Gesamtes Protokol
Guten Morgen, mei-
ne Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesord-
nungspunkt 1 a bis c – fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für
das Haushaltsjahr 2000
– Drucksache 14/1400 –
Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung Finanzplan des Bundes 1999 bis 2003
– Drucksache 14/1401 –
Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß
c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Sanierung des
Bundeshaushalts – Haushaltssanierungsgesetz
– Drucksache 14/1523 –
Überweisungsvorschlag:HaushaltsausschußInnenausschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuß für GesundheitAusschuß für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuß für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung
Ich erinnere daran, daß wir gestern für die heutige
Aussprache insgesamt zwölf Stunden beschlossen ha-
ben.
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des
Bundeskanzleramtes. Das Wort hat der Kollege Wolf-
gang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Wolfgang Schäuble (von der
CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine Debatte über die
Grundrichtung deutscher Politik – Sinn der sogenannten
Generalaussprache zum Kanzleretat – fällt in diesem
Jahr ein wenig schwer, weil eine konsistente Grund-
richtung der Politik Ihrer Regierung, Herr Bundeskanz-
ler, nicht erkennbar ist.
Einem Zickzackkurs, gebrochenen Versprechungen
und markigen Ankündigungen folgte nur heiße Luft. In-
zwischen sind Sie überwiegend mit der Korrektur Ihrer
Fehler aus den ersten Monaten Ihrer Regierungszeit be-
schäftigt. Inszenierungen und wohlklingende Begriffe
gab es eine Menge. Das ist wahr. Aber leider blieben sie
ohne Substanz. „Innovation und soziale Gerechtigkeit“
war die Überschrift Ihrer Koalitionsvereinbarung. Jetzt
kürzen Sie die Ausgaben für Forschung und Bildung im
Bundeshaushalt und die Investitionen und nennen das
„Zukunftsprogramm“. Statt soziale Gerechtigkeit zu
schaffen, manipulieren Sie die fällige Rentenanpassung
und nehmen den kleinen Leuten ihre 630-Mark-Jobs
weg. Die Arbeitslosigkeit steigt.
– Ich weiß nicht, wie man als Sozialdemokrat lachen
kann, wenn Hunderttausende von Menschen ihre Jobs
verloren haben und die Arbeitslosigkeit in Deutschland
wieder steigt.
Rückschritt und Verunsicherung sind das Ergebnis,
nicht Aufbruch. Es gibt eine tiefe Enttäuschung quer
durch alle Altersschichten und alle Regionen in
Deutschland. Die Wähler laufen Ihnen in Scharen
davon. Das ist aus unserer Sicht nicht das Schlimmste.
Nach dem Debakel bei der Europawahl am 13. Juni
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Ich habe verstanden“. Drei Monate später kann nie-
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mand erkennen, was Sie eigentlich verstanden habenwollen.
Jetzt heißt es: Augen zu und durch.Neue Gremien und Posten wurden geschaffen. HerrStruck redet jetzt öfter mit seinem parlamentarischenGeschäftsführer.
Herr Schmidt hat dazu eine Presseerklärung abgegeben.Aber die Menschen, Herr Bundeskanzler, wollen keineneuen Gesprächszirkel. Sie wollen, daß sich etwas an Ih-rer Politik ändert.
Sie selbst erwarten offenbar gar nicht mehr, daß sichdie Dinge durch Regierungshandeln noch zum Besserenwenden. Wie sonst wäre es zu erklären, daß Herr Münte-fering, nachdem er in gut zehn Monaten als Verkehrs-und Bauminister nichts bewirkt hat, schon in die SPD-Zentrale zurückbeordert wird, um den Wahlkampf fürdas Jahr 2002 vorzubereiten? Es ist noch nicht einmalein Jahr der Legislaturperiode vergangen, schon fällt Ih-nen nichts anderes mehr ein, als den nächsten Wahl-kampf vorzubereiten. Deutlicher kann eine Politik ohneSubstanz nicht beschrieben werden.
Herr Bundeskanzler, die Menschen, die Ihnen vor ei-nem Jahr ihr Vertrauen schenkten, haben das nicht er-wartet, und unser Land hat das nicht verdient. Die Ver-unsicherung von Investoren, Unternehmern, Arbeit-nehmern und Verbrauchern hat zu einem Abbruch deswirtschaftlichen Aufschwungs geführt. Die Zahl derArbeitslosen, die noch im letzten Jahr von Januar bisSeptember saisonbereinigt um 400 000 zurückging,steigt seit März saisonbereinigt wieder an. Dabei kommtIhnen noch zugute, daß mehr Ältere aus dem Erwerbs-leben ausscheiden, als Jüngere eintreten. Es war einverlorenes Jahr, nicht nur für die Arbeitslosen inDeutschland.
Man kann genau merken, daß das Thema Arbeits-markt und das Thema Arbeitsplätze bei Ihnen in jüngsterZeit nicht mehr vorkommen. Der Haushaltsentwurf fürdas Jahr 2000 ist Ausdruck dieser Politik: große Ankün-digungen und wenig Substanz.30 Milliarden DM sollen gespart werden, weil Eichelund Schröder plötzlich die öffentliche Gesamtver-schuldung als Problem erkannt haben wollen. In Wahr-heit handelt es sich schon wieder um eine gigantische Ir-reführung. Von 1993 bis 1998 sind die Ausgaben imBundeshaushalt nicht angestiegen. Aber in diesem Jahr,1999, haben Sie sie um 30 Milliarden DM erhöht. Da-von soll jetzt nur ein Teil wieder zurückgeführt werden.Das ist die Substanz.
Herr Eichel, Sie haben gestern und in der letzten Wo-che lange genug geredet, ohne zu erläutern, von welcherAusgangszahl Sie eigentlich 30 Milliarden DM einspa-ren wollen. Die mittelfristige Finanzplanung der Regie-rung von Helmut Kohl und Theo Waigel kann nicht derBezugspunkt sein; denn Ihr Ausgabenplafond liegt fürdas Jahr 2000 um 9 Milliarden DM höher, als er in dermittelfristigen Finanzplanung der früheren Regierunglag. Gegenüber dem Haushalt 1999 sinken die Ausgabenim nächsten Jahr gerade einmal um 7,5 Milliarden DM,sie liegen also um 22,5 Milliarden DM höher als 1998,und 1998 waren sie bei uns so hoch wie 1993. Das istdie Substanz. Wovon wollen Sie 30 Milliarden DM ein-sparen? Das ist bis heute nicht erklärt.
Natürlich muß eine Gesamtverschuldung von 1,5 Bil-lionen DM ernst genommen werden.
Aber man muß sie auch ins Verhältnis zu einemVolkseinkommen von annähernd 4 Billionen DM set-zen. Das Volkseinkommen betrug übrigens beim Amts-antritt von Helmut Kohl 1982 knapp 1,6 Billionen DM.Die Überwindung der Folgen von Teilung und sozialisti-scher Diktatur in der ehemaligen DDR von 40 Jahren isteine Investition in die gemeinsame Zukunft der Deut-schen.
Die Finanzierung solcher Investitionen kann nichtanders als über eine Generation verteilt werden. Darüberwaren sich 1990 bei der Wiedervereinigung, 1991 beimSolidarpakt und 1995 beim föderalen Konsolidierungs-programm Bund und Länder einig, wobei die Länderpeinlich genau darauf geachtet haben, daß das meistevom Bund zu tragen war. Zugegeben, es waren alleLänder.
Die SPD-geführten Länder hatten im Bundesrat dieMehrheit und waren die Wortführer. Die damalige Poli-tik jetzt zu beklagen ist schon ein Stück aus dem Toll-haus.
Im übrigen haben Sie alle weitergehenden Sparvor-haben in den letzten Jahren mit Ihrer Mehrheit im Bun-desrat blockiert. Herr Eichel, ich finde, der Brandstiftersollte sich wenigstens nicht um das goldene Feuerwehr-zeichen bemühen.
Dr. Wolfgang Schäuble
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Wenn man genauer hinschaut, dann erkennt man, daßvon den 30 Milliarden DM auch sonst nicht viel übrig-bleibt. Ich denke zum Beispiel an die Einsparungendurch die Kürzung fiktiver Erhöhungen, etwa im öffent-lichen Dienst. Michael Glos hat die Geschichte von demRabbiner, der hinter der Straßenbahn herlief und gesagthat, er habe gespart, woraufhin ihn die Frau gescholtenhat, daß er, wenn er hinter dem Taxi hergelaufen wäre,mehr gespart hätte, schon einmal erzählt. Etwa so ist Ih-re Finanzpolitik.
Verschiebungen in Milliardenhöhe zu Lasten derKommunen, der Länder und der Sozialversicherungenentlasten im Ergebnis weder die Wirtschaft noch dieSteuer- und Abgabenzahler, und sie ändern auch nichtsan der öffentlichen Gesamtverschuldung.Sparen tut not, das ist unstreitig. Wenn auch Sie jetztendlich zu dieser Erkenntnis gekommen sind, kann iches nur begrüßen.
– Ich habe doch die Debatten der letzten Jahre noch inErinnerung. Wir als Union werden uns jedenfalls wederim Bundestag noch im Bundesrat verweigern.
Aber Sparen muß man richtig machen. Damit sind wirbeim Grundmangel Ihrer Politik: Sie können es nicht.Die Menschen wissen um die Notwendigkeit sparsa-men Wirtschaftens. Die Menschen wissen auch um denschnellen Wandel der wirtschaftlichen, sozialen undpolitischen Verhältnisse durch Veränderungen der Ar-beitswelt und der Erwerbsbiographien, durch die Globa-lisierung oder die Revolution der Informations- undKommunikationssysteme. Deswegen sind die Menschenauch zu Veränderungen bereit. Aber sie brauchen Haltund Richtung. Wandel schafft immer auch Verunsiche-rung. Wer in Panik gerät, klammert sich fest. Deshalbsind Verläßlichkeit und Vertrauen Grundlage für Re-formen und Innovationen. Wortbruch und Substanzlo-sigkeit zerstören Reformbereitschaft und Integrationsfä-higkeit.Dagegen helfen die schönsten Papiere nicht, auchnicht das von Schröder und Blair, von dem man jetzt –das ist auch wieder typisch – sagt, es gelte nicht fürdeutsche Politik, sondern es sei für europäische Diskus-sionen gedacht. Leben wir denn außerhalb Europas?
Das Grundproblem bleibt, ja es stellt sich in der mo-dernen Welt dringender: Wie bleiben wir in all denweltweiten Entwicklungen gemeinschaftsfähig? Wiekönnen wir die Rahmenbedingungen so gestalten, daßFreiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde für alle undjeden gesichert werden, daß jeder teilhat? Jeder wird ge-braucht, und niemand darf ausgegrenzt bleiben. Dasbraucht Maß und Mitte. Das braucht Freiheit und Ver-antwortung, Vielfalt und Ausgleich. Dazu müssen wirdie Kräfte der Menschen nutzen: ihre Leistungsbereit-schaft, ihren Fleiß, ihre Hingabe und Tüchtigkeit, ihreVerantwortlichkeit, ihre Zuwendung zum Nächsten, ihrePhantasie, ihre Kreativität, ihre Hilfsbereitschaft undFlexibilität. Das Potential ist vorhanden. Wenn wir unsüber Werte und Ziele verständigen, können wir dasPotential nutzen. Aber nichts davon ist in Ihrer Politikzu finden. Sie spalten und verunsichern. Das Ergebnisist Stillstand und Resignation statt Mut zur Zukunft.
Wir haben, um ein Beispiel zu nennen, in Deutsch-land ein ausgewogenes Verhältnis zwischen städtischenBallungszentren und ländlichen Räumen. Das gehört zuden großen Vorzügen unseres Landes, und es ist für einso dicht besiedeltes Land ein Segen. Aber ohne eine le-bensfähige Landwirtschaft gibt es keinen lebensfähigenländlichen Raum.
Deshalb ist Ihre Politik, die doch im Doppelschlag vongescheiterter Reform der europäischen Agrarpolitik aufdem Berliner Gipfel
und nun dramatischen Kürzungen im Agrarhaushalt denBauern durchschnittliche Einkommenseinbußen in Höhevon 20 Prozent und mehr ohne jede Zukunftsperspektivezumutet, nicht nur eine Politik gegen die Bauern – daswird Sie wahrscheinlich weniger stören, weil die BauernSie ja nicht gewählt haben, was für Sie der ausschlagge-bende Gesichtspunkt ist –, sondern zugleich eine Politikgegen die Stabilität unserer regionalen Struktur.
Sparsam Wirtschaften heißt eben Hegen und Pflegen.Sie zerstören Strukturen, und daraus wird keine Zukunft.Beim Aufbau einer leistungsfähigen Verkehrsinfra-struktur in Ostdeutschland kürzen Sie, Investitionenfahren Sie zurück.
Das ist nicht nur Wortbruch, das erschwert die Zukunft,weil wir in Deutschland insgesamt um so besser voran-kommen, je schneller der Rückstand aus Teilung undSozialismus überwunden wird.
Die Investitionsquote fällt in den nächsten Jahren aufeinen bisher nicht gekannten Tiefstand. Das erinnertmich an einen schwäbischen Bauern – jetzt erzähle icheinmal eine eigene Geschichte, damit ich nicht nur dievon Michael Glos erzähle –, der eine Geiß hatte, die ihmMilch lieferte. Soweit war alles in Ordnung. Es hat ihnbloß geärgert, daß ihr Fressen etwas gekostet hat. Alsohat er sich darangemacht, ihr das Fressen abzugewöh-nen. Eines Tages ist sie gestorben. Da war er richtig ent-Dr. Wolfgang Schäuble
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setzt und verärgert und hat gesagt: Schade drum, daß sieverreckt ist, gerade wo ich ihr das Fressen abgewöhnthabe. – So ist Ihre Politik.
Hätten wir eine Fortsetzung der Entwicklung vonWirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt im vergange-nen Jahr – wir hatten 2,3 Prozent Wachstum und saison-bereinigt 400 000 weniger Arbeitslose;
im ersten Halbjahr dieses Jahres hatten wir 0,8 Pro-zent Wachstum; die Optimisten sagen, wir erreichten imgesamten Jahr vielleicht 1,3 Prozent, und die Arbeits-losigkeit steigt –, dann wäre die Lage der Bundesfinan-zen um zweistellige Milliardenbeträge besser, als siejetzt ist.
Auch das bestätigt die These: Sie flicken nur notdürf-tig die Löcher, die Sie selber gerissen haben.
Sparen allein reicht nicht. Wir brauchen mehr Wachs-tum und mehr Dynamik bei gleichzeitiger Ausgabenbe-grenzung.Deswegen sage ich ganz klar: Aus diesem Grundkönnen wir die Eckwerte Ihrer Finanz- und Haushalts-politik nicht akzeptieren. Denn Sie sehen nur Kürzungenvor, um die Löcher des Jahres 1999 zu flicken, aber kei-ne Stärkung der Wachstumskräfte. Das kann nur schief-gehen.
Ich benutze noch einmal ein Bild, das ich MichaelGlos verdanke: Wenn Sie ein Hemd anziehen, das Sieoben falsch zuknöpfen, kommen Sie unten falsch an. Siehaben den Fehler oben gemacht: zuwenig Wachstum,zuwenig Dynamik; durch Sparen allein ist das nicht zulösen. Wir brauchen eine stärkere Dynamik in der wirt-schaftlichen Entwicklung.
Wenn wir die öffentliche Verschuldung in tragbarenGrenzen halten und sparsam wirtschaften wollen, müs-sen alle öffentlichen Haushalte – Bund, Länder, Kom-munen und die Sozialversicherung – langfristig, stetig,verläßlich in ihren Zuwächsen begrenzt werden. DieZuwächse müssen unter dem Anstieg der Einnahmenund, damit die Abgabenbelastung reduziert wird, unterdem Anstieg des Volkseinkommens bleiben. Das wardie Politik der Regierung von Helmut Kohl und die Fi-nanzpolitik von Theo Waigel.
– Ja, natürlich. – Sie war ungeachtet Ihrer billigenPolemik erfolgreich, wie nicht zuletzt das Erreichen derMaastricht-Kriterien beweist.
Sie können nicht die Ausgaben in dem einen Jahr um30 Milliarden DM erhöhen und im nächsten Jahr um7,5 Milliarden DM senken und glauben, daß das positiveKonsequenzen hat. Sie müssen den Anstieg der Ausga-ben mittel- oder langfristig begrenzen.
– Von mir aus auch langfristig.Volkswirtschaftlich wichtiger als die Gesamtver-schuldung ist der jährliche Finanzierungssaldo, undzwar im Verhältnis zum Volkseinkommen. Die Finan-zierungssalden des Bundes betrugen 1981 2,47 Prozentdes Bruttoinlandsprodukts, 1982 waren es 2,37 Prozent.Das waren die letzten Amtsjahre einer SPD-geführtenRegierung. In den folgenden 80er Jahren waren sie vonJahr zu Jahr deutlich niedriger. Sie stiegen zwar nachder Wiedervereinigung – das ist wahr – noch einmal an,aber niemals auf die Höhe von Anfang der 80er Jahre.Der Höchststand nach der Wiedervereinigung lag zwei-mal über 2 Prozent; 1993 waren es 2,06 Prozent und1996 2,18 Prozent. 1998 betrug der Finanzierungssaldoim Bundeshaushalt im Verhältnis zum Bruttoinlands-produkt 1,49 Prozent. Noch einmal zum Vergleich:Beim Amtsantritt von Helmut Kohl betrug er2,37 Prozent. Das zeigt: Unsere Politik war solide undrichtig für die Wirtschaft.
Für die Beantwortung der Frage nach der Belastungvon Wirtschaft, Steuer- und Abgabenzahlern ist dieStaatsquote die wichtigste Größenordnung. Die Staats-quote, also der Anteil der Ausgaben von Bund, Ländernund Gemeinden einschließlich der für die Sozialversi-cherung am Bruttosozialprodukt, betrug 1982 50,1 Pro-zent. Sie sank im Laufe der 80er Jahre bis auf 45,8 Pro-zent im Jahre 1989; im Zuge der Wiedervereinigungstieg sie in den 90er Jahren wieder auf über 50 Prozent.1996 betrug sie 50,3 Prozent und im vergangenen Jahrnoch 48,0 Prozent. Wir waren dabei, die Staatsquotewieder zurückzuführen. Das ist der richtige Weg. Aberin diesem Jahr sinkt sie ebensowenig wie im nächstenJahr. Das alles zeigt: Ihre Finanzpolitik ist von Kurzat-migkeit und Hektik geprägt und ohne jede volkswirt-schaftliche Wirkung.
Wenn man Ausgabenzuwächse auf allen Ebenen be-grenzen will, also die Staatsquote und damit die Steuern-und Abgabenbelastung reduzieren will, muß man diesesgrundsätzlich angehen. Ohne klare Zuständigkeitsab-grenzung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden undauch gegenüber der EU ist das nicht zu schaffen, weilnicht eindeutige Zuständigkeiten zu Verantwortungs-Dr. Wolfgang Schäuble
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verwischung führen. Dezentralisierung und die Zuwei-sung klarer Verantwortlichkeiten sind die besten Vor-aussetzungen für Effizienz und Sparsamkeit.Warum legen wir also Arbeitslosenhilfe und Sozial-hilfe nicht zusammen? 30 Milliarden DM zahlt derBund der Bundesanstalt für Arbeit für Arbeitslosenhilfe;50 Milliarden DM geben die Kommunen für Sozialhilfeaus. Im Alltag schieben sich die Sozialhilfeträger unddie Arbeitsverwaltung oft gegenseitig die Verantwort-lichkeiten und Finanzierungszuständigkeiten zu. Diedaraus resultierenden Reibungsverluste sind teuer, fürdie betroffenen Menschen wie für den öffentlichen Ge-samthaushalt. Wenn der Bund den Kommunen die Zu-ständigkeit für die Arbeitslosenhilfe und die bisher derBundesanstalt für Arbeit gewährten Mittel überträgt,wird ganz sicher durch Konzentration von Zuständig-keiten und gleichzeitige Dezentralisierung mit wenigerMitteln mehr Hilfe möglich werden.
Wenn dann noch die Verwerfungen zwischen niedri-gen Arbeitseinkommen und Transferleistungen besserabgebaut und gleichzeitig die Arbeitszeiten flexibilisiertwerden, werden wir im Niedriglohnbereich neue Be-schäftigungs- und Wachstumspotentiale erschließen.Vor allem so ist die Langzeitarbeitslosigkeit erfolgreichzu bekämpfen.
Der Finanzminister hat gestern zu Recht von der beiuns höher liegenden Beschäftigungsschwelle gespro-chen, also von dem Problem, daß bei uns erst oberhalbvon 2 Prozent Wachstum zusätzliche Arbeitsplätze ent-stehen, in anderen europäischen Ländern aber schonoberhalb von 1 Prozent Wachstum. Wenn wir das än-dern wollen, Herr Bundeskanzler, brauchen wir abermehr Flexibilität und Deregulierung auf dem Arbeits-markt. Vor allem müssen die Zugangsbarrieren imNiedriglohnbereich abgesenkt werden. Wir haben dem-entsprechende Reformen auf den Weg gebracht, dieSie wieder zurückgenommen haben. Gleichzeitig ha-ben Sie eine weitergehende Reform der Sozialhilfeblockiert.
Ich appelliere an Sie: Übernehmen Sie endlich unsereKombilohnmodelle. Statt dessen haben Sie unsinnigeGesetze zu 630-Mark-Jobs und zur Bekämpfung der so-genannten Scheinselbständigkeit erlassen. Der Wirt-schaftsminister hat diese Gesetze dieser Tage als doofeGesetze bezeichnet – wo er recht hat, hat er recht.
Mit diesen doofen Gesetzen, so WirtschaftsministerMüller, haben Sie Arbeitsplätze zuhauf zerstört und Fle-xibilität abgebaut. Wenn wir durch die richtigen Rah-menbedingungen die Potentiale, die in den Menschenstecken, nutzen, motivieren, fördern und fordern, dannerzielen wir bessere Ergebnisse für alle als durch immermehr Planung, Interventionen und Bürokratie. Aber obdas Sozialisten jemals verstehen? Ich fürchte, nein.
Selbst Herr Eichel hat die Notwendigkeit zu Einspa-rungen vor der Bundespressekonferenz am 25. Augustdamit begründet, daß der Staat wieder interventionsfähigwerden müsse. Damit bestätigt Herr Eichel, daß er einLinker geblieben ist. Insofern gibt es also eine Bestän-digkeit im Irrtum.
Wenn wir in Deutschland etwas nicht haben, dann ist esein Mangel an Intervention.
Wir haben eher zuviel als zuwenig. Dafür müssen wirnicht sparen.
Wir brauchen weniger Staat, weniger Bürokratie undmehr Dynamik. Das gilt für den Wirtschafts- und Ar-beitsmarkt vom Niedriglohnsektor bis zu den Existenz-gründern und neuen Dienstleistungen. Das gilt genausoim Sozialbereich.Stichwort Gesundheitsreform. Was haben Sie nichtfür unsinnige Polemik gegen unseren Weg sozial zu-mutbarer begrenzter Zuzahlungen vorgebracht? EinDrittel der Versicherten war von den Zuzahlungen garnicht betroffen. Was haben Sie nicht für unsinnige Po-lemik dagegen angeführt? Jetzt haben Sie die Eigenbe-teiligung zugunsten der Budgetierung zurückgeführt.Das bürokratische Durcheinander ist grausam und derWeg in die Zwei-Klassen-Medizin vorprogrammiert.Stichwort Rente. Es geht doch nicht um die Frage, obReformen notwendig sind, sondern es geht ausschließ-lich um die Frage, wie man die Reformen richtig macht.Wir, die Union, wollen den Generationenvertrag der dy-namischen Rente erhalten. Er entspricht unseremGrundverständnis von gegenseitiger Verantwortung derGenerationen, und er sichert die langfristig berechenbareTeilhabe auch der Älteren während ihres Ruhestandes ander allgemeinen Wohlstandsentwicklung.Was Sie wirklich wollen, wird zunehmend unklar;denn wenn Sie immer mehr Steuermittel in die Renteleiten und gleichzeitig dauernd von Grund-sicherung fa-seln, sind Sie auf dem Weg zur steuerfinanzierten Ein-heitsrente. Das bedeutet weniger Eigenverantwortungund mehr Abhängigkeit vom Kollektiv.Wer die dynamische Rente angesichts der Verände-rungen im Altersaufbau der Bevölkerung zukunftssicherhalten will, der kommt um den demographischen Fak-tor nicht herum. Der Bundeskanzler hat es gelegentlichselbst gesagt. Auch die Gewerkschaften sind dieserMeinung. Nur Herr Riester lehnt es definitiv ab. Allemiteinander haben sie die schon beschlossene Reformsinnloserweise wieder zurückgenommen.
Dr. Wolfgang Schäuble
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Natürlich heißt demographischer Faktor, daß dieRenten in Zukunft langsamer steigen als in früherenZeiten in Westdeutschland. Aber sie steigen, und siebleiben sicher und berechenbar. Die Veränderungen sindam Anfang kaum spürbar. Über zehn, 15 oder 20 Jahreist der Spareffekt jedoch beachtlich. Darauf kann sichjeder einzelne einstellen und vorbereiten, bzw. er kannVorsorge dafür treffen. Sie allerdings kürzen jetzt will-kürlich in zwei Jahren, und dafür kann niemand Vorsor-ge treffen. Was danach werden soll, lassen Sie offen. Sozerstören Sie Vertrauen und Veränderungsbereitschaft.
Sowohl die jungen als auch die alten Menschen wis-sen, daß Reformen notwendig sind. Aber Wortbruch undManipulation sind schlechte Mittel, um gesamtgesell-schaftliche Einsicht und einen Konsens im Hinblick aufdie Zukunftssicherung zu erreichen. Angesichts dessensprechen Sie noch über ein Absenken der Altersgrenzeim Erwerbsleben! Als ob nicht jeder wüßte, daß die Le-bensarbeitszeit bei steigender Lebenserwartung mittel-und langfristig nicht immer kürzer werden kann!
– Da fragt mich einer: Warum nicht?
Ich will Ihnen das erklären: Die Lebenserwartung steigt;sie beträgt zur Zeit durchschnittlich fast 80 Jahre. DieMenschen treten inzwischen mit durchschnittlich25 Jahren in das Erwerbsleben ein. Sie scheiden inzwi-schen im Durchschnitt mit 57 Jahren aus dem Erwerbs-leben aus. Sie sind also von den 80 Jahren ihrer durch-schnittlichen Lebenserwartung etwas mehr als 30 Jahreerwerbstätig und zahlen nur in dieser Zeit Steuern undBeiträge. Das kann auf die Dauer nicht ausreichen, umin den anderen zwei Dritteln ihrer Lebenszeit den glei-chen Lebensstandard zu finanzieren.Deswegen stelle ich fest: Es wird auch in Zu-kunft zwischen BAföG und Rente ein Zeitraum seinmüssen, den man nicht nur durch Sozialhilfe überbrük-ken kann.
Wir brauchen auch eine Stärkung der betrieblichenAlterssicherung. Wir brauchen mehr private Vorsorge.Das muß man den Menschen sagen. Man muß ihnenZeit lassen, das zu regeln. Deshalb kann man nicht inden Jahren 2000 und 2001 entgegen allen Zusagen will-kürlich kürzen. Das muß man vielmehr auf 10, 15 oder20 Jahre anlegen. In bezug auf die private Vorsorge binich der Meinung, daß man sie nicht mit neuen bzw. nochmehr Zwangsabgaben belasten sollte.
Haben Sie doch den Menschen gegenüber mehr Ver-trauen im Hinblick auf Freiheit, Einsicht und Freiwil-ligkeit, und schaffen Sie bessere steuerliche Rahmen-bedingungen! Wir werden schrittweise zu einer nachge-lagerten Besteuerung übergehen müssen, um Investitio-nen in die Zukunft zu fördern und mehr Gerechtigkeitbei der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu er-reichen.Demnächst wird ja das Verfassungsgericht bei derBesteuerung der Alterseinkünfte mehr Gerechtigkeiteinfordern. Dann werden Sie wieder tönen – das weißich schon jetzt; das kennen wir ja –, das seien Versäum-nisse der früheren Regierung.
– Ein Saarländer ist immerhin noch bei der SPD geblie-ben; das ist schön.
Ein weiterer kommt ja bald auf die Regierungsbank.
Bevor dieses Verfassungsgerichtsurteil ergeht,möchte ich Ihnen schon jetzt sagen: Hätten Sie nicht dievon uns beschlossene Steuerreform durch Ihre, voneinem Saarländer angeführte Obstruktionspolitik blok-kiert, wäre schon längst ein großer Schritt in RichtungZukunftsvorsorge und Leistungsgerechtigkeit getanworden. Das ist die Wahrheit.
– Herr Kollege Poß, Sie sollten solche Zurufe nicht wi-der besseres Wissen – denn Sie wissen es besser – ma-chen. Es war so; wir hätten jetzt eine bessere Lage. Indem anstehenden Verfassungsgerichtsurteil wird daseingefordert, was wir beschlossen und Sie blockierthatten. Eine solche Regelung wäre schon längst in Kraft.Das ist die Wahrheit.
– Nein, sondern deswegen, weil Sie es blockiert haben.Das, was Sie sagen, ist nun wirklich nicht richtig. Siekönnen nicht erst Beschlüsse, die der Bundestag gefaßthat, mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat blockieren und an-schließend, wenn kritisiert wird, daß sie nicht in Kraftgetreten sind, behaupten, wir seien daran schuld. So gehtes nicht in Deutschland.
Der Weg der Union bleibt, die Wachstumskräfte zustärken, um mehr Wohlstand, mehr soziale Gerechtig-keit, mehr Investitionen, mehr Bildung, mehr For-schung, mehr Wettbewerb, Deregulierung und Flexibi-lität sowie Steuerentlastungen zu schaffen. Wir wolleneine Steuerreform, Herr Kollege Struck, die ihren Na-men, wie Sie es gesagt haben, wirklich verdient, die wirbeschlossen und die Sie verhindert haben. Wir wollenauf der Grundlage der Verbreiterung der Bemessungs-Dr. Wolfgang Schäuble
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grundlage niedrigere Steuersätze für alle sowie einedeutliche Nettoentlastung.Ich betone: Auch wenn Sie in den letzten Jahren einesolche Steuerreform im Bundesrat blockiert haben, sindwir heute bereit, diese gemeinsam mit Ihnen zu be-schließen, notfalls auch in Schritten, wenn die Netto-entlastung im ersten Schritt nicht hoch genug sein kann.Der erste Schritt sollte schon zum 1. Januar 2000 erfol-gen.
Herr Eichel, Sie aber werkeln jetzt an einer Unter-nehmensteuerreform herum, mit der Sie nur die Kör-perschaftsteuersätze senken wollen. Dagegen ist nichtszu sagen. Daß Sie aber die einkommensteuerpflichtigenEinzelunternehmen und Personengesellschaften höherbesteuern wollen als die körperschaftsteuerpflichtigenGroßunternehmen, das ist so ziemlich das Dümmste,was Sie tun können, wenn es um mehr Arbeitsplätze undwirtschaftliche Dynamik gehen soll.
Rund 85 Prozent aller Unternehmen in Deutschlandsind als Einzelunternehmen und Personengesellschaftennicht körperschaftssteuer-, sondern einkommensteuer-pflichtig. Vom Mittelstand und von den Existenzgrün-dern, vom Handwerk, vom Handel und von den Dienst-leistungen aller Art kommen die zusätzlichen Arbeits-plätze – doch nicht von der Großindustrie. Daran ändernauch die irreführenden Begriffe, die Sie jetzt benutzen,nichts. Sie reden bei der Einkommensteuer so verdächtigbeflissen von Privateinkünften: Was bedeutet das ei-gentlich im Einkommensteuerrecht? Das ist eine ganzmerkwürdige Geschichte und soll nur eine neue Täu-schung vorbereiten.
Das Ergebnis wird immer eine Benachteiligung desMittelstandes und weniger Wachstum und Beschäfti-gung sein.
Im übrigen sage ich Ihnen: Die soziale Marktwirt-schaft bleibt – neben der das persönliche Risiko begren-zenden Kapitalgesellschaft – auf den Eigentümer bzw.Unternehmer angewiesen, gerade wenn wir nicht dieVerabsolutierung des Shareholder Value wollen undwenn wir Unternehmen, Herr Bundeskanzler, als sozialeVeranstaltung verstehen. Unternehmen dienen gewißdem Zweck der optimalen Deckung des Bedarfs an Gü-tern und Dienstleistungen; sie haben aber eben auchVerantwortung für Kunden, Lieferanten, Arbeitnehmer,die Allgemeinheit und auch für die Umwelt. Wenn wirUnternehmen so verstehen, dann brauchen wir auchUnternehmer. Das sind eben nicht nur Manager. Viel-mehr gehören dazu auch Risiko und Haftung, Ideen, In-itiative und Investitionen. Wer wie Sie, Herr Bundes-kanzler, bei der Verabschiedung des Bundesbankpräsi-denten Tietmeyer – ich habe im Bulletin der Bundesre-gierung Ihre Rede gelesen – Unternehmen als gut undUnternehmer als schlecht begreift, der hat von sozialerMarktwirtschaft und sozialer Verantwortung aber auchgar nichts verstanden.
Auf die schöpferische Kraft der Menschen zu setzenheißt: Bildung und Ausbildung, Forschung und Innova-tion. Sie wollten die Ausgaben dafür verdoppeln. Siehatten eine Scheckkarte: Das ist die Karte mit den unge-deckten Schecks gewesen. Jetzt kürzen Sie, anstatt dieAusgaben zu verdoppeln. Die Ausgaben im Haushalt fürForschung und Bildung sollen im nächsten Jahr um über10 Prozent niedriger liegen.Sie verlieren übrigens, Herr Kollege Parteivorsitzen-der, Landtagswahlen nicht nur wegen Ihrer miserablenPolitik im Bund, sondern zum Beispiel auch, weilSchulen und Hochschulen in Unions-regierten Bundes-ländern bessere Ergebnisse erzielen.
Aber von Wettbewerbsföderalismus – das haben Sie jaim vergangenen Jahr mehrfach gesagt – halten Sie be-kanntlich wenig.Wenn aber unser freiheitlicher Rechtsstaat nicht inBürokratie und Stagnation ersticken soll, brauchen wirklarere Abgrenzungen der Zuständigkeiten und der Ver-antwortlichkeiten zwischen Kommunen, Ländern unddem Bund – auch zu Europa. Wenn diese gegebensind, wollen wir Wettbewerb auf der jeweiligen Ebene;denn über Wettbewerb setzen sich die besseren Lö-sungen durch. So fordern wir die Kräfte der Menschenund der Gemeinschaften zum Nutzen aller stärker her-aus.Mit Ihrer Gesetzgebung zur Bekämpfung vonScheinselbständigkeit – der Begriff ist schon bezeich-nend – haben Sie Ihr Mißtrauen gegen Selbständigkeitunter Beweis gestellt. Das Elend Ihres 630-Mark-Gesetzes zeigt eigentlich nur, daß nichts in Deutschlandso schlecht ist, daß es durch Ihre Politik nicht noch ver-schlechtert werden könnte.
Subsidiarität, Vorrang des einzelnen, der Familie, desfreiwilligen Engagements vor dem Staat und Vorrangder kleineren Einheit vor der größeren im Bundesstaat,das ist unser Organisationsprinzip. Dies gilt auch für dieEuropäische Union.Von Ihrer Regierung ist zur Außen-, Sicherheits- undEuropapolitik kaum noch etwas Konstruktives zu hören.
– Ich habe seit Monaten nichts mehr gehört. – Fastscheint es, als sei Ihnen nach den Anstrengungen desKosovo-Kriegs und vielleicht auch ob der Enttäuschung,daß die ganzen Gipfelinszenierungen bei der Europa-wahl wenig genützt haben, die Lust vergangen.Die Stabilisierung des Balkans ist eine der großeneuropäischen Aufgaben – vermutlich noch für langeZeit. Aber da, Herr Bundeskanzler, brauchen wir nunwirklich europäische Gemeinsamkeit. Alleingänge scha-Dr. Wolfgang Schäuble
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den; sie fördern bei unseren Partnern höchstens die Nei-gung, den Deutschen auf dem Balkan den Vortritt zulassen.Wenn im übrigen Herr Hombach nach eigener Ein-schätzung für die SPD eine solche Belastung ist, daß erseine Parteiämter ruhen läßt, dann ist er als EU-Beauftragter wirklich eine Zumutung.
Wir sollten den Eindruck vermeiden, die Partei seiwichtiger als der Staat. Das bekommt dem Staat nicht,und Ihrer Partei – wie wir in Nordrhein-Westfalen gese-hen haben – übrigens auch nicht.Bei aller Bedeutung des Balkans für Deutschland undEuropa: Die Entwicklung bei unseren Nachbarn imOsten ist noch wichtiger. Deshalb ist eine baldige undeine gelingende EU-Erweiterung noch mehr im deut-schen Interesse. In dieser Hinsicht sind Sie mit derAgenda 2000 in Berlin gescheitert; denn die Erweite-rungsfähigkeit der Europäischen Union ist jedenfallsunter Ihrer Präsidentschaft nicht verbessert worden.Die Art, in der Sie jetzt nach und während des ge-fährlichsten und schwierigsten Einsatzes in der Ge-schichte der Bundeswehr – das war und ist der Einsatzim Kosovo – Ihr Wort gegenüber Bundeswehr und Sol-daten gebrochen haben, zeigt die Hemdsärmeligkeit Ih-rer Politik.
Ich bin wirklich traurig.
Wir als Opposition haben nach dem Gipfel in Kölndie Ergebnisse des Gipfels, die Integration der WEU indie Europäische Union und die Benennung von HerrnSolana als Koordinator der Gemeinsamen Außen- undSicherheitspolitik der Europäischen Union, als einenwichtigen Schritt in die richtige Richtung erkannt. Des-wegen bin ich traurig, daß nach den Anstrengungen inder Kosovo-Krise der Plan für eine Stärkung der euro-päischen Außen- und Sicherheitspolitik schon wiederverpufft zu sein scheint.Ihre Regierung leistet dazu die größten Beiträge, in-dem sie einseitig 18 Milliarden DM in vier Jahren ausder Finanzplanung der Bundeswehr herausstreicht, oh-ne zuvor die Frage, für welche Sicherheitsgefährdungendas Bündnis, Europa und die Bundeswehr Vorkehrungentreffen müssen und was daraus für die Strukturen derBundeswehr folgt, geprüft, geschweige denn beantwor-tet zu haben. So zäumt man in der Sicherheitspolitik dasPferd von hinten auf, so schwächt man künftig dieSicherheit, und so fördert man ganz gewiß nicht stärkereeuropäische wie atlantische Partnerschaft und Arbeits-teilung.
– Möglicherweise ist das an der Schwelle zum21. Jahrhundert wichtiger als der Ladenschluß.
Ich würde mir mehr Gemeinsamkeit in Fragen derAußen- und Sicherheitspolitik in Allianz und Europawünschen. Die europäische Einigung ist das Wichtigsteund Kostbarste, das wir haben. Deswegen sind die in-stitutionellen Reformen in Europa für mehr Handlungs-fähigkeit, für mehr Transparenz und mehr demokrati-sche Legitimation so wichtig. Sie haben in Ihrer Präsi-dentschaft keine erkennbaren Beiträge dazu geleistet.Die neue Kommission – sie wurde gestern vom Par-lament bestätigt, herzlichen Glückwunsch – und ihrenPräsidenten haben Sie nach Auffassung aller in Europamit Ihrer nur auf Parteipolitik fixierten Rücksichtslosig-keit schon vor der Ernennung geschwächt.
– Aber natürlich. Jedermann hat es so verstanden.
Wenn Sie mit irgendeinem Menschen aus einem an-deren europäischen Land reden, werden Sie gefragt:Was ist mit den Deutschen los? Was treiben die,
nachdem sie unter Helmut Kohl über anderthalb Jahr-zehnte hinweg Vorreiter der europäischen Einigung wa-ren, für eine Politik des „Hoppla, jetzt komm ich“? Esgibt überhaupt keine Rücksichtnahme mehr auf die Part-ner. Das schadet Europa und schadet den Deutschen.
Für die dringend notwendige Harmonisierung der Be-steuerung von Kapitaleinkünften in der EuropäischenUnion – sie stand auf der Tagesordnung während IhrerPräsidentschaft – wurde überhaupt nichts erreicht.Der Bereitschaft der Europäer zu gemeinsamem Han-deln in der Umweltpolitik fügen Sie mit immer neuenAlleingängen immer mehr Schaden zu. Erst war es derunglückselige Herr Trittin, der halb Europa vor denKopf stieß. Jetzt wollen Sie in der Energiebesteuerungfür weitere vier Jahre nationale Alleingänge statt euro-päischer Harmonisierung. Wer den Umweltschutz gegenArbeitsplätze ausspielt – das wurde bereits oft gesagt –,der hat schon verloren.Deshalb brauchen wir – und das bei den jetzt libera-lisierten Energiemärkten noch mehr – europäischeLösungen in der Energiebesteuerung. Sie haben bei Ih-rem Ökosteuerkrampf im Frühjahr selbst gemerkt, zuwelchen Verwerfungen Alleingänge in der Energiebe-steuerung für Wirtschaft und Arbeitsmarkt führen. An-ders ist der Unsinn der beschlossenen Stromsteuer, daßder Verbrauch um so geringer besteuert wird, je höher erist, auch nicht zu erklären.Sie hatten deshalb im Frühjahr versprochen, nur die-sen einen Schritt in diesem Jahr im Alleingang zu ma-chen und danach nur noch europäische Lösungen anzu-Dr. Wolfgang Schäuble
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4827
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streben. Herr Bundeskanzler, auch dieses Ihrer Worte istfünf Monate später nichts mehr wert.
Von Umweltschutz ist in Ihrer Politik nichts mehr zuspüren, von Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitikübrigens auch nichts. Wir haben gestern abend mit vie-len der Experten über Fragen zu Umwelt und Entwick-lung angesichts einer Weltbevölkerung von 6 MilliardenMenschen diskutiert. Es ist verheerend, welche Rolle dieBundesregierung der Bundesrepublik Deutschland inden Fragen globaler Verantwortung für Umwelt undEntwicklung spielt. Sie ziehen sich aus der Unter-stützung des Weltbevölkerungsprogramms der Ver-einten Nationen zurück. Sie wollten die Entwicklungs-hilfe erhöhen und kürzen sie statt dessen. Sie entziehensich jeder Verantwortung für nachhaltige Politik auf die-ser Erde. Wenn die Deutschen nur noch auf ihre eigenenProbleme schauen und nicht mehr um ihre Verantwor-tung für diese eine Welt wissen, ist es um die Zukunftder Deutschen im nächsten Jahrhundert schlechter be-stellt.
Noch kein Jahr im Amt – man muß immer wieder se-hen, daß die Bundestagswahl noch kein Jahr und dieRegierungsbildung noch nicht einmal elf Monate hersind –, Herr Bundeskanzler, hat Ihre Regierung wie kei-ne zuvor Vertrauen verspielt.
Die Substanzlosigkeit Ihrer Politik ist entlarvt. Ihreeigenen Anhänger sind entsetzt. Die Wähler laufen Ih-nen in Scharen davon. Aber Sie haben die Mehrheit. Siemüssen regieren. Es reicht nicht aus, sich nur auf dennächsten Wahlkampf vorzubereiten.Wir, die Union, haben unseren Oppositionsauftragangenommen. Wir üben Kritik, aber gemessen an derWirklichkeit ist unsere Kritik eher zurückhaltend.
Wir setzen Sie hier im Bundestag, wo Sie die Mehrheitund den Regierungsauftrag haben, unter den Druck un-serer besseren Alternativen. Wir werden keine Obstruk-tion leisten, im Bundestag nicht und im Bundesrat nicht.Das Land ist uns wichtiger als die Partei.
Wir stellen uns dem Wettbewerb um den besseren Wegin eine Zukunft mit Freiheit, sozialer Gerechtigkeit undSicherheit.Der Haushalt 2000, verehrte Kolleginnen und Kolle-gen, den wir beraten, markiert auch den Schritt in einneues Jahrhundert. Trotz allem, trotz aller Probleme sinddie Chancen für unser Land an dieser Schwelle immernoch gut. In 50 Jahren ist viel Substanz geschaffen wor-den. Die Menschen sind bereit: zum Bewahren wie zumVerändern. Aber sie brauchen Führung, sie brauchenVertrauen.Deutschland ist ein starkes Land, aber es hat eineschwache Bundesregierung.
Glaubwürdigkeit, Berechenbarkeit und Verläßlich-keit müssen wieder zur Richtschnur der Regie-rungspolitik werden.– Das – Herr Bundeskanzler, Sie erinnern sich vielleicht– ist ein wörtliches Zitat aus Ihrem Regierungspro-gramm vom vergangenen Jahr. Dieses Versprechen ha-ben Sie leider gehalten.
Uns trösten alle Wahlerfolge der Union nicht darüberhinweg: Drei Jahre, in denen Sie noch die Mehrheit indiesem Hause haben und deshalb Regierungsverant-wortung tragen, sind eine zu lange Zeit, als daß es soweitergehen dürfte wie bisher. Das haben die Menschennicht verdient.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Fangen Sie an mit
einer Politik der Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit, der
Berechenbarkeit und Verläßlichkeit, einer Politik, die
auf Eigenverantwortung und Solidarität setzt und die
den Menschen etwas zutraut. Zutrauen und Vertrauen
gehören zusammen. Ohne Substanz, Herr Bundeskanzler
– so wie bisher –, geht es nicht weiter.
Ich erteile dem Bun-deskanzler Gerhard Schröder das Wort.
Herren! Herr Schäuble, wenn man Ihnen zuhört, dannwird die ganze Widersprüchlichkeit Ihrer Argumentationklar.
„Widersprüchlichkeit“ ist noch freundlich ausgedrückt.Was Sie geboten haben, war reine Demagogie.
Ich will Ihnen das beweisen: Sie haben als Obersatzgesagt, sparen tue not. Dann haben Sie hintereinanderDr. Wolfgang Schäuble
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4828 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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gesagt: Aber bitte nicht bei den Bauern, bitte kein Spar-beitrag bei den Renten.
– Natürlich. – Bitte kein Sparbeitrag bei der Bundes-wehr, bitte kein Sparbeitrag bei der Verkehrsinfrastruk-tur. Unter der Überschrift „Sparen tut not“ überall mehrzu fordern, das ist reine Demagogie, Herr Schäuble.
Interessant ist hier auch, mit welcher Rabulistik Sieversuchen, sich vor Ihrer Verantwortung für den Schul-denberg, den Sie angehäuft haben, zu drücken.
Man kann es den Menschen in Deutschland nicht oft ge-nug sagen: Sie sind verantwortlich für 1,5 Billionen DMSchulden.
In Ihrer Regierungszeit ist der Schuldenberg von300 Milliarden DM auf diesen Betrag angewachsen.Man kann es den Menschen nicht oft genug sagen: Siesind verantwortlich dafür, daß wir eine Zinsbelastungvon jährlich 82 Milliarden DM haben. Das ist die FolgeIhre Politik; davor können Sie sich nicht drücken, davorkönnen Sie sich nicht wegducken.
82 Milliarden DM Zinsen im Jahr als Ergebnis IhrerPolitik, das heißt pro Minute 150 000 DM. Jede Minute150 000 DM Zinsen, das ist das Ergebnis Ihrer Politik!Dies werden wir den Menschen in Deutschland immerwieder deutlich sagen.
Der Schuldenberg ist der Grund dafür, daß die Not-wendigkeit von Handeln, von Gegensteuern jetzt völligunabweisbar ist. Dies ist auch der Grund, warum wir mitdem Zukunftsprogramm anfangen, den von Ihnen ange-häuften Schuldenberg Schritt für Schritt abzutragen –
eine bittere Notwendigkeit, aber unabdingbar, wennDeutschland fit werden will, um die Zukunft im näch-sten Jahrhundert zu gewinnen.
Es geht um nicht weniger als um die Politikfähigkeitunseres Gemeinwesens – eine Politikfähigkeit, die aufGrund des Schuldenberges, den Sie angehäuft haben,wirklich in Frage steht. Nur sehr Reiche können sicheinen armen, einen handlungsunfähigen Staat leisten.Die meisten Menschen in Deutschland können das nicht.Sie haben den Staat mit Ihrer Schuldenpolitik an denRand der Handlungsunfähigkeit gebracht. Wir müssensehen, daß wir diese Schulden abtragen.
Staatliche Handlungsfähigkeit ist dabei kein Selbst-zweck. Aber sie ist Mittel zum Zweck, um Solidarität inunserer Gesellschaft durch Politik zu organisieren, umMassenarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Ein Staat, den Sieso arm gemacht haben, wie er ist, kann das nämlichnicht. Das ist der Unterschied, der herausgearbeitet wer-den muß.
Die Politik, die der Bundesfinanzminister eingeleitethat, ist übrigens die einzige angemessene Antwort aufdie Integrationsfortschritte in Europa, die Sie sogarbestreiten. Welch Unsinn vor dem Hintergrund dessen,was in Berlin wirklich geschehen ist und was die Partnerin Europa – übrigens auch die, die auf die Erweiterungder EU warten – in den höchsten Tönen loben! Daß Siedas nicht tun, ist klar. Sie sollten aber wenigstens bei derWahrheit bleiben.
Wir müssen diese Politik des Abtragens des Schul-denberges im deutschen, aber auch im europäischenInteresse machen. Wir dürfen bei der Reduzierung derHaushaltsdefizite nicht hinter anderen europäischenLändern zurückbleiben. Was ist denn bei Ihnen im Ver-gleich zu anderen gelaufen? Frankreich hat mehr ab-gebaut als Sie. Großbritannien hatte 1995 ein Minusvon 5,7 Prozent, heute ein Plus von 0,6 Prozent. InSchweden war es 1995 ein Minus von 4,9 Prozent, heuteist es ein Plus von 2,0 Prozent. Meine sehr verehr-ten Damen und Herren, wenn wir uns nicht beeilen,wenn wir die Haushaltsdefizite nicht, wie vorgese-hen, Schritt für Schritt zurückfahren, dann fallen wir imVergleich zu unseren europäischen Partnern ab, unddann ist es schwer, wirtschaftliches Wachstum zu gene-rieren und daraus Arbeitsplätze zu schaffen. Aber daswollen wir; deshalb – und nicht, weil uns nichts andereseinfiele – machen wir diese Konsolidierungs- und Spar-politik.
Es ist schon merkwürdig, daß die Opposition diesePolitik mit angeblich ökonomischen und finanzpoliti-schen Argumenten kritisiert,
während die internationalen Finanzinstitutionen undebenso die Europäische Zentralbank und die DeutscheBundesbank sagen: Ja, diese Bundesregierung ist imVergleich zur früheren auf dem richtigen Weg.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4829
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Das ist das Urteil der Bundesbank.
Das ist das Urteil von Herrn Tietmeyer, der nun wirklichnicht Gefahr läuft, zu den Parteigängern der rotgrünenKoalition gemacht zu werden. Trotzdem ist er ein ur-teilsfähiger Mann – im Unterschied zu Ihnen.
Wir müssen diesen Schuldenberg noch aus einem an-deren Grund abtragen: Es gibt einen Zusammenhangzwischen der Notwendigkeit, die Zinslasten in den öf-fentlichen Haushalten zu verringern, also die Schuldenabzutragen, und den Zinsen, die die Europäische Zen-tralbank festsetzt. Um Wirtschaftswachstum ankurbelnzu können, brauchen wir niedrige Zinsen. Wir werdendiese niedrigen Zinsen aber nur behalten, wenn wir dieKonsolidierungspolitik, die wir eingeleitet haben, ma-chen. Auch dieser Zusammenhang ist einer, der, wenn ernicht beachtet wird, dazu führt, daß wir weniger Chan-cen haben, Massenarbeitslosigkeit abzubauen.Klar wird: Nur die Konsolidierung des Haushaltes,nur der Abtrag der Schulden erlaubt das Setzen von po-litischen Prioritäten in der Zukunft. Nur der Abtrag derSchulden gibt die Möglichkeit, mit Hilfe des Staates einMehr an sozialer Gerechtigkeit zu organisieren. Die Er-gebnisse der Schuldenpolitik, die Sie betrieben haben,also jene 82 Milliarden DM Zinsen, mit denen wir unsherumzuschlagen haben, sind in sich ein Stück absurdersozialer Ungerechtigkeit.
Warum sage ich das? Ich sage das, weil diese Zinsen,die 82 Milliarden DM, die wir aus den Steuern und Ab-gaben zahlen, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer in die Staatskasse bringen, doch nicht denen zu-gute kommen, von deren Steuern und Abgaben sie be-zahlt werden. Vielmehr ist das eine gigantische Umver-teilung von unten nach oben als Folge Ihrer Politik. Siewollen sich vor der Verantwortung drücken, sich weg-schleichen! Das ist das Ergebnis dessen, was Sie heutegesagt haben.
