Rede von
Dr.
Valerie
Wilms
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wieder ist ein Jahr vorbei .
Woran merken wir das? Wir haben mal wieder das The-
ma Nachhaltigkeit auf der Tagesordnung des Plenums,
und das zu prominenter Stunde, in der sogenannten Kern-
zeit . Das scheint mir fast eine vorweihnachtliche Tradi-
tion zu werden . Kollege Lenz, Kollege Träger, Kollegin
Menz, vielleicht schaffen wir das nächstes Jahr ja auch
wieder . Gucken wir mal .
Dr. Andreas Lenz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14517
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Viele sind heute gekommen, um zuzuhören . Das ist
etwas Neues . Das haben wir bei Nachhaltigkeitsthemen
sonst nicht unbedingt . Das Auditorium ist zwar nicht so
groß, wie wenn wir über ein riesiges Streitthema debat-
tieren, aber es sind doch eine ganze Menge Abgeordnete
da .
Nachhaltigkeit ist also nicht länger ein kleines Ni-
schenthema, um das sich eine Handvoll Leute kümmert .
Nein, Nachhaltigkeit geht uns alle an, werte Kolleginnen
und Kollegen . Generationengerechtigkeit, Lebensqua-
lität, sozialer Zusammenhalt und internationale Verant-
wortung – wer sich von diesen Themen überhaupt nicht
angesprochen fühlt, möge die Hand heben . Der Nachhal-
tigkeitsgedanke ist so allumfassend, dass eben jeder und
jede betroffen ist .
Mit der Verabschiedung der 17 globalen Nachhaltig-
keitsziele, der schon mehrfach angesprochenen SDGs,
und dem wegweisenden Klimavertrag von Paris – Frau
Hendricks, herzlichen Dank – bekommt die Nachhaltig-
keitspolitik neuen Schwung . Beide Verträge bedeuten
Umsetzungsanstrengungen, auch hierzulande .
Frau Hendricks, daran mangelt es noch massiv . Vielleicht
sollten Sie Ihren Koalitionspartner ein bisschen einnor-
den, wenn ich das als Norddeutsche einmal so sagen darf .
Der Zug fährt, und er fährt in die richtige Richtung .
Jetzt muss man nur noch einsteigen . Deswegen möchte
ich die Bundesregierung bitten, nicht nur mitzufahren
und im Bordrestaurant über das gute Leben zu sinnie-
ren – dazu später noch ein bisschen mehr –; nein, sie soll
vorne Platz nehmen und den Zug mit steuern . Das wäre
ihre Aufgabe .
Die Voraussetzungen dafür sind durchaus gut . Wir ha-
ben bereits seit 2002 – Herr Kauder, daran sollten auch
Sie sich einmal zurückerinnern; Sie sind ja lange genug
dabei –
eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie . Wir haben eine
Kanzlerin – da spreche ich jetzt auch die Union an –, die
sich auch einmal als „Klimakanzlerin“ bezeichnet hat .
Das scheint ihr bei der nationalen Umsetzung der Kli-
mapolitik aber leider öfter zu entfallen . Irgendwie ist das
verloren gegangen .
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich mache mir gro-
ße Sorgen, dass sich die Bundesregierung hier verzettelt .
Die Nachhaltigkeitsstrategie soll nächstes Jahr fortge-
schrieben und an die sogenannten SGDs angepasst wer-
den . So weit, so gut .
Die Regierung hat sich dazu ein aufwendiges Prozedere
ausgedacht: Es gibt Regionalkonferenzen . Bürgerinnen
und Bürger und die Zivilgesellschaft können sich vor Ort
oder im Netz einbringen . Das klingt so weit gut .
Aber irgendwie kenne ich das . Das gleiche aufwendi-
ge Prozedere gibt es noch ein zweites Mal: bei der so-
genannten Gut-Leben-Strategie . Hier gibt und gab es
100 Bürgerdialoge und eine aufwendige, wissenschaft-
lich begleitete Auswertung . An deren Ende soll stehen –
ich zitiere von der Homepage der Bundesregierung –:
Die gewonnenen Erkenntnisse münden in Indikato-
ren für Lebensqualität, an denen sich die Bundesre-
gierung künftig orientieren wird . Ein Bericht wird
über den Stand sowie die Entwicklung von Lebens-
qualität in Deutschland Auskunft geben .
Das kommt Ihnen bekannt vor? Ja, mir auch, liebe Bun-
desregierung . Aufwachen und nicht weiter Geld ver-
plempern! Das alles gibt es bereits seit 2002 .
Das nennt sich nämlich Nachhaltigkeitsstrategie . Die
hätten Sie nur regelmäßig anwenden und aktualisieren
müssen . Die Indikatoren der Nachhaltigkeitsstrategie
und einen Bericht über deren Entwicklung finden Sie alle
zwei Jahre in einer schönen Veröffentlichung des Statisti-
schen Bundesamtes mit dem Titel „Nachhaltige Entwick-
lung in Deutschland“ . Ich habe sie einmal mitgebracht;
die anderen Kollegen haben sie ja noch nicht gezeigt .
