Rede von
Sigrid
Hupach
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DIE LINKE.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Zeit, in der das
Thema „Flucht und Vertreibung“ von leidvoller Aktuali-
tät ist, sprechen wir heute über die Förderung der Kultur-
arbeit gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes . Das
bietet die Chance, aus einem alten und an sich überholten
Gesetz Lösungsansätze und Ideen für die Gegenwart zu
entwickeln . Ohne Zweifel stehen die Kommunen aktuell
vor großen Herausforderungen . Viele Menschen suchen
bei uns Zuflucht. Sie müssen mit dem Nötigsten versorgt
werden, ja, aber wir müssen ihnen auch mit Respekt be-
gegnen . Menschenrechte gelten für alle, egal wo .
Ich möchte an dieser Stelle an die erfolgreiche Inte-
gration von 12 Millionen Menschen nach dem Ende der
NS-Herrschaft erinnern und an die 3 Millionen Spätaus-
siedler, deren Integration natürlich auch nicht konfliktfrei
bewältigt wurde . Vor diesem Erfahrungshorizont aber
muss es doch möglich sein, heute 1 Million geflüchtete
Menschen würdevoll in unsere Gesellschaft aufzuneh-
men .
Dies wird aber nur gelingen, meine Damen und Her-
ren, wenn wir unsere Erfahrungen von Integration und
Wiederaufbau nach Ende des Zweiten Weltkrieges kon-
struktiv in die Gegenwart übertragen . Das Bundesvertrie-
benengesetz taugt dazu aber nicht . Zu sehr spricht aus
ihm noch immer der Geist der damaligen Zeit . So wirkt
auch der von Ihnen vorgelegte Bericht entsprechend be-
fremdlich . Gleich unter Punkt 1 heißt es, dass die deut-
sche Kultur im östlichen Europa als verbindendes Ele-
ment für ein gemeinschaftliches Europa anzusehen ist .
Wenn es ein über alle Grenzen hinweg verbindendes
Element in Europa gibt, dann ist es doch die kulturelle
Vielfalt,
das interkulturelle Miteinander oder, so müsste man ge-
nauer sagen, die transkulturelle Verflechtung.
Europa war nie geprägt durch ethnisch oder kulturell
homogene Räume, sondern eben durch kulturelle Viel-
falt . Das gilt auch für alle Gebiete Osteuropas . Erst die
völkische, rassistische und nationalsozialistische Politik
des 19 . und 20 . Jahrhunderts hat sie zu vermeintlich ho-
mogenen Räumen erklärt und durch ethnische Säuberun-
gen und Vertreibungen zu unvorstellbarem Leid geführt .
Betrachtet man die Geschichte dieser Regionen nicht mit
der deutschen Brille, sondern als Geschichte transkultu-
reller Verflechtungen, könnte man mit einer gesamteuro-
päischen Betrachtungsweise eine wirklich differenzierte
Analyse der Geschichte Europas im 20 . Jahrhundert an-
stellen, unter klarer Benennung der Ursachen, und dann
könnte man für die verheerenden Folgen der Ausgren-
zung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Spra-
che oder ihrer Religion sensibilisieren, und man könnte
das Bewusstsein schärfen für ausschließende Prozesse,
die es auch heute gibt .
Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung kann
hierbei einen wesentlichen Beitrag leisten . Das geht aber
nur, wenn die gegenwärtig bestehende Chance zu einem
Neuanfang auch wirklich genutzt wird, wenn die bisheri-
gen Probleme der Stiftung analysiert und auch öffentlich
thematisiert werden . Der vorgelegte Bericht schweigt
sich dazu jedoch aus, obwohl im Berichtszeitraum der
Gründungsdirektor entlassen wurde und es zu einem
Eklat bei zwei Ausstellungen kam . Das verwundert vor
allem, weil es in der letzten Zeit sehr wohl anderslauten-
de Äußerungen vonseiten der Bundesregierung gab . Frau
Staatsministerin Grütters stellte am vergangenen Sonn-
tag im Interview im Deutschlandfunk fest, dass die Stif-
tung an der schwierigen Entstehungsgeschichte krankt .
Das ist eine richtige, aber auch überfällige Erkenntnis .
Ich hoffe sehr, dass Sie nun auch den Mut haben, daraus
die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen .
– Okay . – Die Stiftung muss inhaltlich neu positioniert
werden und die aktuellen Bezüge zu Flucht und Vertrei-
bung aufnehmen .
Die Stiftungsgremien müssen anders zusammengesetzt
werden, ohne die Übermacht des Bundes der Vertriebe-
nen und unter Berücksichtigung aller im Bundestag ver-
tretenen Fraktionen und vor allem unter Einbeziehung
von Vertreterinnen und Vertretern der jüdischen Organi-
sationen, der Sinti und Roma sowie von Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftlern aus Mittel- und Osteuropa .
Die internationale Ausrichtung ist hier unerlässlich .
Nur so kann die Stiftung wirklich der Versöhnung die-
nen, nur so kann die Stiftung das Thema im europäischen
Kontext bearbeiten . Nutzen Sie also die Chance zum
Neuanfang! Unsere Unterstützung haben Sie .
Die Stiftung ist ein gutes Beispiel für einen weiteren
Gedanken, mit dem ich schließen möchte. Früher fiel
die Stiftung unter die Kulturförderung nach § 96 des
Bundesvertriebenengesetzes, seit 2008 aber ist sie beim
Deutschen Historischen Museum angesiedelt . Damit
ist schon der erste Schritt getan, für den sich die Linke
schon in der Enquete-Kommission 2007 starkgemacht
Dr. Christoph Bergner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14545
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hat, nämlich für das Ende der speziellen Kulturförderung
nach § 96 BVFG, für eine Eingliederung in die allgemei-
ne Kulturförderung sowie für die Gründung von multina-
tionalen Stiftungen, in denen neben Bund und Ländern
auch die osteuropäischen Staaten und die Opfergruppen
gleichberechtigte Partner wären .
Wenn sich die Kulturförderung durch einen transkul-
turellen Ansatz und eine gesamteuropäische Betrach-
tungsweise auszeichnen würde, könnten wir einen wirk-
lich nachhaltigen Beitrag zur europäischen Einheit in
Vielfalt leisten .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .