Rede von
Ulle
Schauws
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir über Vertriebenenpolitik sprechen,
müssen wir vor allen Dingen über die Kontroverse spre-
chen, über die die Kollegin Lotze gerade schon gespro-
chen hat, nämlich: Seit Jahren schlägt die Debatte um die
Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung hohe Wellen;
sie sorgt immer wieder für Unruhe .
Wir müssen über diese Stiftung deswegen sprechen,
weil viele zentrale Fragen weiterhin unbeantwortet sind:
Wer wird die Stiftung, die jetzt seit einem Jahr keine
Direktorin bzw . keinen Direktor hat, zukünftig leiten?
Wann wird die dringend notwendige konzeptionelle Neu-
aufstellung endlich realisiert? Hierauf warten wir bereits
seit Jahren . Warum ist die Zusammensetzung des Stif-
tungsrates nicht schon längst verändert worden?
Antworten auf diese zentralen Fragen bekommen wir
bisher keine, von der Bundesregierung zumindest nicht .
Hiltrud Lotze
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 147 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . Dezember 2015 14547
(C)
(D)
Stattdessen bekommen wir schlechte Nachrichten, und
zwar aus den Medien . Es wird über endlose Personalque-
relen berichtet . Es ist die Rede von mehr Belastung als
Versöhnung, von einem würdelosen Spiel der BKM-Cha-
ostruppe .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen genauso gut
wie ich, wie schlecht solche Berichte für uns sind, gerade
auch aus internationaler Perspektive .
So wird die Stiftung ihrem Zweck, einen Beitrag zur
Versöhnung und Verständigung zu leisten, mitnichten
gerecht .
Aber ich sage Ihnen: Gerade jetzt, in Zeiten, in de-
nen das Thema „Flucht und Vertreibung“ viele Menschen
bewegt und ein beispielloses gesellschaftliches Engage-
ment für Geflüchtete stattfindet, sollten nicht endlose
Konflikte im Mittelpunkt stehen, sondern die Chancen
der Stiftung . Sie könnte, wenn sie denn neu aufgestellt
wird, zu einem wichtigen Ort des Dialogs und der Auf-
klärung werden . Dafür ist allerdings ein entschiedenes
Handeln der Bundesregierung erforderlich .
Meine Damen und Herren, was muss für einen ernst-
gemeinten Neuanfang alles getan werden? Es braucht
eine Stiftungsleitung, die als dialogfähige Friedensstifte-
rin nach vorne in die Zukunft schaut und nicht zurück . Es
ist die Aufgabe der Kulturstaatsministerin, hier endlich
eine passende Person zu finden.
Es braucht eine neue Zusammensetzung des Stiftungsra-
tes . Alle Gruppen – alle, die von Flucht und Vertreibung
betroffen sind – sollten hier vertreten sein, also auch der
Zentralrat der Sinti und Roma und natürlich auch Vertre-
terinnen und Vertreter von Migranten- und Flüchtlingsor-
ganisationen . Dieser Schritt ist längst überfällig .
Was wir vor allem endlich brauchen – angesichts der
aktuellen Flüchtlingssituation umso mehr –, ist eine in-
haltliche Neukonzeption der Stiftungsarbeit . Weltweit
sind Millionen von Menschen vertrieben und auf der
Flucht . Sie versuchen, ein neues Leben in Freiheit und
Sicherheit zu finden. Sie suchen Schutz vor Krieg. Die
Menschen, die zu uns kommen, darunter viele junge
Leute, werden unsere Gesellschaft nachhaltig verändern .
Die Geschichte von Flucht und Vertreibung kann deshalb
nicht ohne diesen aktuellen Bezug verstanden werden –
und umgekehrt . Die Stiftung sollte deshalb ihren Fokus
erweitern und die Aufarbeitung der Vergangenheit mit
Impulsen für Versöhnung und Austausch heute verknüp-
fen .
Flucht und Vertreibung und die Aufnahme von Milli-
onen von Menschen – das ist nichts Neues für uns . Jeder
und jede Dritte in Deutschland kommt aus einer Fami-
lie, in der Angehörige vertrieben wurden. Ich finde, hier
bietet sich eine riesige Chance für den Dialog zwischen
Menschen aus unterschiedlichen Generationen und Kul-
turen und für Begegnungen auf Augenhöhe . Denn vie-
le ältere Menschen erinnern sich aktuell an ihre eigene
Fluchterfahrung. Viele möchten deshalb Geflüchtete un-
terstützen und ihre Erfahrungen an junge Menschen wei-
tergeben . Gerade die eigene Vertreibungsgeschichte führt
doch zu viel Empathie gegenüber denjenigen, die jetzt zu
uns kommen .
Junge Menschen verbinden mit dem Thema Flucht
jetzt vor allem die aktuelle Situation in Syrien . Ihr Inte-
resse an einer Auseinandersetzung mit den Ursachen für
Flucht und Vertreibung in der Vergangenheit kann durch
den Bezug zur aktuellen Situation geweckt werden . Da-
für braucht es aber ein Zentrum, das Flucht und Vertrei-
bung über die singuläre Leidensgeschichte einzelner
Völker hinaus als Phänomen aufzeigt, das alle betrifft .
Nur so kann die Stiftung zu einem Forum werden, in dem
über Mechanismen von Terror, Krieg und Nationalismus
aufgeklärt wird – in Geschichte und in Gegenwart . Im
besten Fall könnte so das Erlebte Generationen und Her-
kunft verbinden . Es kann vielleicht sogar zu einem Ort
werden, in dem so etwas wie gelebte Humanität vermit-
telt wird .
Ich möchte die Frau Kulturstaatsministerin ausdrück-
lich auffordern, beim Thema „Stiftung Flucht, Vertrei-
bung und Versöhnung“ die bisher verpassten Chancen
für einen ernstgemeinten Neuanfang endlich zu ergreifen
und nicht erneut wieder verstreichen zu lassen .
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine friedvolle
Zeit .