Das Geld, das wir für die Zinsen der von Ihnen ange-häuften Schulden ausgeben müssen, brauchen wir fürdie Finanzierung derjenigen Forderungen, die Sie ge-stellt haben. Diese 82 Milliarden DM, die wir Jahr fürJahr an Zinsen zahlen müssen, möchte ich in die Bil-dung hineinstecken.
– Ja, was denn sonst?
Wir wollen dieses Geld einsetzen, um soziale Gerech-tigkeit zu schaffen. Dieses Geld wurde den Menschendurch Ihre Politik abgenommen; es kann daher nicht– das ist also das krasse Gegenteil – in die Zukunft inve-stiert werden. Dieser Zustand muß beendet werden.
Das Programm des Bundesfinanzministers heißt auchdeshalb Zukunftsprogramm, weil es mit dieser unver-antwortlichen Politik Schluß macht und weil es dazuführt, daß Nachhaltigkeit nicht nur ein ökologischer,sondern auch ein finanzpolitischer Begriff wird; er mußes werden. Wir dürfen doch nicht so weitermachen undsozusagen das aufessen, wovon sich unsere Kinder undEnkel ernähren müssen. Das ist keine vernünftige Poli-tik.
Ich hoffe, es ist klar, daß die Sparpolitik, die wir ein-geleitet haben, uns die Möglichkeit verschaffen soll undverschaffen wird, politisch – jetzt benutze ich den Be-griff – interventionsfähig zu bleiben. Was haben Sie ge-gen diesen Begriff? Wenn man Ihnen genau zuhört,dann fällt einem immer wieder auf, wie Sie mit Begrif-fen jonglieren. Auf der einen Seite sagen Sie, der Staatmüsse mehr für die Bundeswehr, für die Bildung und fürdie Familien tun.
– Vor allen Dingen natürlich für die Bauern. – Auf deranderen Seite sagen Sie aber, Interventionsfähigkeitdes Staates sei ein Begriff aus der sozialistischen Mot-tenkiste. Wie paßt denn beides zusammen?
Wenn der Staat die von Ihnen gestellten Forderungen er-füllen soll, dann ist das doch – was denn sonst? – Inter-vention in die Gesellschaft. Was ist das für eine merk-würdige Argumentation, Herr Kollege Schäuble, dererSie sich hier bedienen?
Was die Interventionsfähigkeit angeht – das muß ichnoch sagen –, versteht insbesondere Herr Glos die Baye-rische Staatsregierung. Wo ist er denn, der Kandidat?
Von Interventionsfähigkeit verstehen diese Wirtschafts-weisen aus München – nicht aus dem Morgenland – eineganze Menge. Mal eben 1,5 Milliarden DM in Singapurverbraten, 400 Millionen DM der landeseigenen Bau-sparkasse in den Sand setzen und dann anderen Vor-schriften hinsichtlich ihres wirtschaftlichen Sachver-Bundeskanzler Gerhard Schröder
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4830 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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standes machen: Das ist doch lächerlich, was hier be-trieben wird.
Wir werden nachher Ihre Entgegnung hören. Sie wer-den sich zwar mit dem einen oder anderen Punkt befas-sen. Aber auf gar keinen Fall, so nehme ich an, werdenSie auf die entsetzlichen Fehlentwicklungen, die inMünchen mitten im Zentrum des wirtschaftlichenSachverstandes gemacht worden sind, zu sprechenkommen.
Ich bin sehr gespannt darauf, ob Sie ein einziges Wortzu diesen schlimmen Entwicklungen, die wir beobachtenkönnen, sagen.
– Entschuldigung, ich habe noch nicht erlebt, daß derJustizminister in die Pressekonferenz des Ministerpräsi-denten geht und sagt: Alles Schafscheiße, was der sagt.
Ich kann mir schon vorstellen, daß Ihnen dieser Punktnicht gefällt. Aber er muß trotzdem angesprochen wer-den.
Mit der gleichen Entschlossenheit, mit der wir denWeg der Konsolidierung gehen, setzen wir den Weg derModernisierung unserer Gesellschaft fort. Aber auchModernität ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zumZweck. Sie ist Voraussetzung dafür, daß wir im Kampfgegen Arbeitslosigkeit und für soziale Gerechtigkeitunter radikal veränderten Bedingungen erfolgreich seinkönnen. Dramatische Veränderungen der ökonomischenBasis erfordern Reformbereitschaft des politisch-sozialen Systems. Wer das nicht erkennt, organisiertnicht Fortschritt, sondern Rückschritt.Deshalb verfolgen wir eine Steuerpolitik, die zweiAufgaben hat. Die Steuerpolitik, die wir entworfen unddurchgesetzt haben und auch weiter durchsetzen werden,hat zum einen die Aufgabe, auf der Nachfrageseite ver-nünftige Regelungen zu treffen. Das heißt ganz einfachausgedrückt: Wir wollen, daß bei den breiten Schichtender Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom Bruttonetto mehr übrigbleibt. Das ist die Orientierung jenerSteuerreformvorstellungen, die wir dargelegt haben unddie Sie nicht müde werden zu diskreditieren.Was ist Inhalt dessen? Wir haben im Rahmen derWahlauseinandersetzungen gesagt, daß wir ein Steuer-recht machen werden, durch das insbesondere die Ar-beitnehmer mit Kindern entlastet werden. Im erstenSchritt haben wir – im Gegensatz zu Ihnen – das steuer-freie Existenzminimum angehoben. Wir haben den Ein-gangssteuersatz gesenkt und werden dies noch fortset-zen. Wir haben ein Weiteres getan: Wir haben das Kin-dergeld für das erste und das zweite Kind in zwei Stufen– all das tritt zu Beginn des nächsten Jahres in Kraft –um jeweils 50 DM erhöht. Das ist einer der größtenFortschritte, die es in bezug auf die Kindergeldregelungjemals gegeben hat. Dazu hatten Sie, meine Damen undHerren, niemals die Kraft.
Man kann es gar nicht oft genug sagen: Durch diesemoderne und in sich gerechte Steuerpolitik – durch dasSteuerentlastungsgesetz und die Regelung zum Kinder-geld, aber auch durch den neuen Betreuungsfreibetrag –wird eine Familie mit zwei Kindern in diesem Jahrum insgesamt 1 200 DM entlastet, in den Jahren 2000und 2001 um 2 200 DM und im Jahr 2002 um3 000 DM.
Meine Damen und Herren, dies haben wir vor denWahlen angekündigt und nach den Wahlen in der Tatinnerhalb von zehn Monaten auf den Weg gebracht.
Das nenne ich eine Politik für die arbeitenden Men-schen, für diejenigen, die Einkommen und Auskommendurch Arbeit erzielen und die wollen, daß eine vernünf-tige Steuerpolitik dazu führt, daß sie vom Brutto nettomehr übrigbehalten.Das haben wir aus Gründen der sozialen Gerechtig-keit für diese Menschen, aber auch aus ökonomischenGründen gemacht. Diese Steuerpolitik hilft nämlich beider Schaffung von Nachfragemöglichkeiten: Wenn mehrim Portemonnaie ist, dann kann mehr nachgefragt wer-den.
Wenn mehr nachgefragt wird, kann mehr produziertwerden. Wenn mehr produziert wird, dann gibt es mehrArbeitsplätze. Das ist schon jetzt sichtbar.
Und im nächsten Jahr wird dies noch sichtbarer werden.
Das aber ist naturgemäß nur die eine Seite der Steu-erpolitik. Wir haben immer gesagt: Wir machen einenMix aus nachfrage- und angebotsorientierter Steuer-und Wirtschaftspolitik. Ein solcher Mix ist richtig. Esmacht keinen Sinn, mit den Begriffen zu jonglieren, unddas eine gegen das andere auszuspielen. Was wir brau-chen, ist auf der einen Seite ein Mehr an Kaufkraft beiden Beschäftigten und auf der anderen Seite RücksichtBundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4831
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auf die Kosten insbesondere der kleinen und mittlerenUnternehmen.
– Ich komme gleich zu dem, was wir gemacht haben. –Dies ist der Grund, warum wir an eine Unternehmen-steuerreform herangehen.
– Sie wissen doch, wann. Wir sind dabei.
Übrigens, Herr Schäuble: Ich habe diese Begriffe be-wußt benutzt. Es geht uns in der Tat um die Entlastungder Unternehmen und weniger um die Entlastung derUnternehmer.
– Ja, ich wiederhole das ausdrücklich.
Auch an diesem Punkt kann man sehen, wie Sie im-mer wieder den Versuch machen, Dinge zu diskreditie-ren, die überhaupt nicht zu diskreditieren sind. Ich un-terstelle dabei nicht, daß das aus Mangel an Intelligenzgeschieht, sondern ich unterstelle dabei, daß das ausMangel an Redlichkeit geschieht.
Worum geht es denn bei dieser Unternehmensteuer-reform? Es geht doch darum, daß wir jene Gewinne, diegemacht werden und die gemacht werden sollen, diewieder in das Unternehmen hineingesteckt werden, diereinvestiert werden, aus denen Arbeitsplätze werdensollen, Gewinne, die so verwendet werden, steuerlichanders behandeln als jene Gewinne, die privat ver-braucht werden. Das ist doch ein höchst vernünftigerGrundsatz:
die Gewinne, aus denen Arbeitsplätze werden sollen undwerden können, im Vergleich zu jenen, die privat ver-braucht werden, zu privilegieren.
Das ist der Grund, warum wir sagen: Wir wollen einUnternehmensteuerrecht schaffen, das bei den Körper-schaften mit einem Steuersatz von 25 Prozent aus-kommt. Wenn man eine durchschnittliche Gewerbeer-tragsteuer in Höhe von 10 Prozent unterstellt, sind das35 Prozent Unternehmensteuern. Natürlich wissen wir,daß der größte Teil der Unternehmen keine Körper-schaften, sondern Personengesellschaften sind. Das ist jader Grund, warum dieses Prinzip auch auf die Personen-gesellschaften übertragen werden wird, und die Entla-stung in einer Höhe von 8 Milliarden DM soll eben nichtbei den Großen eintreten. Vielmehr wird der Finanzmi-nister dafür sorgen, daß sie insbesondere bei den kleinenund mittleren Unternehmen eintritt. Das ist Gegenstandunserer Politik; sie werden wir durchsetzen.
Wir werden uns nach dieser Unternehmensteuerre-form im unteren Drittel der Unternehmensbesteuerungin Europa befinden. Das schafft die Möglichkeit, dieWettbewerbsbedingungen zu verbessern, und das schafftdie Möglichkeit, auch von der Angebotsseite her Wett-bewerbsfähigkeit und Konkurrenzfähigkeit der deut-schen Wirtschaft zu verbessern. Im übrigen wird das vonder Wirtschaft ja durchaus anerkannt; nur bis zur CDUhat es sich noch nicht herumgesprochen.
Dann haben Sie sich ja angewöhnt, das, was wir zuRecht ökologische Steuer- und Abgabenreform genannthaben, ständig zu diskreditieren.
Natürlich wäre es besser – das bestreitet doch niemand,auch niemand hier im Hohen Hause –, wenn wir einegesamteuropäische Lösung der Energiebesteuerunghinbekommen könnten. Aber es liegt doch nicht anDeutschland, daß das nicht geschieht, sondern es liegt ananderen. Wir können doch mit einer vernünftigen Re-form nicht warten, bis sich alle dazu bequemen. Wir ar-beiten daran, das zu europäisieren, aber wir können unsdoch nicht von den Entscheidungen anderer abhängigmachen.
Das ist der Grund, warum wir vorangegangen sind, undzwar in meßbaren und vernünftigen Schritten.Im übrigen möchte ich sagen, daß wir dabei maßvollvorgegangen sind und daß wir dabei auf die Wettbe-werbsfähigkeit insbesondere der produzierenden Wirt-schaft Rücksicht genommen haben. Das wird ja auchdurchaus anerkannt – nicht immer in den öffentlichenStellungnahmen, aber doch in den Gesprächen, die manführt. Vor allen Dingen wird anerkannt, daß etwas ein-getreten ist, worauf man in Deutschland sehr lange hatwarten müssen, nämlich daß die Lohnnebenkostenwirklich sinken. Das ist durch diese Reform bewirktworden.
Übrigens ist eine Lohnnebenkostensenkung nicht nur fürdie Unternehmen vernünftig. Sie bietet auch die Mög-lichkeit, eine Abgabensenkung, die den Arbeitnehme-Bundeskanzler Gerhard Schröder
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4832 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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rinnen und Arbeitnehmern zugute kommt, durchzufüh-ren. Auch das geschieht.
Ich möchte auch noch ein paar Worte zur Finanzie-rung der Reform sagen, weil in der Gesellschaft – nach-vollziehbar oder weniger nachvollziehbar – gelegentlichder Vorwurf erhoben wird, hier hätte es falsche, sozialungerechte Verteilungswirkungen gegeben. Dieser Vor-wurf ist falsch. Er ist erstens deshalb falsch, weil dieEntlastungen im Bereich der Wirtschaft bei den kleinenund mittleren Unternehmen eintreten werden. Damitkommen wir einer uralten Forderung, die übrigens auchaus dem Gewerkschaftslager stammt, nach.Der Vorwurf ist zweitens deshalb falsch, weil durchdie Senkung der Lohnnebenkosten nicht nur die Unter-nehmen, sondern auch die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer entlastet werden. Das führt wiederum dazu,daß vom Brutto netto mehr übrigbleibt. Diesem Prinzipwerden wir folgen; denn wir wollen, daß die Menschen,die jeden Tag zur Arbeit in die Fabriken und Verwaltun-gen gehen, spüren, daß sie von dieser Steuerpolitik et-was haben. Sie sollen das in ihrem Portemonnaie spüren,wo auch sonst.
Wenn man sich unsere Steuerpolitik in beiden Bereichenanschaut und sie fair beurteilt, bleibt von dem Vorwurfmangelnder Ausgewogenheit überhaupt nichts übrig.Es wird aber noch mehr getan. Denjenigen, die immerwieder die Frage stellen, wie das finanziert werden soll– hier kann man interessante Feststellungen treffen; ichbin nur nicht ganz sicher, ob sich die verehrte Oppositi-on in gleicher Weise für die Mittelständler und gegendie großen Unternehmen stark macht –, sage ich: Finan-ziert worden ist die Entlastung der Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer zum Beispiel dadurch, daß wir fürVersicherungen ein Abzinsungsgebot für Schadensrück-stellungen und deren Bewertungen eingeführt haben.Allein diese Maßnahme wird mehr als 8 Milliarden DMan Mehreinnahmen bringen. Nun kann mir doch nie-mand erklären, daß die Finanzierung der Entlastungender Arbeitnehmer durch Mehreinnahmen aus Belastun-gen großer, leistungsstarker Unternehmen sozial unaus-gewogen sei. Mir kann das keiner erklären, jedenfallskann ich es nicht nachvollziehen. Dies ist sozial gerecht,weil dadurch ein Teil negativer Verteilungswirkungendurch die Politik des Bundesfinanzministers zurückge-nommen worden ist.
Um den Vorwurf gleich vorwegzunehmen, möchteich auch die Maßnahmen, die wir bezüglich der Ener-gieversorgungsunternehmen getroffen haben, anspre-chen. Es ist nicht leicht gewesen, auch hier ein Abzin-sungsgebot für die Rückstellungen durchzusetzen. Dieswird zu Mehreinnahmen des Staates in Höhe von13,7 Milliarden DM führen. Die Rückstellungen derEnergieversorgungsunternehmen waren wirklich zuhoch. Mit diesen Rückstellungen haben sich die Unter-nehmen vor einer gleichermaßen ökonomisch vernünfti-gen wie sozial gerechten Besteuerung gedrückt. Wir ha-ben diesen Zustand beseitigt. Damit wird ein Teil derVerbesserungen bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern finanziert. Das ist der Kern sozialer Gerechtig-keit, nicht das Gegenteil.
Welch endlose Debatte haben wir hier, im HohenHause, und anderswo über die Notwendigkeit geführt,Steuerschlupflöcher zu schließen! Jahr für Jahr gab esDebatten über Debatten. Wir haben die Schlupflöchergeschlossen. Wenn Sie genau hinschauen, dann werdenSie feststellen: Die veranlagte Einkommensteuer steigtendlich wieder. Es wird damit Schluß gemacht, daß je-mand, der sehr viel verdient, seine Steuerschuld auf Nullreduzieren kann, nur weil er alle möglichen Steuer-schlupflöcher nutzen kann.
Die Politik der Modernisierung unserer Gesellschaftunter Beachtung des Gebotes der sozialen Gerechtigkeithat auch Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt erzielt. DieArbeitslosenquote ist im Juni erstmals unter 4 Millionengesunken. Sie ist – ferienbedingt – in den nächsten beidenMonaten knapp über 4 Millionen gewesen. Aber selbsthier muß man feststellen, daß auch der Augustwert dergünstigste seit 1996 war. Das wird immer verschwiegen.Wahrscheinlich trauen Sie, Herr Schäuble, den Statisti-ken nur, wenn Sie sie selber manipuliert haben.
Die Bundesanstalt für Arbeit hat im ersten Halbjahr1999 1,86 Millionen Stellen an Arbeitssuchende ver-mittelt. Das sind 5 Prozent mehr als im Vorjahr. Für die-ses Jahr wird ein Rückgang der Arbeitslosigkeit umetwa 200 000 Personen erwartet. Dieser Rückgang derArbeitslosigkeit um 200 000 Personen ist mir zu wenig –das ist doch gar keine Frage –; aber er zeigt doch, daßwir uns auf dem richtigen Weg befinden, auf einemWeg, den wir Schritt für Schritt weitergehen werden,weil er geeignet ist, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Der Oppositionsführer hat jenes Programm für diejungen Leute im Lande vor Jahresfrist noch als Be-schäftigungstherapie diffamiert.
Wir haben das nicht vergessen, und wir werden daranimmer wieder erinnern. Wir haben mit dieser Politik mehrals 150 000 jungen Leuten eine Chance gegeben. DiesePolitik hat 2 Milliarden DM gekostet. Das zeigt, daß wirungeachtet der Sparmaßnahmen sehr wohl vernünftigePrioritäten zu setzen bereit und in der Lage sind.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4833
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Die Jugendarbeitslosigkeit sinkt bei uns weit mehrals in fast allen anderen europäischen Ländern.
Die Jugendarbeitslosigkeit lag im Juli EU-weit bei 17,8Prozent, in der Euro-Zone bei 19,3 Prozent, in den USAbei 9,9 Prozent und in Deutschland bei 9,0 Prozent. Dasist nicht allein, aber auch ein Erfolg unserer Politik. Die-sen Erfolg werden Sie nicht kleinreden.
Eines sage ich Ihnen: Wir werden dieses Programm,das wir nicht zuletzt auf den Weg gebracht haben, umjenen Jugendlichen zu helfen, die in dieser Gesellschaftwirklich benachteiligt sind, die schon fast keine Chancemehr für sich gesehen haben, fortführen. Es wird grei-fen, und Sie werden die Ergebnisse – auch die politi-schen – sehen. Ich bin da ganz ruhig.
Es hat sich aber nicht nur auf dem Arbeitsmarkt et-was zum Positiven verändert. Insbesondere die Men-schen in Ostdeutschland wissen, wie es in der Vergan-genheit gewesen ist. Vor den Wahlen gab es einen mas-siven Aufbau der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, undeinen Monat danach wurde alles wieder einkassiert. Daswar das Prinzip Ihrer Arbeitsmarktpolitik. So ist es ge-wesen, und die Menschen wissen das noch.
Wir haben das geändert. Wir haben im Vergleich zumVorjahr zusätzlich 6 Milliarden DM investiert, um dieFinanzierung des zweiten Arbeitsmarkts, den man insbe-sondere in den neuen Ländern leider immer noch brau-chen wird, zu verstetigen und damit den Menschen einStück Sicherheit zu geben.Immer wenn über Sicherheit für diejenigen geredetwird, die als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihrEinkommen und Auskommen finden müssen, dannsprechen Sie so gern über Flexibilität und im Zusam-menhang damit über Kündigungsschutz. Ich weißnicht, ob Sie folgendes wissen: In Deutschland kannman einen Arbeitnehmer dreimal für sechs Monate be-schäftigen, ohne daß er einen Anspruch auf ein festesArbeitsverhältnis erwirbt. Ich glaube, daß man innerhalbvon 18 Monaten erstens genügend Erkenntnisse überseine eigenen ökonomischen Möglichkeiten gewinnenkann und zweitens auch feststellen kann, ob der Arbeit-nehmer taugt oder nicht.
Es braucht wirklich einen vernünftigen Ausgleich zwi-schen Flexibilität auf der einen Seite und der individu-ellen Sicherheit des Arbeitnehmers auf der anderen Sei-te. „Hire and fire“ ist kein sonderlich soziales Prinzip.
Wir haben im „Bündnis für Arbeit“ über weitereFragen, die nicht allein vom Staat zu lösen sind, geredet.Sinn dieses Bündnisses ist es, die Herausforderungen,die auf dem Arbeitsmarkt bestehen, gemeinsam anzuge-hen. Die Ergebnisse des dritten Spitzengespräches sindeindeutig: Die Wirtschaft hat eine Zusage für 10 000 zu-sätzliche Ausbildungsplätze gegeben, und zwar über dendemographischen Mehrbedarf hinaus. Sie wird das – je-denfalls auf der Seite der in Industrie- und Handels-kammern zusammengeschlossenen Unternehmen – ein-halten. Für die Berufe der Informations- und Telekom-munikationswirtschaft werden in den kommenden dreiJahren 40 000 neue Ausbildungsplätze angestrebt. Beimittelständischen Unternehmen mit bis zu 50 Beschäf-tigten wird künftig für die Nutzung der Altersteilzeitkeine Umsetzungskette mehr nachzuweisen sein, washelfen wird, Altersteilzeit besser als in der Vergangen-heit zu vereinbaren.
Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände undder Deutsche Gewerkschaftsbund haben sich im Grund-satz auf eine mittel- bis langfristige Tarifpolitik geeinigt,die dazu führen soll und dazu führen wird, daß flexibleArbeitszeitpolitik und Tarifpolitik insgesamt mehr undmehr in den Dienst zusätzlicher Beschäftigung gestelltwerden, und zwar auf Grund freiwilliger Vereinbarun-gen, die die Tarifparteien getroffen haben. Das ist einvernünftiger Ansatz, den man unbedingt unterstützensollte.
Ich will ein Wort zur Rente sagen, meine Damen undHerren. Es ist wahr: Wir hätten gern gehabt, daß sich imnächsten und übernächsten Jahr eine Möglichkeit derAnpassung nach der Nettolohnformel ergeben hätte. Dasist gar keine Frage.
Glauben Sie mir, wenn es auf Grund der Finanzierungs-bedingungen möglich gewesen wäre, die wir als Ergeb-nis Ihrer und keiner anderen Politik vorgefunden haben,
dann wäre ich der letzte gewesen, der nicht freudigenHerzens ja gesagt hätte.
Es tut mir leid, daß es nicht geht, meine Damen undHerren. Aber es geht nicht, und das ist das Ergebnis Ih-rer Finanzpolitik. Keine andere Ursache hat das gehabt.
Das ist der Grund, warum wir entschieden haben, daßdie Renten in den Jahren 2000 und 2001 so erhöht wer-den, daß der Kaufkraftausgleich gewährleistet ist.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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4834 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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In diesem Zusammenhang war übrigens auch wiedersehr interessant, was Herr Schäuble dazu gesagt hat. Erhat gesagt, die Renten würden gekürzt. Was war dasdenn nun?
War es ein Versehen? War es eine Halbwahrheit? Oderwar es eine Lüge? Was war es?
Verehrter Herr Oppositionsführer, in den Jahren 2000und 2001 werden die Renten stärker steigen, als sie inden letzten vier Jahren Ihrer Regierung jemals gestiegensind. Das ist die Wahrheit, die Sie bewußt verschweigen.Wer die Wahrheit bewußt verschweigt, der lügt wirk-lich.
Die Rentnerinnen und Rentner wissen ganz genau, daßsie in den letzten vier Jahren der Regierung Kohl nie-mals einen vollen Ausgleich für die Preissteigerungsratebekommen haben. Sie werden ihn diesmal bekommen.Das nennen Sie Kürzung? Sie haben gekürzt! Sie habendie realen Renteneinkommen gekürzt. Wir tun das nicht,denn wir zahlen den Kaufkraftausgleich.
Im übrigen dienen diese zwei Jahre dazu – sie sind inder Tat ein Beitrag, den die Rentnerinnen und Rentnerleisten –, daß man die Renten auf der einen Seite für dieJungen bezahlbar hält und auf der anderen Seite für dieÄlteren auch in Zukunft noch sicher macht. Das ist derSinn der Operation: eine Brücke zwischen den Jungenund den Alten neu zu bauen und sie nicht gegeneinanderauszuspielen, was Sie mit der Politik tun, die Sie imMoment betreiben.
Was es bedeutet, eine solche Brücke zwischen denJungen und den Alten zu bauen, merken Sie dann, wennSie sich einmal anschauen, wie nach Ihren Modellen dieBeiträge gestiegen wären und wie wir sie durch die Artund Weise, wie Walter Riester Rentenpolitik macht, sta-bil halten. Meine Damen und Herren, das Stabilhaltender Rentenbeiträge ist nicht nur wegen der Lohnneben-kosten ein Gebot ökonomischer Vernunft, es ist auch einGebot der Generationengerechtigkeit. Den Jungen müs-sen die Renten bezahlbar bleiben, und für die Altenmüssen sie sicher bleiben. Das ist Kern unserer Renten-politik, und deshalb werden wir sie auch weitermachen.
Trotz der Sparbedingungen, von Ihnen veranlaßt, un-ter denen wir zu leben haben, sind die Mittel für denAufbau Ost und für die Infrastruktur nicht gekürzt wor-den. In diesem Zusammenhang will ich Ihnen sagen,was wir Ihnen nicht durchgehen lassen: Sie reden hierüber Kürzungen im Verkehrssektor und verschweigenden Menschen – oder versuchen es planmäßig –, daß derBundesverkehrswegeplan – das ist jener Plan, in demalle Verkehrsinvestitionen aufgeführt sind – zu IhrenZeiten aufgestellt wurde und mit 70 Milliarden DM un-terfinanziert war. Sie haben nichts als heiße Luft produ-ziert!
Wer in dieser Weise unverantwortlich Versprechengemacht hat, wie Sie es mit dem Bundesverkehrswege-plan getan haben, wer keine Deckung für 70 Mil-liarden DM schafft, der macht wirklich unseriöse Poli-tik
und hofft darauf – was auch eingetreten ist –, daß anderedie Suppe auslöffeln müssen, die man ihnen eingebrockthat.
Es ist deutlich geworden, wie merkwürdig, wahr-heitsverschleiernd und wahrheitswidrig
Sie in der letzten Zeit argumentiert haben. Es grenztdoch schon an Lächerlichkeit, wenn Sie auf der einenSeite die Notwendigkeit des Sparens nicht bestreiten undauf der anderen Seite immer neue und immer mehr For-derungen in die Welt setzen, ohne sich auch nur die Mü-he zu machen, einmal ein Programm vorzulegen, damitman nachrechnen kann. Sie fordern immer nur mehr undsagen nie, wie das bezahlt werden soll. Diese Politik ha-ben Sie 16 Jahre lang gemacht. Schluß ist jetzt mit die-ser Politik!
Daß wir jetzt versuchen, das in Ordnung zu bringen,um die Handlungsfähigkeit der Politik und die Gestal-tungsfähigkeit unserer Gesellschaft wiederherzustellen,stößt natürlich auf Widerstände. Wir erleben das; esmacht keinen Sinn, darum herumzureden. Natürlichschmerzen mich die Wahlniederlagen der vergangenenSonntage,
mich besonders deshalb, weil ich erneut die Erfahrunggemacht habe, daß der Sieg viele Väter – und auchMütter – hat, die Niederlage aber nur einen.Aber ich sage Ihnen: Von der Richtigkeit dieser Poli-tik bin ich überzeugt. Ich bin auch davon überzeugt, daßsie Erfolge zeitigen wird, in der Gesellschaft und dannauch wieder bei Wahlen. Denn die Menschen werdenbegreifen, wer wirklich dabei ist, ihre eigene Zukunftsowie die Zukunft ihrer Kinder und Enkel zu sichern,und wer sie durch Schuldenpolitik verspielt hätte, wennman ihn weiter gelassen hätte. Das hätten Sie getan.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Daß Sie, meine Damen und Herren von der Opposi-tion, angesichts der Wahlerfolge jubeln, ist verständlichund menschlich absolut nachvollziehbar. Aber eines istgar nicht so sicher, nämlich ob das auf Dauer reicht. Siewerden alsbald gefragt werden, was Sie denn inhaltlichanzubieten haben. Diese Zeit kommt sehr viel schneller,als Sie glauben; seien Sie dessen sicher. Sie werden dasvor einem ganz interessanten Hintergrund gefragt wer-den, nämlich vor dem Hintergrund, daß die Wirtschaftin Deutschland auf Erholungskurs ist. Die Unterneh-mensbefragungen des Ifo-Institutes zum Beispiel zeigen,daß die Stimmung in der westdeutschen Industrie spür-bar aufgehellt ist. Die Geschäftserwartungen der Unter-nehmen sind bereits im fünften Monat in Folge aufwärtsgerichtet. Die Exporte haben die Talsohle deutlichüberwunden.Übrigens: Daß ein Land, das in der Weise wie wirexportabhängig ist, dann, wenn die Märkte in Südameri-ka zusammenbrechen, in Asien nach wie vor in Schwie-rigkeiten sind und es auch in Rußland nicht so läuft, wiewir uns das alle vorstellen, geringere Wachstumsratengenerieren kann als ein anderes Land, dürfte doch wohlauf der Hand liegen. Das können Sie beim besten Willennicht einer wie auch immer gearteten und von wem auchimmer gemachten Politik unterstellen.Der Export hat die Talsohle überwunden. Die Aus-fuhr im Juni liegt erstmals seit Herbst wieder klar überVorjahresniveau, nämlich 4 Prozent höher; auch imJuli wurde der Vorjahresstand übertroffen: um 2,8 Pro-zent. Die Auftragseingänge aus dem Ausland sind imverarbeitenden Gewerbe gestiegen. So stellte es dieBundesbank in ihrem jüngsten Monatsbericht fest. Au-ßerdem hat sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeitder deutschen Wirtschaft im ersten Halbjahr deutlichverbessert.All das sind ermutigende Anzeichen, die nicht zuletztdurch unsere Steuerpolitik hervorgerufen wurden.
Durch die Steigerung der Masseneinkommen ziehtnämlich die Inlandsnachfrage an. Das ist so, meine Da-men und Herren.
Während Sie regierten, hatte sich der deutsche Einzel-handel daran gewöhnt, daß die Umsätze Jahr für Jahr um2 Prozent zurückgingen. Jetzt sind sie erstmals wiederum 1 Prozent gestiegen. Das zeigt, daß eine Politik, die aus einer soliden Mi-schung zwischen Angebots- und Nachfrageorientie-rung besteht, ihre Wirkung nicht verfehlt. Diese Politik,die wir jetzt machen, werden wir auch weiterhin betrei-ben.
Wenn man einen Strich darunter zieht,
dann kann man feststellen, daß auf der einen Seite dieAngriffe der Opposition abwegig sind, auf der anderenSeite die Politik, die wir gemacht haben – –
– Natürlich werden das die Wähler entscheiden, immerwieder. Aber warten Sie es einmal ab. Wir alle müssenuns dieser Entscheidung beugen: Sie am 27. Septemberletzten Jahres und wir diesmal. Niemand will doch dar-um herumreden. Sie können sich aber sicher sein, daßdie Wählerinnen und Wähler ziemlich genau erkennenwerden, daß nur diese Konsolidierungs- und Sparpolitikund der Abbau des Schuldenberges für sie selbst, ihreKinder und Enkel der richtige Weg ist, auch wenn dasnoch ein wenig dauert. Auf diese Erkenntnis, auf dieseVernunft setzen wir.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition –ich kann das ja unter machtpolitischen Gesichtspunktennachvollziehen –, werfen sich nun aber wirklich jedemInteressenverband in die Arme, wo immer die Arme of-fen sind und wo Sie ihn finden.
Dabei sind Ihnen die Positionen, die Sie früher einmaleingenommen haben, völlig gleichgültig. Aber auch die-ses Verhalten wird mehr und mehr zum Gegenstand derpolitischen Auseinandersetzung in Deutschland werden.Es geht nicht zuletzt um die Frage, ob wir durch die hierentworfene und durchgeführte Politik sowohl das Ge-meinwohl definieren als auch dieses definierte Ge-meinwohl gegen die Interessengruppen, die berechtig-terweise ihre Einzelinteressen vertreten, durchsetzenkönnen. Sie scheinen zur Zeit zu glauben, daß alleindurch die Summierung der Einzelinteressen das Ge-meinwohl definiert werden könnte. Daß das aber nichtso ist, werden auch Sie noch erleben.
Natürlich tut es mir weh, wenn ich mit harter Kritikvon den Freunden aus der Gewerkschaftsbewegung undaus anderen Verbänden, seien es Naturschutzverbändeoder auch andere, die uns nahestehen, konfrontiert wer-de. Das schmerzt mehr, als wenn es Kritik aus der übli-chen Ecke wäre, mit der umzugehen man gewohnt ist.Aber auch denen, die einem besonders nahestehen, mußgesagt werden: Gemeinwohl ist nicht identisch mit derSumme der Einzelinteressen. So vertretbar es ist, daß je-der für sich und seine Mitglieder streitet, so sehr ist esdie Aufgabe demokratischer Politik, das Gemeinwohl zudefinieren und durchzusetzen. Das werden wir in diesemHause tun!
Wir haben einen enormen Veränderungsdruck imLand. Die ökonomische Basis dieser Gesellschaft verän-dert sich in einer Schnelligkeit, in einer Radikalität, diewir bisher nicht erlebt haben. Wenn sich vor diesemBundeskanzler Gerhard Schröder
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Hintergrund, nicht zuletzt durch Ihr Agieren, das poli-tisch-soziale System als veränderungsunwillig und ver-änderungsunfähig erweist, dann wird es in diesem Landwirklich ein böses Erwachen geben. Sie arbeiten daran,daß das so ist – leider, muß ich sagen. Wenn Sie dasschon praktizieren, dann hören Sie wenigstens auf, so zutun, als stünde für Sie das Staatsinteresse höher als dasParteiinteresse. Es ist schnödes Parteiinteresse, was Sieda buchstabieren und was Sie da gegenseitig durchzu-setzen versuchen.
Wir werden dieses Zukunftsprogramm im DeutschenBundestag beschließen; wir haben die Mehrheit dafür.Sie werden auch sehen, daß diese Mehrheit für diesesProgramm steht. Ich bin davon überzeugt, und Sie wer-den davon überzeugt werden.Dann werden wir natürlich auch mit den Ländern zureden haben. Selbstverständlich wird mit den Länderngeredet. Aber wir werden mit den Ländern auf der Basisdessen reden, was die Mehrheit hier im Deutschen Bun-destag beschlossen haben wird. Das will das Grundge-setz so. Ich bin ganz sicher, das wollen auch die Länder-regierungen so. Sie wissen ganz genau, daß Solidaritätkeine Einbahnstraße ist. Das weiß man in Bremen. Dasweiß man im Saarland. Das weiß man auch in den ost-deutschen Ländern.
Deswegen bin ich ganz ruhig, meine Damen und Her-ren, was die Gespräche mit dem Bundesrat angeht. DenLändern werden wir vermitteln, daß es in ihrem eigenenInteresse ist, daß mit Ihrer unverantwortlichen Schul-denpolitik Schluß gemacht wird.
Zum Verhältnis zur Opposition: Regierung undOpposition sind – das erleben wir doch gegenwärtig –Gegner im politischen Machtkampf. Aber sie sind keineFeinde. Dieser Unterschied muß gesehen werden.
– Nein, Feindseligkeit empfinde ich wirklich nicht;Gegnerschaft schon, aber Feindseligkeit nicht. Sie sindkeine Feinde, meine Damen und Herren.
Sie dürfen es übrigens auch nicht werden in einer De-mokratie.Das schafft grundsätzliche Gesprächsmöglichkeiten;das ist keine Frage. Übrigens: Daß es diese grundsätzli-chen Gesprächsmöglichkeiten zwischen Regierung undOpposition gibt, hat sich in der Kosovokrise Gott seiDank erwiesen. Natürlich muß es solche Gesprächs-möglichkeiten immer wieder geben. Der Grundsatz, daßwir nicht Feinde, sondern Gegner sind, bleibt in Kraft,und er führt zu Gesprächsmöglichkeiten.Aber – das höre ich auch aus Ihren Reihen, und dasfinde ich vernünftig – diese Gespräche müssen auf einerklaren Grundlage geführt werden, wenn man sie führt.Die klare Grundlage wird das beschlossene Zukunfts-programm sein. Ich bin ganz sicher: Danach kann manreden, aber nicht vorher.
– Nein, das hätte doch gar keinen Sinn. Sie werden inden Ausschüssen reden. Danach werden wir schon dar-über ins Gespräch kommen – das ist vernünftig –, aber –ich sage es noch einmal – auf einer klaren Grundlage,nämlich auf der Grundlage der Entscheidungen dieserKoalition. Daran wird nicht gerüttelt werden, meineDamen und Herren.
Ich habe – lassen Sie mich das abschließend sagen –den Weg, den wir in den nächsten Monaten gehen, skiz-ziert. Das ist unser Weg. Er ist schwierig; das weiß ich,meine Damen und Herren. Aber seien Sie sicher: Wirwerden den Weg gehen, mit dem Mut und mit der Ent-schlossenheit, die Deutschland jetzt braucht.
Ich erteile nun demKollegen Wolfgang Gerhardt, dem Fraktionsvorsitzen-den der F.D.P., das Wort.Dr. Wolfgang Gerhardt (von Abgeordnetender F.D.P. mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Wir sind, wie derBundeskanzler erklärt hat, keine Feinde. Wir sind Geg-ner und Wettbewerber. Wir streiten um die Sache. Aber,Herr Bundeskanzler, wenn Sie mit der Opposition überGlaubwürdigkeit streiten wollen, dann schlägt dies aufSie zurück. All das, was Sie hier erklärt haben, was not-wendig sei, wo gespart werden müsse und was so nichtmehr weitergehe, hätten Sie den Wählerinnen undWählern der Bundesrepublik Deutschland im letztenBundestagswahlkampf sagen sollen.
Ihr Glaubwürdigkeitsverlust und die Enttäuschung,die sich im Land breitmacht, haben ursprünglich etwasdamit zu tun, wie Sie den Bundestagswahlkampf geführthaben. Sie haben den Bundestagswahlkampf zusammenmit Oskar Lafontaine nach dem Motto „Wer bietetmehr?“ geführt und genau das gemacht, was Sie jetztuns, der Opposition, vorwerfen. Jeder Interessengruppehaben Sie eine Zusage gemacht. Den Bildungsetatwollten Sie verdoppeln. Die Renten wollten Sie höhergestalten. Den Arbeitsmarkt wollten Sie besser regulie-ren. Alles sollte finanziell besser ausgestattet werden.Man kann sagen: Sie hätten es besser wissen müssen.Wenn Sie es nicht gewußt haben, waren Sie politischnicht auf der Höhe der Zeit. Wenn Sie es aber gewußthaben, haben Sie die Menschen betrogen. Das ist derVorgang, über den wir sprechen müssen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Am Anfang Ihrer Regierungszeit haben Sie auf Ko-ordinationsmängel hingewiesen. Das war eine Erklä-rung, die Sie in der Öffentlichkeit abgegeben haben,weil Sie, als Sie im Kanzleramt waren, urplötzlich fest-gestellt haben: Es geht wohl nicht so, wie ich es demdeutschen Volk erklärt habe.Dann haben Sie gemerkt, daß Sie nachbessern müs-sen. Sie haben daraufhin die Nachbesserungsphaseeingeläutet. Wir warten immer noch auf die Nachbesse-rungen in Ihren Gesetzen. Dauernd wird über Nachbes-serungen gesprochen. Die Arbeitsgruppen tagen immernoch. Aber draußen gehen Arbeitsplätze verloren.Seit gestern haben Sie zusammen mit dem Bundesfi-nanzminister die Suche nach dem Schuldigen eröffnet.Jetzt erklären Sie die Opposition für schuldig. Nein,Herr Bundeskanzler, so haben wir nicht gewettet.Erstens. Die DDR war pleite. Nicht die Marktwirt-schaft hat die Wirtschaft der DDR ruiniert, sonderndas SED-System. Die dadurch entstandenen Schuldenkönnen Sie nicht der früheren Bundesregierung aufhal-sen.
Zweitens. Als der frühere Bundesfinanzminister TheoWaigel mit den Ländern, mit Ihnen, mit Herrn Lafon-taine und mit Herrn Eichel, verhandeln mußte, wie derBeitrag der Länder in bezug auf die gesamtstaatlicheBewältigung dieser schwierigen Situation aussehensollte, da waren diese Personen nicht die Helden derNation, die freundlichst gesagt haben: Lieber Herr Kol-lege Waigel, wir wollen das zusammen mit Ihnen finan-ziell bewältigen. Diese Herren haben sich einen sehr,sehr schlanken Fuß gemacht.
Obwohl sie sich einen schlanken Fuß gemacht haben,hat Herr Lafontaine die Schulden im Saarland von 1985bis 1998 um 70 Prozent gesteigert, wie mir von meinenMitarbeitern mitgeteilt wurde.
In Ihrer Regierungszeit als niedersächsischer Minister-präsident, Herr Bundeskanzler, hat das Land Nieder-sachsen trotz des schlanken Fußes in bezug auf die Ver-einigungskosten seine Schulden um 72 Prozent gestei-gert.
Das einzige Sparbrötchen war Herr Eichel. Aber auch erhat es geschafft, die Schulden des Landes Hessen um 59Prozent zu steigern.
Vorsorglich nenne ich an dieser Stelle schon einmalSchleswig-Holstein. Schleswig-Holsteins Schulden wur-den um 70 Prozent gesteigert.Meine Damen und Herren, wenn Sie mit einem Fin-ger auf die Opposition zeigen, zeigen vier Finger auf Sieselbst zurück: Hessen, das Saarland, Niedersachsen undSchleswig-Holstein.
Herr Bundeskanzler, es gibt eine kurze Vorberichter-stattung über eine Publikation, die der so sorgsam ver-schwiegene eigentliche Erblasser Oskar Lafontaine imZusammenhang mit den Bundesfinanzen herausgibt.
Darin soll geschrieben stehen, daß der damalige Mini-sterpräsident von Hessen, Herr Eichel, ihn gebeten habe,vor der hessischen Landtagswahl doch keine ernsthaftenSparbemühungen zu zeigen. Das könne sich ja nachtei-lig auswirken.Ich weiß jetzt noch nicht, ob das so publiziert werdenwird, aber es spricht vieles dafür, daß das so gewesensein könnte.
Wenn es so gewesen ist, dann wollen wir nicht zulassen,daß der früheren Bundesregierung unter unserer Beteili-gung der Vorwurf gemacht wird, die Finanzen ver-schleudert zu haben, während der eigentliche Erblasser,der den letzten Haushalt um 6,8 Prozent gesteigert hat,um die Wahlversprechen den Getreuen gegenüber zu er-füllen, hier völlig außen vor bleibt und Sie uns dieSchuld zuweisen. So haben wir nicht gewettet!
Sie wissen so gut wie ich, daß Sie Ihr Sparpaket einSparpaket nennen und daß es guten öffentlichen An-klang findet; Sparen ist richtig. Dort, wo Sie sparenwollen, haben wir nichts dagegen. Wir weisen aber diedeutsche Öffentlichkeit und auch viele Vertreter ausnamhaften Verbänden, die die Bundesregierung zumSparkurs beglückwünschen, ausdrücklich darauf hin, siemögen sich doch bitte das Sparprogramm genau anse-hen: Zwei Drittel des Sparprogramms sind Verschiebe-bahnhöfe.
Das ist in etwa so, als wenn eine Familie beschließt zusparen und eine Anschaffung nicht vorzunehmen, derEhemann sagt: „Ich mache sie nicht“, aber die Ehefraubittet, sie zu tätigen. Sie schieben die Ausgaben desBundes an Länder und Gemeinden weiter. Sie schiebenanderes in das Versicherungssystem.Uns erklären Sie hier, Sie würden zu Ihrem Kurs be-glückwünscht. Sie wissen doch selbst, daß das keinernsthaftes Sparprogramm ist, so wie es Menschen, dieunter Sparen richtiges Sparen verstehen, begreifen wol-len.
Deshalb legen Sie kein Sparprogramm vor. Wenn Sie esvorlegen würden, müßten Sie ihm im übrigen eine klareSteuerreform folgen lassen; erst dann macht SparenDr. Wolfgang Gerhardt
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Sinn. Es nutzt doch nichts, nur ein Sparprogramm vor-zugeben, ohne wirtschaftliche Impulse zu setzen. Des-halb leiden Sie ja so – ich kann Sie verstehen –: Sie lei-den unter dem Vorwurf der mangelnden sozialen Aus-gewogenheit, weil dieser Vorwurf gar nicht zutrifft. Ichmuß mich geradezu vor Sie stellen. Sie bekommenVorwürfe, die überhaupt nicht zutreffen.
Sie haben vorhin gegenüber der Opposition erklärt,das, was wir in der letzten Legislaturperiode mit derRente gemacht hätten, sei nicht in Ordnung gewesen.Lieber Herr Bundeskanzler, Sie sind in den Wahlkampfgezogen, haben die Rentenreform der früheren Bundes-regierung als soziale Schweinerei bezeichnet und lassenjetzt die Rentner dafür zur Ader.
Ich kann nicht akzeptieren, daß Sie hier die Unwahrheitsagen. Bei uns, bei der alten Koalition, war die Renten-formel immer eine Funktion des Arbeitnehmereinkom-mens. Sie wollen sie davon abkoppeln. Das lassen wirnicht zu. Darum geht es zur Zeit in der BundesrepublikDeutschland.
Herr Bundeskanzler, Sie haben einen Wahlkampf ge-führt, in dem Sie den Menschen versprochen haben, esgebe keine Zuzahlungen bei Medikamenten mehr. Siehaben dann gemerkt, daß das nicht funktioniert, und ha-ben die Zuzahlungen belassen. Sie haben den Menschenerklärt, Sie wollten ein Wettbewerbssystem – Sie habendas in Ihr gemeinsames Papier mit Tony Blair geschrie-ben. Jetzt reglementieren und budgetieren Sie wieder imGesundheitswesen.Sie haben erklärt, daß Sie eine Flexibilisierung amArbeitsmarkt wollen. Sie haben die 630-Mark-Verträge quasi ausgelöscht, und Sie beginnen einenKampf gegen die Selbständigkeit in Deutschland.Gleichzeitig schreiben Sie, Unternehmen müßten genü-gend Spielraum haben und dürften nicht durch Regulie-rungen und Paragraphen erstickt werden. Wir könnenIhnen helfen: Legen Sie die Abschaffung der 630-Mark-Gesetze und der Regelungen zur Scheinselbständigkeithier vor! Die Opposition stimmt dann zu. Dafür gibt eseine deutliche Mehrheit.
Sie haben vorhin davon gesprochen – und auch öfterschon etwas dazu publiziert –, daß Sie eine Balance zwi-schen wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Gerechtig-keit suchen. Sie sagen, Sie wollen den Sozialstaat mo-dernisieren, aber nicht abschaffen. Sie wollen – wieauch wir – aus einem sozialen Sicherheitsnetz der An-sprüche zu einem Sprungbrett der persönlichen Verant-wortung kommen. Und Sie sagen einen Satz, für den Siemich früher als ganz üblen Neoliberalen beschimpft ha-ben. Er lautet: Es gibt nicht nur ein moralisches Rechtauf Arbeit, sondern auch eine Pflicht zu arbeiten. WennSie den Grundsätzen, die Sie mit Tony Blair inDeutschland publiziert haben, in der Gesetzgebung dochnur endlich Geltung verschaffen würden! Das ist dochalles richtig.
Dafür kritisiert Sie die Opposition nicht.Sie haben vorhin gesagt, gelegentlich würde aus derGesellschaft Kritik gegen Ihre Vorhaben laut. Die Ge-sellschaft sitzt hier, wir sind alle versammelt. Hier wer-den die Vorwürfe laut.
Eine Kollegin aus Ihrer Partei hat gesagt, wenn Siediese Themen publizieren, würden Sie als Vertreter desSecond-Hand-Neoliberalismus kritisiert. Ich bin ein Li-beraler aus erster Hand und sage Ihnen, die Kritik istvöllig ungerecht, selten ist jemand für etwas kritisiertworden, was er überhaupt nicht macht; denn Sie bleibenIhren Grundsätzen in der Gesetzgebung nicht treu. Siemachen gar nicht das, was notwendig wäre.
Es gibt einige wenige Notwendigkeiten, die untervernünftigen Menschen völlig unstreitig sind.
Zu diesen Menschen hat sich im Sommer in einem be-stimmten Abschnitt der Kollege Struck gesellt. Ich willIhnen die Notwendigkeiten nennen, weil Sie immer for-dern, die Opposition müßte sagen, was sie will. Ich sageIhnen das jetzt ganz klar: Es muß sichergestellt werden –das wissen auch Sie –, daß in einem Land, das wettbe-werbsfähig werden will, Unternehmen, Arbeitnehmerund Bürger mehr vom Ertrag ihrer Leistungen behalten.Das ist das berühmte „mehr Netto für alle“.Herr Bundeskanzler, wenn Sie sagen: „mehr Netto füralle“ sei ein Ziel Ihrer Politik, dann beseitigen Sie in denSteuergesetzentwürfen die uns bekanntgewordene Dis-kriminierung von Einkommensarten. „Mehr Netto füralle“ bedeutet wirklich mehr Netto für alle,
bedeutet mehr vom Ertrag der eigenen Leistung.Es ist sogar ein Bürgerrecht und nicht nur einefinanzpolitische Frage, daß Menschen mehr vom Ertragihrer Leistung behalten können, weil nur dann die Inve-stitionsbereitschaft gesteigert wird und Arbeitsplätzeentstehen. Deshalb sagen wir: Wir sind jederzeit bereit,mit Ihnen im Bundestag über Parteigrenzen hinweg eineSteuerreform zu beschließen, die den Namen auch ver-dient. Wir haben dazu die Steuersätze genannt: 15 Pro-zent, 25 Prozent und 35 Prozent.
Herr Struck hat sie als einen Weg zu mehr Gerechtig-keit bezeichnet. Die Union hat erkennen lassen, daß sieeinem solchen Modell zustimmen könnte. Es gibt imDr. Wolfgang Gerhardt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4839
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Deutschen Bundestag dafür eine Mehrheit. Dann ma-chen wir es doch, dann legen Sie es vor!
Ich komme nun zu dem Thema Glaubwürdigkeit.Sie appellieren an die Opposition, jetzt nicht die Situati-on auszunutzen, in der Sie große Sparanstrengungenunternehmen, die nicht jedem zusagen. Ihr Wort hättehöheres moralisches Gewicht, wenn Sie nicht tatenloszugesehen hätten, wie Oskar Lafontaine drei Jahre langeine vernünftige Steuerreform blockiert hat. Da habenSie als Ministerpräsident, kein Wort gesagt.
Mein zweiter Vorschlag: Sagen Sie den Gesprächs-teilnehmern an den runden Tischen, die jetzt zu einerArt neues Verfassungsmöbel geworden sind, daß mannicht nur zusammensitzt, um etwas zu besprechen – einrunder Tisch ersetzt keinen klaren Kopf –, sagen Sie denTarifvertragsparteien, daß die mittleren und kleinenUnternehmen, die über 50 Prozent der Steuern inDeutschland bezahlen, 85 Prozent der Arbeits- und Aus-bildungsplätze stellen und 51 Prozent des Bruttosozial-produkts erwirtschaften, tarifpolitische Maßanzüge undkeine Konfektionsware brauchen, daß der Flächentarifgeöffnet werden muß, weil wir Optionen brauchen, daßder Flächentarif Ballast abwerfen und flexibler werdenmuß, um betriebliche Bandbreiten zu ermöglichen.
Gehen Sie weiter auf Deregulierungs- und Privatisie-rungskurs. Welchen Widerstand haben wir gegen dieTelekom- und die Bahnprivatisierung erlebt! Was habenSie für Affentänze in der deutschen Öffentlichkeit auf-geführt, als wir bei den Energieversorgern an die Ge-bietsmonopole gingen! All das, was Sie unter staatlicherIntervention verstehen, ist zutiefst verbraucherfeindlich.Jetzt erleben die Menschen den Wettbewerb bei denTelefonkosten,
jetzt können sie nachprüfen, daß Wettbewerb zu günsti-geren Preisen führt. Jetzt erleben sie bei den Stromprei-sen günstigere Möglichkeiten.
Der frühere Zustand hat die Betriebe belastet.Nein, mit Ihrer Weltanschauung, in Deutschland wärees besser, wenn alles öffentlich-rechtlich organisiert wä-re, wenn die Post von Beamten ausgetragen würde, weilsonst wahrscheinlich keine Post zugestellt würde, er-wecken Sie den Eindruck – Sie haben ihn jahrelang er-weckt –, als wäre jede Veränderungsbereitschaft vonÜbel. Sie wollen heute der Kronzeuge für Verände-rungsbereitschaft in Deutschland sein, stellen sich aberhier hin und tun so, als sei die Opposition daran schuld.
