Rede von
Dr.
Christoph
Bergner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Bemerkung vorab: Wir alle mögen unsere Staatsmi-
nisterin Monika Grütters . Aber bevor die Sehnsucht nach
ihr den einen oder anderen zu einem Antrag auf Herbei-
zitierung verleiten könnte, will ich sagen: Sie muss im
Moment im Bundesrat das Kulturgutschutzgesetz vertei-
digen . Ich glaube, das ist ein Punkt, den wir respektieren
sollten .
Nun zum vorliegenden Bericht . Seit 1999 vergibt die
Europäische Kommission den Titel Kulturhauptstadt Eu-
ropas, und sie tut es nach der Osterweiterung der Euro-
Ralf Kapschack
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14543
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päischen Union unter bewusster Einbeziehung von nam-
haften Städten unserer östlichen Mitgliedstaaten . Ich darf
einige Städte der letzten Jahre einmal aufzählen: 2007
Hermannstadt, Sibiu, in Rumänien, 2010 Fünfkirchen,
Pecs, in Ungarn, 2011 Tallinn, Reval, in Estland, 2013
Kosice, Kaschau, in der Slowakei, Riga in Lettland letz-
tes Jahr, Pilsen in Tschechien in diesem Jahr und Breslau
in Polen im nächsten Jahr .
Meine Damen und Herren, warum erwähne ich diese
Kulturhauptstädte Europas im Zusammenhang mit der
Diskussion unseres Berichtes? Es sind alles Orte, deren
reiche Geschichte ohne den Beitrag deutscher Kultur
unverständlich und unvollständig geblieben wäre . Es
sind heute Orte europäischer Kultur, deren Wert ohne
den Beitrag der Deutschen im Rahmen der europäischen
Siedlungsgeschichte nicht darstellbar wäre, seien es die
Siebenbürger Sachsen, seien es die Karpatendeutschen,
die Ungarndeutschen, die Baltendeutschen oder im
nächsten Jahr mit Breslau die Schlesier .
§ 96 des Bundesvertriebenengesetzes enthält den Auf-
trag – ich zitiere –:
das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Be-
wusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des
gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu
erhalten, . . .
Wenn wir diesen Auftrag richtig verstehen wollen, so
sollten wir uns klar sein: Es geht darum, dass wir unseren
deutschen Beitrag zu einem gemeinsamen europäischen
Kulturerbe pflegen.
Gerade das kulturelle Erbe der Heimatvertriebenen,
der deutschstämmigen Aussiedler und der deutschen
Volksgruppen im Osten hat oft genug eine Entstehungs-
geschichte und eine Dimension, die ein allein national-
kulturelles Verständnis überschreitet . Es leistet deshalb
innerhalb der EU einen Beitrag zur Entwicklung eines
kulturellen Identitätsbewusstseins, das sich immer we-
niger national und immer mehr europäisch versteht . Die
Förderung nach § 96 Bundesvertriebenengesetz kann
also einen Beitrag leisten, ein vorwiegend national be-
stimmtes Kultur- und Geschichtsverständnis durch ein
europäisches Verständnis abzulösen .
Ich muss in diesem Zusammenhang nicht daran er-
innern, welche Abgrenzungen genau mit einem immer
stärker national verbundenen Kulturverständnis einher-
gingen und wie aggressiver Nationalismus Europa in die
kriegerischen Katastrophen des 20 . Jahrhunderts stürzte .
Die Kenntnis der in Jahrhunderten historisch gewachse-
nen kulturellen Verflechtungen in Europa, gerade in den
deutschen Siedlungsgebieten im Osten, und die daraus
resultierenden Gemeinsamkeiten sind ein kaum zu über-
schätzender Faktor der europäischen Integration .
Ich füge gern persönlich hinzu, dass ich es immer wie-
der für einen problematischen Irrtum halte, dass europä-
ische Integration vor allen Dingen in der Gemeinsamkeit
der Märkte und der Währung gesucht wird . Gemeinsam-
keit, die ein kulturelles Identitätsbewusstsein schafft, aus
dem auch ein europäisches Gemeinwohlverständnis ab-
geleitet werden kann, scheint mir in dem Zusammenhang
wichtig . Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir das An-
liegen des § 96 BVFG sehen .
Zu den Besonderheiten des vorliegenden Berichtes
gehört, dass er – Zitat – „die Zeitmarke von 60 Jahren“
nach Verabschiedung des Bundesvertriebenengesetzes
umfasst . 2013, im 60 . Jahr der Verabschiedung des Bun-
desvertriebenengesetzes, hat der Deutsche Bundestag
eine Resolution beschlossen, in der es heißt – ich darf
zitieren –:
Das Anliegen und die Leistungen des BVFG sind
Teil der Politik der Kriegsfolgenbewältigung durch
die Bundesrepublik Deutschland .
Kriegsfolgenbewältigung, das heißt die Aufarbeitung
des Holocaust, der Folgen der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft sowie des Zweiten Weltkrieges, war
für den Deutschen Bundestag und sämtliche Bundes-
regierungen stets ein zentrales Anliegen . Kriegsfolgen-
bewältigung hat mehrere Aspekte . Von übergeordneter
Bedeutung sind die Leistungen der Versöhnung und
Wiedergutmachung gegenüber den Opfern des Natio-
nalsozialismus und der von Deutschland ausgehenden
Aggressionskriege . Daneben steht die Solidarität mit
den Deutschen, die wegen ihrer Volkszugehörigkeit ein
besonders schweres Kriegsfolgenschicksal erlitten ha-
ben . Das Anliegen des § 96 BVFG liegt ganz wesent-
lich auch in der Aufarbeitung und im Gedenken der Lei-
densgeschichte der Deutschen, die in Reaktion auf die
Verbrechen des Nationalsozialismus allein wegen ihrer
Volkszugehörigkeit Vertreibung, Unterdrückung und
Zwangsassimilation ausgesetzt waren .