Dies ist Anlass unserer heutigen Debatte . Der Parlamen-
tarische Beirat für nachhaltige Entwicklung bewertet den
Bericht und die Entwicklung der Indikatoren . Er mahnt
Verbesserungen an und zeigt, wo Konzepte und Verände-
rungen nötig sind – das alles übrigens im Konsens und
in guter Zusammenarbeit mit allen Fraktionen, wofür ich
mich an dieser Stelle herzlich bedanke; das klappt näm-
lich wirklich toll .
Auch wenn es ein mühsamer Prozess ist, schaffen wir
es, sozusagen die größte Schnittmenge, die wir hier im
Haus finden können, darzustellen, und das abseits allen
Tagesstreits .
Der Indikatorenbericht zeigt auf den ersten Blick, dass
noch lange nicht alle Ziele erreicht sind; manche sind
nicht einmal auf einem guten Weg . Beispiel: Güterver-
Dr. Valerie Wilms
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 201514518
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kehr . Er wurde von Herrn Lenz ja schon angesprochen;
ich gehe damit noch ein bisschen härter um . Eine Verla-
gerung weg vom Lkw hin zu Schiene oder Wasserstraße
hätte positive Umweltauswirkungen . Insbesondere im
Hinblick auf die Klimakonferenz in Paris ist die bessere
Umweltbilanz von Schiene und Wasserstraße ein wichti-
ger Faktor . Leider stagnieren beide Werte, bzw . sie ent-
wickeln sich rückläufig. Die gesetzte Zielmarke ist also
weit, weit entfernt . Da müssen wir ran .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ich frage mich
schon: Was sind die Ziele eines Berichts zum sogenann-
ten guten Leben? Wohin führt uns ein weiteres Indikato-
renset? Soll da nur die Doppelarbeit der Enquete-Kom-
mission aus der letzten Wahlperiode fortgesetzt werden?
Machen Sie hier etwa vorgezogene Wahlwerbung mit
Steuermitteln? Die Gefahr der Doppelung verschiede-
ner Indikatoren mit der Nachhaltigkeitsstrategie ist recht
hoch . Was ist, wenn sich die Indikatoren gegenseitig
widersprechen? Nach Planung der Bundesregierung be-
kommen wir im Sommer 2016 einen Bericht und einen
Aktionsplan für das sogenannte gute Leben .
Im Herbst 2016 kommt dann die Fortschreibung der
Nachhaltigkeitsstrategie, ebenfalls mit neuen Indikato-
ren .
Verstehen Sie mich nicht falsch: Bürgerbeteiligung ist
begrüßenswert; wir Grünen stehen voll dahinter .
Auch das Messen politischer Ziele und deren tatsächliche
Durchsetzung sind eine gute Sache . Ich frage mich aber:
Warum werden mit so großem Aufwand immer wieder
neue Strategien und Konzepte erarbeitet?
Warum konzentriert man sich nicht einfach einmal auf
die Umsetzung bereits etablierter Konzepte? Oder muss
jede neue Koalition, Herr Kauder, immer wieder das Rad
neu erfinden, nur damit es etwas Neues gibt?
Die Nachhaltigkeitsstrategie ist wirklich nicht neu und
im Kanzleramt als zentraler Regierungsstelle definitiv
verankert . Trotzdem bekommen wir im Beirat heute im-
mer noch häufig Gesetzentwürfe, aus denen klar hervor-
geht, dass die Existenz dieser Strategie nicht bis in alle
Äste der Regierung vorgedrungen ist .
Die Nachhaltigkeitsprüfung in den Gesetzen wird bes-
ser . Dafür möchte ich mich an dieser Stelle einmal bei
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Ministeri-
en bedanken .
Aber sie ist immer noch nicht überall bekannt . Deshalb
sollten wir unsere Energie auf das Vorhandene verwen-
den . Wir müssen die Nachhaltigkeitsstrategie ernst neh-
men und mit Leben füllen,
statt immer wieder neue Strategien ins Leben zu rufen
und planlos nebeneinanderzustellen . Das vernebelt und
verwirrt nämlich nur . Nachhaltigkeitspolitik muss aber
genau das Gegenteil erreichen: Wir müssen klarer sehen,
was wir mit unserer heutigen Politik in der Zukunft an-
richten . Das ist die entscheidende Frage . Deswegen lau-
tet meine eindeutige Aufforderung: etwas weniger PR
für diese Wohlfühlkoalition und etwas mehr klassisches
politisches Handwerk .
In diesem Sinne sollten wir schauen, dass wir gut ins
nächste Jahr kommen, und uns dann wieder hier zu die-
sem Thema treffen .
Herzlichen Dank .