraft der Industrie und des Mittelstands ent-
stehen international anerkannte Qualitätsprodukte, die
wir zur Lösung der globalen Probleme dringend brau-
chen . Sorge muss uns die stagnierende und teilweise
rückläufige Nettoinvestitionsquote der letzten Jahre ma-
chen .
Wir brauchen direkte und indirekte Impulse für die Brut-
toanlageinvestitionen .
In Verbindung mit Nachhaltigkeit stehen Anreize für
Energieeffizienz, aber auch für den Erhalt der öffent-
lichen Infrastruktur . Anreize privater Investitionen in
nachhaltige Entwicklung müssen daher gefördert wer-
den . Wir brauchen klare politische und sichere Rahmen-
bedingungen für ein investitions- und innovationsfreund-
liches Umfeld .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht nur um
die Erreichung eines Ziels, sondern um die Verknüpfung
der Ziele . Alle Ziele greifen ineinander und helfen dabei,
Nachhaltigkeit in Deutschland zu schaffen . Wir brauchen
eine nachhaltige Industrie-, Energie- und Klimapolitik,
die industrielle Entwicklung und Innovation fördert,
langfristig eine umwelt- und klimaverträgliche Energie-
versorgung sichert, das Klima schützt und den sozialen
Fortschritt voranbringt . Es geht aber nicht um Arbeit statt
Umwelt oder um Umwelt statt Arbeit, sondern um die
Förderung all dessen, was eine Vereinbarkeit im Sinne
der Nachhaltigkeit auf höherem Niveau ausmacht . Dazu
gehören vor allen Dingen auch Arbeits- und Ausbil-
dungsplätze .
Bei dem, was wir heute tun, müssen wir die Zukunft
unserer Kinder und Enkelkinder im Blick behalten .
Das darf ihre Aussicht auf eine lebenswerte Umwelt in
Wohlstand und sozialer Sicherheit nicht schmälern . Das
sage ich als Vater von drei Söhnen und stolzer Großva-
ter des kleinen Louis, der vor allen Dingen Perspektive
braucht . Wir haben als Abgeordnete Verantwortung . Wir
müssen für ein tragfähiges Gleichgewicht zwischen Um-
weltschutz, sozialer Verantwortung und wirtschaftlicher
Notwendigkeit sorgen . Der notwendige Strukturwandel
wird nur gelingen, wenn wir soziale, ökologische und
wirtschaftliche Aspekte gleichrangig berücksichtigen .
Eine nachhaltige Zukunft liegt in unserer Hand . Ein La-
kota-Indianer hat einmal gesagt: „Wir haben die Erde
nicht von unseren Eltern geerbt, wir haben sie von unse-
ren Kindern geliehen .“
Herzlichen Dank für die interfraktionelle Zusammen-
arbeit im Parlamentarischen Beirat . Herzliches Glückauf!
Für die CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner der
Kollege von Marschall .
Vielen herzlichen Dank . – Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt ein wenig
Kritik vorab und dann ein wenig Lob hintenan . Die Kri-
tik betrifft die Präsenz der beiden maßgeblichen Ministe-
rien, des Umweltministeriums und des Ministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung . Ich
kann nicht erkennen, dass die beiden zuständigen Minis-
ter anwesend sind;
Frau Hendricks war wohl vorhin anwesend .
Was mich erfreut – das ist das Lob hintenan –, ist die
Präsenz unseres Fraktionsführers . Vielen Dank, Herr
Kauder! Die übrigen Fraktionsführer kann ich, soweit ich
das im Moment überblicke, nicht erkennen .
Bernd Westphal
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14523
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Herr Kollege von Marschall, ich kann im Augenblick
aber auch eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kolle-
gen nicht erkennen .
Das ist angesichts der Prime Time, zu der wir über
diesen Tagesordnungspunkt diskutieren, noch bedauerli-
cher .
– Ja, jetzt kommen wir zum Thema . Welche Bedeutung
das Thema für manche hat, wird symbolisiert durch ihre
Präsenz .
Weil der Einwurf von der Linken kam: Frau Kollegin
Menz, wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie davon
gesprochen, dass es gilt, den Wachstumszwang zu über-
winden .
Aber ohne Wachstum gibt es leider keinen wirtschaftli-
chen Erfolg, und ohne wirtschaftlichen Erfolg können
auch keine Steuereinnahmen erzielt werden . Ohne Steu-
ereinnahmen besteht nicht die Möglichkeit, 1 Million
Flüchtlingen in diesem Land zu helfen .
Insofern ist es schon hilfreich, dass wir mit annähernd
700 Milliarden Euro Steuereinnahmen maßgeblich in
Deutschland und wesentlich in Europa einen Beitrag
leisten .
Sie brauchen gar nicht zu schimpfen; denn uns in
Deutschland ist es immerhin gelungen, die wirtschaftli-
che Entwicklung vom Ressourcenverbrauch zu entkop-
peln . Im Übrigen sind wir führend beim Aufbau der Nut-
zung erneuerbarer Energien, und wir sind dank unserer
Forschung maßgeblich verantwortlich für den Technolo-
gietransfer . Das ist ein nennenswerter Beitrag zur Nach-
haltigkeit insgesamt .
In dieser Nachhaltigkeitsdebatte beziehe ich mich
symbolisch auf einen Punkt, um klarzumachen, wie
schwierig es ist, die Balance herzustellen, nämlich auf
den Baubereich, für den wir im Umweltausschuss eben-
falls Verantwortung tragen . Zu uns kommen Hundert-
tausende von Menschen und brauchen, etwa in Univer-
sitätsstädten wie meiner Heimatstadt Freiburg, neuen
Wohnraum . Hier müssen wir eine Balance zwischen öko-
logischen Ansprüchen an das Bauen, notwendiger Bau-
geschwindigkeit und Kosteneffizienz finden. In dieser
Balance befindet sich unsere praktische Politik. Wenn
wir zusätzlich eine halbe Milliarde Euro für den sozia-
len Wohnungsbau ausgeben, aber ohne Priorisierung von
Flüchtlingen oder von Bedürftigen, die in unserem Land
schon leben, dann ist auch das ein gutes Symbol dafür,
wie wir Nachhaltigkeit begreifen .
Ich würde ganz gern noch, sehr geehrter Herr Präsi-
dent, auf unser Haus und seine Arbeit zu sprechen kom-
men . Herr Präsident, Sie haben ja am 1 . September 2015
auf der Welt-Parlamentspräsidentenkonferenz in New
York eine Ansprache gehalten . Wir hatten die Freude,
während des Klimagipfels in Paris mit dem Präsidenten
der Interparlamentarischen Union, mit Saber Chowd-
hury, zusammenzutreffen, von dem wir Ihnen – das darf
ich an diesem Platz vielleicht sagen – ganz herzliche
Grüße übermitteln sollen .
Es ist für uns von außerordentlicher Bedeutung, den
interparlamentarischen Austausch voranzubringen, um
festzustellen, wie in anderen Parlamenten der Erde so-
zusagen fachausschussübergreifend die Arbeit der Nach-
haltigkeitsentwicklung vorangebracht wird oder wie sie
im Moment vielleicht auch noch nicht vorangebracht
wird . Insofern begreifen wir diese Möglichkeit des in-
terparlamentarischen Austausches, auch auf solchen glo-
balen Konferenzen, als eine Möglichkeit, anderen dies-
bezüglich hilfreich zur Seite zu stehen und Anregungen
zu geben .
Liebe Frau Dr . Wilms, ich möchte auf Ihren stets prag-
matischen Ansatz zurückkommen . Sie haben vollkom-
men Recht: Dopplungen sind an sich nicht sinnvoll .
Wir brauchen die Integration der Arbeit in die Nachhal-
tigkeitsstrategie wegen der Lebensqualität; darüber hi-
naus muss die Integration der globalen, der noch nicht
vorhandenen europäischen und der nationalen Nachhal-
tigkeitsstrategie vollzogen werden . Das gehört für uns
zusammen .
Ich will Ihnen aber schon noch ein bisschen Wasser
in den Wein schütten . Es ist nämlich so, dass das Nach-
haltigkeitsthema leider kein Privileg einer Fraktion oder
Partei ist . Ich freue mich, dass am Montag und Dienstag
der Bundesparteitag der CDU stattgefunden hat . In des-
sen Zentrum stand die umfangreiche Nachhaltigkeitsstra-
tegie der CDU .
Es lohnt sich, das Ganze nachzulesen, auch weil diese
Strategie eine Fortsetzung der bereits begonnenen Poli-
tik ist, etwa unseres Ministers Müller, zum Beispiel im
Zusammenhang mit dem Textilbündnis, durch das eine
durchgängige Lieferkette gewährleistet werden soll .
Ich möchte zum Abschluss auf die Weihnachtstage
blicken, die ja naturgemäß Tage des Abarbeitens von
Wunschlisten sind . Wir können alle zusammen etwas
für Nachhaltigkeit tun, indem wir – Andreas Jung hat es
schon angesprochen – auf zuverlässige Label achten, auf
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514524
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Label, die wir noch entwickeln müssen . Da, wo bei die-
sen Labeln geschummelt wird, müssen wir kräftig auf die
Finger klopfen . Solche Label gibt es bereits im Bereich
der Schokolade und des Tees; Sie kennen das . Mit sol-
chen Produkten lässt sich das Weihnachtsfest mit gutem
Gewissen, was die Nachhaltigkeit angeht, feiern .
Man kann auch darauf achten, inwieweit Produk-
te regional sind . Auch der Lebensmitteleinzelhandel in
Deutschland achtet sehr darauf – ich verweise da vor
allen Dingen auf das Vorgehen von Edeka im Südwes-
ten –, dass regionale Lebensmittel zur Verfügung gestellt
werden . Wir müssen versuchen, in den nächsten Jahren
durch das nationale Parlament – das ist schon wichtig bei
der Verzahnung der verschiedenen Ebenen; nicht nur ho-
rizontal ist ein Austausch nötig, etwa der interparlamen-
tarische Austausch – auf die Bildung, die ja Sache der
Länder ist, einzuwirken, um den Menschen eine bessere
Möglichkeit zu bieten, selber nachzufragen, selber zu ler-
nen, was es eigentlich für sie selbst bedeutet, im Alltag
konkret Nachhaltigkeit zu leben . Und daran wollen wir
arbeiten .
Ich wünsche Ihnen, uns allen am heutigen letzten Sit-
zungstag eine gute und erholsame Weihnachtszeit und
freue mich auf eine wunderbare Zusammenarbeit im
kommenden Jahr .
Die Kollegin Pflugradt ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Werte Gäste! Wir haben schon viel über den
Indikatorenbericht gehört . Ich beziehe mich heute aus-
schließlich auf den Indikator 14e „Anteil der Menschen
mit Adipositas “ .
Die Gesundheit der Bevölkerung ist ein wichtiges Zu-
kunftsthema und entscheidend für die ökonomische und
soziale Entwicklung . Die Mitgliedstaaten der Weltge-
sundheitsorganisation, WHO, der Europäischen Region
haben sich deshalb auf ein gemeinsames Rahmenkonzept
„Gesundheit 2020“ verständigt . Die Strategie ist insbe-
sondere darauf ausgerichtet, gesundheitliche Ungleich-
heiten zu verringern .
Besonders ausgeprägt ist die Bedeutung der sozioöko-
nomischen Situation für die Verbreitung von Adipositas .
Starkes Übergewicht ist ein bedeutender Risikofaktor für
Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck, erhöht – –
– Doch, Herr Kauder, das ist ganz wichtig vor Weihnach-
ten . Uns stehen Tage mit sehr fettreichem Essen bevor .
Von daher können Sie vielleicht noch zwei Minuten zu-
hören . –
Das alles ist uns bekannt, auch Herrn Kauder . Das ist
ganz wunderbar .
Der Anteil adipöser Personen ist jedoch in den niedrigen
Statusgruppen deutlich größer als in den höheren Status-
gruppen . Bei Frauen wirkt sich traurigerweise der sozi-
oökonomische Status noch stärker als bei Männern aus .
Gleichzeitig nehmen jedoch Menschen mit niedrigem
sozioökonomischem Status Präventionsangebote selte-
ner in Anspruch als Personen mit höherem Status .
In Deutschland ist in den vergangenen Jahren eine
Zunahme von ungesundem Ernährungsverhalten und Be-
wegungsmangel festzustellen, in deren Folge die Anzahl
der übergewichtigen Menschen zunimmt . Es ist von be-
sonderer Wichtigkeit, gegen den Anstieg ernährungsbe-
dingter Krankheiten aktiv vorzugehen . Hierbei muss vor
allem die Gruppe der Kinder und Jugendlichen in einen
besonderen Fokus gerückt werden . Kitas und Schulen
gelten wegen ihres universellen und vergleichsweise dis-
kriminierungsarmen Zugangs als Schlüssel zur Verbesse-
rung gesundheitlicher Chancengleichheit .
Die Daten der KiGGS-Studie des Robert-Koch-Insti-
tuts zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit niedrigem
sozialem Status insgesamt seltener sportlich aktiv sind
und seltener Vereinssport treiben und leider Gottes mehr
Zeit mit der Nutzung elektronischer Medien verbringen
als Gleichaltrige aus der mittleren oder hohen Status-
gruppe . Hinzu kommt, dass sich Kinder und Jugendli-
che der niedrigen Statusgruppe ungesünder ernähren . Sie
konsumieren deutlich häufiger Weißbrot, Fleisch, Wurst-
waren, Fast-Food-Produkte sowie fast alle zuckerreichen
Lebensmittel und Getränke . Der Anteil der übergewich-
tigen und adipösen Kinder und Jugendlichen ist in der
niedrigen Statusgruppe ebenfalls am größten .
Präventive Maßnahmen sollen in besonderem Maße
sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen mit einem
niedrigen sozioökonomischen Status erreichen, da die-
se häufig einen schlechteren Gesundheitszustand ha-
ben . Diese Bevölkerungsgruppen nehmen, wie bereits
erwähnt, die verhaltenspräventiven Maßnahmen jedoch
leider am wenigsten wahr . Genau daraus ergibt sich ein
Bedarf an spezifischen Angeboten und an weiterführen-
den Ansätzen . Dazu gehören Maßnahmen zur Gesund-
heitsförderung und verhältnispräventive Maßnahmen,
die das Ziel haben, die Lebens-, Arbeits- und Umweltbe-
dingungen so zu entwickeln, dass sie der Gesundheit der
Bevölkerung dienen .
Es besteht weiterhin erheblicher Bedarf, die Bedeu-
tung von Prävention und Gesundheitsförderung gesell-
schaftspolitisch zu stärken, finanziell auszubauen und
neben den verhaltens- auch verhältnispräventive Maß-
nahmen umzusetzen sowie miteinander zu verzahnen .
Darunter müssen unbedingt Initiativen, die ausgewogene
Ernährung und körperliche Aktivität für alle Menschen
Matern von Marschall
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unterstützen, in den Fokus genommen werden . Uns allen
ist klar, dass natürlich in erster Linie die Eltern in der
Pflicht sind, hierauf zu achten. Dennoch dürfen wir als
Staat sie dabei nicht alleinlassen; denn wir haben doch
ein ureigenes Interesse an der Senkung von horrend teu-
ren Ausgaben im Gesundheitswesen, die man im Kindes-
und Jugendalter bereits vermeiden kann .
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wün-
sche allen hier im Hause eine gesegnete und friedvolle
Weihnacht .
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Sybille Benning für die CDU/CSU-Frakti-
on .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Als letzte
Rednerin in dieser Debatte möchte ich, nachdem wir
noch viel Optimierungspotenzial festgestellt haben, aber
auch eine Menge Lob gehört haben, jetzt einfach einmal
aufzeigen, was wir schon alles unternehmen, um die
Nachhaltigkeitsstrategie mit Leben zu füllen .
Die 17 Nachhaltigkeitsziele müssen jetzt auch lokal
umgesetzt werden . Die Umsetzung dieser konkreten
weltweiten Ziele erfordert es, unser Leben in Zukunft
nachhaltiger zu gestalten. Jetzt befinden wir uns in ei-
nem strukturierten Dialog, um die vertikale Kohärenz bei
der Umsetzung zu gewährleisten . Seit diesem Herbst ge-
schieht das auch unter reger Teilnahme der Bevölkerung
dank der Bürgerdialoge im Rahmen der deutschen Nach-
haltigkeitsstrategie .
In dieser Rede möchte ich mich auf zwei Indikatoren
des Nachhaltigkeitsberichtes konzentrieren: die Indika-
toren zu Bildung und zu Innovation, also Forschung .
Bildung ist der Katalysator für die Sicherung einer
nachhaltigen und damit besseren Zukunft; und in der
neuen Nachhaltigkeitsstrategie soll Bildung für Nachhal-
tigkeit mehr Gewicht erhalten . Bildung für nachhaltige
Entwicklung hat das Ziel, vom Wissen zum Handeln zu
kommen . Bis 2030 soll jeder Lernende zum Beispiel wis-
sen, was ein nachhaltiger Lebensstil ist, was Menschen-
rechte sind und was Geschlechtergerechtigkeit bedeutet .
Das alles soll ein nachhaltiges Bewusstsein fördern .
Bildung für Nachhaltigkeit ist kein Randthema, sondern
gehört in Kita, Schule, Berufsschule, Hochschule, For-
schungsinstitute und Unternehmen; denn der Blick in die
Zukunft muss mitgedacht werden – lebenslang .
Es gibt bereits Initiativen, die diese Aufgaben durch-
führen . Im Anschluss an die UN-Dekade „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“ werden wir jetzt unser nati-
onales Konzept umsetzen . Hier freut es mich ganz be-
sonders, dass auch die erfolgreiche Bundesinitiative zur
MINT-Bildung, das „Haus der kleinen Forscher“, in dem
schon die Kleinsten in Kita und Grundschule für Wissen-
schaft und Forschung begeistert werden, in die Vermitt-
lung von Bildung für Nachhaltigkeit einbezogen wird .
Wenn wir, wie im Koalitionsvertrag festgelegt, 80 Pro-
zent der Kindertageseinrichtungen mit dem „Haus der
kleinen Forscher“ erreichen, so ist das doch wohl schon
ein guter Anfang .
Diese vielversprechende Verbindung von MINT-Initia-
tiven und Bildung für nachhaltige Entwicklung begrüße
ich ausdrücklich .
Ich komme zur Forschung . Forschungsergebnisse un-
terstützen unser Verständnis von Klimawandel und un-
sere Fähigkeit, mit den Folgen umzugehen . Im Rahmen
dieses Wandels zu einer nachhaltigen Gesellschaft müs-
sen wir scheinbar gegenläufige Ziele in Einklang bringen:
Wohlstand, Fortschritt und eine lebenswerte Zukunft .
Dabei sollen gleichzeitig der Ressourcenverbrauch und
der Ausstoß klimaschädlicher Stoffe gemindert werden .
Das ist eine Herausforderung und Chance zugleich . Auch
unser Leitantrag auf dem CDU-Parteitag „Nachhaltig le-
ben – Lebensqualität bewahren“ unterstreicht das einmal
mehr . Er ist lebens- und ausführenswert .
Mit den Kopernikus-Projekten wurde jetzt die größte
Forschungsinitiative zur Energiewende gestartet . Neue
Energiesysteme und -konzepte sollen entwickelt werden,
um sie im großen Maßstab anwenden zu können . Sowohl
die maximale Förderdauer von zehn Jahren als auch die
geplante Fördersumme von 400 Millionen Euro machen
den herausragenden Stellenwert des Vorhabens deutlich .
Kopernikus soll die Weichen für neue Wege in der Ko-
operation von Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft
stellen . Kopernikus ist eine Energieforschung, die uns
hilft, Nachhaltigkeit und unsere Klimaziele zu erreichen .
Das Anfang dieses Jahres vorgestellte Forschungs-
programm „Forschung für Nachhaltige Entwicklung“,
FONA3, ist darauf ausgerichtet, Innovationen zum Um-
bau zu einer nachhaltigen Gesellschaft zu fördern . Unter
den zentralen Elementen des neuen Programms ist neben
der Green Economy und der Energiewende besonders die
Zukunftsstadt das Thema, das mich als Berichterstatterin
für nachhaltige Stadtentwicklung besonders beschäftigt .
Jeannine Pflugradt
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(D)
Die Stadt der Zukunft braucht eine nachhaltige Stadt-
entwicklung .
Nachhaltige Stadtentwicklung ist erfreulicherweise ein
eigenes globales Nachhaltigkeitsziel, das SDG 11 . Im
Bereich nachhaltiger Urbanisierung ist die deutsche For-
schung auch international führend und trägt mit einer
Reihe ausgezeichneter Forschungsprogramme dazu bei,
Städte und Megacitys der Zukunft lebenswert zu machen .
– Wir müssen das mehr in den Vordergrund stellen; da hat
die Kollegin völlig recht .
Zusammen mit den UN-Habitat-Programmen und
weiteren Partnern fördert das BMBF mit dem Projekt
„Rapid Planning“ die Entwicklung einer schnell umsetz-
baren transsektionalen Stadtplanungsmethodik, die eine
rasche Anpassung an schnellwachsende Städte erlaubt .
Ich hatte die Möglichkeit, mit Architekten und Studen-
ten in Hanoi intensiv dieses Programm zu diskutieren . Es
kommt gut an, und es wird auch realisiert .
Für die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie wäre es
gut – das meint auch der Bericht –, Faktoren mit den In-
dikatoren Fläche, Innovation und nachhaltige Mobilität
im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung zusam-
menzufassen und abzubilden . Das muss natürlich im Di-
alog mit den Kommunen geschehen .
Als Berichterstatterin sind mir verschiedene Kommu-
nen bekannt, die dank des FONA-Programms „Zukunfts-
werkstatt“ hervorragende, nachhaltige und zukunftswei-
sende Projekte implementiert haben . Ich nenne hier nur
Freiburg und Bottrop, von Münster ganz zu schweigen .
Eine ganz erfreuliche Entwicklung ist die zunehmen-
de Wertschätzung urbaner Grünflächen in der Stadtpla-
nung . Grün in der Stadt sorgt nicht nur für Freiräume,
Orte der Begegnung, der Erholung, der Integration, son-
dern liefert auch einen wichtigen Beitrag zu Klimaschutz
und Gesundheit .
Grün in der Stadt ist einfach lebensnotwendig
– und völlig ideologiefrei, meine Kollegen . – Davon pro-
fitieren kleine und große Städte, kleine Forscher bis hin
zu großen Forschungsvorhaben nachhaltig .
Meine Kollegen, ich wünsche Ihnen allen eine gute
Weihnachtszeit und bedanke mich für die gute Zusam-
menarbeit in diesem Jahr .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7082 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe jetzt unseren Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W . Birkwald, Sabine Zimmermann ,
Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Rentenniveau anheben – Für eine gute, le-
bensstandardsichernde Rente
Drucksache 18/6878
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen, wobei sich die
Fraktionen offenkundig darauf verständigt haben, dass
die Fraktion Die Linke zwei Minuten zusätzlich erhalten
soll,
was ich erst durch wohlwollende Nachfragen ermittelt
habe, aber hiermit ausdrücklich zustimmend zur Kennt-
nis nehme . Darf ich fragen, ob auch alle übrigen Kolle-
ginnen und Kollegen mit dieser Vereinbarung einverstan-
den sind? – Das ist offensichtlich der Fall . Also können
wir so verfahren .
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile dem Kol-
legen Matthias Birkwald das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Ich beginne mit einem Zitat:
. . . – zum Mitschreiben –: Die Rente ist sicher .
Das sagte der damalige Sozialminister Norbert Blüm,
CDU, am 10 . Oktober 1997 im Deutschen Bundestag .
Der Sozialexperte der SPD, Rudolf Dreßler, antwortete
ihm – Zitat –:
Wer sich auf das Wort des Bundesministers . . . ver-
lässt, hat auf Sand gebaut .
Sybille Benning
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14527
(C)
(D)
Heute wissen wir: Rudolf Dreßler hatte recht . Das Ren-
tenniveau befindet sich im freien Fall.
Was heißt das? Das Rentenniveau bezeichnet das
Verhältnis zwischen einer Standardrente und dem
Durchschnittsgehalt der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten im selben Jahr . Die für die Berechnung
zugrundegelegte Standardrente entspricht der Altersrente
eines Durchschnittsverdieners nach 45 Jahren .
Dieses Rentenniveau – offiziell heißt es Sicherungsni-
veau vor Steuern – lag im Jahr 2000 bei 53 Prozent . Alle
Fachleute sind sich einig: Das ist ein lebensstandardsi-
cherndes Rentenniveau . Und das wird seit 15 Jahren
systematisch ruiniert . Gerhard Schröder, SPD, Walter
Riester, SPD, und Joschka Fischer, Grüne, haben unter
lautem Beifall von CDU und CSU dafür gesorgt, dass das
Rentenniveau Schritt für Schritt dramatisch sinkt . Rudolf
Dreßler hatte sich das bestimmt anders vorgestellt, meine
Damen und Herren .
Heute liegt das Rentenniveau nur noch bei 47,5 Pro-
zent . Bis zum Jahr 2030 darf es auf bis zu 43 Prozent
absinken . Meine Damen und Herren, das war unverant-
wortlich, ist unverantwortlich und wird unverantwortlich
bleiben .
Was heißt das in Euro? Das heißt: Die Sekretärin aus
Köln, die zum Beispiel am 1 . Mai 2029 nach 45 Jahren
Durchschnittsverdienst in Rente gehen wird, wird jeden
Monat rund 245 Euro Rente weniger erhalten, weil die
Rentenkaputtreformierer zwei sogenannte Dämpfungs-
faktoren in die Rentenanpassungsformel eingebaut ha-
ben . Knapp 245 Euro weniger Rente im Monat – das
macht rund 2 940 Euro Rente weniger im Jahr . Da Frauen
ihre Rente durchschnittlich 21,4 Jahre beziehen, bedeu-
tet das: Fast 63 000 Euro werden dieser Rentnerin durch
die Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors und des Ries-
ter-Faktors im Portemonnaie fehlen . 63 000 Euro Ren-
tenkürzung nach einem harten Berufsleben – das ist so-
zial ungerecht, völlig inakzeptabel und absolut daneben!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie behaupten, die
drastischen Verluste bei der gesetzlichen Rente könnten
die Menschen ja mit privater Altersvorsorge oder einer
Betriebsrente ausgleichen . Drei-Säulen-Modell nennen
Sie das . Ich sage Ihnen: Die Riester-Rente ist tot, und die
betriebliche Altersversorgung ist gefangen in der Nied-
rigzinsfalle . Schauen Sie doch mal bitte in Ihrem eigenen
Rentenversicherungsbericht auf Seite 40 nach . Da träu-
men Sie nämlich von einem Gesamtversorgungsniveau
aus gesetzlicher Rente und Riester-Rente von 51,1 Pro-
zent im Jahr 2029 . Das ist maßlos überschätzt, weil Sie
immer noch von einer Verzinsung von 4 Prozent ausge-
hen . Das ist völlig utopisch .
Liebe Koalition, Sie sind mit der Teilprivatisierung
der Rente völlig auf dem Holzweg . Darum fordere ich
Sie auf: Stoppen Sie die Talfahrt der gesetzlichen Rente!
Die Linke sagt deshalb: Für eine gute und lebensstan-
dardsichernde Rente muss das Rentenniveau angehoben
werden . Auf 53 Prozent!
Herr Kollege Weiß, Sie haben laut Handelsblatt vom
2 . Dezember gesagt – Zitat –:
Die Rendite der gesetzlichen Rente liege bei drei
Prozent . „Da haben kapitalgedeckte Systeme eher
Schwierigkeiten, eine solche Rendite darzustel-
len .“…
Richtig, Herr Weiß . Betriebliche und private Vorsorge
sind aber meistens kapitalgedeckt . Nur: Warum gehen
Sie dann weiter den falschen Weg der beitragsfreien Ent-
geltumwandlung? Da steht nur Betriebsrente drauf, da
ist aber keine Betriebsrente drin . Im Gegenteil: Bei der
Entgeltumwandlung zahlen die Versicherten Geld von
ihrem Bruttoeinkommen zum Beispiel in eine Direkt-
versicherung ein . Dadurch sinkt ihr Lohn . Und deshalb
werden geringere Beiträge an die gesetzliche Rentenver-
sicherung abgeführt . Die Folge: Wer Entgeltumwand-
lung macht, kürzt sich selbst die gesetzliche Rente . Und
noch schlimmer: Weil die Lohnsumme aller Versicherten
dadurch sinkt, wird auch die Rente von allen anderen
gekürzt, sogar von denen, die selbst gar keine Entgelt-
umwandlung machen . Darum sage ich: Schaffen Sie die
Entgeltumwandlung ab, und erhöhen Sie stattdessen das
Rentenniveau!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
Riester und solch schlechte Betriebsrenten sind keine gu-
ten Alternativen zur gesetzlichen Rente . Warum kürzen
Sie dann das Rentenniveau bis 2030 so dramatisch? Jahr
für Jahr bleibt die gesetzliche Rente hinter den Löhnen,
dem Wachstum und dem Wohlstand immer mehr zu-
rück . Dabei sollte die Rente genau das Gegenteil leisten,
nämlich den im Arbeitsleben erreichten Lebensstandard
sichern und die Menschen am Wohlstand, den sie sich er-
arbeitet haben, auch im Alter teilhaben lassen . Und: Die
Rente soll vor Armut schützen .