Sie haben das Land mit Ihrer bemerkenswerten sozial-demokratischen Programmatik lange Zeit viel gekostet.
Herr Bundeskanzler, kommen wir doch einmal aufdie Pflicht zur Arbeit zu sprechen.
Dazu schlage ich Ihnen vor, hier ein Einvernehmen zufinden, das auch Gerechtigkeit ausstrahlt.
Ich formuliere es ganz klar: Das Einkommen, das einArbeitnehmer auf dem ersten Arbeitsmarkt erzielt, wenner einen Job annimmt, muß auf jeden Fall höher sein alsdie staatlichen Transferleistungen, die er bei Nichtan-nahme eines Jobs bekommt.
Als wir das gesagt haben, haben Sie erklärt, das seietwas aus dem Giftschrank. Ich halte es für ein Gebotder Gerechtigkeit in Deutschland, daß den Menschen,die einen Job annehmen, mehr im Portemonnaie ver-bleibt als denen, die ihn nicht annehmen.
Ich fordere Sie auf, in Kombination mit der Reformsozialer Sicherungssysteme mit uns über ein Lohnab-standsgebot nicht nur öffentlich zu räsonieren, sondernes dann auch zu manifestieren.
Sie sagen öffentlich – auch vorhin wieder –, daß Sieaus einem Sicherheitsnetz der Ansprüche ein Sprung-brett der persönlichen Verantwortung machen wollen.Ich sage Ihnen: Das können Sie gern mit uns beraten.Ich mache Ihnen dann aber auch den Vorschlag, die so-zialen Sicherungssysteme nicht durch Ökosteuern zu fi-nanzieren, sondern wirklich zu reformieren. Das kannnur so gehen, daß Sie eine Pflicht zur Mindestabsiche-rung schaffen, aber Wahlmöglichkeiten schaffen undSteuern senken, damit die Menschen überhaupt mehrMöglichkeiten bekommen, über ihr Geld zu disponieren,und daß Sie Grundrisiken abdecken, aber keine Vollkas-koversicherungsmentalität erzeugen. Diese ist tatsäch-lich nicht mehr finanzierbar.Solange Sie den Menschen diese unangenehmenWahrheiten nicht mitteilen, solange Sie sie über eineÖkosteuererhebung umgehen, werden Sie die Porte-monnaies von Arbeitslosen, Studenten und Rentnernstärker belasten. Sie werden die Belastungen nur fürdiejenigen etwas zurücknehmen, die Arbeitsplätze ha-ben. Sie werden aber die wirkliche Reform sozialer Si-cherungssysteme weiter vor sich herschieben.
Herr Bundeskanzler, Sie sind in den Überschriften, inden Headlines der Veröffentlichungen dessen, was ge-ändert werden müßte, durchaus präsent, aber – das istmein Vorwurf – Sie tun es nicht.
Sie machen weder eine Reform der sozialen Sicherungs-systeme noch eine wirkliche Steuerreform. Sie legenDr. Wolfgang Gerhardt
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4840 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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auch kein wirkliches Sparprogramm vor. Dies kritisierenwir an Ihnen. Sie erscheinen uns so bemerkenswert me-dienwirksam, aber ohne substantiellen politischen Hin-tergrund.
Wenn Sie keine substantielle Basis Ihrer Politik schaf-fen, werden Sie auch mit Ihrer eigenen Partei nicht zu-rechtkommen.Sie sagen: Der Staat muß sich weit effektiver organi-sieren. Dann setzen Sie doch die Deregulierungs- undPrivatisierungsbemühungen fort! Es gibt keine Alterna-tive, wenn der Staat sich weit effektiver organisierenmuß. Aber Ihre Gegner, die Sie bei dem, was Sie öffent-lich verkünden, immer ausmachen, sitzen nicht in derOpposition. Die Gegner, die Sie daran hindern, einensolchen Weg zu gehen, sitzen in Ihrer eigenen Partei.Sagen Sie doch Ihren Freunden einmal, daß ein Un-ternehmen Gewinne machen muß, wenn es Arbeitsplätzeschaffen will, daß Gewinne kein Teufelszeug sind,
daß nicht manche Einkommensarten diskriminiert wer-den können. Sagen Sie auch Ihrem grünen Koalitions-partner, daß dieses Land dann, wenn es erfolgreich seinwill, wissenschaftliche Spitze braucht,
daß es eine Elite braucht, daß es pädagogisch verant-wortete Leistungsfeststellungen braucht, daß es demBildungssystem nicht die Spitze nehmen kann, daß esbereit sein muß, wissenschaftliche Neugier zuzulassenund nicht wissenschaftliche Neugier zu begrenzen. Sa-gen Sie Ihrer Koalition, daß das alte Gedankenbild derHegemonie der 68er Bewegung weg muß, wennDeutschland wieder wettbewerbsfähiger sein will, denndas ist in Ihren Reihen noch weitgehend vorhanden.
In den neuen Bundesländern hat die Koalition vonCDU/CSU und F.D.P. eine gewaltige Anstrengung un-ternommen. Wir haben die Infrastruktur vorangebracht.Wir haben das Programm auf Mittelstand, Einzelhandelund Gewerbe konzentriert. Wir haben in keinem Jahrunserer Verantwortung Mittel gekürzt.
Wir haben eine Perspektive geboten, indem wir ein Pro-gramm bis 2004 aufgelegt haben.Sie haben vor der Bundestagswahl erklärt, das werdejetzt Chefsache, und somit den Eindruck erweckt, daswerde noch etwas mehr. Jetzt kommt es dagegen zueinem Abbruch bei Verkehrsinfrastrukturvorhaben derSchiene. Es geht nicht darum, daß jemand aus der Oppo-sition Finanzierungssachverhalte zugesagt haben möch-te, Kritik an Ihnen üben möchte, und Sie ihm vorwerfen,man müsse auch Sparbemühungen betreiben. Nein, mei-ne Damen und Herren, wir haben als frühere Koalitionimmer erklärt: Der Aufbau Ost liegt auch im Interessedes Westens der Bundesrepublik Deutschland. DieseSparbemühungen sind von Übel. Die Infrastruktur mußvorangebracht werden, weil die Menschen Lebensper-spektiven brauchen. Deshalb ist das so falsch.
Der Kollege Schäuble hat deshalb sehr differenziert vor-getragen, bei welchen Maßnahmen gespart werden mußund wo wir beschleunigen müssen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie sind deshalb indiesen Turbulenzen, weil Sie selbst spüren, daß Ihreeigene Glaubwürdigkeit durch den Bundestagswahl-kampf, durch das sozialdemokratische Programm, durchden Erwartungshorizont, den Sie erweckt haben – ehergegen den Strukturwandel als zugunsten des Struktur-wandels –, jetzt auf dem Prüfstand steht. Sie sind des-halb in diesen Turbulenzen, weil Sie ihre eigene Parteinicht auf einen Kurs bringen können, der die Wettbe-werbsfähigkeit für Deutschland verbessern würde. Siehaben es gedanklich mit den Bodentruppen von OskarLafontaine zu tun, die sich fast gegen jeden Struktur-wandel gestellt haben.Als CDU/CSU und F.D.P. darangingen, Verhandlun-gen über die Kohlesubventionen zu führen, wurde unse-re Parteizentrale abgesperrt, und Oskar Lafontaine er-schien mit dem bekannten Modernisierer Joseph Fischerbei den Bergleuten und sagten ihnen – wie aus dem Ge-schichtsbuch des Arbeiterkampfes – zu, es solle alles sobleiben. Was heißt diese Zusage? Subventionen, die sichauf mehr als 100 000 DM für einen Arbeitsplatz belau-fen, für Produkte, die so nicht mehr auf dem Weltmarktabgesetzt werden können, und die Reduzierung des Bil-dungshaushaltes. Treten Sie bitte hier nicht vor uns undverweisen uns auf Sparbemühungen,
wenn Sie die Erhaltungssubventionen der Vergangenheitweiterführen und für die Bildung nichts auf die Rampebekommen! Das lassen wir so in der öffentlichen Dis-kussion nicht stehen.
Der Kosovokonflikt hat manches überlagert und dietatsächliche innenpolitische Lage verschleiert. Er hat,Herr Bundesaußenminister, meiner Überzeugung nachaber auch ein Stück Außenpolitik überlagert. Nach demKosovokonflikt – so lese ich es jedenfalls in den Zeitun-gen – spürt man bei außenpolitischen Auftritten vor al-lem des Bundeskanzlers eine Art neue deutsche Schnod-derigkeit.
Es ist so, wie ich es sage. Der Bundeskanzler hat in Un-garn geredet, einem Land, das für uns die Grenze geöff-Dr. Wolfgang Gerhardt
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net hat. Das „Handelsblatt“, so lese ich, kommentiertdies mit der Bemerkung, es sei so merkwürdig unper-sönlich gewesen.
Vielleicht hänge es damit zusammen, daß der Bundes-kanzler die Ereignisse vor zehn Jahren in den mittel- undosteuropäischen Reformstaaten nur im Fernsehen erlebthabe. Ja, auch ich habe das nur im Fernsehen gesehen.Aber deshalb muß man doch wissen – und dies in derpersönlichen Haltung ausdrücken –, was das für uns be-deutet.
Deshalb geht es mir auch bei innenpolitischen Ent-scheidungen um die außenpolitischen Grundlagen. Werin Deutschland den mittleren und kleineren Betrieben,dem Einzelhandel, im übrigen auch der Landwirtschaftnicht jetzt durch zügigere Entscheidungen bei densteuerlichen Rahmenbedingungen bessere Chancen gibt,der wird immer eher Angst verbreiten, wenn es um dieAufnahme anderer mittel- und osteuropäischer Reform-staaten geht. Nur wenn Sie jetzt schnell das Land in denBereichen, in denen man sich durch neue Wettbewerbergefährdet sieht, stabil und wettbewerbsfähig machen,werden Sie die neuen aufnehmen können.
Wenn Sie die Hausaufgaben nicht erledigen, müssen Siedauernd außenpolitische Verschiebebahnhöfe aufma-chen. Dann aber werden Sie Enttäuschung bei eben de-nen hervorrufen, die die Vereinigung Deutschlands mitmöglich gemacht haben. Das kann man emotional über-haupt nicht vertreten.
Deshalb ist Außenpolitik nichts Abgehobenes, wasman separat von der Innen- und Finanzpolitik behandelnkönnte. Die allererste, vitale Frage im InteresseDeutschlands bezüglich der Überwindung der altenGrenzen in Europa ist die Anwaltschaft Deutschlandsfür die Aufnahme mittel- und osteuropäischer Reform-staaten; denn es darf in Europa keine neue Mentalitäts-und Wirtschaftsgrenze geben.
Wenn Sie das sehen, dann nennen Sie denen, auf die Siesich konzentrieren können, ein anspruchsvolles Datum.Wenn das früh sein muß, dann machen Sie sich daran, inDeutschland den Gruppen und Berufen, die vor diesemWettbewerb Angst haben, stabilere Rahmenbedingungenzu geben, damit nicht Furcht vor der Aufnahme herrscht,sondern die sich daraus ergebenden Chancen erkanntwerden. Da liegt der Fehler Ihrer Politik.
Sie können den Beitrittskandidaten keine Terminenennen. Sie enttäuschen unsere Nachbarn. Sie könnenim Inneren unseres Landes kein Reformprogrammdurchsetzen, weil Sie in Ihrer eigenen Partei keinen Re-formwillen haben.
Sie geben in der Öffentlichkeit das Blair-Papier heraus,machen nur Überschriften und versorgen eine Medien-landschaft. Selten ist die deutsche Politik in den innerenVorhaben und in den äußeren Wahrnehmungen soschwach gewesen wie unter der Kanzlerschaft von Ger-hard Schröder.
Das ist erkennbar. Deshalb sagen wir Ihnen: Es muß garnicht Spitz auf Knopf zwischen Opposition und Regie-rung stehen. Auch wir wissen, was gesamtstaatlicheVerantwortung bedeutet. Aber wenn Sie solche Parolenwie „Reform der sozialen Sicherungssysteme“ und des„Mehr Netto für alle!“ ausgeben, erwarten wir eigentlichschon, daß Sie dann auch danach handeln. Wenn Sie dasnicht tun, können Sie bei der Opposition keine Glaub-würdigkeit ernten. Das mag nicht Ihr Ziel sein. Aber Siemerken doch leidgeprüft, welche Auswirkungen das inder Öffentlichkeit hat.Die CDU könnte Ihre gesamten Abgeordneten auf dieMalediven fliegen. Sie gewinnt gegenwärtig die Wah-len, weil Sie nicht in der Lage sind – ich weiß, auch ichbin leidgeprüft –, Menschen zu vermitteln, welche poli-tischen Ziele Sie überhaupt verfolgen. Ich glaube, siegewinnt die Wahlen, weil die Menschen tief enttäuschtsind, denn sie fragen sich: Was hat uns der Kanzlereigentlich alles versprochen, und warum hält er dasheute nicht? Dieses Defizit lösen Sie nicht durch Redenim Bundestag, sondern durch Veränderung Ihrer Politik.Sie müssen eine neue Politik machen! Sie sind zwarVorsitzender der SPD – damit haben Sie genug zu tun –,aber Sie haben Verantwortung für Deutschland. Darumgeht es.
Nun erteile ich derKollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, dasWort.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Herr Schäuble, Sie haben sehr viel von möglicher Zu-sammenarbeit geredet. Wenn ich aber darüber nachden-ke, was Sie heute gesagt haben, dann finde ich, daß dieAngebote der Zusammenarbeit, von denen so viel ge-sprochen wird, nichts als reine Lippenbekenntnisse sind.Denn Sie haben keinen einzigen konstruktiven Vor-schlag zum Sparen gemacht.
Sie haben keine einzige Alternative vorgestellt. Darausschließe ich: Sie wollen das fortsetzen, was Sie 16 Jahrelange gemacht haben und womit Sie gescheitert sind.Das ist aus unserer Sicht kein Weg zur ModernisierungDr. Wolfgang Gerhardt
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dieses Landes. Deshalb sind diese Angebote zur Zu-sammenarbeit auch nicht wirklich seriös.
Die rotgrüne Bundesregierung hat mit dem Zukunfts-programm 2000 das größte Reformpaket in der Ge-schichte der Bundesrepublik vorgelegt. Nach Jahrzehn-ten der Mißwirtschaft schlagen wir damit endlich einenstrikten Kurs der Konsolidierung des Haushaltes ein.Dieser Kurs ist notwendig, weil – auch ich kann Ihnen,meine Damen und Herren von der Opposition, dasnicht ersparen; man kann es aber auch nicht oft genugsagen – Sie nach 16 Jahren Regierung ein Schuldencha-os hinterlassen haben, das ohne Beispiel ist. Sie habenden Schuldenberg verfünffacht: von 300 Milliarden DMim Jahre 1982 auf jetzt 1,5 Billionen DM. Diese Zahlenlassen sich auch durch noch so viele Rechenkünste – seies heute, sei es gestern von Herrn Merz – nicht schönre-den.Heute werden jährlich 82 Milliarden DM und damitjede vierte Steuermark für Zinsen ausgegeben. Dies istinzwischen nach den Sozialausgaben der zweitgrößteAusgabenblock im Bundeshaushalt. Das heißt: JederMensch in diesem Land, vom Kind bis zur Großmutter,muß dafür im Schnitt jährlich rund 1 000 DM Steuernzahlen.Deshalb bin ich der Meinung: Ihre Politik ist dafürverantwortlich, daß dieses Geld eben nicht für Bildung,nicht für Forschung, nicht für Umweltinvestitionen undnicht für Sozialausgaben zur Verfügung steht, sondernohne Umwege auf den Konten der Banken landet. KeineRegierung hat je zuvor derart auf Kosten künftiger Ge-nerationen gewirtschaftet wie Ihre, meine Damen undHerren von der Opposition.
Wenn wir so weitermachen würden, wie Sie es in denvergangen Jahren gemacht haben, dann hätte der Bundinnerhalb kürzester Zeit keinerlei Handlungs- und Ge-staltungsspielräume mehr. Das ist auch eine Frage dersozialen Gerechtigkeit; denn Sie alle wissen, daß 45Prozent der Staatsausgaben Sozialausgaben sind. Washeißt es denn, wenn wir einen überschuldeten und damiteinen zunehmend finanziell handlungsunfähigen Staatbekommen? Einen armen Staat können sich nur Reicheleisten; denn sie sind diejenigen, die zur Not mit einemStaat, der sich im Schuldenchaos befindet, zurechtkom-men. Die Menschen aber, die ein starkes soziales Netzbrauchen und auf einen aktiven Staat angewiesen sind,brauchen eine entschlossene Bundesregierung, die denBundeshaushalt konsequent konsolidiert.
Es gibt nichts Unsozialeres als einen hochverschuldetenStaat.
Natürlich bedeutet ein solcher Kurs auch, daß es invielen Bereichen schmerzhafte Eingriffe gibt. DieseEingriffe, ob es sich dabei um die Streichung der origi-nären Arbeitslosenhilfe, um die Kürzung in der Alters-sicherung der Landwirte oder um die Kürzung derRentenansprüche von Langzeitarbeitslosen handelt,sollte man nicht schönreden. Ich frage mich aber: Wasist die Alternative? Weiter unbegrenzt Schulden zu ma-chen wäre im Moment vielleicht bequemer, wie man anden Wahlergebnissen sieht. Aber das wäre zutiefst unso-zial.Daher gilt: Wir können so nicht weitermachen; wirmüssen den Haushalt Schritt für Schritt konsolidieren.Wir dürfen nicht weiter auf Kosten künftiger Generatio-nen leben, und wir müssen endlich eine nachhaltige Fi-nanzpolitik machen. Das ist für uns Bündnisgrüne aucheine Frage der Generationengerechtigkeit.
Eine Frage der Generationengerechtigkeit ist es füruns auch, endlich eine umfassende Rentenstrukturreformeinzuleiten. Was haben wir in diesem Zusammenhangin den letzten Monaten von Ihnen, liebe Kolleginnenund Kollegen von der Opposition, nicht alles zum The-ma Renten gehört! Das ist wirklich abenteuerlich; Siesollten es eigentlich besser wissen. So wie bisherkann es mit der Rente nicht weitergehen, weil auf Dauerdie steigenden Kosten auf Grund der gestiegenen Al-terserwartung und damit einem größeren Anteil alterMenschen in der Bevölkerung – heute kommen aufeinen Rentner noch fast drei Erwerbstätige, in 30 Jah-ren aber nur noch anderthalb – nicht einseitig dennachkommenden Generationen aufgebürdet werdenkönnen,
weil sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die wirverbessern werden, nicht von einem Tag auf den ande-ren ändern läßt, kurzum: weil das System – diese Tatsa-che muß man offen diskutieren – zusammenbrechenwürde, wenn wir es nicht endlich umfassend reformie-ren.
Als Sie noch in der Regierung saßen, waren Ihnendiese Tatsachen bekannt. Jetzt in der Opposition tun Sieaber in Ihren Kampagnen so, als ob eine räuberischeBundesregierung der Oma ihre Rente klauen wolle. Indiesem Zusammenhang kann ich Herrn Schäuble genau-so ansprechen wie Sie, Herr Gysi. Ich finde wirklich,daß das eine Volksverdummung im großen Stil ist.
Stellen Sie sich doch endlich den Tatsachen! Diese Tat-sachen heißen: Wir brauchen endlich einen neuen Gene-rationenvertrag, der die Beiträge stabilisiert und der dieKerstin Müller
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Renten, nicht nur die Rente der Großmutter, sondernauch die ihrer Kinder und Enkel, dauerhaft sichert.Die Tageszeitung „Die Welt“ hat Ihnen, Herr Schäu-ble, unlängst ins Stammbuch geschrieben – diese Zei-tung ist nicht verdächtig, rotgrün-nah zu sein –:Ohne rasches und konsequentes Gegensteuern wirddas Rentensystem kollabieren. Die führenden Köp-fe der Union, Parteichef Schäuble zumal, wissenum diese Dringlichkeit. Doch um des kurzfristigenVorteils willen gerieren sie sich als Hüter des Be-sitzstands.
Kurzum: Sie handeln noch immer nach dem Motto„Nach mir die Sintflut“. So haben Sie fast 16 Jahre langregiert und damit das Vertrauen der jungen Generationin die solidarische Rentenversicherung fast völlig zer-stört. Jetzt setzen Sie diese Politik und damit auch dieVerunsicherung der Menschen fort.Und vor allem, Herr Schäuble, Sie schreiben in IhrerAntwort auf die zitierten Vorwürfe:Die Renten sollen weiterhin steigen, allerdings ingeringerem Maße als in früheren Jahren.Was war denn in den vergangenen Jahren? Die Renten-steigerungen in den Jahren zwischen 1982 und 1998 la-gen achtmal deutlich unterhalb der Inflationsrate.
In den vergangenen vier Jahren gab es für die Rentne-rinnen und Rentner jeweils weniger als den Inflations-ausgleich. Wenn wir jetzt die Renten in den nächstenzwei Jahren entsprechend der Preissteigerungsrate anhe-ben, dann bedeutet dies doch keine Kürzung der Renten,wie Sie ständig behaupten, sondern die Sicherung desLebensstandards der Rentnerinnen und Rentner.
Sie kommen immer mit dem Argument – auch heutewieder –: Die Preise sind eben in den vergangenen Jah-ren stärker gestiegen als die Nettolöhne. Als ob diesvom Himmel gefallen wäre, als ob die CDU/CSU-Regierung damit nichts zutun gehabt hätte! Wer wardenn dafür verantwortlich, daß die steigenden Lohnne-benkosten die Bruttolohnerhöhungen jedes Jahr aufge-fressen haben?
Und wer sorgt jetzt dafür, daß die Sozialversicherungs-beiträge gesenkt werden, also die Nettolöhne steigen?
Das macht die rotgrüne Bundesregierung. Sie haben da-von in den letzten Jahren allenfalls geredet, geschaffthaben Sie es nicht. Deshalb machen wir es jetzt.
Wir werden auch eine umfassende Rentenstruktur-reform einleiten. Wir, Bündnis 90/Die Grünen – dasmuß ich einmal sagen –, haben diese Reform bereits ge-fordert, als Sozialpolitiker aller anderen Parteien imChor mit Norbert Blüm noch fest im Glauben gerufenhaben: „Die Rente ist sicher.“ Das war schon damalsUnsinn.Wir brauchen eine Rentenstrukturreform, die diesenNamen wirklich verdient, die den Generationenvertragneu begründet. Im Rahmen dieses Generationenvertra-ges müssen alle ihren Beitrag leisten, nicht nur die jetzi-gen Beitragszahler, sondern auch die jetzige Rentnerge-neration. Der für die nächsten zwei Jahre vorgeseheneRentenanstieg um die Preissteigerungsrate ist deshalbein erster, absolut notwendiger Schritt. Aber wenn wirdie Renten dauerhaft sichern wollen, wenn wir die Bei-träge stabil halten wollen, dann muß noch einiges hinzu-kommen.Wir Grünen haben dazu bereits einige konkrete Vor-schläge gemacht: Erstens. Wir müssen die Renten ar-mutsfest machen, indem wir ergänzend zur Rentenversi-cherung eine bedarfsorientierte Grundsicherung einfüh-ren. Dann nämlich – das will ich hier sehr deutlich sagen– wird niemand im Alter zum Sozialamt gehen müssen.Jeder soll vor Armut im Alter geschützt sein.
Zweitens. Wir wollen steuerliche Anreize zum Auf-bau einer zusätzlichen privaten Altersvorsorge schaffen,zunächst einmal auf freiwilliger Basis.Drittens. Wir müssen durch eine Reform der Hinter-bliebenenrente endlich eine eigenständige Alterssiche-rung für Frauen erreichen.
Viertens – so schlagen wir Grünen vor – sollen nachdem Jahr 2001 zusätzliche Leistungen des Staates fürKinder und Familien nicht mehr bei der Rentensteige-rung berücksichtigt werden. Nur so steht das Geld wirk-lich den Familien zur Verfügung.Eines will ich in dieser Debatte noch ansprechen:Lassen Sie uns doch endlich eine ehrliche und offeneDebatte über das zukünftige Rentenniveau führen!Vielleicht ist dies nach den Wahlen im Oktober möglich.Lassen Sie uns endlich ehrlich darüber reden, welchesRentenniveau sozial erforderlich ist, vor Armut schütztund dauerhaft finanziert werden kann! Lassen Sie unsnicht weiter diese vernebelnden Ersatzdebatten der letz-ten Monate führen, die nur zur Verunsicherung derWählerinnen und Wähler führen und nicht dazu beitra-gen, den Generationenvertrag neu zu begründen!
Wenn wir schon über die Rentenbeiträge sprechen:Sie von der Opposition haben über Jahre hinweg die ho-hen Lohnnebenkosten beklagt. Aber was haben Sie er-reicht? Sie mußten in der letzten Legislaturperiode – daswar das Ergebnis im Vermittlungsausschuß – sogar dieKerstin Müller
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Mehrwertsteuer anheben, um den Rentenbeitrag zu sta-bilisieren, nicht etwa, um ihn zu senken. Wir haben da-gegen mit der ökologischen Steuerreform gleich zweisinnvolle Ziele gleichzeitig erreicht: Wir senken denRentenversicherungsbeitrag um insgesamt 1,8 Prozent-punkte, und gleichzeitig schaffen wir durch einen sehrmaßvollen, aber stetigen Anstieg der Mineralölsteuerund der Strompreise Anreize, Energie einzusparen. Mitder steuerlichen Gleichstellung von hocheffizienten Gas-und Dampfkraftwerken schaffen wir zudem die Voraus-setzungen für Neuinvestitionen in diese ökologischsinnvolle Energietechnologie. Sie wissen, wir Grüne wä-ren bei den Beträgen gern etwas mutiger herangegangen.Dennoch bleibt es ein wichtiger Erfolg unserer Politik,das ökologische Prinzip im deutschen Steuersystem ver-ankert zu haben. Wir erreichen damit Berechenbarkeitfür die Wirtschaft und für die Verbraucher; das ist einErfolg.
Diese Regierung ist angetreten, die Gerechtigkeits-lücken, die die alte Regierung hinterlassen hat, Schrittfür Schritt zu schließen. Deshalb finde ich es auch völligin Ordnung, wenn gerade die rotgrüne Bundesregierunghier ganz besonders scharf beobachtet wird. Ungerech-tigkeiten gab es nach 16 Jahren mehr als zahlreich: diezwischen sozial Schwachen und Besserverdienenden,die zwischen den Familien mit und denen ohne Kinder,die zwischen den Generationen, und vor allen Dingengab es ein zutiefst ungerechtes Steuersystem. Wir ma-chen jetzt genau das, was wir versprochen haben: Wirschließen diese Gerechtigkeitslücken. Das beginnt mitden Entscheidungen vom letzten Jahr. Das wird immerwieder in der Diskussion außer acht gelassen. Ich nennenur die Stichworte: Wir haben den Kündigungsschutzwiederhergestellt; wir haben die Lohnfortzahlung wie-derhergestellt; wir haben die Zuzahlungen bei Medika-menten gesenkt; wir haben mit JUMP ein außerordent-lich erfolgreiches Programm gegen Jugendarbeitslosig-keit aufgelegt, das trotz des Sparzwangs weitergeführtwird.
Dieses Programm wollen Sie, so las ich es neulich vonFrau Merkel, am liebsten streichen. Erklären Sie dasdoch den fast 180 000 Jugendlichen, die über diesesProgramm endlich einen Arbeitsplatz und einen Ausbil-dungsplatz gefunden haben, denen wir ermöglicht ha-ben, daß sie in den Arbeitsmarkt einsteigen! Es ist eingroßer Erfolg.
Wir verstetigen die aktive Arbeitsmarktpolitikweiter auf hohem Niveau. Wir machen das nicht so, wiees Herr Waigel und Herr Blüm früher immer ge-macht haben. Sie haben kurz vor Wahlen ein paar Milli-arden in AB-Maßnahmen gepumpt, um die Statistikschönzufärben, und haben nach den Wahlen die Mitteldrastisch nach unten gefahren. Das ist die Politik, mitder Sie gescheitert sind, und die wird es mit uns nichtgeben.
Schließlich, meine Damen und Herren von der Oppo-sition, sind Sie auch in der Familienpolitik gescheitert.Unter Ihrer Regierung ist es ein massives Armutsrisikogeworden, Kinder zu bekommen. Wir haben das Kin-dergeld angehoben, zunächst um 30 DM, jetzt nocheinmal um 20 DM. Das allein bringt den Familien proKind im Jahr 600 DM mehr in die Kasse. Der Kinder-freibetrag wird durch einen Kinderbetreuungsfreibetragvon 3 000 DM für alle Kinder bis 16 Jahre auf dann10 000 DM angehoben. Insgesamt wird am Ende derLegislaturperiode eine Familie mit zwei Kindern und ei-nem Einkommen von durchschnittlich 60 000 DM rund3 000 DM mehr im Jahr haben. Das ist eine Entlastung;das ist Politik für die Familien.
Natürlich sind damit noch nicht alle Probleme gelöst.Es bleibt das Problem, daß die Kindergelderhöhung beiSozialhilfeempfängern nicht ankommt. Deshalb werdenwir Bündnisgrüne in der Koalition darauf drängen, daßauch die Sozialhilfe für Kinder
– hören Sie zu! – entsprechend angehoben wird. Dennfür uns Grüne gilt nach wie vor der Grundsatz: JedesKind ist uns gleich viel wert. Deshalb ist es ungerecht,wenn die Erhöhung des Kindergeldes bei den Schwäch-sten der Gesellschaft nicht ankommt.
Mit unserer Einkommensteuerreform entlasten wirsystematisch untere und mittlere Einkommen. Wir hebendas steuerfreie Existenzminimum in zwei Schritten auf14 000 DM an. Wir senken die Steuersätze, den Ein-gangssteuersatz von 25,9 Prozent auf 19,9 Prozent, alsoin drei Jahren um insgesamt sechs Prozentpunkte. Dashat es in der Bundesrepublik noch nie gegeben. Derdurchschnittliche Nettolohn einer Arbeitnehmerin odereines Arbeitnehmers steigt in diesem Jahr um rund 1 150DM. Davon haben Sie, meine Damen und Herren vonder CDU/CSU, glaube ich, jahrelang noch nicht einmalzu träumen gewagt. Sie haben es nicht geschafft, undzwar aus einem einzigen Grund, auf den ich hier deut-lich hinweisen möchte:
Sie waren nicht in der Lage, die Gegenfinanzierung derEntlastungen für Arbeitnehmer zu sichern, weil Sie denverschiedensten Lobbygruppen nicht weh tun wollten.Diese Politik war viel bequemer. Aber wenn man diesesLand nach vorne bringen will, wenn man die ökologi-sche und soziale Modernisierung durchsetzen will undwenn man mehr Gerechtigkeit schaffen will, dann kannman es eben nicht allen recht machen.Kerstin Müller
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Wir schließen Steuerschlupflöcher, von denen bislangnur die Besserverdienenden profitiert haben, und zwar inHöhe von 22 Milliarden DM. Wir haben Abschrei-bungsmöglichkeiten und steuerfreie Rückstellungenmassiv beschränkt. Wir passen das Bilanzrecht dem eu-ropäischen Standard an. Dadurch erweitern wir die Be-messungsgrundlage in Höhe von 36 Milliarden DM, diezu zwei Dritteln von Großverdienern und Konzernen fi-nanziert werden. Dadurch konnten wir die Steuersätze– oben wie unten – senken.
Zu einer solchen Einkommensteuerreform waren Sie 16Jahre lang nicht in der Lage. Wir schaffen mit diesenMaßnahmen mehr Transparenz, aber auch mehr sozialeGerechtigkeit.
Herr Gysi, ein Wort zu Ihnen. Der Brachialmoralis-mus, mit dem Sie in den vergangenen Tagen hier immerwieder aufgetreten sind, ist deshalb völlig unangebracht.Sie wollen meiner Meinung nach nur davon ablenken,daß Sie selbst keine realistischen Konzepte zur Lösungder Probleme haben. Wenn Sie zum Beispiel wie in derletzten Woche eine Vermögensteuer nach amerikani-schem Vorbild fordern, muß ich Sie fragen: Fordern Siedann auch amerikanische Einkommensteuersätze?Äußern Sie sich doch einmal dazu! Deutschland hatdoch ein völlig anderes Einkommensteuersystem als dieUSA.
Sie wissen doch genau – das ist doch keine Frage derMoral –, daß es bei einem Spitzensteuersatz von bislangüber 50 Prozent – wir werden ihn ja senken – verfas-sungsrechtliche Probleme mit einer Vermögensteuergibt.
Noch etwas, Herr Gysi. Wenn Sie privates Vermögenhätten – das weiß ich ja nicht so genau; nur einmal an-genommen – und die private Vermögensteuer würdewieder eingeführt: Was meinen Sie, wie schnell Sie eineGmbH gegründet hätten? Dafür benötigt man heute nurnoch 48 Stunden. Deshalb ist es ziemlich billig, wennSie sich hier hinstellen und den Robin Hood mimen,aber keine konkreten Vorschläge machen, die man um-setzen kann.
Um mehr Steuergerechtigkeit und um mehr Transpa-renz geht es auch bei der geplanten Unternehmensteu-erreform. Auf folgendes möchte ich sehr deutlich hin-weisen: Unser Ziel ist die Entlastung der kleinen undmittleren Unternehmen – das fordern die Grünen schonseit Jahren –; denn dies sind die Unternehmen, die über-haupt noch Arbeitsplätze schaffen und die nicht ebeneinmal ihren Sitz ins Ausland verlagern können. Wirwollen, daß Konzerne, die in den letzten Jahren über-haupt keine Steuern mehr an den Bund gezahlt haben,und das, obwohl sie Milliardengewinne gemacht haben,auch wieder ihren Teil der Steuerlast tragen. Wir wollen,daß Gewinne, die in den Unternehmen verbleiben und dieinvestiert werden, im Vergleich zu ausgeschütteten Ge-winnen steuerlich bevorzugt werden. Zugleich müssenwir zur Finanzierung der Senkung der Steuersätze weitereSteuersubventionen und direkte Subventionen abbauen.Das hat mit sozialer Schieflage nichts, aber auch garnichts zu tun. Auch hier geht es um mehr Gerechtigkeit,in diesem Fall um mehr Wettbewerbsgerechtigkeit. Dasist das Ziel der Unternehmensteuerreform. Dafür werdenwir Grüne uns in der Koalition stark machen.
Ich habe deutlich gemacht, warum ich der Überzeu-gung bin, daß der Vorwurf einer sozialen Schieflage, dieangeblich durch das Zukunftsprogramm 2000 der rot-grünen Bundesregierung entsteht, absolut ungerechtfer-tigt ist. Allerdings möchte ich nicht so tun, als ob dasSparpaket keine Härten enthielte. Aber es ist auf Grundder Verschuldung einfach nicht möglich, den Bundes-haushalt massiv zurückzuschneiden, ohne jemandemweh zu tun.In allen Bereichen der Gesellschaft sind Menschenvon den Sparmaßnahmen schmerzhaft betroffen. Wirverlangen viel, wenn wir die Rentenbeiträge von Lang-zeitarbeitslosen an den tatsächlichen Betrag derArbeitslosenhilfe angleichen und damit die Rentenan-sprüche der Betroffenen verringern. Doch wir werdendie Betroffenen durch die Grundsicherung vor Armutschützen. Wir schaffen die originäre Arbeitslosenhilfenicht gerne ab. Es macht auch keinen Spaß – auch daswill ich deutlich sagen –, Goethe-Institute und Bot-schaften schließen zu müssen, weil wir wissen, daß dorteine wirklich wichtige Arbeit für die Verständigung derVölker geleistet wird.Im einzelnen wird es im parlamentarischen VerfahrenVeränderungen geben. Wir wollen zum Beispiel dieMittel für die zivile Konfliktvermeidung anheben. Auchdas ist klar: Wir sind jederzeit zu Gesprächen mit denLändern bereit. Auch im Bundesrat wird es Veränderun-gen geben, das bringt der Föderalismus nun einmal mitsich. Eines will ich hier aber sehr deutlich sagen: Wennwir die Gestaltungsfähigkeit zurückgewinnen wollen,wenn wir wieder mehr Generationengerechtigkeit schaf-fen wollen, wenn wir den Sozialstaat langfristig erhaltenwollen, dann müssen wir die sozialen Sicherungssyste-me reformieren, und darüber hinaus müssen wir konse-quent sparen. An diesem Kurs führt bei allen Gesprä-chen kein Weg vorbei.
Ich will für meine Fraktion noch einmal klarstellen:Es wird kein Ministerium geben, daß sich aus der ge-meinsamen Kraftanstrengung verabschieden kann. Dasgilt auch für das Verteidigungsministerium.
Kerstin Müller
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Wir sind uns durchaus bewußt: Die Sparvorgaben fürdie nächsten Jahre bedeuten, daß die Struktur der Bun-deswehr grundsätzlich überdacht und reformiert werdenmuß. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU,hieran wollen Sie wohl überhaupt nicht gehen. Wie auchin anderen Bereichen verlangen Sie für die Bundeswehrnoch mehr Mittel.Auf eines können Sie sich verlassen: Das wird es mitden Grünen nicht geben. Ich will begründen, warum.Die Glaubwürdigkeit dieser Regierung wird vor allemdavon abhängen, ob es gelingt, die Belastungen auf alleSchultern gleichermaßen zu verteilen.
Deshalb müssen alle Ministerien ihre Sparanstrengungenerbringen.Auch wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder CDU/CSU, im Moment scheinbar Oberwasser ha-ben: Wenn es uns gelingt, die Belastungen auf alleSchultern gleichermaßen zu verteilen, dann habe ich vordem Wettbewerb um die besten Konzepte keine Angst.Wir werden in den kommenden Wochen und Monatendeutlich machen: Diese Regierung schafft mit diesemProgramm mehr Gerechtigkeit, mehr soziale Gerechtig-keit, mehr Generationengerechtigkeit und mehr Wett-bewerbsgerechtigkeit in der Wirtschaft. Wir schaffen dieökologische und soziale Modernisierung, die diesesLand dringend braucht. Das wird neue und zukunftsfä-hige Arbeitsplätze entstehen lassen und die Menschenim Land überzeugen. Darin bin ich mir sicher.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Gysi, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Diese Haushaltsdebatte findet eherzufällig etwa ein Jahr nach Antritt der Bundesregierungstatt. Insofern bietet es sich an, über das gesamte Jahrder Politik der Bundesregierung zu diskutieren. Ich fin-de, eine differenzierte Bewertung ist angebracht.Der Start dieser neuen Bundesregierung war zumin-dest nach meiner Auffassung gar nicht so schlecht.Handwerkliche Mängel kann man ebenso wie die Tatsa-che nachsehen, daß zunächst zuviel auf einmal versuchtwurde. Aber die SPD war 16 Jahre lang nicht in der Re-gierung, die Grünen waren es noch gar nicht. Ein gewis-ses Nachsehen ist daher durchaus angebracht.Im Dezember 1998 wurde tatsächlich eine Reihe vonGesetzentwürfen verabschiedet, denen wir zugestimmthaben, weil sie grobe soziale Ungerechtigkeiten, die diealte Bundesregierung hinterlassen hatte, korrigierten. Ichnenne die Reduzierung der Zuzahlung bei Medikamen-ten, die Erweiterung des Kündigungsschutzes, die Wie-derherstellung der hundertprozentigen Lohnfortzahlungim Krankheitsfall, die Aussetzung der Senkung desRentenniveaus und auch die Erhöhung des Kindergel-des, wobei hier die soziale Schieflage schon war undwahrscheinlich auch zum 1. Januar 2000 wieder seinwird, daß der Sozialhilfeempfängerin diese Kindergeld-erhöhung gleich wieder abgezogen wird, während ichsie netto und ohne jeden Abzug ausbezahlt bekomme.Die PDS-Bundestagsfraktion hat dazu einen Antraggestellt, über den wir in der nächsten Woche hier imBundestag diskutieren werden. Da Frau Müller bei FrauChristiansen zu mir gesagt hat, wir sollten einen Antragstellen, dem sie dann zustimmen werde, bin ich sehr ge-spannt, ob sie in der nächsten Woche tatsächlich zu-stimmen wird.
– Sie sind mein Zeuge, Herr Gerhardt; Sie waren dabei.
Die Arbeit der Regierung fing also ganz gut an. Abervon Anfang an hatte ich das Gefühl, Herr Bundeskanz-ler, als seien diese Gesetze nicht ganz nach Ihrem Ge-schmack. Mir fiel zumindest auf, daß Sie zum Beispielim Hessen-Wahlkampf überhaupt nicht mit diesen Ge-setzen powerten und keinen Versuch unternommen ha-ben, mit ihnen den Wahlkampf zu gewinnen. Ich habeSie wohl auch richtig verstanden, daß Sie inzwischeneiniges an diesen Gesetzen kritisiert haben.Im März 1999 kam es zu einem Bruch in der Politikder Bundesregierung. Das hing nicht ganz zufällig mitdem Rückzug von Oskar Lafontaine zusammen, ohnedaß ich das jetzt im einzelnen bewerten will. Aber seit-dem ergibt ein Vergleich zwischen Wahlversprechenund den Realitäten der Bundespolitik ein völlig anderesBild.
Wegen meiner begrenzten Redezeit kann ich michnur kurz zur Außenpolitik äußern. Sie wissen, die PDS-Fraktion hat damals ungeheuer bedauert und kritisiert,daß gerade eine sozialdemokratisch geführte Bundesre-gierung uns in den ersten völkerrechtswidrigen An-griffskrieg nach 1945 geführt hat. Ich weise nur daraufhin, daß das die Gesellschaft in Deutschland und in Eu-ropa, aber auch weltweit verändert hat, wenn ich an dieDemütigung Rußlands und der UNO denke. Wir habenes weltweit erneut mit einem Aufrüstungsprozeß zu tun,Krieg ist zum Mittel der Politik geworden, und die Men-schenrechtslage im Kosovo hat sich nicht wesentlichverbessert. Das ist das traurige Ergebnis.An dem Sparpaket ist unehrlich, daß von der Bundes-regierung nicht wenigstens einmal gesagt wird, was die-ser Krieg eigentlich kostete, was die Stationierung ko-stet, was der Wiederaufbau kostet. All dies hat ja wohlauch finanzielle Folgen für die Politik der Bundesregie-rung.Aber vor allem erinnere ich mich daran, daß derAußenminister Fischer als Oppositionspolitiker immerKerstin Müller
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gesagt hat, Kern und Maßstab jeder Außenpolitik müssedie Menschenrechtsfrage sein. Im Hinblick darauf hater Außenminister Kinkel ständig gescholten. Ich kannnicht feststellen, daß sich durch seine Politik im Ver-hältnis zur Türkei, zum Iran oder zu anderen Ländernetwas Wesentliches in der Menschenrechtslage in diesenLändern geändert hätte.
Besonders unglaubwürdig ist für mich der gesamteSchacher um die Frage der Entschädigung der nochwenigen überlebenden Zwangsarbeiterinnen undZwangsarbeiter. Wäre es denn von einer sozialdemo-kratisch geführten Bundesregierung wirklich zuvielverlangt, sich einmal in erster Linie auf die Seite derehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiterund nicht auf die Seite der Firmen zu stellen, die mit de-ren Ausbeutung damals ihren Profit gemacht haben?
Wirklich enttäuscht war ich – ich hätte das nicht ge-glaubt und bitte die Grünen, darüber einmal nachzuden-ken – darüber, daß Bundesaußenminister Fischer einenBrief an ein amerikanisches Gericht geschrieben hat, vordem die Klage von ehemaligen Getto- und KZ-Insassenverhandelt wurde, denen Schmuck und Gold und nachihrer Ermordung auch das Zahngold weggenommenwurde. Das alles ging an eine Firma Degussa, die esnoch heute gibt. Sie haben gefordert, daß sie eine Ent-schädigung dafür bekommen. Hätte er doch wenigstensgeschwiegen! Aber er hat an dieses Gericht geschrieben,daß die arme Firma Degussa von den Nazis gezwungenworden sei, das Gold abzunehmen, und deshalb bitte erim Namen der Bundesrepublik Deutschland darum, dieKlage abzuweisen. Das ist erstens falsch: Degussa hatdamals um diese Aufträge geradezu gekämpft. Zweitensist es für einen Außenminister mit dieser Biographie einSkandal, sich so auf die Seite des damaligen Nutznießersdieser Sklaverei und nicht auf die Seite der damaligenOpfer zu stellen.
Was glauben Sie, was in Ihrer grünen Fraktion los ge-wesen wäre, wenn ein Außenminister Kinkel einen sol-chen Brief geschrieben hätte? Heute aber schweigen Siedazu.
Sie haben übrigens erklärt, daß Sie im Unterschiedzur alten Bundesregierung nicht länger Flüchtlinge, son-dern Fluchtursachen bekämpfen wollen. Aber ich stellefest, daß der Entwicklungshilfefonds drastisch reduziertwird und daß sich die Lage der Flüchtlinge nicht verbes-sert hat.Meine Damen und Herren, ich möchte natürlich auchnoch auf andere Politikfelder zu sprechen kommen.Eben hat Frau Müller davon gesprochen, daß man mitdem ökologischen Umbau begonnen hätte. Sie habenvor der Wahl viele grüne Versprechen abgegeben. Icherinnere an den Atomausstieg, der jetzt wohl auf denSankt-Nimmerleins-Tag verschoben worden ist. Was Ih-re ökologische Steuerreform betrifft – aber werte FrauMüller: Wenn Sie eine Energiesteuer einführen, an derSie die Industrie faktisch nicht beteiligen, was glaubenSie denn, was Sie da für Energiespareffekte erreichen?
Dadurch, daß die Sozialhilfeempfängerin eine Glühbirneaus der Lampe schraubt, können Sie Energieeinsparun-gen in Deutschland nicht erreichen. Das ist eher einegroteske Vorstellung.
Was ich in diesem Zusammenhang am schärfstenkritisiere, ist die Tatsache – ich wiederhole es –, daß derBundestag getäuscht worden ist. Als die ökologischeSteuerreform in ihrer ersten Stufe hier beschlossen wur-de, haben wir kritisiert, daß Arbeitslose sowie Rentne-rinnen und Rentner diesbezüglich voll zur Kasse gebetenwürden. Da hat die Regierung gesagt, das stimme nicht.Ihre Begründung war folgende: Da die Einnahmen ver-wendet würden, um die Beiträge zur gesetzlichen Ren-tenversicherung zu senken, steige der Nettolohn, und daim nächsten Jahr Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfeund Renten an diese steigenden Nettolöhne angepaßtwürden, bekämen Rentnerinnen und Rentner sowie Ar-beitslose sozusagen einen Ausgleich. Unter diesen Be-dingungen hat der Bundestag die Ökosteuerreform be-schlossen. Einen Monat später stellt sich Ihre Regierung,Herr Bundeskanzler, hin und sagt: Die Nettolohnanpas-sung fällt aus. – Damit ist der Bundestag bei der An-nahme der Ökosteuerreform getäuscht worden.
Wenn er etwas auf sich hielte, würde er die Reform wie-der aufheben, weil unter falschen Voraussetzungen einGesetz beschlossen wurde. Das wäre das mindeste.
Sie wissen natürlich auch: Die ökologischen Wirkun-gen sind gering. Das ist im Grunde genommen nichtsanderes als eine zusätzliche Steuer, um bestimmte Ein-nahmen zu sichern. Das ist alles.
– Dazu sage ich Ihnen noch etwas anderes. Wenn mandas Autofahren immer teurer macht – darüber kann manja diskutieren, denn die Staus sind ein Problem, derCO2-Ausstoß ist ein Problem, und Naturverbrauch hatseinen Preis –, dann, meine Damen und Herren von derRegierungskoalition, muß man den Menschen auch eineAlternative bieten. Dann müßten wir einen öffentlichenPersonennah- und -fernverkehr haben, der komfortabelist und regelmäßig zur Verfügung steht, auch wenn ersich nicht rechnet, der sicher ist, das heißt wieder überPersonal verfügt, das dafür sorgt, daß man dort nichtüberfallen wird, und der darüber hinaus extrem preis-günstig ist. Dann haben Sie eine Alternative geboten.
Aber Sie machen eine Ökosteuerreform, durch dieBusse und Bahnen sogar noch teurer werden. Wo bleibtdenn da die Alternative? Natürlich können wir auch denPreis für einen Liter Benzin irgendwann auf 5 DM erhö-Dr. Gregor Gysi
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hen. Dann fahren wir hier alle weiter, und die anderenbleiben zu Hause. Auch das ist eine Möglichkeit zurStauauflösung, aber eine, die die PDS nicht mitmacht,weil das über soziale Ausgrenzung läuft.
Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, der AufbauOst werde zur Chefsache. Manchmal haben Sie wenigZeit; das will ich akzeptieren. Deswegen liegt die Sacheetwas darnieder.
Sie können doch nicht leugnen, daß im Sparpaket geradeMittel für den Strukturaufbau im Osten, für Forschungund anderes mehr gekürzt werden, was uns zurückwirft.
– Selbstverständlich, über 1 Milliarde DM.
Außerdem führt die Anpassung an die Inflationsrate beiArbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld und Rente unter an-derem dazu, daß wir erstmalig wieder eine Auseinander-entwicklung zwischen West und Ost bei Rente, Ar-beitslosengeld, Unterhalt und Arbeitslosenhilfe haben.Das ist wirklich eine Veränderung der Politik, denn bisdahin hatten wir immer etwas höhere prozentuale Stei-gerungen im Osten als im Westen, so daß wenigstensganz allmählich eine Angleichung stattfand. Davon kannnun keine Rede mehr sein.Aber was wir hier eigentlich beantragt haben und wasmeine Hauptsorge ist, ist etwas ganz anderes. Ich er-warte von Ihnen zum Beispiel nicht, Herr Bundeskanz-ler, daß Sie zum 1. Oktober 1999 die Gleichstellung derLebensverhältnisse realisieren. Das wäre absurd; daskönnen Sie gar nicht. Aber wir erwarten, daß es einenverbindlichen Fahrplan gibt, in dem steht, in welchenSchritten und in welchen Fristen die Angleichung erfol-gen soll. Wir haben im Osten 100 bis 110 Prozent Prei-se, im industriellen Gewerbe aber nur 65 Prozent derLöhne der alten Bundesländer; im öffentlichen Dienstsind wir bei 80 Prozent. Sie kennen alle diese Zahlen.Das geht nicht mehr so weiter. Hier kann man sich nichtnur auf Geld herausreden. Wir brauchen eine Lösungdieses Problems.Dazu muß man wenigstens eine Perspektive haben.Denn heute sieht es so aus: Bei der heute 20jährigen, dieals Angestellte im öffentlichen Dienst arbeitet und80 Prozent dessen verdient, was sie für die gleiche Tä-tigkeit in den alten Bundesländern bekäme, stehtschon jetzt irreparabel fest, daß sie in 45 Jahren mitihrem Rentenbescheid schriftlich bestätigt bekommt,daß sie Ossi war bzw. ist. Denn sie wird für die gleicheLebensleistung eine geringere Rente beziehen, weilfür sie ja jetzt auf Grund des geringeren Einkommensgeringere Beiträge gezahlt werden. Da sie etwa 20 Jah-re lang Rentnerin sein wird, wird sie das 20 Jahre lang,das heißt noch in 65 Jahren, schriftlich bestätigt be-kommen.Wir wollen doch nur wissen, welcher Jahrgang dererste ist, der im Falle von Arbeitslosigkeit oder späterals Rentenempfänger nicht mehr spüren wird, Ossi ge-wesen zu sein, weil er mit 100 Prozent angefangen hat.Sind das die heute Fünfzehnjährigen, die heute Zehnjäh-rigen, die heute Fünfjährigen oder erst die, die noch garnicht geboren sind? Man wird doch wenigstens einensolchen Fahrplan erfahren dürfen.
Nun hat sich inzwischen das Hauptziel der Politik derBundesregierung geändert. Im Wahlkampf und auch inIhrer Regierungserklärung haben Sie, Herr Bundes-kanzler gesagt, das A und O sei die Bekämpfung derArbeitslosigkeit.
An diesem Ziel sollte man ihre Regierung messen.Heute sagen Sie in allen Reden, das A und O sei derAbbau der Staatsverschuldung. Dabei handelt es sichum eine ganz deutliche Verschiebung.
– Nein, passen Sie einmal auf! – Das wichtigste Mittelzum Abbau der Staatsverschuldung ist, Arbeitslosigkeitzu bekämpfen, dann nämlich sparen Sie Ausgaben fürArbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe und nehmendarüber hinaus wieder Steuern und Beiträge ein. Daswäre der wirksamste Weg, um Staatsverschuldung ab-zubauen.
