Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! § 96 des Bun-
desvertriebenengesetzes verpflichtet Bund und Länder,
die Kultur und Geschichte jener Regionen im östlichen
Europa zu erforschen und zu sichern, in denen früher
teilweise jahrhundertelang Deutsche gelebt haben oder
heute noch leben . Mehr als 20 Millionen Euro geben wir
jährlich dafür aus . Das geschieht im Interesse unserer
Gesellschaft, und es geschieht auch im Interesse derje-
nigen Menschen, die heute in den historischen Gebieten
wie Ostpreußen, Pommern und Schlesien leben . Für die
Partnerschaft mit unseren osteuropäischen Nachbarn ist
dies von herausragender Bedeutung .
Durch die Förderung werden auch grenzüberschrei-
tende Projekte unterstützt . Das ist im Bericht nachzule-
sen . Der Bericht erfährt auch immer große Zustimmung .
Ein Beispiel: Wissenschaftler am Institut für Kultur und
Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa, kurz: Nord-
ost-Institut, in meinem Wahlkreis in Lüneburg forschen
2016 gemeinsam mit Historikern der Universität Bres-
lau in dem Projekt „Juden und Deutsche im polnischen
kollektiven Gedächtnis“ . Auf dieser gemeinsamen wis-
senschaftlichen Arbeit gedeiht vertrauensvolle Zusam-
menarbeit mit vielen Partnereinrichtungen im östlichen
Europa .
Nicht nur bei der Erlebnisgeneration und ihren Nach-
fahren ist das Interesse an Kultur und Geschichte im öst-
lichen Europa groß, sondern auch bei den jungen Leuten,
bei Schülern, bei Studierenden und bei jungen Wissen-
schaftlern, die sich dem Thema „Flucht und Vertreibung“
heute mit ganz neuen Fragestellungen nähern . Auch in
den ehemals deutschen Siedlungsgebieten, die mittler-
weile überwiegend in den Mitgliedstaaten der EU liegen,
ist das Interesse an deutscher Kultur und Geschichte groß .
Hierin, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt eine große
Chance . Gerade jetzt in der Europakrise können wir über
diesen Kulturaustausch dazu beitragen, dass nicht Ultra-
nationalismus, nicht Abgrenzung und nicht Rassismus
wieder an die Stelle von Partnerschaft, Zusammenarbeit
und Versöhnung treten .
Ich bin überzeugt, dass es die Aufgabe unserer Bundes-
kulturförderung sein muss, einen solch hohen Anspruch
zu verfolgen .
Ich will nicht verschweigen, dass es immer wieder
Kontroversen und Diskussionen um den sogenannten
Kulturparagrafen gab und gibt; denn die kulturpoliti-
schen Anliegen einzelner Interessengruppen wie etwa
der Vertriebenenverbände spielen eine Rolle, wenn es
um die Förderung von Projekten und Einrichtungen geht .
Nach dem von Deutschland entfesselten Zweiten
Weltkrieg haben Millionen von Deutschen ihre Heimat
im Osten verloren . Unsere Gesellschaft hat ihr Schick-
sal bis heute nicht hinreichend gewürdigt, finde ich, und
auch nicht ihren Anteil am Wiederaufbau Deutschlands
nach 1945 .
Auch über das Trauma des Heimatverlustes darf und
muss gesprochen werden . Das ist Teil unserer Geschich-
te .
Jedoch müssen Ursache und Wirkung, der von Nazi-
deutschland verursachte Krieg und die dann folgenden
Fluchtbewegungen in ganz Osteuropa, klar benannt wer-
den . Deshalb darf sich die Kulturförderung nach § 96
Bundesvertriebenengesetz nicht allein an die Deutschen
richten . Die Wechselwirkung mit anderen Kulturen, mit
anderen Ethnien und deren wissenschaftliche Erfor-
schung sowie die Auseinandersetzung damit müssen im
Vordergrund der Förderaktivitäten des Bundes stehen .
Mit der mittlerweile breit akzeptierten „Konzeption
2000“ hat die damalige rot-grüne Bundesregierung die-
se wissenschaftliche und fachliche Professionalisierung
festgeschrieben . Seitdem hat sich Europa aber deutlich
verändert: 2004 sind Estland, Lettland, Litauen, Polen,
die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn der
EU beigetreten, 2007 Rumänien und Bulgarien und 2013
Kroatien, also Länder, in denen zum Teil ehemals von
Deutschen besiedelte Regionen liegen .
Genau deshalb haben sich SPD und CDU/CSU in ih-
rem Koalitionsvertrag darauf verständigt, die Förderung
des kulturellen Erbes der Deutschen im östlichen Euro-
pa als Beitrag zur kulturellen Identität Deutschlands und
Europas zu würdigen und mit dem Ziel verstärkter euro-
päischer Integration die „Konzeption 2000“ anzupassen
und weiterzuentwickeln . Einige kritische Anmerkungen
und Hinweise zu diesem Prozess der Weiterentwicklung
in Richtung Kulturstaatsministerin Grütters kann ich,
auch wenn wir kurz vor Weihnachten sind, nicht vermei-
Sigrid Hupach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514546
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den, auch wenn sie leider noch nicht hier ist: Die BKM
hatte zugesagt, Eckpunkte zur Anpassung der Förder-
konzeption noch vor der Sommerpause 2015 vorzulegen .