Das tut sie aber nicht mehr, weil durchschnittlich Verdie-
nende im Jahr 2030 bereits 31,5 Jahre werden arbeiten
müssen, um eine Rente in Höhe der Sozialhilfe zu erhal-
ten . Der durchschnittliche Bedarf der Grundsicherung im
Alter liegt übrigens derzeit bei 785 Euro . Das ist nicht
armutsfest . Deshalb lassen Sie uns die Notbremse zie-
hen und umkehren . Die Rente muss wieder den Löhnen
folgen .
Ich habe in der vergangenen Woche Sozialministerin
Andrea Nahles gefragt, wie die beiden Kürzungsfakto-
ren, die Sie in die Rentenanpassungsformel hineinge-
schrieben haben, denn Jahr für Jahr wirken . Die Antwort
Zwischen 2003 und 2015 blieben die Rentenerhöhungen
wegen des Riester-Faktors um 4,5 Prozentpunkte hinter
Matthias W. Birkwald
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514528
(C)
(D)
den Lohnerhöhungen zurück . – Noch erschreckender ist
ein Blick in die Zukunft: Zwischen 2016 und 2029 wer-
den es noch mal 7,8 Prozentpunkte sein, die die Renten
hinter den Löhnen herhinken werden . Ursache: vor allem
der sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor . Heißt auf Deutsch:
Die Löcher im Geldbeutel der Rentnerinnen und Rentner
werden immer größer .
Meine Damen und Herren, den Nachhaltigkeitsfaktor
haben Sie ja mal aus Angst vor der demografischen Ent-
wicklung eingeführt . Seien Sie doch nicht so ängstlich .
Es gibt doch zurzeit auch gute Entwicklungen . Ich nenne
Ihnen vier .
Erstens . Wenn wir es schaffen, die vielen jungen Ge-
flüchteten zügig in den Arbeitsmarkt zu integrieren, wer-
den sie noch Jahrzehnte in die Rentenkasse einzahlen
können . Das ist doch gut!
Zweitens . Es gibt viele Frauen, die nicht mehr nur
Teilzeit arbeiten wollen, sondern Vollzeit .
Drittens . Seit einem Jahr gibt es endlich einen gesetz-
lichen Mindestlohn . Der ist zwar viel zu niedrig, aber
immerhin erhöht er die Rentenansprüche, vor allem im
Osten .
– Ich war einer der Ersten, der den gefordert hat . –
Aber er ist zu niedrig . Er muss dringend auf 10 Euro an-
gehoben werden .
Das wäre auch ein wichtiger und richtiger Schritt in
Richtung einer armutsfesten Rente .
Und viertens werden immer mehr Kinder geboren .
Also: Diese Entwicklungen müssen klug gestaltet und
ausgebaut werden . Das wäre viel besser, als weiterhin
das Rentenniveau in den Keller zu schicken . Darum for-
dert die Linke:
Erstens . Der Nachhaltigkeitsfaktor und der Ries-
ter-Faktor müssen aus der Rentenanpassungsformel ge-
strichen werden .
Zweitens . Es wird eine neue Rentenanpassungsformel
eingesetzt . Ihr Kern: Die Rente muss wieder den Löhnen
folgen, ohne Wenn und Aber .
Drittens . Um das Rentenniveau wieder schrittweise
auf lebensstandardsichernde 53 Prozent anzuheben, wird
ein Rückholfaktor eingeführt .
So, und jetzt fragen Sie alle: Was kostet das?
Wie soll das denn finanziert werden?
Nun, die Einführung einer neuen Rentenanpassungs-
formel kostet nach unseren Berechnungen 30,31 Milliar-
den Euro . Der Beitragssatz müsste nur um je 1,18 Pro-
zentpunkte für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
sowie Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen ansteigen . Für
durchschnittlich verdienende Beschäftigte wären das
34,40 Euro im Monat – für ein lebensstandardsicherndes
Rentenniveau! Die Riester-Rente wäre dafür dann nicht
mehr nötig . Das wäre doch wunderbar!
Meine Damen und Herren, das Rentenniveau anzuhe-
ben, ist der Kern einer guten Rentenpolitik . Ein höheres
Rentenniveau bedeutet höhere Renten für die heutigen
Rentnerinnen und Rentner und höhere Renten für die
künftigen Rentnerinnen und Rentner . Das ist Generatio-
nengerechtigkeit .
Ein höheres Rentenniveau ist gut für Jung und Alt, es ist
gut für Frauen und Männer, gut für Ossis und Wessis und
für Schwerbehinderte und Nichtbehinderte . Ein höheres
Rentenniveau sortiert nicht ein noch aus . Ein gutes Ren-
tenniveau ist gut für alle .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen diese
Wende in der Rentenpolitik . Die gesetzliche Rente muss
den Lebensstandard wieder sichern, und niemand soll im
Alter von weniger als 1 050 Euro im Monat leben müs-
sen .
Herr Kollege .
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident . – Darum
werden wir auch im kommenden Jahr unseren Vorschlag
für eine Solidarische Mindestrente neu in die Debatte
und den Bundestag einbringen .
Herzlichen Dank .
Das Wort erhält nun der Kollege Karl Schiewerling
für die CDU/CSU-Fraktion,
der sicher auch bestätigen wird, Herr Kollege Birkwald,
dass der von Ihnen zitierte langjährige Arbeits- und So-
zialminister Norbert Blüm seine rentenpolitischen Vor-
stellungen auch nach Ausscheiden aus dem Amt tapfer
aufrechterhält .
Matthias W. Birkwald
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14529
(C)
(D)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Alterssicherung in Deutsch-
land steht nach wie vor auf drei Säulen: auf der gesetz-
lichen Rente, auf der betrieblichen Altersvorsorge und
auf der privaten Altersvorsorge . Alle drei Säulen sind
abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung: ohne
gute wirtschaftliche Entwicklung keine stabile Alterssi-
cherung .
Vor einer Woche hat die Deutsche Rentenversicherung
Westfalen ihr 125-jähriges Jubiläum gefeiert, nicht nur in
Anwesenheit des vorhin zitierten ehemaligen Arbeitsmi-
nisters Norbert Blüm, sondern auch seines Nachfolgers
Franz Müntefering, vor allem aber mit einem vielbeachte-
ten Vortrag des Präsidenten des Deutschen Bundestages,
der auf die Entwicklung hingewiesen hat, dass natürlich
alle Altersvorsorgesysteme, auch die gesetzliche Rente,
auch die betriebliche Altersvorsorge und auch die priva-
te Altersvorsorge, von der demografischen Entwicklung
abhängen. Diese demografische Entwicklung dürfen wir
nicht ausblenden: keine Kinder, keine Zukunft oder eine
teure Zukunft – in der Phase stecken wir .
Meine Damen und Herren, auch wenn der Kollege
Birkwald jetzt dargestellt hat, wie hell der Tag wird,
nachdem so viele Menschen zuwandern, nachdem einige
Kinder mehr geboren werden, als ursprünglich gedacht,
nachdem sich offensichtlich die ein oder andere Ent-
wicklung positiv am Horizont auftut, können wir doch
auf Grundlage dieser Entwicklung im Augenblick keine
ungedeckten Schecks ausstellen und sagen: Das wird
schon alles, damit kriegen wir die rentenpolitischen Fra-
gen geklärt .
Das ist Politik der Linken: Sie stellt Schecks aus, die
nicht gedeckt sind, und man weiß nicht, wohin es geht .
Das ist nicht verlässlich . Das ist nicht vernünftig geplant .
Auch beim vorliegenden Antrag wird deutlich: Die
Linken sind mindestens auf einem Auge blind . Es geht
ihnen ausschließlich um die Frage des Rentenniveaus .
Die Deutsche Rentenversicherung hat aber verschiedene
Stellschrauben . Sie ist vor allen Dingen ein solidarisches
Sicherungssystem, das ohne diese vier Stellschrauben
letztendlich nicht auskommt, und zwar erstens die Bei-
träge, zweitens das Rentenniveau, die dritte Stellschrau-
be ist die Frage der Laufzeit von Renten und die vierte
ist der Bundeszuschuss . Alle vier Aspekte müssen im
Gleichgewicht bleiben und abgewogen werden, sonst ist
die Rente auf Dauer gesehen nicht zu finanzieren.
Meine Damen und Herren, es geht uns in der Tat im
Augenblick gut: niedrige Arbeitslosigkeit, hohe Beschäf-
tigung . Wir haben hohe Rücklagen im Bereich der Ren-
tenversicherung . Ich glaube, dass das eine gute Vorausset-
zung ist, die Zukunft vernünftig zu gestalten . Allerdings
sehe auch ich, dass mit den Ausgaben, die gerade durch
das Rentenpaket anfallen, die Rücklage abschmilzt . Des-
wegen bin ich nachdrücklich dafür, dass wir die untere
Grenze der Nachhaltigkeitsrücklage sukzessive von 0,2
auf mindestens 0,4 bis 0,5 durchschnittliche Montags-
ausgaben anheben, um genügend Liquidität für schwieri-
ge Zeiten zu haben und um nicht wieder Darlehen beim
Bund aufnehmen zu müssen .
Es geht auch um die Frage der Stabilisierung der Ren-
te; denn die Rente ist ein Generationenvertrag . Und der
Generationenvertrag kann nur erfüllt werden, wenn ihn
alle Generationen akzeptieren . Das betrifft nicht nur die
Generation der Rentnerinnen und Rentner, das betrifft
auch die Generation derjenigen, die heute einzahlen, und
die Generation, die noch gar nicht so weit ist, dass sie
einzahle müsste, aber all die Lasten für die Altersvorsor-
ge übernehmen muss, die jetzt schon aufgehäuft sind .
Ich kann nicht nur von einem Rentenniveau reden,
sondern ich muss auch zusehen, dass das ganze System
bezahlbar bleibt .
Dazu gehört auch, dass die Menschen länger fit bleiben,
dass sie länger arbeiten können . Deswegen haben wir in
der Koalition vor dem Hintergrund der demografischen
Entwicklung die Flexirente vereinbart mit einem ganz
starken Anteil an Rehabilitation und Prävention und mit
einem ganz starken Anteil an Flexibilität, damit die Men-
schen länger in Arbeit bleiben können und nicht zu früh
in Rente gehen .
Was den Nachhaltigkeitsfaktor und den Riester-Faktor
angeht, sage ich: Ja, Herr Kollege Birkwald, man kann
das so machen, wie Sie das gemacht haben: Rückwärts
rechnen, aufrechnen, was man in der Zeit an Rente alles
nicht bekommen hat; unter dem Strich steht dann eine
Summe, die einen schwindelig werden lässt . – Ich kann
aber auch sagen: Der Nachhaltigkeitsfaktor und der Ries-
ter-Faktor sind im Interesse der Generationengerechtig-
keit eingeführt worden, damit sich die jetzige und die zu-
künftige Rentnergeneration an den zukünftigen Kosten
beteiligt .
Deswegen ist das, was damals eingeführt wurde, übri-
gens unter Rot-Grün, in der Sache richtig .
Deswegen gehen wir an diese Frage nicht heran .
Im Übrigen ist der Riester-Faktor längst ausgelaufen .
Er wirkt natürlich nach .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514530
(C)
(D)
Den Nachhaltigkeitsfaktor werden wir nicht aushebeln
können . Würden wir das tun, würden wir den Umstand
nicht ernst nehmen, dass, unabhängig davon, dass im Au-
genblick ein paar Kinder mehr geboren werden, dann die
beitragszahlenden Generationen eine wesentlich kleinere
Gruppe bilden als die Generation der Rentner . Wir dürfen
keine ungedeckten Schecks auf die Zukunft ausstellen .
Lieber Kollege Schiewerling, lassen Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Petzold zu?
Ja, eine lasse ich zu .
– Sie haben gar keine Frage, Herr Birkwald? – Ach so,
Sie, Herr Petzold . Bitte .
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfra-
ge zulassen, ausnahmsweise von einem nicht rentenpoli-
tischen Experten . – Das Anliegen, die Bezahlbarkeit des
Gesamtsystems sicherzustellen, teile ich . Ich möchte Sie
gerne fragen, warum Sie gestern einem Gesetzentwurf
zugestimmt haben, mit dem 40 000 gut verdienende Syn-
dikusanwälte aus der gesetzlichen Rentenversicherung
herausgenommen werden .
Erstens . Die Syndikusanwälte waren bisher überhaupt
nicht in der Rentenversicherung . Zweitens musste das
aufgrund der Rechtsprechung eines Sozialgerichts neu
geregelt werden .
Drittens ging es darum, dem Berufsstand und den Bedin-
gungen des Berufsstandes gerecht zu werden . Deswegen
haben wir dieses Gesetz gemacht . Ich halte das in der
Sache auch für vertretbar .
Meine Damen und Herren, wir wollen, dass die Men-
schen auch in Zukunft von ihren Alterseinkünften leben
können, von der gesetzlichen Rente, von der betriebli-
chen Rente und von der privaten Altersvorsorge . Herr
Kollege Birkwald, Sie haben mit Ihrer Analyse recht:
Aufgrund der Situation am Kapitalmarkt, aufgrund der
niedrigen Zinsen, ist die betriebliche Altersvorsorge und
die private Altersvorsorge – das hat der Kollege Weiß in
den Medien kundgetan –
unter Druck geraten . Anfang der 2000er-Jahre hatten wir
aber eine Situation, 2002, in der das genau umgekehrt
war .
Damals waren die Zinsen hoch – damals hat es sich ge-
lohnt, Kapital anzulegen –, und die Renten waren unten .
Jetzt hat sich die Situation umgekehrt . Ich kann Ihnen nur
raten: Machen Sie auch in der Opposition keine kurzat-
mige Politik; Sie könnten eines Tages von wirtschaftli-
chen und finanzpolitischen Entwicklungen in Deutsch-
land und in der Welt eingefangen werden, die Sie nicht in
der Hand haben .
Meine Damen und Herren, auch wir wollen nicht, dass
das Rentenniveau dauerhaft ins Bodenlose fällt . Auch wir
wollen, dass es zu einem Stopp kommt . Auch wir wollen,
dass die Menschen am Ende der Tage von ihrem Einkom-
men leben können . Wir wollen die bisherigen Regelun-
gen der Riester-Förderung in der Tat überprüfen – ich
halte das auch für notwendig –, nicht, weil sie aufgrund
des niedrigen Zinsniveaus an Bedeutung verlieren, son-
dern aufgrund der Entwicklungen bei den Versicherern,
aufgrund der Dinge, die sich dort abgespielt haben . Au-
ßerdem wollen wir die betriebliche Altersvorsorge aus-
weiten und stärken . Eine Arbeitsgruppe unserer Fraktion
und eine Arbeitsgruppe der Koalitionsfraktionen arbeiten
daran .
Die umlagefinanzierte Rente ist wie keine andere Ins-
titution in Deutschland Ausdruck des Zusammenhalts der
Generationen . Vielleicht ist das der letzte institutionali-
sierte Zusammenhalt der Generationen . Diesen Zusam-
menhalt wollen wir stärken .
Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit des Advents, ein fro-
hes Weihnachtsfest und ein gesegnetes neues Jahr .
Markus Kurth erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! 500 Milliarden Euro, das sind
100-mal die Kosten des unvollendeten Flughafens BER .
500 Milliarden Euro, das sind 23 Monatsausgaben der
gesetzlichen Rentenversicherung . 500 Milliarden Euro
würde es kosten, wenn man die Vorschläge der Linken
Karl Schiewerling
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14531
(C)
(D)
zur Anhebung des Rentenniveaus auf 53 Prozent umset-
zen würde .
Um dies zu finanzieren, müsste man, auch nach den eige-
nen Berechnungen von Matthias Birkwald, den Beitrags-
satz in der gesetzlichen Rentenversicherung auf 28 Pro-
zent anheben .
Ich frage Sie wirklich: Was denken Sie sich politisch?
Wo leben Sie denn?
Ich sage nicht, dass Sie falsch gerechnet haben; Sie
haben es ja vorgerechnet .
– Sie wollen mir das jetzt wahrscheinlich alles noch ein-
mal darlegen, was die 28 Prozent betrifft . Wir haben hier
ja schon mehrfach gehört, dass Sie die Riester-Beiträge
sozusagen umrechnen .
– Ja, die klassische Mathematik . – Darum möchte ich
eine Zwischenfrage an dieser Stelle nicht zulassen . Das,
was Herr Birkwald jetzt vorrechnen würde, kenne ich
nämlich schon .
Aber Politik ist nicht die Fortsetzung der Mathematik mit
anderen Mitteln . Politik ist der Kampf um gesellschaftli-
che Mehrheiten .
Eigentlich ist das, was Sie hier vorlegen, im Vergleich
zu dem, was Klaus Ernst in einem, wie ich finde, bemer-
kenswerten Artikel in der Frankfurter Rundschau jüngst
geschrieben hat, ein Rückschritt . Herr Ernst hat nämlich
geschrieben – das war das erste Mal, dass man das als
klare Analyse so lesen konnte –, die Linke müsse „runter
von der Zuschauertribüne“ . Er schrieb auch, man müsse
sich die Frage stellen, ob es sich die Linke in ihrer Bie-
dermeierwelt noch lange so kuschelig machen kann .
Ich habe das als erste vernünftige strategische Überle-
gung bewertet, wie man in diesem Parlament vielleicht
auch andere Mehrheiten herstellen kann .
Ich habe das als Bereitschaft verstanden, endlich Verant-
wortung zu übernehmen – etwas, was Sie in den ganzen
letzten Jahren, gerade in der Sozialpolitik, sehr oft nicht
getan haben .
Ihr Antrag macht genau das, was Herr Ernst in seinem
Artikel auch gefordert hat, nicht . Er eröffnet nämlich kei-
ne strategische Perspektive . Das ist schade . Sie schaden
mit diesem Antrag nicht nur sich selbst – das könnte mir
ja völlig egal sein –, sondern Sie schaden auch einer ver-
nünftigen Debatte darüber, wie man das Rentensystem
weiterentwickeln kann, und Sie machen es den Regie-
rungsfraktionen wahnsinnig leicht . Deshalb ist es ganz
einfach, Ihren Antrag abzulehnen .
Herr Kollege Kurth, darf der Kollege Ernst denn eine
Zwischenfrage stellen, wenn er auf Rechenbeispiele ver-
zichtet?
Ja, das kann er gerne machen . Ich freue mich darauf .
Herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulassen .
Ich glaube, sagen zu können – ohne dabei Abstriche an
meinem Artikel zu machen –, dass die Rente und unser
Vorschlag zur Rente mit Sicherheit nicht zu dem Teil ge-
hören, bei dem wir Abstriche machen müssten .
Vielmehr geht es – im Gegenteil – darum, gemeinsame
linke Projekte zu finden, die im Interesse der Bürgerin-
nen und Bürger dieses Landes eine Alternative zur ge-
genwärtigen Regierungspolitik sein können . Darum geht
es .
Was die Rentenpolitik betrifft, weiß ich, dass die
Grünen das Modell einer Bürgerversicherung bzw . ei-
ner Erwerbstätigenversicherung anstreben . Wir leben in
einer Zeit, in der viele Bürgerinnen und Bürger dieses
Landes, die in Rente gehen, nicht wissen, wie sie damit
umgehen sollen, dass der Monat bei weitem länger ist,
Markus Kurth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514532
(C)
(D)
als der Geldbeutel gefüllt ist, und das, obwohl Deutsch-
land eines der reichsten Länder der Welt ist . Wir wissen,
dass alle privaten Rentenversicherungsmodelle, die es
gegenwärtig gibt, gescheitert sind – das betrifft sowohl
die Riester-Rente als auch die private Vorsorge –, weil es
fast keine Zinsen mehr gibt . In einer solchen Zeit kommt
es darauf an, dass wir gemeinsam – Linke, Grüne und
die Sozialdemokratische Partei – diese Dinge wieder in
Ordnung bringen .
Insofern sehe ich nicht, dass ich an dem, was ich in mei-
nem Artikel geschrieben habe, auch nur die geringsten
Abstriche machen müsste .
Wir sollten uns überlegen, solche Projekte hinzube-
kommen, damit wir eine Alternative darstellen und die
Bürger sehen: Wenn wir die wählen, dann ändert sich et-
was . – Was sich ändern muss, ist die Rentenpolitik . Da
finde ich, dass die Vorschläge, die mein Kollege Birkwald
hier eingebracht hat, und die Vorschläge meiner Fraktion
genau die richtigen sind .
Herr Ernst, ich muss meine eben gemachten, ermun-
ternd gedachten Bemerkungen zur strategischen Überle-
bensfähigkeit wieder ein bisschen relativieren . Politik ist
keine voluntaristische Veranstaltung .
Wenn Sie sagen, dass wir keine Abstriche machen
müssen, dann müssen Sie sich, selbst wenn Sie eine ab-
solute Mehrheit hätten, fragen, ob denn das, was Herr
Birkwald hier vorgeschlagen hat, auch nur ansatzwei-
se mit den Gewerkschaften machbar sein würde . Das
würde es nämlich nicht . Ich bin sicherlich niemand, der
die Lohnnebenkosten als Superargument ganz oben an
die erste Stelle stellt, aber einen Beitragssatzanstieg um
10 Prozentpunkte kann man nicht ignorieren . Das wird
natürlich Folgen für die Ökonomie haben .
Wir können auch die gesetzliche Rentenversicherung
nicht allein betrachten; denn auch die gesetzliche Kran-
kenversicherung steht angesichts des demografischen
Wandels vor Kostensteigerungen .
Wenn man sich überlegen will, wie man Politik macht,
muss man gerade bei einer langfristig angelegten Sozi-
alversicherung sehen, dass das Ganze pfadabhängig ist .
Die jetzige Situation mit dem Drei-Säulen-Modell ist
nicht vom Himmel gefallen, sondern ein längerer Ent-
wicklungsprozess . Genauso wird man in einem längeren
Entwicklungsprozess Defizite dieser drei Säulen analy-
sieren und schauen müssen, wie man jeweils innerhalb
der drei Säulen damit klarkommt; das führe ich gleich
noch aus .
Sicherlich wird man sagen, dass die gesetzliche Ren-
te sozusagen als Basis und Voraussetzung für die priva-
te Vorsorge gestärkt werden muss . Ich erwarte aber ein
planvolles Vorgehen
und nicht einfach das Aufstellen eines Wunschkatalogs
und die Aussage: So muss das aber sein . – Das ist genau
die kuschelige Oppositionswelt, aus der Sie sich doch an-
geblich verabschieden wollten .
Ich finde, man kann es den Regierungsfraktionen an-
gesichts dessen, was im Feststellungsteil analysiert wird,
nicht leicht machen; denn das absinkende Rentenniveau
wird aktuell leider nicht durch die Riester-Rente kom-
pensiert . Wie eine meiner Kleinen Anfragen an das Fi-
nanzministerium ergeben hat, sind es nur 6,4 Millionen
von 35 Millionen Versicherungsberechtigten, die den
Riester-Vertrag wirklich voll besparen . Das heißt also:
Der ganze Niveauausgleich findet so gar nicht statt.
Wir haben gleichzeitig eine hohe Selektivität bei Ries-
ter; denn die Geringverdiener schließen das eben nicht
ab .
Diese hohe Selektivität bzw . diese Unwucht haben wir
gleichzeitig bei der zweiten Säule, der Betriebsrente .
Auch da sehen wir: Der Verbreitungsgrad ist noch zu ge-
ring . Er konzentriert sich auf die Großunternehmen und
auf eher besserverdienende Personen . Hier ist eben für
einen großen Teil der Bevölkerung die zweite Säule auch
nicht tragfähig . Das bedeutet, dass wir bei jeder Säule
schauen müssen, wie wir an der Stelle weiter vorankom-
men .
Da sehe ich bei der Großen Koalition aber großes
Schweigen im Walde . Sie haben verschiedene, im Dif-
fusen bleibende Vorschläge; manche Sachen liegen in
den Schubladen des Bundesministeriums . Im Grunde
genommen befinden Sie sich aber in einer Blockadesitu-
ation, und zwar wegen des Rentenpakets, das Sie gleich,
nachdem Sie die Regierung übernommen haben, verab-
schiedet haben . Seitdem trauen Sie sich doch gegenseitig
nicht mehr über den Weg, blockieren sich und schieben
notwendige Entwicklungen auf .
Sie kommen auch in anderen Bereichen nicht voran .
Selbst bei an sich eigentlich harmlosen Geschichten wie
der Arbeitsstättenverordnung wird alles gleich aufgebla-
sen, Unternehmerlager und Wirtschaftsflügel der CDU
regen sich auf, und deswegen unterbleiben notwendige
Weiterentwicklungen oder fallen, wie bei Ihren Vor-
schlägen zur Flexirente, minimal aus . Ob da ein Gesetz
kommt – wir warten ohnehin schon lange darauf .
Klaus Ernst
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14533
(C)
(D)
Das Glück, das Sie haben, ist, dass die wirtschaftli-
che Lage günstig ist . Der Problemdruck wird aber nicht
geringer . Es steht zu befürchten, dass wir spätestens ab
Mitte der 2020er-Jahre sowohl von der Beitragsseite als
auch von der Seite der Altersarmut unter Druck geraten,
wenn wir an dieser Stelle nichts machen .
Warum stellen Sie sich zum Beispiel in Bezug auf die
Betriebsrente nicht die Frage, ob Sie es machen sollten
wie in Großbritannien? Dort gibt es ein Opt-out-Modell .
Arbeitgeber müssen eine Betriebsrente anbieten, und die
Beschäftigten können dann sagen, ob sie sie wollen oder
nicht . In Großbritannien ist die Verbreitung der Betriebs-
rente dadurch gestiegen, und sie befindet sich auf dem
Vormarsch . Warum kann man sich das nicht einmal über-
legen? Warum reagieren Sie nicht auf diese Mängel, die
ich gerade in Bezug auf die Riester-Rente genannt habe?
Wir diskutieren im Moment in der Fraktion darüber –
ich hoffe, dass wir bald zum Abschluss kommen –, dass
man die Förderung bei Riester umstellen kann, und zwar
weiter in Richtung der Geringverdienenden, damit dort
die Verbreitung steigt . Wir brauchen gleichzeitig mehr
Transparenz bei den Produkten . Diese ist unbefriedigend .
All die Reparaturen bei der zweiten und dritten Säule
werden trotzdem nicht dazu führen, dass alles ausgegli-
chen wird, was mit dem gesetzlichen Rentenniveau zu-
sammenhängt .
Darum gebe ich zu: Wir müssen das Niveau der gesetz-
lichen Rente nach oben hin stabilisieren . Das muss tat-
sächlich so sein; denn die Voraussetzungen für die ka-
pitalgedeckte Absicherung – auch die Betriebsrente ist
überwiegend kapitalgedeckt – werden in Zukunft nicht
besser . Wir haben, weil wir eine sehr reife Volkswirt-
schaft sind, ein tendenziell sinkendes Zinsniveau . Wir
werden nicht auf 4 Prozent Kapitalmarktzinsen bei ent-
sprechend risikoarmen Anlagen kommen . Darauf muss
man reagieren .
Im Unterschied zu 2000, der Jahrtausendwende, ist es
so, dass wir seitdem eine Finanzmarkt- und Euro-Krise
hatten und die gesetzliche Rente die Überlegenheit des
Umlagesystems unter Beweis gestellt hat . Nicht einmal
die Versicherungswirtschaft stellt in Abrede, dass die
umlagefinanzierte gesetzliche Rente Voraussetzung für
private Vorsorge ist . Nur wenn wir eine armutsfeste und
stabile gesetzliche Rente haben, haben Leute auch Anrei-
ze, privat vorzusorgen oder Betriebsrenten in Anspruch
zu nehmen .
Das heißt, wir sind in dieser Hinsicht ein Stück weiter
als vor 15 Jahren, auch gesellschaftlich . Selbst Herr
Schiewerling hat gewisse Nachdenklichkeit signalisiert .
So sollte man dann das Ruder langsam umsteuern und
sich in eine andere Richtung bewegen . Das macht die Re-
gierung im Moment leider nicht . Aber nur voluntaristi-
sche Das-will-ich-so-Sprüche und eine Mindestrente von
1 050 Euro zu fordern, sind keine realistische und keine
strategische Perspektive .
Vielen Dank .
Martin Rosemann ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Markus Kurth, herzlichen
Dank dafür, dass Sie alles gesagt haben, was zum Antrag
der Linken zu sagen ist .
Deswegen kann ich mich wieder der Realität zuwenden .
Zunächst einmal zur aktuellen Lage . Diese ist in der
Rentenversicherung ausgesprochen gut . Die Nachhal-
tigkeitsrücklage liegt bei rund 35 Milliarden Euro . Wir
mussten in dieser Legislaturperiode sogar schon die Bei-
tragssätze senken . Diese Situation ist deutlich besser, als
es noch vor einigen Jahren prognostiziert worden ist .
Matthias Birkwald, das zeigt, dass der Nachhaltigkeits-
faktor auf die Situation am Arbeitsmarkt reagiert; denn
das, was wir erleben, hat mit der sehr guten Lage auf
dem Arbeitsmarkt, mit der höchsten Erwerbstätigkeit,
der höchsten Zahl an sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigten und der geringsten Arbeitslosigkeit seit der
Wiedervereinigung zu tun .
Das wiederum hat etwas mit den Strukturreformen auf
dem Arbeitsmarkt vor rund zehn Jahren zu tun . Es hat
etwas zu tun mit den richtigen Weichenstellungen der Po-
litik in der Finanzmarktkrise . Und es hat erst recht etwas
damit zu tun, dass wir verantwortungsvolle Unternehmer
und engagierte Beschäftigte in Deutschland haben .