Weiterhin sollten Sie, Herr Bundesfinanzminister Ei-chel, einmal die Theorie überdenken, die Sie aufgestellthaben. Sie sagen, wenn wir die Staatsverschuldung nichtabbauten, sei der Staat nicht handlungsfähig, und wenner nicht handlungsfähig sei, könne er nicht für sozialeGerechtigkeit sorgen. Im Klartext heißt das: Erst Abbauder Staatsverschuldung, dadurch gewinnt der Staat seineHandlungsfähigkeit zurück, und erst dann könne er fürsoziale Gerechtigkeit sorgen. Das heißt aber auch, daßder heute Geborene diese Situation nicht mehr erlebenwird. Die Staatsverschuldung in Höhe von 1,5 BillionenDM bauen Sie in Wirklichkeit doch gar nicht ab: Imnächsten Jahr gibt es in Wirklichkeit mehr Staatsschul-den als in diesem Jahr. Sie reduzieren doch nur die Neu-verschuldung.
Also wird auch die Zinslast weiter steigen. Damit wirddie Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit auf denSankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Das ist die Wahr-heit.
Warum machen Sie, wenn Sie die Zinslast drückenwollen, keine Swapgeschäfte? Warum nehmen Sie keineZwangsanleihen bei Banken und Versicherungen auf,um die Zinslast zu reduzieren? Dieser Weg scheint Ih-nen nicht einzufallen, es fällt Ihnen nur ein, bei Rentne-Dr. Gregor Gysi
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rinnen und Rentnern und bei den Arbeitslosen zu sparen.Das ist zuwenig für eine sozialdemokratisch geführteBundesregierung.
Bei einer Diskussion über die Staatsverschuldungmuß man doch sowohl über die Einnahmen- als auchüber die Ausgabenseite diskutieren. Mit dem Titel „Ro-bin Hood“ kann ich, Frau Müller, ja ganz gut leben. Ichlasse das jetzt einfach so stehen. Wenn Sie aber sagen,wir betrieben Volksverdummung oder ähnliches, wennwir so über die Rente und die Vermögensteuer disku-tierten, dann frage ich mich, ob Sie alles vergessen ha-ben, was Sie vor einem Jahr gesagt haben. War ich ineiner anderen Welt?
Als die alte Koalition die Vermögensteuer abschaffenwollte – es ist ja dann auch dazu gekommen, daß sieausgesetzt wurde –, hat doch nicht nur die PDS dagegenprotestiert, sondern die SPD und die Grünen haben ge-nauso dagegen protestiert. Plötzlich erzählen Sie aber,das sei alles Schnee von gestern und die Vermögensteu-er sei eine absurde Idee der PDS. Damit strafen Sie IhreArgumente von vor einem Jahr Lügen.
Im übrigen ist die Einführung der Vermögensteuer inbeiden Wahlprogrammen und in der Koalitionsvereinba-rung enthalten. Daß jetzt keiner mehr etwas davon wis-sen will, ist schon ein starkes Stück.Ich habe doch gar nicht gesagt, daß man die amerika-nische Vermögensteuer eins zu eins übernehmen muß,sondern nur darauf hingewiesen, daß außer den Nieder-landen und Deutschland alle Industriestaaten eine Ver-mögensteuer haben und die Niederländer dabei sind, sieeinzuführen. Hier kann sich niemand auf das Standort-argument berufen. Wenn wir amerikanische Vermö-gensteuersätze hätten, hätten wir jährlich Mehreinnah-men in Höhe von 30 bis 40 Milliarden DM. Den Leutendraußen müssen Sie erklären, warum Sie auf eine solcheEinnahme verzichten und lieber Renten, Arbeitslosen-geld und Arbeitslosenhilfe kürzen. Angesichts dessenwundern Sie sich dann noch, daß von sozialer Schieflagedie Rede ist?
Wir können auch gerne über Unternehmensteuernreden. Ich begrüße es ja zunächst einmal, daß Sie sagen,daß Geld, das in Unternehmen zurückfließt, geringer alsGeld, das in private Kassen fließt, besteuert werden soll.Das hat auch etwas mit Arbeitsmarktpolitik zu tun undist vernünftig.Auf der anderen Seite sage ich Ihnen: Es bleibt dochauch unter Ihrer Regierung dabei, daß Spekulationsge-winne bei Wahrung einer bestimmten Frist von Steuerfreigestellt sind, während Gewinne aus Produktion undDienstleistung relativ hoch besteuert werden. Wer einesolche Politik macht, der schafft keine Arbeitsplätze,sondern der schafft Arbeitsplätze ab und darf sich auchüber Geldmangel nicht beschweren.Was Ihre Unternehmensteuerpolitik betrifft, so sagteFrau Müller eben, endlich sollen auch einmal die großenKonzerne bezahlen. Sie aber machen nichts in dieserRichtung.
Die Reduzierung der Körperschaftsteuer wird in er-ster Linie den großen Konzernen, übrigens auch denVersicherungen und Banken zugute kommen. Von denkleinen und mittelständischen Unternehmen reden Siezwar. Aber in Wirklichkeit tragen diese die Lasten IhrerSteuerpolitik. Bauen Sie einmal bei denen ab und sorgenSie wirklich einmal dafür, daß Konzerne, Banken undVersicherungen sich endlich an den Kosten in der Ge-sellschaft beteiligen.
Das hat die alte Regierung nicht getan, und das tun Sieauch nicht.Wir können übrigens auch über die Einkommen-steuer diskutieren. Einverstanden! Sie senken den Ein-gangssteuersatz. Das geht in Ordnung. Das haben wirauch gewürdigt. Sie sagen nur nie dazu, daß Sie denEingangssteuersatz nicht nur für die Normal- und dieNiedrigverdienenden senken, sondern automatisch auchfür die Besser- und die Bestverdienenden, auch für unsalle hier im Saal.
– Das ist so? Hören Sie zu!
– Das werfe ich Ihnen auch nicht vor; denn wenn ich dieVerantwortung trüge und das zu entscheiden hätte, dannkönnte ich das auch nicht anders machen. Aber geradeweil das so ist, verehrte Frau Kollegin, gibt es gar kei-nen Grund den Besser- und Bestverdienenden auch nochmit einer Senkung des Spitzensteuersatzes entgegen-zukommen.
Es ist für uns alle schon ausreichend, daß der Ein-gangssteuersatz gesenkt wird. Die Senkung des Spit-zensteuersatzes um 1 Prozent macht 1 Milliarde DMaus. Sie wollen ihn um 4,5 Prozent senken. Das sind4,5 Milliarden DM pro Jahr, auf die Sie verzichten. Dasagen Sie, es gebe keine Alternative zur Kürzung vonRente, von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. Dasist nicht glaubwürdig, und es ist auch nicht wahr.
Was die Ausgabenseite angeht, so frage ich mich:Habe ich mich verhört, oder hat die SPD als Oppositi-onsfraktion jahrelang die Kohl-Regierung für den Euro-fighter gescholten? Habe ich mich verlesen, oder habeich mich nicht verlesen, daß im Haushaltsplanentwurffür das Jahr 2000 schon wieder 1,7 Milliarden DM fürDr. Gregor Gysi
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den Eurofighter eingeplant sind? Warum machen Siehier keine Korrektur?
– Lieber ein bißchen Konventionalstrafe zahlen, aberdann raus sein aus diesem gefährlichen Projekt! Das wä-re sehr viel günstiger.
Ich sage Ihnen dazu noch eines: Wenn Sie beimWehretat sparen, dann sparen Sie bei der Zahl derStandorte und bei der kulturellen und sozialen Betreu-ung der Soldaten. Das ist nicht unser Weg. Wir wollen,daß endlich wirksam auf Rüstungsgüter verzichtet wird.Das wäre ein Schritt, der nach Beendigung des KaltenKrieges übrigens auch dringend erforderlich wäre.Wir können auch über den Transrapid reden. Wirkönnen auch darüber reden, wie teuer ein Umzug vonBundestag und Bundesregierung von Bonn nach Berlinsein muß.
– Ich habe „wie teuer“ gesagt.Einsparmöglichkeiten gibt es eine Menge. Ganz zu-letzt kann man über Kürzungen bei den Renten, beimArbeitslosengeld und bei der Arbeitslosenhilfe nach-denken. Sie denken zuerst darüber nach, und das machtdie soziale Schieflage aus; ganz deutlich macht sie dasaus.
– Sehen Sie, von den Staatsschulden leben doch auchLeute ganz gut. Das hat der Bundeskanzler selbst gesagt.Davon lebt ein Teil der Bevölkerung sehr gut. Sie kas-sieren nämlich die Zinsen in Höhe von 7 bis 9 Prozent.Warum bitten Sie denn die nicht einmal ein bißchen zurKasse, wenn es um die Frage der Konsolidierung derStaatsfinanzen geht? Warum tun Sie das gerade beiRentnerinnen und Rentnern und Arbeitslosen? Das istnicht hinnehmbar.
Sie wissen ganz genau, daß das wichtigste die Be-kämpfung der Arbeitslosigkeit wäre und daß wir dafürwirklich Reformen bräuchten. Frau Müller, das, was Siehier vorlegen, ist doch keine Reform. Das ist dasselbeSpiel mit Zahlen. Wenn Sie die Dynamisierung derRente ausfallen lassen, dann ist das doch keine Reform,sondern einfach eine Reduzierung.
Eine Reform wäre, wenn Sie sich Gedanken machten,wie man auch andere Einkommensarten zur Finanzie-rung der Pflichtversicherungen heranziehen könnte, undwenn Sie endlich dazu übergingen, den modernen Wirt-schaftsstrukturen zu entsprechen, indem die Unterneh-men künftig nach ihrer Wertschöpfung alle drei Monatehöchst flexibel eine Abgabe in die Versicherungssy-steme zahlen. Steigt die Wertschöpfung, zahlen siemehr. Sinkt sie, zahlen sie weniger. Unterschreitet sieeine bestimmte Grenze, dann zahlen sie gar nicht. Damitwürden Sie Einstellungen erleichtern, und Sie würdenEntlassungen nicht mehr so begünstigen. Ein Konzern,der 1 000 Leute entläßt und hinterher noch die gleicheWertschöpfung hat, müßte dann eben noch die gleicheAbgabe zahlen – die kann er sich dann auch doppelt unddreifach leisten –, während er heute auch diesbezüglichentlastet wird.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin sofort fertig. – Das
wäre wirklich eine Reform. Mit diesen und vielen ande-
ren Maßnahmen, mit steuerlichen und mit der Schaffung
eines öffentlichen Beschäftigungssektors könnte man ei-
nen Beitrag dazu leisten, daß die Arbeitslosigkeit und
viele damit zusammenhängende Probleme in der Gesell-
schaft endlich überwunden werden.
Lassen Sie mich einen letzten Gedanken ausführen:
Herr Bundeskanzler, jeden Sonntag erlebe ich, daß Sie
eine mangelnde Akzeptanz der Wählerinnen und Wähler
erfahren, dann mit dem Fuß aufstampfen und sagen: Wir
werden unsere Politik nicht ändern. Ich sage Ihnen ganz
deutlich: Ich halte das weder für demokratisch noch für
sozial. Die Wählerinnen und Wähler fordern von Ihnen,
daß Sie eine sozial gerechtere Politik machen und Ihren
Kurs ändern.
Ich meine, es ist noch nicht zu spät. Sie sollten diese
Schelte annehmen, Ihre Politik ändern und nicht stur auf
dem falschen Weg bleiben.
Ich erteile nun dem
Kollegen Dr. Peter Struck das Wort.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die Reden der Op-position, zum Beispiel die von Herrn Gysi und HerrnSchäuble, zu verfolgen, ist eine äußerst interessante Sa-che. Herr Gysi unterscheidet sich von Herrn Schäublewenigstens dadurch, daß er Gegenvorschläge macht.Diese sind zwar unsinnig, aber von Ihnen, Herr KollegeSchäuble, habe ich überhaupt keine konkrete Alternativezu dem gehört, was wir vorhaben.
Sie benehmen sich wie ein Fahrer, der einen Unfall ver-ursacht hat, Fahrerflucht begeht und sich zu den Gaffernstellt, die die Rettungsarbeiten behindern.
Ihnen, Herr Kollege Schäuble, fehlen nicht nur dieAntworten, sondern sogar die richtigen Fragen, wie wirin unserem Land Zukunftsfähigkeit herstellen können.Wir wissen, daß wir dazu eine große solidarische Ge-Dr. Gregor Gysi
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meinschaftsanstrengung brauchen. Wir wissen, daß wirdafür um Verständnis werben müssen. Wir wissen auch,daß wir viel öfter erklären müssen, warum wir dieseKraftanstrengung benötigen. Aber wir sind fest davonüberzeugt, daß unser Weg richtig ist.
Unser Ziel ist es, den Menschen wieder Vertrauen indie Zukunft zu geben und die Spaltung der Gesellschaftzu überwinden. Warum soll ein Bürger überhaupt nochVertrauen in unseren Staat haben, wenn der Staat proMinute 150 000 DM für Zinsen ausgeben muß und die-ses Geld nicht für andere, vernünftige Zwecke zur Ver-fügung hat?
Es gibt keine Handlungsspielräume mehr. Es istschon absurd, wenn Sie, die Redner der Opposition, sotun, als sei dies eine Erblast von Oskar Lafontaine. Es istja wohl das letzte, auf diese Art und Weise zu argumen-tieren. Sie haben 16 Jahre lang 1 500 Milliarden DMSchulden aufgebaut. Das können wir in drei Monatengar nicht gemacht haben. Das glaubt Ihnen keinMensch!
Wir wollen, daß der Staat wieder den Bürgern gehörtund nicht den Banken sowie denjenigen, die so viel Geldhaben, daß sie es in Staatsanleihen anlegen. Der Staatgehört den Bürgern. Die Bürger müssen mehr Spielraumhaben. Wir müssen mehr Spielraum haben, damit wirdie Zukunftsaufgaben bewältigen können.
Zu den Zukunftsaufgaben gehört: Wir brauchen wie-der mehr Mittel für Investitionen in Bildung und For-schung.
Wir wollen, daß unsere Enkel und Urenkel die Chancehaben, nach ihren Fähigkeiten das zu erreichen, was sieerreichen können. Dafür muß der Staat die Vorausset-zungen schaffen.
Nun komme ich zu Ihnen, Herr Kollege Gerhardt –leider ist er nicht mehr anwesend –: Ich denke, daß SieIhren Mitarbeitern, die Ihre Reden schreiben, einmaleine Rüge erteilen sollten. Es ist falsch, daß hier gesagtwird – ich glaube, auch Herr Schäuble hat dies ange-deutet –, wir führen die Mittel für Bildung und For-schung zurück. Das Gegenteil ist der Fall. Ich kann Ih-nen das vorrechnen. Im Jahre 1999 geben wir im Ein-zelplan 30, verglichen mit der Planung von Herrn Wai-gel, mehr Mittel für Bildung und Forschung aus, näm-lich 725 Millionen DM,
im Jahre 2000 sind es 935 Millionen DM, im Jahre 20011 300 Millionen DM und im Jahre 2003 bis zu 2 100Millionen DM. Dieses Ziel wollen wir erreichen. Das istwichtig für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Was ist eigentlich Ihre Alternative? Was würden Sieanders machen, wenn Sie jetzt an der Regierung wären?Das würde ich gerne einmal von Ihnen wissen.
Ich vermute mal, Sie würden das machen, was Sie vor-her gemacht haben. Ich sage Ihnen, was Sie vorher ge-macht haben: Sie haben diesen Staat nicht nur in eineriesige Schuldenlast hineingetrieben – das hat Ihnennicht ausgereicht –, sondern Sie haben auch noch dieSteuern erhöht. Sie sind eine Steuererhöhungskoalitiongewesen. In den Jahren 1982 bis 1998 haben Sie inDeutschland 18mal die Steuern erhöht.
Das war der bequemste Ausweg und Sie sind ihn gegan-gen. Angesichts dessen ist es schon sehr gewagt, hierüber Mineralölsteuer oder Ökosteuer Krokodilstränen zuweinen. In fünf Jahren hat die Koalition aus CDU/CSUund F.D.P. die Mineralölsteuer um 50 Pfennig erhöht.Und Sie regen sich jetzt darüber auf, daß wir die Mine-ralölsteuer um 6 Pfennig pro Jahr erhöhen. Was Sie hiervorführen, ist schon so etwas wie eine Schweinerei.
Das war die Antwort, die Sie gegeben haben: Steuernerhöhen, mehr Schulden machen.Was ist nun Ihre Antwort im Haushaltsplan 1999 ge-wesen, den wir jetzt praktizieren? Sie haben – ich habedas von unseren Finanzexperten ausrechnen lassen –
in der Zeit, in der Sie in der Opposition waren, Anträgezu Gesetzen und Anträge zum Bundeshaushalt gestellt.Das heißt: Wären diese ausgabewirksam geworden, wä-ren Sie jetzt noch an der Regierung, dann hätte das nocheinmal Ausgaben von 25 Milliarden DM mehr bedeutet.Das ist die Wahrheit. Das muß man sich vor Augen hal-ten.
Ich will auch noch etwas zum Sparen sagen. Nie-mand ist froh darüber, wenn gespart werden muß und esihn selbst betrifft. Der Bundeskanzler hat in dem Zu-sammenhang zu Recht ausgeführt, was für Briefe wiralle bekommen haben. Wir nehmen diese Briefe ernst.Richtig ist aber auch: Wir erlangen um so mehr Glaub-würdigkeit, je eher wir mit dem Sparen bei uns selbstanfangen. Ich will einmal in aller Bescheidenheit daraufDr. Peter Struck
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4852 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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hinweisen, wie scharf die Kritik aus den Reihen derCDU/CSU daran war, daß wir beschlossen haben, dieDiäten in diesem Jahr nicht zu erhöhen. Also, fassen Siesich da einmal an die eigene Nase.
Wir können auch über die Fraktionszuschüsse reden. Ichwill Ihnen hier ganz offiziell mitteilen: Der Wunsch derOppositionsfraktionen, die Fraktionszuschüsse zu erhö-hen, wird von uns nicht akzeptiert werden. Wer Sparenverlangt, muß bei sich selbst anfangen. Wir tun das,auch in diesem Bereich.
Wir wollen sparen; aber nicht etwa, weil wir Sparfeti-schisten wären. Vielmehr wollen wir auf ein Ziel hinsparen: auf das Ziel hin, mehr Chancen für unsere Kin-der und Enkel zu schaffen.
Damit komme ich zu dem Thema, das Sie in scham-loser Weise im Wahlkampf ausgenutzt haben – HerrKollege Gysi beteiligt sich daran in ähnlich demagogi-scher Weise. Wenn wir im nächsten und übernächstenJahr die Renten um den Faktor der Erhöhung der Preiseanheben, dann heißt das für die Rentnerinnen und Rent-ner: Sie haben genauso viel Kaufkraft wie in diesemJahr. Sie verlieren keinen einzigen Pfennig.
Wenn dann von Ihrer Seite von Rentenkürzungen gere-det wird, ist das eine reine Lüge.
Jeder von uns weiß, daß die Rentnerinnen und Rent-ner das akzeptieren, wenn sie die Gewißheit haben, daßdie Stabilisierung der Rentenversicherungsbeiträge ihrenKindern und Enkeln dient und Freiraum schafft, um Zu-kunft zu gestalten. Das merkt man in jeder Veranstal-tung, wenn man mit Rentnerinnen und Rentnern redet.Setzen Sie also nicht auf den Egoismus der Mütter undVäter, die unser Land mit aufgebaut haben. Diese wis-sen ganz genau, daß sie ihren Beitrag leisten müssen –und sie werden ihn leisten –, um die Zukunft gerecht zugestalten. Da habe ich gar keine Sorge, meine Damenund Herren.
Wir haben mit unserem Sonderprogramm Bekämp-fung der Jugendarbeitslosigkeit diese deutlich abge-baut. Darauf sind wir stolz. Nach wie vor verurteile ichdie Äußerung des Kollegen Schäuble, der dieses Pro-gramm mit dem Wort „ruhigstellen“ diskreditiert hat.
Das ist ein böser Ausrutscher, Herr Kollege Schäuble,den Sie hier endlich zurücknehmen sollten. Bisher habenSie das leider nicht getan.
Wir wollen die sozialen Sicherungssysteme garantie-ren. Dafür haben wir eine Reihe von Maßnahmen aufden Weg gebracht. Wir werden die Maßnahmen, die derArbeitsminister gestern in der Debatte ausführlich er-läutert und erklärt hat – Kollege Schäuble, Sie konntenleider nicht dabeisein –, umsetzen.
Ich komme nun zu dem Thema, das Sie angesprochenhaben, zur Neuregelung der 630-DM-Beschäftigungs-verhältnisse.
– Dazu komme ich noch, keine Sorge. – Ich will abererst etwas zu den 630-DM-Jobs sagen.
Es ist schon eigenartig, daß Sie sich jetzt von diesemGesetz distanzieren,
während Sie zu der Zeit, in der Sie regiert haben, mituns der Meinung waren,
daß all diejenigen, die ein solches Beschäftigungsver-hältnis neben ihrer Hauptbeschäftigung haben, in dieSozialversicherung einbezogen werden sollten.
Wir waren uns doch einig – nun ist der Kollege Nor-bert Blüm nicht da; es gab öffentliche Äußerungen vonihm dazu –, daß jemand, der einen solchen Job nebenseinem Hauptbeschäftigungsverhältnis ausübt, genausobehandelt werden muß wie einer, der seinen Lebensun-terhalt in einem Beschäftigungsverhältnis verdient. Dasist an der F.D.P. gescheitert; das wissen wir.
Sagen Sie endlich, daß dieser Teil des Gesetzes ver-nünftig ist, daß auch Sie ihn wollten. Bleiben Sie endlicheinmal bei der Wahrheit!
Das Gesetz ist sehr viel kritisiert worden. Und nunsage ich Ihnen, was das Ergebnis dieses Gesetzes ist:
Dr. Peter Struck
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Bis Ende August 1999 wurden von den Rentenversiche-rungsträgern rund 2,5 Millionen geringfügige Beschäfti-gungsverhältnisse angemeldet und registriert. Das heißt,bei der genannten Zahl von 2,5 Millionen handelte essich ausschließlich um geringfügig Beschäftigte. WelcheAuswirkungen hat das auf unsere sozialen Sicherungs-systeme, auf die Rentenversicherung und auf dieKrankenversicherung?
In der Zeit von April bis Juni, also in den ersten dreiMonaten nach Inkrafttreten dieser Neuregelung, sindallein bei den Rentenversicherungsträgern 580 MillionenDM mehr an Beiträgen eingegangen. Das bedeutet eineStabilisierung der Rentenversicherung.
Das ist Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Daswollten wir auch.
Die normalen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,die jetzt arbeiten und Rentenversicherungsbeiträge be-zahlen, können die Gewißheit haben, daß ihr Rentenver-sicherungsbeitrag durch die Hereinnahme dieser Be-schäftigungsgruppen stabilisiert und nicht erhöht wird.Wären Sie an der Regierung geblieben, hätten wir jetzteinen Rentenversicherungsbeitrag in Höhe von 21 Pro-zent. Er liegt jetzt bei 19,8 Prozent. Das werden wir denArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern immer wiedersagen.
Das gleiche gilt übrigens auch für die Krankenversi-cherung. Wir werden in den Ausschüssen über die Ge-sundheitsreform reden. Ich mache mir keine Sorgen –das will ich an dieser Stelle deutlich betonen – über dievielen Proteste, die es aus allen Bereichen gibt. Ich haltesie für normal. Jeder versucht, seinen Besitzstand zubewahren. Ich bin mir aber ganz sicher, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren: Wenn wir diese Gesundheits-reform nicht auf den Weg bringen, werden wir steigendeKrankenversicherungsbeiträge, höhere Lohnnebenkostenund noch mehr Probleme bei der Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit haben. Deshalb ist unser Weg der richtigeWeg.
Mir tut die Kritik mancher unserer Freunde an demProgramm schon weh.
– Da muß gerade ein Kollege von der F.D.P. etwas überdie Gewerkschaften sagen. Halten Sie sich mal zurück,Sie kennen Gewerkschaften ja gar nicht.
Ich verstehe, daß Gewerkschaften ein Spar- und Zu-kunftsprogramm kritisch bewerten. Aber ich weise auchauf das hin, was wir zu Beginn unserer Regierungszeitgemacht haben. Wir haben die Lohnfortzahlung zu100 Prozent im Krankheitsfall wieder eingeführt. Wirhaben den Kündigungsschutz verbessert. Wir haben eineSchlechtwettergeldregelung auf den Weg gebracht. Wirhaben das Entsendegesetz – Sie wollten das nicht mehr –,das Mindestlöhne im Baugewerbe garantiert, verab-schiedet und seine Geltungsdauer verlängert. Daraufsind wir stolz, das sollten die Gewerkschaften auch be-denken.
Nun zur Steuerreform: Der Kollege Schäuble hat michgebeten, etwas dazu zu sagen. Das tue ich gern. Wir ha-ben ein Steuerentlastungsgesetz mit den Stufen 1999,2000 und 2002 auf den Weg gebracht. Ein normaler Ar-beitnehmer, verheiratet, zwei Kinder, wird durch dieseSteuerreform – die Kindergelderhöhung hinzugerechnet– am Ende des Jahres 2002 3000 DM mehr Geld in derTasche haben. Das ist ein Erfolg der sozialdemokrati-schen Steuerpolitik, die dem Ziel dient, den Normalar-beitnehmer zu entlasten.
Leider ist es so – in der Politik muß man hinnehmen,daß das so ist –, daß sich diese beschlossene Kinder-gelderhöhung, deren erste Stufe schon in Kraft ist, nochnicht voll auswirkt, und die Wirkung der ersten Stufeder Senkung des Eingangssteuersatzes erst langsamsichtbar wird. Aber spätestens im Frühjahr des nächstenJahres werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer in Deutschland an ihrem Portemonnaie merken,welche Steuererleichterungen sie bekommen haben.Dann wird Ihre Propaganda, die Sie jetzt machen, insLeere laufen.
Wir reden auch über die Frage: Wie geht es mit derSteuerpolitik weiter? Ich unterstütze den Bundesministerder Finanzen darin, daß er eine Unternehmensteuer-reform vorlegen wird, die vor allen Dingen den klei-nen und mittleren Unternehmen zugute kommen wird.Die Äußerungen, die Sie, Herr Kollege Schäuble, undauch Sie, Herr Gerhardt, dazu gemacht haben, sindinhaltlich falsch. Hans Eichel hat das gestern klarge-stellt.Wir brauchen diese Unternehmensteuerreform, weilwir wissen, daß die meisten Arbeitsplätze in Deutsch-land von kleineren und mittleren Unternehmen geschaf-fen werden. Wir werden sie deshalb auch durchsetzen;vielleicht auch gegen Ihren Widerstand, Herr KollegeGysi; aber so gewichtig ist Ihr Widerstand nun auchwieder nicht.Ich möchte nur darauf hinweisen, meine Damen undHerren, daß wir bei der Steuerpolitik auch das mit be-rücksichtigen müssen, was der Bundeskanzler schon an-gesprochen hat, was aber auch manche aus unsereneigenen Reihen – ich will mich davon nicht ausnehmenDr. Peter Struck
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4854 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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– noch nicht richtig dargestellt haben, nämlich die Fra-ge: Wo sind Steuerschlupflöcher geschlossen worden?Dabei ist der Ausdruck „Schlupflöcher“ eher ein un-gerechter Ausdruck. Es handelt sich um legale Steuer-verkürzungsmöglichkeiten, die alle – aus verschiede-nen Gründen – mitgetragen haben, mit denen jetzt aberSchluß sein muß.Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel nennen, und zwarso, daß die Bürgerinnen und Bürger, die Zeit haben, amFernsehschirm zuzusehen, und die Gäste hier im Saaldie Steuertechnik verstehen. Wir haben § 2 a Abs. 1und 3 Einkommensteuergesetz geändert. Das Stich-wort dazu heißt: Ausgleich positiver Einkünfte mitVerlusten. Nun möchte ich Ihnen sagen, was dies prak-tisch heißt.
– Sie wissen das alles, das weiß ich; Sie ganz bestimmt,Herr Austermann.Bisher konnten Verluste innerhalb der verschiedenenEinkunftsarten unbeschränkt miteinander verrechnetwerden. Künftig ist dies nur noch innerhalb derselbenEinkunftsart zugelassen. Die Verlustverrechnung zwi-schen den verschiedenen Einkunftsarten wird stark ein-geschränkt. Beziehern hoher Einkommen fällt es nun-mehr erheblich schwerer, sich gegenüber dem Finanz-amt armzurechnen; Stichwort Mindestbesteuerung.
Daß wir das im Steuerentlastungsgesetz durchgesetzthaben, ist ein großer Erfolg. Das haben Sie nie gemacht,meine Damen und Herren, weil Sie es nie gewollt haben.Ich kann mich noch an die Debatten dazu im Vermitt-lungsausschuß erinnern.
Die Steuerreform wird die Bürgerinnen und Bürger,die Steuerzahler im Jahre 2002 insgesamt mit 46 Milli-arden DM entlastet haben. Eine Steuerreform dieserGrößenordnung hat es in der Geschichte unseres Landesnoch nie gegeben.
Ein Beispiel noch zur sozialen Gerechtigkeit undAusgewogenheit dieses Programms: Wir werden – dassteht auch im Zusammenhang mit dem Zukunftspro-gramm – das Wohngeld erhöhen.
– Diesen Zwischenruf, daß Sie das „toll“ finden, gebeich gern an die Bürgerinnen und Bürger weiter, HerrKollege Glos, die von diesem Wohngeld profitieren, diees brauchen. So gehen Sie mit den normalen Menschenin Deutschland um,
Sie, der Sie natürlich kein Wohngeld brauchen.
Herr Kollege Glos, Sie dürfen nach mir reden, weilHerr Stoiber nicht kommen kann. Herr Ramsauer hat ge-sagt: Herr Stoiber hat andere Probleme.
Mich interessiert an der Angelegenheit Stoiber/Sauter/LWS nur ein Aspekt: Wie war es eigentlich, alsder Bund, vertreten durch Bundesfinanzminister Waigelund Bundesbauminister Oswald, seine Anteile an derLWS an Bayern verkaufte? Wie war das damals? Ichdenke schon, daß man dazu einige Fragen stellen muß.Wir werden das tun.
Wenn ich mir vorstelle, daß der Bundesrechnungshofauf unseren Antrag hin dieser Angelegenheit nachgeht,dann wäre mein Ratschlag an Sie, Kollege Glos: HaltenSie sich ein bißchen zurück! Warten wir einmal ab, wasdabei herauskommt. Ich will ja niemanden verdächtigen,aber interessieren tut mich das Ganze schon sehr.
– Der Kollege Glos hat mir freundlicherweise dasStichwort geliefert, um die Bayern-Affäre ansprechen zukönnen.Zurück zum Wohngeld: Wir wollen das Wohngeldum insgesamt 1,4 Milliarden DM erhöhen. Wir finanzie-ren das dadurch, daß wir denjenigen, die bisher trotz ho-her Einkommen Wohnungsförderung bekommen, diesestreichen oder kürzen. Das ist aus meiner Sicht eine ge-rechte Umverteilung. Wohnungsförderung, also insbe-sondere Wohngeld, brauchen wirklich nur diejenigen,die finanziell darauf angewiesen sind, und nicht die mithöherem Einkommen. Auch das ist ein Aspekt von so-zialer Gerechtigkeit.
Natürlich machen uns Sozialdemokraten die Wahler-gebnisse der letzten Zeit nicht glücklich, das ist klar.
Dr. Peter Struck
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Aber: Auch wir haben solche Situationen, als Sie an derRegierung waren, erlebt.
Wir haben Landtagswahlen gewonnen, und das Ansehender Bundesregierung war nicht hoch. Ich will Ihnen kei-ne Ratschläge geben, wie Sie Opposition machen sollen.Ich sage Ihnen nur eines: Freuen Sie sich nicht zu früh!Wir gehen unseren Weg konsequent weiter. Der Wählerwird dies honorieren.
Nun erteile ich dasWort dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.
Michael Glos (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Um Ihre Frage zu beantworten: Ich ha-be das Gesicht des Bundeskanzlers beobachtet. Ich habeden Eindruck, bei ihm heißt LWS: „Lange wütetStruck“.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die „Süddeutsche Zeitung“ erinnert am 6. Sep-tember an die zehn Plagen, die der Herr über die Ägyp-ter kommen ließ: die Heuschrecken, die große Finster-nis, den Hagel, die Blattern usw. Ich zitiere die „Süd-deutsche Zeitung“:Die Landtagswahlen kommen über die SPD wie dieägyptischen Plagen über den Pharao. Damals, sosteht es im Buch Exodus, ließ der Herr zehn Plagenüber die Ägypter kommen … Die Heimsuchung derSchröder-SPD geschieht weniger mystisch, mit denSchrecknissen der Demokratie, aber ebenso wir-kungsvoll: Sie begann soeben– das war am 6. September –mit den Wahlen im Saarland und, vor allem, inBrandenburg.Und jetzt kommt es:Damals, in Ägypten, sprachen die Diener des Pha-rao erst nach der dritten Plage von einem Finger-zeig und erst nach der achten klagten sie: Wie langesoll uns denn dieser Mann noch Unglück bringen?
Herr Bundeskanzler, ich habe nachgezählt: Die Kom-munalwahl in Nordrhein-Westfalen war die achte Wahl,die achte Plage. Sie führt zum größten Schrecknis, weilIhre Genossen massenweise aus dem Schlaraffenlandder Kommunalpolitik in Nordrhein-Westfalen vertriebenwerden. Die werden es – da bin ich ganz sicher – Ihnenheimzahlen.
Schlimmer ist allerdings, daß auch unser Land voneiner Plage verheert wird. Diese Plage ist ohne Zweifeldie rotgrüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder.
Von Strukturreformen ist keine Rede. Statt Aufbruchgibt es Stagnation und Rückgang, ein Einfrieren derRenten, ein Einfrieren der Beamtengehälter und damitauch der Löhne im öffentlichen Dienst, die Budgetie-rung im Gesundheitswesen, Steuererhöhungen auf Inve-stitionen und Arbeitsplätze und – Stichwort: 630-DM-Jobs – Zwangsabgaben für Geringverdiener. Verglei-chen Sie dies einmal mit dem Text auf den Garantiekar-ten, die Sie vor der Wahl – vielleicht erinnern Sie sichnoch – verteilt haben. Darauf steht: „Bewahren Siediese Karte auf, und Sie werden sehen, daß wir halten,was wir versprechen!“Sie wollten durch eine konzertierte Aktion für Arbeit,Innovation und Gerechtigkeit mehr Arbeitsplätze schaf-fen, Herr Bundeskanzler.
– Die Forderung ist gut, aber das Ergebnis ist schlecht:Trotz der milliardenschweren Kosmetik eines Pro-gramms für Jugendliche gibt es nicht wirklich wenigerJugendarbeitslosigkeit. Trotz günstiger demographischerEntwicklung nimmt die Arbeitslosigkeit in Deutschlandnach saisonbereinigten Zahlen zu. Das ist eine objektiveTatsache.Wir fallen immer weiter zurück. Nach OECD-Angaben wird die Arbeitslosenquote in Deutschland imDurchschnitt des Jahres 1999 mit 10,7 Prozent deutlichüber der von Griechenland bleiben, wo sie bei 10,2 Pro-zent liegt. Griechenland hat bekanntlich die Aufnahme-kriterien für den Euro nicht erfüllt. Wenn wir andereLänder in Europa anschauen, dann finden wir Muster-beispiele. In Großbritannien liegt die Arbeitslosenquotebei 6,7 Prozent. Dort hat die Labour Party, die ehemalssozialistische Partei, allerdings die Wähler, die Öffent-lichkeit und die eigenen Mitglieder auf das vorbereitet,was dann später gemacht worden ist. Dort stimmtenWorte und Taten ein ganzes Stück mehr überein als beiuns. Deswegen funktioniert dort manches besser. InPortugal haben wir 5 Prozent und in der Schweiz 3 Pro-zent Arbeitslosigkeit.Da Herr Fischer nicht anwesend ist, möchte ichihn nicht zitieren, obwohl es sich lohnen würde. Derhat nämlich bei der Haushaltsdebatte vor einem Jahram 3. September erklärt, daß eine Regierung geschei-tert sei, wenn sie nicht wenigstens nach einem halbenJahr einen Rückgang der Arbeitslosigkeit aufzuweisenhabe.
Herr Bundeskanzler, Ihre Rede war diesmal in ersterLinie eindeutig nach innen gerichtet. Sie war einSchönwettergebet an die eigenen Genossinnen und Ge-nossen nach dem Motto: Habt doch noch einmal Geduldmit mir! Heute haben Sie Ihre Linie als ModernisiererDr. Peter Struck
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4856 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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verlassen und sind wieder in den alten Genossenjargonzurückgekehrt.
So werden Sie es aber letztlich nicht schaffen! Damitwollen Sie vielleicht kaschieren, daß Sie, wenn man dasErgebnis Ihrer Politik nimmt – wieder schaue ich nachNordrhein-Westfalen –, mit der Abrißbirne gegen Ihreeigenen Genossen angetreten sind. Das ist die späte Ra-che eines Juso-Vorsitzenden gegen die immer rechtenGenossen in Nordrhein-Westfalen.
Sie werden sich noch wundern, was passiert, wenn diealle ihre Posten und Pöstchen verlieren. Es war doch so:In jeder Stadt Nordrhein-Westfalens ist zu jeder GmbHnoch einmal eine ganze Reihe von Tochter-GmbHsgegründet worden, um irgendwelche Genossen unterzu-bringen.
Die werden alle verjagt werden, die werden sich beiIhnen ganz schön bedanken.
Herr Bundeskanzler, ich kann nur sagen: Die Regie-rung Schröder ist gescheitert.
– Herr Poß, melden Sie sich zu einer Frage oder rufenSie nur dann, wenn die anderen gerade ruhig sind.
– Haben Sie eine Frage? Dann stellen Sie sie!
– Herr Poß, es gibt in der Bundesrepublik Deutschlandkein Land, das so erfolgreich ist wie Bayern!
Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.Ich bin vorhin vom Herrn Bundeskanzler aufgefordertworden, etwas zur Bayerischen Landesbank zu sagen.Das will ich tun: Die Bayerische Landesbank hat Jahrfür Jahr Gewinne gemacht. Per saldo hat sie auch imletzten Jahr wieder einen hohen Gewinn gemacht underfolgreich gewirtschaftet.
– Es bringt mich zwar in meinem Konzept ein bißchendurcheinander, aber bitte.
– Gut, reden wir von Bayern!
Reden wir in diesem Zusammenhang aber auch dar-über, wie erfolgreich Niedersachsen unter Ihrer Regiegewirtschaftet hat, und stellen einen Vergleich an. Mankann dann aus der Erfahrung sagen, wer es schaffenwird, den Haushalt zu sanieren und Investitionen zupushen. Dann wird sich auch zeigen, ob Sie sich dienötige Vorbildung seinerzeit in Niedersachsen geholthaben.
Ich kann nur sagen: Die Arbeitslosenquote liegt inNiedersachen um zwei Drittel über der in Bayern. DasWirtschaftswachstum in Niedersachen war, als Sie IhrAmt als Ministerpräsident aufgegeben haben, um fast 50Prozent niedriger als in Bayern. Die Investitionsquoteim Haushalt ist um ein Viertel und der Anteil der Selb-ständigen um ein Drittel niedriger als in Bayern. Ichkönnte mit dieser Aufzählung fortfahren, um damit IhrerForderung, etwas über Bayern zu sagen, nachzukom-men.
Herr Bundeskanzler, Sie machen einen gewaltigenFehler:
Sie moderieren, statt zu regieren. Sie verstecken sichhinter dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Interes-senkartelle. Die Beratungen im Zusammenhang mit dem„Bündnis für Arbeit“ sind nichts anderes als eine Dis-kussion unter Interessenkartellen.Wir brauchen keine runden Tische; wir brauchenvielmehr Entscheidungen. Bündnisgespräche könnenkein Ersatz für das sein, was einerseits die Politik leistenkann und was andererseits die Tarifpartner in eigenerVerantwortung miteinander leisten müssen. Es handeltsich also nur um eine Alibiveranstaltung. Arbeitsplätze,Lehrstellen und eine höhere Kaufkraft entstehen nicht anrunden Tischen, sondern in Unternehmen, die am Marktdas Geld dafür verdienen. Hier stellt die Bundesregie-rung, wie ich meine, die Weichen total falsch.
Statt die Zukunftsprobleme unserer Rentenversiche-rung, so wie wir es getan haben, über eine ehrliche undsaubere Rentenreform zu lösen, greift die RegierungSchröder den Menschen tief in die Tasche. In diesemZusammenhang versucht man, den an sich positiv be-setzten Begriff Ökologie mit einer Steuer zu verbinden.Man glaubt so, daß das Abkassieren bei den Menschenplötzlich ankäme. Aber mit der Erhöhung der Mineral-Michael Glos
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ölsteuer in fünf Stufen marschiert Deutschland auf ei-nen Spitzenpreis beim Benzin zu. Ihr Ideal ist der rau-chende und rasende Rentner, der mit einem alten, groß-volumigen und spritfressenden Auto durch die Gegendrast und der sich damit – sozusagen analog einem Per-petuum mobile – die Rente selber finanziert.
Das hätten Sie gerne; das wäre der sozialistische„Selbst-Drive-Effekt“:
Rasen für Herrn Eichel und die Kasse. Herr Trittin da-gegen hätte als Ideal gerne den nickelbrillen- und spitz-barttragenden, etwas griesgrämig schauenden Solarmo-bilfahrer, der sich dieses Auto nur leisten kann, weil sei-ne Frau fest verbeamtet ist.
Sie müssen sich grundsätzlich entscheiden, welchenWeg Sie gehen wollen. Man kann nicht alles gleichzeitighaben wollen.Durch die Ökosteuer werden insbesondere die Men-schen im ländlichen Raum belastet. Auch die Autofahrerin den neuen Bundesländern trifft es hart, wo sich ihreSituation gerade verbessert hat, nachdem sie vorherdurch die Freunde von Herrn Gysi – Herr Gysi ist ja hierbei einer Stimmenthaltung, glaube ich, vom ganzenBundestag zu einem Stasi-Mann erklärt worden – behin-dert worden waren. Es gibt also keine Erblasten der al-ten Bundesregierung. Es gibt nur Lasten, die uns durchdie Beseitigung des Schutts von Sozialismus und Kom-munismus auferlegt wurden. Das sage ich, damit das einfür allemal klar ist.
Jetzt können die Menschen in den neuen Bundeslän-dern also endlich Auto fahren, weil die Straßen dort inOrdnung sind; sie können sich endlich auch ein ordent-liches Auto kaufen. Und nun treiben Sie den Spritpreisnach oben. Auch diese Politik schlägt sich natürlich inden Wahlergebnissen nieder. Dazu kommt noch, daß dieRohölpreise explodieren. In diesem Moment die Steuernmassiv zu erhöhen ist kontraproduktiv.Ich komme jetzt zu den Unternehmensteuern. Mit10 Milliarden DM haben Sie die Unternehmen inDeutschland unter dem Deckmantel Ihres sogenanntenSteuersenkungsgesetzes – bereits der Name ist eine Lü-ge – zusätzlich belastet. Sie haben unter anderem denhalben Steuersatz bei Betriebsveräußerungen abge-schafft und damit – das ist vor dem Hintergrund der Tat-sache, daß 400 000 mittelständische Betriebe zur Wei-tergabe anstehen, eine ganz ernste Sache – die Alters-versorgung vieler Mittelständler vernichtet. Wenn manes den Leuten so vermiest, den Betrieb weiterzuführen –die Kinder werden entsprechend reagieren –, dann istdas für die Arbeitsplätze in unserem Lande ungeheuergefährlich, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Um den Schmerz dieser Steuererhöhung zu lindern,haben Sie für das Jahr 2000 eine Unternehmensteuerre-form in Aussicht gestellt. Wir sind gespannt, wann sietatsächlich kommt – vielleicht im Jahr 2001. Aber das,was jetzt von Ihnen konzipiert wird, hilft dem Mit-telstand ohnehin sehr wenig.Ich weiß nicht, Herr Bundeskanzler, ob Sie sich mitallen Details des Steuerrechts auskennen; das würdejetzt auch ein Stück zu weit führen.
– Ich war immerhin vier Jahre lang finanzpolitischerSprecher der Union, und zwar zu der Zeit, als Sie in derOpposition waren, also da, wo Sie hingehören. Wir ha-ben in dieser Zeit eine gute Politik gemacht.Herr Bundeskanzler, Sie haben richtigerweise gesagt:Fast 90 Prozent der Unternehmen sind keine Aktienge-sellschaften und keine GmbHs, sondern Einzelunter-nehmen. Bei diesen aber ist die Trennung zwischen Be-triebskapital und persönlichem Vermögen des Inhabersso gut wie nicht möglich. Das ist die Praxis.
Diesen Unternehmen nutzt Ihr Angebot eines niedrige-ren Steuersatzes für nicht entnommene Gewinne über-haupt nichts.
Kernproblem Ihrer Steuerreform und Ihrer Unter-nehmensteuerreform ist doch, daß der allgemeine Steu-erspitzensatz aus ideologischen Gründen nicht gesenktwerden soll. Deshalb kann im Grunde genommen nureine Mißgeburt herauskommen.
Herr Struck hatte deshalb recht, als er im Sommerdurchs Land gezogen ist und gesagt hat: Wir braucheneine Steuerreform, die diesen Namen verdient. Das wareine vernichtende Kritik an Ihrer Steuerreform. Er hatdiese Kritik zum Teil zurücknehmen müssen. Trotzdemaber bleibt sie richtig.Ein weiteres Beispiel dafür, wo Worte und Taten aus-einanderklaffen, ist die Selbständigkeit. Das Meister-BAföG wird reduziert. Man spart quasi am Saatgetreide
und glaubt, man könne in Zukunft so die Ernährungslageder Bevölkerung verbessern. Das ist unsinnig.Auf den „SPD-Garantiekarten“, die wahrscheinlichauch Sie verteilt haben, wird versprochen: Wir wollenDeutschland durch Verdoppelung der Investitionen inBildung, Forschung und Wissenschaft in fünf Jahren zurIdeenfabrik machen.
Michael Glos
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Das haben Sie nicht verwirklicht. Die Finanzplanung da-für – das ist schon gesagt worden – geht zurück; genau-so sieht es bei der globalen Minderausgabe aus.
Nach Ihrer Planung wird im Jahr 2002 weniger für Bil-dung und Forschung ausgegeben als zu Waigels Zeiten.Das ist die Tatsache.
Aber das mit der Ideenfabrik hat geklappt, Herr Bun-deskanzler. Diese SPD-Fraktion ist eine grandioseIdeenfabrik. Im Sommer haben wir davon viele Kost-proben bekommen. Wir konnten ein köstliches Som-mertheater genießen.
Herr Bundeskanzler, Ihr eigentliches Problem sinddie vielen gebrochenen Versprechungen. Zum Beispielhaben Sie noch im Februar 1999 – das müssen Sie sichvorhalten lassen – eine Reduzierung der Mittel für denStraßenbau kategorisch ausgeschlossen.
Dafür haben Sie sich als Kanzler aller Autos, wie Siesich selbst genannt haben, verbürgt.
Die Realität ist: Die Straßenbaumittel wurden um 400Millionen DM zusammengestrichen. Durch das soge-nannte Sparprogramm werden die Mittel für Stra-ßenbau- und Schienenwegeinvestitionen bis zum Jahr2003 um 7,3 Milliarden DM gekürzt.
Herr Klimmt muß ein schweres Erbe übernehmen.
Herr Müntefering wird gebraucht, um die Desinformati-onskampagnen, mit denen er die Wahl gewonnen hat,fortzusetzen; aber die Leute glauben es ihm nicht mehr.Und Herr Klimmt kann sich bald nicht Minister für Bauund Verkehr, sondern Minister für Stau und Verkehrnennen.
Diese Politik führt nämlich dazu, daß unsere Verkehrs-adern verstopft werden. Auch dadurch verhindert manWachstum.Wolfgang Schäuble hat heute zu recht dargelegt, wieman konsolidieren kann. Dies geht nur, wenn Wachstumgeschaffen wird – das ist der beste Weg zur Konsolidie-rung – und die Steigerung der Ausgaben geringer aus-fällt als die Steigerung der Einnahmen. Vor diesemHintergrund ist Ihr sogenanntes Sparpaket eines dergrößten Märchen seit den Gebrüdern Grimm.Herr Metzger, ich habe versprochen, Sie zu zitieren,wenn Sie dableiben. Das tue ich hiermit gerne. Sie sindder haushaltspolitische Sprecher der Grünen. Das sageich für die Leute, die draußen zuschauen und die dasvielleicht nicht wissen. Sie haben gesagt:Wir zahlen heute die Zeche für die sozialliberaleKoalition in den 70er Jahren, die Sozialleistungenausgeweitet und Öffentlichen Dienst aufgebläht hat,als ob wir in Schlaraffia lebten.Das haben Sie in der Zeitung „Die Woche“ vom26. März 1999 gesagt. Das war möglicherweise AusflußIhrer Enttäuschung darüber, daß Sie nichts gewordensind. Nach einer Regierungsbildung ist es natürlich im-mer so: Wenn man sich Hoffnung darauf macht, daßvielleicht ein Staatssekretärspöstchen drin ist, und manes nicht bekommt, dann ist man leichter geneigt, dieWahrheit zu sagen, und spricht sie deutlicher aus.
Es ist im Grunde genommen vollkommen egal. Es istnun einmal das Schicksal der Grünen, daß sie für dieSPD lediglich notwendige Mehrheitsbeschaffer sind,
denen man ein paar unbedeutende Spielwiesen gibt unddie man ansonsten links liegenläßt.Herr Fischer ist vielleicht eine Ausnahme. Aber er hatsich, auch in seinem ganzen Gehabe und Auftreten, weitdavon distanziert, jemals zu den Grünen gehört zu ha-ben.
Seine Popularität ist deswegen sehr hoch, weil die Leutevergessen haben, bei welcher Partei er – hoffentlich –noch Beiträge zahlt.Herr Schröder hat ja auch gesagt, was er von denGrünen hält. Ich zitiere aus dem „Münchner Merkur“.Da hieß es:Meine erste Regierung war eine rot-grüne Regie-rung in Niedersachsen. Da hatten wir das so gere-gelt, daß die Grünen sagten, was Niedersachsen inder UNO macht, und ich, was in Niedersachsenpassiert.Insofern sind die Grünen immer nur ein Feigenblatt.Der Aufbau Ost soll zur Chefsache werden, so hieß esvor der Bundestagswahl auf den „Garantiekarten“, dieich schon ein paarmal zitiert habe.
Michael Glos
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Auch das fällt in die Kategorie mit der Überschrift: Ver-sprochen, gebrochen.
Es heißt bei Ihnen ja überhaupt: Es gilt das gebrocheneWort.
Ich gebe Herrn Gysi ungern recht, aber wo er recht hat,hat er recht. Er hat zu Recht beklagt, was sich seit derWahl in den neuen Bundesländern tut.
Herr Schwanitz ist ja nur eine Gallionsfigur. Ich habegelesen, er soll bald durch Frau Hildebrandt ersetzt wer-den, nach dem Motto: Irgendwo müssen die verdientenGenossinnen und Genossen wieder untergebracht wer-den. Ich kann nur warnen: Nehmen Sie bitte nicht FrauHildebrandt! Die nervt furchtbar. Die Westdeutschen,selbst Ihre Genossen, halten automatisch den Geldbeutelzu, wenn sie die dann im Fernsehen nerven hören.
Jedenfalls ist die größte Drohung, wenn Sie sagen, daßSie etwas zur Chefsache machen wollen. Das stimmt.Sie haben offensichtlich Probleme mit der deutschenEinheit. In Ihrer Zeit als niedersächsischer Ministerprä-sident haben Sie im Bundesrat gegen den deutsch-deutschen Einigungsvertrag gestimmt. Das ist eine Tat-sache. Sie sind vielleicht Ihrem Duzfreund Egon Krenztreu geblieben,
aber sie haben die Menschen in den neuen Ländern ver-raten. Jetzt, wo Sie Kanzler sind, tun Sie ebenfalls nichtsfür diese Menschen, außer daß Sie Versprechungen ab-geben.
Herr Bundeskanzler, ich muß Ihnen noch einmal eineIhrer Äußerungen vorhalten. Sie haben in Ihrer Regie-rungserklärung – das war schon nach der Wahl – gesagt:Das soziale Netz muß … zu einem Trampolin wer-den. Von diesem Trampolin soll jeder, der vorüber-gehend der Unterstützung bedarf, rasch wieder inein eigenverantwortliches Leben zurückfedern kön-nen.Bis jetzt hat Ihr Trampolin lediglich bewirkt, daß dieMenschen, die sich auf dieses Trampolin begeben ha-ben, aus dem Arbeitsmarkt oder aus einem 630-DM-Jobhinauskatapultiert worden sind.Mittlerweile haben auch die DGB-Gewerkschaftenerkannt, daß sie den falschen Mann unterstützt haben.Sie melden sich jetzt. Erst haben Sie unsere Rentenre-form zur längerfristigen Absicherung einer kalkulierba-ren und nettolohnbezogenen Rente rückgängig ge-macht. Ich erwarte jetzt von den DGB-Gewerkschaften,daß sie die gleichen Finanzmittel einsetzen, die sie da-mals, im Wahlkampf, gegen Helmut Kohl und für Sieeingesetzt haben.