Aber erst im November wurde uns ein ausformulierter
Diskussionsentwurf vorgelegt . Dann musste es plötzlich
ganz schnell gehen . Mit Verweis auf die Haushaltsan-
meldungen für 2017 wurde großer Zeitdruck aufgebaut .
Ein zuvor verabredeter Zeitplan wurde nicht eingehalten,
möglicherweise in der Hoffnung – das könnte man ver-
muten –, die SPD würde das Papier einfach so durchwin-
ken. Ich finde, so geht das nicht. Dieses Vorgehen ist für
uns nicht akzeptabel .
Es ist vor allen Dingen deshalb nicht akzeptabel, weil das
vorgelegte Papier aus unserer Sicht sehr diskussions- und
kritikwürdig ist und einen unzeitgemäßen Duktus enthält .
Der im Koalitionsvertrag formulierte Auftrag ist ein-
deutig: Die Kulturförderung nach § 96 Bundesvertriebe-
nengesetz soll dem veränderten europäischen Kontext
angepasst werden . Zugleich muss es eine Öffnung geben,
hin zu neuen Zielgruppen, zu den nachfolgenden Genera-
tionen und zur Gesamtgesellschaft . Die Förderung nach
§ 96 BVFG hat einen gesamtstaatlichen Auftrag . Sie
richtet sich nicht ausschließlich an die Vertriebenenver-
bände und ihre Landsmannschaften, aber auch an diese,
weil die Arbeit dieser Verbände und ihrer einzelnen Mit-
glieder für die Verständigung und Vermittlung mit den
Nachbarn in Osteuropa auf zivilgesellschaftlicher Ebene
unheimlich wichtig ist . Das Klima, das dadurch geschaf-
fen wird, brauchen wir . Es ist unverzichtbar für ein bes-
seres Verständnis zwischen den benachbarten Völkern
der EU .
Ich will daher eindrücklich an die Kulturstaatsministe-
rin Grütters appellieren, im anstehenden Abstimmungs-
prozess darauf zu achten, dass die Anpassung der Förder-
konzeption diesem Anspruch gerecht wird .
Nur so erfüllt sie einen gesamtstaatlichen Auftrag, und
letztendlich sind auch nur so die erheblichen Mittel in
Höhe von über 20 Millionen Euro jährlich zu rechtferti-
gen . Das ist ein Thema, das uns allen wichtig ist und das
die ganze Gesellschaft etwas angeht .
Das gilt im Übrigen auch für die Stiftung Flucht, Ver-
treibung, Versöhnung, die den Auftrag hat, das Thema
„Zwangsmigration im 20 . Jahrhundert“ im europäischen
Kontext aufzuarbeiten . Es wird im Ausland sehr genau
darauf geachtet, wie wir in Deutschland mit diesem The-
ma umgehen .
Das Thema „Flucht und Vertreibung“ ist ja aktueller
denn je . Staatsminister Michael Roth hat in einem Arti-
kel in dieser Woche sehr richtig geschrieben, dass allein
durch den Blick zurück Wunden und Narben von Flucht
und Vertreibung nicht verheilen . Nur indem wir heute
eine Erzählung finden, die die nächste Generation und
ihre persönlichen Erfahrungen mit diesem Thema an-
spricht, ist und bleibt die Stiftung wichtig und rechtfer-
tigt die erheblichen Bundesmittel .
In den letzten Monaten wurde wegen der gescheiter-
ten Neubesetzung mit einem Direktor erneut negativ über
die Stiftung berichtet . Dabei hat die Stiftung gutes Po-
tenzial, und sie hat gutes Personal . Damit sie dieses gute
Potenzial aber entfalten kann, muss sie dahin rücken, wo
sie hingehört: in die Mitte der Gesellschaft .
Es wäre ein mehr als positives Signal, wenn wir den
Stiftungsrat erweitern und weitere Gruppen zur Mitarbeit
einladen würden, über die Vertreter der Bundesregierung,
der Regierungsfraktionen, der beiden Kirchen, des Zen-
tralrats der Juden und der größten Gruppe, des Bundes
der Vertriebenen, hinaus . Ich bin sicher, dass eine breitere
Basis dazu beitragen kann, die Stiftung gut aufzustellen
und von alten, einseitigen und meist negativen Zuschrei-
bungen wegzukommen .
Denn neben der Dauerausstellung, für die nun endlich
das Drehbuch entwickelt werden muss, brauchen wir
jetzt eine Direktorin oder einen Direktor und einen Wis-
senschaftlichen Beirat, damit die Stiftung zum Laufen
kommt . Sie muss endlich durch gute Arbeit und durch in-
teressante Veranstaltungen auf sich aufmerksam machen
und nicht länger durch negative Schlagzeilen . Auch hier,
liebe Frau Grütters – in Abwesenheit –, sind Sie gefor-
dert, in den nächsten Tagen und Wochen die Situation
zu klären und zu befrieden . Der SPD ist diese Stiftung,
die wir gemeinsam in der letzten Großen Koalition be-
gründet haben, wichtig . Doch unsere Geduld ist auch hier
endlich .
Ich danke für die Aufmerksamkeit und wünsche allen
schöne Weihnachtstage .