Meine Damen und Herren, ich will aber auch noch
an die ersten Leistungsverbesserungen in der Rente seit
Jahren, die Aufwertung der Kindererziehungszeiten vor
1992, den früheren Rentenzugang für besonders langjäh-
rig Versicherte und Verbesserungen bei den Erwerbsmin-
derungsrenten erinnern . Das hat diese Bundesregierung
gemacht . Das hat die Bundesministerin Andrea Nahles
Markus Kurth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514534
(C)
(D)
gemacht . Und das hat diese SPD gemacht, meine Damen
und Herren .
Wir sind damit sicherlich noch nicht am Ende; denn
die Herausforderungen durch den demografischen Wan-
del, durch zunehmende Altersarmut liegen auf dem Tisch .
– Ja, die Koalition hat es gemeinsam gemacht .
Es ist ja Weihnachten .
– Wenn ihr euch durch diese Bundesregierung nicht an-
gesprochen fühlt, dann ist das nicht mein Problem .
Die Herausforderungen durch den demografischen
Wandel und durch zunehmende Altersarmut infolge von
brüchigen Erwerbsbiografien liegen also auf dem Tisch.
Wir haben mit den Verbesserungen bei den Erwerbsmin-
derungsrenten schon einen wichtigen Schritt zur Bekämp-
fung von Altersarmut gemacht . Aber natürlich brauchen
wir weitere Antworten, gerade dann, wenn Menschen mit
brüchigen Erwerbsbiografien, mit geringen Löhnen, mit
langen Phasen der Arbeitslosigkeit in Zukunft in Rente
gehen . Deswegen werden wir als Koalition geringe An-
wartschaften im Rahmen der solidarischen Lebensleis-
tungsrente noch in dieser Legislaturperiode aufwerten .
Wenn wir im Durchschnitt älter werden, dann müssen
wir im Durchschnitt auch länger arbeiten . Dann müssen
wir aber auch dafür sorgen, dass die Menschen das schaf-
fen . Wenn wir auf die Arbeitsmarktstatistiken schauen,
dann sehen wir, dass wir dabei schon ein großes Stück
vorangekommen sind . Mit der Einigung in der Koalition
über flexible Übergänge verbessern wir die Bedingungen
weiter .
Durch eine attraktivere und flexiblere Teilrente und die
frühere Möglichkeit, Abschläge abzukaufen, machen wir
einen flexiblen Ausstieg attraktiver. Durch die Stärkung
von Prävention und Reha verbessern wir die Chancen,
dass die Menschen bei guter Gesundheit möglichst lange
im Erwerbsleben bleiben können . Durch die Möglichkeit,
eigene Rentenanwartschaften auch während des Renten-
bezugs zu erwerben, machen wir das Weiterarbeiten auch
nach dem Renteneintritt attraktiver .
Klar ist und klar muss sein: Die gesetzliche Rente
ist und bleibt die zentrale Säule der Altersversorgung in
Deutschland . Deswegen müssen wir sie auch stabilisie-
ren .
Klar ist aber auch, dass der demografische Wandel nur
bewältigbar ist, wenn wir die Lasten gerecht zwischen
den Generationen verteilen und Alterssicherung auf meh-
reren Säulen basiert . Klar ist schließlich auch, dass es so,
wie man es sich einmal vorgestellt hat, nicht gut genug
funktioniert . Deswegen sehen auch wir da Reformbedarf .
Reformbedarf sehe ich vor allem in zwei Bereichen .
Ich glaube, wir müssen auch bei kapitalgedeckten
Systemen weg von individuellen Lösungen . Wir müssen
hin zu mehr kollektiven Lösungen und zu mehr Verbind-
lichkeit . Das heißt, dass betriebliche Altersversorgung
auch in Deutschland sozialpartnerschaftlich organisiert
wird . Das erhöht die Verbindlichkeit, und wir erreichen
mehr Beschäftigte . Das reduziert Vertriebs- und Verwal-
tungskosten und ermöglicht optimalere Anlagestrategien .
Den zweiten Reformbedarf sehe ich bei der Förde-
rung . Ich glaube, wenn wir über stärkere kollektive Sys-
teme die zweite Säule, die betriebliche Altersversorgung,
stärken, dann müssen wir in der zweiten Säule auch Ge-
ringverdienerinnen und Geringverdiener besser fördern,
damit nicht nur gut verdienende Facharbeiter aus der
zweiten Säule, der betrieblichen Altersversorgung, pro-
fitieren.
Insgesamt heißt das, dass wir einen Paradigmenwech-
sel bei der betrieblichen Altersversorgung vornehmen
müssen und die betriebliche Altersversorgung von einem
Instrument der betrieblichen Personalpolitik zu einem
Instrument der Sozialpolitik für alle Beschäftigten in
Deutschland weiterentwickeln müssen .
Aber klar ist: Nicht alle Probleme sind alleine in der
Rentenpolitik zu lösen . Denn natürlich gibt es einen Zu-
sammenhang: gute Arbeit, gute Löhne, gute Rente .
Deshalb haben wir den Mindestlohn eingeführt . Des-
halb stärken wir die Tarifbindung . Deshalb arbeiten wir
für den Grundsatz: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit für
Frauen und Männer genauso wie in der Leiharbeit .
Deshalb setzen wir uns für die bessere Vereinbarkeit von
Familie und Beruf ein . Deshalb geht es auch um bessere
Bildung von Anfang an . An all dem arbeiten wir Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten hier im Bund ge-
meinsam mit unserem Koalitionspartner, aber auch in der
Verantwortung in den Ländern .
Dr. Martin Rosemann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14535
(C)
(D)
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein frohes
Weihnachtsfest .
Das Wort erhält nun Peter Weiß für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man das System der Rentenversicherung richtig in
den Blick nehmen will, dann muss man auch ein biss-
chen zurückgucken . Die gesetzliche Rentenversicherung
ist eine tolle Erfindung gewesen, aber sie hat über Jahr-
zehnte hinweg nie zu finanziellen Leistungen geführt, die
wirklich den Lebensstandard der älteren Generation ge-
sichert haben; sie war nur ein Beitrag .
1957 ist es mit der Einführung der dynamischen Ren-
te zum ersten Mal gelungen, die Rentenversicherung so
umzubauen, dass sie Leistungen erbringt, durch die wirk-
lich der Lebensstandard im Alter gesichert werden kann .
Der Zeitpunkt der Einführung der dynamischen Rente ist
das entscheidende Geburtsdatum .
Das war deswegen möglich, weil wir nach dem Zwei-
ten Weltkrieg ein Wirtschaftswunder erlebt haben und
weil in Deutschland Jahr für Jahr mehr Kinder geboren
wurden, wodurch die Zahl der Beschäftigten in Deutsch-
land angestiegen ist . Das war damals möglich mit dem
Höhepunkt 1964, als die meisten Kinder in Deutschland
geboren wurden, nämlich 1,35 Millionen, und das hat na-
türlich auch dazu geführt, dass das Rentenniveau steigen
konnte, weil eine große Zahl von Beitragszahlerinnen
und Beitragszahlern einer damals vergleichsweise ge-
ringen Zahl von Rentnerinnen und Rentnern gegenüber-
stand .
Seither hat sich die Welt aber geändert: 1960 haben die
Menschen, die in Rente gingen, im Durchschnitt 10 Jah-
re lang Rente beziehen können, bis sie verstorben sind .
Heute beträgt die durchschnittliche Rentenbezugsdauer
20 Jahre. Man profitiert also doppelt so lang von seinem
Anspruch auf eine gesetzliche Rente . Daneben hat sich
seitdem die Zahl der Kinder verringert . Seit 1964 nimmt
die Zahl der Kinder, die jährlich geboren werden, Jahr
für Jahr ab .
Deswegen hat sich auch das Verhältnis zwischen der
Zahl der Menschen, die eine Rente beziehen, und der
Zahl derjenigen, die aufgrund ihrer Arbeit Beiträge in das
Rentenversicherungssystem zahlen, verändert .
Wir haben ein umlagefinanziertes Rentenversiche-
rungssystem . Das, was heute eingezahlt wird, wird mor-
gen für die Rentnerinnen und Rentner ausgegeben . 1960
kamen auf einen Rentner noch drei Erwerbstätige .
Herr Birkwald, egal welche Zahl Sie nehmen, der
Punkt ist der: Die Zahl derjenigen, die mit ihren Beiträ-
gen das finanzieren müssen, was die Rentnerinnen und
Rentner an Rente bekommen, nimmt kontinuierlich ab
und wird auch in den kommenden Jahren kontinuierlich
abnehmen .
Einerseits wird die Rentenbezugsdauer länger – es ist
ja schön, dass wir alle länger leben können und dürfen –,
andererseits nimmt die Zahl derjenigen ab, die diese
Rente für die große Zahl von Rentnerinnen und Rentnern
aktuell finanzieren. Diese beiden Entwicklungen müssen
in einem Rentenversicherungssystem, das auf Genera-
tionengerechtigkeit und dem Generationenvertrag fußt,
Konsequenzen haben, und eine Konsequenz kann nur
sein, dass die Belastungen und Entlastungen zwischen
den Generationen gerecht verteilt werden . Das ist die
Philosophie unserer Rentenpolitik: Generationengerech-
tigkeit .
Was die Grünen vorschlagen, bedeutet nichts anderes,
um es mit einem Satz zu sagen, als den Ausstieg aus der
Generationengerechtigkeit und eine Entsolidarisierung
unserer Gesellschaft .
– Was die Linke vorschlägt, ist Entsolidarisierung . So ist
es richtig, danke .
Wir haben noch etwas gemacht, was ebenfalls zur Ge-
nerationengerechtigkeit beiträgt, hier bisher aber nicht
erwähnt worden ist: Die gesetzliche Rente wird längst
nicht mehr nur aus Beiträgen finanziert, sondern wir ha-
ben durch einen ständig steigenden Zuschuss aus dem
Bundeshaushalt, aus dem Steueraufkommen, alle Ein-
kunftsarten und damit alle Mitbürgerinnen und Mitbür-
ger an der Finanzierung der gesetzlichen Rente beteiligt .
Mit dem kürzlich verabschiedeten Bundeshaushalt 2016
steigen diese Beiträge des Bundes zur Rentenversiche-
rung auf insgesamt 86,2 Milliarden Euro an. Wir finan-
zieren also die solidarisch finanzierte Rente zusätzlich
aus Steuermitteln . Das ist der größte Ausgabenblock in
unserem Bundeshaushalt .
Dr. Martin Rosemann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514536
(C)
(D)
Um die Vergleichsziffer zu nennen: Die Gesamtausgaben
werden sich, so der Haushaltsplan der Deutschen Ren-
tenversicherung, im kommenden Jahr auf 283,3 Milliar-
den Euro belaufen, davon stammen eben 86,2 Milliarden
Euro aus Steuermitteln . Das heißt, wir haben die Solida-
rität in der Rentenversicherung zusätzlich gestärkt .
Nun ist es richtig: Wenn man im Alter auskömmlich
leben will, wird alleine das, was man aus der gesetzli-
chen Rentenversicherung bekommt, nicht ausreichen .
Deswegen ist es übrigens auch schon in der Vergangen-
heit richtig gewesen – das hat auch ein Großteil der Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland ge-
macht –, sich fürs Alter etwas anzusparen . Für viele in
Deutschland gilt: Ich schaue, dass ich zu Wohneigentum
komme . Auch das ist ein Stück Alterssicherung .
Wir haben Instrumente entwickelt, um die betriebli-
che Altersversorgung und die private kapitalgedeckte Al-
tersversorgung attraktiver zu machen, nicht deshalb, weil
in dem einen oder anderen System die Rendite höher
ist – Sie haben mich dazu aus dem Handelsblatt zitiert –,
sondern weil es sinnvoll ist, neben einer umlagefinan-
zierten Altersvorsorge, die darauf aufgebaut ist, dass die
nächste Generation finanziell für einen einsteht, auch ein
Element einer Altersvorsorge zu haben, das man selber
angespart hat – mit staatlicher Unterstützung und mit Un-
terstützung des Arbeitgebers . Das ist der Sinn eines Al-
terssicherungssystems, das damit eben nicht auf einem,
sondern auf zwei Beinen steht . Diese Lebensweisheit gilt
immer: Es ist besser, auf zwei Beinen zu stehen als nur
auf einem . Das ist die Philosophie unseres Rentensys-
tems .
Nun ist mittlerweile der einzige Faktor, der diesen
Ausgleich zwischen Alt und Jung, also zwischen den
Generationen, schafft, der sogenannte Nachhaltigkeits-
faktor . Dieser Nachhaltigkeitsfaktor muss aber nicht
zwingend, wie von den Linken dargestellt, zu einem sin-
kenden Rentenniveau führen .
Im Jahr 2015 zum Beispiel hat der Nachhaltigkeitsfaktor
bei der Rentenanpassung zum 1 . Juli positiv gewirkt .
Das heißt, er hat zu einer höheren Rentenanpassung ge-
führt, weil aufgrund der hervorragenden wirtschaftlichen
Lage in unserem Land die Zahl derjenigen, die arbeiten
und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, so deutlich stär-
ker gestiegen ist als die Zahl derjenigen, die in Rente ge-
gangen sind . Es ist doch offenkundig, dass die Frage, wie
sich das Rentenniveau in Zukunft entwickelt, zuallererst
und eigentlich ausschließlich mit der Frage zusammen-
hängt: Wie entwickelt sich die Wirtschaft in unserem
Land, und wie viele sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigte gibt es, die Beiträge zahlen? Wenn deren Zahl
nach oben geht, dann bedeutet das: Der Nachhaltigkeits-
faktor wirkt positiv . Wenn deren Zahl nach unten geht,
wirkt er negativ .
Verehrte Damen und Herren, die beste Rentenpolitik, die
beste Politik, um auch für die Zukunft gute Renten zu
sichern, ist gute Beschäftigung und gutes Wirtschafts-
wachstum .
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Birkwald?
Bitte schön .
Vielen Dank, Herr Weiß, dass Sie die Frage zulassen .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnen und
Kollegen, Sie müssen keine Angst haben: Wir machen
das Seminar im Ausschuss .
Der Kollege Weiß hat eben erklärt, die Linke habe
behauptet, der Nachhaltigkeitsfaktor wirke immer und
jederzeit dämpfend . – Dazu stelle ich fest: Das hat die
Linke natürlich nicht getan . Wir sind ja nicht doof .
Wir wissen, dass der Nachhaltigkeitsfaktor in manchen
Jahren positiv wirkt .
Herr Kollege Weiß, ich habe vorhin schon darauf hin-
gewiesen: Ich habe das Ministerium gefragt, wie sich die
Faktoren auswirken . Auf dem mir vorliegenden Papier
ist zu sehen, dass der Nachhaltigkeitsfaktor von 2003
bis 2015 nur mit minus 0,18 Prozentpunkten gewirkt hat .
Das war in der Tat sehr harmlos . Aber das Ministerium
hat mir freundlicherweise auch mitgeteilt, dass diese
Entwicklung in Zukunft eben ganz anders aussehen wird .
Für den Zeitraum von 2016 bis 2029 steht hier ein Minus
von 4,38 Prozentpunkten .
Ich frage Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass der Nachhaltigkeitsfaktor in den nächsten 14 Jahren
dafür sorgen wird, dass massenhaft Rentnerinnen und
Rentner deutlich weniger Rente erhalten werden?
Peter Weiß
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14537
(C)
(D)
Herr Kollege Birkwald, in Ihrer Rede vorhin haben
Sie gesagt, es gebe auch aus Ihrer Sicht positive Entwick-
lungen . Zum Beispiel würden Sie davon ausgehen, dass
die Flüchtlinge, die derzeit zu uns ins Land kommen, alle
einmal Rentenbeitragszahlerinnen und -beitragszahler
würden . Das haben Sie vorgetragen .
Das ist richtig . Das ist genau die Wirkung, die ich be-
schrieben habe . Wenn die Zahl der Menschen, die bei
uns in Deutschland Arbeit haben und Beiträge zahlen, in
Relation zu der Zahl der Rentnerinnen und Rentner nicht
sinkt, sondern steigt, dann ist die Berechnung des Minis-
teriums nicht mehr richtig; dann korrigiert sie sich ins
Gegenteil . Das habe ich vorgetragen .
Das beweist nur, dass eines richtig ist: Der Nach-
haltigkeitsfaktor und auch der früher von der CDU und
Norbert Blüm vorgeschlagene demografische Faktor ha-
ben einen Ausgleich geschaffen zwischen der Generati-
on, die arbeitet und Beiträge zahlt, und der Generation,
die im Ruhestand ist und Rente bezieht .
Wenn wir dafür sorgen, wie wir es zurzeit in der
glücklichen Situation in Deutschland machen, dass sozi-
alversicherungspflichtige Beschäftigung zunimmt, dann
wirkt der Nachhaltigkeitsfaktor positiv . Das ist das, was
ich sagen wollte .
Verehrte Kolleginnen und Kollegen und auch alle Bür-
gerinnen und Bürger, die fragen, wie es weitergeht: Ent-
scheidend sind die wirtschaftliche Entwicklung, die Lohn-
entwicklung und die Frage, wie viele Beschäftigte wir
haben. Aber bei unserer demografischen Entwicklung
gibt es nur eine Lösung: Belastungen und Entlastungen
müssen generationengerecht aufgeteilt werden, statt eine
Generation einseitig zu bevorzugen oder einseitig zu be-
lasten .
Wir haben als Große Koalition, die aus einer sehr star-
ken CDU/CSU-Bundestagsfraktion und einer etwas klei-
neren SPD-Bundestagsfraktion besteht – um Ihnen die
Dimensionen zu erklären –,
die gute Lage, die wir in Deutschland wirtschaftlich
und in der Rentenversicherung haben – der Kollege
Rosemann hat in seiner Rede zu Recht darauf hinge-
wiesen –, dazu genutzt, erstmals seit 25 Jahren keine
Leistungseinschränkungen, sondern Leistungsverbes-
serungen in das Rentenrecht einzuführen. Ich finde das
bemerkenswert . Ja, eine gute wirtschaftliche Lage kann
man auch dazu nutzen, etwas Gutes für unsere Rentner-
innen und Rentner zu tun, und das haben wir gemacht .
Uns als Union war besonders wichtig, dass wir etwas
für diejenigen tun – das sind vor allem Frauen –, die we-
gen der Kindererziehung früher meist aus dem Erwerbs-
leben ausgestiegen sind . Sie bekommen mit der Mütter-
rente eine stärkere Anerkennung .
Genauso wichtig war es uns, etwas für diejenigen zu
tun, die wegen Krankheit oder eines Unfalls vorzeitig aus
dem Erwerbsleben austeigen müssen und Erwerbsminde-
rungsrente beziehen .
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, diese gute Ent-
wicklung der Rentenversicherung führt auch dazu, dass
wieder Rentenerhöhungen für die aktuellen Rentnerin-
nen und Rentner möglich sind, die deutlich über der In-
flationsrate liegen.
Wir stehen jetzt am Jahresende 2015 und blicken dem
Weihnachtsfest und dem Jahreswechsel entgegen . Die
gute Nachricht für die Rentnerinnen und Rentner für das
kommende Jahr ist, dass voraussichtlich die Rentenan-
passung 2016 zwischen 4 und 5 Prozent liegen wird .
Das ist die höchste Rentenanpassung seit Jahren und
eine gute Aussicht für die Rentnerinnen und Rentner in
Deutschland für das kommende Jahr . Darauf können wir
stolz sein .
Aber ich möchte nicht nur den Rentnerinnen und Rent-
nern ein gutes neues Jahr wünschen, sondern auch Ihnen,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, ein frohes und ge-
segnetes Weihnachtsfest und ein erfolgreiches Jahr 2016 .
Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Schmidt für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen und liebe Kol-
leginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke! Niemand
bestreitet, dass das Rentenniveau in der von Ihnen be-
schriebenen Weise sinken wird . Das hat bisher niemand
getan .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514538
(C)
(D)
Das Rentenniveau sinkt auch nicht erst, wie gerne
und auch dieses Mal wieder von Ihnen behauptet, seit
Gerhard Schröders Kanzlerschaft, sondern bereits seit
Anfang der 80er-Jahre . Dass es nicht endlos weitersinken
kann, ist auch klar . Ich glaube, alle Fraktionen – nicht nur
Sie – beschäftigen sich mit dieser Frage .
Wenn wir aber sagen, dass das Rentenniveau sinkt,
dann meinen wir das theoretische Modell mit dem so-
genannten Eckrentner . Die Wahrheit über die reale so-
ziale Lage der Rentnerinnen und Rentner in Deutsch-
land erzählt uns der Eckrentner aber nicht; denn seine
Erwerbsbiografie gibt es nicht. 45 Jahre Vollzeit und
Durchschnittsverdienst, das ist ein zutiefst hypotheti-
sches Arbeitsleben . Einige arbeiten länger . Viele schaffen
keine 45 Jahre . Manche verdienen mehr, andere weniger .
So ist das nun einmal mit dem Durchschnitt .
Das Standardrentenniveau kennzeichnet als statis-
tische Maßzahl die relative Einkommensposition der
Rentnerinnen und Rentner im Vergleich zu den Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern . Es sagt uns aber nichts
über die realen Altersrenten realistischer und tatsächli-
cher Erwerbsbiografien. Diese sehen anders aus. Denn
zur ganzen Wahrheit der Rente gehört: Schlechte Löhne
führen zu schlechten Renten . Deswegen haben wir den
Mindestlohn eingeführt und haben damit 4 Millionen
Menschen die Löhne erhöht .
Der Mindestlohn allein reicht aber nicht . Deswegen
stärken wir die Tarifpartnerschaft . Das haben wir zum
Beispiel getan mit der Erleichterung der Allgemeinver-
bindlichkeitserklärung von Tarifverträgen .
Wir wollen die Tarifpartnerschaft aber auch im Zuge der
Regelungen von Leiharbeit und Werkverträgen stärken .
Klare und starre gesetzliche Regelungen als Grundlage,
aber flexible Handhabungsmöglichkeiten im Rahmen
von Branchentarifverträgen, also Mindestlohn als An-
standsgrenze und starke Anreize, tarifpartnerschaftlich
zu agieren, das stärkt die Löhne insgesamt .
Teilzeitarbeit und kurze Erwerbsbiografien führen
ebenfalls zu schlechten Renten . Wie Sie bereits gesagt
haben, beschreibt das die Situation vieler Frauen . Des-
wegen werden wir noch in dieser Legislaturperiode das
Recht auf Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit umsetzen .
Wir fördern Partnerschaftlichkeit und Flexibilität bei der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Beispiel durch
das Elterngeld Plus und verringern damit die Rentenlü-
cke zwischen Männern und Frauen .
Genauso führen gebrochene Erwerbsbiografien, Ar-
beit ohne Alterssicherung, zum Beispiel Soloselbst-
ständigkeit, oder andere schlecht versicherte oder un-
versicherte selbstständige Arbeit zu schlechten Renten .
Wir wollen erreichen, dass keine Erwerbstätigkeit ohne
Absicherung im Alter bleibt . Das betrifft vor allem Solo-
selbstständige . Aber am Ende steht für uns als SPD eine
Erwerbstätigenversicherung für alle, auch wenn wir das
in dieser Legislaturperiode noch nicht erreichen werden .
Auch Krankheit und früher Renteneintritt führen zu
schlechten Renten . Deshalb haben wir im Rahmen der
AG „Flexible Übergänge“ vieles beschlossen, was die
Gesundheitsprävention und die Unterstützung von Men-
schen mit besonders schwerer Arbeit verbessert .
Das alles verbessert die Basis für die Rente deutlich .
Von alledem haben viele Menschen in der Vergangenheit
aber noch nicht profitieren können. Deswegen verstehe
ich nicht, wieso Sie in Ihrem Antrag abschätzig über un-
ser Vorhaben der Einführung einer Solidarrente reden .
Denn Sicherheit vor Altersarmut erlangt man nicht über
die Anhebung des Rentenniveaus . Bei der solidarischen
Lebensleistungsrente werden wir geringe Anwartschaf-
ten aufwerten . Das kann zu Anhebungen von bis zu
50 Prozent führen für diejenigen, die es am meisten brau-
chen . Das erreichen Sie mit Ihrer Forderung nach 53 Pro-
zent Rentenniveau, also einer Steigerung um 11 Prozent,
für alle aber nicht .
– Legen Sie einmal alles vor und erklären uns dann, wie
Sie das finanzieren. Dann diskutieren wir noch einmal.
Ich verstehe auch nicht, warum Sie in Ihrem Antrag
abschätzig darüber schreiben, dass wir die betriebliche
Altersversorgung stärken, verbessern und verbreitern
wollen . Aber dazu wird mein Kollege Ralf Kapschack
gleich noch etwas sagen .
Rentenpolitik ist eine dauerhafte Aufgabe . Kein Ren-
tenkonzept dieser Welt wird auf alle Zeiten für alle eine
gute Antwort geben . Unsere Gesellschaft, unsere Wirt-
schaft und unser Arbeitsleben verändern sich nicht nur
durch die Digitalisierung . Frauen arbeiten mehr, Männer
wollen weniger arbeiten. Der demografische Wandel hat
seine schwierigen Auswirkungen . Genauso kann aber die
Zuwanderung unsere Gesellschaft positiv beeinflussen.
Wir haben viel Gutes auf den Weg gebracht . Seien Sie
Dagmar Schmidt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14539
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(D)
versichert: Genauso erfolgreich werden wir alle weiteren
Herausforderungen in der Rentenpolitik annehmen .
„Ein gutes Gewissen ist ein ständiges Weihnachten“,
sagte Benjamin Franklin . Wir haben nicht nur ein gutes
Gewissen; wir sind auch stolz auf das, was wir in den
letzten zwei Jahren erreicht haben . Ich wünsche Ihnen
allen ein schönes, fröhliches und vor allem ein friedliches
Weihnachtsfest .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Jana
Schimke das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nächs-
te Woche ist Weihnachten, und die Linke verteilt wieder
einmal Geschenke – faule Geschenke; nichts anderes ist
ihr Antrag .
Es sind faule Geschenke, die auf den ersten Blick gut
aussehen; aber auf den zweiten Blick zeigt sich, wer das
Ganze am Ende zu bezahlen hat .
Meine Damen und Herren, wir führen heute wieder
einmal eine sehr aufregende Diskussion über die Fragen:
Wie soll unser Rentensystem künftig aussehen? Wie soll
sich unsere Altersvorsorge künftig gestalten? Wir de-
battieren im Wesentlichen immer wieder über dieselben
Dinge . Ich glaube, man kann es eigentlich nicht oft genug
sagen: Es ist richtig, und es ist auch kein Geheimnis – das
wissen wir schon seit längerem –, dass die gesetzliche
Rente allein künftig nicht mehr ausreichen wird, den Le-
bensstandard auch im Rentenalter abzusichern . Das ist
nichts Neues .
Es ist nicht so lange her, dass wir uns über ganz wich-
tige, ganz entscheidende Schritte in diesem Bereich ver-
ständigt haben: Wir haben uns darauf verständigt, die
Gewichtung in unserem Rentensystem, dem sogenannten
Drei-Säulen-System, etwas zu verschieben, ja, etwas zu
verändern, und zwar zu Recht:
Der demografische Wandel – das ist uns allen be-
kannt – stellt eine existenzielle Gefahr für unsere sozia-
len Sicherungssysteme dar .
Wir leben in einem Land, das auf umlagefinanzierte sozi-
ale Sicherungssysteme zurückgreift. Der demografische
Wandel ist der Hauptgrund dafür, dass dieses System ins
Wanken gebracht wird . Weniger Junge und damit weni-
ger Beitragszahler in unserem Land sowie mehr Ältere
und damit natürlich auch mehr Rentenempfänger brin-
gen unser umlagefinanziertes Sicherungssystem auf die
Dauer in die Schieflage. Unsere Aufgabe ist es, darauf
zu reagieren . Deshalb haben wir uns in den vergangenen
Jahren zu mehreren Schritten entschieden, die weitaus
vernünftiger sind als das, was die Kollegen der Linken
uns heute hier präsentiert haben:
Erstens . Wir sagen den Menschen, dass die Altersvor-
sorge künftig eben nicht mehr allein von der gesetzlichen
Rente getragen werden kann . Zwar soll die gesetzliche
Rentenversicherung weiterhin Kernstück unserer Alters-
vorsorge bleiben, aber auch die betriebliche und private
Altersvorsorge wird für einen guten Ruhestand künftig
unverzichtbar sein .
Zweitens . Wir sagen den Menschen, dass längeres
Arbeiten künftig unverzichtbar ist für den Erhalt unserer
Solidargemeinschaft, nicht nur, um unsere sozialen Si-
cherungssysteme zu finanzieren, sondern auch, um der
Tatsache Rechnung zu tragen, dass wir immer länger le-
ben, dass es den Menschen immer besser geht . Das muss
sich am Ende auch am Arbeitsmarkt abbilden .
Drittens . Im Jahr 2001 gab es eine Rentenreform, die
zur Folge hatte, dass die Beiträge an die gesetzliche Ren-
tenversicherung ansteigen . Gleichzeitig wurde verein-
bart, dass das Rentenniveau bis 2030 absinkt; auch das ist
in der Debatte heute schon mehrfach angeklungen . Aber
nur so konnte sichergestellt werden, dass die gesetzliche
Rentenversicherung eben in keine finanzielle Schieflage
gerät .