Ferner werden die Menschen mit der Ökosteuer abge-straft und abkassiert, die angeblich der Senkung desRentenversicherungsbeitrags dienen soll.
– Lediglich zum Teil. In Wahrheit überweist der Bundim Jahr 2000 nur etwas mehr als die Hälfte des Betrages,der sich aus der Mehrwertsteuererhöhung des Jahres1998 und der Ökosteuer des Jahres 1999 ergibt, an dieRentenkasse. Das kann man nachrechnen.Jetzt wollen Sie den Rentnern die ihnen zustehendenErhöhungen ihrer Renten verweigern. In diesem Zu-sammenhang möchte ich Sie, Herr Bundeskanzler, wie-der zitieren. Sie haben in der Haushaltsdebatte vor ei-nem Jahr hier gesagt:Das trifft … insbesondere jene zumeist älterenFrauen, die ihre Männer im Krieg verloren haben,die ihre Kinder durchgebracht haben und die vorallen Dingen die Lasten des Aufbaus im Westengetragen haben. Denen an die Rente zu gehen istnicht nur sozial ungerecht, nein, es ist unanständig,was Sie machen.Das ist Originalton Schröder.
Ich lasse aus Zeitgründen andere Themen weg. Ichmöchte nur die Plünderung der Pflegekasse und die Ein-führung des Globalbudgets im Gesundheitswesen er-wähnen. Das Globalbudget – ich möchte das für dieLeute übersetzen – funktioniert so, als ob man einerKommune vor dem Winter vorgibt, wieviel Geld fürStreugut ausgegeben werden darf, ohne Rücksicht dar-auf, wie kalt der Winter wird. Das Globalbudget funk-tioniert so, als ob ein Dorf seiner Feuerwehr vorschreibt,wieviel Liter Wasser sie im Jahr verspritzen darf, unab-hängig davon, ob es einen Großbrand gibt oder nicht.Das bedeutet letztendlich Budgetierung.
Dies zeigt, daß die an sich notwendige Konsolidierungs-politik blinde Willkür ist.Wir haben es am Beispiel der Landwirtschaft gese-hen. Es war ja besonders delikat, wie Sie sich in Cottbusgegenüber den Bauern und insbesondere den Bäuerinnenbenommen haben.
Ich versage es mir, dies genau im Detail zu schildern.Sie sind nach Cottbus gereist, um sich gegenüber einerkleinen Gruppe als der große Macher fernsehwirksamaufzuspielen. Das finde ich schäbig, Herr Bundeskanz-ler. Das sollten Sie nicht nötig haben.
Michael Glos
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4860 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Was treiben Sie mit unserer Bundeswehr? Sie wol-len verhindern, daß Herr Scharping, der sicherlich zuden stärkeren Figuren in Ihrem Kabinett zu zählen ist,Erfolg hat. Deswegen wird in erster Linie die Bundes-wehr so gestraft. Herr Scharping hat es ungeheuerschwer: Wehrt er sich nicht gegen die Kürzungen, dannist seine Glaubwürdigkeit dahin. Er gehört dann zu derReihe von Figuren, die Opfer Ihres Machtkalküls ge-worden sind. Herr Bundeskanzler, Sie haben noch im-mer nicht vergessen, daß Herr Scharping Sie damals alswirtschaftspolitischer Sprecher der SPD entlassen hat.An Ihrer Stelle würde auch ich so etwas nicht vergessen.Es ist menschlich verständlich, daß man sich dafür rächt,
aber daß man dafür die Bundeswehr in Geiselhaftnimmt, finde ich entsetzlich und ganz übel.
Sie reden zwar immer von Zusammenarbeit. Aberwie sind Sie denn bei der Besetzung der Posten der Eu-ropäischen Kommission vorgegangen? Sie haben keineZusammenarbeit gesucht. Jetzt fordert Frau Schreyerneue Europasteuern. Herr Verheugen läßt die Katze ausdem Sack und sagt sofort nach der Anhörung vor denEU-Gremien: Das Geld reicht nicht für die Osterweite-rung. Damit gibt er Ihnen eine Ohrfeige, weil Sie alsRatspräsident zu kurz gesprungen sind. Ich würde mirdas von Herrn Verheugen nicht gefallen lassen. Deswe-gen wäre in Brüssel ein Kassensturz notwendig.
Hans Barbier schreibt in der „Frankfurter Allgemei-nen Zeitung“ vom 14. September dieses Jahres, alsovorgestern, unter der Überschrift „Die Leute“:Sie– die Leute –verstehen, dass sie im September 1998 eine Luft-nummer gebucht haben. Sie verstehen, dass ihnendie maßvolle Rentenreform der konservativ-liberalen Koalition als schreiendes Unrecht ge-schildert wurde und dass an deren Stelle nun einWillküreingriff treten soll, der jeder Langfristvor-stellung von Altersvorsorge Hohn spricht. Sie– die Leute –verstehen genug von der demotivierenden Last derBesteuerung, um zu wissen, dass man möglichstrasch eine Regierung wieder loswerden sollte, dieangesichts der Rentenmisere nun das private Sparenhöher besteuert.Wir werden auch den von Ihnen mit der Besteuerungder Lebensversicherung eingeschlagenen Weg im Bun-desrat nicht mitgehen. Ich sage das, damit das ganz klarist.
Hans Barbier schreibt weiter:Die Leute verstehen vieles. Aber sie werden kaummehr verstehen, warum sie vor einem Jahr demmedial geschönten Schein der schieren Substanzlo-sigkeit erlegen sind.Herr Bundeskanzler, das ist ein sehr harter Vorwurf –
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit.
– von kompetenter,
neutraler Seite. Die Wählerinnen und Wähler merken,
daß sie auf einen Blender hereingefallen sind. Die
Wählerinnen und Wähler haben sich bereits zum ach-
tenmal gegen Sie entschieden. Wir bitten die Wählerin-
nen und Wähler in Sachsen und in Berlin, sich ebenfalls
gegen Sie zu entscheiden. Wenn sie das tun, geben sie
uns mehr Einfluß im Bundesrat. Diesen Einfluß werden
wir verantwortungsvoll wahrnehmen, weil wir zum
Wohl unseres Landes arbeiten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nun demKollegen Matthias Berninger das Wort.
Herr Kollege Glos, wenn die CDU/CSU die haus-haltspolitische Diskussion so fortsetzt, wie Sie sie der-zeit führen, dann wird sie im „Bayernkurier“ und viel-leicht an den Stammtischen Erfolge erzielen. Der Ver-antwortung, die Ihnen durch die Wahlerfolge angeblichzugefallen ist, werden Sie dadurch aber nicht gerechtwerden.
Herr Kollege Glos, eigentlich müßten Sie sich wun-dern, daß nach einem Wahlerfolg der Union an den Fi-nanzmärkten der Kurs des Euro plötzlich in den Kellergeht. Dort sitzt der Altbundeskanzler. Einer seinergrößten Erfolge war es, daß er trotz Bedenken in diesemLand den Euro durchgesetzt hat. Gleichzeitig verhältsich seine Partei so, daß das Vertrauen in den Euro ineiner Art und Weise in den Keller geht, daß zumindestich, wenn ich in dieser Partei wäre, ein verdammtschlechtes Gewissen hätte.
Wenn ich Zeitung lese, frage ich mich manchmal, obHerr Schäuble auf dem Weg von der Regierung in dieOpposition sein gesamtes früheres analytisches Denk-vermögen abgegeben hat. Herr Schäuble behauptet, Fi-nanzminister Eichel dramatisiere die Staatsverschul-dung. Fest steht doch: Wenn wir den Kurs der Vorgän-gerregierung fortsetzen, wenn wir dem Schuldenwach-stum weiterhin keine Grenzen setzen, dann wird derVerlust des Vertrauens in den Euro auf den europäi-schen Finanzmärkten eine Geschwindigkeit erreichen,Michael Glos
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die sich nicht nur für Deutschland, sondern für Euro-Land insgesamt unerhört negativ auswirken wird.Wenn dieses Theater um die Wahlen erst einmalvorbei ist, wenn die siegestrunkenen Konservativenwieder nüchtern werden und Katerstimmung eintritt,dann wird die Klärung der Frage, ob die CDU/CSUdurch Blockadepolitik die Stabilität des Euro gefährdenwill, dazu führen, daß sich der Finanzminister Eichel mitdem größten Sparpaket in der Geschichte der Bundesre-publik Deutschland durchsetzen wird.
Wenn der Kollege Glos auf das „Bündnis für Ar-beit“ zu sprechen kommt, dann redet er plötzlich vonInteressenkartellen. Ich kann das verstehen. Mit denGewerkschaften hatte er nie etwas am Hut. Daß jetztauch die Arbeitgeberverbände bei der CDU/CSU nichtmehr so wohlgesonnen sind, ist mir völlig klar. Die Ar-beitgeberverbände schreiben Ihnen ins Stammbuch: Miteiner Politik der Blockade gegen das Sparpaket gefähr-det man Wachstum und Arbeitsplatzzuwächse inDeutschland. Genau diese Kritik der Arbeitgeberver-bände muß Ihnen wegen des populistischen Kurses, denSie hier einschlagen, verdammt weh tun.
Ihre hier vorgetragene Linie besteht darin, abstrakt zusagen, Sparen sei eine klasse Sache, selbstverständlichmüsse man sich um den Haushalt in irgendeiner Formkümmern. Wenn es aber konkret wird, dann fordern Sienur Mehrausgaben. Mit dieser Linie werden Sie in die-sem Land nicht mehr lange Wahlerfolge einfahren;vielmehr werden Sie reumütig zu einer Politik der Ver-antwortung zurückkehren.Vor diesem Hintergrund nehme ich aus diesen Haus-haltsberatungen vor allem folgendes mit: Die Union hatsich noch nicht entschieden, konstruktiv am Sparkursmitzuwirken. Aber ich bin dennoch hoffnungsvoll, weilIhnen die Verantwortung für dieses Land auf Dauernicht in der Art fehlen wird, wie es zur Zeit der Fall ist.Herr Glos hat die „Garantiekarte Wahlversprechen“ins Feld geführt. Mich ärgert aber, daß er immer nurdarüber geredet hat, was diese Bundesregierung nochnicht erreicht hat. Daß im August des Vorjahres7 Prozent junge Leute mehr arbeitslos als im Augustdieses Jahres waren, das ist ein Riesenerfolg der Politikdieser Bundesregierung, den Sie unter den Tisch fallenlassen.
Das können Sie auch weiterhin so tun. Sie können allesignorieren. Aber ich freue mich für jeden einzelnen, fürden wir einen Arbeitsplatz oder einen Ausbildungsplatzgeschaffen haben. Ich freue mich auch darüber, daß HerrSchäuble mit seiner wohlfeilen Kritik vor Jahresfrist ge-gen unsere Programme in diesem Bereich offenkundigfalschgelegen hat. Wir haben uns um eine Gruppe jungerMenschen gekümmert, die zu lange die Verlierer warenund zu lange keine Perspektive hatten. Ich freue mich,daß wir als Bundesregierung trotz der Einsparungen indiesem Bereich weiterhin Akzente setzen. Die Koali-tionsfraktionen werden dies massiv unterstützen.
Bei der Rentenpolitik machen Sie das gleiche, undSie werden auch hier – dessen bin ich sicher – ohneeinen Kurswechsel nicht vorankommen. Ich habe michschon in der letzten Legislaturperiode massiv darübergeärgert, daß zumindest von manchen Parlamentarierndie Realitäten in der Rentenversicherung ignoriert wur-den. Man hat das Problem der demographischen Ent-wicklung nicht gesehen und die Kostenprobleme in derRentenversicherung ignoriert. Ich habe mich auch dar-über geärgert, daß dann, wenn Rentenzuwächse durchdie Maßnahmen von Herrn Blüm begrenzt wurden, po-lemisch von Rentenkürzung geredet wurde. Der tiefeFrust, der darüber bei Ihnen vorhanden ist, kann dochnicht dazu führen, daß diejenigen, die sich in den letztenvier Jahren darüber geärgert haben, nun in der Oppositi-on genauso reden. Damit unterminieren Sie das Vertrau-en in die Rentenversicherung, was ich für unseriös halte.Viele Kollegen, wie zum Beispiel der Kollege Storm,der massiv daran gearbeitet hat, daß es eine vernünftigeReform der Rentenversicherung gibt, gucken heute ver-legen unter den Tisch, wenn sie sich das populistischeGerede von der ersten und zweiten Reihe derCDU/CSU-Fraktion anhören müssen,
weil sie genau wissen, daß damit kein Millimeter Zu-kunft geschaffen wird, sondern daß die CDU weiterhinfür Stillstand in diesem Bereich steht. Das ist nicht derrichtige Weg.
Sie sind durch Ihre Wahlerfolge nun in der Verant-wortung. In der Rentenpolitik heißt das, daß sich dieOpposition, zumindest die große Oppositionsfraktion –von der kleinen kann man sagen, daß ihre rentenpoliti-schen Vorschläge zu Lasten der Menschen gehen, diefür das Alter keine hohen Einkommen ansammeln kön-nen;
von der PDS wollen wir nicht reden, weil sie sagt:„Hände weg von Omis Rente“, und meint, die Rente seisicher, was billigster Populismus ist und eine Haltungdarstellt, mit der man bestenfalls Wahlkampf machenkann –,
endlich mit der rotgrünen Koalition an einen Tisch set-zen muß. Wir werden gemeinsam eine Lösung findenmüssen.Es gibt den Vorschlag der Einführung eines demo-graphischen Faktors, den Vorschlag von Herrn Riester,eine obligatorische Zusatzversicherung für das AlterMatthias Berninger
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einzuführen und damit Stabilität in der Rentenversiche-rung zu schaffen, und den Vorschlag von den Bündnis-grünen, zukünftig zu verhindern, daß jede Mark, die wirin die Erhöhung des Kindergeldes oder in andere Ver-besserungen, die Familien zugute kommen sollen, stek-ken, zugleich zu Rentenerhöhungen führt. Diese dreiVorschläge liegen auf dem Tisch, und wir müssen ge-meinsam darüber nachdenken, wie wir aus diesen dreiVorschlägen ein vernünftiges Rentenkonzept hinbe-kommen.Wenn Herr Kollege Glos hier so tut, als sei niemandmehr als die Opposition um die Leute besorgt, die imAlter von Armut betroffen sind, dann kann ich Ihnen nursagen: Ändern Sie Ihre Haltung zum Thema Grundsi-cherung im Alter, und stimmen Sie mit der Bundesregie-rung bei der Rentenreform dafür, daß wir eine Grundsi-cherung im Alter schaffen und es damit alten Menschenersparen, zum Sozialamt gehen zu müssen! Wenn Sie damitmachen, dann nehme ich Ihre Sorge ernst. Anderen-falls ist das billiger Populismus und Flucht aus der Ver-antwortung.
Heute morgen hat der Kollege Schäuble für einenMoment diesen billigen populistischen Kurs verlassen,als er gefragt hat, ob man nicht bei der Arbeitslosenhilfeund der Sozialhilfe, also bei der Frage, wie wir denSozialstaat organisieren, einmal darüber nachdenkenkönne, neue Wege zu gehen.
Was mich dann aber ärgert, ist, daß er dabei dasWohngeld vergessen hat. Die Maßnahmen der Bundes-regierung, das pauschalisierte Wohngeld wieder durchdie Kommunen und nicht durch den Bund zu finanzie-ren, sind keineswegs der Versuch, lediglich Lasten inRichtung auf die Kommunen zu verschieben. Sie habenein anderes Ziel: Wir gehen fest davon aus, daß dieKommunen dann, wenn sie für das Wohngeld und damitauch für die Unterbringung der Ärmeren in diesem LandVerantwortung tragen, auch für eine sinnvolle Unter-bringung sorgen und es nicht zulassen werden, daß sieweiterhin in schlechten und überteuerten Wohnquartie-ren untergebracht werden. Dann wird es vorbei sein mitihrem geringen Interesse an konkreten Reformen und ei-ner vernünftigen städtischen Wohnungspolitik, wie esauf Grund der Tatsache, daß der Bund das Wohngeldbezahlt, heute der Fall ist.
Deswegen bin ich dafür, daß man die Wohngeldre-form an dieser Stelle so angeht, wie es die Bundesregie-rung vorschlägt. Ich bin auch dafür, daß wir das Wohn-geld, was den Bereich des Tabellenwohngeldes angeht,erhöhen. Wir lösen damit ein Wahlversprechen ein undsorgen darüber hinaus endlich dafür, daß diejenigen, diearbeiten und eine Familie zu ernähren haben, aber aufGrund erhöhter Mietkosten kaum die Mieten für ihreWohnungen bezahlen können, das in Zukunft können.Ich bin stolz darauf, daß wir dieses Wahlversprecheneinlösen. Das ist eine von vielen Maßnahmen, bei denenwir trotz des Sparens sagen: Wir setzen Akzente.
Zur Frage der Verschiebung von Lasten. Auch Siekennen die Rechnungen. Sie reden immer nur davon,daß der Bund Ausgaben an eine andere Stelle weitergibt.Sie reden aber nicht davon, daß der Bund auch Entla-stungen weitergibt. Sie müssen jetzt, da Sie die Mehrheitin den Ländern haben, dafür sorgen, daß die Finanzmi-nister der Länder ihre Hände waschen und daß sie nichtmehr mit klebrigen Händen das Geld, das wir zur Entla-stung der Kommunen zur Verfügung stellen, in denLänderhaushalten einbehalten. Das ist Ihr Job.
Unser Job ist es, dafür zu sorgen, daß der Bundeshaus-halt ins Gleichgewicht gebracht wird.
Kümmern Sie sich also um Ihre Aufgaben.Es wurde darüber gesprochen, wer für die1 500 Milliarden DM Staatsschulden des Bundes ver-antwortlich ist. Ich halte überhaupt nichts von der wohl-feilen Debatte: Erst waren es die Sozialliberalen, dannwaren es die Christlich-Liberalen. Die F.D.P. war immermit dabei, wenn es darum ging, die Lohnnebenkostenund die Staatsverschuldung zu erhöhen;[Dr. Uwe Küster [SPD]: Ja, und jetzt schreiensie: „Haltet den Dieb!“)Sie sollten bei den Haushaltsberatungen ganz ruhig sein.Ich halte überhaupt nichts davon, wenn wir hier, stattüber das Problem 1 500 Milliarden DM Staatsschuldenzu sprechen, so tun, als sei nur die eine oder nur die an-dere Seite verantwortlich. Sie müssen sehen, daß Siedurch die Politik der Wiedervereinigung DeutschlandsMitverantwortung dafür tragen, daß die Schulden so ge-stiegen sind, weil Sie von den Besserverdienenden nichtihren Beitrag zur Finanzierung der Einheit verlangt ha-ben, und daß die Lohnnebenkosten in die Höhe gefahrenwurden, weil Sie nicht den Mut hatten, zu sagen, daß derAufbau des Sozialstaats in den neuen Ländern durch allefinanziert werden soll. Sie tragen genug Mitschuld. Aberegal; 1 500 Milliarden DM Schulden braucht man garnicht zu dramatisieren. Alle an den Finanzmärkten, diesich die Sache bekanntermaßen ganz nüchtern anschau-en, sagen Ihnen, daß sich ein Land wie die Bundesrepu-blik Deutschland, die führende Wirtschaftsmacht im Eu-ro-Land, eine solche Schuldenbelastung auf Dauerschlicht nicht leisten kann. Insofern ist es auch IhreAufgabe, die Bundesregierung dabei zu unterstützen,daß dieser Schuldenberg abgebaut wird.In den 80er Jahren – zumindest in den ersten siebenJahren Ihrer Regierungsverantwortung – haben Sie esgeschafft, die Neuverschuldung zu halbieren. Das wareine Anstrengung. Der Bundesfinanzminister hat sichMatthias Berninger
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zum Ziel gesetzt, die Neuverschuldung in Deutschlandin dem gleichen Zeitraum auf Null zurückzufahren undeinen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Da nützt Ih-nen Ihre Kritik im Detail überhaupt nichts. Die Kernfra-ge ist: Schaffen wir das als Bundesrepublik Deutsch-land? Da geht es auch nicht um die Frage, ob die rotgrü-ne Koalition das schafft, sondern es geht um die Frage,ob das Land das schafft. Wenn Sie das weiterhin blok-kieren, dann tragen Sie die Verantwortung dafür, wenndieses Land international weiterhin auf dem absteigen-den Ast ist, statt auf dem aufsteigenden zu sein.
Ich komme noch einmal auf die Garantiekarte zurück.Da steht, daß wir mehr für die Bildung tun. Natürlichkönnen Sie, Herr Glos, jetzt billigste Milchmädchen-rechnungen hier vorlegen und den Haushaltsansatz vonFrau Bulmahn mit dem ihrer Vorgänger vergleichen.Dabei vergessen Sie aber, daß wesentliche Haushaltsti-tel, die früher im Haushalt des Bildungs- und For-schungsministeriums waren, heute ganz woanders res-sortieren, zum Beispiel beim Wirtschaftsminister. Ichbin stolz darauf, daß wir, obwohl wir das Ziel haben,den Haushalt ins Gleichgewicht zu bringen, im Bil-dungsbereich neue Akzente setzen werden.
Ich bin stolz darauf, daß wir als Koalition das Recht aufBildung verwirklichen wollen, daß wir nicht einfachpauschal überall sparen, sondern daß die rotgrüne Ko-alition sagt: Man muß mit Verstand sparen, das heißt,man muß sparen und zugleich Akzente setzen. Da kön-nen Sie mit falschen Zahlen und mit Halbwahrheitenoperieren; die Bilanz wird uns an dieser Stelle recht ge-ben. Es ist ein kluger Weg, den wir gehen, weil wir die-ses Sparpaket nicht nur auf den Weg bringen, um in ir-gendeiner Form positiv dazustehen.Zum Abschluß. Ich habe das Thema Rentenreformschon angedeutet. Wir führen die Rentenreform, denAbbau der Staatsverschuldung und die Ökologisierungunseres Steuerrechts nicht durch, damit wir hier alle gutschlafen können, sondern wir machen das, weil einKurswechsel stattgefunden hat. Herr Rau hat in seinerEinführungsrede als Bundespräsident an dieser Stellevor dem Egoismus des Gegenwärtigen gewarnt. DieserEgoismus des Gegenwärtigen herrschte in Deutschlandzu lange vor. Wir wollen für kommende GenerationenAkzente setzen. Das heißt, sie dürfen nicht mit unserenZinslasten belastet werden. Sie müssen durch Investitio-nen im Bildungsbereich Spielräume bekommen. Siemüssen Vertrauen in ein Rentensystem gewinnen, vondem Junge und Alte etwas haben.Für die Umsetzung all dieser Vorhaben braucht esmehr als eine rotgrüne Koalition. Sie werden sich über-legen müssen, ob Sie weiterhin auf dem Holzweg blei-ben und Obstruktion betreiben wollen oder ob Sie dieseZiele – ausgeglichener Haushalt, Investitionen für diekommenden Generationen und zukunftsfestes Rentensy-stem – erreichen wollen. Dann müssen Sie uns unter-stützen. Wenn Sie aber den Weg gehen wollen, den Sieim Moment beschreiten, tragen Sie die Verantwortungdafür, wenn es schiefgeht.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim Otto.
Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Ber-ninger, daß die Opposition – um Ihre letzte Frage zu be-antworten – bereit ist, den Weg der Haushaltskonsolidie-rung mitzugehen, hat die heutige Debatte meines Er-achtens sehr deutlich gemacht.Sie selbst haben vom Sparen mit Verstand gespro-chen. Darum geht es auch in dem Bereich, den ich hierin meiner Rede kurz streifen möchte. Wenn wir in allenBereichen sparen müssen, dann gilt dieses selbstver-ständlich auch für die Kultur. Es gibt das klare Bekennt-nis, daß wir nicht einen Politikbereich von vornhereindraußen lassen können. Es geht aber, wie Sie sagen, umSparen mit Verstand; das heißt Sparen mit System, ein-gebettet in ein schlüssiges Gesamtkonzept. Dazu könnenwir ganz klar feststellen: Es gibt wohl kaum einen Poli-tikbereich in diesem Hause, in dem ein Gesamtkonzeptzum Sparen so sehr fehlt wie gerade im Bereich derKultur.
Ich will Ihnen das an einigen Beispielen deutlich ma-chen. Beim Anschauen des Haushaltsentwurfs stellenSie fest, daß am heftigsten dort gespart wird, wo HerrNaumann parteipolitische Gegner ausgemacht hat oderwo wenig mediale Aufmerksamkeit zu erheischen ist. Esgibt zum Beispiel besonders starke Kürzungen bei der„Deutschen Welle“, bei der Vertriebenenkultur und beider auswärtigen Kulturpolitik.
Auf der anderen Seite sind Sie, Herr Dr. Naumann,offenbar bereit, für bestimmte Bereiche großzügigerGeld auszugeben. Interessanterweise legen Sie in Berei-chen, auf die die Scheinwerfer gerichtet sind, in denendas Showbiz herrscht und Glamour vorherrschend ist,zu. In den letzten zwei Jahren haben sich beispielsweisedie Ausgaben für die Subventionierung der deutschenFilmindustrie verdoppelt.
Das wird dem deutschen Film nicht entscheidend wei-terhelfen. Es gibt inzwischen ja einige Regisseure, diebesser im Auffinden von irgendwelchen Subventions-töpfen als in der Ermittlung eines erfolgreichen Dreh-buchs sind.
Subventionen waren noch nie erfolgreich.Matthias Berninger
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Über einen anderen Bereich sollten wir uns, HerrDr. Naumann, auch unterhalten: Über den Hauptstadt-kulturfonds. Sie lassen sich in der heutigen „taz“ mitdem Spruch feiern: Naumann macht mehr Geld für dieSzene locker. Begründet wird dies damit, daß Sie – ichzitiere –in Berlin die Kunst in den Bezirken und von Pro-jektgruppen in der Szene finanzieren wollen unddabei bezirklichen Initiativen ein weitgehendesMitbestimmungsrecht geben wollen.
Diese Mitwirkung von bezirklichen Initiativen ist wohldeswegen notwendig, weil Sie den Hauptstadtkultur-fonds einem ehrwürdigen 74jährigen Mann anvertrauenwollen und zusätzlich etwas jugendlichen Input benöti-gen.Meine Damen und Herren, so wichtig die Hauptstadt-kulturförderung ist – auch wir freuen uns über ein buntesund reichhaltiges Kulturleben in dieser Stadt –, möchteich Sie, Herr Dr. Naumann, doch fragen, wie Sie dieZulagen in den Bereichen Film- und Hauptstadtkultur-förderung etwa den Hunderten von Mitarbeitern bei der„Deutschen Welle“ oder an dem ungarischen bzw. li-tauischen Gymnasium erklären wollen, die jetzt wegenIhrer Kürzungen entlassen werden müssen?
Wie erklären Sie angesichts der Wohltaten in einigenshowträchtigen Bereichen Ihre radikalen Kürzungenzum Beispiel bei der Erhaltung deutschen Kulturgutesder historischen Siedlungsgebiete Ost-, Mittel- und Süd-osteuropas?Es fällt übrigens auf, daß unter den Kürzungen vonHerrn Naumann, beispielsweise bei der „DeutschenWelle“ oder bei der Kulturgutsicherung, überdurch-schnittlich die Reformstaaten Ost- und Mitteleuropas zuleiden haben. Das erklärt vielleicht auch ein bißchen dennicht sehr überzeugenden Auftritt von BundeskanzlerSchröder kürzlich in Ungarn. Zu unserer Verantwortunggerade gegenüber diesen Reformstaaten müssen wir unsauch in der Kulturpolitik bekennen. Wir können hiernicht besonders stark kürzen.
Meine Damen und Herren, wir verstehen unsere Rolleals Opposition konstruktiv. Deswegen wollen wir Ihnenauch zwei konkrete Angebote für eine Zusammenarbeitunterbreiten.Der erste Bereich betrifft die „Deutsche Welle“ unddie auswärtige Kulturpolitik. Lassen Sie mich eingangssagen: Auch in diesen Bereichen können Kürzungennicht tabu sein; darüber brauchen wir nicht zu reden.Wir brauchen – wie Sie es so schön genannt haben – einGesamtkonzept für mediale Außenrepräsentanz. Wobleibt es, Herr Dr. Naumann? Wo bleibt Ihr Konzept?Zwischen den Mittlern auswärtiger Medien- undKulturarbeit müssen jetzt unter Einbeziehung der „Deut-schen Welle“ intelligente Kooperations- und Synergieef-fekte gefunden werden. Wenn wir beispielsweise dieAmerikaner, die Engländer oder die Franzosen betrach-ten, so stellen wir fest, daß sie wesentlich weiter sind inihrer Strategie zum Einsatz elektronischer Medien beiihrer auswärtigen Kulturarbeit.
Meine Damen und Herren, das sollte uns zu denkengeben. Deswegen ist die Idee zu begrüßen, daß man die-ses Thema, das nicht nur kulturpolitisch und außenpoli-tisch, sondern auch wirtschaftspolitisch extrem wichtigist, als ein klassisches nationales Gemeinschaftsanliegenansieht, welches dann aber auch fraktionsübergreifend,vielleicht einst sogar auch im Wege einer Enquete ge-meinsam aufgegriffen werden muß. Es nützt gar nichts,dort einmal ein bißchen zu sparen, nach dem Motto:Haut drauf auf die „Deutsche Welle“, weil da der fal-sche Intendant sitzt. Vielmehr muß ein Gesamtkonzeptentwickelt werden.
– Das hat er nicht. – Dort mitzuarbeiten, bieten wir Ih-nen an.Als zweites Feld der Zusammenarbeit bieten wir Ih-nen die Stiftungsrechtsreform an.
Mit großer Freude haben wir in den letzten Tagen ver-nommen, daß Sie, Herr Dr. Naumann, noch im viertenQuartal dieses Jahres den F.D.P.-Vorschlag in die Tatumsetzen wollen, nämlich die Abzugsmöglichkeiten fürgemeinnützige Spenden auf 20 Prozent des Einkommenszu erhöhen. Gut gebrüllt, Löwe! Aber, lieber HerrDr. Naumann, kleinlaut haben Sie hinzufügen müssen,daß Sie hierzu noch die Zustimmung Ihres Finanzmini-sters benötigen. Lieber Herr Naumann, ich frage Sie:Warum haben Sie das nicht längst getan?
Herr Kollege,
so ungern ich Sie gerade an diesem Punkt unterbreche,
aber ich muß Ihnen sagen: Ihre Redezeit ist leider abge-
laufen.
Ich kom-me zum Ende.Meine Damen und Herren, wir bieten Ihnen hierFlankenschutz an. Frau Präsidentin, in Ihrer Eigenschaftals Abgeordnete: Wir alle wissen, daß das Stiftungsrechtein Feld ist, auf dem die Kulturpolitiker Schwierigkeitenmit den Finanzpolitikern haben. Das gilt für alle Partei-en; das war schon immer so.Herr Dr. Naumann, nehmen Sie uns beim Wort: DieKulturpolitiker sollten auf diesem Feld zusammenarbei-ten.
Hans-Joachim Otto
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Ich schließe mit den Worten: Die Kulturpolitik gene-rell ist ein Feld, das sich herzlich wenig für parteipoliti-sche Glaubenskriege eignet. Die Kulturpolitik ist einFeld, auf dem eine vernünftige Zusammenarbeit erzieltwerden muß. Das gibt es unter den Abgeordneten schonrelativ weit und in guter Form. Das will ich jetzt einmalausdrücklich sagen.
Im Ausschuß klappt das relativ gut, auch dank der FrauVorsitzenden und natürlich dem Herrn Tauss.Aber, lieber Herr Naumann, die Zusammenarbeit al-ler Abgeordneten mit Ihnen ist noch ein bißchen verbes-serungsfähig. Deswegen bieten wir Ihnen an: KommenSie herunter von Ihrer Wolke. Arbeiten Sie mit denPolitikern aller Fraktionen in diesem Hause zusammen,im Interesse der Kultur.
Dieses Angebot, diese Aufforderung möchte ichhiermit an Sie richten, Herr Dr. Naumann. Wir sind zueiner Zusammenarbeit bereit. Greifen Sie dieses Ange-bot auf.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt Herr Staatsminister Naumann.
D
Frau Präsidentin! Lieber Herr AbgeordneterOtto, es ist wunderbar, daß Sie uns die Zusammenarbeitanbieten. Ich bin geradezu glücklich darüber, daß dasF.D.P.-Modell – so hoffe ich – doch noch im viertenQuartal dieses Jahres Chancen hat.
Aber ich möchte auf eines hinweisen: Dieses Modellwird von dieser parlamentarischen Mehrheit – wenn derFinanzminister zustimmt; ich muß den Haushaltsvorbe-halt selbstverständlich akzeptieren – durchgebracht wer-den, wohingegen Ihr Modell während Ihrer Regierungs-zeit jahrein, jahraus an Finanzminister Waigel geschei-tert ist.
Mit anderen Worten: Man muß nicht nur die Kirche imDorf lassen, sondern sie auch der richtigen Konfessionübergeben. Und das ist unsere. – Das ist das eine.
Das andere ist Ihr Hinweis darauf, daß hier glamou-röse Kulturpolitik betrieben wird. Davon kann überhauptkeine Rede sein. Ich möchte die Gelegenheit wahrneh-men, darauf hinzuweisen, daß die Unterstützung derdeutschen Filmindustrie früher auch einmal – das istdann zum Teil verlorengegangen – das heftige Anliegender Liberalen war. Dies wird es weiterhin bleiben, undzwar aus gutem Grund: nicht etwa deshalb, um auf ir-gendwelchen Filmfestivals aufzutreten, zu denen Siegerne hingehen, sondern deshalb, um dafür zu sorgen,daß sich die freien Produzenten in Deutschland aus derUmklammerung eines auch von Ihnen gepflegten Sub-ventionsmechanismus befreien und sich auf dem Marktbewähren können. Das muß Ihnen doch gülden in denOhren klingen.Aber Sie sagen: „Wir wollen keine Parteipolitik ma-chen“, und benutzen diesen Vorwurf zur parteipoliti-schen Argumentation gegen unsere Kulturpolitik. Dar-über kann ich nur lachen. Das wird auch von denjenigen,für die Kulturpolitik gemacht wird, nicht akzeptiert wer-den.
Noch etwas: Die Regierung hat in der Tat versucht –sie wird es weiterhin tun –, eine strukturierte Kulturpoli-tik zu machen. Ich darf einmal aus der „FAZ“, aus demfrüheren Zentralorgan der Konservativen in diesem Lan-de, zumindest was den Wirtschaftsteil angeht – es han-delt sich also nicht um die Zeitschrift „Vorwärts“, derTitel dieses Organs müßte eher „Rückwärts“ lauten –, zi-tieren, in der in der letzten Woche in der Überschrift ei-nes Artikels über eine Tagung der Adenauer-Stiftung zulesen war – da stand ganz einfach –:
Danke, Toni: Die CDU erspart sich eine eigene Kultur-politik.Wir tun das nicht. Es gibt vielmehr in der Tat zumTeil schwerwiegende Akzentverschiebungen zum Vor-teil – auch zum wirtschaftlichen Vorteil – der neuenLänder. Auf Grund der Komplementärfinanzierung wirdin den nächsten vier Jahren eine Summe von einer hal-ben Milliarde DM für Investitionsprojekte im Kulturbe-reich der neuen Länder mobilisiert. Dies ist – mit Ver-laub – eine völlige Kehrtwendung von der Kulturpolitikin den neuen Ländern, die 1993 mit einem eisernenVorhang abgeschlossen worden war. Darauf ist unsereRegierung stolz. Das ist ihr Akzent.
– Angesichts dessen, daß Sie nach Akzenten suchen undnicht nach glamourösen Beispielen von angewandterKulturpolitik, muß ich Ihnen sagen: Die „DeutscheWelle“ hat auch unter Ihrer Koalition mit Kürzungenrechnen und leben müssen.
Die Kürzungen, die jetzt vorgenommen werden, sinddoch nicht von parteipolitischen oder ideologischenÜberlegungen diktiert. Das ist doch absurd.
Dort wird dem Auftrag des Gesetzes gemäß das Bildder Bundesrepublik im Ausland präsentiert und nicht dasHans-Joachim Otto
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parteipolitische Bild. Etwas anderes habe nicht ich be-hauptet, sondern Sie.
Angesichts dessen, daß immer behauptet wird, dies seienideologisch oder parteipolitisch motivierte Kürzungen,muß ich langsam vermuten, daß Sie wirklich glauben,daß in dieser öffentlich-rechtlichen Anstalt Parteipolitikgemacht wird. Das ist aber nach meiner Kenntnis nichtder Fall. Ich weiß gar nicht, was dieser Vorwurf eigent-lich soll.
Hier sind im übrigen von Unternehmensberaternlängst benannte Kürzungsmöglichkeiten vorhanden – soschwer deren Umsetzung auch ist. Sie werden aber vonder Bundesregierung nicht leichtfertig verlangt, sondernin Absprache mit den zuständigen Gremien. Das ist derVerwaltungsrat; das ist der Rundfunkrat, und das istselbstverständlich die Intendanz. Sie werden nicht er-warten können, daß die Regierung Vorschläge macht –wie das zum Beispiel im Augenblick der Intendant tut –,wie diese Rundfunkanstalt zu restrukturieren sei, welcheProgramme sie haben solle und was sie zu senden habe.Als ehemaliger Journalist bin ich sehr stolz auf Art. 5des Grundgesetzes. Die Freiheit der Journalisten, ihreArbeit zu verrichten, bleibt unangetastet. Die Intendanzhat die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß das kosteneffektivoder – in Richtung F.D.P. gesagt – unternehmerisch ver-nünftig und rational geleistet wird. Das ist alles.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
D
Von mir aus ja.
Herr Dr.
Naumann, können sie wirklich bestreiten, daß es nicht
nur im Kulturhaushalt, sondern auch im gesamten Bun-
deshaushalt keinen Etat gibt, in dem so radikal gestri-
chen wird wie bei der „Deutschen Welle“? Können Sie
bestreiten, daß Ihre Kürzungen im Bundeshaushalt mit
einigen martialischen Äußerungen von Ihnen und von
Politikern Ihres Koalitionspartners einhergehen, in de-
nen man über die „Deutsche Welle“, die im Ausland so-
lide und gute Arbeit macht, hergezogen ist, als ob das
eine Frittenbude wäre, die von lauter Leuten betrieben
wird, die keine Ahnung haben?
Dieses Einhergehen von Äußerungen negativster Art
– auch von Ihnen persönlich, Herr Dr. Naumann – über
die „Deutsche Welle“ mit Kürzungen in einem weit
überdurchschnittlichen Umfang ist das, was ich kritisiert
habe. Daher möchte ich Sie fragen: Können Sie es wirk-
lich bestreiten, daß Zusammenhänge zwischen Ihren
– ich streiche jetzt einmal das Wort „parteipolitisch“ –
strukturpolitischen Überlegungen und den Kürzungen
zur „Deutschen Welle“ in ihrem Haushaltsentwurf be-
stehen?
D
Herr Otto, wir beide haben doch gelernt– ich habe es jedenfalls sehr schnell lernen müssen –,den Zitaten in der Presse nicht immer zu trauen. Selbst-verständlich habe ich zu keiner Gelegenheit hier in Ber-lin gesagt, daß der Bund nun die kommunale Kultursze-ne unterstützen würde. Ich habe ganz im Gegenteil ge-sagt: Eine Szene, die am Staatstropf hängt – zumal dasOff-Theater, die Off-Szene –, wird automatisch erstickt.Das andere schreibt die „taz“, das sagt nicht MichaelNaumann. Sie werden dort auch kein wörtliches Zitatfinden; und wenn es doch in dieser Form in der „taz“steht: So habe ich das nie gesagt. Dasselbe trifft auch aufviele der kolportierten Aussagen über die „DeutscheWelle“ zu. Ich habe lange als fester freier Mitarbeiterbei der „Deutschen Welle“ gearbeitet und weiß, was sieleistet.Mit anderen Worten: Die Kürzungen, die die „Deut-sche Welle“ betreffen, sind genau die 7,4 Prozent, dieden gesamten Haushalt betreffen. Da dieser Etat in mei-nem Haushalt aber ein Drittel ausmacht, gab es für michüberhaupt keine andere Möglichkeit, als den Rotstiftdort aus genau dem Grund, der hier heute morgen – wieich finde, sehr überzeugend – dargelegt worden ist,ebenfalls anzusetzen.Der Auftrag der „Deutschen Welle“ lautet, über dieBundesrepublik im Ausland zu berichten. Dies machtkeinen Sinn, wenn man den Gegenstand der Berichter-stattung auf Grund desaströser Wirtschafts- und Finanz-politik der letzten 16 Jahre buchstäblich an die Wandfährt. Mit anderen Worten: Der Gegenstand, über denberichtet werden muß – das ist die Bundesrepublik –,muß erst einmal saniert werden. Das tun wir. Die „Deut-sche Welle“ als Berichterstatter muß dazu auch einenBeitrag leisten. Dies sozial gerecht und nicht mit einerPersonalpolitik, die öffentlich gemacht wird, ehe auchnur der Verwaltungsrat davon erfahren hat, durchzufüh-ren, das halte ich für eine ganz normale Forderung, dieman auch öffentlich äußern kann.
Lassen Sie mich die Gelegenheit wahrnehmen, HerrOtto, noch eine Sache zu betonen. Sie haben völligrecht: Kulturpolitik als Parteipolitik eignet sich nichtzum politischen Fußball und eignet sich nicht zu partei-politisch formierten Diskussionen. Tatsache ist aber –darauf bin ich schon stolz –, daß wir, sowohl was dieseStadt betrifft, als auch, was Bonn betrifft und was – ichwiederhole mich – die neuen Länder betrifft, deutlicheAkzentverschiebungen geleistet haben, die dafür sorgenwerden, daß nicht nur im Überbau, sondern buchstäblichan der Basis, nämlich in der Theatertechnik, in der Re-staurierung von Museen, Gärten und Schlössern – vonall dem phantastischen Kulturerbe, das wir gerade indieser Region zu verzeichnen haben –, Arbeitsplätze ge-schaffen werden, und zwar mit einem nicht unbeträchtli-Staatsminister Dr. Michael Naumann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4867
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chen Geldvolumen – das komplementär mit den neuenLändern investiert werden wird – in einer Gesamtsummevon einer halben Milliarde DM. Dies wird sich bemerk-bar machen. Hier geht es nicht um Staatskultur und nichtum Parteikultur, vielmehr wird dort kritische Kulturar-beit zum Wohl des ganzen Volkes und der ganzen Nati-on geleistet. In dem Zusammenhang bin ich Ihnen in derTat dankbar für das Angebot der zukünftigen Zusam-menarbeit.Danke schön.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich jetzt dem Abgeordneten Stef-
fen Kampeter das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Redebei-
trag des Staatsministers fordert natürlich zum Wider-
spruch heraus, weil er mit schöngefärbten Worten ver-
gessen machen will, wie sich – wir sind ja in einer
Haushaltsdebatte – die materiellen Aufwendungen für
die Kultur in den nächsten Jahren in seiner Verantwor-
tung entwickeln werden.
Er hat in den vergangenen Monaten den Satz geprägt,
Deutschland sei während der Regierung Kohl eine kul-
turpolitische Sahelzone geworden.
Ich will auf eines hinweisen: In der Regierungszeit der
christlich-liberalen Koalition wurden die Ausgaben für
die Kulturpolitik verdreifacht, während sich der Umfang
des Haushalts insgesamt nur verdoppelt hat.
Wenn wir jetzt in die mittelfristigen Planungen dieses
Kulturministers schauen, werden wir feststellen, daß der
Kulturetat in den nächsten vier Jahren kontinuierlich
sinkt. Das ist ein recht seltsamer Befund. Früher hatten
wir keinen Kulturstaatsminister, und der Kulturetat
stieg. Jetzt haben wir einen, und der Kulturetat sinkt.
Dies ist ein vernichtendes finanzielles Zeugnis für den
politischen Background, den dieser Staatsminister in der
Bundesregierung hat.
Tatsache ist, daß viele Ankündigungen, die dieser
Staatsminister macht, in den nächsten Jahren nicht
finanzierbar sind. Deswegen verwendet er zwei große
Steinbrüche. Herr Naumann, Sie haben den Vorwurf in
Richtung „Deutsche Welle“ noch nicht entkräften kön-
nen. Sie haben noch kein Konzept für die Einsparmaß-
nahmen der „Deutschen Welle“. Also haben Sie nur das
parteipolitische Begehren, diesen wesentlichen Träger
der Außendarstellung der Bundesrepublik Deutschland
durch Streichungen funktionsunfähig zu machen.
Sie haben auch kein Konzept bei den Kürzungen der
deutschen Vertriebenenkulturarbeit; denn das, was
Sie als Papier vorgelegt haben, ist weder diskutiert noch
mit den Betroffenen abgestimmt worden. Sie wollen
dort in den nächsten Jahren 85 Millionen DM einsparen,
obschon Sie wissen, daß diese Kulturarbeit weit über
den kulturpolitischen Bereich hin zu einem politischen
Faktor in der Zusammenarbeit mit Osteuropa geworden
ist.
Sie haben beispielsweise beim Stiftungsrecht die
Erwartung geweckt, daß in den nächsten Jahren 500
Millionen DM per anno als zusätzliche Leistung bei den
Betroffenen ankommen. Wir werden Sie auch an dieser
Ankündigung messen. Ich bin mir sicher, daß die Bot-
schaft, wenn wir uns bei der zweiten und dritten Lesung
dieses Haushalts oder bei der Lesung des nächsten Etats
hier treffen, lauten wird: Naumann hat viele Zeilen in
den Zeitungen, aber nicht die Mittel, um die Verspre-
chungen, die er dort macht, auch tatsächlich zu finanzie-
ren.
Herr Staatsmi-
nister, wollen Sie auf die Kurzintervention antworten?
D
Ja. – Herr Kampeter, meine Antwort auf Ih-re Vorwürfe ist relativ kurz. Ich glaube, jedes Mitgliedder Regierung wäre schlecht beraten, das Deutsche-Welle-Gesetz in Ihrem Sinne nicht nur verfassungswid-rig, sondern auch gegen die politische Kultur unseresLandes gezielt umzudefinieren. Eine Regierung, die einProgrammkonzept für die „Deutsche Welle“ vorsieht,verwandelt diese öffentlich-rechtliche Anstalt – nennenwir es beim Namen – in einen Propagandasender. Ichwill nicht verneinen, daß das möglicherweise in IhrerAbsicht liegt. Ich glaube das aber nicht. Da kennen wiruns inzwischen gut genug.
Ich hoffe es jedenfalls nicht. Von mir werden Sie keineVorschriften darüber bekommen, wie man diesen Senderinhaltlich fährt. Das ist die Aufgabe eines Intendanten,der sich Unternehmensleiter nennt.
Ich komme nun zum zweiten Punkt, zur sogenanntenVertriebenenkulturpolitik. Gern gebe ich Ihnen denBericht des Bundesrechnungshofs zu dem von Ihnen,übrigens auch in der „FAZ“, thematisierten Museum inRatingen-Hösel. Sprechen Sie einmal mit Herrn Kantherüber diesen Bericht. Sprechen Sie einmal mit IhremParteifreund Herrn Hupka über diesen Bericht. SprechenSie einmal mit den Statistikern dieses Museums, dasüber 30 Millionen DM gekostet hat und nur 2 000 Besu-cher per anno verzeichnet, von denen man vermutenkann, daß die Hälfte zweimal kommt.Ich will es anders ausdrücken: Hier vereinen sich, an-ders als bei der „Deutschen Welle“, in der Tat dieRechts- und Fachaufsicht. Man darf hier nicht mit demRasenmäher herangehen, wie Sie es gerade gesagt haben– woher Sie übrigens die Summe von 85 Millionen DMhaben, weiß ich nicht –, sondern man muß die Aufgabe,Staatsminister Dr. Michael Naumann
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4868 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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also die sogenannte Vertriebenenkulturförderung, dezi-diert und kritisch im Auge behalten, ohne dabei gleich-zeitig die Sinnhaftigkeit der Arbeit als solche in Fragezu stellen. Ein solches Vorgehen werden Sie mir alsHaushaltsberichterstatter zugestehen, nein, das werdenSie sogar mit Recht von mir verlangen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Michael Luther.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte aufdas Thema Aufbau Ost zurückkommen. Der AufbauOst soll nun höchste Priorität haben – so gestern Staats-minister Schwanitz. Schön wäre es. Leider – das habenmir die gestrige und die heutige Debatte gezeigt – hatdie SPD kein Feeling für die deutsche Einheit. Herr Poßhat gestern gesagt, die Union habe sich 1990 gegen dasZusammenwachsen von Ost und West versündigt, weilsie die wahren Ausmaße der Belastung verschleiert hät-te.
Natürlich hat der Aufbau Ost Geld gekostet. Natür-lich hat die deutsche Einheit Geld gekostet: 500 Milliar-den DM Altschulden, 600 Milliarden DM Hilfe für denAufbau Ost seit 1990. Die deutsche Einheit ist von Ih-nen genauso wie 1990 von Herrn Lafontaine immer le-diglich als ein fiskalisches Problem betrachtet worden.
Das zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamteDebatte: Herr Schröder wollte die deutsche Einheitnicht. Ohne die Union hätte es die deutsche Einheit nichtgegeben.
Für diese Bundesregierung ist die deutsche Einheit keineHerzensangelegenheit. Bei uns bestand nie die Notwen-digkeit, die deutsche Einheit und den Aufbau Ost zur„Chefsache“ machen zu wollen.
Uns war das immer ein Herzensanliegen. Wir sind froh,daß wir den Aufbau Ost in den letzten acht Jahren ge-stalten konnten.Meine Damen und Herren, es ist in den neuen Bun-desländern viel Geld ausgegeben worden. Ich glaubeaber, daß das Geld sehr gut angelegt worden ist. Ichdenke, die viel gescholtenen blühenden Landschaftensind überall zu sehen.
Das ist kein Verdienst der jetzigen Bundesregierung; daswill ich hier festhalten. Das ist ein Verdienst der Men-schen, die in den neuen Bundesländern leben, der Lan-desregierungen in den neuen Bundesländern und der al-ten Bundesregierung.
Gleichwohl muß der Aufbau Ost weitergehen. DieMenschen haben Ihnen am Wahlabend geglaubt, daßnun der Aufbau Ost Chefsache wird.
Im letzten Jahr – ich denke, darüber sind wir uns einig –haben Sie diesen Vertrauensvorschuß in den neuen Bun-desländern verspielt. Zumindest haben das die Wahlenin Brandenburg und Thüringen gezeigt. Ich denke, daswird sich auch in Sachsen und Berlin zeigen.
Der Aufbau Ost als Chefsache – ich kann es nur wieder-holen – wird in den neuen Bundesländern eher als Dro-hung verstanden.Meine Damen und Herren, ich verstehe es gut, wennin diesem Zusammenhang die Ost-Abgeordneten derSPD anfangen zu murren. Ich zitiere Herrn Schubert:Was uns im Osten fehlt, ist ein bißchen mehr Zu-wendung in der Politik.Recht hat er.Auch Herr Schwanitz hat enttäuscht. Ich zitiere die„Märkische Allgemeine Zeitung“ über Schwanitz:„Fleißig, umtriebig, blaß.“ Ob er fleißig oder umtriebigist, will ich nicht beurteilen. Daß er blaß ist, verspüren –so denke ich – alle.Deshalb werden die Spekulationen – das ist für michdas Interessante –, die jetzt wieder heruntergespielt wor-den sind, wer nun Herrn Schwanitz im Bundeskanzler-amt beerben soll, ob Frau Hildebrandt oder was weiß ichwelcher Wahlverlierer aus den neuen Bundesländern,wieder aufleben.
Meine Damen und Herren, das Zahlenspiel zum Auf-bau Ost, das Sie hier vorlegen, ist schwierig. Es ist fürdie Menschen in den neuen Bundesländern schwierig zuverstehen. Ich habe den Eindruck, Sie addieren dieZahlen immer so, wie es Ihnen gerade für Ihre Propa-ganda paßt. Lassen Sie mich Beispiele nennen: Am An-fang dieses Jahres ist Herr Schwanitz als Verkünder von100 Milliarden DM für den Aufbau Ost – 10 Milliar-den DM mehr als vorher unter Waigel – ins Feld gezo-gen.
Staatsminister Dr. Michael Naumann
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Jetzt sagt er: Wir müssen das ändern, weil durch diegroßen Zahlen lediglich Eindruck geschunden wird unddafür alles, was aus dem Bundeshaushalt direkt oder in-direkt in die neuen Bundesländer fließt, addiert wird.Das, was er uns hier in der Debatte vorwirft, hat er sel-ber aber im letzten Jahr getan. Jetzt wechselt er natürlichdie Paradigmen.
Ich denke, aus gutem Grund: weil es ihm ins Konzeptpaßt.Ihr Sparpaket hat ein Volumen von 30 Milliar-den DM. Im Ausschuß für die Angelegenheiten der neu-en Länder war nicht zu erfahren, was das für die neuenBundesländer bedeutet. Wenn man hier denselben Re-chengrundsatz verwendet, kommt man zu dem Ergebnis,daß die neuen Bundesländer zirka 26 Prozent – alsoüberdurchschnittlich viel; einen so hohen Bevölkerungs-anteil haben die neuen Bundesländer nicht – beitragenmüssen. Das will er vor den Wahlen in Sachsen und inBrandenburg nicht verkünden.Ich will Ihnen sagen, was die Kernaufgaben des Auf-baus Ost sind, worauf wir uns konzentrieren sollten. Eswerden 3 Milliarden DM eingespart. Laut Bundesmi-nister Eichel werden die Mittel für den Aufbau Ost „aufhohem Niveau verstetigt“.
Allein daß man sich einer solchen Wendung bedient,zeigt: „Verstetigt“ ist ein vornehmer Ausdruck für eineAbsenkung.
Für mich interessant sind die Beispiele, die als Belegdafür in der Haushaltsdebatte vorgetragen worden sind.Herr Eichel hat unter anderem folgendes gesagt: ImRahmen des Aufbaus Ost werden 14 Milliarden DM fürdie Sonderbundesergänzungszuweisungen und 7 Milli-arden DM für Investitionshilfen aufgewendet. Das istrichtig, aber beruht auf dem Solidarpakt. Das ist alsonicht eine Leistung von Eichel, sondern geht allein aufden Solidarpakt zurück, und dieser ist bis 2004 festge-schrieben.Ein weiteres Beispiel: 10 Milliarden DM mehr sollenfür das Wohnraummodernisierungsprogramm bereitge-stellt werden, wenn – das ist der Vorbehalt – sich dieneuen Länder mit 50 Prozent an der Finanzierung betei-ligen.
Begründung: damit die Mittel abgerufen werden, die tat-sächlich gebraucht werden.
Was zeigt mir das? Herr Eichel wirft den neuen Bun-desländern pauschal vor, daß bislang Mittel im Woh-nungsbau mißbräuchlich verwendet worden sind.
Dies wollte ich mit diesen Beispielen aufzeigen. Ichbitte darum, die Menschen, die sich für die Beseitigungder Folgen von 40 Jahren Sozialismus in der DDR ein-setzen, nicht pauschal mit dem Vorwurf zu verurteilen,sie würden im Wohnungsbau öffentliche Mittel miß-brauchen.
Außerdem zeigt mir dieses Beispiel, daß Herr Eichelkeine Ahnung hat, was in den neuen Bundesländern mitdem Geld gemacht wird. In Sachsen war es beispiels-weise so – die anderen Bundesländer haben das ähnlichgemacht –, daß die KfW-Mittel durch Mittel des Landesergänzt wurden. Diese beiden Programme zusammenhaben dazu geführt, daß Plattenbauwohnungen moderni-siert und diese hinterher zu erträglichen, wenn auch re-lativ hohen Preisen vermietet werden konnten. Jetztzwingen Sie die Länder dazu, auf ihre Ergänzungspro-gramme zu verzichten. Was bleibt, ist das KfW-Programm; mit dem Ergebnis, daß entweder wenigermodernisiert wird – die Folge sind weniger Bauaufträgeund damit weniger Arbeitsplätze – oder daß die Mietenstärker steigen.Es heißt, es werde nicht gekürzt. Dazu will ich anfüh-ren: Die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung derregionalen Wirtschaftsstruktur Ost belief sich 1998 auf2,8 Milliarden DM, umfaßt 1999 2,6 Milliarden DM undwird 2000 2,3 Milliarden DM betragen. Herr Eichelsagt, die Mittel sollten dort „angepaßt“ – für mich: abge-senkt – werden, wo fehlender Mittelabfluß zu verzeich-nen ist. Wenn man dies so beabsichtigt, dann sollte manauch Name und Hausnummer nennen – sprich: sagen,wer der Verursacher ist. Bitte weisen Sie dann daraufhin, daß die von der PDS geduldete SPD-Regierung inSachsen-Anhalt 1998 auf Grund katastrophaler Haus-haltsführung nicht in der Lage war, GA-Mittel in Höhevon 200 Millionen DM abzurufen.
Ich stelle fest: Die Mittel für die Kernaufgaben beimAufbau Ost gehen zurück. Das ist die Wahrheit.Vielleicht trägt zu den ganzen Beispielen noch einZitat von Herrn Schwanitz bei, der gestern im Zusam-menhang mit der sogenannten fünften Säule der Kern-aufgaben Ost gesagt hat:Für Leistungen für die Treuhand-Nachfolge-einrichtungen und für die Wismut sollen 180 Mil-lionen DM mehr zur Verfügung stehen.Wenn ich den Haushalt betrachte – ich komme ausder Wismut-Region –, lese ich folgendes heraus: Nachder mittelfristigen Finanzplanung waren 520 MillionenDM vorgesehen, im Haushalt 2000 sind 495 MillionenDr. Michael Luther
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4870 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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DM eingestellt. Das sind für mich 25 Millionen DMweniger. Wie weniger mehr sein kann, das habe ichnicht verstanden. Das verstehen Sie unter dem Grund-satz von Haushaltswahrheit und -klarheit: Sie versuchen,den Leuten etwas vorzuflunkern. Schämen Sie sich!
Herr Kollege,
die vereinbarte Redezeit ist überschritten. Ich bitte Sie,
nach vielleicht einem Satz zum Schluß zu kommen.
Es gibt noch vie-
les, was zu sagen wäre. Ich bin der Meinung, daß der
Aufbau Ost wichtige Signale braucht.
Herr Kollege,
Frau Kollegin Luft möchte eine Zwischenfrage stellen.
Das wäre zwar eher eine Nachfrage, aber Sie könnten
sie noch beantworten. – Ich sehe gerade, daß sich auch
der Kollege Büttner zu einer Frage meldet. Möchten Sie
beide Fragen der Reihe nach beantworten?
Ja, ich beantworte
beide Fragen.
Dann gebe ich
zunächst der Kollegin Luft das Wort.
Herr Kollege Luther, Sie
waren wie ich auch Mitglied der frei gewählten Volks-
kammer der DDR. Darf ich Sie fragen, ob Sie zu den
120 ehemaligen CDU-Abgeordneten gehören, die weni-
ge Monate nach der für die CDU verlorengegangenen
Bundestagswahl einen Brief an Ihren Fraktionschef
Schäuble geschrieben haben, in dem sie sich ziemlich
lautstark darüber beschwert haben, daß zu Zeiten der
alten Bundesregierung in den neuen Bundesländern
manches, was den Aufbau Ost betrifft, schiefgelaufen
ist? Ich bin der Meinung, daß neben einer Reihe von Er-
folgen viele Defizite produziert worden sind. Wenn Sie
jetzt aber so tun, als seien diese Defizite alle in den
letzten elf Monaten entstanden, dann muß ich Sie doch
fragen, ob Sie zu diesen 120 gehören und woher Sie die-
se Courage nehmen.
Frau Luft, es ist
schon interessant, daß Sie sich die Antwort, die Ihnen
Paul Krüger in der letzten Woche gegeben hat, nicht bis
heute merken konnten. Frau Grehn hat diesen Brief ge-
schrieben. Es gibt eine Vereinigung ehemaliger CDU/
DA-Mitglieder der Volkskammerfraktion: Wir haben in
unserem Haus die ehemalige Präsidentin Frau Berg-
mann-Pohl, den Parlamentarischen Geschäftsführer Paul
Krüger, Clemens Schwalbe; auch ich selbst bin wie viele
andere Kollegen dabeigewesen. Wir haben versucht,
nachzufragen, wer diese Gruppe der 120 ist. Wir haben
außer Frau Grehn selbst noch niemanden gefunden. Ich
gehöre nicht dazu. Das ist, denke ich, die Antwort auf
Ihre Frage.
Ich glaube, daß dieser Brief inhaltlich nicht richtig ist.
Leider habe ich ihn nicht vorliegen, sonst könnte ich das
an einzelnen Punkten zeigen. Ich denke, daß in den
letzten acht Jahren aus der Situation und aus der Dyna-
mik heraus, die es 1990 gab – damals gab es die einma-
lige Chance, die deutsche Einheit zu gestalten; ich erin-
nere mich sehr wohl an das, was vor zehn Jahren war;
das sollten wir in diesem Parlament alle ab und zu ein-
mal tun; ich denke an die Grenzöffnung in Ungarn, den
8. Oktober mit der Demonstration in Dresden, die Bil-
dung der Gruppe der 20, den 9. Oktober ohne blutiges
Eingreifen und 70 000 Demonstrierende oder die Mauer-
und Grenzöffnung –, richtig gehandelt worden ist. Im
nachhinein kann man natürlich sagen, daß man das eine
oder andere hätte anders machen sollen. Ich kenne aber
niemanden, der 1990 gesagt hat, wie man es hätte besser
machen können. Ich denke, daß die Art, in der wir – ins-
besondere die CDU – damals in den neuen Bundeslän-
dern Verantwortung, auch in kommunalpolitischen Fra-
gen, übernommen haben, eine große Leistung war. Ich
danke allen, die das gemacht haben.
Jetzt haben Sie
noch die Chance, die Frage des Kollegen Büttner zu be-
antworten.
Ich möchte Sie aber bitten, das als Ihr Schlußwort zu
betrachten.
Bitte, Herr Büttner.
Herr
Kollege Luther, wie bewerten Sie, daß der für den Auf-
bau Ost zuständige Staatsminister Schwanitz bei dieser
Debatte nicht anwesend ist?
Ich will die Fragegerne beantworten. Mich hat gewundert, daß HerrSchwanitz gestern in der Debatte zur allgemeinenFinanzverwaltung geredet hat und nicht heute bei derAussprache zum Haushalt des Bundeskanzlers, was jaim allgemeinen eine Generaldebatte ist.
Dr. Michael Luther
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4871
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– Ich habe doch gerade gesagt, das es mich gewunderthat, daß er gestern geredet hat. Das bestärkt mich abernur in meiner Aussage von vorhin, daß der Aufbau Ostfür die SPD ein rein fiskalisches Problem ist.
Alle anderen Fragen werden nicht angesprochen. Ichwill einmal ein Beispiel nennen: die Gesundheitsreform.Vorige Woche haben in der Nähe des Alexanderplatzes6 500 – –
Herr Kollege,
ich glaube, das geht jetzt über die Beantwortung dieser
Frage hinaus. Wir sind ein bißchen unter Zeitdruck.
Lassen Sie mich
noch zwei Sätze sagen.
Also noch
etwas Kurzes.
Es haben 6 500
Mitarbeiter von kassenzahnärztlichen Praxen demon-
striert. Sie haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Dazu hat
Herr Schwanitz nichts gesagt.
Gestatten Sie mir noch eine letzte Bemerkung. Der
Aufbau Ost muß weitergehen. Ich mache noch einmal
das Angebot, daß wir in dem zuständigen Ausschuß, al-
so im Ausschuß für die Angelegenheiten der neuen
Bundesländer, über die Fragen reden, was für den Auf-
bau Ost notwendig ist, was sein Ist-Stand ist und was
zukünftig getan werden muß. Wir sind zu diesem Ge-
spräch bereit.
Danke schön.
Das Wort hatjetzt die Frau Finanzsenatorin des Landes Berlin undBürgermeisterin, Annette Fugmann-Heesing.Dr. Annette Fugmann-Heesing, Senatorin
: Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Daß ich hier heute zu Ihnenspreche, hat nichts damit zu tun, daß ich von allenFinanzministerinnen und Finanzministern in der Bun-desrepublik die geringsten Reisekosten verursache.
Trotzdem freue ich mich als Berliner Bürgermeisterin,Sie hier zu sehen. Wir haben in dieser Stadt auf Sie ge-wartet.
Wir haben auch darauf gewartet, daß der Bund endlicheine nachhaltige Finanzpolitik betreibt.
Politisch sind wir in dieser Debatte in Berlin schon eini-ge Schritte vorangegangen. Das Stichwort Zweitwoh-nungsteuer, das eben in den Raum geworfen wurde, be-leuchtet einen Teil des gerechten Konsolidierungspake-tes, das wir hier umsetzten.Es geht um die Handlungsfähigkeit des Staates undum die Handlungsfähigkeit auf allen Ebenen. Viel zulange haben wir in der Bundesrepublik nicht wahrhabenwollen, welche Veränderungen wir politisch zu bewälti-gen haben. Globalisierung, veränderte Altersstrukturenund deutsche Einheit sind nur einige Stichworte, die denHandlungsdruck skizzieren. Vielleicht – nein, sicher –war er hier in Berlin größer als anderswo.Was ich in der Debatte heute morgen gehört habe,erinnert mich sehr stark an die Diskussionen, die wir be-reits seit 1996 in Berlin führen. Ich kann Ihnen aus mei-ner Erfahrung berichten, daß natürlich die Kritik imDetail immer groß ist, die Bürgerinnen und Bürger indiesem Staat aber durchaus bereit sind, die Notwendig-keit der Konsolidierung der Staatsausgaben zu verstehenund zu akzeptieren.
Voraussetzung ist allerdings nicht nur eine klareSprache, sondern ebenso ein überzeugendes Konzept,wofür eine nachhaltige Finanzpolitik gut ist.
Konsolidierung um der haushaltspolitischen Rechnungwillen ist kein ausreichender Grund. Konsolidierung zurZukunftssicherung und als Voraussetzung für eine ge-rechte Lastenverteilung zwischen den Generationen istein überzeugender Grund.
Wir müssen aufzeigen, wie die Schuldenfalle denSpielraum der Politik einschränkt und damit Ungerech-tigkeiten erzeugt. Wir müssen aufzeigen, daß Lasten ge-recht verteilt werden. Wir müssen aber auch aufzeigen,daß wir Politik nicht mit der Politik mit dem Rasenmä-her oder mit der Gießkanne verwechseln, sondern daßwir klare Schwerpunkte setzen.Die Entlastung von Familien und auch die Entlastungvon Unternehmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen,mehr Mittel für die Hochschulen sind Schwerpunkte, aufdie wir uns verständigen können. Beides, die Schwer-punktsetzung durch die Bundesregierung und der Kon-solidierungskurs, findet sicher die grundsätzliche Zu-stimmung des Bundesrates.
In Berlin haben wir 1996 die finanzpolitische Wendeherbeigeführt, weil sich die Aufschwungerwartung, dieDr. Michael Luther
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Kohl mit seiner Aussage von den blühenden Land-schaften geweckt hatte, als nicht haltbar erwies.
Die hohe Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik, auchin Berlin, die wegbrechenden Steuereinnahmen – ichkann mich noch an meine Zeit als Finanzministerin inHessen erinnern; zu dieser Zeit fing es schon an, daß wirvor jeder neuen Steuerschätzung gezittert haben, weiljedesmal die Steuereinnahmen nach unten korrigiertwerden mußten –, die notwendigen und von uns allengewollten Finanztransfers von West nach Ost und dieBelastung der Bürgerinnen und Bürger haben schon vorJahren eine andere Finanzpolitik erfordert.Ich bin erstaunt, daß Herr Schäuble heute in seinerRede den Eindruck erwecken wollte, der Anstieg derSchuldenlast in den 16 Jahren der Regierung Kohl – dieSchuldenlast hat seit 1982 um das Fünffache zugenom-men – sei volkswirtschaftlich zu rechtfertigen, weil auchdas Bruttoinlandsprodukt in dieser Zeit gestiegen sei.Erzählt Herr Schäuble eigentlich seinen Kindern bei je-der Einkommenserhöhung, die er erhält, nun könnten sieauch ein paar mehr Schulden von ihm erben?
Die Last der Kinder wird ja nicht dadurch geringer, daßheute das Einkommen steigt.
Wir, die Länderfinanzminister, wußten seit 1992 –das haben wir Herrn Waigel, der jetzt leider nicht mehrda ist, immer wieder gesagt –, daß diese Rechnung nichtstimmt. Wie oft haben wir ihn aufgefordert, die Faktenoffen auf den Tisch zu legen! Sie können das in meinerRede aus dem Jahr 1992, als es ebenfalls um die Haus-haltsdebatte zu diesem Thema ging, nachlesen. Schondamals haben wir dies deutlich artikuliert.
Natürlich hatte ich auf Grund meiner Erfahrung inBerlin gehofft, daß der fällige Kassensturz, die volleKlarheit und Wahrheit sowie das Handlungskonzeptunmittelbar nach dem Regierungswechsel auf die Ta-gesordnung kommen würden. Aber was wir jetzt aufdem Tisch haben, ist endlich eine gute Grundlage für ei-nen tatsächlichen Politikwechsel in der Bundesrepublik.Denn wir können nicht länger verantworten, auf Kostenkünftiger Generationen zu wirtschaften. Das ist eineFrage der Gerechtigkeit.
Wir können nicht die Konsequenz ziehen, den Ausgleichzwischen Ost und West zu beenden. Auch das ist eineFrage der Gerechtigkeit. Wir können auch nicht zulas-sen, daß die Belastungen wie früher einseitig den Bezie-hern kleiner Einkommen zugemutet werden. Auch dasist eine Frage der Gerechtigkeit.
Das Zukunftsprogramm der Bundesregierung gehthier neue Wege. Die finanzpolitische Wende ist not-wendig – und sie ist ohne Alternative. Auf den Prüfstandmüssen alle staatlichen Leistungen, und zwar auf allenEbenen, und auch die Institutionen des Sozialstaats.Deshalb werden die Länder und Gemeinden sich dieserAnstrengungen nicht entziehen können.Aber unser Ziel ist nicht der Abbau, unsere Ziele sinddie Stärkung der Handlungsfähigkeit des Staates und dieStärkung der sozialen Sicherungssysteme.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Oppositi-on, hier gegen das 630-Mark-Gesetz, gegen die Öko-steuerreform und gegen die Rentenreform wettern, dannstellen Sie damit genau diese sozialen Sicherungssyste-me in Frage. Und das ist unverantwortlich gegenüberdenen in unserer Gesellschaft, die darauf angewiesensind.
Darf ich Sie daran erinnern, daß es der Parlamentari-sche Staatssekretär Ihrer Regierung war, Horst Günther,der am 1. Oktober 1997 im Bundestag die Ungleichbe-handlung der 630-Mark-Jobs im Vergleich zu bezahltenÜberstunden kritisiert hat!
Er hat damals zu Recht deutlich gemacht, daß die Aus-weitung der 630-Mark-Jobs eine Kampfansage an denSozialstaat ist.
Lesen Sie das doch einmal in den alten Protokollennach!
Und jetzt reden Sie von der Vernichtung von Arbeits-plätzen. Haben Sie in der Opposition eigentlich Ihre da-maligen Erkenntnisse vergessen?Meine Damen und Herren, verschiedentlich ist in derheutigen Debatte ein Zusammenhang zwischen dem Zu-kunftsprogramm und den Wahlergebnissen der letztenWochen hergestellt worden. Es ist ja keine neue Erfah-rung, daß Bundespolitik ihren Widerhall in Ländern undGemeinden erfährt.
Frau Bürger-meisterin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-gen Hinsken?
Senatorin Dr. Annette Fugmann-Heesing
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4873
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Meine Damen und Herren von der Union, wie habenSie früher Kanzler Kohl gegrollt. Heute, wo er nichtmehr Kanzler ist, stellen Sie ihn auf einen hohen Sockel;
damals haben Sie ihm sogar öffentlich vorgeworfen, imKanzleramt Ihre Partei kaputtgemacht zu haben.
War nicht auch der Bremer Putschversuch kurz vor demMauerfall ein Ausläufer von Erdbeben in den Ländern?Mir ist der Name Späth noch in guter Erinnerung.
Machen Sie nicht den Fehler, aus den „windfall profits“bundespolitischer Wetterlagen falsche Schlüsse über dieStabilität von Bundesregierung und über die Richtigkeiteines politischen Kurses zu ziehen.
Wir haben das auch manchmal getan, und das warfalsch. Solche Erfahrungen geben wir gern an Sie wei-ter. Selbst aus einer gewonnenen Landtagswahl kannnicht geschlossen werden, daß auch die nächste gewon-nen wird. Wenn es einen Zusammenhang zwischen demZukunftsprogramm 2000 und der heutigen Stimmungs-lage in Deutschland gibt, dann ist es der, daß das Pro-gramm ein halbes Jahr zu spät kommt.
Ich bin vor dem Hintergrund der Berliner Erfahrun-gen sicher, daß die Bürgerinnen und Bürger Zeit brau-chen, einen Kassensturz zu verdauen. Es braucht Zeit fürdie Einsicht, daß die alten Wachstumsmodelle nichtmehr aufgehen, daß Politik zur Kunst des Möglichen mitknappen Mitteln geworden ist. Es muß eine neue Ebenedes Diskurses gefunden werden; aber ich rate Ihnen vonder Union, die Wirksamkeit des Konzeptes „NachhaltigeFinanzpolitik“, das nun mit dem Namen Hans Eichelverbunden ist, nicht zu unterschätzen.
Das Konzept hat die Wirklichkeit auf seiner Seite.Die Versuchung ist groß, erst recht für die Oppositi-on, die Wirklichkeit nicht wahrhaben zu wollen. In Ber-lin ist davon sogar manchmal die größere Regierungspar-tei befallen. Wenn einige hiesige Landespolitiker sich dennächsten Konsolidierungsschritt nicht mehr vorstellenkönnen, rufen sie nach Bundesmitteln. Diesen Ruf werdenSie noch vernehmen. Glaubwürdig ist aber nur eine Poli-tik, die die Realitäten wahrnimmt. Ich bin überzeugt:Auch im Wahlkampf hat die Realität eine Chance.
Wir in Berlin haben noch vier Wochen Zeit, sie zu nut-zen. Schließlich haben wir auch früher angefangen,nachhaltige Finanzpolitik zu erklären.
So bin ich sicher, daß gerade die Rentnerinnen undRentner erkennen, daß es auch eine Verantwortung fürihre Kinder und Enkel gibt – für die Enkel, für die wireine Sicherung im Alter erhalten wollen, und für dieKinder, deren Beiträge unter 20 Prozent gesenkt werden.Meine Damen und Herren, alle Bundesländer verspü-ren den Finanzdruck auf ihre Haushalte. Konsolidierenauf allen Ebenen, das kann nicht bedeuten, Belastungenzu verschieben. Jetzt erwarte ich eigentlich Applaus vonseiten Bayerns und der sparsamen Schwaben.
Auch Sie haben das doch immer so laut gesagt. Ich haltees für einen Skandal, daß die reicheren Bundesländerden Druck auf die schwächeren weiterleiten wollen.
Das Argument, es bestehe für Nehmerländer im Finanz-ausgleich kein Anreiz zur Eigenleistung, haben alle undganz besonders Berlin längst widerlegt.
Es ist unsolidarisch und verstößt gegen den Geist desGrundgesetzes, wenn Bayern in dem Moment den Fi-nanzausgleich aufkündigt, in dem es vom Nehmerlandzum Geberland geworden ist.
Herr Luther, wenn Sie über den Aufbau Ost und dieFinanzierung sprechen, dann wundere ich mich darüber,daß es in den Reihen von CDU, CSU und F.D.P. keineklareren Stimmen gegen die Geberländer gibt, die dasFKP, das wir gemeinsam miteinander verabredet haben,
noch nicht einmal zwei Jahre nach seinem Inkrafttretenvor dem Bundesverfassungsgericht aufkündigen wollen.
Ich wünsche mir, daß Herr Schäuble und Herr Gerhardtin ihren Parteien für eine verläßliche Politik werben,damit die Vereinbarungen Bestand haben.
Statt dessen werden wir uns in der nächsten Woche vordem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sehen. Dortwird über die föderale Qualität der BundesrepublikDeutschland entschieden.
Senatorin Dr. Annette Fugmann-Heesing
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4874 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Dort steht auch die Glaubwürdigkeit deutscher Politikauf dem Prüfstand.Auch die Bundesländer müssen ihre Haushalte kon-solidieren. Der Druck auf die Länderhaushalte wirdnoch dadurch verstärkt, daß seit einigen Legislaturperi-oden Lasten auf die Länder abgeschoben worden sind.Herr Bundeskanzler – er ist jetzt nicht mehr da – undHerr Bundesfinanzminister, wenn wir uns bei früherenGelegenheiten getroffen haben, waren wir uns darin ei-nig, daß mehr Aufgaben für die Länder einerseits undweniger Mittel für die Länder und Gemeinden anderer-seits typische Waigelsche Politik sind. Wie gut ist es,daß der Bund jetzt auf die Erfahrungen von ehemaligenMinisterpräsidenten zurückgreifen kann.
Auf Grund unserer gemeinsamen Erfahrung wird si-cherlich auch die Bundesregierung der Feststellung derMehrheit der Bundesländer zustimmen, daß die Konso-lidierung des öffentlichen Gesamthaushalts nur gelingenkann, wenn alle Ebenen sparen und wenn Konsolidie-rungsbeiträge nicht zu Lasten anderer Ebenen erbrachtwerden.
Der Entwurf des Haushaltsanierungsgesetzes enthältMaßnahmen, durch die die Finanzierungslasten desBundes auf die Länder verlagert werden. Das geschiehtbeim pauschalierten Wohngeld und bei der Verringe-rung des Finanzierungsanteils des Bundes am Unter-haltsvorschuß. Durch den Wegfall der originären Ar-beitslosenhilfe wird die kommunale Ebene zusätzlichbelastet. Dafür erhalten Länder und Gemeinden nochkeine ausreichende Kompensation. Deshalb unterstütztder Finanzausschuß des Bundesrates den Sparkurs derBundesregierung. Aber er hat auch seine Erwartungausgedrückt, daß die Bundesregierung – wie im Regie-rungsprogramm angekündigt – dem Konnexitätsprinzipstärkere Beachtung schenkt und daß sie bei Aufgaben-und Lastenverlagerungen für einen entsprechenden Aus-gleich sorgt. Am besten passierte das bereits im Gesetz-gebungsverfahren in diesem Hohen Hause.Es ist ein Bündel von Maßnahmen denkbar. EinigeBundesländer, besonders die neuen, haben unter ande-rem darauf hingewiesen, daß durch den neuen Zuschnittvon Förderprogrammen Entlastungen möglich sind.Verschiedentlich ist schon thematisiert worden, ob dieVeränderung des pauschalierten Wohngelds auch sach-lich sinnvoll und richtig sei.Unter der Regierung Kohl haben die Länder der Aus-sage des damaligen Bundesfinanzministers nicht getraut,daß die Umstellung der Zahlungen beim Kindergelddurch die Neuregelung der Umsatzsteuerverteilung vollausgeglichen werde. Deshalb haben wir damals eine ver-fassungsrechtliche Festschreibung der Belastungsver-teilung durchgesetzt. Wie recht wir damit hatten! Nichtnur Bayern hat darauf hingewiesen, daß sich sowohl derUmfang des Familienleistungsausgleichs als auch daszur Bemessung des Ausgleichs maßgebliche Umsatz-steueraufkommen anders als geschätzt entwickelt haben.Deshalb hat Bayern in seinem Antrag gefordert, daß einAusgleich für die Ausfälle bei den Ländern seit 1996gewährleistet werden soll. Bayern hat mit diesem Antragdeutlich gemacht, daß zur Zeit der alten Bundesregie-rung die Belastungen auf die Länder verteilt wordensind.Ich meine, Bund und Länder sollten jetzt kooperativdas festzurren, was unter Waigel zu regeln versäumtworden ist. Nur eines darf auch aus Ländersicht nichtgeschehen: Ihre Forderungen dürfen weder das Konsoli-dierungsziel, nämlich die Reduzierung der Neuverschul-dung auf unter 50 Milliarden DM, noch den Familienlei-stungsausgleich gefährden.Der Regierung Kohl/Waigel hat das Bundesverfas-sungsgericht ein beschämendes Urteil hinterherge-schickt. Die Regierung Kohl, die die Familie predigte,hat das Verfassungsrecht der Familie gebrochen. Jetztmüssen wir alle gemeinsam den Schaden beheben. Par-teitaktische Blockaden wären das letzte, was wir uns indieser Sache leisten können.
Ich bin dankbar, daß der Regierende Bürgermeistervon Berlin vorgestern auf einer Wahlveranstaltung mitdem ehemaligen Bundeskanzler erklärt hat, Berlin haltean seiner Tradition fest, Bundespolitik nicht aus partei-taktischen Gründen zu blockieren.
Ähnliche Äußerungen hat man auch schon in Thürin-gen und in Sachsen gehört.
Wir stehen in der Bundesrepublik in der Tat vor einerbisher nicht wahrgenommenen Herausforderung, dersich weder Bund noch Länder, noch Gemeinden verwei-gern können. Tun sie das, sind die Problemlösungsfä-higkeit der Bundesrepublik und damit der Föderalismusverspielt. Ohne den Willen zur Ernsthaftigkeit und zurKooperation wird die beste Verfassung zur Makulatur.
WeitereWortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundes-kanzleramts liegen nicht vor.Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord-nung um die Beratung eines Antrags der Fraktionen vonSPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P.zur Lage in Osttimor, Drucksache 14/1603, zu erwei-tern. Der Antrag soll gleich zusammen mit dem Ge-schäftsbereich des Auswärtigen Amtes beraten werden –Widerspruch dagegen gibt es nicht. Dann ist es auch sobeschlossen. Wir werden über diesen Antrag im An-schluß an die Aussprache abstimmen.Senatorin Dr. Annette Fugmann-Heesing
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4875
(C)
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Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Aus-wärtigen Amtes. Gleichzeitig rufe ich auf:Antragder Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN und F.D.PLage in Osttimor– Drucksache 14/1603 –Das Wort hat Herr Außenminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nur weni-ge Wochen nach dem Ende des Kosovo-Krieges sindwir wieder Zeuge einer blutigen humanitären Katastro-phe, diesmal in Osttimor, die von einer verantwor-tungslosen und mörderischen Politik verursacht wordenist. Nach Schätzungen sind dort 7 000 Menschen ermor-det worden, mehrere hunderttausend Menschen, dasheißt mehr als die Hälfte der Bevölkerung, sind auf derFlucht, vertrieben oder obdachlos.Dies geschah, nachdem eine Vereinbarung zwischenden Regierungen Indonesiens und Portugals mit demVN-Generalsekretär eine Volksabstimmung über dieZukunft Osttimors ermöglicht hat. Diese Abstimmungfand unter der Aufsicht der Vereinten Nationen statt. Siewar fair. Sie entsprach internationalen Standards. Siewar unabhängig und unbeeinflußt. Diese Abstimmungführte zu einem beeindruckenden Ergebnis: 78,5 Prozentder Bevölkerung haben sich für die Unabhängigkeit aus-gesprochen.Danach folgte eine beispiellose Welle des Terrors,ausgelöst von sogenannten Milizen. Es handelt sich umMilizen, die als Kreaturen von Teilen des indonesischenMilitärs in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten alsInstrumente eines schmutzigen Bürgerkriegs zur Unter-drückung der Unabhängigkeitsbestrebungen der Mehr-heit des osttimoresischen Volkes eingesetzt wurden.Wir verurteilen mit allem Nachdruck diese barbari-sche Gewalt. Wir haben von Anfang an darauf gedrun-gen, daß als Bestandteil des Drei-Parteien-Vertrags vonNew York nicht nur das Ergebnis der Volksabstimmungumzusetzen ist, sondern daß auch die indonesische Re-gierung in der Pflicht ist, die Sicherheit und die Unver-sehrtheit aller Menschen in Osttimor zu garantieren.
Die Bundesregierung begrüßt den vorliegenden Re-solutionsentwurf. Wir sind uns in diesen Positionen völ-lig einig. Das Bemühen der Bundesregierung war es,jeglichen möglichen Druck auf die gewählte indonesi-sche Regierung auszuüben. Ich möchte gleichzeitig dieSchwierigkeit darstellen, in der wir uns im Unterschiedzu der Situation im Kosovo befunden haben.Seit vierzehn Monaten gibt es in Indonesien nach ei-ner über dreißigjährigen Diktatur einen sehr schwierigenDemokratisierungsprozeß. Die Diktatur kam in den60er Jahren durch ein den Tod mehrerer hunderttausendMenschen forderndes Massaker an die Macht. DiesesMassaker traf vor allen Dingen die chinesische Minder-heit; die Gefahr eines kommunistischen Putsches warnur ein Vorwand. Am Ende der Suharto-Diktatur war eswieder die chinesische Minderheit, die im wahrsten Sin-ne des Wortes massakriert wurde. Nun müssen wir andem Prozeß der Demokratisierung ein nachdrücklichesInteresse haben.Bei unserer Politik gegenüber der indonesischen Re-gierung war zu beachten, daß Indonesien nicht nur diegrößte Militärmacht in der Region ist, sondern daß imFalle einer Militärdiktatur das Land in einen Bürgerkriegzu geraten droht und angesichts auch anderer Minder-heitenprobleme auseinanderbrechen könnte. Dann wür-den Gewaltpotentiale freigesetzt, die bei weitem überdas hinausgingen, was wir jetzt so schrecklich in Ostti-mor erlebt haben.Insofern war und ist unser Bestreben – Gott sei Dankwar es erfolgreich –, Geschlossenheit im VN-Sicherheitsrat zu erreichen. Man mußte dabei auchverhindern, daß Australien und Neuseeland als Länder,die in ihren Traditionen und in der Mehrheit ihrer Be-völkerungen eher europäisch orientiert sind, in einenWiderspruch zu den direkten asiatischen Nachbarn ge-raten und es zu einer Konfrontation – gewissermaßeneiner postkolonialen Konfrontation – kommt. Fernermußte vor allen Dingen die Volksrepublik China imBoot gehalten werden. Insofern kam der Geschlossen-heit im VN-Sicherheitsrat eine überragende Bedeutungzu.Der VN-Sicherheitsrat hat jetzt eine Kapitel-VII-Resolution, nämlich die Resolution 1264, beschlossen.Wir unterstützen die Resolution mit allem Nachdruckund gehen davon aus, daß es jetzt unverzüglich zur Im-plementierung einer Friedenstruppe kommt.
Die Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit,Schutz und Unterstützung von UNAMET und die Er-möglichung von humanitären Hilfsmaßnahmen sind da-bei die Hauptaufgabe, des weiteren natürlich die Umset-zung der Unabhängigkeit Osttimors, wie es vertraglichvereinbart wurde.Meine Damen und Herren, Deutschland darf hiernicht zurückstehen. Trotz der Sparerfordernisse müssenwir politisch einen sichtbaren Beitrag leisten. Dies istein Gebot der Solidarität, aber auch ein Gebot, das sichaus den Interessen unseres Landes in der internationalenPolitik und vor allen Dingen in der VN-Politik ergibt.Wir dürfen uns diesbezüglich nicht auf Europa be-schränken lassen.
Wir wollen dazu beitragen, die humanitäre Versor-gung der vertriebenen und notleidenden Bevölkerung zugarantieren. Wir haben unmittelbar 1 Million DM fürhumanitäre Hilfe bereitgestellt und sind bereit, dieseSumme aufzustocken, sobald es notwendig wird. WirVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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wollen unverzüglich mit bis zu 1 000 Tonnen Reis einesubstantielle Nahrungsmittelhilfe leisten sowie Maß-nahmen zur Trinkwasserversorgung und zur medizini-schen Versorgung ergreifen.Die Bundesregierung plant auch die Entsendung einesSanitätskontingents. Wir werden darüber mit denFraktionen zu sprechen haben; denn dies setzt konstitu-tiv die Zustimmung des Bundestages voraus. Wir stehenmit den NGOs in enger Abstimmung, um die Problemeihres Einsatzes – dieses Instrument erweist sich in Kri-sensituationen und vor allen Dingen in der unmittelbarenNachkrisensituation als immer wichtiger – unter demGesichtspunkt der Sicherheitslage sowie ihre Unterstüt-zung zu besprechen. Ebenfalls werden wir uns substan-tiell am Wiederaufbau und der Wiederherstellung einerfunktionierenden Infrastruktur beteiligen.Bei der Friedenstruppe im engeren Sinne sind wirallerdings der Meinung, daß diese im wesentlichen einenregionalen Ansatz verfolgen sollte. Wir dürfen die Pro-bleme, die sich aus der Entfernung ergeben, nicht unter-schätzen. Was den Einsatz einer solchen regionalenFriedenstruppe angeht, werden wir die Vereinten Natio-nen im Rahmen unserer Möglichkeiten aber mit allen zuGebote stehenden Mitteln unterstützen.
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, daß derpolitische Druck erfolgreich war. Diesen Druck müssenwir aufrechterhalten. Die Europäische Union hat für dieDauer von vier Monaten ein Waffenembargo beschlos-sen. Die Bundesregierung hat sich hier mehr vorgestellt;das sage ich ganz offen. Allerdings sind wir in dieserFrage an das Konsensprinzip gebunden, und der Kon-sens hat auf Grund der Positionen anderer Mitgliedstaa-ten eben nur bis zu diesem Punkt gereicht. Gleichwohldürfen wir nicht vergessen, daß wir es in Indonesien miteinem sehr schwierigen Demokratisierungsprozeß zu tunhaben. Wir haben ein Interesse daran, daß er erfolgreichweitergeht.
Das ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt. Die Paralle-lität beider Prozesse ist wichtig: Druck aufrechtzuerhal-ten, gleichzeitig aber zu sehen, daß die Regierung Habi-bie in die richtige Richtung geht, daß sie unter anderemmit der Zustimmung von New York die Voraussetzun-gen dafür geschaffen hat, daß wir jetzt unmittelbar einEnde der Gewalt zu erwarten haben, wenn die Friedens-truppe implementiert wird. Wir wollen also die Zusam-menarbeit mit Indonesien verstärken, allerdings nur aufder Grundlage substantieller Fortschritte bei der Demo-kratisierung. Das dürfen wir nicht vergessen.Voraussetzung ist jedoch auch: Wir dürfen nichtzweierlei Maßstäbe anlegen. Deswegen werden die Ver-einten Nationen aufgerufen, die Schuldigen an den Mas-sakern zur persönlichen Rechenschaft zu ziehen. Ichdenke, die Vereinten Nationen müssen hier auf ähnlicheArt und Weise vorgehen, wie es auch im Kosovo derFall war.
Die außenpolitische Debatte in diesem Jahr steht na-türlich unter dem Gesichtspunkt der Sparzwänge. Ohnejeden Zweifel schränkt das die Möglichkeiten ein. Ichbekenne hier ganz offen, daß auch ich mich in einemWiderspruch befinde. Als Mitglied der Bundesregierungstehe ich voll hinter den Sparnotwendigkeiten, denn ichhalte überhaupt nichts davon, nach der Devise zu agie-ren: Wir können uns weitere Hochverschuldung leisten.Das können wir nicht, weil wir dann die Spielräumeverlieren; das ist heute ausführlich dargestellt worden.Wir erleben jetzt, was Verlust des Handlungsspiel-raums heißt. Wenn ich heute höre, wir würden gar nichtsparen, kann ich nur sagen: Gehen Sie doch einmal dieReihe der Ressortminister durch. Gehen Sie in die Häu-ser und fragen Sie die Mitarbeiter dort. Sollten wir nichtsparen, befinden sich unsere beamteten Mitarbeiter undalle anderen offensichtlich im Zustand eines schlimmenNervenfiebers.
Außerdem werden Sie mir gleich vorhalten, wo Sieüberall Kürzungen aufhalten wollen. Sie werden mir sa-gen: Wir möchten nicht, daß diese Generalkonsulate undjene Goethe-Institute geschlossen oder bestimmte Pro-grammittel gekürzt werden. Ich stimme Ihnen schonjetzt bei jedem einzelnen Punkt zu. Ich fordere Sie auf:Wenn Sie mehr Geld zur Verfügung haben – Sie sindschließlich der Haushaltsgesetzgeber –, werden sich derzuständige Minister, das zuständige Ministerium sowiedie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr darüber freu-en. Aber das ist genau der Spielraumverlust, den Sie zuverantworten haben.
Die deutsche Außenpolitik, Herr Hirche, würde ei-gentlich verdienen, daß wir mehr Mittel in den ent-sprechenden Etat einstellen, weil gewünscht wird, daßwir uns stärker engagieren, auch auf Grund der positivenErfahrungen, die unsere Nachbarn, aber ebenso ent-ferntere Partner in der Welt mit dem vereinten Deutsch-land im Zusammenhang mit der Kosovo-Krise gemachthaben.
Herr Außen-
minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Irmer?
Ja, gerne, immer.Bundesminister Joseph Fischer
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Herr Minister, niemand be-
streitet, daß auch im Bereich des Auswärtigen Amtes
gespart werden muß. Die Frage, die sich stellt, ist nur,
ob es nicht Alternativen zu den bisher vorgelegten Vor-
schlägen gibt, etwa in dem Sinne, daß man die Großbot-
schaften in EU-Staaten personell ausdünnt, zum Beispiel
in den Wirtschaftsabteilungen, da diese heute bei wei-
tem nicht mehr die Bedeutung haben, die sie früher hat-
ten, als es die Europäische Union noch nicht gab, statt in
Afrika serienweise Botschaften zu schließen und damit
die deutsche Präsenz auf dem afrikanischen Kontinent
praktisch auszuschalten.
Sie sind viel zu gut informiert, als daß Sie diese Be-hauptung, daß wir in Afrika serienweise Botschaftenschließen und damit die deutsche Präsenz in Afrika aus-schalten würden, ernst meinen könnten.
– Das ist leicht übertrieben; Sie sind ehrlich. Der Ange-klagte ist geständig; das ist gut so.
Ich schätze Ihre Fachkompetenz zu sehr, als daß ich dasernst nehmen würde; das wissen Sie.Unser Bemühen war im Gegenteil, daß wir geradenicht überwiegend in der dritten Welt Botschaftenschließen. Deswegen muß ich an bestimmten StellenSchließungen von Generalkonsulaten vornehmen, obdas Temesvar ist, ob das Generalkonsulate mit einerlangen Tradition sind, wie in Genua, oder ob es zumBeispiel Apenrade mit der deutschen Minderheit in Dä-nemark oder ob es Stettin ist, wo dann wiederum dasWirtschaftsargument von der Landesregierung Meck-lenburg-Vorpommern kommt.Ich teile alle diese Argumente. Eigentlich möchte ichgar keine Schließungen vornehmen. Aber wir sind, wiegesagt, in einer Situation des politischen Gestaltungs-verlusts, der an dieser Stelle konkret wird. Da brauchtman nicht mehr abstrakt zu diskutieren. Wir müßten ei-gentlich – ich sage das bewußt – auch in der Auswärti-gen Kulturpolitik mehr investieren, weil ich der Mei-nung bin, daß das gute Investitionen sind,
und zwar nicht nur wirtschaftliche Investitionen undnicht nur im Sprachbereich, sondern vor allen DingenInvestitionen in den kulturellen Austausch. Denn ichglaube, daß unser Land auf vielfältige Art und Weisedadurch einen Gewinn hat, und zwar nicht nur materiel-len, sondern auch kulturellen und demokratischen Ge-winn.Das Geld dazu – das sage ich mit größtem Be-dauern – ist nicht da. Sie mögen an dem einen oder an-deren Punkt anderer Meinung sein; dieses Recht be-streite ich Ihnen gar nicht. Der zuständige Minister kannaber Wünschen, hier und dort eine Vertretung zu belas-sen, nicht entsprechen, ohne daß Sie das Geld beibrin-gen. Das steht nämlich kein Minister durch, egal vonwelcher Regierung oder Partei. Wenn er an einer Stelledem Druck nachgegeben hat, sind alle anderen zu Rechtbeleidigt, weil dann klar wird, daß die einen offensicht-lich wichtiger als die anderen sind. Das führt in der Tatzu einer Gemengelage, die politisch niemand durchhält.Wir haben nach schwierigen Abwägungen eine Ent-scheidung getroffen. Insofern hoffe ich auf die Zustim-mung des Hauses. Sollten Sie allerdings in der Lagesein, zusätzliches Geld zur Verfügung zu stellen, dannwäre ich nicht traurig, sondern würde im Namen derMitarbeiterinnen und Mitarbeiter der deutschen Außen-politik in Jubel ausbrechen. Aber dieses Geld müßtenSie dann wirklich beibringen.
Meine Damen und Herren, wir stehen vor wichtigenAufgaben. Ich muß es in aller Kürze sagen: Im Kosovobauen wir, so schwierig die Lage auch sein mag, Tag fürTag und Schritt für Schritt eine kosovarische Demokra-tie auf. Die Waffen schweigen. Mit Blick auf die Ent-waffnung der UCK stehen wir vor einem wichtigenTermin. Trotz aller Schwierigkeiten, die bestehen, sinddie Menschen zurückgekehrt. Ich konnte mich selbst da-von überzeugen: Das Leben in Pristina ist wieder voll imGange; die Stadt lebt und pulsiert. Die Menschen sindauch auf das Land zurückgekehrt. Die Landwirtschaft istwieder in Gang gekommen. Die Menschen packen fürden Wiederaufbau tüchtig zu.Trotz aller Schwierigkeiten muß jedoch eines klarsein: Wir sollten heute keine Diskussion über die finaleVerfassung des Kosovo führen. Wir sollten auch nichtdie Frage diskutieren, ob die Menschen zusammenpas-sen und noch zusammenleben können. Das ist nicht dieFrage. Die entscheidende Frage ist, in welchem Rahmenund mit welchen Instrumenten dies entschieden wird.Wird dies im nationalistischen Rahmen entschieden,dann haben wir nach der Erledigung der serbischen na-tionalen Frage ein neues Problem. Das Auseinanderbre-chen von Jugoslawien hatte in den 90er Jahren ja ver-schiedene nationale Fragen auf die Tagesordnung derGeschichte gebracht: die slowenische, die kroatische,die bosnische und die serbische. Milosevic wollte dieserbische großserbisch beantworten. Er ist zum Unglückseines eigenen Volkes furchtbar gescheitert.Die albanische Frage ist noch offen. Diese albani-sche Frage im nationalen oder gar nationalistischenRahmen zu lösen würde Krieg bedeuten. Damit begännedie nächste blutige Runde auf dem Balkan. Europa mußdieses mit dem Stabilitätspakt, aber auch mit der Präsenzvon KFOR und von UNMIK, der Zivilverwaltung derVereinten Nationen, verhindern.
Der Rahmen muß ein anderer werden. Die histori-schen Kräfte im Zusammenhang mit einer nationalenFrage bekommt man zwar nicht weg und kann man nichtwegdiskutieren. Es wäre irreal, sie negieren zu wollen.
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Man muß aber den Rahmen, innerhalb dessen sie zumAustragen kommen, und die Instrumente verändern.Diese Erfahrung haben die westlichen Teile Europasnach 1945 gemacht, als sie mit dem Europa der Integra-tion einen neuen Rahmen gesetzt haben.Wir werden uns deshalb dauerhaft dort engagierenmüssen. Für die weitere Entwicklung Albaniens kommtes entscheidend darauf an, ob der Aufbau einer kosova-rischen Demokratie gelingt. Das hängt mit der albani-schen Geschichte der vergangenen 50 Jahre zusammen.Pristina wird hier eine Leitfunktion wahrnehmen.Auch bei der Frage der Erweiterung und Vertiefungder Europäischen Union stehen wir vor großen Her-ausforderungen. Als ich heute morgen den Oppositions-führer Wolfgang Schäuble gehört habe, dachte ich mir –seien Sie mir deshalb nicht böse –: Wolfgang, gehschnell zurück zur Innenpolitik. Was er nämlich zur Au-ßen- und Europapolitik gesagt hat, hätte ich ihm nichtzugetraut, so dürftig war es.
Was mußten wir uns vor einem Jahr anhören? –Schröder, Fischer und Gefährten gefährdeten diedeutsch-polnischen Beziehungen, sie seien nicht mehrder Anwalt der Beitrittsländer und ähnliches mehr. Ge-hen Sie heute nach Ungarn, nach Polen, nach Prag oderwohin auch immer und fragen Sie, ob wir politischeAnwälte einer Erweiterung sind. Sie werden Ihnen dasGegenteil von dem, was Sie hier behaupten, sagen. Siewerden sagen, Berlin war ein großer Erfolg auf demWeg zur Erweiterung. Sie wissen das ja auch ganz ge-nau.
Zu dem, was Herr Schäuble zur Agrarpolitik gesagthat, kann ich ihm nur erwidern: Ja, meine Güte, wirhätten gerne mehr gewollt, aber auf der anderen Seitemüssen auch Sie sehen, daß Frankreich andere Interes-sen hatte und diese Interessen im deutsch-französischenVerhältnis eine entscheidende Rolle gespielt haben.Da kann ich Ihnen nur sagen: Für mich war der Berli-ner Gipfel auch unter dem Gesichtspunkt des Zusam-menhalts des Bündnisses und Europas ein historischerSchritt. Es war eine historische Nacht. Daß Bundes-kanzler Schröder diesen Kompromiß erreicht unddurchgehalten hat, unter anderem gegen die zu erwar-tenden innenpolitischen Angriffe, war eine originäreLeistung, mit der er zu einem weiteren Einigungsprozeßin Europa beigetragen hat; denn das Scheitern diesesBerliner Gipfels zu Beginn des Kosovo-Krieges wärefatal gewesen; das wissen Sie ganz genau.
Wir sind dafür – ich freue mich, daß Romano Prodi inseiner Antrittsrede vor dem Europäischen Parlamentzum Ausdruck gebracht hat, daß er dies genauso sieht –,daß wir in der ersten Runde jetzt zur Konkretisierungder Zeitpläne kommen; das wird unterschiedlich sein.Wir müssen den Beitrittsbericht der Kommission ab-warten. Ich freue mich ganz besonders, daß der Präsi-dent der Kommission dies genauso sieht. Andere Mit-gliedstaaten haben hier noch mehr Reserven. Die Bun-desregierung war die erste, die sich jetzt für eine Kon-kretisierung ausgesprochen hat, weil wir nicht glauben,daß es im nächsten Jahr unter der portugiesischen oderder französischen Präsidentschaft substantieller werdenkönnte, und weil das weitere Hinhalten der ersten Bei-trittsrunde fatale Konsequenzen in der Innenpolitik die-ser Länder hätte.Darüber hinaus sind wir der Meinung, daß die zweiteGruppe zu einer Gruppe zusammengeführt werden soll-te. Das setzt allerdings eine Differenzierung entlang derobjektiven Beitrittskriterien voraus.Da Herr Schäuble meint, da würde sich überhauptnichts tun, empfehle ich ihm, sich einmal etwas nähermit den europa- und außenpolitischen Realitäten zu be-schäftigen. Wir waren sehr intensiv tätig und haben ge-meinsam mit unseren griechischen und türkischenFreunden versucht, die Situation voranzubringen, näm-lich das Verhältnis Türkei – Griechenland – Europa, indiesem Dreieck, zu entspannen und gleichzeitig zu ver-stetigen.Ich bin heilfroh, daß es, beginnend mit dem Schröder-Ecevit-Briefwechsel, gelungen ist, den Mißklang – ichmöchte keine Schuldzuweisungen vornehmen –, der ei-nen dreijährigen Stillstand der Beziehungen zwischenEuropa und der Türkei verursacht hatte, aufzulösen, sodaß wir heute sehr hoffnungsvoll sind, daß die Türkeiauf dem Treffen des Europäischen Rates in Helsinki denStatus eines Kandidaten bekommt wie alle anderenauch.
Kandidat heißt auch – lesen Sie den Ecevit-Brief –, daßdie Türkei sehr gut weiß, wie weit sie von der Aufnahmekonkreter Beitrittsverhandlungen entfernt ist.Ich will Ihnen einmal die Alternative beschreiben.Wir können auf die Türkei nicht verzichten. Die Frageist: Wird die Türkei isoliert, isoliert sie sich selbst, oderbekommt sie eine europäische Perspektive?Herr Pflüger, ich schätze Sie sehr. Aber durchdenkenSie einmal jenseits der Parteipolitik die Optionen. Wirwissen, wie weit die Türkei vom Erfüllen der Kopenha-gener Kriterien, die unverzichtbar sind und wo es nichtszu verhandeln gibt, entfernt ist. Ecevit schreibt dies. DerTürkei jedoch die europäische Perspektive zu nehmenheißt gleichzeitig, die Selbstisolation, die islamischenKräfte, die nationalistischen Kräfte zu stärken. Darankann am wenigsten Griechenland ein Interesse haben.Die Griechen haben dies begriffen.
Deswegen haben wir – auch weil hier 2,2 MillionenMenschen leben, die aus der Türkei stammen, aber auchaus weiteren außen- und europapolitischen Gründen –Bundesminister Joseph Fischer
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ein Interesse daran, das Verhältnis zur Türkei produktivzu gestalten. Wir haben ein Interesse an der Europäisie-rung der Türkei in einem umfassenden Sinne. Genaudieses betreibt die Bundesregierung.