Viertens . Im Jahr 2004 wurde der Nachhaltigkeitsfak-
tor eingeführt; auch das ist heute mehrfach angeklungen .
Dadurch wurde dafür gesorgt, dass das Verhältnis der
Zahl der Beitragszahler zur Zahl der Rentner nicht aus
dem Gleichgewicht gerät: Steigt die Zahl der Rentner
überproportional, steigen eben auch die Renten weniger
stark . Ich halte das nur für gerecht .
Fünftens. Wir brauchen natürlich flankierende Maß-
nahmen, die Arbeiten und Ruhestand eben nicht mehr
als zwei gegensätzliche Dinge sehen . Da haben wir in
dieser Legislatur mit den ersten Maßnahmen zur Flexi-
rente schon etwas Gutes auf den Weg gebracht . Da sind
wir schon erste Schritte gegangen, und wir werden das
künftig fortsetzen .
Was unsere Gesellschaft braucht, ist eben ein Umden-
ken, ein Denken weg von einer starren Grenze „von der
Arbeit in den Ruhestand“ hin zu weitaus mehr Flexibi-
lität, durch die man durchaus in der Lage ist, beides zu
vereinen: Ruhestand und Arbeiten im Alter .
Wir haben uns mit dem Koalitionspartner darauf ver-
ständigt, Erleichterungen bei den Hinzuverdienstgrenzen
zu schaffen . Wir wollen Anreize setzen, dass sich län-
geres Arbeiten sowohl für Arbeitgeber als natürlich auch
für Arbeitnehmer lohnt, und wir wollen auch Erleichte-
rungen bei den Sozialbeiträgen durchsetzen . Außerdem
haben wir gemeinsam mit der Deutschen Rentenversi-
cherung darauf hingewirkt, dass die Arbeitnehmer nicht
Dagmar Schmidt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514540
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mehr nur darüber informiert werden, ab wann man in
Rente gehen darf, sondern dass sie durchaus auch über
alternative Möglichkeiten des Ruhestandes und des Wei-
terarbeitens unterrichtet werden . Das ist mein Verständ-
nis von einer modernen Rentenpolitik, von einem moder-
nen Rentenversicherungssystem .
Meine Damen und Herren, diese Schritte sind nicht
nur notwendig und sinnvoll, sie sind vor allen Dingen
auch generationengerecht . Ich frage mich immer wieder:
Die Vorschläge, die von der Linken kommen, kosten viel
Geld, zielen auf eine Gruppe ab, und keiner fragt: Wie
soll das eigentlich finanziert werden?
Sie insbesondere tun das nicht .
Die junge Generation zahlt . Die Schülerinnen und
Schüler zahlen, die Sie regelmäßig in Ihrem Wahlkreis
treffen, die Sie möglicherweise regelmäßig im Deutschen
Bundestag besuchen . Denen sollten Sie das mal erzählen .
Meine Damen und Herren, so werden die wiederkeh-
renden Forderungen der Linken auch nicht besser und
auch nicht richtiger . Wir haben heute schon eine Vielzahl
Ihrer Wünsche und Vorstellungen gehört . Sie fordern
zum Beispiel, dass die Rente den Löhnen folgen soll .
Demnach hätten die Renten 2009 sinken müssen . Denn
hätte die Bundesregierung in diesem Jahr – das war zu
Zeiten der Wirtschaftskrise – keine Rentengarantie aus-
gesprochen, hätte sich der Einbruch der Löhne auch in
den Renten abgebildet . Das hat er aber nicht, weil es die
Rentengarantie gab .
Entgegen der demografischen Wirklichkeit wollen Sie
zudem das Rentenniveau dauerhaft auf 53 Prozent an-
heben und den Nachhaltigkeitsfaktor abschaffen . Finan-
zieren wollen Sie das natürlich nur mit einem massiven
Anstieg der Rentenbeiträge .
Meine Damen und Herren, was Sie fordern, ist ein
Angriff nicht nur auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer in unserem Land, nicht nur auf unsere Leistungs-
träger, sondern das ist auch ein Angriff auf die junge Ge-
neration .
Sie behaupten in Ihrem Antrag, dass sich private und be-
triebliche Altersvorsorge für die Menschen in unserem
Land nicht mehr lohnt . Aber glauben Sie denn ernsthaft,
dass sich die Situation der arbeitenden Bevölkerung im
Alter zum Positiven wenden würde, wenn Sie ihr jetzt
mit massiven Rentenbeiträgen zusätzlich in die Tasche
greifen?
Denken Sie nicht, dass eine Erhöhung der Rentenbei-
träge unsere ohnehin im europäischen Vergleich hohen
Arbeitskosten weiter verteuern würde? Genau das würde
sie tun .
Mein Verständnis von guter Sozialpolitik ist: Am Ende
muss netto mehr übrigbleiben . Wenn wir über Vorsorge
für das Alter sprechen, denken wir einmal nicht nur an
die betriebliche und die private Vorsorge, sondern denken
wir vielleicht auch an das kleine Eigenheim, das sich die
jungen Familien in jungen Jahren errichten . Auch dazu
brauchen sie natürlich mehr netto in der Tasche . Genau
darauf zielt unsere Politik ab; Ihre tut das nicht .
Verlierer Ihrer Politik von Arbeitsplatzverlusten und
nicht geschaffenen Stellen sind ausgerechnet jene, die
Sie mit Ihrem Antrag vorgeben unterstützen zu wollen .
Es sind die Geringqualifizierten. Eines ist Fakt: Die
größte Gefahr von Altersarmut geht immer noch von der
Arbeitslosigkeit aus . Die notwendigen – nicht nur renten-
politischen – Maßnahmen, um im Alter möglichst gut ab-
gesichert zu sein, sollten unseres Erachtens andere sein .
Neben den bisher erläuterten Schritten, die ich Ihnen
lang und breit erklärt habe, haben wir uns natürlich im
Koalitionsvertrag auch auf die Stärkung der betriebli-
chen Altersvorsorge verständigt . Das wollen wir noch
in dieser Legislaturperiode umsetzen . Wir wollen für
Arbeitgeber und Arbeitnehmer Anreize setzen, Modelle
der betrieblichen Altersvorsorge stärker anzubieten, zu
verbreiten und auch zu nutzen .
Ein weiterer Punkt ist der berufliche Aufstieg. Er ist
nicht nur mit Karriere, sondern auch mit mehr Gehalt
verbunden. Das wiederum erfordert Bildung und Qualifi-
kation . Eine solide Ausbildung und eine kontinuierliche
Erwerbsbiografie sind immer noch die beste Altersvor-
sorge . Daran sollten wir weiterhin arbeiten .
Jana Schimke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14541
(C)
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Auch sollte die Arbeitsmarktpolitik den Unternehmen
in unserem Land genügend Freiraum lassen, um zu in-
vestieren und Arbeitsplätze zu schaffen . Denn Wohlstand
und Wertschöpfung fallen eben nicht vom Himmel . Das
muss man immer wieder sagen, wenn wir über Anträge
der Linken diskutieren .
Von einem robusten Arbeitsmarkt profitieren eben nicht
nur jene, die einer Beschäftigung nachgehen können,
sondern es profitieren auch unsere sozialen Sicherungs-
systeme durch eine Vielzahl von Beitragszahlern .
Lassen Sie mich als letzten Punkt noch etwas ganz
Wichtiges sagen: Es geht um die Familienpolitik . Wir
konnten uns gestern über eine Meldung in den Medien
freuen, dass die Anzahl der Geburten steigt und dass es
mehr Kinder in unserem Land gibt . Ich glaube, das ist
auch Ausdruck unserer guten Familienpolitik, die wir
von CDU und CSU in den letzten Jahren gemacht haben .
Wir haben wahnsinnig viele Maßnahmen auf den Weg
gebracht, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – –
Frau Kollegin Schimke, die müssen Sie dann bitte in der
nächsten Debatte vortragen oder im Ausschuss . Sie müs-
sen jetzt einen Punkt setzen .
Das mache ich sehr gerne . – Ich wollte nur darauf
hinweisen, dass die Maßnahmen, die wir im Bereich der
Familienpolitik auf den Weg gebracht haben, richtig und
gut waren . Denken Sie daran, meine Damen und Herren,
wenn Sie jetzt in die Weihnachtszeit gehen: Ohne Kinder
ist alles nichts . Darauf sollte unsere Politik abzielen .
Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Ralf Kapschack für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Die gesetzliche
Rente ist und bleibt der zentrale Ansatzpunkt, um eine
Altersversorgung zu gewährleisten, von der Frau und
Mann gut leben können .
Das ist völlig klar . Deshalb ist es gut – vielen Dank da-
für –, dass wir heute darüber reden können . Es gibt in der
Tat noch einiges zu tun . Vieles ist angesprochen worden .
Ich will mich auf einen besonderen Aspekt konzentrie-
ren .
Vorab: Es bleibt für mich und uns bei der Idee, lang-
fristig eine Erwerbstätigenversicherung aufzubauen und
die gesetzliche Rentenversicherung zu einer Altersver-
sorgung für alle Beschäftigten, also auch für Selbststän-
dige und Beamte, umzubauen .
Das schafft mehr Gerechtigkeit, und das schafft auch
neue finanzielle Spielräume. Aber – das muss man der
Ehrlichkeit halber sagen – auch eine Erwerbstätigenver-
sicherung löst nicht alle Probleme . Trotzdem ist sie aus
meiner und unserer Sicht langfristig der richtige Weg .
Deshalb halten wir daran fest . Zugegeben: Nächste Wo-
che wird das noch nichts . Das wird schon noch ein biss-
chen dauern .
Deshalb müssen wir uns natürlich damit beschäfti-
gen, wie wir die jetzige Form der Altersversorgung absi-
chern . Die gesetzliche Rente ist – ich habe es gesagt – der
zentrale Teil, aber sie ist eben nur ein Teil . Das Gesetz
schreibt vor, dass spätestens 2020 – das ist nicht mehr
ganz so weit – eine Überprüfung zu erfolgen hat und ge-
eignete Maßnahmen zu ergreifen sind, wenn Beitragssatz
und Sicherungsniveau von den Plänen abweichen und
wenn die freiwillige zusätzliche Altersversorgung nicht
ausreicht, um dieses Niveau zu halten .
In der Tat – das ist schon angesprochen worden – hat
die private Altersversorgung die Erwartungen bislang
nicht erfüllt . Wir haben 16 Millionen Riester-Verträge,
aber das entspricht nur rund 35 Prozent der Beschäftig-
ten . Bei knapp 20 Prozent der Verträge wird zurzeit gar
nichts eingezahlt .
Woran liegt das? Für manche ist das Thema Rente sicher
noch weit weg, aber viele können sich die zusätzliche
Vorsorge auch nicht leisten . Von den Geringverdienern
erhalten mehr als 40 Prozent weder eine Betriebsrente
noch eine Riester-Rente, also ausgerechnet diejenigen,
die die zusätzliche Vorsorge am dringendsten brauchen .
Das müssen wir ändern, und das wollen wir ändern .
Gerade Geringverdiener werden auch in Zukunft auf
zusätzliche Vorsorge angewiesen sein . Eine Diskussion
über das Rentenniveau allein hilft ihnen nicht .
Jana Schimke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514542
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Die betriebliche und tarifvertraglich abgesicherte Al-
tersversorgung ist für uns die beste Form der privaten
und zugleich kollektiven Altersversorgung . Wir wollen
sie stärken und durch die Erleichterung bei der Allge-
meinverbindlichkeit auch in Regionen und Branchen in
Deutschland durchsetzen, in denen sie derzeit aufgrund
der geringen Tarifbindung noch viel zu wenig genutzt
wird . Die Stärkung der betrieblichen Altersversorgung
ist für uns eine wünschenswerte Ergänzung der gesetz-
lichen Rente .
Zurzeit haben etwa 60 Prozent der Beschäftigten An-
spruch auf eine betriebliche Altersversorgung, in Groß-
betrieben ist es fast jeder, im Handwerk aber nur jeder
Zehnte . Auch für Mittel- und Kleinbetriebe muss die
betriebliche Altersversorgung selbstverständlich werden .
So ist das im Koalitionsvertrag formuliert, und so werden
wir das umsetzen .
Der Klempner- oder Bäckermeister will sich, wenn er
abends die Lohnabrechnung macht, in der Regel nicht
auch noch um die betriebliche Altersversorgung küm-
mern, und das kann er auch nicht . Eben weil vor allem
kleine Betriebe oft damit überfordert sind, sollte es nach
unserer Ansicht tarifvertragliche Lösungen geben . Die
Betriebe könnten von Risiko und Organisationsaufwand
entlastet werden . Gleichzeitig können gemeinsame Ein-
richtungen durch ihre Größe Kostenvorteile beim Ver-
trieb, bei den Verwaltungskosten und bei möglichen
Anlagen realisieren . Das Arbeitsministerium arbeitet an
entsprechenden Vorschlägen .
Aus meiner Sicht brauchen wir eine obligatorische
Regelung . Das heißt: Jede oder jeder Beschäftigte muss
in Zukunft ein Angebot des Arbeitgebers für eine betrieb-
liche Altersversorgung bekommen . Die Erfahrung in den
Nachbarländern zeigt, dass eine solche Regelung zu ei-
ner deutlich besseren Verbreitung führt . Auch die Christ-
lich-Demokratische Arbeitnehmerschaft hat sich vor
kurzem für eine obligatorische betriebliche Altersversor-
gung ausgesprochen. Ich finde das prima und unterstütze
sie natürlich dabei .
Martin Rosemann hat es gesagt: Betriebliche Al-
tersversorgung ist für uns nicht nur betriebliche Perso-
nalpolitik, sondern auch Sozialpolitik im eigentlichen
Sinne . Klar ist doch – das sollte man an dieser Stelle
auch sagen –: Wenn sich die Situation bei der betriebli-
chen Altersversorgung nicht ändert, wenn nicht deutlich
mehr Unternehmen ihren Beschäftigten eine betriebliche
Altersversorgung anbieten, dann wird der Druck steigen,
die Beiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zu
erhöhen, um eine angemessene Versorgung zu gewähr-
leisten . Auch deshalb wäre es für Unternehmen sehr
kurzsichtig, weiter auf betriebliche Altersversorgung
zu verzichten . Denn höheren Beiträgen können sie sich
nicht entziehen .
In den nächsten Wochen sollen die Ergebnisse eines
Gutachtens vorliegen, das vom Finanzministerium in
Auftrag gegeben worden ist . Davon erhoffen wir uns Er-
kenntnisse über die Wirkung der steuerlichen Förderung
der betrieblichen Altersversorgung . Ich vermute, wir
werden auch in Zukunft bei der betrieblichen Altersver-
sorgung mit Zulagen arbeiten müssen, um Geringverdie-
nern den Zugang zu ermöglichen; denn von steuerlicher
Förderung haben sie wegen ihres niedrigen Einkommens
in der Regel nichts .
Im kommenden Jahr werden wir hier über konkrete
Vorschläge zur Reform der betrieblichen Altersversor-
gung diskutieren . Darauf freue ich mich schon . Für uns
ist und bleibt die gesetzliche Rente der Kern der Al-
tersversorgung . Aber die betriebliche Altersversorgung
ist eine sinnvolle Ergänzung .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und schöne
Weihnachten .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6878 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung über die Maß-
nahmen zur Förderung der Kulturarbeit ge-
mäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes in
den Jahren 2013 und 2014
Drucksache 18/5598
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Tourismus
Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen so vor-
zunehmen, dass wir mit der Debatte fortfahren können .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Dr . Christoph Bergner für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Bemerkung vorab: Wir alle mögen unsere Staatsmi-
nisterin Monika Grütters . Aber bevor die Sehnsucht nach
ihr den einen oder anderen zu einem Antrag auf Herbei-
zitierung verleiten könnte, will ich sagen: Sie muss im
Moment im Bundesrat das Kulturgutschutzgesetz vertei-
digen . Ich glaube, das ist ein Punkt, den wir respektieren
sollten .
Nun zum vorliegenden Bericht . Seit 1999 vergibt die
Europäische Kommission den Titel Kulturhauptstadt Eu-
ropas, und sie tut es nach der Osterweiterung der Euro-
Ralf Kapschack
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14543
(C)
(D)
päischen Union unter bewusster Einbeziehung von nam-
haften Städten unserer östlichen Mitgliedstaaten . Ich darf
einige Städte der letzten Jahre einmal aufzählen: 2007
Hermannstadt, Sibiu, in Rumänien, 2010 Fünfkirchen,
Pecs, in Ungarn, 2011 Tallinn, Reval, in Estland, 2013
Kosice, Kaschau, in der Slowakei, Riga in Lettland letz-
tes Jahr, Pilsen in Tschechien in diesem Jahr und Breslau
in Polen im nächsten Jahr .
Meine Damen und Herren, warum erwähne ich diese
Kulturhauptstädte Europas im Zusammenhang mit der
Diskussion unseres Berichtes? Es sind alles Orte, deren
reiche Geschichte ohne den Beitrag deutscher Kultur
unverständlich und unvollständig geblieben wäre . Es
sind heute Orte europäischer Kultur, deren Wert ohne
den Beitrag der Deutschen im Rahmen der europäischen
Siedlungsgeschichte nicht darstellbar wäre, seien es die
Siebenbürger Sachsen, seien es die Karpatendeutschen,
die Ungarndeutschen, die Baltendeutschen oder im
nächsten Jahr mit Breslau die Schlesier .
§ 96 des Bundesvertriebenengesetzes enthält den Auf-
trag – ich zitiere –:
das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Be-
wusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des
gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu
erhalten, . . .
Wenn wir diesen Auftrag richtig verstehen wollen, so
sollten wir uns klar sein: Es geht darum, dass wir unseren
deutschen Beitrag zu einem gemeinsamen europäischen
Kulturerbe pflegen.
Gerade das kulturelle Erbe der Heimatvertriebenen,
der deutschstämmigen Aussiedler und der deutschen
Volksgruppen im Osten hat oft genug eine Entstehungs-
geschichte und eine Dimension, die ein allein national-
kulturelles Verständnis überschreitet . Es leistet deshalb
innerhalb der EU einen Beitrag zur Entwicklung eines
kulturellen Identitätsbewusstseins, das sich immer we-
niger national und immer mehr europäisch versteht . Die
Förderung nach § 96 Bundesvertriebenengesetz kann
also einen Beitrag leisten, ein vorwiegend national be-
stimmtes Kultur- und Geschichtsverständnis durch ein
europäisches Verständnis abzulösen .
Ich muss in diesem Zusammenhang nicht daran er-
innern, welche Abgrenzungen genau mit einem immer
stärker national verbundenen Kulturverständnis einher-
gingen und wie aggressiver Nationalismus Europa in die
kriegerischen Katastrophen des 20 . Jahrhunderts stürzte .
Die Kenntnis der in Jahrhunderten historisch gewachse-
nen kulturellen Verflechtungen in Europa, gerade in den
deutschen Siedlungsgebieten im Osten, und die daraus
resultierenden Gemeinsamkeiten sind ein kaum zu über-
schätzender Faktor der europäischen Integration .
Ich füge gern persönlich hinzu, dass ich es immer wie-
der für einen problematischen Irrtum halte, dass europä-
ische Integration vor allen Dingen in der Gemeinsamkeit
der Märkte und der Währung gesucht wird . Gemeinsam-
keit, die ein kulturelles Identitätsbewusstsein schafft, aus
dem auch ein europäisches Gemeinwohlverständnis ab-
geleitet werden kann, scheint mir in dem Zusammenhang
wichtig . Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir das An-
liegen des § 96 BVFG sehen .
Zu den Besonderheiten des vorliegenden Berichtes
gehört, dass er – Zitat – „die Zeitmarke von 60 Jahren“
nach Verabschiedung des Bundesvertriebenengesetzes
umfasst . 2013, im 60 . Jahr der Verabschiedung des Bun-
desvertriebenengesetzes, hat der Deutsche Bundestag
eine Resolution beschlossen, in der es heißt – ich darf
zitieren –:
Das Anliegen und die Leistungen des BVFG sind
Teil der Politik der Kriegsfolgenbewältigung durch
die Bundesrepublik Deutschland .
Kriegsfolgenbewältigung, das heißt die Aufarbeitung
des Holocaust, der Folgen der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft sowie des Zweiten Weltkrieges, war
für den Deutschen Bundestag und sämtliche Bundes-
regierungen stets ein zentrales Anliegen . Kriegsfolgen-
bewältigung hat mehrere Aspekte . Von übergeordneter
Bedeutung sind die Leistungen der Versöhnung und
Wiedergutmachung gegenüber den Opfern des Natio-
nalsozialismus und der von Deutschland ausgehenden
Aggressionskriege . Daneben steht die Solidarität mit
den Deutschen, die wegen ihrer Volkszugehörigkeit ein
besonders schweres Kriegsfolgenschicksal erlitten ha-
ben . Das Anliegen des § 96 BVFG liegt ganz wesent-
lich auch in der Aufarbeitung und im Gedenken der Lei-
densgeschichte der Deutschen, die in Reaktion auf die
Verbrechen des Nationalsozialismus allein wegen ihrer
Volkszugehörigkeit Vertreibung, Unterdrückung und
Zwangsassimilation ausgesetzt waren .
Kollege Bergner, ich störe ungern, aber Sie müssen
zum Schluss kommen .
Ich bedauere das sehr . – Beide Aspekte scheinen mir
für die Umsetzung des § 96 Bundesvertriebenengesetz
und für das Verständnis des vorliegenden Berichtes wich-
tig . Mir ist es wichtig, zu sagen, dass es angesichts eines
solchen zukunftsweisenden Anliegens bedauerlich war,
dass in den Jahren 1998 bis 2005 die dafür erforderlichen
Mittel gekürzt worden sind, und dass es erfreulich ist,
dass sie nach 2005 regelmäßig ausgebaut wurden .
Ich möchte Ihnen allen ein gesegnetes Weihnachts-
fest –
Klären Sie das mit den Redezeiten mit Ihrer Fraktion .
– und ein gutes neues Jahr wünschen . Ich denke im Sinne
des § 96 Bundesvertriebenengesetz in diesem Fall beson-
ders an die Organisationen der deutschen Minderheiten
im Osten, von Usbekistan über Rumänien bis hin zu an-
deren Ländern . Sie haben einen besonderen Weihnachts-
gruß verdient .
Dr. Christoph Bergner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514544
(C)
(D)
Herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Sigrid Hupach für die Lin-
ke .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Zeit, in der das
Thema „Flucht und Vertreibung“ von leidvoller Aktuali-
tät ist, sprechen wir heute über die Förderung der Kultur-
arbeit gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes . Das
bietet die Chance, aus einem alten und an sich überholten
Gesetz Lösungsansätze und Ideen für die Gegenwart zu
entwickeln . Ohne Zweifel stehen die Kommunen aktuell
vor großen Herausforderungen . Viele Menschen suchen
bei uns Zuflucht. Sie müssen mit dem Nötigsten versorgt
werden, ja, aber wir müssen ihnen auch mit Respekt be-
gegnen . Menschenrechte gelten für alle, egal wo .
Ich möchte an dieser Stelle an die erfolgreiche Inte-
gration von 12 Millionen Menschen nach dem Ende der
NS-Herrschaft erinnern und an die 3 Millionen Spätaus-
siedler, deren Integration natürlich auch nicht konfliktfrei
bewältigt wurde . Vor diesem Erfahrungshorizont aber
muss es doch möglich sein, heute 1 Million geflüchtete
Menschen würdevoll in unsere Gesellschaft aufzuneh-
men .
Dies wird aber nur gelingen, meine Damen und Her-
ren, wenn wir unsere Erfahrungen von Integration und
Wiederaufbau nach Ende des Zweiten Weltkrieges kon-
struktiv in die Gegenwart übertragen . Das Bundesvertrie-
benengesetz taugt dazu aber nicht . Zu sehr spricht aus
ihm noch immer der Geist der damaligen Zeit . So wirkt
auch der von Ihnen vorgelegte Bericht entsprechend be-
fremdlich . Gleich unter Punkt 1 heißt es, dass die deut-
sche Kultur im östlichen Europa als verbindendes Ele-
ment für ein gemeinschaftliches Europa anzusehen ist .
Wenn es ein über alle Grenzen hinweg verbindendes
Element in Europa gibt, dann ist es doch die kulturelle
Vielfalt,
das interkulturelle Miteinander oder, so müsste man ge-
nauer sagen, die transkulturelle Verflechtung.
Europa war nie geprägt durch ethnisch oder kulturell
homogene Räume, sondern eben durch kulturelle Viel-
falt . Das gilt auch für alle Gebiete Osteuropas . Erst die
völkische, rassistische und nationalsozialistische Politik
des 19 . und 20 . Jahrhunderts hat sie zu vermeintlich ho-
mogenen Räumen erklärt und durch ethnische Säuberun-
gen und Vertreibungen zu unvorstellbarem Leid geführt .
Betrachtet man die Geschichte dieser Regionen nicht mit
der deutschen Brille, sondern als Geschichte transkultu-
reller Verflechtungen, könnte man mit einer gesamteuro-
päischen Betrachtungsweise eine wirklich differenzierte
Analyse der Geschichte Europas im 20 . Jahrhundert an-
stellen, unter klarer Benennung der Ursachen, und dann
könnte man für die verheerenden Folgen der Ausgren-
zung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Spra-
che oder ihrer Religion sensibilisieren, und man könnte
das Bewusstsein schärfen für ausschließende Prozesse,
die es auch heute gibt .
Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung kann
hierbei einen wesentlichen Beitrag leisten . Das geht aber
nur, wenn die gegenwärtig bestehende Chance zu einem
Neuanfang auch wirklich genutzt wird, wenn die bisheri-
gen Probleme der Stiftung analysiert und auch öffentlich
thematisiert werden . Der vorgelegte Bericht schweigt
sich dazu jedoch aus, obwohl im Berichtszeitraum der
Gründungsdirektor entlassen wurde und es zu einem
Eklat bei zwei Ausstellungen kam . Das verwundert vor
allem, weil es in der letzten Zeit sehr wohl anderslauten-
de Äußerungen vonseiten der Bundesregierung gab . Frau
Staatsministerin Grütters stellte am vergangenen Sonn-
tag im Interview im Deutschlandfunk fest, dass die Stif-
tung an der schwierigen Entstehungsgeschichte krankt .
Das ist eine richtige, aber auch überfällige Erkenntnis .
Ich hoffe sehr, dass Sie nun auch den Mut haben, daraus
die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen .
– Okay . – Die Stiftung muss inhaltlich neu positioniert
werden und die aktuellen Bezüge zu Flucht und Vertrei-
bung aufnehmen .
Die Stiftungsgremien müssen anders zusammengesetzt
werden, ohne die Übermacht des Bundes der Vertriebe-
nen und unter Berücksichtigung aller im Bundestag ver-
tretenen Fraktionen und vor allem unter Einbeziehung
von Vertreterinnen und Vertretern der jüdischen Organi-
sationen, der Sinti und Roma sowie von Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftlern aus Mittel- und Osteuropa .
Die internationale Ausrichtung ist hier unerlässlich .
Nur so kann die Stiftung wirklich der Versöhnung die-
nen, nur so kann die Stiftung das Thema im europäischen
Kontext bearbeiten . Nutzen Sie also die Chance zum
Neuanfang! Unsere Unterstützung haben Sie .
Die Stiftung ist ein gutes Beispiel für einen weiteren
Gedanken, mit dem ich schließen möchte. Früher fiel
die Stiftung unter die Kulturförderung nach § 96 des
Bundesvertriebenengesetzes, seit 2008 aber ist sie beim
Deutschen Historischen Museum angesiedelt . Damit
ist schon der erste Schritt getan, für den sich die Linke
schon in der Enquete-Kommission 2007 starkgemacht
Dr. Christoph Bergner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14545
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(D)
hat, nämlich für das Ende der speziellen Kulturförderung
nach § 96 BVFG, für eine Eingliederung in die allgemei-
ne Kulturförderung sowie für die Gründung von multina-
tionalen Stiftungen, in denen neben Bund und Ländern
auch die osteuropäischen Staaten und die Opfergruppen
gleichberechtigte Partner wären .
Wenn sich die Kulturförderung durch einen transkul-
turellen Ansatz und eine gesamteuropäische Betrach-
tungsweise auszeichnen würde, könnten wir einen wirk-
lich nachhaltigen Beitrag zur europäischen Einheit in
Vielfalt leisten .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Das Wort hat die Kollegin Hiltrud Lotze für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! § 96 des Bun-
desvertriebenengesetzes verpflichtet Bund und Länder,
die Kultur und Geschichte jener Regionen im östlichen
Europa zu erforschen und zu sichern, in denen früher
teilweise jahrhundertelang Deutsche gelebt haben oder
heute noch leben . Mehr als 20 Millionen Euro geben wir
jährlich dafür aus . Das geschieht im Interesse unserer
Gesellschaft, und es geschieht auch im Interesse derje-
nigen Menschen, die heute in den historischen Gebieten
wie Ostpreußen, Pommern und Schlesien leben . Für die
Partnerschaft mit unseren osteuropäischen Nachbarn ist
dies von herausragender Bedeutung .
Durch die Förderung werden auch grenzüberschrei-
tende Projekte unterstützt . Das ist im Bericht nachzule-
sen . Der Bericht erfährt auch immer große Zustimmung .
Ein Beispiel: Wissenschaftler am Institut für Kultur und
Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa, kurz: Nord-
ost-Institut, in meinem Wahlkreis in Lüneburg forschen
2016 gemeinsam mit Historikern der Universität Bres-
lau in dem Projekt „Juden und Deutsche im polnischen
kollektiven Gedächtnis“ . Auf dieser gemeinsamen wis-
senschaftlichen Arbeit gedeiht vertrauensvolle Zusam-
menarbeit mit vielen Partnereinrichtungen im östlichen
Europa .
Nicht nur bei der Erlebnisgeneration und ihren Nach-
fahren ist das Interesse an Kultur und Geschichte im öst-
lichen Europa groß, sondern auch bei den jungen Leuten,
bei Schülern, bei Studierenden und bei jungen Wissen-
schaftlern, die sich dem Thema „Flucht und Vertreibung“
heute mit ganz neuen Fragestellungen nähern . Auch in
den ehemals deutschen Siedlungsgebieten, die mittler-
weile überwiegend in den Mitgliedstaaten der EU liegen,
ist das Interesse an deutscher Kultur und Geschichte groß .
Hierin, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt eine große
Chance . Gerade jetzt in der Europakrise können wir über
diesen Kulturaustausch dazu beitragen, dass nicht Ultra-
nationalismus, nicht Abgrenzung und nicht Rassismus
wieder an die Stelle von Partnerschaft, Zusammenarbeit
und Versöhnung treten .
Ich bin überzeugt, dass es die Aufgabe unserer Bundes-
kulturförderung sein muss, einen solch hohen Anspruch
zu verfolgen .
Ich will nicht verschweigen, dass es immer wieder
Kontroversen und Diskussionen um den sogenannten
Kulturparagrafen gab und gibt; denn die kulturpoliti-
schen Anliegen einzelner Interessengruppen wie etwa
der Vertriebenenverbände spielen eine Rolle, wenn es
um die Förderung von Projekten und Einrichtungen geht .
Nach dem von Deutschland entfesselten Zweiten
Weltkrieg haben Millionen von Deutschen ihre Heimat
im Osten verloren . Unsere Gesellschaft hat ihr Schick-
sal bis heute nicht hinreichend gewürdigt, finde ich, und
auch nicht ihren Anteil am Wiederaufbau Deutschlands
nach 1945 .
Auch über das Trauma des Heimatverlustes darf und
muss gesprochen werden . Das ist Teil unserer Geschich-
te .
Jedoch müssen Ursache und Wirkung, der von Nazi-
deutschland verursachte Krieg und die dann folgenden
Fluchtbewegungen in ganz Osteuropa, klar benannt wer-
den . Deshalb darf sich die Kulturförderung nach § 96
Bundesvertriebenengesetz nicht allein an die Deutschen
richten . Die Wechselwirkung mit anderen Kulturen, mit
anderen Ethnien und deren wissenschaftliche Erfor-
schung sowie die Auseinandersetzung damit müssen im
Vordergrund der Förderaktivitäten des Bundes stehen .
Mit der mittlerweile breit akzeptierten „Konzeption
2000“ hat die damalige rot-grüne Bundesregierung die-
se wissenschaftliche und fachliche Professionalisierung
festgeschrieben . Seitdem hat sich Europa aber deutlich
verändert: 2004 sind Estland, Lettland, Litauen, Polen,
die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn der
EU beigetreten, 2007 Rumänien und Bulgarien und 2013
Kroatien, also Länder, in denen zum Teil ehemals von
Deutschen besiedelte Regionen liegen .
Genau deshalb haben sich SPD und CDU/CSU in ih-
rem Koalitionsvertrag darauf verständigt, die Förderung
des kulturellen Erbes der Deutschen im östlichen Euro-
pa als Beitrag zur kulturellen Identität Deutschlands und
Europas zu würdigen und mit dem Ziel verstärkter euro-
päischer Integration die „Konzeption 2000“ anzupassen
und weiterzuentwickeln . Einige kritische Anmerkungen
und Hinweise zu diesem Prozess der Weiterentwicklung
in Richtung Kulturstaatsministerin Grütters kann ich,
auch wenn wir kurz vor Weihnachten sind, nicht vermei-
Sigrid Hupach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514546
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den, auch wenn sie leider noch nicht hier ist: Die BKM
hatte zugesagt, Eckpunkte zur Anpassung der Förder-
konzeption noch vor der Sommerpause 2015 vorzulegen .
Aber erst im November wurde uns ein ausformulierter
Diskussionsentwurf vorgelegt . Dann musste es plötzlich
ganz schnell gehen . Mit Verweis auf die Haushaltsan-
meldungen für 2017 wurde großer Zeitdruck aufgebaut .
Ein zuvor verabredeter Zeitplan wurde nicht eingehalten,
möglicherweise in der Hoffnung – das könnte man ver-
muten –, die SPD würde das Papier einfach so durchwin-
ken. Ich finde, so geht das nicht. Dieses Vorgehen ist für
uns nicht akzeptabel .
Es ist vor allen Dingen deshalb nicht akzeptabel, weil das
vorgelegte Papier aus unserer Sicht sehr diskussions- und
kritikwürdig ist und einen unzeitgemäßen Duktus enthält .
Der im Koalitionsvertrag formulierte Auftrag ist ein-
deutig: Die Kulturförderung nach § 96 Bundesvertriebe-
nengesetz soll dem veränderten europäischen Kontext
angepasst werden . Zugleich muss es eine Öffnung geben,
hin zu neuen Zielgruppen, zu den nachfolgenden Genera-
tionen und zur Gesamtgesellschaft . Die Förderung nach
§ 96 BVFG hat einen gesamtstaatlichen Auftrag . Sie
richtet sich nicht ausschließlich an die Vertriebenenver-
bände und ihre Landsmannschaften, aber auch an diese,
weil die Arbeit dieser Verbände und ihrer einzelnen Mit-
glieder für die Verständigung und Vermittlung mit den
Nachbarn in Osteuropa auf zivilgesellschaftlicher Ebene
unheimlich wichtig ist . Das Klima, das dadurch geschaf-
fen wird, brauchen wir . Es ist unverzichtbar für ein bes-
seres Verständnis zwischen den benachbarten Völkern
der EU .
Ich will daher eindrücklich an die Kulturstaatsministe-
rin Grütters appellieren, im anstehenden Abstimmungs-
prozess darauf zu achten, dass die Anpassung der Förder-
konzeption diesem Anspruch gerecht wird .
Nur so erfüllt sie einen gesamtstaatlichen Auftrag, und
letztendlich sind auch nur so die erheblichen Mittel in
Höhe von über 20 Millionen Euro jährlich zu rechtferti-
gen . Das ist ein Thema, das uns allen wichtig ist und das
die ganze Gesellschaft etwas angeht .
Das gilt im Übrigen auch für die Stiftung Flucht, Ver-
treibung, Versöhnung, die den Auftrag hat, das Thema
„Zwangsmigration im 20 . Jahrhundert“ im europäischen
Kontext aufzuarbeiten . Es wird im Ausland sehr genau
darauf geachtet, wie wir in Deutschland mit diesem The-
ma umgehen .
Das Thema „Flucht und Vertreibung“ ist ja aktueller
denn je . Staatsminister Michael Roth hat in einem Arti-
kel in dieser Woche sehr richtig geschrieben, dass allein
durch den Blick zurück Wunden und Narben von Flucht
und Vertreibung nicht verheilen . Nur indem wir heute
eine Erzählung finden, die die nächste Generation und
ihre persönlichen Erfahrungen mit diesem Thema an-
spricht, ist und bleibt die Stiftung wichtig und rechtfer-
tigt die erheblichen Bundesmittel .
In den letzten Monaten wurde wegen der gescheiter-
ten Neubesetzung mit einem Direktor erneut negativ über
die Stiftung berichtet . Dabei hat die Stiftung gutes Po-
tenzial, und sie hat gutes Personal . Damit sie dieses gute
Potenzial aber entfalten kann, muss sie dahin rücken, wo
sie hingehört: in die Mitte der Gesellschaft .
Es wäre ein mehr als positives Signal, wenn wir den
Stiftungsrat erweitern und weitere Gruppen zur Mitarbeit
einladen würden, über die Vertreter der Bundesregierung,
der Regierungsfraktionen, der beiden Kirchen, des Zen-
tralrats der Juden und der größten Gruppe, des Bundes
der Vertriebenen, hinaus . Ich bin sicher, dass eine breitere
Basis dazu beitragen kann, die Stiftung gut aufzustellen
und von alten, einseitigen und meist negativen Zuschrei-
bungen wegzukommen .
Denn neben der Dauerausstellung, für die nun endlich
das Drehbuch entwickelt werden muss, brauchen wir
jetzt eine Direktorin oder einen Direktor und einen Wis-
senschaftlichen Beirat, damit die Stiftung zum Laufen
kommt . Sie muss endlich durch gute Arbeit und durch in-
teressante Veranstaltungen auf sich aufmerksam machen
und nicht länger durch negative Schlagzeilen . Auch hier,
liebe Frau Grütters – in Abwesenheit –, sind Sie gefor-
dert, in den nächsten Tagen und Wochen die Situation
zu klären und zu befrieden . Der SPD ist diese Stiftung,
die wir gemeinsam in der letzten Großen Koalition be-
gründet haben, wichtig . Doch unsere Geduld ist auch hier
endlich .
Ich danke für die Aufmerksamkeit und wünsche allen
schöne Weihnachtstage .
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Ulle Schauws das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir über Vertriebenenpolitik sprechen,
müssen wir vor allen Dingen über die Kontroverse spre-
chen, über die die Kollegin Lotze gerade schon gespro-
chen hat, nämlich: Seit Jahren schlägt die Debatte um die
Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung hohe Wellen;
sie sorgt immer wieder für Unruhe .
Wir müssen über diese Stiftung deswegen sprechen,
weil viele zentrale Fragen weiterhin unbeantwortet sind:
Wer wird die Stiftung, die jetzt seit einem Jahr keine
Direktorin bzw . keinen Direktor hat, zukünftig leiten?
Wann wird die dringend notwendige konzeptionelle Neu-
aufstellung endlich realisiert? Hierauf warten wir bereits
seit Jahren . Warum ist die Zusammensetzung des Stif-
tungsrates nicht schon längst verändert worden?
Antworten auf diese zentralen Fragen bekommen wir
bisher keine, von der Bundesregierung zumindest nicht .
Hiltrud Lotze
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14547
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Stattdessen bekommen wir schlechte Nachrichten, und
zwar aus den Medien . Es wird über endlose Personalque-
relen berichtet . Es ist die Rede von mehr Belastung als
Versöhnung, von einem würdelosen Spiel der BKM-Cha-
ostruppe .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen genauso gut
wie ich, wie schlecht solche Berichte für uns sind, gerade
auch aus internationaler Perspektive .
So wird die Stiftung ihrem Zweck, einen Beitrag zur
Versöhnung und Verständigung zu leisten, mitnichten
gerecht .
Aber ich sage Ihnen: Gerade jetzt, in Zeiten, in de-
nen das Thema „Flucht und Vertreibung“ viele Menschen
bewegt und ein beispielloses gesellschaftliches Engage-
ment für Geflüchtete stattfindet, sollten nicht endlose
Konflikte im Mittelpunkt stehen, sondern die Chancen
der Stiftung . Sie könnte, wenn sie denn neu aufgestellt
wird, zu einem wichtigen Ort des Dialogs und der Auf-
klärung werden . Dafür ist allerdings ein entschiedenes
Handeln der Bundesregierung erforderlich .
Meine Damen und Herren, was muss für einen ernst-
gemeinten Neuanfang alles getan werden? Es braucht
eine Stiftungsleitung, die als dialogfähige Friedensstifte-
rin nach vorne in die Zukunft schaut und nicht zurück . Es
ist die Aufgabe der Kulturstaatsministerin, hier endlich
eine passende Person zu finden.
Es braucht eine neue Zusammensetzung des Stiftungsra-
tes . Alle Gruppen – alle, die von Flucht und Vertreibung
betroffen sind – sollten hier vertreten sein, also auch der
Zentralrat der Sinti und Roma und natürlich auch Vertre-
terinnen und Vertreter von Migranten- und Flüchtlingsor-
ganisationen . Dieser Schritt ist längst überfällig .
Was wir vor allem endlich brauchen – angesichts der
aktuellen Flüchtlingssituation umso mehr –, ist eine in-
haltliche Neukonzeption der Stiftungsarbeit . Weltweit
sind Millionen von Menschen vertrieben und auf der
Flucht . Sie versuchen, ein neues Leben in Freiheit und
Sicherheit zu finden. Sie suchen Schutz vor Krieg. Die
Menschen, die zu uns kommen, darunter viele junge
Leute, werden unsere Gesellschaft nachhaltig verändern .
Die Geschichte von Flucht und Vertreibung kann deshalb
nicht ohne diesen aktuellen Bezug verstanden werden –
und umgekehrt . Die Stiftung sollte deshalb ihren Fokus
erweitern und die Aufarbeitung der Vergangenheit mit
Impulsen für Versöhnung und Austausch heute verknüp-
fen .
Flucht und Vertreibung und die Aufnahme von Milli-
onen von Menschen – das ist nichts Neues für uns . Jeder
und jede Dritte in Deutschland kommt aus einer Fami-
lie, in der Angehörige vertrieben wurden. Ich finde, hier
bietet sich eine riesige Chance für den Dialog zwischen
Menschen aus unterschiedlichen Generationen und Kul-
turen und für Begegnungen auf Augenhöhe . Denn vie-
le ältere Menschen erinnern sich aktuell an ihre eigene
Fluchterfahrung. Viele möchten deshalb Geflüchtete un-
terstützen und ihre Erfahrungen an junge Menschen wei-
tergeben . Gerade die eigene Vertreibungsgeschichte führt
doch zu viel Empathie gegenüber denjenigen, die jetzt zu
uns kommen .
Junge Menschen verbinden mit dem Thema Flucht
jetzt vor allem die aktuelle Situation in Syrien . Ihr Inte-
resse an einer Auseinandersetzung mit den Ursachen für
Flucht und Vertreibung in der Vergangenheit kann durch
den Bezug zur aktuellen Situation geweckt werden . Da-
für braucht es aber ein Zentrum, das Flucht und Vertrei-
bung über die singuläre Leidensgeschichte einzelner
Völker hinaus als Phänomen aufzeigt, das alle betrifft .
Nur so kann die Stiftung zu einem Forum werden, in dem
über Mechanismen von Terror, Krieg und Nationalismus
aufgeklärt wird – in Geschichte und in Gegenwart . Im
besten Fall könnte so das Erlebte Generationen und Her-
kunft verbinden . Es kann vielleicht sogar zu einem Ort
werden, in dem so etwas wie gelebte Humanität vermit-
telt wird .
Ich möchte die Frau Kulturstaatsministerin ausdrück-
lich auffordern, beim Thema „Stiftung Flucht, Vertrei-
bung und Versöhnung“ die bisher verpassten Chancen
für einen ernstgemeinten Neuanfang endlich zu ergreifen
und nicht erneut wieder verstreichen zu lassen .
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine friedvolle
Zeit .
Das Wort hat die Kollegin Ute Bertram für die CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema
„Flucht und Flüchtlinge“ ist seit Monaten in aller Munde .
Wenn wir sehen, wie viele Menschen heute in Deutsch-
land Schutz suchen, erkennen viele Deutsche Parallelen
zur eigenen Familiengeschichte .
Denn nach dem Zweiten Weltkrieg kamen aus den
ehemaligen deutschen Gebieten gut 14 Millionen Flücht-
linge und Heimatvertriebene ins heutige Bundesgebiet .
Später folgten die deutschstämmigen Aussiedler aus dem
östlichen Europa und den Nachfolgestaaten der Sowjet-
union . Sie alle standen vor der Aufgabe, sich hier eine
neue Heimat zu schaffen, ohne ihre Wurzeln zu verleug-
nen . Eine Allensbach-Studie hat erst dieses Jahr bestä-
tigt: Jeder vierte Deutsche hat dazu einen persönlichen
oder familiären Bezug .
Welche Rolle die alte Heimat bis heute spielt, sehe ich
in meinem Wahlkreis Hildesheim . Tausende von Schle-
Ulle Schauws
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514548
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siern bauten sich bei uns eine neue Heimat auf, und bis
heute gibt es einen regen kulturellen Austausch mit der
Herkunftsregion im Riesengebirge rund um die Stadt
Hirschberg . Es ist beeindruckend, was die Heimatver-
triebenen und ihre Organisationen bis heute leisten, vor
allem auch für die Verständigung mit unseren osteuropä-
ischen Nachbarn .
Allerdings stirbt die Generation derer, die sich noch
aus eigenem Erleben an Hirschberg oder an die anderen
Herkunftsorte des deutschen Ostens erinnern können,
aus . Wir stehen deshalb vor der großen Herausforderung,
die Jugend für das gemeinsame Engagement mit Osteu-
ropa zu gewinnen . Hier müssen die Schulen noch mehr
tun . Denn für unser nationales Selbstverständnis spielt
dieser Teil der deutschen Geschichte eine entscheidende
Rolle .
Die unmittelbare Pflege des Kulturgutes der Her-
kunftsgebiete ist damit eng verbunden . Seit 1953 en-
gagiert sich der Bund für die Förderung von Archiven,
Museen, Bibliotheken, Wissenschaft und Forschung im
östlichen Europa . Wie wichtig uns diese Förderung ist,
haben wir noch einmal im Koalitionsvertrag verankert .
Wir sprechen heute über das Engagement des Bundes
in den Jahren 2013/14 . Der Bericht belegt eindrucksvoll
die Vielfalt der Vorhaben zur deutschen Kultur und zur
Geschichte im östlichen Europa . Im Vergleich zum Be-
richtszeitraum 2011/12 konnten wir die Förderung um
mehr als 30 Prozent auf insgesamt 43,5 Millionen Euro
aufstocken . Mit weiteren 1,7 Millionen Euro unterstützt
das Bundesministerium des Innern im gleichen Zeitraum
die verständigungspolitische Arbeit der Vertriebenen .
Das ist ein deutliches Zeichen unserer hohen Wertschät-
zung für das kulturelle Erbe im östlichen Europa .
Freilich will ich nicht verhehlen, dass wir die starken
Kürzungen in diesem Bereich aus der Regierungszeit von
Rot-Grün noch nicht vollständig überwunden haben . In-
sofern, Frau Lotze und Frau Schauws, kann ich es nicht
akzeptieren, dass Sie hier Kritik anbringen .
Bei uns Christdemokraten ist dieses Thema nämlich
ganz oben angesiedelt . Die Bundeskanzlerin Angela
Merkel hat es sich letztes Jahr nicht nehmen lassen, nach
Schweidnitz und Kreisau in Schlesien zu fahren . 1989
nahm Helmut Kohl mit dem damaligen polnischen Re-
gierungschef Tadeusz Mazowiecki an der Kreisauer
Versöhnungsmesse teil . Der Friedensgruß zwischen den
beiden gilt als der symbolische Ausgang des Versöh-
nungsprozesses nach dem Fall des Eisernen Vorhangs .
25 Jahre später feierte die Bundeskanzlerin dort das
Mauerfalljubiläum . Auf dem Gut der Familie Moltke
verschwor sich einst der berühmte Kreisauer Kreis gegen
Hitler . Heute ist daraus, auf Wunsch Deutschlands, eine
deutsch-polnische Jugendbegegnungsstätte geworden .
Weil wir wissen, dass Kulturarbeit Brücken schlägt, för-
dern wir als Parlament noch weitere Projekte . Als Bei-
spiel möchte ich den Kulturhauptstadtexpress nach Bres-
lau anführen, Europäische Kulturhauptstadt 2016 . Auch
dort wird deutsch-polnische Kulturarbeit lebendig; denn
die deutsche Geschichte der Stadt wird auch im Kultur-
hauptstadtprogramm vorkommen, genauso wie die deut-
schen Minderheiten .
Das Thema bleibt aktuell in Bezug auf unsere östli-
chen Nachbarn, und es wird aktuell in Bezug auf unser
Zusammenleben mit allen Tausenden Flüchtlingen, die
heute zu uns kommen . Ich hoffe, dass all jene, die sich
seit Jahren für die Vertriebenen engagieren, ihr vieles
Wissen nun mit einbringen . Denn wer weiß, was Flucht
und Vertreibung für das eigene Leben bedeuten, der kann
auch den heute ankommenden Flüchtlingen helfen .
Ich wünsche Ihnen allen eine gesegnete Weihnachts-
zeit .
Vielen Dank .
Der Kollege Dr . Bernd Fabritius hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich fasse den Bericht der Bundesregierung zu
§ 96 BVFG zusammen: Es brechen endlich wieder bes-
sere Zeiten an . – Und das ist hocherfreulich .
Einige Vorrednerinnen tun allerdings fast so, als ob
sich Kulturpflege in Geschichtsbewältigung erschöpft.
Das ist dem Grunde nach falsch . Deswegen gehe ich da-
rauf nicht ein .
Nach 15 Jahren ist es uns gelungen, die Kulturförde-
rung nach § 96 BVFG wieder auf das Niveau zu bringen,
das es vor dem unglücklichen Kahlschlag vor 15 Jahren
hatte, und sogar noch zu steigern . Das Fördervolumen
hat endlich wieder das Niveau erreicht, welches Inhalt
und Auftrag des § 96 entspricht . § 96 ist beileibe kein
Instrument der Flüchtlingspolitik, auch wenn einige das
gerne so hätten .
Es war dringend nötig: Das jahrhundertealte kulturel-
le Erbe der Deutschen aus den ehemaligen Siedlungs-
gebieten in Ost-, Mittelost- und Südosteuropa – das ist
Objekt des § 96 – sowie die „Weiterentwicklung der
Kulturleistungen der Vertriebenen“ wurden mit dem
Naumann‘schen Änderungskonzept im Jahre 2000 fak-
tisch aufgegeben . Es sollte durch weitgehende Museali-
sierung – welch euphemistische Umschreibung einer Ab-
wicklung – geradezu kaltgestellt werden . Die Verbände
und Selbstorganisationen der deutschen Heimatvertrie-
benen sollten kaputtgespart werden . Ihre eigenen Kul-
tureinrichtungen wurden zunehmend isoliert und von der
Bundesförderung ausgeschlossen . Das breite Aufgabens-
pektrum zu Pflege, Erhalt und Weiterentwicklung dieses
kulturellen Schatzes – besonders auch der kulturellen
Breitenarbeit – konnte von den entsprechenden Verbän-
den so nur noch ungenügend erfüllt werden. Kulturpflege
in der Personengruppe war auf ehrenamtliche Wahrneh-
mung und Finanzierung durch beschränkte Eigenmittel
reduziert und entsprach so nicht im Ansatz mehr dem
Ute Bertram
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14549
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gesetzgeberischen Auftrag, den man sich immer wieder
vergegenwärtigen sollte .
Erst mit dem Haushaltsjahr 2006 konnten wieder ein
positiver Trend eingeleitet und die Mittel nach und nach
aufgestockt werden . Wenn wir einen Blick in den hier
vorliegenden Bericht werfen, dann wird deutlich, dass
dieses Geld gut angelegt ist und dass eine umfassende,
breite und professionelle Kulturarbeit, Frau Kollegin
Lotze, heute erneut möglich ist .
Wir sehen natürlich auch, dass es an der einen oder
anderen Stelle weiteres Verbesserungspotenzial gibt . Ich
denke beispielsweise an die Förderung der Kulturstiftung
der deutschen Vertriebenen oder an dringend benötigte
Kulturreferenten im Wirkungsbereich dieses Personen-
kreises, dessen Kultur es zu sichern und zu entwickeln
gilt . Ich sehe auch noch Lücken in der institutionellen
Förderung einiger Museen, um auch eine gewisse Nach-
haltigkeit bei deren Arbeit sicherzustellen . Denn eines
ist klar: Mit reiner Projektförderung sind Nachhaltigkeit
und Kontinuität nicht mehr als ein Wunsch und damit
ebenfalls ungenügend im Sinne des § 96 BVFG .
Ich sage Ihnen auch, warum es richtig und wichtig ist,
sich für eine nachhaltige Förderung einzusetzen und die-
ses kulturelle Erbe der deutschen Heimatvertriebenen –
ich wiederhole es – zu erhalten: Die Kultur der deutschen
Heimatvertriebenen ist unser aller kulturelles Erbe und
Teil der gesamtdeutschen Geschichte . Deswegen hat der
Gesetzgeber mit § 96 eine gesamtdeutsche Verpflichtung
zum Erhalt und zur Weiterentwicklung dieses Erbes ge-
schaffen, das nicht zur Disposition stehen darf .
Die Selbstorganisationen der Heimatvertriebenen dür-
fen wir mit dieser Arbeit nicht alleine lassen . Sie müssen
vielmehr als Partner der Kulturarbeit in die Bemühungen
von Bund und Ländern zum Erhalt eines lebendigen Kul-
turerbes einbezogen werden . Daher zählt es zu unseren
Verpflichtungen, im Bereich von Wissenschaft und For-
schung, im Bereich von Kulturvermittlung, im Bereich
der gesamten kulturellen Breitenarbeit deutliche Signale
zu setzen und die einzelnen Gruppen zu unterstützen .
Auch die Einbeziehung derjenigen – das wurde dan-
kenswerterweise angesprochen –, die heute weiter in den
Siedlungsgebieten leben und dort zum Erhalt von Tra-
ditionen, Bräuchen und kulturellen Werten beitragen,
ist wichtig . Deshalb bin ich dankbar dafür, dass wir im
Haushalt 2016 die Mittel für die Förderung der deutschen
Minderheiten vor Ort weiter erhöht haben und so unseren
Teil dazu beitragen, das kulturelle Erbe in den Herkunfts-
gebieten zu erhalten .
Gleichzeitig fordere ich an dieser Stelle auch unsere
Nachbarländer dazu auf, diese Kultur zu schützen und
einen Beitrag zu ihrem Erhalt zu leisten . Denn es ist auch
ihre Kultur, die als Teil der jeweiligen Gesamtkultur über
Jahrhunderte in diesen Regionen gewachsen ist . Polen
und seine neue Regierung dürfen das Engagement auf
diesem Gebiet nicht aufgeben und müssen insbesondere
auch die Verpflichtungen aus der ratifizierten einschlägi-
gen Charta des Europarates einhalten . Entgegenstehen-
de Signale dürfen sich nicht verfestigen und sollten zum
Nachdenken anregen . Denn, Frau Kollegin Hupach, die
Kultur Schlesiens ist auch die Kultur Polens, die Kultur
der Sudetendeutschen ist auch die Kultur der Tschechi-
schen Republik, und die Kultur Siebenbürgens und des
Banats ist auch die Kultur Rumäniens .
Kulturarbeit und Kulturförderung haben auch etwas
Verbindendes . In einem vereinten Europa sind die je-
weiligen Minderheiten wichtige Brückenbauer und Ver-
ständnisbilder zwischen den Nationen . Die Verbände aus
Deutschland stehen in einem intensiven Dialog mit den
Minderheiten vor Ort, mit der einheimischen Mehrheits-
bevölkerung und mit den staatlichen Institutionen . Gera-
de im Jugendbereich gibt es weitreichende Kooperatio-
nen und Projekte, die alte Vorurteile abbauen und sich für
Verständigung mit den östlichen Nachbarn starkmachen .
So wächst Europa weiter zusammen, so funktioniert eine
auf Völkerverständigung ausgerichtete Kulturpflege. Ab-
bau von Vorurteilen scheint auch in Deutschland weiter-
hin nötig zu sein .
Danke .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5598 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Transfer von Forschungsergebnissen und In-
novationen in die Gesundheitsversorgung be-
schleunigen
Drucksache 18/7044
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi-
cherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
Dr. Bernd Fabritius
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514550
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Stephan Albani für die CDU/CSU-Fraktion .
Liebe Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Tribünen
und zu Hause an den Bildschirmen! Die Medizintechnik
ist für uns Menschen und unsere Wirtschaft in Deutsch-
land von großer Bedeutung . Wir haben in Deutschland
ein Gesundheitsversorgungssystem, das uns Versicherten
eine umfangreiche medizinische Versorgung auf hohem
Niveau bietet . Das ist vorbildlich und weltweit anerkannt .
Der Gesundheitssektor in Deutschland ist zugleich
auch ein erheblicher Wirtschaftsfaktor . So sind in der
erweiterten Gesundheitswirtschaft derzeit rund 6,2 Milli-
onen Erwerbstätige beschäftigt . Fast jeder siebte Arbeits-
platz findet sich also in diesem Bereich, und Prognosen
gehen von einem deutlichen Zuwachs der Beschäftigten
in diesem Bereich aus .
Mehr als 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes wer-
den im Gesundheitsbereich erwirtschaftet . Die erweiterte
Gesundheitswirtschaft ist damit die größte Wirtschafts-
branche in Deutschland . In ihr sind mehr Menschen
beschäftigt als in der Automobilindustrie und in der
Elektroindustrie zusammen . Allein die industrielle Ge-
sundheitswirtschaft beschäftigt in Deutschland mehr als
eine Viertelmillion Menschen und generiert zudem dop-
pelt so viele Arbeitsplätze in anderen Wirtschaftsberei-
chen .
Die Medizintechnik stellt innerhalb dieser Gesund-
heitswirtschaft einen zentralen Wachstumstreiber dar .
Mit rund 130 000 Mitarbeitern und einem jährlichen
Umsatz von 8,7 Milliarden Euro im Inland und 18,3 Mil-
liarden Euro im Ausland ist die Medizintechnik von ho-
her Bedeutung . Vor allem kleine und mittlere Betriebe in
Deutschland bilden mit 1 200 Betrieben und einer Ex-
portquote von 68 Prozent die große Stütze der Branche .
Die Medizintechnik hat viele Erfindungen hervorge-
bracht, die unser Leben heute lebenswerter machen und
überlebenswichtig sind . Wer möchte sich eine Welt ohne
diese Hilfsmittel vorstellen, deren Ziel es ist, die Gesund-
heit der Menschen durch Diagnostik und Therapie zu er-
möglichen und das Leben schlussendlich sogar zu retten?
Medizinische Innovationen retten immer wieder Leben .
So verringerte sich in Deutschland im Zeitraum 2000
bis 2010 die Sterblichkeit bei akutem Herzinfarkt um
rund ein Fünftel . Die hohe Überlebensquote verdanken
wir der verbesserten Notfallversorgung, wirksamen Me-
dikamenten und eben leistungsfähigen Medizinproduk-
ten .
Von Hilfs- und Verbandsmitteln über Geräte für Diagnos-
tik, Chirurgie und Intensivmedizin bis hin zu Prothesen,
Implantaten und der Bildgebungstechnik erstreckt sich
die Bandbreite . – So weit, so gut .
Aber: Angesichts der zunehmenden Komplexität im
Innovationsprozess bedarf es immer häufiger und mehr
gemeinsamer Anstrengungen und Abstimmungen von-
seiten der Forschungs-, der Gesundheits- und auch der
Wirtschaftspolitik, um dies in Zukunft zu verbessern . Ein
Transfer von Innovationen aus der Forschung in die Ge-
sundheitsversorgung zum Nutzen der Patientinnen und
Patienten muss effektiver und effizienter gestaltet wer-
den .
Forschungspolitisch hat sich die Bundesregierung mit
dem im Jahr 2010 verabschiedeten Rahmenprogramm
Gesundheitsforschung hier bereits auf den Weg gemacht .
Insbesondere durch den nationalen Strategieprozess
„Innovationen in der Medizintechnik“, den das Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung, das Bundesge-
sundheitsministerium und das Bundeswirtschaftsminis-
terium gemeinsam mit zahlreichen Akteuren von 2010
bis 2012 durchführte, wurden Innovationshürden für die
Medizintechnik und Wege zu deren Überwindung aufge-
zeigt .
Aus den Handlungsempfehlungen dieser Strategie
lässt sich nun erkennen, dass es hier noch weiterer An-
strengungen in Bezug auf eine kohärente Innovations-
politik der Bundesregierung bedarf . Dies fordern wir in
dem vorliegenden Antrag . Wir wollen darum die ressort-
übergreifende Zusammenarbeit weiter unterstützen und
weiter ausbauen und den Transfer von Forschungsergeb-
nissen stärken .
Nach umfassenden technischen Innovationen in den
vergangenen Dekaden ist es wichtig und richtig, die For-
schungsförderung nicht allein, aber verstärkt am Bedarf
der Versorgung zu orientieren . Daher müssen wir nun in
einem nächsten Schritt Forschungsförderung bedarfsori-
entierter verfolgen .
Wir stellen fest, dass das Spannungsfeld von teilre-
gulierten Märkten und komplexen Versorgungssystemen
die Entwicklung eines Medizinproduktes auf dem Weg
von der Idee zur Anwendung erheblich erschwert . Es
darf nicht sein, dass ein Patient 14 Jahre auf ein innovati-
ves Medizinprodukt warten muss . 14 Jahre!
Das ist der Durchschnitt . Das bedeutet: Wenn einer oder
zwei das Medizinprodukt innerhalb von einem Jahr oder
zwei Jahren bekommen, müssen andere bis zu 30 Jahre
darauf warten .
Stellen Sie sich einen Patienten vor, der beim Arzt
oder Apotheker in einer Zeitschrift oder Tageszeitung
liest, dass in einem hervorragenden Forschungsinstitut
oder an einer Universität ein neues Verfahren entwickelt
Vizepräsidentin Petra Pau
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wird, und zwar just genau für die Erkrankung, unter der
er leidet . Was tut er? Er fragt seinen Arzt . Dieser antwor-
tet: Das habe ich noch nicht .
Der Patient schaut dann in den kleinen Kasten unter
dem Artikel, in dem der Name des Instituts steht . Er ruft
dort an . Auf der anderen Seite ist ein Wissenschaftler,
dem Transfer natürlich verpflichtet, und sagt ihm: Ja, wir
haben dieses Medikament oder dieses Verfahren gefun-
den . – Daraufhin fragt der Patient: Ja, wann kann ich das
kriegen? – Sie müssen schon ein sehr hartgesottener Wis-
senschaftler sein, wenn Sie dann dem Patienten erzählen:
Jetzt müssen wir erst einmal Start-ups gründen und Li-
zenzen erwerben . Danach müssen wir die Phasen eins,
zwei und drei der Zulassung durchlaufen . All das dauert
noch – ich sage einmal – 10 bis 20 Jahre .
Wenn der Patient am anderen Ende sagt: „Wer weiß, ob
ich dann noch lebe“, müssen Sie schon sehr hart sein,
um das zu ertragen . – Das ganze Verfahren müssen wir
schneller machen .
Wir wollen daher weiter in die medizinische For-
schung investieren und brauchen einen schnelleren
Transfer zum Nutzen des Patienten . Dass neue Medizin-
produkte – das ist jetzt sehr wichtig – vor Einführung
in den Versorgungsalltag einen klinischen Beleg für ihre
Schadlosigkeit und ihre Wirksamkeit erbringen müssen,
ist im Sinne der Patientensicherheit nicht umkehrbar . Pa-
tientensicherheit steht über allem, fraglos . Wenn aber die
Genehmigung der Begleitdiagnostik bei einer klinischen
Studie die Testung einer Therapie über Monate und Jahre
verzögert, dann kann ich nur sagen: Das darf nicht sein .
Stellen Sie sich vor, Sie bringen Ihr Auto zum TÜV .
Auch hier geht es um die persönliche Sicherheit und um
die Sicherheit der Allgemeinheit .
Auf die Frage hin, wann Sie Ihr Auto denn wiederbekä-
men, kommt die Aussage: Wenn wir fertig sind . – Das ist
nicht akzeptabel .
Ein Wort zu den Fristen bei der Zulassung der Anwen-
dung von Röntgenstrahlen in klinischen Studien . Hier hat
das Bundesamt für Strahlenschutz in den vergangenen
Jahren bereits Erhebliches verbessert . Aber entscheidend
sind die Verbindlichkeit und die Planbarkeit des Prozes-
ses .
Dies erscheint vielleicht hier und da als ein kleiner Schritt .
Aber es ist ein wichtiges Signal für die in Deutschland
forschenden Unternehmen .
Kommen wir zu einem weiteren Hinweis auf dem lan-
gen Weg von der Idee zum medizinischen Produkt: Es
ist völlig normal, dass ein entwickelndes Unternehmen
ein unternehmerisches Risiko trägt, fraglos . Wenn es am
Ende der Entwicklung und nach einem Beleg des Nut-
zens aber noch lange – mitunter gefühlt ewig – dauert,
bis eine Finanzierung im Versorgungssystem geregelt
wird, dann darf auch das nicht sein . Wir können die Un-
ternehmen auf diesem Weg nicht alleinelassen .
Ein Stichwort ist hier die Innovationsfinanzierung.
Hierdurch kann das Wachstumspotenzial der Medizin-
technikbranche besser unterstützt und das gesellschaftli-
che Klima für den Gründergeist weiter gefördert werden .
Dies trägt zudem der Tatsache Rechnung, dass Innovati-
onsprozesse deutlich zeit- und kostenintensiver gewor-
den sind . So verständlich die Forderung nach Sprungin-
novationen an dieser Stelle auch ist, so darf man doch
nicht darüber hinweggehen, dass dem Patienten auch vie-
le kleine Schritte eine erhebliche Verbesserung bringen
können . Viele Schritte ergeben mitunter dieselbe Strecke
wie ein Sprung .
Wir fordern daher die Bundesregierung auf, hierzu an
verschiedenen Stellen die Initiative zu ergreifen . Innova-
tionsprozesse müssen vor allem effizienter und koopera-
tiver gestaltet werden . Wir brauchen dafür neue Formen
der Zusammenarbeit, neue Versorgungskonzepte, neue
Innovationsmodelle und eine neue Kooperationskultur
entlang der gesamten Prozesskette .
Hier bin ich insbesondere dafür dankbar, dass die Zusam-
menarbeit für diesen Antrag nicht nur zwischen den Ko-
alitionspartnern – hier danke ich dem Kollegen Röspel –,
sondern insbesondere auch in unseren Fraktionen über
die Arbeitsgruppen Wirtschaft und Gesundheit ganz her-
vorragend funktioniert hat .
Wir wollen durch diesen Antrag einen wesentlichen
Beitrag dazu leisten, dass sich all diese Vorgänge verbes-
sern . Wir beschleunigen den Transfer von Forschungs-
ergebnissen und Innovationen in die Gesundheitsversor-
gung . Dies umfasst das Vorgetragene, aber auch noch
viele andere Dinge: Die Ergebnisse des Pharmadialogs
sollen dem Parlament vorgestellt und zeitnahe Umset-
zungen vorgeschlagen werden . Zudem sollen ein Akti-
onsplan Wirkstoff und Arzneimittelforschung vorgelegt
und geeignete Rahmenbedingungen für die aktive Ein-
bringung von Interessengemeinschaften, Patientenver-
bänden sowie Kostenträgern in den Innovationsprozess
geschaffen werden . Vorgesehen sind auch die Weiter-
entwicklung des Konzeptes für die Zentren der Gesund-
heitsforschung und die Förderung der interdisziplinären
Zusammenarbeit .
Kehren wir zu dem eingangs erwähnten Patienten zu-
rück, der über eine Therapie seiner Krankheit gelesen
hat . Ich möchte, dass wir ihm in Zukunft sagen können,
dass er schneller als in 10 bis 20 Jahren eine entsprechen-
de Hilfe bekommt .
Stephan Albani
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514552
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Anbetracht der
Herausforderungen für die Gesundheitsversorgung der
Zukunft haben wir den Auftrag, weiter konsequent ei-
nen integrierten Politikansatz bezogen auf Gesundheits-
forschung, Wirtschaft und Versorgung des Patienten zu
verfolgen .
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit . Frohe Weih-
nachten!
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die Frak-
tion Die Linke .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Sehr geehrte Da-
men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vie-
le Patientinnen und Patienten setzen große Hoffnungen
in den medizinischen Fortschritt und die Ergebnisse der
Gesundheitswissenschaften . Sie warten darauf, dass neue
Behandlungsverfahren ihr Leid mildern und ihre Lebens-
qualität verbessern können . Deshalb ist es wichtig, dass
Forschungsergebnisse und Innovationen in erster Linie
ihnen zugutekommen . Der Antrag, den die Koalition vor-
gelegt hat, weist aber leider in eine falsche Richtung .
Schon der Feststellungsteil, den der Kollege Albani zu
großen Teilen vorgelesen hat, ist dermaßen wirtschafts-
freundlich, als hätten Sie sich den von den Unternehmer-
verbänden schreiben lassen .
Ihre flammende Begeisterung für den Wachstumsmarkt
Gesundheitswirtschaft kann ich nur sehr begrenzt teilen .
Aus gesundheitspolitischer Sicht ist es nämlich eine Ka-
tastrophe, dass die Ökonomisierung im Gesundheitswe-
sen dazu führt, dass sehr viel Geld in Scheininnovationen
fließt, die lediglich den Aktienkursen nutzen, aber nicht
dem medizinischen Fortschritt .
Regelmäßig kommen unnütze oder sogar schädliche Arz-
neimittel und Medizinprodukte auf den Markt und lassen
die Kosten im Gesundheitswesen steigen und steigen .
Das können Sie nachlesen . Im Innovationsreport der
Techniker Krankenkasse werden neue Medikamente
nach ihrem Nutzen, ihrem Risikopotenzial und den Kos-
ten nach dem Ampelprinzip wissenschaftlich bewertet . In
diesem Jahr hat von 20 untersuchten Neuzulassungen nur
ein einziges Präparat grünes Licht bekommen . 60 Pro-
zent sind mit der roten Ampel versehen . Ihr Schadenspo-
tenzial ist also höher als der zu erwartende Nutzen . Trotz-
dem werden diese Mittel bereits massiv verordnet – zum
Schaden der Versicherten und der Kranken .
Angesichts dieser Missstände gäbe es also tatsächlich
einen großen Handlungsbedarf . Aber Sie ignorieren das .
Sie haben ja auch die Universitäten und Forschungsein-
richtungen systematisch zu Außenstellen der Wirtschaft
gemacht .
Unabhängige Forschung, die nicht von Drittmitteln aus
der Industrie abhängig ist, gibt es kaum noch . Es wird
vorwiegend beforscht, was wirtschaftlich interessant sein
könnte . Die Patente, also die Verwertungsrechte für die
Forschungsergebnisse, eignet sich dann die Privatwirt-
schaft an, auch wenn dafür öffentliche Gelder geflossen
sind .
Das wollen Sie mit Ihrem Antrag auch noch forcieren .
Oder wie soll ich es sonst verstehen, wenn Sie bei der
öffentlich geförderten Gesundheitsforschung verstärkt
die Effektivität in den Blick nehmen oder im Bereich
der Medizintechnik – ich zitiere – konsequent marktef-
fektiv forschen wollen? Mit Ihrer Forderung unter Punkt
2 d wollen Sie allen Ernstes die Krankenkassen auch
noch mit Forschungsausgaben belasten . Dabei steigen
die Beiträge schon jetzt zum Jahreswechsel, weil diese
Bundesregierung permanent für gesamtgesellschaftliche
Aufgaben in die Taschen der Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler greift .
Das machen Sie doch die ganze Zeit: Die Risiken
sollen die öffentliche Hand, die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler oder die Krankenversicherten tragen; den
Gewinn streicht irgendein privates Unternehmen ein .
Was bei Ihnen vollständig fehlt, ist eine Orientierung da-
rauf, was unbedingt erforscht werden müsste, aber eben
nicht marktkonform ist .
Ein Beispiel: Etwa eine halbe Million Menschen in-
fizieren sich in Deutschland jährlich mit sogenannten
Krankenhauskeimen . Zehntausende sterben daran, auch
deshalb, weil viele Erreger gegen Antibiotika resistent
sind . Die Entwicklung neuer Antibiotika müsste deshalb
ganz oben auf der Forschungsagenda stehen .
Antibiotika haben aber aus der Perspektive der Industrie
einen entscheidenden Nachteil: Sie heilen nämlich Kran-
ke .
Man nimmt sie drei Tage, zehn Tage oder ein paar Wo-
chen, und dann ist die Krankheitsursache beseitigt . Re-
serveantibiotika dürfen gar nicht in großen Mengen
verordnet werden; denn sonst geht der Teufelskreis der
Resistenzen wieder von vorne los . Aus wirtschaftlicher
Perspektive ist es schlicht uninteressant, solche Produk-
te zu entwickeln . Da sagen wir als Linke: Wir brauchen
eine öffentliche, staatliche Forschungsförderung, die sich
Stephan Albani
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14553
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eben nicht am möglichen Profit orientiert, sondern am
gesellschaftlichen Nutzen, also am Allgemeinwohl .
Die Ergebnisse dieser Forschung, die Patente, gehören
dann auch in öffentliche Hand .
Wir brauchen eine kritische und unabhängige Gesund-
heitswissenschaft, die auch erforscht, welche Therapien
vielleicht unnütz oder gar schädlich sind, selbst wenn das
bestimmte Geschäftsmodelle beenden könnte; denn sonst
wird unser Gesundheitswesen noch mehr zum Selbstbe-
dienungsladen für Unternehmen, die sich aus den Kassen
der Versicherten grandiose Gewinnspannen organisieren .
Aber CDU/CSU und SPD lehnen dies ab . Vor knapp
vier Wochen hat die Linke in den Haushaltsberatungen
500 Millionen Euro für eine nichtkommerzielle Pharma-
forschung gefordert . Dazu haben Sie Nein gesagt .
Stattdessen kommen Sie nun mit seitenweise Lobhudelei
für die Bundesregierung und deren wirtschaftsfreundli-
chen Kurs . Entschuldigung, dieser Antrag ist einfach nur
ein Armutszeugnis . Er ist forschungspolitisch nutzlos
und gesundheitspolitisch kontraproduktiv . Gesundheit ist
ein Menschenrecht und keine Ware .
Das Wort hat der Kollege René Röspel für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vielleicht versuchen wir nun, anhand des An-
trags ein bisschen zu referieren, worum es geht . Der Kol-
lege Albani hat viel, wenn auch relativ schnell, aus dem
Antrag zitiert . Es geht tatsächlich um die Verbesserung
der Medizintechnik und der Versorgung von Menschen .
An dieser Stelle, Stephan Albani, vielen Dank für die
gute Zusammenarbeit – auch mit der Kollegin Griesbach
aus Ihrem Team – im abgelaufenen Jahr . Wir haben uns
beispielsweise um vernachlässigte und armutsassoziierte
Krankheiten gekümmert, einen entsprechenden Antrag
gestellt und forciert, dass das BMBF dagegen etwas tut .
Die Linke ist leider vor langer Zeit aus diesem Thema
ausgestiegen und beschränkt sich in ihren Anträgen of-
fenbar auf Ihre Ideologieschemata und -schablonen .
Weil Sie den unbewiesenen, da falschen Vorwurf der
interessengeleiteten Forschung erhoben haben,
will ich darauf hinweisen, dass wir, die drei Fraktionen,
die sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten der Re-
gierungsverantwortung gestellt und nicht verweigert ha-
ben, in den Bereich des basisgesellschaftlichen und ba-
siswissenschaftlichen Fortschritts wesentlich investiert
haben, nämlich in die Grundlagenforschung . Seit 2005,
als Rot-Grün den Pakt für Forschung und Innovation
auf den Weg gebracht hat, den alle nachfolgenden Re-
gierungen fortgesetzt haben, gibt es bis zum Auslaufen
dieses Paktes 22 Milliarden Euro mehr für die Grundla-
genforschung. Diese Forschung findet beispielsweise bei
Max-Planck-Instituten und der Helmholtz-Gemeinschaft
statt .
Diese Forschung ist nicht interessengeleitet . Im Rahmen
des Hochschulpakts wird bis zu dessen Ende 2019 die
zentrale Basis unseres Wissenschaftssystems mit über
20 Milliarden Euro gefördert, nämlich die Forschung an
den Hochschulen . Diese Forschung ist ebenfalls nicht
interessengeleitet, auch wenn Sie das gerne anders hät-
ten . Kein Max-Planck-Forscher wird sich vorschreiben
lassen, was er zu erforschen hat, und das ist auch gut so .
Das war übrigens kein leichter Akt, sondern eine große
Kraftanstrengung .
Warum ist Grundlagenforschung so wichtig? In der
Grundlagenforschung widmen sich Menschen bestimm-
ten Fragen und suchen nach Antworten . In der ange-
wandten Forschung, die von Unternehmen betrieben
wird, wird eine Lösung für ein Problem gesucht, eine
Lösung, die man meinethalben kommerzialisieren kann .
– Deshalb fördern wir die Grundlagenforschung . Aber
die Politik mischt sich nicht ein . Die Forscher können
im Rahmen ethischer Grenzen tun und lassen, was sie
wollen .
Es gibt ein paar prägnante Beispiele, die deutlich
machen, warum Grundlagenforschung für den Erkennt-
nisgewinn wichtig ist . Genau darum geht es in unse-
rem Antrag: Wie können wir Erkenntnisse, die in der
Grundlagenforschung gewonnen werden, in die Gesund-
heitsversorgung oder – dagegen ist nichts zu sagen – in
kommerzielle Anwendungen transferieren? Vor 120 Jah-
ren – das ist vielleicht eines der bekanntesten Beispiele –
hat ein Physiker im Physikalischen Institut in Würzburg
vor einer abgedeckten Kathodenröhre gesessen und ein
bisschen experimentiert . Dann hat er festgestellt, dass be-
stimmte Substanzen außerhalb dieser Region zu leuchten
anfangen . Dieser Physiker war Wilhelm Conrad Rönt-
gen . Er hat sich mit Grundlagenforschung befasst und
überhaupt keine Überlegungen angestellt, welche An-
wendung seine geniale Entdeckung haben könnte . Auf
Röntgenforschung, Röntgenstrahlen und Röntgenappa-
rate will heute aber niemand mehr in einem guten Ge-
sundheitssystem verzichten .
Kathrin Vogler
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514554
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Was ich beschrieben habe, ist vor 120 Jahren pas-
siert . Ein aktuelles und räumlich näheres Beispiel: Keine
500 Meter Luftlinie von hier entfernt befindet sich das
Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie . Dort betreibt
man reine Grundlagenforschung . Man hat sich dort unter
anderem mit der Tuberkulose befasst . Der einzige Impf-
stoff gegen Tuberkulose ist fast 100 Jahre alt; er stammt
von 1921 . Dieses Grundlagenforschungsinstitut hat die
große Hoffnung, einen neuen Impfstoff gegen Tuberku-
lose zu entwickeln, auch wenn sich dieser noch in der kli-
nischen Phase befindet. Der entscheidende Punkt ist, wie
man die Erkenntnisse der Grundlagenforschung gewinn-
bringend – gewinnbringend im Sinne von gesellschaftli-
cher Verbesserung, von mir aus auch gewinnbringend für
pharmazeutische Unternehmen, die daraus irgendwann
Kapital schlagen können – auf den Markt bringen kann .
Das geht zunächst leider nicht ohne staatliche Mittel;
aber irgendwann muss sich ein Pharmaunternehmen die-
ser Erkenntnisse der Grundlagenforschung annehmen,
um dann, wie hier, einen Impfstoff zu vermarkten .
Dieser Antrag setzt sich im Wesentlichen mit Medi-
zintechnik auseinander: Wie können wir das, was Rönt-
gen entdeckt hat, im medizintechnischen Bereich prak-
tisch umsetzen? Aber wir gehen auch deutlich über die
Medizintechnik hinaus . So fordern wir zum Beispiel ei-
nen Aktionsplan Wirkstoff- und Arzneimittelforschung .
Das Thema Antibiotika ist hier schon angesprochen wor-
den . Es gibt seitens des BMBF seit längerem – vielen
Dank dafür – eine Antibiotika-Resistenzstrategie, weil
bekannt ist, dass gegen die meisten Antibiotika, die wir
verwenden, wegen menschlichen Missbrauchs – von mir
aus können wir auch sagen: wegen kommerziellen Miss-
brauchs – Resistenzen existieren . Dagegen müssen wir
etwas tun . Wir wollen einen Aktionsplan Wirkstoff- und
Arzneimittelforschung, weil die pharmazeutischen Un-
ternehmen da versagen; das muss man deutlich sagen .
Wir haben gestern über das EFI-Gutachten gespro-
chen. Darin findet man die Aussage, dass die Forschungs-
und Entwicklungsintensität gerade der pharmazeutischen
Industrie seit 2012 rückläufig ist. Sie ist in Deutschland
zwar immer noch auf einem hohen Niveau; aber offenbar
wird zu wenig geforscht . Da braucht es leider staatliches
Engagement und politische Initiativen, um eine Verbes-
serung zustande zu bringen . Deutschland war einmal
die Apotheke der Welt . Unsere globale Verantwortung
für Menschen und Länder, die sich Medizin eben nicht
so leisten können wie wir, bewegt uns dazu, zu sagen:
Wir müssen in diesem Bereich unseren Teil beitragen . Es
braucht öffentliche Mittel, also Steuermittel, und öffent-
liche Forschung, um da ein Stück weiterzukommen . Die-
ser Gedanke findet sich in unserem Antrag wieder.
Wir fordern zum Beispiel, dass die Deutschen Zen-
tren der Gesundheitsforschung, die es seit einigen Jah-
ren gibt – dort konzentriert man sich auf die Arbeit zu
bestimmten Themen; man ist vernetzt mit Dritten, mit
Hochschulen, aber auch mit Wirtschaftsunternehmen –,
im Hinblick auf die Möglichkeit evaluiert werden, die
dort gewonnenen Erkenntnisse in die Versorgungspraxis,
in die Gesundheitsversorgung zu transferieren . Es geht
also darum, dass das, was dort erforscht wird, bei den
Menschen ankommt .
Unsere bereits bestehenden Systeme, die Gesund-
heitsnetzwerke und die Kompetenznetzwerke – wo Men-
schen gesundheitlich versorgt werden, wo Forscher, etwa
Hochschulkliniker, arbeiten, wo die Erfahrungen aus
Forschung und die Behandlung von Patienten zusam-
menkommen –, müssen stärker gefördert werden .
Auch da wollen wir bestehendes Gutes im Sinne der Pati-
entenorientierung und der Forschung erhalten .
Ich will auch darauf hinweisen, dass deutlich mehr
Patientenverbände als bisher beispielsweise im soge-
nannten Agenda-Setting von Forschung berücksichtigt
werden müssen .
Wir wollen die Betroffenen und Patientenverbände an
den Überlegungen, was für Forschung betrieben werden
soll, partizipieren lassen. Ich finde, dagegen kann man
überhaupt nichts sagen . Es wird noch schwer genug sein,
diese Neuerung durchzusetzen .
Ein letzter wichtiger Punkt – das hätten Sie in unserem
Antrag lesen können –: Wir wollen mehr in die Versor-
gungsforschung und in die Pflegewissenschaft investie-
ren .
Medizintechnische Innovationen sind wichtig, wie sich
bei Röntgen gezeigt hat . Manchmal sind es aber gar nicht
die großen teuren Geräte, die unsere Gesellschaft weiter-
bringen . Es wäre schon ein Fortschritt, wenn sich mehr
Menschen im Krankenhaus einfach nur die Hände wa-
schen würden . Mit einfachen Mitteln, etwa mit der Be-
achtung von Hygieneregeln, würden wir uns viele Pro-
bleme ersparen .
Das heißt: Wir wollen nicht nur mit Medizintechnik
auf die Menschen zugehen und dort das Heil suchen,
sondern wir sagen, dass es in der Versorgungsforschung
viele kleine Maßnahmen gibt, von technischen Maßnah-
men abgesehen,
etwa wie man mit pflegebedürftigen Menschen umgeht
und was man beachten muss . Genau das wollen wir hin-
zunehmen, damit am Ende das Wichtigste steht, nämlich
dass es den Menschen im Alltag bei ihrer Gesundheits-
und Krankheitsversorgung besser geht .
Vom forschungsseitigen Ansatz her ist dies, wie ich
glaube, ein guter Antrag . Wir werden ein Stück weiter-
kommen . Die politische Diskussion, was die Gesell-
schaft damit macht und was die Bürgerinnen und Bürger
entscheiden, was ihnen eine gute Gesundheitsversorgung
René Röspel
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14555
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in diesem Land wert ist und ob sie bereit sind, möglicher-
weise mehr dafür zu bezahlen,
findet auf einer anderen Ebene statt. Wir als SPD werden
unser Konzept der Bürgerversicherung weiter aufrecht-
erhalten, weil wir glauben, dass es wichtig, ist, dass alle
in eine Kasse zahlen und alle die gleichen Möglichkeiten
haben .
Aber das werden wir heute hier nicht entscheiden .
Ich danke allen Initiatoren und Mitinitiatoren für die-
sen Antrag, stelle fest, dass ich nichts mehr dazu zu sagen
habe, aber noch eine Minute Redezeit habe . Die nutze ich
jetzt, um meine Redezeitüberschreitung des ablaufenden
Jahres zu kompensieren und Ihnen allen frohe Weihnach-
ten zu wünschen .
Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es freut mich, dass ich jetzt ein bisschen mehr Zeit habe .
– Das war nur ein Scherz .
Meine Damen und Herren! Der zügige Transfer von
Ergebnissen der Gesundheitsforschung in die Praxis be-
deutet für viele Menschen eine Verbesserung ihrer Le-
bensqualität . Deshalb ist das Grundanliegen des vorlie-
genden Antrags der Koalitionsfraktionen zu unterstützen .
Es ist aber nicht damit getan, wie Herr Albani es getan hat,
zu sagen: Von der Idee zur Anwendung muss es schneller
gehen . – Nein, wir brauchen Ernsthaftigkeit, Gründlich-
keit, Sicherheit und Qualität in den Zulassungsverfahren .
– Da hätten Sie jetzt auch mitklatschen können .
Ich finde an Ihrem Antrag, den wir seit vorgestern
haben und der wieder sehr lang geraten ist, wirklich an-
strengend, dass die Koalition dem kleinteiligen Lob des
Regierungshandelns so breiten Raum gibt
und dagegen bei den Forderungen so allgemein und vage
bleibt .
Im Antrag verteilen Sie Weihnachtsgeschenke: Die Re-
gierung bekommt Lobeshymnen,
die Gesundheitsindustrie ein Musterzeugnis und der Mit-
telstand einen warmen Händedruck . Einige Probleme
werden benannt, deren Gründe aber weitgehend ausge-
blendet . So erreichen wir weder mehr Patientenorientie-
rung noch einen effizienteren Einsatz der Forschungsmit-
tel .
Beispiel: KMU-Förderung . Sie erwähnen mehrfach
das Rückgrat der Branche, also kleine und mittlere Un-
ternehmen . Unbestritten ist, dass diese von bestehenden
Förderinstrumenten nicht ausreichend erreicht werden .
Das war gestern übrigens auch Thema in der EFI-Debat-
te . Ihnen fällt ein: mehr Wagniskapital und die Erhöhung
der Programmmittel, die bisher noch nicht so gut wirken .