Wir werden uns in diesem Zusammenhang verstärktauch um die Zypernfrage, um die Ägäisfrage kümmernmüssen; denn für mich bedeutet Union, daß wir aucheine Solidargemeinschaft mit unseren griechischenFreundinnen und Freunden eingegangen sind. Sie sindMitglied der Union, und ihre Probleme mit einem Dritt-land sind nicht nur ihre Probleme, sondern sind Unions-probleme, ob mir das gefällt oder nicht. Insofern wirdzum Weg der Türkei nach Europa auch eine Lösung derProbleme mit Griechenland gehören. Das betrifft vorallem die Ägäisfrage und die sehr schwierige Zypern-frage.Wir begrüßen mit allem Nachdruck die Initiative derbeiden Außenminister Cem und Papandreou. Die Regie-rungen von Griechenland und der Türkei haben sich aufden richtigen Weg gemacht. Die Europäische Unionkann das Ihre dazu beigetragen, daß in Helsinki diesepositive Entwicklung gestärkt wird.Meine Damen und Herren, im nächsten Jahr steht ei-ne Vertiefung, eine Regierungskonferenz in Europa an.Die Lösung dieser Aufgabe wird sehr schwierig werden.Wir befinden uns in diesem Zusammenhang in engerDiskussion vor allen Dingen auch mit unseren französi-schen Partnern. Was soll Gegenstand dieser Regierungs-konferenz sein? Nur die Regelung der Reste, der Über-bleibsel aus Amsterdam? Das Wort „Überbleibsel“klingt so verharmlosend. Es geht hier um ganz gravie-rende Probleme, zum Beispiel um die Größe der Kom-mission: Soll, wenn die Europäische Union erweitertwird, jedes Land weiterhin durch einen oder zweiKommissare auf europäischer Ebene vertreten sein? Ge-genstand dieser Regierungskonferenz wird die Frage derStimmengewichtung sein. Dies ist eine demokratischeKernfrage. Auch die Klärung der Frage der Mehrheits-entscheidungen steht an.Wenn wir die Klärung dieser zentralen Fragen nichtanpacken, dann werden wir nicht erweiterungsfähigsein. Denn eine Union der 21 oder gar der 24 Mitglieder– wie viele auch immer es sein werden – wird mit demheutigen institutionellen Gerüst nicht funktionieren kön-nen. Wir wollen nicht nur eine erweiterte, sondern vorallen Dingen auch eine handlungsfähige und eine sich inder Integration vertiefende Europäische Union.
Wir werden im kommenden Jahr nochmals über un-ser Verhältnis zu den Vereinten Nationen diskutierenmüssen, und zwar über die Rolle, die Deutschland dortspielen will. Dies steht im Zusammenhang mit der Re-formdebatte in den Vereinten Nationen. Ich kann ange-sichts meiner fast abgelaufenen Redezeit darauf nichtweiter eingehen. Dies ist eine Debatte, die unmittelbarvor uns liegt.Meine Damen und Herren, den heutigen Haushaltkann ich Ihnen als Ressortminister – Sie merken es – nurzähneknirschend vorlegen. Ich würde mir wünschen,daß wir hier angesichts der gewachsenen Bedeutung,aber auch der gewachsenen Zustimmung zur Außen-politik des vereinigten Deutschlands Zuwächse hättenund nicht Einschnitte. Es ist aber festzustellen: Wennwir wieder Zuwächse wollen, dann müssen wir jetztdurch die Sanierungsphase hindurch.Ich bedanke mich.
Zu einer
Kurzintervention erhält der Kollege Pflüger das Wort.
Herr Bundes-außenminister, wir alle, glaube ich, begrüßen erstens,daß es zwischen der Türkei und Griechenland eine ge-wisse Annäherung gibt. Es ist richtig – dabei haben Sieunsere volle Unterstützung –, daß Sie diesen beidenLändern – dabei spielt die Europäische Union einewichtige Rolle – auf diesem Weg helfen und sie unter-stützen.Es ist in diesem Hause – jedenfalls bei der CDU/CSU– zweitens völlig unbestritten, daß die Türkei eine euro-päische Perspektive braucht. Die Türkei ist ein ungeheu-er wichtiges Land. Wir haben ein großes Interesse daran,daß sie sich weiter demokratisiert, daß die laizistischenKräfte dort die Oberhand behalten und daß sie sich nichtauf die islamische Welt orientiert, sondern auf uns inEuropa. Es ist ganz eindeutig, daß wir der Türkei beidem Versuch, sich nach Europa zu orientieren, immerwieder helfen und sie unterstützen müssen, nicht zuletztmit Blick auf die türkischen Mitbürger in der Bundesre-publik Deutschland.Aber es stellt sich doch folgende Frage: Ist es dennDeutschland oder die EU gewesen, die der Türkei in derVergangenheit das Tor zu Europa zugeschlossen hat?Aber ist es nicht die Türkei selbst gewesen, die sich ge-rade in den letzten Jahren auf Grund von Drohgebärdengegenüber ihren Nachbarn, durch Menschenrechtsver-letzungen und der Nichtbeachtung von Minderheitenisoliert hat? Ist nicht anläßlich Ihres Besuches in derTürkei und der Festlegung auf einen Kandidatenstatus –was immer das im einzelnen bedeutet – die Gefahr ent-standen – Sie sagen, Herr Ecevit wisse, daß der Wegnach Europa ein langer Weg sei; ich frage mich, ob dasauch die türkischen Medien bzw. die türkische Bevölke-rung wissen –, daß in der Türkei eine große Illusion ent-steht, die Sie in den nächsten Jahren doch nicht erfüllenkönnen? Geraten wir dann nicht in die Situation, daß dasdeutsch-türkische bzw. das europäisch-türkische Ver-hältnis schwieriger wird?Viel wichtiger, als jetzt den Kandidatenstatus an dieWand zu malen, ist es, der Türkei konkret zu helfen unddie Mittel im Rahmen der Zollunion und des Finanz-protokolls freizugeben. In diesem Sinne haben Sie sichbei der EU-Ratspräsidentschaft und bei Herrn Papandre-Bundesminister Joseph Fischer
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ou eingesetzt. Das begrüßen wir ohne jeden Vorbehalt.Hier muß der Türkei geholfen werden. In bezug auf denKandidatenstatus sollten wir etwas vorsichtiger sein, alsSie das waren. Wir sollten von Anfang an verhindern,daß bei uns und in der Türkei Illusionen entstehen.
Möchten Sie
antworten, Herr Minister? – Bitte.
Herr Kollege Pflüger, lassen Sie mich zuerst noch eines
anmerken: Ich war tief betroffen über den plötzlichen
Tod des griechischen Europaministers Kranidiotis, sei-
nes Sohnes und anderer Angehöriger in der Regie-
rungsmaschine. Am Freitag saßen wir noch anderthalb
Stunden zusammen und haben über all diese Fragen –
unter anderem auch die, die wir gerade angesprochen
haben – gesprochen. Sein Tod ist nicht nur menschlich,
sondern auch politisch ein großer Verlust, weil er von
Zypern stammte und gerade in diesem Versöhnungspro-
zeß eine wichtige Rolle gespielt hat.
Zu Ihrer Frage: Ich sehe keine Alternative. Ob die
Türkei sich selbst isoliert oder isoliert wird: Die Wir-
kung wird dieselbe sein, ob einem das gefällt oder nicht.
Eines ist klar: Ich plädiere für Realismus im Umgang
mit der Türkei. Es nützt überhaupt nichts, hier über die
Menschenrechtssituation oder über das Verfassungsge-
füge zwischen dem zivilen und dem militärischen Teil
hinwegzureden. Das ist alles nicht EU-kompatibel. Ich
plädiere nachdrücklich dafür, mit viel Realismus an die
Minderheitenfrage heranzugehen.
Genauso müssen Sie aber Realismus beim Verständ-
nis der türkischen Situation zeigen. Das Land ist nach
wie vor – seit dem Ende des Osmanischen Reiches – auf
der Suche nach sich selbst. Das werden Sie feststellen,
wenn Sie in Ankara sind. Wenn wir hier heute über
Kurdistan reden, denkt niemand, daß es sich dabei um
mehr handeln würde als um die Beschreibung eines
möglichen Bundeslandes à la Bayern. In der Türkei ist
das ein Trauma, nämlich das Trauma der Aufspaltung
der türkischen Republik, von den Westmächten zu Be-
ginn der 20er Jahre mit dem Vertrag von Sèvres besie-
gelt. Wenn Sie in der Türkei den Begriff „Kurdistan“
verwenden, steckt dahinter ein völlig anderes Verständ-
nis. Das zeigt, wie virulent die Geschichte dort ist und
wie unsicher das Land noch im Umgang mit seiner eige-
nen Geschichte ist. Das ist keine Rechtfertigung für die
Unterdrückung von Menschenrechten und Minderheiten,
damit Sie mich nicht mißverstehen. Wir sprechen hier
Klartext – das machen auch der Brief von Bundeskanz-
ler Schröder und die Antwort von Ecevit klar.
Die Kopenhagener Kriterien – ich kann nur jedem
empfehlen, sie nochmals nachzulesen – sind zweifels-
frei, was den Umgang mit Minderheiten betrifft, sind
zweifelsfrei, was die Beachtung von Menschenrechten
und was Demokratie betrifft.
Aber bei der Debatte um die Frage: „Warum sitzt Ru-
mänien mit am Tisch, warum wir nicht?“, werden Sie
mit türkischen Gesprächspartnern immer ein Problem
bekommen. Eine Antwort fällt hier schwer, obwohl die
EU sowohl in Cardiff wie auch in Luxemburg die Türkei
als möglichen Kandidaten bezeichnet hat.
– Das Neue ist, daß die EU zum Beispiel extra für die
Türkei eine eigene Konferenz mit allen anderen Bei-
trittsländern eingerichtet hat, an der die Türken noch nie
teilgenommen haben, weil sie sich diskriminiert fühlen.
Über diese psychologische Hürde wollen wir endlich
hinweg, um dann mit einem gemeinsamen Fahrplan mit
der Türkei und der Europäischen Union eine Verbesse-
rung der wirtschaftlichen, der menschenrechtlichen und
auch der Minderheitensituation in der Türkei zu errei-
chen. Voller Kandidatenstatus bedeutet, daß die Türkei
dann in der Situation ist, daß sie in der Tat substantielle
Reformen entwickeln und voranbringen muß, um ihren
Kandidatenstatus zu verbessern, nicht mehr und nicht
weniger.
Herr Pflüger, wenn Sie dies durchdenken, dann wer-
den Sie sehen: Es gibt nur schlechtere Alternativen. Wir
haben drei Optionen; ich halte die Optionen eins und
zwei für schlecht. Die erste Option ist, zu sagen, die
Türkei gehört nicht zu Europa. Dies wäre fatal, hätte fa-
tale Konsequenzen. Die zweite Option ist, zu sagen, die
Türkei gehört zu Europa, sich aber so zu verhalten, als
wenn sie nicht dazugehören würde. Das ist ein Zustand,
den wir lange genug hatten, mit der Konsequenz, daß
sich Isolierung und Nationalismus breitmachten.
Herr Minister,
ein bißchen kürzen.
Ich komme zum Schluß. – Die dritte Option ist, der Tür-
kei zu sagen: Jawohl, ihr gehört voll dazu; dann müßt ihr
aber auch die Bedingungen des Dazugehörens schaffen.
Genau das wollen wir erreichen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Entgegen meiner Ab-sicht will ich mit dem Thema Türkei beginnen, das wirzuletzt behandelt haben, weil ich in der Tat glaube, daßes einer der wenigen neuen Akzente ist, die Sie in IhrerAußenpolitik entgegen Ihren Ankündigungen gesetzthaben.Dr. Friedbert-Pflüger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4881
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Ich stimme dem, was Friedbert Pflüger gesagt hat,voll zu. Ich glaube, auch Sie haben anerkannt, daß derWeg, den Sie eingeschlagen haben, zwar vielleicht einrichtiger, aber in jedem Fall ein außerordentlich riskan-ter ist. Wieso? Sie sagen, die Türkei bekommt jetzteinen konkreten Beitrittsstatus. Das ist wahr. Ein kon-kreter Beitrittsstatus bedeutet aber auch konkrete Krite-rien eben nicht nur – Sie haben welche angesprochen –im wirtschaftlichen, sondern vor allem im politischenBereich. Der Oberste Richter des Obersten Berufungsge-richts der Türkei hat kürzlich, als Sie, Herr Fischer, inLappland zusammensaßen, erklärt, die Legitimation dertürkischen Verfassung grenze an Null. Er hat genau dasgemeint, was auch Sie angesprochen haben, nämlich dendurch die Verfassung abgesicherten entscheidenden Ein-fluß des türkischen Militärs in allen wesentlichen Berei-chen, nicht nur den außenpolitischen, sondern auch deninnenpolitischen.Konkrete Bedingungen bedeuten die Forderung: Die-se Verfassung muß geändert werden. Nun stellen Siesich einmal vor, wir stellten diese Forderung ganz ruhigund bescheiden und nicht anklagend auf! Ich weiß doch,was dann kommen würde. Der empörte Aufschrei wirdlauten: Einmischung in die inneren Angelegenheiten.Dann muß man sich aber auch darüber im klaren sein,daß die Europäische Union gewissermaßen eine legali-sierte, institutionalisierte und permanente Einmischungmit steigender Tendenz in die inneren Angelegenheitenist. Das erleben und ertragen wir. Auch uns fällt dasmanchmal schwer, Herr Minister, aber wie soll das dieTürkei ertragen? Wenn ich einmal von jener Art auf-brausenden Nationalismus absehe, mit der die Türkeisich das verbietet – das ist im Grunde ein Zeichen vontiefer Unsicherheit –, dann muß ich mich wirklich fra-gen: Kann die Türkei angesichts ihres gesellschaftlichenund politischen Entwicklungsstands und angesichts ihrergeopolitischen Lage, die ihr andere Prioritäten ihrerPolitik diktiert als uns, überhaupt jenes ungewöhnlichweitgehende Maß nicht nur an formellem, sondern mehrnoch an faktischem Souveränitätsverzicht und an Ver-zicht auf Handlungsfreiheit in Kauf nehmen, welchesdie Mitgliedschaft in der Europäischen Union voraus-setzt?Wir haben mit der Zollunion mit der Türkei eigent-lich einen Weg beschritten, von dem ich meine, daß erauf jeden Fall konsequent weitergegangen werdenmüßte. Sie haben eine andere Methode gewählt, die aufeine differenzierte Form der Mitgliedschaft in der Euro-päischen Union hinausläuft.Wir werden von uns aus alles tun, daß der Weg, denSie eingeschlagen haben, nicht in einer noch tieferenEntfremdung und Enttäuschung dieses für uns alle, ins-besondere für Deutschland, so wichtigen Landes mün-det, aber wir sehen diese Gefahr. Ich glaube, das mußIhnen gesagt werden. Ich hoffe, daß Sie das Risiko, dasSie eingegangen sind, wirklich gesehen haben.
Nun aber zum Haushalt. Herr Minister, Sie wissen:Die in diesem Haushaltsentwurf angelegte Finanzpla-nung bedeutet, daß der Haushalt Ihres Hauses im Jahre2003 auf den Stand des Jahres 1990 gesunken sein wird.Jetzt möchte ich ohne irgendwelche Schuldzuweisungensagen: Das ist wirklich absurd. Das ist widersinnig. Eswiderspricht diametral der Rangfolge unserer Interessen;denn seit 1990 sind die außenpolitischen Aufgabenund Verantwortlichkeiten der BundesrepublikDeutschland nicht etwa gesunken, sondern – ich weiß,das kann man nur schwer quantifizieren – sie haben sichmindestens verdoppelt. Aber statt mehr Geld haben wirimmer weniger Geld.Ich weiß sehr wohl, daß diese Tendenz nicht neu ist,aber Sie hatten doch versprochen, nicht alles nur genau-so weiterzumachen, sondern besser zu machen. Davonkann ich aber wirklich nichts merken. Zumindest hätteich von Ihnen etwas größeren Widerstand – auch öffent-lich – erwartet. Davon hat man wirklich überhauptnichts gespürt.
Wenn, Herr Minister, der Haushalt die Prioritäteneines Landes widerspiegelt, kann man nur sagen: DieseRegierung setzt die Prioritäten unseres Landes falsch.
Es kann gar nicht zweifelhaft sein: Immer mehr ist dasWohl und Wehe unseres Landes und der Bürger diesesLandes abhängig vom Wohl und Wehe unserer Nach-barn im engeren und weiteren Sinne. Die Ausgabenmüßten steigen. Also kämpfen Sie zumindest! Da-für werden Sie unsere Unterstützung haben. Aber Siehaben nicht gekämpft. Das hätte ich von Ihnen anderserwartet.Statt dessen stellen Sie sich nur staatsmännisch hier-hin und sagen: Es muß gespart werden. Im übrigen ha-ben wir – das wissen Sie auch – den Vorwurf, von demSie behauptet haben, daß wir ihn gemacht hätten, garnicht gemacht. Wir haben nur gesagt: Erstens habt Ihrim vergangenen Jahr den Haushalt um 30 MilliardenDM aufgestockt, die Ihr nun sparen wollt, zweitens spartIhr nicht, sondern Ihr verschiebt die Kosten vom Bundauf die Länder und Gemeinden – das sagen Ihre Län-derminister auch, Sie wissen ganz genau, daß dies denTatsachen entspricht –, und drittens spart Ihr dort, woIhr schließlich spart, auch noch falsch. – Das ist unserVorwurf, und der stimmt. Der ist unbestreitbar.
Ein Wort zu dem, was Sie über Europa gesagt haben.Ich habe das, was Sie heute Wolfgang Schäuble zuge-rechnet haben, gar nicht gehört. Gehört habe ich aller-dings – darin stimme ich Ihnen uneingeschränkt zu –,daß Sie bislang nicht viel Phantasie bei dem von Ihnenzu Recht als ungewöhnlich schwierig geschilderten Ba-lanceakt Vertiefung/Erweiterung, wie wir das nennen,haben erkennen lassen.Es ist richtig: Die Skepsis bei unseren östlichenNachbarn wächst. Deswegen ist die Klarheit der Bei-trittsperspektive noch wichtiger. Auch das stimmt ohnejeden Zweifel. Gleichzeitig wird damit die Notwendig-keit des Erhalts und des Ausbaus der Handlungsfähig-keit der Europäischen Union noch größer.Karl Lamers
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4882 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Die Vorschläge, die Sie für die sogenannten Left-Overs gemacht haben, lagen in Amsterdam alle auf demTisch. Neue sind nicht dazu gekommen. Woher schöp-fen Sie eigentlich die Hoffnung, daß das jetzt im Wegeeiner Regierungskonferenz – nicht gerade ein sehr pro-bates Mittel – gelöst werden könnte? Können sie nichteigentlich nur gelöst werden, wenn man sie in einengrößeren Zusammenhang stellt? Muß nicht eigentlichdas, was laut Amsterdam spätestens ein Jahr bevor dieZahl Zwanzig überschritten wird, vorgesehen ist, nichtschon jetzt in die Wege geleitet werden, nämlich einegrößere Revision? Ich weiß, auch das könnte wieder einProblem für den Zeitpunkt der Erweiterung schaffen,muß es aber nicht. Sie haben auch eine Verfassung vor-geschlagen. Wie wir dies nennen, kann dahingestelltsein. Aber ich glaube, daß die Fragen, die sogenanntenLeft-Overs, nur gelöst werden können, wenn man sie ineinen größeren Zusammenhang stellt.
– Ja, mit Frankreich. Das ist ein sehr gutes Stichwort,Herr Minister. Ich will gar nicht – das sage ich a priori –behaupten, daß dieser sehr bedenkliche Zustand desdeutsch-französischen Verhältnisses – das ändert nichtsdaran, daß Sie sich mit Herrn Védrine gut verstehen –nur auf Ihr Konto geht. Er geht ganz wesentlich auf dasKonto der deutschen Regierung, insbesondere IhresNachbarn, der im Augenblick nicht da ist. Das kann garnicht zweifelhaft sein.
Dieses Gerede von Saarbrücken war wirklich tödlich.Das kann man gar nicht bestreiten. Das ist einfach eineTatsache. Daß die Gespräche in St. Malo – sosehr ichmich darüber freue, wenn es in der britischen Europa-politik Bewegung gibt – ohne Deutschland stattfanden,muß Ihnen doch zu denken geben. Wie ist es dennmöglich gewesen, daß Frankreich und Großbritanniengemeinsam Deutschland bei den Rambouillet-Ver-handlungen an den Katzentisch gebracht haben? Dar-über haben Sie sich – absolut verständlicherweise – zu-tiefst geärgert. Aber das muß Ihnen zu denken geben.Sie müssen sich auch fragen: Lag das nicht auch einbißchen an uns?
– Nein, nicht an uns, das wissen Sie sehr genau. Das istnun wirklich allzu billig.
Ein Wort, meine verehrten Kolleginnen und Kolle-gen, zum Kosovo. Herr Minister, ich habe schon ver-standen, weshalb Sie mich bei diesem Thema so angese-hen haben. Aber zunächst einmal muß ich feststellen:Leider habe ich mit all meinen Warnungen recht behal-ten. Ich wünschte mir, ich könnte hier sagen: Gott seiDank waren meine Warnungen unbegründet.Der Kern meiner Kritik ist ganz einfach, milde ge-sagt: daß die Grundlage der Kosovopolitik der NATOauf einer Verwischung von Hoffnung und Wirklichkeitberuht; scharf formuliert: daß sie auf fiktionalen An-nahmen und auf Illusionen beruht. Ich sehe nicht, wiediese Hoffnungen erfüllt werden könnten und wie dieIllusion zur Wirklichkeit werden soll. Die Entwicklungläuft ohne jeden Zweifel in eine ganz andere Richtung.Solange diese Frage nicht geklärt ist, ist es unmög-lich, den Hauptbetroffenen eine politische Perspektivezu geben. Solange das nicht der Fall ist, wird auch wirt-schaftliche Hilfe nicht fruchten. Das wissen wir doch –mit Verlaub – von der Entwicklung unseres Landes nach1918 im Vergleich zu der nach 1945. Der Hauptbetrof-fene ist Serbien. Sie haben selber gesagt: Die nationaleFrage ist in einem anderen Sinne gelöst, als Milosevic essich vorgestellt hat. Das ist wohl wahr. Aber mit anderenWorten heißt das: Sie ist völlig ungelöst. Sie ist ungelö-ster als vorher. Das hat zur Folge, daß in diesem Landmindestens 700 000 Flüchtlinge leben.
Von denen redet keiner. Was sollen wir mit ihnen ma-chen? Wie soll dieses Land eine Zukunft haben, wenndas nicht gelöst wird?
Darauf gibt der Stabilitätspakt keine Antwort, und Ihrepermanent erhobene Forderung, Milosevic müsse weg,verdeckt nur die Ratlosigkeit.
In einem Punkt hat die Bundesregierung klar und hartgehandelt: Sie hat Herrn Hombach, den hier gescheiter-ten Koordinator, ausgerechnet zum Koordinator fürWirtschaftspolitik und Wiederaufbau gemacht. Das istaber nicht das Schlimmste. Schlimmer ist – deswegennenne ich das einen Skandal –, daß man in eine Gegend,wo die Vermischung von Politik und Geschäft zu dennotorischen Kernübeln gehört, einen Mann sendet, dersich in diesem Lande genau dieses Verdachts ausgesetztsieht.
Das ist der Stil des Bundeskanzlers. Er ist schädlich fürunser Land.
Das Wort er-
hält jetzt der Kollege Verheugen. Ich glaube, ich gehe
recht in der Annahme, daß das Ihre letzte Rede als Ab-
geordneter in diesem Parlament ist, jedenfalls vorläufig.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Sie haben recht, FrauPräsidentin: Es ist eine Abschiedsvorstellung. Ich binmeiner Fraktion sehr dankbar, daß sie mir die Gelegen-heit dazu gibt, wenigstens einmal in diesem Raum spre-Karl Lamers
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chen zu dürfen. Es wäre mir wirklich schwer gefallen,den Deutschen Bundestag zu verlassen, ohne das Gefühlzu kennen, wie es ist, an dieser Stelle zu sprechen,
die wie kaum eine andere das symbolisiert, was mich inden nächsten Jahren besonders beschäftigen wird, näm-lich der Versuch, die Einheit Europas noch ein Stückweiter voranzubringen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dasJahr 1999 wird in der Rückschau für Europa ein wichti-ges und ein besonderes Jahr sein, und zwar deshalb, weilsich in diesem Jahr eine Bewußtseinsveränderung able-sen läßt. In diesem Jahr ist das Bewußtsein dafür, waseigentlich Ziel, was Inhalt, was Fundament der europäi-schen Einigung ist, viel deutlicher hervorgetreten als inden Jahren davor, wo wir uns vielleicht ein bißchen zusehr in die technischen Fragen der Brüsseler Exekutiveverstrickt hatten. Ich will entsprechende Beispiele hiernicht aufführen. Ich glaube, in diesem Jahr ist wiederklarer geworden, daß Europa die Chance des Friedens,der Stabilität, der Demokratie und des Wohlstands fürdie Menschen in ganz Europa ist
und daß es für Deutschland entscheidend darauf an-kommt, unsere und die europäischen Interessen stets inÜbereinstimmung halten zu können. Wir haben in die-sem Jahr bereits eine Reihe von wichtigen Entwicklun-gen erlebt, die teils abgeschlossen und teils noch imGange sind und die genau das zeigen. Deutschland hatnach einer Phase der Orientierung und Suche seinenPlatz gefunden. Die Diskussion, die wir gerade zwischenHerrn Lamers und Bundesminister Fischer erlebt haben,zeigt das sehr deutlich.Herr Kollege Lamers, die deutsche Rolle während desKosovo-Konfliktes und zur Beendigung der Feindselig-keiten war deshalb so stark und, wie ich glaube, auchausschlaggebend, weil sich unser Land in diesem Jahrklar und eindeutig in der Verantwortung der Gemein-schaft der westlichen Demokratien positioniert hat, undzwar mit allen Konsequenzen. Damit hat eine Diskussi-on, die uns in diesem Haus – ich bin daran sehr beteiligtgewesen – über viele, viele Jahre und zum Teil quälendbeschäftigt hatte, einen positiven Abschluß gefunden.Jedem von uns wäre es lieber gewesen, wenn man in derKosovo-Krise nicht zur Gewalt hätte greifen müssen.Das weiß jeder. Aber die strategischen Konsequenzen,die sich für unser Land und für Europa aus der Art undWeise, wie wir dieser Krise begegnet sind, ergeben, sindungeheuer weitreichend.Sie sind auch in bezug auf das nächste große Projekt,das wir in Europa zu bewältigen haben, nämlich dieHerstellung einer Außen- und Sicherheitspolitik auseinem Guß, weitreichend. Man könnte wahrscheinlichsehr viele europäische Themen nennen, von denen mansagt, daß sie jetzt dringend angegangen werden müßten.Ich wähle bewußt dieses als das meiner Meinung nachwichtigste und zentrale.
Europa kann seine Rolle und seine Verantwortung in derinternationalen Politik nur dann wahrnehmen, wenn esseine Interessen auch artikulieren, vertreten und durch-setzen kann.
Der Vertrag von Amsterdam hat Instrumente geschaffen,von denen heute niemand sagen kann, daß wir das damiterreichen; aber sie bieten eine Chance.In wenigen Tagen wird Javier Solana, der bisherigeGeneralsekretär der NATO, sein Amt als Hoher Beauf-tragter der Europäischen Union für die Außen- und Si-cherheitspolitik antreten. Das eröffnet eine Möglich-keit. Ich wünsche mir sehr, daß Javier Solana die Unter-stützung aller Regierungschefs und Außenminister ha-ben wird. Ich wünsche mir zudem sehr, daß er auch dieUnterstützung des Europäischen Parlaments und der na-tionalen Parlamente haben wird und daß nicht der klas-sische Kompetenzkonflikt – diese klassische europäi-sche Rivalität, dieser Zustand, daß der eine dem anderenetwas neidet – die Möglichkeiten seines Amtes ge-fährdet.Solana kann für Europa viel bewirken. Denn Europawird nicht nur in Europa gebraucht. Das hat die letzteZeit sehr deutlich bewiesen. Die Stimme Europas, aberauch seine Fähigkeit, einzuwirken, werden überall aufder Welt gefragt. Wir haben nach dem Wirbelsturm„Mitch“ in Lateinamerika gesehen, wie zentral die RolleEuropas war. Wir hören immer wieder im Nahen Osten,was man von uns in Europa erwartet. Über Afrika wageich in diesem Zusammenhang gar nicht zu reden; dieKenner unter uns wissen es. Aber auch Asien und – imZusammenhang internationaler Konfliktbewältigung –die Vereinigten Staaten von Amerika als unser wichtig-ster Bündnispartner erwarten, daß Europa stark undhandlungsfähig wird.Meine Damen und Herren, das bringt mich gleich zudem Thema, das in den nächsten Jahren aus naheliegen-den Gründen für mich, aber auch für Deutschland, be-sonders wichtig sein wird: die Frage der Erweiterungder Europäischen Union. Diese Erweiterung ist etwasanderes als die bisherigen Erweiterungspozesse. Erlau-ben Sie mir dazu ein großes Wort: Wir stehen in Europaim Augenblick vor der Chance, etwas zu erreichen, wasImmanuel Kant in seinem „Entwurf zum ewigen Frie-den“ als eine gewaltige Utopie aufgeschrieben hatte.Dieser Utopie können wir uns wirklich nähern, indemwir durch die politische Vereinigung ganz Europas Vor-aussetzungen dafür schaffen, daß dieser Kontinent fürimmer in Frieden und Sicherheit lebt und daß von ihmauch für andere Teile der Welt Frieden und Sicherheitausgehen.
Günter Verheugen
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Diese Erweiterung ist in erster Linie ein eminentpolitischer Prozeß.
Ich möchte die wirtschaftliche Bedeutung bestimmtnicht kleinreden. Die Chancen, die sich durch entwik-kelnde neue Märkte für unsere Wirtschaft und für dieArbeitsplätze ergeben, möchte ich wirklich nicht klein-reden. Dies ist ein hochwillkommener Effekt, aber nichtdas eigentliche Ziel der Erweiterung. Das eigentlicheZiel ist, Europa politisch und geographisch zusammen-zuführen. Es geht jetzt tatsächlich um die letzte großeAnstrengung zur Herstellung der Einheit Europas.
Das wird nicht in einem Schritt gehen. Wir werdenzunächst mit den Staaten, mit denen bereits verhandeltwird, weiterverhandeln müssen. Wir werden dabei denGrundsätzen folgen, daß Kriterien und politische Zielenicht durcheinandergeworfen werden und daß die Er-weiterung als ein politisches Ziel nicht darüber hinweg-täuschen darf, daß die politischen, sozialen und ökono-mischen Konsequenzen beherrschbar sein müssen. DieBeschwörung dieser Konsequenzen darf aber nicht dazuführen, daß der Abschluß dieser Verhandlungen auf denSankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird.Ich wünsche mir, daß die Bundesrepublik Deutsch-land ihr enormes Gewicht in der Europäischen Union soeinsetzt, daß dieser Erweiterungsprozeß glaubwürdig,schnell, konsequent, aber eben auch handwerklich sau-ber vorangetrieben wird.
Wir werden am Ende nichts davon haben, wenn wir dieBedingungen aufweichen.Diejenigen, die wie ich ihre Wahlkreise in derNähe der Außengrenze der Europäischen Union haben –in meinem Fall ist es die Nähe zur Tschechischen Repu-blik –, wissen, daß die Menschen in Deutschland dieseErweiterung keineswegs nur als eine gewaltige Chancebetrachten und daß keineswegs nur Enthusiasmus be-steht. Es gibt auch Ängste und Sorgen, die wir ernstnehmen müssen. Es darf nicht noch einmal passieren,was im Falle von Maastricht – vielleicht – unvermeidbarwar, nämlich mit großer Mehrheit des Deutschen Bun-destages eine Politik zu beschließen, die in der deut-schen Bevölkerung – jedenfalls zum damaligen Zeit-punkt – nicht mehrheitsfähig war. Wir haben damalsdiese Entscheidung getroffen, weil wir wußten, daß sierichtig war. Das darf in diesem Fall nicht geschehen. Esmuß daher alles getan werden, um die Menschen mitzu-nehmen und sie davon zu überzeugen, daß das, was wirtun, für sie richtig ist.Ich möchte gerne die folgende Frage stellen: Solltenwir jetzt eine Vorstellung davon entwickeln, wie unserEuropa am Ende aussehen soll? Ich glaube, das solltenwir tun. Wir sollten wirklich den hier auch in der De-batte bereits geforderten breiten und umfassenden Dis-kussionsprozeß über die politische und auch über diegeographische Gestalt, die Europa haben soll, in Gangsetzen.Natürlich wird es weiterhin Grenzen geben. Niemandsollte die Illusion haben, daß in der Zeit, die ein Politi-ker einigermaßen überschauen kann, etwa Rußland einKandidat für die Mitgliedschaft in der EuropäischenUnion werden könnte. Das hätte keinen Sinn. Aber wirsollten uns darüber Gedanken machen, was mit all denvielen Ländern geschieht, die heute EU-Erwartungslandsind. Was geschieht mit Südosteuropa? Was geschiehtmit den Staaten des ehemaligen Jugoslawien? Meine fe-ste Überzeugung ist: Unser Europa ist nicht vollständig,wenn nicht auch die Kroaten, die Serben, die Albanerund die Makedonier ihren Platz in diesem Europa findenkönnen.
Daß sie selber dazu das meiste beitragen müssen, daß sieeine Perspektive nur dann haben, wenn sie auch bereitsind, die europäischen Standards zu erreichen, verstehtsich von selbst. Dieser Punkt war ja eben auch der Inhaltder Kontroverse zum Thema Türkei.Zur Türkei möchte ich an dieser Stelle nur so vielsagen: Man kann lange darüber streiten, ob es klug war,der Türkei eine europäische Perspektive zu eröffnen,oder nicht. Dies ist aber vor langer, langer Zeit gesche-hen. Und die Türkei hat recht, wenn sie immer wiederdarauf hinweist: Aber ihr habt es uns doch versprochen!– Man kann auch lange darüber streiten, was für eineBedeutung Luxemburg hatte: War es eine Diskriminie-rung der Türkei oder nicht? Das ist egal. Tatsache ist,daß die Türkei dies so empfindet. Zur Zeit findet keinDialog zwischen der Europäischen Union und der Tür-kei statt; aber die Türkei hat jetzt ein Angebot gemacht.Ich sage hier schon im Bewußtsein der Verantwor-tung, die ich unmittelbar nach dieser Debatte in Europaübernehmen werde: Die Türkei sollte wissen, daß es fürsie nicht etwa deshalb einen Bonus gibt, weil sie einLand mit besonderer strategischer Bedeutung ist. Für dieTürkei gilt das, was für alle anderen Länder gilt: EinPartner für Beitrittsverhandlungen zur EuropäischenUnion kann nur ein Land sein, das die Demokratie ver-wirklicht hat,
kann nur ein Land sein, in dem die Menschenrechte ge-achtet werden – das Versprechen, dies tun zu wollen,reicht nicht –,
kann nur ein Land sein, das im Inneren und auch mitseinen Nachbarn in Frieden lebt. Das sind die Bedin-gungen, die jedes Land kennt; das gilt auch für die Tür-kei.
Günter Verheugen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4885
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Man muß der Türkei sagen: Wenn ihr dazu bereitseid, dann bekommt ihr eine wahrhaftige europäischePerspektive, keine mit dem Hintergedanken, daß diese„Schweinefleischverächter“ letzten Endes doch nicht zuEuropa gehören. Wir wissen doch, daß viele so denken.Dieses zweideutige Verhalten gegenüber der Türkei, zusagen: Ja, ja, ihr gehört dazu!, aber zu denken: Wir wis-sen doch ganz genau, daß die das nicht schaffen!, mußaufhören.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Bundesmi-nister Fischer hat über die Notwendigkeit der institutio-nellen Reformen gesprochen, denen wir in Europa un-mittelbar gegenüberstehen. Ich möchte Sie bitten, sichals Deutscher Bundestag mit großer Kraft in den Prozeßdieser institutionellen Reformen einzubringen; denn dasbetrifft auch die nationalen Parlamente in einer starkenWeise. Das Verhältnis zwischen dem Europaparlamentund den nationalen Parlamenten bedarf einer neuenJustierung. Eine europäische Grundrechtscharta kannnach meiner festen Überzeugung nicht ohne maßgebli-che Mitwirkung der nationalen Parlamente entwickeltwerden.
Und es ist noch nicht gesichert, daß dies wirklich er-reicht werden kann.
Die Diskussion über die institutionelle Reform derEuropäischen Union, eingebettet in eine breite Diskus-sion über die politische Verfassung, die wir Europageben wollen, muß im Bewußtsein dessen geführtwerden, daß die ganz großen Ziele immer nur Schrittfür Schritt erreicht werden. Ich bitte Sie, alle Fraktio-nen des Hauses, sehr herzlich: Nehmen Sie nicht diePosition ein zu sagen: Wir wollen jetzt die europäi-sche Finalität erreichen! Wenn wir alle noch offe-nen Fragen – zum Beispiel zur Vollparlamenti-sierung, zu den Entscheidungsprozessen und zurTransparenz – jetzt regeln wollen, dann werden wirnicht fertig sein, wenn der Beitritt der ersten Staatenansteht.Das letzte, was ich heute ansprechen möchte, ist et-was, was mir besonders am Herzen liegt. Ich muß geste-hen, daß mir dies erst in meinem Regierungsamt, das ichheute morgen aufgegeben habe, so richtig klargewordenist. Es ist die besondere Bedeutung des deutsch-französischen Verhältnisses. Ich habe in dem knappenJahr, dem ich dieser Regierung angehören durfte – eswar eine wichtige und schöne Aufgabe – gelernt, daß dieentscheidende Stabilitätsachse für Europa das deutsch-französische Verhältnis ist.
Es gibt nichts, aber auch gar nichts, was dies ersetzenkönnte.Frankreich ist nicht immer ein einfacher Partner;
dazu könnte ich eine Menge erzählen. Die politischeSituation in Frankreich ist schließlich derart, daß einPartner es nicht immer leicht hat, zu erkennen, was ge-nau die politische Linie der Regierung ist. Aber das istim Vergleich zu dem, worum es geht, wirklich eineBagatelle. Das Entscheidende ist, daß Deutschland undFrankreich gemeinsam Europa als ihr Projekt betrachtenmüssen.
Europa ist das, was die Substanz der deutsch-französischen Beziehungen ausmachen muß, heute undin Zukunft.Meine sehr verehrten Damen und Herren, erlaubenSie mir zum Schluß ein persönliches Wort. Ich werdenach dieser Debatte mein Mandat als Mitglied des Deut-schen Bundestages niederlegen. Dann beginnt mein Amtals Mitglied der Kommission der Europäischen Union.Es hat über die Frage der Besetzung der EuropäischenKommission eine politische Debatte gegeben, für dieich volles Verständnis habe. Ich hätte es nicht an-ders gemacht. Aber ich möchte vor allem den Kolle-ginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P.sagen: Frau Schreyer und ich sind die von Deutschlandbenannten Mitglieder der Europäischen Kommission;wir sind nicht von der SPD oder den Grünen benanntworden, sondern von Deutschland. Wir beide verstehenunsere Aufgabe so, daß wir in unserem Heimat-land wichtige Gesprächspartner für alle politischenKräfte sein müssen. Ich biete Ihnen ausdrücklich undaufrichtig an – das tue ich, weil ich auch Ihre Hilfebei dieser schwierigen Aufgabe brauche –, Sie infor-miert zu halten und Ihnen zur Verfügung zu stehen,wann immer Sie das für notwendig halten. Wir werdensicher auch Meinungsverschiedenheiten haben, aber ichbin fest davon überzeugt, daß wir, was das große Zielangeht, auch eine weitreichende Gemeinsamkeit entwik-keln können.Ich möchte allen denjenigen danken, mit denen ich invielen Jahren meiner Mitgliedschaft im Deutschen Bun-destag zusammenarbeiten durfte, und möchte mich beidenjenigen entschuldigen, die ich verletzt haben sollte.Es war nur in den wenigsten Fällen Absicht.
Ich will das wirklich so sagen.Ich wünsche Ihnen, meine lieben Kolleginnen undKollegen, hier in diesem so unglaublich symbolträchti-gen Haus eine allzeit glückliche Hand für unser Landund für Europa.
Günter Verheugen
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4886 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Herr
Verheugen, ich darf Ihnen im Namen des Hauses für die
langjährige gute Zusammenarbeit vielmals danken. Da-
bei meine ich sowohl die Zusammenarbeit mit Ihnen, als
Sie Abgeordneter waren, als auch die Zusammenarbeit,
als Sie auf der Regierungsbank saßen. Ich wünsche Ih-
nen für die wichtige Aufgabe, die Sie in Europa über-
nommen haben, viel Erfolg, eine glückliche Hand und
gutes Gelingen.
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Werner
Hoyer von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie auch mir, miteiner persönlichen Bemerkung zu beginnen. Es trifftsich nun einmal, daß sich die Wege des Kollegen Ver-heugen und meine Wege in den letzten 25 Jahren mitvorhersagbarer Regelmäßigkeit gekreuzt haben. Ich hof-fe übrigens, daß das auch weiterhin so bleiben wird. Dashat an der Basis der Partei begonnen, der wir damalsgemeinsam angehört haben; das hat sich im Parlamentund in den Ämtern des Bundesgeschäftsführers bzw. desGeneralsekretärs fortgesetzt. Nunmehr haben Sie dasAmt, das Sie mir vor einem Jahr abgenommen haben,schon wieder abgegeben. Ich setze voraus, daß wir die-sen gemeinsamen Kurs fortsetzen werden.
Ich habe das, was der Kollege Verheugen gesagt hat,als Ausdruck eines großen europapolitischen Grund-konsenses in diesem Hause verstanden und kann demdeswegen auch zustimmen. Es würde aber wahrschein-lich sehr langweilig werden, wenn ich jetzt noch einmalausführlich bekräftigen würde, in wie vielen Punktenwir Gott sei Dank in diesem Hause eine Übereinstim-mung in europapolitischen Angelegenheiten haben.Deswegen werde ich mich etwas mehr auf den Haushaltkonzentrieren, als das nach diesen eindrucksvollen Aus-führungen eigentlich zu erwarten wäre.Alle Welt spricht von Globalisierung; nur Deutsch-land wird provinzieller. Alle Welt spricht von globalerWahrnehmung der Interessen und der Verantwortung,von zeitverzugsloser Informationsübermittlung und vonder Durchdringung aller Lebensbereiche durch in Echt-zeit zur Verfügung stehende Informationen. Diese Bun-desregierung wählt mehr und mehr die Binnenorientie-rung und streicht ihre Auslandsetats weiter zusammen.Deutschland wird provinzieller. Das gilt zumindest fürdie Politik, bisher – Gott sei Dank – sehr viel wenigerfür die Wirtschaft und noch sehr viel weniger für dieKultur. Für die Politik gilt es allemal.Wenn der Bundeshaushaltsplan – so hätte ich es frü-her meinen Studenten gesagt – das in ein Zahlwerk ge-gossene politische Programm der Bundesregierung fürdas nächste Jahr ist, dann fällt auf, daß alles das, was mitder finanziellen Absicherung deutscher Aufgabenund Interessen in der Welt verbunden ist, leidet. Alszweitwichtigste Handelsnation der Welt, als drittgrößterBeitragszahler der Vereinten Nationen, als größtes Mit-gliedsland der Europäischen Union und als ein beson-ders wichtiger Geber von Entwicklungshilfe kann essich Deutschland in einer globalisierten Welt nicht lei-sten, sich auf Grund kurz- bis mittelfristiger haushalts-politischer Erwägungen von weltweiten Aufgaben zuverabschieden und – nebenbei bemerkt – in der Wahr-nehmung seiner Interessen weit hinter vergleichbarenPartnern wie Großbritannien und Frankreich zurückzu-fallen. Der Haushalt spricht hier eine deutliche Sprache.Die beabsichtigten ersatzlosen Schließungen von 20Botschaften, Generalkonsulaten und Außenstellenstehen im eklatanten Gegensatz zu der von der Bundes-regierung zu Recht betonten wachsenden VerantwortungDeutschlands.
Dies führt zu erheblichen Substanzverlusten bei derWahrnehmung deutscher Interessen. Anstatt die ohnehinim internationalen Vergleich eher bescheidene Präsenzdeutscher Vertretungen auf anderen Kontinenten zuwahren, wird über die Neuorientierung der Botschaftenund Konsulate innerhalb der Europäischen Union undüber die Intensivierung der Zusammenarbeit der EU-Staaten in Drittländern erst ansatzweise diskutiert.
Ein weiteres Beispiel. Der Bundesminister der Ver-teidigung opfert auf dem Altar seiner Kanzlerambitionenjegliche Gestaltungsspielräume der Bundeswehr. Seinehaushaltspolitischen Durchhalteparolen – wie letzte Wo-che vor der Führungsakademie der Bundeswehr oderbeim Bundeswehrverband – entbehren mittlerweile jederGlaubwürdigkeit. Nicht die guten Absichten zählen,Herr Kollege Scharping, sondern vorzeigbare Ergebnis-se. In dieser Hinsicht befinden Sie sich seit einiger Zeitauf der Verliererstraße.
Dies hat nicht nur schwerwiegende Konsequenzen fürdie Rolle Deutschlands im Bündnis, Herr Kollege Ver-heugen, sondern auch für den Versuch, eine mitgestal-tende Rolle bei der Entwicklung einer sicherheits- undverteidigungspolitischen Dimension der Europäi-schen Union und bei der Entwicklung einer ebenso res-sourcen- wie interessenwahrenden europäischen Rü-stungszusammenarbeit zu spielen.Ein weiterer Punkt. Hinsichtlich der Entwicklungs-zusammenarbeit ist die neue Bundesregierung wirklichwie ein Tiger gestartet, um schließlich als Bettvorlegerzu landen. Von einer entwicklungspolitischen Offensivedieser Bundesregierung ist nichts zu spüren. Wo bleibtschließlich die angekündigte Offensive in der Men-schenrechtspolitik? Von ihr ist nichts zu sehen.
Angesichts der Sparzwänge ist dies alles erklärbar. Esist erklärbar durch die brave Kabinettsdisziplin, die ne-ben Herrn Scharping und Frau Wieczorek-Zeul auch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4887
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Herr Fischer glaubt wahren zu sollen oder zu müssen.Das wird den Bundeskanzler und den Finanzminister er-freuen, spricht aber nicht für einen konzeptionellenPolitikansatz.Das gilt insgesamt für die Rasenmähermethode, diedie Koalitionsmehrheit nunmehr im Haushaltsausschußoffenbar weiter anwenden will. Es ist einfach nicht rich-tig und sachgerecht, mit dem Rasenmäher über die Ein-zelpläne hinwegzugehen und dabei auf das Setzen vonPrioritäten und natürlich auch von Posterioritäten zuverzichten. Deutschlands internationale Politik- undBündnisfähigkeit, unsere Interessenwahrnehmung unddas offensive Annehmen der Herausforderung der Glo-balisierung zählen zu den Prioritäten, die hier gröblichstvernachlässigt werden.Übrigens, Herr Minister Fischer, das Selbstmitleideines gebeutelten Außenministers über seinen gestutztenEtat reicht da nicht aus. Hier liegt vielmehr ein funda-mentaler Webfehler in der Haushaltspolitik dieser Ko-alition vor, der es nicht erlaubt, Prioritäten bei den Etatszu setzen und damit auch politische Prioritäten zu set-zen.Bezüglich der auswärtigen Kulturpolitik richtensich meine Bedenken gar nicht in erster Linie gegen dieSchließung von Goethe-Instituten. Das, was hier auf unszukommen könnte, ist schlimm genug. Aber auch dieGoethe-Institute haben keinen Alleinvertretungsan-spruch auf auswärtige Kulturpolitik. Sie haben nur diebessere Lobby. Sorgen macht ebenso das, was dort statt-findet, wo die Wissenschaftleraustausche und die Stu-dentenaustausche organisiert werden. Das Gefährlichste,was droht, spielt sich gegenwärtig auf dem Gebiet derAuslandsschulen ab. Die jetzt anstehenden Kürzungenkönnten die eine oder andere Auslandsschule über dieRampe kippen. Was noch gravierender ist: Die Aus-landsschulen drohen einen weiteren Qualitätsverlust inder pädagogischen Leistungsfähigkeit zu erleiden.Die Kultusministerkonferenz hat, von der Öffentlich-keit bisher leider weitgehend unbemerkt, zu Beginn derSommerpause ausdrücklich darauf hingewiesen, daß dieAnerkennung der Reifeprüfung an verschiedenen Aus-landsschulen, darunter die in Lagos, Montreal, Genf,London und Brüssel, gefährdet ist. Welch groteske Vor-stellung: ein deutsches Gymnasium in Brüssel ohne inDeutschland anerkannte Reifeprüfung.Ein funktionierendes System qualitativ hochwertigerdeutscher Auslandsschulen ist nicht nur eine kulturpoli-tische Notwendigkeit. Es ist auch eine wichtige Voraus-setzung für die Entsendung deutschen Personals in Un-ternehmen, Hochschulen, Redaktionen, diplomatischeVertretungen und viele andere Einrichtungen. Es ist erstrecht eine Brücke zu den Eliten der Gastländer und zuden Kindern dieser Eliten. Die Geschichte der deutschenAuslandsschulen in den letzten zwanzig Jahren ist eineErfolgsgeschichte gewesen. Lassen wir bitte nicht zu,daß diese Erfolgsgeschichte jetzt zerstört wird.
Wir werden im Haushaltsverfahren nicht zuletzt überdie Personalsituation im Auswärtigen Dienst redenmüssen. Wir haben bereits im Haushaltsverfahren fürden Etat 1999 darauf hingewiesen: Der AuswärtigeDienst verträgt keine weiteren Kürzungen mehr, erstrecht nicht dort, wo in den Rechts- und Konsularabtei-lungen der deutschen Auslandsvertretungen die Über-lastquote weit erfüllt ist und wo diese vorgeschobenenPosten innerer Sicherheit im Ausland mit der Arbeitslastnicht mehr fertig werden können. Wir werden erneut denAntrag stellen, die Rechts- und Konsularabteilungen derAuslandsvertretungen aus den pauschalen weiterenStellenkürzungen herauszunehmen.Es ist bewundernswert, daß angesichts der geschil-derten Lage die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter desAuswärtigen Amtes im In- und Ausland noch immer inso beachtlichem Maße zu motivieren sind. Ihnen ist fürihre großartige Leistung zu danken.
Herr
Kollege Hoyer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Brecht?
Beim Kollegen Brecht
immer.
Herr Kollege Hoyer,
jetzt passiert genau das, was der Finanzminister bei der
Einbringung des Haushaltes prophezeit hat: Die F.D.P.
bejubelt auf der einen Seite den Sparwillen der neuen
Bundesregierung, und auf der anderen Seite zählen Sie
jetzt Punkt für Punkt das auf, was im Prinzip nicht ak-
zeptabel ist. Gleichzeitig machen Sie keine Gegenvor-
schläge zur Finanzierung. Sind Sie in der Lage, solche
Vorschläge zu unterbreiten?
Ich bin dazu in der La-ge, und wir werden die Angelegenheit im Haushaltsver-fahren noch vertiefen. Ich sage Ihnen nur: Ich habe ebenvon dem grundsätzlichen Webfehler dieser Koalition inder Haushaltspolitik gesprochen, der darin besteht, daßder Rasenmäher zum Prinzip erklärt worden ist. Wennman dann sieht, daß dort, wo besondere Initiative fälligwäre, nämlich überall da, wo es um Internationalisie-rung, Dynamisierung, Flexibilisierung und Qualifizie-rung geht, gekürzt wird, dann zeigt das, daß man aufdem falschen Dampfer ist; zumal man andererseits allesdas, was strukturkonservierend ist – vom Kohleetat biszum Riester-Etat –, so läßt, wie es ist. Das ist der Web-fehler dieser Koalition in der Haushaltspolitik.
Ich hoffe übrigens, daß niemand auf die Idee kommt,an das Thema der Besteuerung der Auslandszulage er-neut heranzugehen. Die Geräusche, die ich in diesemZusammenhang in den letzten Tagen höre, beunruhigenmich sehr. Das Gesetz über den Auswärtigen Dienst istDr. Werner Hoyer
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eine der wichtigsten und im Parlament breit getragenenGrundlagen für die hohe Leistungsfähigkeit und für dieLeistungsbereitschaft des Auswärtigen Dienstes. DerGesetzgeber hat noch längst nicht alles eingelöst, was erdamals versprochen hatte. Auch im Hinblick auf diePersonalreserve finde ich wieder nichts im Etat. Um sowichtiger ist es, Vertrauen nicht noch weiter zu enttäu-schen, indem diese unselige Neiddiskussion über Aus-landszulagen erneut vom Zaun gebrochen wird.