Wir haben mit der Einführung einer steuerlichen For-
schungsförderung für KMU ein wirksames Instrument
vorgeschlagen .
Es ist nicht hinnehmbar, dass dieser fehlende Ausgleich
von Förderdefiziten, die es EU-weit nur noch in Deutsch-
land und Estland gibt, Forschungsaktivitäten hierzulande
hemmt .
Sie fordern weiter blumig mehr Abstimmung der For-
schungs- und Gesundheitspolitik mit der industriellen
Gesundheitswirtschaft . Aber erst drei lange Seiten später
werden dann endlich die Patientinnen und Patienten er-
wähnt .
Unklar bleibt, wie diese unterschiedlichen Akteursinter-
essen fairer als bisher ausbalanciert werden sollen, damit
am Ende nicht erneut steigende Arzneimittelkosten und
René Röspel
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514556
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höhere Beiträge für die Versicherten stehen . Das gilt es
zu vermeiden .
Sie fokussieren in Ihrem Antrag auf Forschungsfel-
der, aus denen sich unmittelbar wirtschaftlicher Profit
schlagen lässt . Die wichtige und richtige Forderung, ne-
ben technischen auch soziale Innovationen zu fördern,
kommt dagegen leider nur in einem Halbsatz vor . So set-
zen Sie nicht die richtigen Prioritäten; denn die wären:
mehr Prävention und integrierte Versorgungssysteme
zum Wohl der Patientinnen und Patienten .
Sie haben eben gefordert, dass es eine schnellere Zu-
lassung von Medikamenten geben müsse . Das ist gene-
rell ein gutes Ziel . Die Sicherheit darf dabei nicht auf der
Strecke bleiben .
– Das haben Sie ausgeführt . Aber wie konkret soll es
denn dann gehen? – Wie werden das Verfahren und die
Zulassung beschleunigt? Ich finde, da bleiben Sie in Ih-
rem Antrag, der die Grundlage dieser Debatte ist, sehr
nebulös .
Das gilt ebenso für Ihre Forderung, den tatsächlichen
Nutzen für die Gesundheit stärker bei der Förderent-
scheidung zu gewichten . Wie wollen Sie denn den Kos-
tenträgern, wie Sie schreiben, frühzeitig die Möglichkeit
zur Beteiligung an Innovationsprozessen geben? In dem
vorgeschlagenen Dialogverfahren werden die Kranken-
kassen gar nicht erwähnt . Warum greifen Sie nicht unsere
Vorschläge zur Gesundheitsförderung und zur Stärkung
der Versorgungsforschung aus den Haushaltsberatungen
auf? Das wären wichtige Schritte .
Unterstützen möchte ich ausdrücklich die Forde-
rungen nach Stärkung und Evaluation der Verbundfor-
schung . Hierzu muss auch die Rolle der Deutschen Zen-
tren der Gesundheitsforschung reflektiert werden. Deren
Kooperationen, zum Beispiel mit Universitätsklinika,
verlaufen generell gut, aber nicht überall optimal . Die
Unikliniken haben zudem das Problem eines räumlichen
und apparativen Investitionsstaus . Verbesserungen bei
der Grundfinanzierung der Hochschulen und Lösungen
für den Hochschulbau und Universitätsklinikbau sind
somit auch wichtige Bedingungen für einen besseren
Forschungstransfer zum Nutzen der Patientinnen und
Patienten .
Patientenbeteiligung, Angebots- und Kostentranspa-
renz sind hehre Ziele; sie sind aber in der Realität längst
noch nicht verwirklicht . Sie fordern heute die Beteiligung
von Patientenvertreterinnen und -vertretern am Agen-
da-Setting-Prozess . Das ist gut . Bisher hat die Koalition
im Gesundheitswesen dazu wenig zustande gebracht . Es
würde uns daher sehr interessieren, wie genau Sie die
Forschungsförderung tatsächlich und konkret partizipati-
ver gestalten wollen . Wir freuen uns auf Ihre guten Ideen
und bringen eigene ein .
Ihr Antrag bietet auf jeden Fall insgesamt sehr viel
Stoff zur Diskussion . Deshalb freue ich mich auf intensi-
ve Beratungen im Forschungsausschuss .
Schöne Feiertage .
Das Wort hat der Kollege Tino Sorge für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Kollegin Vogler, Sie haben das gemacht, was
auch der Kollege Gehring wieder gemacht hat: Sie haben
unseren Antrag offensichtlich nicht genau gelesen .
Sie haben nämlich Kooperation mit Konfrontation ver-
wechselt . Das heißt, Sie haben das herausgegriffen, was
Ihnen nicht gepasst hat, und die anderen Dinge einfach
nicht erwähnt, und das ist nicht gut .
Worüber reden wir in diesem Antrag? Wir reden über
Innovation, und wir reden ganz konkret über Translation .
Translation heißt nichts anderes als Übersetzung, so viel
wie die PS im Forschungsbereich auf die Straße zu brin-
gen . Das heißt, wir wollen Grundlagenforschung, klini-
sche Forschung und ärztliche Anwendung besser mitei-
nander verbinden . Das ist nichts Schlimmes . Wir haben
das Ziel, wissenschaftliche Ergebnisse schneller zum
Wohle der Patienten anwenden zu können, aber wech-
selseitig auch Fragen und Erkenntnisse aus der ärztlichen
Praxis in die Wissenschaft zurückzugeben .
Dass das schon immer ein wichtiger Grundsatz war,
sieht man daran, dass bereits 1654 der Naturwissen-
schaftler Otto von Guericke mit dem Magdeburger Halb-
Kai Gehring
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kugelversuch die Existenz des Vakuums nachgewiesen
hat .
Er hat zwei Halbkugeln mit einer umgebauten Feuer-
spritze so zusammengefügt, dass die Pferdegespanne,
die von beiden Seiten an den Halbkugeln zogen, diese
Halbkugeln nicht auseinanderziehen konnten . Damit hat
er nachgewiesen, wie hoch der auf ihnen lastende Luft-
druck war . Das heißt ganz konkret, wenn man das auf
Translation bezieht, dass Innovationen wie die Glühbirne
oder das Elektronenmikroskop Eigenschaften des Vaku-
ums nutzen .
Deutschland ist auch heute noch das Land von For-
schung und Innovationen . Das haben wir erst letztens
gesehen, als der Nobelpreis für Chemie an den Forscher
Stefan Hell ging . Er bekam ihn für seine Forschung und
die Entwicklung der hochauflösenden Fluoreszenzmi-
kroskopie. Das finde ich deshalb so bemerkenswert, weil
noch 1873 der Wissenschaftler und Optiker Ernst Abbe
sagte, dass Lichtmikroskope keine Objekte vergrößern
können, die kleiner als 0,2 Mikrometer sind . Strukturen,
die kleiner sind als die Wellenlänge von Licht, sichtbar
zu machen, ginge nicht, so hat man bisher immer gesagt .
Stefan Hell hat das Gegenteil nachgewiesen und die Ge-
setze der Optik ausgetrickst .
Wie ist die Situation bei uns? Wir haben eine hervor-
ragende Ausgangssituation; wir haben forschungsstarke
Firmen und eine exzellente universitäre Forschung . Die
Zahl der Unternehmensgründungen ist bundesweit 2013
gegenüber dem Vorjahr um rund 15 Prozent gestiegen .
Deutschland belegt weltweit einen Spitzenplatz, wenn
es um den Export von Gütern der Hochtechnologie geht .
Die Exportquote im Bereich der Medizintechnik liegt bei
65 Prozent . Das heißt aber nicht, dass wir nicht noch bes-
ser werden können; denn wer aufhört, besser zu werden,
hört auf, gut zu sein .
Es herrscht erheblicher Innovationsdruck . Die Innova-
tionszyklen werden kürzer . Wenn man sich überlegt, dass
sich zwischen 1800 und 1900 das Wissen verdoppelt hat
und heute die Verdoppelung des Wissens in vier Jahren
geschieht, dann erkennt man, wie hoch der Innovations-
druck ist . Wir reden gerade in Zeiten der Digitalisierung
und Globalisierung darüber, den Anschluss nicht zu ver-
lieren . Wir diskutieren über disruptive Geschäftsmodel-
le; wir reden darüber, dass sich unser Kommunikations-
verhalten durch das Smartphone in den letzten Jahren
erheblich verändert hat . Andere Nationen drängen mit
Spitzentechnologien auf den Markt . Da heißt es für uns,
mit ihnen Schritt halten zu können .
Eine große Chance bietet – darauf haben wir in dem
Antrag hingewiesen – der Gesundheitsbereich . Man kann
natürlich, wie die Opposition es gerne macht, sagen, dass
alles schlimm ist und die Gesundheitswirtschaft nur ge-
winnorientiert ist . Man muss aber sagen, dass öffentliche
Forschungsförderung allein nicht ausreicht, Innovatio-
nen schneller in den Markt zu bringen .
Was haben wir als Politik gemacht? Wir wollen
sinnvolle Rahmenbedingungen schaffen . Der Etat des
Bildungs- und Forschungsministeriums ist erneut um
1,1 Milliarden Euro gestiegen . Das ist ein Zuwachs um
18 Prozent im Vergleich zum Beginn der Legislatur und
um 65 Prozent gegenüber 2006 .
Das sind Zahlen, die man nennen und durchaus positiv
würdigen sollte .
Die Investitionen der öffentlichen Hand in Koopera-
tion mit der privatwirtschaftlichen Forschung sind ein
Erfolgsbeispiel . Es geht um den Patientennutzen . Schau-
en wir uns den Gesundheitsbereich einmal an: Es gibt
technologische Innovationen wie mitwachsende Herz-
klappen . Es gäbe viele andere Beispiele, die ich hier
nennen könnte . Wir müssen damit aufhören, den Ge-
sundheitsbereich immer nur als Kostenblock zu sehen .
Der Gesundheitsbereich ist einer der größten Wachs-
tumsmotoren – mein Kollege Stephan Albani hat bereits
darauf hingewiesen – mit einem Anteil von 13 Prozent
am Bruttoinlandsprodukt . Es sind mehr Menschen im
Bereich der Gesundheitswirtschaft beschäftigt als in der
Automobilindustrie .
Das sind Punkte, die wir durchaus häufiger erwähnen
müssen .
Warum tun wir das alles? Wir tun das vor dem Hin-
tergrund der demografischen Entwicklung und einer al-
ternden Gesellschaft . Wir wissen, dass in Deutschland im
Jahr 2050 jeder Dritte 65 Jahre oder älter sein wird . Die
Zahl der Menschen, die an Volkskrankheiten wie Krebs,
Diabetes, Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen
leiden, steigt erheblich an . Gleichzeitig ist festzustellen,
dass aufgrund der Forschung beispielsweise im onkolo-
gischen Bereich die Überlebensraten signifikant steigen.
Viele Erkrankungen, die bisher tödlich verliefen, sind zu
chronischen Erkrankungen geworden . Im immunonko-
logischen Bereich haben wir in den letzten Jahren Fort-
schritte erlebt, die bisher nicht denkbar waren . Deshalb
ist es so wichtig, dass wir Ergebnisse aus dem Bereich
der Grundlagenforschung in innovative therapeutische
Verfahren überführen und schneller in die Regelversor-
gung aufnehmen .
Das Beispiel der Deutschen Zentren der Gesundheits-
forschung mit ihrer Vernetzung ist angesprochen worden .
Ich denke, wir müssen auch da viel besser werden . Es
Tino Sorge
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514558
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sind gute Grundlagen gelegt . Aber es geht auch darum,
dass Wissenschaft und Wirtschaft an den Schnittstellen
interdisziplinär besser vernetzt werden .
Da wir von Kosten und Kostendeckelung gesprochen
haben, will ich den Grundsatz bemühen: Am besten spart
man, indem man das Geld erst gar nicht ausgibt, sondern
vorhandene Quellen nutzt . Zu diesen Quellen gehören
auch die Datenquellen . Wir haben daher mit viel En-
gagement den Aufbau von Registern vorangetrieben . Wir
werden ihn weiter forcieren . Dies ist deshalb so wichtig,
um valide Daten über die Ursache, Entstehung und Ver-
breitung von Volkskrankheiten zu bekommen . Deshalb
ist es wichtig, dass wir die Nationale Kohorte, eine der
größten Gesundheitsstudien mit 200 000 Teilnehmern,
vorantreiben . Deshalb ist es so wichtig, dass wir Krebs-
register zentralisieren, um gute Daten zu bekommen .
Deshalb ist es so wichtig, ein Diabetesregister zu bekom-
men . Zum Transplantationsregister liegt uns bereits ein
Referentenentwurf aus den letzten Wochen vor .
Ich will damit sagen: Wir brauchen keine Datenfried-
höfe . Vielmehr müssen wir anonymisierte Routinedaten,
die sowieso erhoben werden und jetzt verfügbar sind,
viel stärker nutzen . Wir müssen gerade im Sinne einer
besseren Versorgung Forschungseinrichtungen und auch
Kassenärztliche Vereinigungen Daten, die ohnehin schon
den Krankenkassen vorliegen, nutzen lassen .
Ich will das an einem konkreten Beispiel aus meinem
Wahlkreis Magdeburg – -
Das wird Ihnen nicht mehr gelingen, Kollege Sorge,
auch wenn der Koalitionspartner ein paar Sekunden üb-
rig gelassen hat . Sie müssen einen Punkt setzen .
Gut, den werde ich jetzt machen, Frau Präsidentin . Ich
wünsche Ihnen, den Kolleginnen und Kollegen und den
Zuhörern auf der Tribüne schöne, besinnliche Weihnach-
ten und uns allen ein paar ruhige Tage . Ich hoffe, wir se-
hen uns alle gesund im neuen Jahr wieder .
Herzlichen Dank .
Es wird noch Gelegenheiten geben, dieses Thema zu
vertiefen . – Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7044 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr . Julia Verlinden, Christian Kühn ,
Annalena Baerbock, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Gesetzes zur Förderung Erneuer-
Drucksache 18/6885
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich werte das
Gemurmel an der Seite nicht als Widerspruch . Dann ist
so beschlossen .
Ich bitte Sie, die notwendigen Umgruppierungen, Ver-
abschiedungen und anderes zügig vorzunehmen . – Ich er-
öffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin Dr . Julia
Verlinden für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Nach den mutmachenden Beschlüs-
sen von Paris zum internationalen Klimaschutz kommt
es jetzt auf die Umsetzung in jedem einzelnen Land an .
Das heißt: Es geht um nichts weniger als darum, jetzt den
Planeten zu retten .
Da hat die Bundesregierung großen Nachholbedarf; denn
bisher hat sie die Energiewende im Wärmesektor und
beim Verkehr völlig verschlafen .
Das zeigt sich zum Beispiel an den Absatzzahlen für
neue Heizungen . Laut dem Bundesverband der Hei-
zungsindustrie waren über 80 Prozent der im vergange-
nen Jahr verkauften Wärmeerzeuger Öl- oder Gasheizun-
gen . Mehr als 80 Prozent! Ich frage Sie: Wie wollen wir
eine Dekarbonisierung schaffen, wenn heute immer noch
überwiegend Technik eingebaut wird, die die nächsten
30 Jahre lang Öl und Gas verbrennt?
Durch Heizung, Warmwasser und Industriewärme
verursachen wir in Deutschland etwa ein Drittel der ge-
samten CO2-Emissionen des Landes . Wenn die Regie-
rung ihre Zusagen für ambitionierten Klimaschutz in Pa-
ris ernst nimmt, muss sie endlich etwas vorlegen für eine
klimaschonende Wärmepolitik .
Tino Sorge
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14559
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Damit meine ich nicht nur neue Strategiepapiere wie zu-
letzt Ihre Energieeffizienzstrategie Gebäude. Darin ste-
hen sicherlich viele richtige Fakten . Nur: Das alles sind
keine neuen Erkenntnisse . Es gibt in der Wärmepolitik
und beim Energiesparen auch gar keine Erkenntnispro-
bleme . Es gibt vielmehr ein Umsetzungsproblem . Daran
schuld ist diese Bundesregierung, liebe Kolleginnen und
Kollegen .
Weil die Regierung jetzt selbst erkannt hat, dass sie in
der Wärmepolitik nicht vom Fleck kommt, versucht sie
es mit Rechentricks . Im Monitoringbericht zur Energie-
wende für das Jahr 2013 betrug der Anteil der erneuerba-
ren Energien an der Wärmeversorgung wie schon in den
Jahren zuvor nur knapp 10 Prozent . Im jüngsten Monito-
ringbericht ist der Anteil dann auf wundersame Weise auf
12 Prozent angestiegen, aber nicht etwa, weil tatsächlich
mehr erneuerbare Energien zur Wärmeerzeugung ein-
gesetzt worden wären . Das Gegenteil ist sogar der Fall .
Nein, die Regierung hat einfach die Berechnungsmetho-
de geändert, um besser dazustehen . In anderen Zusam-
menhängen würde man da wohl von Bilanzfälschung
sprechen .
Jetzt werden Sie vermutlich sagen: Ach, die in der
Opposition, die haben ja gar keine Ahnung von Regie-
rungsstatistik . – Dann schauen wir doch mal, was die von
Ihnen einbestellten Experten dazu sagen . Den Experten
sind Ihre Rechentricks nämlich auch aufgefallen . Ich
zitiere aus der Stellungnahme der Wissenschaftler zum
Monitoringbericht:
Im Bereich der erneuerbaren Wärme lässt der Mo-
nitoring-Bericht der Bundesregierung große Da-
tenunsicherheiten und wiederholte Umstellungen
der Berechnungsmethodik erkennen, ohne dass dies
transparent erläutert würde .
Und weiter heißt es bei den Experten:
Der Einsatz erneuerbarer Wärme war im Jahr 2014
rückläufig.
Das nenne ich eine schallende Ohrfeige für Ihre Art, sich
den Stand der Energiewende im Wärmesektor schönzu-
rechnen .
Sehen Sie der Tatsache doch ins Auge . Es geschieht
einfach nicht genug im Wärmesektor, und das, was pas-
siert, geschieht viel zu langsam . Mit dem Zeitlupentempo
der Bundesregierung kommen wir im Klima- und Res-
sourcenschutz einfach nicht voran, meine Damen und
Herren . Mit Zahlentricks lässt sich die Klimakatastrophe
aber nicht aufhalten . Wir brauchen echte Energieeinspa-
rung, echte CO2-Einsparung und keine Einsparung nur
auf dem Papier .
Was wir jetzt brauchen, sind konkrete Gesetze mit kon-
kreten Maßnahmen, und da geben wir Ihnen heute Start-
hilfe .
Während die Bundesregierung noch an ihrer Ge-
bäudestrategie feilt, haben wir schon mal losgelegt und
einen Entwurf für ein erweitertes Erneuerbare-Energi-
en-Wärmegesetz ausgearbeitet . Wir stützen uns darin auf
das entsprechende Gesetz aus Baden-Württemberg, im
Übrigen das einzige Bundesland, in dem es bisher eine
Regelung für erneuerbare Energien für die Wärmeversor-
gung im Gebäudebestand gibt . Und es spricht viel dafür,
so eine wichtige Sache jetzt bundeseinheitlich zu regeln .
Mit unserem grünen Gesetzentwurf werden also künf-
tig automatisch erneuerbare Energien zum Einsatz kom-
men, sobald eine Heizung ausgetauscht wird . Die neue
Anlage muss dann mindestens 15 Prozent erneuerbare
Wärme nutzen . So kommen wir endlich voran mit der
Energiewende und mit dem Klimaschutz, und wir kom-
men voran mit der Unabhängigkeit von teuren Öl- und
Gasimporten . Fast 100 Milliarden Euro gibt Deutschland
jedes Jahr für Kohle-, Erdgas- und Erdölimporte aus .
Und wir Grüne machen bei der erneuerbaren Wärme al-
lein nicht halt . Die grüne Bundestagsfraktion hat ein gan-
zes Paket an Maßnahmen und Instrumenten geschnürt,
wie wir uns eine zukunftsweisende, eine sozial gerechte
Wärmepolitik vorstellen . Wir wollen faire Wärme .
Faire Wärme heißt für uns, dass energetische Sanie-
rungen nicht länger für die Vertreibung von Mieterinnen
und Mietern aus beliebten Innenstadtlagen missbraucht
werden . Für Haushalte mit kleinem Einkommen wol-
len wir warmmietenneutrale Sanierungen ermöglichen .
Dazu haben wir in der Haushaltsdebatte ja auch deutlich
mehr Geld gefordert, zum Beispiel für die energetische
Quartierssanierung . Faire Wärme heißt für uns auch,
dass sich Bürgerinnen und Bürger und Genossenschaf-
ten an Sanierungen beteiligen können, zum Beispiel an
der energetischen Modernisierung von Schwimmbädern,
Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden . So mobi-
lisieren wir das notwendige Kapital und schaffen breite
Unterstützung für eine vorsorgende Wärmepolitik .
Und faire Wärme heißt nicht zuletzt, dass wir mehr
erneuerbare Energien für die Wärmeversorgung nutzen;
denn Erdöl und Erdgas aus Krisenregionen haben wenig
mit fairen Verhältnissen zu tun und genauso wenig mit
ernstgemeintem Klimaschutz, meine Damen und Herren .
Wir Grüne zeigen, wie faire Wärme geht . Nehmen
Sie sich ein Beispiel daran, und legen Sie endlich los .
Einen Baustein haben wir Ihnen heute mit dem Erneu-
erbare-Energien-Wärmegesetz auf dem Silbertablett prä-
sentiert . Und jetzt sind Sie dran .
Dr. Julia Verlinden
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514560
(C)
(D)
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Dr . Herlind
Gundelach von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in der Vergangenheit in der Tat sehr viel über
die Erzeugung von Energie debattiert und auch viel zu
lange über die Bedeutung der Energieeffizienz, aber ihrer
Förderung zu wenig Aufmerksamkeit zukommen lassen .
Vor allem die Wärme wurde in der Tat ein wenig stief-
mütterlich behandelt . Aber vor diesem Hintergrund wür-
de mich eigentlich dann doch mal interessieren, ob Frau
Verlinden auch definieren kann, was unfaire Wärme ist,
wenn sie sagt, dass es faire Wärme gibt .
Aber weil das so ist, haben wir im Koalitionsvertrag
2013 festgehalten, dass Energieeffizienz die zweite Säule
der Energiewende darstellt, und genau nach dieser Maß-
gabe handeln wir auch .
2014 kam der NAPE mit Sofortmaßnahmen zur Stei-
gerung der Energieeffizienz und einer Vielzahl weiter-
führender Arbeitsprozesse . Für uns galt aber immer:
Nach dem NAPE ist vor dem NAPE . Wir arbeiten des-
halb konsequent an neuen Ideen und Impulsen für die
Energieeffizienz, natürlich auch für die Wärme. Daher
wird allein das im Rahmen des Koalitionsgipfels im Juli
2015 beschlossene Effizienzpaket bis zum Jahr 2020
Haushaltsmittel in Höhe von insgesamt 5,8 Milliarden
Euro für mehr Energieeffizienz bereitstellen. Deswegen
verwundert es mich doch, dass die Grünen jetzt ein Ge-
setz auf den Weg bringen wollen, das sich an einem Lan-
desgesetz orientiert, nämlich an dem Erneuerbare-Wär-
me-Gesetz des Landes Baden-Württemberg, das sich in
der Vergangenheit nicht unbedingt bewährt hat .
– Nein . Im vorliegenden Gesetzentwurf der Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen ist, genauso wie damals in
Baden-Württemberg, eine Pflicht zur anteiligen Nutzung
von Erneuerbaren bei der Wärmeversorgung auch im pri-
vaten Gebäudebestand vorgesehen .
– Genau . Die Grünen möchten folglich, dass Hauseigen-
tümer, wie immer bei Ihnen, beim Tausch der Heizung
bestimmte Dinge nutzen müssen .
Die Bilanz des Erneuerbaren-Wärme-Gesetzes in
Baden-Württemberg ist sehr durchwachsen . Hier haben
viele Hausbesitzer vor Inkrafttreten des Gesetzes schnell
noch ihre Kessel getauscht, um die Pflicht zu umgehen.
Danach gab es dann einen starken Einbruch bei den Um-
sätzen mit Erneuerbaren für die Handwerker und für die
Hersteller .
– Das können Sie nachlesen . Das hat übrigens sogar die
Regierung festgestellt .
Seit der Einführung der Pflicht warten die Hausbe-
sitzer meist darauf, bis ihre Heizung richtig kaputt ist,
bevor sie etwas tun . Das belegt im Übrigen auch der Mo-
dernisierungsindex, der zeigt, das Baden-Württemberg
seit Inkrafttreten des Gesetzes hinter den Bundestrend
zurückfällt .
Im Länderranking zum Ausbau der erneuerbaren
Energien belegt Baden-Württemberg den vierten Platz .
Diese Zahlen haben wahrscheinlich auch dazu geführt,
dass in anderen Bundesländern trotz grüner Regierungs-
beteiligung bislang keine vergleichbaren Regelungen ge-
troffen wurden. Denn: Pflichten funktionieren in diesem
Fall gut nur im Neubau .
Entsprechend handelt auch der Bund .
Im Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz des Bundes
zum Neubau werden auch private Eigentümer zur antei-
ligen Nutzung von erneuerbaren Energien verpflichtet.
Auf dem EEWärmeG fußt außerdem das Marktanreiz-
programm zur Förderung der erneuerbare Energien, mit
dem wir den Ausbau erneuerbarer Wärme im Gebäude-
bestand fördern . Das Marktanzreizprogramm hat inso-
fern das gleiche Ziel, das Sie mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf verfolgen, aber es beschreitet einen anderen
Weg zur Zielerreichung:
Es beruht nämlich auf Freiwilligkeit und nicht auf Be-
vormundung .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14561
(C)
(D)
Die Grünen begründen ihre Idee zum Zwang auf na-
tionaler Ebene – das haben Sie eben auch gemacht – vor
allen Dingen mit der Behauptung, dass wir das im EE-
WärmeG formulierte Ziel, nämlich den Anteil der erneu-
erbaren Energien am Wärme- und Kälteverbrauch bis
2020 auf 14 Prozent zu erhöhen, ohne eine Pflicht zum
anteiligen Einbau nicht schaffen könnten . Aber das ist er-
freulicherweise ja nur eine Behauptung .
Denn die Praxis widerlegt Ihre Annahme .
Die Kombination aus gesetzlicher Nutzungspflicht
beim Neubau und dem Marktanreizprogramm für die
Förderung und den Ausbau im Gebäudebestand hat
sich nämlich bewährt . So zeigt der Zweite Erfahrungs-
bericht zum EEWärmeG, der am 18 . November dieses
Jahres vom Bundeskabinett verabschiedet wurde, dass
der Anteil der Erneuerbaren in der Wärme- und Kälte-
versorgung von 8,5 Prozent im Jahre 2008, also vor dem
Inkrafttreten des EEWärmeG, auf inzwischen 12 Prozent
in 2014 gestiegen ist .
– Nein, wir schummeln überhaupt nicht, sondern das ist
eine saubere Berechnung, die Sie nachvollziehen können .
– Nein, ich könnte genauso gut behaupten, Sie schum-
meln bei Ihrer Interpretation . Wir können die Zahlen bei
Gelegenheit gerne miteinander vergleichen .
Die Prognose des Erfahrungsberichts geht auf Grund-
lage der vorhandenen Zahlen übrigens auch davon aus,
dass der Anteil bis 2020 voraussichtlich auf 16,3 Prozent
ansteigen wird . Damit werden wir unser Ziel, 14 Prozent
in 2020, auch mühelos erreichen, ja wir werden es sogar
übertreffen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
eine ordnungsrechtliche Nutzungspflicht für erneuerba-
re Energien senkt in der Regel die Akzeptanz und die
Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, überhaupt
Maßnahmen zur Heizungsmodernisierung zu ergreifen .
Deshalb setzt die am 18 . November von der Bundesre-
gierung verabschiedete Energieeffizienzstrategie Gebäu-
de auch weiterhin ausdrücklich auf Freiwilligkeit und
eben auf das Marktanreizprogramm, das in diesem Jahr
übrigens ganz hervorragend angenommen wurde . Dieses
Programm wäre aus haushaltsrechtlichen Gründen übri-
gens gar nicht mit einer gesetzlichen Pflicht zum Einbau
kombinierbar; denn das, was Gesetz ist, dürfen Sie über
das Haushaltsrecht nicht mehr fördern . Das kann ja wohl
auch nicht in Ihrem Interesse sein .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Ihr
Vorschlag ist aus meiner Sicht deswegen ein alter Schuh,
der noch nicht mal passt .
– Doch . – Was wir brauchen, sind kreative und innova-
tive Ideen und Konzepte . Wir brauchen Gesetze, Verord-
nungen, Programme und Impulse, die genau aufeinander
abgestimmt sind;
denn sonst behindern sich nicht nur die Maßnahmen
gegenseitig, sondern dann behindern wir auch die Men-
schen, die sie umsetzen wollen .
Da wir schon fast Weihnachten haben und diese De-
batte die letzte vor dem Fest ist, sage ich auch noch ein
paar versöhnende Worte: Als jemand, der seit 1987 Um-
weltpolitik macht und schon bei der Vor- und Nachberei-
tung der Konferenz von Rio dabei war, finde ich Ihr En-
gagement für den Klimaschutz ja grundsätzlich positiv;
aber müssen Sie denn immer gleich die Gesetzeskeule
schwingen
und auf Gebote und Verbote setzen? – Die versöhnlichen
Worte kommen im zweiten Teil . –
Darauf reagieren Menschen nämlich in der Regel aller-
gisch . Dann suchen sie nach Wegen, wie sie diese Ver-
bote umgehen können; denn die Menschen wollen in
der Regel nicht gegängelt werden . Wenn Sie mir das
nicht glauben, dann schauen Sie doch einfach einmal in
die einschlägige psychologische Literatur oder in weih-
nachtlicher Muße – das ist zugegebenermaßen sehr an-
strengend – in die Werke des großen Kirchenlehrers und
Philosophen Thomas von Aquin .
Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam da-
ran arbeiten, dass die Menschen aufgrund von Einsicht
und eigener Erkenntnis im Interesse des Klimaschutzes
handeln .
Lassen Sie uns das neue Jahr in diesem Sinne mit ge-
meinsamem Schwung und energieeffizient nutzen. Ich
Dr. Herlind Gundelach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514562
(C)
(D)
freue mich auf viele fruchtbare Diskussionen mit Ihnen
in den kommenden Monaten .
Ihnen und Ihren Familien wünsche ich ein schönes
und friedfertiges Weihnachtsfest und alles Gute für das
kommende Jahr .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Ralph
Lenkert für die Fraktion Die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! In der gestrigen Aktuellen Stunde zum
Klimagipfel wurde fraktionsübergreifend gewürdigt,
dass es in Paris vorwärtsging . Frau Gundelach, man kann
sich ja darüber streiten, ob die Schuhe der Grünen neu
oder alt sind, aber wenigstens haben sie Schuhe, ziehen
sie an und wollen loslaufen, was man von Ihnen nicht
sagen kann .
Bei Strom aus erneuerbaren Energien, bei Energie-
speichern, im Verkehrssektor, bei der Energieeffizienz –
überall stehen Sie auf der Bremse, und ganz besonders
bei der Wärmewende . 95 Prozent der deutschen Wohn-
gebäude werden immer noch überwiegend mit fossilen
Energieträgern beheizt . Nur etwa 4,5 Millionen Haus-
halte in Deutschland decken einen Teil ihres Bedarfs
aus erneuerbaren Quellen. Das ist definitiv zu wenig. So
kann Deutschland seinen Teil im Kampf gegen die Erd-
erwärmung nicht leisten .
Die Grünen legen jetzt einen Gesetzentwurf vor und
fordern, dass Hauseigentümer künftig 15 Prozent der ge-
nutzten Wärmeenergie aus regenerativen Quellen decken
müssen oder weniger Energie verbrauchen müssen . Der
Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung . Auch die
Linke kritisiert, dass die Bundesregierung bei der Sanie-
rung des Gebäudebestandes ihre Gesetzgebungskompe-
tenz ignoriert, vor allem, dass nur auf mieterfeindliche,
überteuerte energetische Modernisierungsmaßnahmen
gesetzt wird . Es braucht gesetzliche Vorgaben, die Ver-
mieter und Hausbesitzer zu Energieeinsparmaßnahmen
bringen, ohne dass diese zu einer ungerechtfertigten Er-
höhung der Mieten führen .
Artikel 14 Absatz 2 des Grundgesetzes bietet die Mög-
lichkeit für diese Forderung . Ich zitiere:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen .
Das heißt, Sie könnten, wenn Sie wollten .
Es ist richtig, den Hauseigentümern größtmögliche
Flexibilität bei der Umsetzung zuzugestehen . Die Mög-
lichkeit der Wahl zwischen Heizungsmodernisierung,
Dämmung und Sanierungsfahrplan im Gesetzentwurf der
Grünen begrüßen wir .
Das Landesgesetz in Baden-Württemberg zeigt erste
Erfolge . Dass die Anzahl kleiner stromproduzierender
Heizanlagen, KWK genannt, wächst, ist so ein Erfolg .
Allerdings braucht es noch viel mehr Ansätze . Eine dif-
ferenzierte Energiebedarfsanalyse des Gebäudebestands
fehlt noch immer . Liebe Kolleginnen und Kollegen,
prüfen wir, ob die Fixierung in der Energieeinsparver-
ordnung, EnEV, auf den Dämmzustand der Außenwände
noch der richtige Ansatz ist . Entscheidend ist doch nicht,
wie viel Wärme theoretisch durch die Außenwände ent-
weicht, sondern wie viel Heizenergie man entsprechend
der Nutzung braucht bzw . einsparen könnte . Heute ist die
Messtechnik weiter entwickelt als zur Geburtsstunde der
EnEV . Stellen wir also gemeinsam die Analyse auf die
richtige Basis: Gebäude müssen nach Heizbedarf je Qua-
dratmeter Nutzfläche bewertet werden.
Im Vorschlag der Grünen fehlt auch die Verknüpfung
von Wärme- und Strommarkt . Gebäude sind nicht nur
Stromproduzenten über Solardächer und KWK-Anlagen .
Gebäude könnten auch hervorragend als Wärmeenergie-
speicher genutzt werden, damit überschüssiger Wind-
oder Solarstrom zwischengespeichert und genutzt wird .
Noch ein Wort zu strukturschwachen Regionen . Dort
sind viele Hausbesitzer mit Sanierungen schlicht über-
fordert . Oft ist auch unsicher, ob diese Gebäude zukünf-
tig genutzt werden können . Was machen Sie denn mit der
alten Dame, die nur eine geringe Rente bekommt und al-
lein im eigenen Haus wohnt? Da braucht es praktikable
Lösungen, um soziale Härten abzufedern:
Sanierungspflicht bei selbstgenutzten Häusern in solchen
Fällen erst nach Eigentümerwechsel, Abwrackprämien
für Altheizungen und vor allem Förderungen, die warm-
mietenneutrale energetische Sanierungen ermöglichen .
Mieterinnen und Mieter verdienen den gleichen Schutz
wie das Klima . Damit soziale Verantwortung und Klima-
schutz möglich werden, fordert die Linke jährlich 5 Mil-
liarden Euro für energetische Sanierungen .
Da es kurz vor Weihnachten ist, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union: Sie alle träumen von weißen
Weihnachten . Wenn Sie, wie bisher, beim Klimaschutz
auf der Bremse stehen, werden weiße Weihnachten in
Deutschland in Zukunft nur noch ein Traum sein . Das
können wir gemeinsam verhindern .
Vielen Dank .
Dr. Herlind Gundelach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14563
(C)
(D)
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin spricht Dr . Nina
Scheer für die SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Es ist ja schon vieles über den Zustand des
Wärmebereichs und über die Ausbauzahlen gesagt wor-
den . Natürlich muss man konstatieren, dass es nicht gut
ist, wenn der Ausbau erneuerbarer Energien im Wärme-
bereich und die Investitionen in den Ausbau erneuerbarer
Energien rückläufig sind. Die Zahlen sprechen leider die-
se Sprache; das muss man einfach konstatieren .
Insofern ist es wichtig, dass wir uns damit auseinander-
setzen .
Ich finde aber, es ist schade, wenn dann ein Modell in
den Mittelpunkt gerückt wird, an das sich mehr Fragezei-
chen als Lösungswege anschließen . Insofern möchte ich
einige Punkte in Erinnerung rufen .
Zunächst zu den Rahmenbedingungen, mit denen wir
zurzeit zu tun haben . Wir haben einen extrem niedrigen
Ölpreis . Es ist natürlich klar, dass Anreizprogramme, die
aufgelegt werden und die für sich genommen richtiger-
weise auch auf erneuerbare Energien zielen, in puncto
Effizienz – es soll ja auch Effizienz angereizt werden –
vor dem Hintergrund eines niedrigen Ölpreises mögli-
cherweise eine ganz andere Wirkung entfalten, als sie es
bei einem hohen Ölpreis täten .
Natürlich erklärt sich vor diesem Hintergrund auch,
dass mit dem Effizienzanreiz, der gesetzt ist und der, wie
gesagt, natürlich auch erneuerbare Energien anreizen
würde, auf einmal Öl und niedrige Gasbrennwertkessel
gefördert und angereizt werden . Das ist eine Entwick-
lung, die man natürlich beobachten muss und die man
nicht gutheißen kann . Auch da, meine ich, müssen wir
selbstkritisch sagen: Vielleicht sollte man an dieser Stelle
nachsteuern und feststellen: Diese Anreize, die an sich
in Richtung Energieeffizienz und Förderung der erneu-
erbaren Energien weisen sollten, haben leider ungünstige
Mitnahmeeffekte . Darauf muss die Politik reagieren .
Ein weiterer Punkt ist der milde Winter . Wir haben ein
etwas verzerrtes Bild davon, welcher Anteil beim Ausbau
der erneuerbaren Energien tatsächlich erreicht wurde, al-
lein schon deshalb – in positiv unterstrichenem Sinne –,
weil wir in den letzten Jahren insgesamt einen geringeren
Heizbedarf hatten . Wir müssen natürlich darauf vorberei-
tet sein, dass dies, wenn möglicherweise punktuell wie-
der härtere Winter kommen, ein anderes Bild hervorruft .
Zu guter Letzt – dieser Aspekt ist in den letzten Dis-
kussionen, die wir über diesen Themenkomplex geführt
haben, schon vielfach erwähnt worden – ist auch der
Investitionsattentismus aufgrund des doch nicht gekom-
menen steuerlichen Anreizes zu nennen . Wir können na-
türlich nicht immer nur über Modelle reden; denn dann
warten die Leute auf solche Modelle . Wenn sie dann
nicht umgesetzt werden, hat das fatale, verheerende Aus-
wirkungen auf das Verhalten der Leute, die ihre Kessel
austauschen bzw . Modernisierungsmaßnahmen durch-
führen wollten, dann aber auf eine Sache gewartet ha-
ben . In dieser Zeit hätten sie allerdings, wenn sie nicht
gewartet hätten, schon viele gute Maßnahmen ergreifen
können .
Insofern möchte ich festhalten: Es ist ganz wichtig,
dass wir den Umstieg auf die erneuerbaren Energien stär-
ker in den Fokus rücken. Ich finde, diese gute Anstoß-
wirkung kann man dem Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt,
entnehmen; das ist anzuerkennen . Man sollte dabei nicht
zu stark auf den Effizienzaspekt setzen, weil dann die
von mir geschilderten Effekte eintreten könnten .
Zu den Berechnungsmethoden nur ganz kurz: Wir
können die Zahlen ja noch einmal vergleichen . Das ist
aber ein Stück weit müßig . Erläuternd muss man an die-
ser Stelle sagen: Ja, es ist, auch aufgrund einer Vorga-
be der EU, nun dazu gekommen, dass man die ganzen
Strombereiche aus der Berechnung herausnimmt, inso-
fern den reinen Wärmebereich als Berechnungsgrundla-
ge nimmt . Daher hat es bei den Zahlen eine Verschiebung
gegeben. Aber ich finde es etwas müßig, jetzt so sehr auf
die Zahlen abzustellen
und die Frage zu stellen: „Sind die Ziele erreicht oder
nicht?“, weil es jenseits dieser Ziele aufgrund der gerade
von mir genannten Aspekte wichtig ist, dass wir schauen,
wie wir es schaffen, die erneuerbaren Energien auszu-
bauen .
Jetzt noch zu der Frage: Soll man wirklich das Modell
aus Baden-Württemberg übernehmen? Frau Gundelach
hat richtigerweise angemerkt, dass auch dort am Anfang
ein Effekt zu verzeichnen war, der erst einmal bedeutet
hat: Es geht in die falsche Richtung . – Das hat sich in-
zwischen etwas nivelliert . Aber auch von heute aus ge-
sehen – fünf oder sechs Jahre nachdem das Gesetz in
Baden-Württemberg in Kraft getreten ist – können wir
feststellen, dass es kein richtig durchschlagendes Instru-
ment ist; das muss man einfach zur Kenntnis nehmen .
Vor diesem Hintergrund frage ich mich: Was bedeutet
es, wenn man dieses Instrument additiv in den Maßnah-
menkatalog, den wir schon haben, aufnimmt? Das hät-
te zur Folge, dass man beim MAP Umstrukturierungen
vornehmen müsste . In einem Bereich, in dem man etwas
auf den Weg gebracht hat und in dem man gerade dabei
ist, den Menschen zu erklären, welche Möglichkeiten sie
haben, müsste man also sagen: Nein, Kommando zurück!
Wir ändern das . Die Förderung wird jetzt zu einer Nut-
zungspflicht umdeklariert. – Das halte ich im Hinblick
auf die politische Kommunikation für ungünstig .
Man kann, wenn man Maßnahmen verändert und wenn
sich die politischen Rahmenbedingungen verändern,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514564
(C)
(D)
nicht so tun, als befinde man sich im luftleeren Raum.
Man muss schon dafür sorgen, dass die Maßnahmen, die
auf den Weg gebracht wurden, auch greifen . Wenn sie
nicht zielführend sind, muss man genau dort ansetzen,
wo deutlich wird, dass sie nicht zielführend sind, und darf
nicht immer gleich das Kind mit dem Bade ausschütten
und komplett neue Maßnahmen ins Leben rufen . Das hal-
te ich mit Blick auf die Verunsicherung der Bevölkerung,
die Unklarheit ob der Fülle der Maßnahmen, die zur Ver-
fügung stehen, und die Rahmenbedingungen nicht für
zielführend .
– Insgesamt ist ja die Rede davon, das jetzt auf die Bun-
desebene zu übertragen; davon habe ich gesprochen .
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass wir alle – jetzt
spreche ich über meine persönliche Einschätzung – uns
auch fragen müssen: Was bedeutet die nach wie vor mas-
sive Verstromung und die anderweitige Nutzung fossiler
Energien? Ich persönlich bin der Meinung, dass wir auf
lange Sicht, gerade angesichts des niedrigen Ölpreises,
wahrscheinlich nicht umhinkommen, auch die Schäd-
lichkeit dieser Emissionen zu bewerten; das ist meine
ganz persönliche Sicht auf die Dinge . Möglicherweise
muss man irgendwann auch über eine Schadstoffsteuer
nachdenken; das ist, wie gesagt, meine persönliche Ein-
schätzung . Das wäre eine Maßnahme, die additiv ergrif-
fen werden könnte und die den „richtigen“ Maßnahmen,
die schon aufgesetzt wurden, nicht widerspricht . Insofern
haben wir, glaube ich, noch eine Menge Diskussionen
vor uns . In diesem Sinne: Auf eine konstruktive Zusam-
menarbeit!
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Andreas
Lenz für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es geht um
einen Gesetzentwurf der Grünen zur Änderung des Er-
neuerbare-Energien-Wärmegesetzes . Bisher hatten wir
es immer mit Anträgen von Ihnen, Frau Verlinden, zu
tun . Jetzt liegt gleich ein ganzer Gesetzentwurf vor .
„Respekt!“, dachte ich mir zuerst . Aber ein zweiter Blick
machte mir klar: Es handelt sich um nicht mehr als eine
Kopie des Gesetzes aus Baden-Württemberg; Sie sagten
das ja vorhin selbst .
Sie führten in einem Interview aus:
Wir haben die Regelungen aus Baden-Württemberg
fast durchgängig übernommen .
Ich rate Ihnen: Schreiben Sie doch wenigstens von den
Klassenbesten ab und nicht von Klassenschlechtesten .
– Darauf komme ich noch .
Der Gesetzentwurf hat eine Pflicht zur anteiligen Nut-
zung von erneuerbaren Energien für die Wärmeversor-
gung auch im privaten Gebäudebestand zum Inhalt . Der
Pflichtanteil der erneuerbaren Energien bei der Wärme
soll auf 15 Prozent steigen . Es soll außerdem eine Aus-
dehnung der Verpflichtungen auf den privaten Bereich
und auf Nichtwohngebäude geben, genauso wie eben in
Baden-Württemberg . Ich muss schon einmal sagen: Ver-
suchen Sie erst einmal, Ihre rot-grünen Länderkollegen
zu überzeugen, bevor Sie beim Bund anfangen .
Kein anderes Bundesland hat bisher dieses Gesetz über-
nommen . Aber der Bund soll es machen .
Das entbehrt einer gewissen Logik .
Schaut man sich das Gesetz an, dann gibt es gute
Gründe – wir haben es vorhin schon gehört –, warum
sich niemand diesem Gesetz anschließt . Die Ausdeh-
nung der Nutzungspflicht für erneuerbare Energien auf
den privaten Gebäudebestand ist weder notwendig noch
sachgerecht . In der Praxis kann ein solches Gesetz zu At-
tentismus führen, dadurch, dass die Heizungen noch spä-
ter repariert werden oder noch länger repariert werden,
bevor sie letztlich ausgewechselt werden . Der Umwelt
wäre hiermit ein Bärendienst erwiesen . Die Leute lassen
sich nicht gerne etwas vorschreiben .
Verpflichtungen und Zwang erreichen häufig weniger als
kluge Anreize . Diese richtigen klugen Ansätze werden
Gesetz . Im privaten Gebäudebestand wird der Ausbau
erneuerbarer Wärme durch das Marktanreizprogramm
unterstützt . Im aktuellen Erneuerbare-Energien-Wärme-
Dr. Nina Scheer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14565
(C)
(D)
gesetz ist diese Förderung als zentrales Instrument aus-
drücklich verankert .
Gerade die Kombination aus Erneuerbaren-Energi-
en-Wärmegesetz mit der gesetzlichen Nutzungspflicht
für den Neubau und dem Marktanreizprogramm für den
Bestand hat sich als wirksam erwiesen . Der am 18 . No-
vember von der Bundesregierung verabschiedete Zweite
Erfahrungsbericht zeigt, dass die Instrumente des Geset-
zes wirken . Der Anteil hat sich auf 12,2 Prozent erhöht .
Man kann immer sagen: Das ist zu wenig . Man kann
auch immer die Berechnungsgrundlage kritisieren,
nichtsdestotrotz haben wir einen Anstieg zu verzeichnen .
Wenn es in diesem Bereich in diese Richtung weiter-
geht, dann rechnet die Bundesregierung bis 2020 voraus-
sichtlich mit einem Anteil von 16,3 Prozent der erneuer-
baren Wärme .
Das ist sogar noch höher als der Zielwert von 14 Prozent .
Jetzt können wir trefflich diskutieren, ob es reicht, aber
auf jeden Fall ist zu konstatieren, dass das von Ihnen vor-
geschlagene Gesetz der falsche Weg für ein solches Ziel
wäre .
Schauen Sie einmal auf Bayern statt auf Baden-Württem-
berg .
Hier liegt der Anteil der erneuerbaren Energien im Wär-
mebereich 2014 bei 19,6 Prozent, ganz ohne Gesetz .
Letztlich sind auch die Kosten für die Attraktivität ei-
nes Heizsystems entscheidend .
Das billige Öl und Gas tragen dazu bei, dass Erneuerbare
preislich unattraktiver werden . Das ist übrigens ein Fakt,
den Sie niemals für möglich gehalten haben . Deshalb
müssen wir schauen, dass wir die Erneuerbaren wettbe-
werbsfähig machen, und nicht, dass wir Öl und Gas teu-
rer machen .
Steuern sind auch Anreize . Ich möchte bei dieser Ge-
legenheit auf einen Punkt hinweisen, der die Attraktivität
von erneuerbaren Energien im Wärmebereich unnötig
behindert . 72 Prozent der erneuerbaren Wärme wurden
2014 durch Holz erzeugt . Dies zeigt auch, dass für die
Wärmewende gerade die Biomasse unersetzlich ist . In
Deutschland werden Scheite, Briketts und Pellets bei der
Umsatzsteuer mit dem begünstigten Satz von 7 Prozent
belegt . Das ist auch gut so . Holzhackschnitzel dagegen
werden mit dem normalen Steuersatz von 19 Prozent
belegt, außer sie bestehen überwiegend aus Nadeln und
Rinden und sind so optisch eindeutig als Abfall zu er-
kennen . Das ist nicht nachvollziehbar . Hier sollten wir
ansetzen .
Eine weitere wichtige Komponente der Wärmewende
ist die Geothermie für Fernwärme . Schon heute produ-
zieren viele Versorger ihre Fernwärme umweltschonend
mittels Kraft-Wärme-Kopplung . Hier haben wir einiges
erreicht . Die Umweltbilanz der Fernwärme ist schon jetzt
positiv . Geothermiebasierte Fernwärme ist erneuerbar
und zu 100 Prozent CO2-frei . Die Stadtwerke München
beispielsweise wollen bis zum Jahr 2040 die erste Groß-
stadt rein durch erneuerbare Wärme versorgen . Die große
Kreisstadt Erding spart beispielsweise jährlich 9 Millio-
nen Liter Heizöl durch geothermiebasierte Fernwärme .
Dies sind sinnvolle und innovative Ansätze, die es gilt
zu fördern .
Letztlich brauchen wir also ein Gesamtkonzept aus
Energieberatung, gebäudeindividuellen Sanierungsfahr-
plänen und gesetzlichen Bestandteilen . Genau das wird
erstellt . Genau das ist auch richtig . Ihr Gesetzentwurf
setzt einseitig auf Zwang
anstatt auf Anreize und kann deshalb leider nicht befür-
wortet werden .
Sprechen wir aber gerne auch mehr über die Wärme-
wende
als fundamentalen Bestandteil der Energiewende . Sie
muss stärker ins Blickfeld genommen werden . Wir müs-
sen aber natürlich auch die Effizienzseite anschauen,
beispielsweise bei der steuerlichen Förderung der ener-
getischen Gebäudesanierung . Da haben auch Sie lange
Zeit blockiert .
– Nein, nein, jetzt machen wir da mal keine Geschichts-
fälschung . Es war immer so, und es ist nach wie vor so,
Dr. Andreas Lenz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514566
(C)
(D)
dass Bayern auch einer steuerlichen Förderung gegen-
über offen ist .
Ich komme zum Schluss . Vielleicht sollten wir gera-
de an Weihnachten ein bisschen an diejenigen denken,
die es an Weihnachten überhaupt nicht warm haben . Ich
wünsche allen in diesem Sinne ein schönes Weihnachts-
fest im Warmen, am besten natürlich unter dem Christ-
baum mit erneuerbarer Wärme aus Bienenwachs .
In diesem Sinne herzlichen Dank und schöne Weih-
nachten .
Ganz herzlichen Dank . – Als letzter Redner in der De-
batte hat Klaus Mindrup für die SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle haben uns vor wenigen Tagen über
das Ergebnis des Klimagipfels in Paris gefreut . Aber wir
alle wissen auch, dass die praktische Arbeit erst jetzt be-
ginnt .
– Danke für den Applaus von den Grünen .
– Ihr wart zu schnell . – Wir wissen auch, dass die Minde-
rungspläne, die die Staaten eingereicht haben, überhaupt
nicht ausreichen werden, um das 2-Grad-Ziel zu errei-
chen . Wir wissen also, dass man sich überall in der Welt
anstrengen muss . In Deutschland wollen wir ja Vorreiter
sein . Wir wissen, dass wir uns sehr anstrengen müssen,
um das Ziel von 40 Prozent CO2-Minimierung bis 2020
zu erreichen und erst recht das 95-Prozent-Ziel bis 2050 .
Wenn wir die Begrenzung des Anstiegs der Erderwärm-
ung auf 1,5 Grad anstreben – das wollen wir –, dann müs-
sen für uns in Deutschland 95 Prozent das Ziel sein .
Wir in Deutschland sind ja sehr erfolgreich beim Aus-
bau der Erneuerbaren im Strombereich . Da liegen wir bei
über 33 Prozent . Ich denke, die Erfolgsgeschichte da-
hinter ist, dass es bei den Bürgerinnen und Bürgern eine
hohe Akzeptanz für dieses Vorgehen und auch eine breite
Bürgerbeteiligung gibt . In der Gesamtbilanz liegen wir
deutlich schlechter . Da dürften wir bei ungefähr 14 Pro-
zent liegen, wahrscheinlich auch, weil die Akzeptanz in
den anderen Sektoren nicht so hoch ist .
Dass Sie von den Grünen jetzt sagen, dass wir die Be-
standsgebäude in die Überlegung einbeziehen müssen,
ist von daher richtig .
Die Bundesregierung tut das ja auch im Nationalen Akti-
onsplan Energieeffizienz und in den zahlreichen Förder-
programmen . Auch das ist hier schon deutlich geworden .
Wenn man sieht, dass man 20 Millionen Bestandsgebäu-
de in Deutschland hat, ist es auch richtig, dass man nicht
nur über Neubau diskutiert, sondern auch über die Be-
standsgebäude .
Sie schlagen jetzt vor, dass man das Erneuerbare-Energi-
en-Wärmegesetz auf die Bestandsgebäude überträgt . Die
Diagnose ist ungefähr richtig, aber die Therapie ist leider
falsch .
– Ja, hören Sie sich das einmal an . – Der entscheidende
Fehler, den Sie machen, ist: Sie setzen wieder beim Ein-
zelgebäude an .
Ich bin aber fest davon überzeugt, dass die erfolgreiche
Sanierung immer im Quartier erfolgen muss .
Es gibt dazu unter anderem den Bericht der Töpfer-Kom-
mission beim Deutschen Verband für Wohnungswesen,
Städtebau und Raumordnung . Es gibt aber auch andere
wissenschaftliche Untersuchungen dazu .
Fünf Dinge sind entscheidend:
Sie brauchen ein klares Energiekonzept, wenn Sie so
etwas in den Quartieren umsetzen wollen . Das muss in
ein Stadtentwicklungskonzept eingebunden sein, und die
Akteure vor Ort müssen das umsetzen, seien es Stadt-
werke, Energiegenossenschaften oder auch Wohnungs-
baugesellschaften; Vivawest, habe ich eben gehört, ist da
sehr vorbildlich .
Sie brauchen Sachverständige vor Ort, die eine gute
und unabhängige Beratung durchführen; der sogenannte
Kümmerer-Ansatz .
Man braucht Zeit dafür . Das geht nicht in zwei bis drei
Jahren .
Die Zielrichtung muss zehn Jahre sein .
Dr. Andreas Lenz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14567
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Sie brauchen Anreize, Förderung und natürlich auch
immaterielle Anreize, sprich: Der Nachbar macht es, und
man zieht dann nach .
Sie brauchen auch soziale Akzeptanz sowohl bei Mie-
terinnen und Mietern als auch bei Hauseigentümern, die
zum Teil natürlich auch nicht immer viel Geld haben .
Lassen Sie uns doch einmal anschauen, was bei dem
vorbildlichsten Projekt in Deutschland – das ist die Inno-
vationCity Ruhr, Modellstadt Bottrop – in der Umsetzung
passiert . Dort gibt es im Augenblick eine Sanierungsrate
von durchschnittlich 3 Prozent im Jahr . Das ist dreimal
so hoch wie der Durchschnitt in Deutschland . Sie werden
bis 2020 38 Prozent CO2 einsparen . Die Basis ist hier
nicht 1990, sondern das Jahr 2010 . Das ist enorm gut .
Das ist sozusagen der richtige Ansatz .
Also nicht das Einzelgebäude, sondern das Quartier soll-
ten wir angehen . Wir haben ein Quartiersprogramm, das
wir auch ausweiten; da gehen wir weiter .
Im nächsten Jahr werden wir die Diskussion bekom-
men, wie wir die EnEV und das Erneuerbare-Energi-
en-Wärmegesetz besser verzahnen .
Das hat die Baukostensenkungskommission empfohlen,
aber auch die Konferenz der Bauminister auf Länder-
ebene . Also, das wird sowieso angegangen . Insofern sind
wir hier auf dem richtigen Weg, aber wir müssen das be-
schleunigen .
Ich denke, wir müssen zukünftig auch noch stärker
darüber nachdenken, wie wir die Nutzer – es geht um
das Nutzerverhalten – und die Immobilieneigentümer
mitnehmen können . Die Immobilieneigentümer bekla-
gen sich völlig zu Recht über die steuerliche Diskrimi-
nierung, die sie erleben, wenn sie Strom erzeugen und
diesen zum Beispiel an ihre Mieter verkaufen wollen .
Das muss anders werden .
Wir brauchen zukünftig auch stärker eine ökologische
Gesamtbilanz, sprich: Wir dürfen nicht nur Wärme oder
Kälte betrachten, sondern wir müssen Wärme, Kälte,
Strom und auch den ökologischen Rucksack des Gebäu-
des betrachten . Dann kommen wir weiter .
Der letzte Punkt ist: Ich möchte nicht 15 Prozent er-
neuerbare Energien, wie die Grünen, sondern ich möchte
100 Prozent erneuerbare Energien .
Hier liegen die großen Chancen im Bereich der Photo-
voltaik . Es ist zu überlegen, wie man die Photovoltaik
zukünftig stärker in Quartierskonzepte einbinden kann
und wie die Wärmeversorgung über Wärmepumpen zu
gewährleisten ist . Daneben ist auch der Bereich Elek-
tromobilität sehr wichtig . Denn die zukünftige Welt wird
viel stärker von elektrischer Energie und erneuerbaren
Energien geprägt sein als die augenblickliche Welt .
In diesem Sinne hoffe ich auf weitere konstruktive Be-
ratungen im nächsten Jahr . Ich wünsche Ihnen allen frohe
Weihnachten und ein gutes neues Jahr .
Danke schön .
Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/6885 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Beratun-
gen .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 13 . Januar 2016, 13 Uhr, ein .
Jetzt bleibt mir nur noch, Ihnen allen ein frohes Weih-
nachtsfest, einen guten Rutsch und vor allen Dingen gute
Erholung zu wünschen, damit wir uns hier im Januar froh
und munter wiedersehen .
Die Sitzung ist geschlossen .