Ich möchte ein paar kurze Worte zur Europapolitiksagen. In der Europapolitik, deren Grundsätze wir heutenicht mehr lange diskutieren können, sehen wir mit derBenennung der neuen Kommission die Chance füreinen Neubeginn. Ich gratuliere Romano Prodi und sei-nem Team. Ich wünsche viel Glück. Das gilt selbstver-ständlich ganz besonders Ihnen, Herr Verheugen. Siehaben eine der herausforderndsten Aufgaben übernom-men. Wenn sie gut wahrgenommen wird, dann liegt dasvoll im deutschen Interesse.Ich habe ein bißchen die Sorge, daß Sie angesichtsdes schmalen Schnittes Ihres unmittelbaren Ressorts inaußerordentlich starkem Maße auf die Kooperationsbe-reitschaft Ihrer Kommissionskollegen angewiesen seinwerden. Jedenfalls können Sie sicher sein, daß wir IhreAufgabe und Ihre Arbeit mit großer Sympathie verfol-gen werden.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hatdurch die Art und Weise, wie sie in Brüssel deutscheInteressen lautstark angemeldet, sodann mit der Brech-stange betrieben und am Ende noch nicht einmal voll-ständig umgesetzt hat, erheblich an Ansehen und Ein-fluß verloren. Ein besonders handfestes Beispiel hierfürist, wie der Bundeskanzler Herrn Hombach durchge-setzt hat, wobei ich gar nicht auf die innenpolitischenKomplikationen, sondern ausschließlich auf das ThemaKosovo zu sprechen kommen möchte.Unsere Soldaten haben dort eine hervorragende Ar-beit geleistet und tun dies weiterhin. Aber dieser Einsatzund nicht zuletzt das zu tragende Risiko haben nur danneinen Sinn, wenn es gelingt, die Menschen unterschied-licher Ethnien und Religionen im Kosovo in die Lage zuversetzen, auf Dauer friedlich nebeneinander und mit-einander zu leben. Es reicht nicht aus, das Ergebnis eth-nischer Säuberungen der einen oder der anderen Art an-schließend nur militärisch abzusichern. Das war nichtdie Logik unserer Beschlüsse und der lautstarken mora-lischen Entrüstung, als es darum ging, gegen Völker-mord, Vergewaltigung, Vertreibung und ethnische Säu-berung vorzugehen.Dann aber muß im Kosovo auch erheblich wirksamerund koordinierter geholfen werden. Das ist das Ärgernisim Zusammenhang mit dem Fall Hombach: Die Not-wendigkeit, Herrn Hombach so rasch wie möglich aufeinen internationalen Posten wegzuloben und dabei diekleinen Mitgliedstaaten gleich reihenweise vor den Kopfzu stoßen, hat im Gegendruck nämlich dazu geführt, daßGriechenland eine völlig unsinnige Standortentschei-dung für die entsprechende EU-Agentur durchgesetzthat. Die Ansiedlung dieser Agentur in Thessaloniki beiPräsenz des Koordinators in Brüssel führt zu absolut un-sinnigen Abläufen, unverantwortlichem Zeitverlust und,wie ich fürchte, schlimmen Ergebnissen – es sei denn,die Kommission nimmt sich dieses Themas an. Ich ver-mute, daß sie es sehr kraftvoll tun wird. Aber das heißtdann konkret, daß sie auf Grund der Tatsache, überMittel zu verfügen, und ihrer Fähigkeit, wirksame Hilfezu leisten, den Sonderbeauftragten Hombach am ausge-streckten Arm aus dem Fenster halten und verhungernlassen wird.
In diesem Fall kann man aber diese Sonderagentur undden Sonderbeauftragten gleich ganz vergessen.Noch schwieriger ist es und wird es wohl noch langebleiben, den Aufbau einer friedlichen und freiheitlichenBürgergesellschaft mit klarer rechtsstaatlicher und de-mokratischer Prägung zu fördern. Hier liegt ein riesigesBetätigungsfeld, übrigens auch für die politischen Stif-tungen und NGOs. Ich hoffe, daß wir das berücksichti-gen werden, wenn wir an die für diese Organisationenrelevanten Kapitel und Titel herangehen. Funktionierenwird der Aufbau einer Zivilgesellschaft aber nur dann,wenn dies nicht nur unter militärischem Schirm ge-schieht, sondern wenn auch durch eine robuste interna-tionale Polizeipräsenz Sicherheit gewährleistet wirdund darüber hinaus ein Beitrag zum Aufbau einer aufrechtsstaatliche Prinzipien verpflichteten Polizei gelei-stet wird.An dieser Stelle halte ich das, Herr Minister, was dieVereinten Nationen gegenwärtig leisten, für alles ande-re als überzeugend. Ich zweifele auch daran, daß sichdas ändern wird, solange es in New York wichtiger ist,einen möglichst hochrangigen Polizeioffizier aus ir-gendeinem fernen Lande auf einer wichtigen Positionunterzubringen, als die Bereitschaft zu fördern, hand-lungsfähige und mit der notwendigen Führungs-, Steue-rungs- und Kommunikationsstruktur ausgestattete poli-zeiliche Einheiten und Verbände bereitzustellen. Ich wä-re Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das berücksichtigten,wenn Sie in der nächsten Woche in New York auch überdieses Thema sprechen. Oder wird dieses Thema mögli-cherweise gar nicht mehr eine so große Bedeutung ha-ben, wenn es aus deutschem Munde artikuliert wird,weil wir im Hinblick auf unsere Haltung zum Multilate-ralismus, zur Globalisierung und zur Verantwortung derVereinten Nationen an Glaubwürdigkeit verlieren? ImKoalitionsvertrag heißt es, es gelte, die Vereinten Natio-nen „politisch und finanziell zu stärken“. Mit der Ent-scheidung, die Restschuld aus der DDR-Altlast bei Uni-fil, einer der wichtigsten und gefährlichsten Friedens-missionen der Vereinten Nationen, nicht in den vorgese-henen Raten abzutragen, geben wir das falsche Signal.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freuemich, daß es gelungen ist, zu Osttimor einen gemein-samen Antrag zustande zu bringen. Bisher hat sich beidiesem Thema noch niemand mit Ruhm bekleckert: In-donesien nicht, diejenigen nicht, die Indonesien und dieOsttimoresen in das Referendum hineingetrieben haben,um sie anschließend im Stich zu lassen, auch diejenigenDr. Werner Hoyer
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nicht, die vor 25 Jahren dieses Land nach jahrhunderte-langer Ausbeutung Knall auf Fall verlassen und ohnetragfähige politische und wirtschaftliche Strukturen imStich gelassen haben. Die Vereinten Nationen haben dasReferendum gewollt. Sie müssen nun auch die Achtungdes Ergebnisses dieses Referendums durchsetzen.Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang
Gehrcke von der PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Daß die Fraktion der PDSdem Haushalt des Auswärtigen Amtes auch nach denEinzelberatungen nicht zustimmen wird, wird keinenüberraschen. Wir stehen zur Außenpolitik der Bundesre-gierung grundsätzlich in Opposition, denn für demokra-tische Sozialistinnen und Sozialisten ist und bleibt Au-ßenpolitik Friedenspolitik. Sie ist zivil bzw. soll zivilsein. Mein Eindruck hingegen ist, daß die Bundesregie-rung auch in der Außenpolitik mehr und mehr auf mili-tärische Stärke setzt.Außen- und Militärpolitik dieser Regierung sindmittlerweile derart ineinander verzahnt, daß sie sichgegenseitig bedingen. Wir werden vielleicht in dennächsten Jahren hier im Parlament ein Rationali-sierungsverfahren einführen können mit dem Ziel, auchdie Haushalte dieser beiden Bereiche gemeinsam zu be-raten.Ich möchte in diesem Zusammenhang den Verteidi-gungsminister zitieren. Rudolf Scharping führte in der„FAZ“ vom 9. September 1999 aus:Die politische Führung unseres Landes muss ge-meinsam entscheiden, was aufzuwenden ist, umdem außenpolitischen Gestaltungsanspruch derBundesregierung durch Bereitstellung angemesse-ner militärischer Mittel Geltung zu verschaffen. Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen. Derdeutschen Außenpolitik wird mit militärischen MittelnGeltung verschafft. Diese Logik führt in die Teilhabe anmilitärischen Aktionen. Einem solchen Verständnis vonAußenpolitik werden wir demokratische Sozialistinnenund Sozialisten nicht zustimmen. Der Bundesaußenminister warf in der „FrankfurterRundschau“ vom 10. Juli 1999 die Frage auf, welchezentrale Lehre die Außenpolitik aus dem Kosovo-Konflikt ziehen könne. Ich war sehr gespannt auf seineAusführungen dazu. Der Kern seiner Antwort in der„Frankfurter Rundschau“ – man erfährt in Interviewsoftmals mehr als hier im Parlament – lautete – ich zitiereHerrn Fischer –:… daß wir keine Begrenzung unserer Verantwor-tung mehr haben, sondern in voller Verantwortungstehen.Und weiter:Volle Verantwortung heißt auch volle militärischeVerantwortung.Beide Leitsätze sind aus meiner Sicht politisch, rechtlichund moralisch falsch. Die deutsche Beteiligung amKrieg gegen Jugoslawien, der Bruch mit dem Konsensder Nachkriegszeit, daß vom deutschen Boden nie wie-der Krieg ausgehen dürfe, war aus meiner Sicht der Ru-bikon, den die rotgrüne Bundesregierung überschrittenhat.Was der Bundesaußenminister hier zum Kosovo aus-geführt hat – ungeachtet aller Schwierigkeiten sei manauf dem Weg zu einer kosovarischen Demokratie –,spiegelt nicht das wider, was im Kosovo tatsächlich ab-läuft und jeden Tag in den Medien zu lesen ist, nämlichdaß eine ethnische Säuberung durch eine andere ersetztworden ist, daß das, was in der Resolution der UNOsteht, daß die territoriale Integrität Jugoslawiens nichtangetastet wird, in der Praxis nicht mehr stattfindet.Ich fand auch sehr interessant, wie der Bundesau-ßenminister zur Türkei argumentiert hat, wie er vor derIsolierung eines Landes gewarnt hat, wie er dafür plä-diert hat, keine politischen Vorbedingungen zu stellenund keine Grundsätze aufrechtzuerhalten, sondern zuversuchen, dieses Land über Argumentation, über Zu-sammenarbeit nach Europa zu holen, um damit Stabilitätherbeizuführen. Ich frage mich aber: Warum soll das,wenn es für die Türkei gilt, nicht auch für Serbien gel-ten? Wer Serbien aus dem Wiederaufbau ausgliedert,riskiert, daß Stabilität auf dem Balkan nicht einzieht. Erriskiert, daß nationale Konflikte weiter zugespitzt wer-den, und fördert aus meiner Sicht Nationalismus.
– Die verschiedenen türkischen Regierungschefs, Kolle-ge Fischer, waren keine sehr sympathischen Figuren.
Es gibt eine bohrende Frage, die der Philosoph ErnstBloch einst den Sozialistinnen und Sozialisten und denKommunistinnen und Kommunisten gestellt hat, diemich nie losgelassen hat, die mich immer wieder be-schäftigt hat und, ehrlich gesagt, auch quält. Auf dieFeststellung, daß der Stalinismus den Sozialismus tief-gehend verändert habe, warf Ernst Bloch nach kurzerÜberlegung die Frage auf: verändert zur Unkenntlichkeitoder verändert zur Kenntlichkeit? Ich glaube, es dürftenicht in Frage stehen, daß der Kosovo-Krieg die rotgrü-ne Außenpolitik tiefgreifend verändert hat. Ich selberfrage mich: verändert zur Kenntlichkeit oder verändertzur Unkenntlichkeit?Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir scheint, daßsich die Bundesregierung für ihre Außenpolitik folgen-den Werbeslogan einer Autofirma ausgeliehen hat:„Nichts ist unmöglich“. Das ist angesichts der bekanntenAutofreundlichkeit der Regierung und ihres Mangels anDr. Werner Hoyer
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überzeugenden Lösungen verständlich. Aber genau die-ses „Nichts ist unmöglich“ signalisiert, daß es keine Be-grenzungen mehr gibt, und macht die deutsche Außen-politik unberechenbar. Die Außenpolitik dieser Regie-rung hat doch nichts mehr mit dem zu tun, was SPD undGrüne ihren Mitgliedern programmatisch versprochenhaben. – Ich habe mir noch einmal das Berliner Pro-gramm der SPD durchgelesen. Ich kann sehr gut verste-hen, warum man gerade dieses Berliner Programm inseinen außenpolitischen Teilen schnellstens verändernwill. Sie hat auch nichts mehr mit dem zu tun, was SPDund Grüne ihren Wählern im Wahlprogramm verspro-chen haben. Mehr noch: Über den Text der Koalitions-verhandlungen heißt es nun, er sei keine Bibel. Dafürhaben wir ihn auch nicht gehalten.Entscheidend für mich ist aber, daß mit der deutschenKriegsteilhabe internationale Verträge gebrochen wur-den und gegen Völkerrecht und Verfassung gehandeltwurde. Für den Außenminister ist mit der deutschenKriegsteilhabe die Nachkriegszeit – so war zu lesen –zu Ende gegangen, und nun nimmt Deutschland einenneuen, militärisch definierten Platz ohne Beschränkun-gen in der Welt ein. Eines ist daran richtig: Die Nach-kriegszeit ist vorbei. Aber nicht die Teilhabe am Koso-vo-Krieg, sondern der Zwei-plus-Vier-Vertrag als fakti-scher Friedensvertrag begründet das Ende der Nach-kriegszeit. In jenem Zwei-plus-Vier-Vertrag ist in Über-einstimmung mit dem Grundgesetz festgehalten, was dieSiegermächte von Deutschland erwarteten, um trotz ih-rer Bedenken der deutschen Einheit zuzustimmen. Eshandelt sich um Beschränkungen und Selbstbeschrän-kungen, die Begrenzungen darstellen, die gewahrt wer-den müssen. In diesem Zwei-plus-Vier-Vertrag heißt es,daß das vereinigte Deutschland keine seiner Waffenjemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstim-mung mit seiner Verfassung und der Charta derVereinten Nationen.Dies war hier eben nicht der Fall. Zu den Beschränkun-gen gehört auch der Verzicht auf ABC-Waffen sowiedas Verbot der Teilhabe an und der Vorbereitung vonAngriffskriegen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, vom Kanzler warnun zu hören – er äußert sich ja hin und wieder auch zurAußenpolitik –, es gebe keine linke oder rechte Außen-politik, es gebe nur deutsche Außenpolitik im Sinne vonInteressenpolitik. Mir gruselt es immer, wenn man keineParteien kennt, sondern nur noch Deutsche. Das mag ichnicht so gerne
Ich meinerseits bestehe auf der Unterscheidung von lin-ker und rechter Politik. Ich sehe einen Unterschied zwi-schen einer zivilen Außenpolitik und einer mit Militär-dominanz. Diese Unterschiede möchte ich nicht ver-wischt sehen.Außenpolitik muß sich aus Sicht meiner Fraktionwieder in einem völkerrechtlichen Rahmen bewegen.Die Bundesregierung müßte sich wieder zum aus-schließlichen Gewaltmonopol des UN-Sicherheitsratesbekennen. Wir halten es für dringend erforderlich, aufdem kommenden OSZE-Gipfel über eine europäischeSicherheitscharta zu diskutieren und diese zu verab-schieden, damit das Militärische abgebaut wird und stattdessen zivile Strukturen aufgebaut werden. Im Zusam-menhang mit Außenpolitik redet in diesem Hause jakaum einer über Abrüstung. Wir möchten aber, daß eswieder dazu kommt. In diesem Sinne muß die deutscheAußenpolitik berechenbar sein und müssen vertraglicheBeschränkungen und freiwillige Selbstbeschränkungendlich wieder beachtet werden.Ich will hier stichwortartig einige andere Problemebenennen, zum Beispiel die Türkei-Politik; damit hatteja unsere Diskussion begonnen. Ich nenne das Vorha-ben, in die Europäischen Union eine militärische Kom-ponente einzufügen, die deutsche Politik gegenüberRußland und das Herunterfahren der deutsch-französischen Kooperation – das kann ja nicht bestrittenwerden. So löst sich aus meiner Sicht deutsche Außen-politik aus gewachsenen Strukturen des Vertrauens undder Verläßlichkeit. Im übrigen würden Abrüstung und Verzicht auf mi-litärische Abenteuer auch eine finanzielle Umgestal-tung des Haushaltes möglich machen. Mit diesemHaushalt zahlen Sie den finanziellen Preis für den ge-führten Krieg und für Ihre Unwilligkeit, auf militärischeGroßprojekte wie den Eurofighter zu verzichten. Daswäre möglich. So aber zahlen Sie auch dafür einen Preis,weil Sparalternativen nur noch aus der Überlegung be-stehen, ob man diese oder jene Botschaft oder diesesoder jenes Goethe-Institut schließt. Denn an die heiligenKühe der Aufrüstung, die man für die selber konzipierteAußenpolitik braucht, will man nicht herangehen.Lassen Sie mich zum Schluß ein paar knappe Bemer-kungen zu dem vorliegenden Antrag zu Osttimor undzu unserer Debatte dazu machen. Wir alle waren ent-setzt, wie das indonesische Militär und die paramilitäri-schen Milizen als Antwort auf den freien Willen in derBevölkerung Osttimors versuchten, diesen Willen durchMord und Vertreibung zu ersticken. Ich gebe zu, meineSorgen waren groß, daß die UNO den aus ihrem Enga-gement für die Volksabstimmung erwachsenen Ver-pflichtungen nicht gerecht werden würde. Dies wäre fürdie UNO, für die Weltgemeinschaft, aber auch für dasVolk in Osttimor verhängnisvoll.Aber wir werden, wenn wir uns nicht dem Vorwurfder Heuchelei aussetzen wollen, nicht über unsere Soli-darität mit dem Volk von Osttimor reden und zugleichüber deutsche Mitverantwortung schweigen können.Dazu jedoch schweigt der vorliegende Antrag völlig.Deutschland war einer der engsten Partner Indonesiens.Deutschland hat Suharto ge- und unterstützt und Freund-schaft mit diesem Mann gepflegt, an dessen Machtbe-ginn ein Militärputsch mit hunderttausendfachem Mordstand. Ich meine, Menschenrechte dürfen nicht taktisch,nicht nach politischer Opportunität ausgelegt und ge-handhabt werden.
– Sie werden ja gleich sehen, wie ich abstimme. – Des-wegen gehört in diesen Antrag ein selbstkritischer SatzWolfgang Gehrcke
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zur deutschen Außenpolitik hinein, und zwar in der not-wendigen Klarheit.Wir haben uns im übrigen beim Kosovo immer fürdie UNO ausgesprochen; das haben Sie erlebt.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Gernot Erler
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Der Kollege Günter Verheugen– wir haben es vorhin gehört – hat heute vorerst seineletzte Rede vor diesem Hohen Haus gehalten. Er ist seit16 Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages. Ichmöchte diese Gelegenheit nutzen, um ihm im Namen dergesamten SPD-Bundestagsfraktion und, so hoffe ich,auch anderer Kollegen herzlichen Dank zu sagen fürdiese 16 Jahre,
aber auch für die elf Monate, die er der Bundesregierungals Staatsminister gedient hat, in denen er vor allem diegroßen Aufgaben der deutschen Ratspräsidentschaftmitgestaltet hat.Ich meine, er hat bei der Anhörung vor dem Europäi-schen Parlament auf die Kritik an seiner Nominierungdie richtige Antwort gegeben. Das hat übrigens auch dieKollegin Michaele Schreyer getan. Er war im Umgangmit dieser Kritik sehr großzügig. Mein Eindruck ist, daßdie parteipolitischen Angriffe auf diese Nominierungnicht unbedingt überall in Europa auf Verständnis ge-stoßen sind und daß sie unserem Land nicht gedient ha-ben.
Das gilt im übrigen auch für die Tatsache, daß diezehn CSU-Abgeordneten im Europaparlament zusam-men mit den Nationalisten und den Kommunisten insge-samt der Ernennung der Kommission ihre Zustimmungverweigert haben.
Auf Günter Verheugen kommen mit dem Erweite-rungsprozeß jetzt große und wichtige Aufgaben zu. Dar-an knüpfen sich Erwartungen von Millionen von Men-schen in unseren Nachbarländern, in den Transformati-onsstaaten. Im Namen der SPD-Fraktion möchte ich dir zu dei-ner Ernennung ganz herzlich gratulieren. Ich möchte dirGlück und Erfolg wünschen und hoffe, daß wir weitergut zusammenarbeiten werden.
Meine Damen und Herren, im ersten Halbjahr 1999stand die Bundesregierung vor großen Herausforderun-gen, verbunden mit der dreifachen Präsidentschaft Euro-päische Union, WEU und G-8. Davon wird Bedeutungüber den Tag hinaus behalten, was bei der Agenda 2000herausgekommen ist. Hier sind sensible Finanzfragengeklärt worden, an denen nicht nur Familien, sondernauch Völkerfamilien erfahrungsgemäß leicht scheiternkönnen. Vor allem aber ist eine wichtige Voraussetzungfür die europäische Erweiterung gesichert worden. Eswäre fatal gewesen, wenn die westlichen Länder weiter-hin auf dem hohen Sitz des Schiedsrichters gesessen undimmer bewertet hätten, wie denn die Transformations-staaten bei der Erreichung des „acquis communautaire“,weiterkommen, aber ihre eigenen Hausaufgaben nichtgemacht hätten. Deswegen war es so wichtig, was mitder Agenda 2000 erreicht wurde. Hiermit wurde einStück Grundlage für Europas Zukunft gelegt, ein Stück-chen Fundament für das gemeinsame Haus Europa, andem wir noch viele Jahre bauen werden.
Welche Rückschläge es da geben kann, zeigten danndie Kosovokrise und die Tatsache, daß wir nach übereinem halben Jahrhundert in Europa die Rückkehr desKrieges erlebt haben. Wir alle, Bundesregierung undBundestag, waren – oft bis an unsere Grenzen – gefor-dert. Schwere Entscheidungen waren zu treffen. Es warhäufig nicht leicht, sie der Öffentlichkeit, den eigenenWählern oder auch den politischen Freunden und Weg-gefährten zu erklären.Daß es gelang, den Feldzug der serbischen Regie-rung gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung zu be-enden, ein Übergreifen des Krieges auf die Nachbar-regionen zu verhindern und die Rückkehr von bisheute mehr als 95 Prozent der Vertriebenen und Ge-flohenen in ihre Heimat sicherzustellen, das ist eingroßer Erfolg.
Er rechtfertigt im nachhinein die schwierigen Entschei-dungen, die nur wenige von uns ohne große Bedenkengetroffen haben.Aber Terror und Vertreibung haben im Kosovo nichtaufgehört. Das können und dürfen wir nicht hinnehmen.
Verantwortliche für die Verbrechen sollen und müssenzur Rechenschaft gezogen werden, und zwar nach Rechtund Gesetz und nicht durch Anwendung der gleichenMethoden, die uns zur Intervention gezwungen haben.
Rache – das wissen wir – ist blind. Die Mehrzahl derüber 200 000 Serben und Roma, die nach Ende desKrieges unter den Augen der internationalen Friedens-truppe fliehen mußten oder vertrieben wurden, sindschuld- und wehrlose Familien. Genauso wie die Mas-senvertreibung der Albaner aus dem Kosovo rückgängigWolfgang Gehrcke
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gemacht werden mußte, muß die jetzige Vertreibung derSerben und Roma rückgängig gemacht werden. Hier hatdie KFOR vor Ort, hier haben wir keine andere Wahl.
Jetzt möchte ich etwas zu dem von mir sehr ge-schätzten Kollegen Lamers sagen: Herr Lamers, ichschätze Ihre klugen Analysen immer sehr. Heute habeich jedoch von Ihnen keine Alternative zu unserer Poli-tik bzw. zu der der Bundesregierung gehört. Ich habe einbißchen bedauert, daß Sie die Prognose des Bundes-kanzlers erfüllt haben, der gesagt hat: Wir werden heuteerleben, daß immer wieder von falschen Prioritäten ge-sprochen wird. Bei jedem Bereich wird es heißen: Spa-ren ist zwar richtig, aber nicht gerade an diesem Punkt.Leider haben Sie sich – ich finde, Sie bleiben damit un-ter Ihrem Niveau – in die Reihe derjenigen, die diesePrognose erfüllt haben, eingereiht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Kosovo stehenuns große Anstrengungen bevor. Sie sind so lange nötig,bis dort nach dem Ende des Krieges ein echter Friedenund eine dauerhafte Stabilität begonnen haben. Dies be-deutet, daß wir uns in dieser Region auf eine lange Mis-sion und auch auf politische Auseinandersetzungen mitder albanischen Seite einrichten müssen. Wir müssen indieser gesamten Phase die Bundeswehr, die innerhalbder KFOR Hervorragendes und Verantwortungsvollesleistet, unterstützen.
Wir dürfen unsere politische Aufmerksamkeit von die-sem Problem – nur weil allmählich die politischenScheinwerfer der Öffentlichkeit ausgeknipst werden –nicht abwenden.Parallel dazu muß das große Werk des Wiederauf-baus des Kosovo geleistet werden. Dazu ist ein Sofort-programm in Höhe von mindestens 500 Millionen Euronötig. Insgesamt werden wahrscheinlich Kosten in Höhevon mehr als 2,5 Milliarden Euro entstehen. Das istmehr als die Hälfte von dem, was in den letzten vier Jah-ren zum Wiederaufbau in Bosnien seitens der internatio-nalen Gemeinschaft bereitgestellt worden ist.Dazu gehört auch, sehr aufmerksam mit der Gefahrumzugehen, daß jetzt durch das Streben Montenegros,sich von Jugoslawien unabhängig zu machen, eine neueKrise entstehen kann bzw. schon im Entstehen begriffenist. Hier darf die Prävention nicht erneut versagen.Hierzu gehört natürlich die große, ja gigantische Auf-gabe des Stabilitätspaktes. Es war gut, daß der deut-sche Außenminister diesen Vorschlag noch während desKrieges gemacht und auf den Weg gebracht hat. Dies istnach meiner Sicht das Konzept einer nachholenden Prä-vention. Noch besser wäre es gewesen, wenn wir vordem Entstehen dieser Krise einen Stabilitätspakt be-schlossen hätten. Der Stabilitätspakt ist keine politischeBeruhigungspille für die vom Krieg geschädigten Nach-barn, sondern ein politisches Konzept, das zum Erfolgverdammt ist.In diesem Zusammenhang muß ich den Rednern derOpposition sagen: Es ist völlig unangemessen, mit demStabilitätspakt so umzugehen, als gehe es nur um diePerson des Sonderkoordinators,
und das dann so zu gestalten, daß hier unbewieseneVorwürfe zitiert werden. Das ist völlig unangemessen.
Es gibt einen ganz nüchternen Grund, weshalb derStabilitätspakt zum Erfolg verurteilt ist: Sollte es in die-ser Region wieder zu einer Situation kommen, auf dieman nur noch mit einer militärischen Intervention ant-worten könnte, dann wären heute, nach den Dauerbela-stungen in Bosnien und Kosovo, viele europäischeStaaten, darunter die Bundesrepublik, schon aus techni-schen Gründen gar nicht in der Lage, dies erneut zu tun.Deswegen gibt es keine Alternative zu dem Erfolg die-ses Stabilitätspakts.Dabei werden wir uns von einigen Erkenntnissen lei-ten lassen müssen: daß der gesamte Raum der Trans-formationsstaaten Ost- und Südosteuropas zusammen-gehört; daß die sozialen und ökonomischen Abständenicht zu groß werden dürfen – heute ist der Abstandzwischen Albanien und Polen längst so groß wie derzwischen einem Entwicklungsland und einem hochent-wickelten Industrieland –; daß nichtdemokratische En-klaven in diesem Transformationsraum enorm destabili-sierend wirken können, weshalb wir sie nicht zulassendürfen.
Einiges ist schon auf den Weg gebracht: Es hat wich-tige Konferenzen gegeben; heute treffen sich in Brüssel30 Staaten zu einem runden Tisch zum Stabilitätspakt.Aber leider gibt es auch viele ungeklärte Fragen. ZumBeispiel gibt es unterschiedliche Erwartungen: Der We-sten setzt beim Stabilitätspakt sehr stark auf die Demo-kratisierung, auf die Bildung von Zivilgesellschaft; dieEmpfängerländer erwarten eher direkte wirtschaftlicheTransferleistungen, und sie erhoffen verbindlichere Per-spektiven für den Beitritt zur Europäischen Union undzur NATO. Ungeklärt ist die Finanzierung. Am Anfang hat manden Umfang des Stabilitätspakts auf bis zu 35 Milliar-den Dollar beziffert. Heute ist es etwas ruhiger gewor-den. Man hört von westlicher Seite, es gehe eher umHandelserleichterungen als um Transferleistungen. Da-bei sollen auch noch Umwidmungen zum Beispiel ausdem EU-Haushalt stattfinden, wo sie auch der Präventi-on dienen. Das ist gefährlich. Wenn man eine Bettdecke,die zu kurz ist, von dem einen Bein auf das andere zieht,friert eines.Ungeklärt ist auch noch das Verhältnis zu den beste-henden regionalen Kooperationsformen, die von untengewachsen sind, während der Stabilitätspakt im wesent-Gernot Erler
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lichen von außen kommt. Hier haben wir große Aufga-ben. In den nächsten Jahren wird uns das beschäftigen.Ich finde, wir als Abgeordnete müssen uns da einmi-schen. Wir müssen mitgestalten und auch die Parla-mente der Teilnehmerländer des Stabilitätspaktes einbe-ziehen. Wir können doch nicht von Demokratisierungund Zivilgesellschaft sprechen und dann das Ganze ohnedie betroffenen Parlamente machen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat daraus Konsequenzengezogen. Sie hat nämlich nicht nur eine Arbeitsgruppezur Begleitung des Stabilitätspaktes gebildet, sondernauch Abgeordnete aus allen betroffenen Ländern für den7. und 8. Oktober zu einer Konferenz über den Stabili-tätspakt in den Bundestag eingeladen. Meine Damen und Herren, die Neuordnung nachdem Krieg im Kosovo wird meines Erachtens auchAuswirkungen auf den Integrations- und Erweite-rungsprozeß der EU haben. Günter Verheugen hatgerade gesagt, das sei ein eminent politischer Prozeß.Aber in Luxemburg wurde er zunächst einmal ein biß-chen anders organisiert, nämlich als Wettbewerb, alsWettlauf mit quasi objektiven Beurteilungen, soge-nannten Screening-Berichten, die den Stand eines bei-trittswilligen Landes beim „acquis communautaire“widergeben sollen. Ich glaube, wir werden jetzt nochstärker als bisher eine Repolitisierung des Beitritts-prozesses erleben. Die Ängste der Spitzenreiter bei demWettlauf haben wir schon vernehmen können.Persönlich glaube ich, daß wir noch einmal überlegenmüssen, wie es mit der Ausgrenzung Jugoslawiens ausdem Stabilitätspakt weitergehen soll. Denn die Hoff-nung, daß das Angebot, dabeizusein, wenn ein politi-scher Wechsel kommt, wirken würde, hat bisher leidergetrogen. Wir dürfen den Fehler der Ausgrenzung aufDauer nicht ein zweites Mal machen. Das ist meine per-sönliche Meinung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema derstaatlichen Handlungsfähigkeit hat uns den ganzenTag über beschäftigt. In den ersten elf Monaten ihrerRegierungszeit hat sich die neue Bundesregierung beiden großen europäischen und internationalen Themenhandlungsfähig gezeigt. Nach dem Ende des Kosovo-Krieges sind die Aufgaben nur scheinbar weniger ge-worden. Wir brauchen Kraft- und Handlungsreservenauch materieller Art. Das wollte ich mit meinem Beitragaufzeigen, und das markiert auch den Zusammenhangzwischen den Aufgaben im internationalen Bereich unddem Kernthema dieser Haushaltsdebatte, der Konsoli-dierungsaufgabe.Dabei kann es nicht nur um unsere unmittelbare eu-ropäische Nachbarschaft gehen, wobei die Situation inSüdosteuropa besonders krisenhaft ist. Mit Sorge sehenwir, daß die Russische Föderation im Süden des Lan-des, in Dagestan, militärische Mittel einsetzen muß, umdie territoriale Integrität des Landes zu schützen. Nochviel schwerer erweist es sich, die Bevölkerung vor men-schenverachtenden Terroranschlägen, wie sie in denletzten Tagen stattgefunden haben, zu schützen. DieseAnschläge forderten schon 276 Todesopfer. Liebe Kol-leginnen und Kollegen, ich möchte diese Debatte nut-zen, um von diesem Hohen Haus aus, unser Mitgefühlund Mitleid mit den Angehörigen der Opfer zum Aus-druck zu bringen.
Ich möchte auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen,daß die russische Regierung die Kraft finden wird, mitdieser terroristischen Bedrohung fertig zu werden.Dagestan mag weit weg sein, Moskau ist es nicht. DieAkte brutaler Gewalt rücken näher an uns heran. BeimMitgefühl können wir es nicht belassen. Wir müssenauch helfen, damit politische und sicherheitspolitischeWege gefunden werden, die diese Gefahren eindämmen.Wenn die Russische Föderation den armen Regionen imSüden keine politischen und ökonomischen Perspektivenbieten kann – dazu braucht sie ökonomische Kraft –,dann wird sie auch mit dem Terrorismus nicht fertigwerden.Zu Osttimor werden noch weitere Redner sprechen.Deshalb nur soviel: Wo solche Gewalt ausbricht, habenPolitik und Prävention versagt. Auch Osttimor liegt nurscheinbar weit weg. Zu den kostspieligen Reaktionengibt es keine Alternativen.Die Anforderungen aus dem internationalen Bereichwerden wachsen, statt weniger zu werden. Wir habennicht die Möglichkeit und auch nicht das Recht, zu ant-worten, wir seien zu schlecht ausgerüstet oder zu arm,um auf diese Herausforderungen zu reagieren. Das istdie internationale Agenda hinter unserer heutigen Haus-haltsdebatte.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Christian
Schmidt, CDU/CSU.
Herr Präsi-dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Leider hat derAbgeordnete Verheugen den Raum schon verlassen, umdie Metamorphose zum Kommissar der EuropäischenUnion durchzuführen. Namens der CDU/CSU-Fraktionstehe ich jedoch nicht an, ihm als deutschem Kommissarin Europa – so hat er sich bezeichnet, und das ist auchrichtig –, als europäischem Kommissar aus Deutschlandalles Gute und viel Erfolg bei einer Aufgabe zu wün-schen, die für einen deutschen Kommissar nicht ganzeinfach ist. Ihm wird auch die Aufgabe zukommen, dar-zulegen, daß die Osterweiterung der Europäischen Uni-on kein deutsches Sonderinteresse ist.Gernot Erler
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4894 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Auf eine Bemerkung des Kollegen Erler eingehend,möchte ich sagen: Bekannterweise fand am 13. Juni dieEuropawahl statt. Da hat das Volk, wie es das in Wahlenzu tun pflegt, seine Meinung zum Ausdruck gebrachtund sie in Stimmen gegossen. Da hätte es natürlich nichtnur nahegelegen, es wäre auch konsequent gewesen, daßdie Gepflogenheit, die in allen anderen großen europäi-schen Mitgliedstaaten zu beobachten ist, daß nämlichjeweils ein Kommissar von den großen politischenKräften und Strömungen gestellt wird, auch inDeutschland Platz gegriffen hätte.
Das aber war nicht der Fall. Der Bundeskanzler hat zwargesagt, er habe verstanden. Doch in dieser Frage hat erwohl nicht verstanden. Es ist wohl auch das Recht derMehrheit im Europäischen Parlament, zu hinterfragen,zu diskutieren und dann selbstverständlich – bei der he-terogenen Struktur, die es nach wie vor im EuropäischenParlament gibt – so zu entscheiden, wie es entschiedenhat.
– Ihre Unruhe, Herr Bundesaußenminister, verstehe ichüberhaupt nicht. – Das wird aber nicht heißen, daß dieOpposition hier und die Mehrheitsfraktion im Europäi-schen Parlament der neuen Kommission – wie man dasvon anderen Fällen aus diesem Land kennt – etwa mitBlockadevorstellungen gegenübertritt. Nein, ganz imGegenteil. Wir haben gemeinsame Interessen.Ich will das noch einmal sagen: Die Person des Kol-legen Verheugen und die Funktion als Kommissar sindgetrennt zu sehen. Wir werden ihn selbstverständlich aufdas, was er uns angeboten hat, in Zukunft ansprechen.Ich wollte ihn bereits jetzt darauf hinweisen, daß er beider Osterweiterung darauf achten möge, daß trotz derProblematik nicht nur die Türkei in den Mittelpunkt derDiskussion gestellt wird.
Ich will nur ein Land herausgreifen, für das wir eben-falls politische Verantwortung tragen, wenn wir die eu-ropäische Integration als das verstehen, was sie ist,nämlich im Kern ein politischer Zusammenschluß Euro-pas – von dem Noch-Abgeordneten Verheugen nichtohne Grund mit großen Worten belegt – ein Land, beidem wir gemeinsam gegen die problematischen Tenden-zen politisch gekämpft und argumentiert haben. Ichmeine die Slowakei. Die Europäische Union hat demar-chiert. Nun hat sich dieses Land vor einem Jahr seiner pro-blematischen Führungsstruktur entledigt. Es hat einedemokratische, eine nach Europa orientierte Regierunggewählt,
die mit großem Aufwand all die Probleme – StichwortPrivatisierung etc. – beseitigen muß, die bisher nichtgelöst worden sind.Ich möchte die Gelegenheit nutzen, noch einmal dar-auf hinzuweisen: Wenn jetzt aus Wahlkampfgründen derSPÖ-Bundeskanzler Klima in Österreich anfängt, einKernkraftwerk und dessen Laufzeiten zur alleinigen Be-dingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungenmachen zu wollen – übrigens hört man von ähnlichenVerhaltensweisen gegenüber Slowenien –, darf ich denHerrn Bundesaußenminister und auch den neuen EU-Kommissar sehr nachhaltig darum bitten und von ihnenverlangen, daß sie sich in dieser Frage um die politischePerspektive kümmern. Herr Außenminister, bezüglichder Verlängerung von Laufzeiten von Kernkraftwerkenfragen Sie Ihren Kollegen Trittin. Er kann Ihnen viel-leicht Ratschläge geben, wie man solche Problemstel-lungen zukünftig durch Ausschweigen löst.
Nun zum Einzelplan 05 des Haushaltes, den wir hierzu beraten haben: Es ist in der Tat richtig, daß der Ein-zelplan 05 nicht derjenige ist, in dem die großen Spar-beiträge erbracht werden. Aber das kann nun nicht hei-ßen, daß man nach dem Motto „Hier stehe ich! Ich kannnicht anders!“ nicht über die Einzelposten diskutierendarf. Die Deckungsvorschläge müssen Sie, Herr Mini-ster, schon selbst erbringen. Dazu sind Sie in der Regie-rung; dazu sind Sie gewählt; dazu haben Sie Ihr Amt.
Bei der Schließung von 20 Ausländervertretungen –die übrigens nur 5 Prozent des Sparvolumens des Aus-wärtigen Amtes ausmachen –, ist im Einzelfall nach dempolitischen Schaden und nach den politischen Konse-quenzen zu fragen. Ich gestehe Ihnen zu, daß man beidieser Prüfung in dem einen oder anderen Fall durchaus– wenn auch mit Mühen – zu dem Ergebnis kommenkann: Es wird auch ohne gehen. Aber es gibt auch hier –ich will nur zwei herausgreifen – Vertretungen, derenSchließung erhebliche politische Konsequenzen mit sichbringen würden. Auf der Liste befinden sich unter ande-rem die Außenstelle Oppeln des GeneralkonsulatsBreslau in Polen sowie das Generalkonsulat Apenrade inDänemark.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Ich will dasaufgreifen, was Sie gerade mit Blick auf die Osterweite-rung der EU angeführt haben. Sie haben sich dabei aufdie Schwierigkeiten einiger Botschaften bezogen. In die-sem Zusammenhang möchte ich besonders das General-konsulat in Temeswar erwähnen. Für uns Schwaben istes ein großes Anliegen, daß man auch künftig mit derMinderheit der Donau-Schwaben, die sich dort in Ru-mänien befinden, angemessen umgeht. Ich glaube, gera-de dort müssen Prioritäten gesetzt werden.Können Sie die Meinung teilen, die Wolfgang Witt-stock – das ist der Vorsitzende des Demokratischen Fo-Christian Schmidt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4895
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rums, ein Kollege aus dem Parlament in Bukarest –darin zum Ausdruck gebracht hat, er glaube, daß dieBundesregierung in der Frage des Umgangs mit dendeutschen Minderheiten in Rumänien ein Signal setzenmüsse, um zu verdeutlichen, daß dies beim Beitritt dermittel- und osteuropäischen Länder, die in der zweitenReihe der Kandidaten stehen, eine Rolle spielen wird?
Dem stim-
me ich zu. Ich habe die beiden genannten Vertretungen
nur herausgegriffen, um beispielhaft die Themen anzu-
sprechen, die für Temeswar in ähnlicher Form gelten. –
Vielen Dank für diese Frage.
Das ist insofern wichtig, als auch dort deutsche Min-
derheiten betroffen sind. Die RK-Angelegenheiten in
Temeswar sind sehr umfangreich. Im Fall Temeswar
sollte man eigentlich über ein paar andere Dinge spre-
chen, Herr Minister, nämlich über die dortigen Verhält-
nisse im Generalkonsulat. Aber die Diskussion darüber
sollte an anderer Stelle fortgeführt werden. Die Proble-
me durch die Schließung des Generalkonsulats lösen zu
wollen ist etwas eigenartig.
Der Eindruck auf die Deutschen in diesen Regionen
ist schon ziemlich verheerend. Sie gewinnen den Ein-
druck, diese Bundesregierung wolle von ihnen nichts
mehr wissen, sie seien ihr egal. Dieser Eindruck kann
alle politisch Verantwortlichen in Deutschland nicht
kaltlassen.
Im übrigen: Mir ist nicht bekannt, daß das Königreich
Dänemark sein Generalkonsulat in Flensburg, welches
sich um die dänische Minderheit in Südschleswig küm-
mert, schließt. Warum schließen wir unsererseits das
Generalkonsulat Apenrade, das sich in Nordschleswig
um die deutsche Minderheit kümmern soll, wo man
doch gerade die deutsch-dänischen Grenzbeziehungen
und die dortigen Minderheitsregelungen als wegweisend
für ganz Europa ansieht?
Immer wieder ist die Rede davon, Botschaften der
EU-Staaten zusammenzulegen, was mit einem enormen
Einsparpotential verbunden ist. Sagen Sie uns doch ein-
mal, Herr Minister, wieso sich in dieser Richtung nichts
tut.
– Sie können es doch jetzt tun. Ich lese nichts von et-
waigen Absichten.
– Es geht natürlich nicht, daß Sie einen ganzen Tag lang
fragen, wo man denn noch sparen könne, und Ihnen
dann, wenn man eine Anregung gibt, das auch nicht
paßt. Dann müssen Sie diesen Vorwurf schon ertragen.
Zum Beispiel geht es auch um die Frage, wie das mit
den Standzeiten im Ausland ist. Junge Beamte des
auswärtigen Dienstes werden immer mehr zu einem
„Durchlauferhitzer“: Versetzungen auf Auslandsposten
nach zwei oder gar eineinhalb Jahren sind keine Selten-
heit. Durch eine Verlängerung der Standzeiten könnte
man – analog zu unseren wichtigsten europäischen Part-
nern – bei den Umzügen durchaus Millionen einsparen.
Warum beispielsweise in diesem Jahr viele, von einem
Auslandsposten kommend, noch nach Bonn versetzt
werden mußten, bevor ihr Dienstposten nach ein paar
Monaten nach Berlin umgesetzt wurde, ist ebenfalls eine
Frage, deren Antwort der Weisheit des Auswärtigen
Amtes überlassen bleiben muß. Jedenfalls ist das eine
unnötige Geldverschwendung gewesen.
Herr Minister, so ganz kann ich das nicht verstehen.
Ein bißchen geht anscheinend immer noch. Sonst könnte
es doch nicht sein, daß Egon Bahr auf einmal für sein
Friedensforschungsinstitut in Hamburg 400 000 DM be-
kommt, das bislang noch nicht gefördert wurde. Dafür
war Geld im Haushalt. Ein bißchen Luft ist anscheinend
also immer noch da. Vielleicht könnte man sogar noch
weitere Posten finden, für die das gleiche gilt. Ich bin
überzeugt, daß sich der Haushaltsausschuß noch einmal
mit diesen Fragen im Detail beschäftigen wird.
Wenn man liest, daß unsere Verpflichtungen in den
internationalen Organisationen, die in US-Dollar zu be-
zahlen sind, so eingestellt sind, daß der Dollar mit
1,68 DM bewertet ist, kann ich das nur so verstehen, daß
sich die Meinung des Bundeskanzlers, daß der Euro eine
kränkelnde Frühgeburt sei, langsam, aber sicher als
weitere Fehleinschätzung herausstellt. Aber ob die
D-Mark im nächsten Jahr bei 1,68 DM pro Dollar stehen
wird, wage ich zu bezweifeln. Beim Haushaltsvollzug
werden wir wohl noch einiges erleben und werden wir
wohl noch einiges einzusparen haben. Hoffentlich sehen
Sie das dann auch so.
Der Haushalt ist nicht rund. Vieles ist nicht ausdisku-
tiert. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die nicht sein
müssen, und es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die
nicht sein können. Schließlich gibt es Dinge, die mög-
lich sind, aber nicht gemacht werden. Das heißt, die
Bundesregierung muß sich diesen Haushalt noch einmal
sehr genau anschauen. In der vorliegenden Form werden
wir ihn jedenfalls nicht unterstützten können. Wir wer-
den in den nächsten Wochen genügend Gelegenheit ha-
ben, ihn im Detail zu diskutieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn eineFraktion einen hervorragenden Außenminister hat – undwir haben einen solchen –, dann bleibt für die Fraktioneben anschließend nur noch ein paar Minuten Redezeit.
Heinz Wiese
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4896 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Deshalb mit Ihrer gütigen Nachsicht, Frau Präsidentin,vier kurze Bemerkungen.Erstens. Herr Lamers, Sie kennen doch das Ankara-Abkommen von 1963. Sie wissen doch ganz genau, daßdie Türkei im Hinblick auf die Frage der Aufnahmever-handlungen in irgendeiner Weise gruppiert werdenmußte. In Ihrer Fraktion gab es erhebliche Bedenken ge-gen den Dreiervorschlag, bei uns auch; andere hattenweniger Bedenken. Es ist auch ganz klar, daß die Türkeidadurch isoliert wurde und daß wir dadurch eine massi-ve Krise im Verhältnis zwischen der EU und der Türkeibekamen. Aber daß diese Krise in einem Moment über-wunden wurde, in dem man das Kurdenproblem ange-hen mußte, ist eine sehr gute außenpolitische Leistung.Das sollten wir so sehen.
Natürlich ist das riskant, aber es bietet auch Chancen.Sehen Sie sich doch in den Krisenregionen dieserWelt um! Schauen Sie nach Tadschikistan, nach Dage-stan, nach Tschetschenien oder nach Teheran! Dannwissen Sie, daß wir den institutionalisierten Dialog miteinem moderaten oder mit einem laikalen Islamismusbrauchen. Der Beitritt wird zwar noch lange Zeit brau-chen; aber diesen Dialog begründet zu haben ist sehrgut.Zweitens zum Kosovo. Sie haben gefragt, was mitden vielen Flüchtlingen wird, die in Serbien sitzen. Ichstimme Ihnen zu, das ist das entscheidende Problem. Siemüssen aber den Stabilitätspakt richtig interpretierenund sich nicht an Bodo Hombach abarbeiten. Vielmehrmüssen Sie den Zusammenhang erkennen, der zwischendem runden Tisch, der sich mit dem wirtschaftlichenAufbau befaßt, und dem runden Tisch, der über Minder-heitenfragen, Demokratie usw. verhandelt, besteht. Inder Gesamtschau dieser Dinge besteht die einzige Mög-lichkeit, das Heimatrecht der Serben – das Recht aufRückkehr in die Krajina, ins Kosovo oder nach West-Slawonien – durchzusetzen. Das geht nur durch einefreundliche Verständigung und durch vertrauensbilden-de Maßnahmen, was eben durch die Konstruktion dieserrunden Tische möglich ist. Ihr Weg, zu sagen, wir müß-ten mit Milosevic verhandeln
– na ja, aber praktisch läuft es doch darauf hinaus –, istjedenfalls keine Alternative.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Lippelt,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?
Ja, natürlich, mit Vergnügen.
Herr Kollege Lippelt, ich
nehme an, um so lieber, da Ihnen das ja die Möglichkeit
gibt, Ihre Redezeit zu verlängern.
Ja, das begrüße ich sehr.
Mir hat das so leid getan, als
Sie das eben gesagt haben. Ich kenne das aus der letzten
Wahlperiode.
Sie müssen jetzt ja immer sagen: Nur wer Herrn Fischer
kennt, weiß, was ich leide.
Uns ist es in der Vergangenheit ähnlich gegangen.
Sie unterschätzen völlig meinen Großmut.
Ihre Redezeit wird dadurch
verlängert, daß Ihre Antwort auf die Zwischenfrage, die
ich sogleich stellen werde, nicht auf Ihre Redezeit ange-
rechnet wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Irmer,
diese Spielregeln kennen und beherrschen wir alle.
Ich wollte Herrn Lippelt nur
zu verstehen geben, daß meine Großmut hinter der sei-
nen in keiner Weise zurücksteht.
Herr Lippelt, Sie haben eben gesagt, es sei notwen-
dig, das Problem der serbischen Flüchtlinge dadurch zu
lösen, daß man ein freundliches Miteinander anstrebt.
Halten Sie diese Einschätzung für realistisch? Nach
dem, was dort an Massakern passiert ist – erst in der
einen und dann in der anderen Richtung –, muß ich fra-
gen: Halten Sie es für realistisch, daß man in absehbarer
Zeit hier zu einem gedeihlichen und friedlichen Mitein-
ander kommt? – Ich stelle mich jetzt auf eine längere
Antwort von Ihnen ein.
Sie haben völlig recht. Ich halte dies in den nächstenJahren nicht für möglich. Ich sehe auch, daß die Proble-me, die hier aufgearbeitet werden müssen, die Problemeeiner ganzen Generation sind. Ich denke, eine Gemein-samkeit des Stabilitätspaktes mit dem KSZE-Prozeß, derja ebenfalls sehr lange dauerte, ist nicht von der Hand zuweisen.Wenn man über Minderheiten- und Demokratiefragenreden will – demnächst will Kouchner im Kosovo wäh-len lassen; er muß dafür Bedingungen stellen –, mußman auch darüber reden, wie sich die Serben an demOrt, aus dem sie vertrieben wurden, an der Wahl beteili-gen können. Ähnliches haben wir in Bosnien erlebt. Eswird also ein langer und sehr komplizierter Prozeß wer-den, der aber begonnen werden muß. Aus den Redenvon Herrn Lamers ist eine Perspektive dafür aber nichterkennbar.Mein dritter Punkt: der Haushalt des AuswärtigenAmtes. Herr Hoyer, ich habe mir einmal im Auswärti-Dr. Helmut Lippelt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4897
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gen Ausschuß die Daten über den Anteil des Einzelpla-nes 05 am Gesamtetat besorgt. Da stelle ich fest: 1970,1971 und 1972 lag der Anteil immer in der Größenord-nung von 0,93 Prozent. 1998, also noch bevor die neueRegierung haushaltsmächtig wurde, lag der Anteil bei0,77 Prozent.
– Ja, an diesen Zahlen wird deutlich, daß das AuswärtigeAmt immer die Sparbüchse des Gesamtetats war.Wir sind uns völlig einig darüber – diese Feststellungwollen wir dem Minister mit auf den Weg geben –, daßdiese Tendenz zumindest mittelfristig umgekehrt werdenmuß.
Damit komme ich zum vierten und letzten Punkt.Meine Fraktion unterstützt den Sparplan massiv. Siewissen selber doch ganz genau: Wenn eine solche An-strengung gemacht werden muß, dann kann man demRessortegoismus nur beikommen, wenn alle gleichmä-ßig sparen müssen. Anschließend muß die Feinarbeit inden weiteren Aufwuchs kommen.Ich will aber noch einen besonderen Punkt anspre-chen: Die absehbaren und zukünftigen Krisen – ich er-wähne nur die Krise in Nagornyj Karabach und andereKrisen im Bereich der ehemaligen Sowjetunion – sindnicht militärisch zu lösen, und am wenigstens von uns.Die Bewältigung dieser Krisen bedarf unseres verstärk-ten Engagements in der OSZE und in den UN-Organisationen. Das Bundesministerium der Verteidi-gung leistet schon seinen Sparbeitrag.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Lippelt,
ich muß Sie leider an Ihre Redezeit erinnern.
Ich bin sofort am Ende meiner Rede.
Wir werden deshalb dem Antrag auf Sondermittel für
die Bundeswehr wegen des Kosovo-Einsatzes unsere
Zustimmung nicht verweigern. Wir begrüßen aber auch,
daß die Wehrstrukturkommission ihre Arbeit beschleu-
nigen will. Gleichzeitig erwarten wir von der Bundesre-
gierung, daß sie an Hand einer Analyse möglicher zu-
künftiger Krisen unsere Möglichkeiten zu einer Präven-
tion sehr sorgfältig prüft und die Mittelverteilung zwi-
schen entwicklungspolitischen, außenpolitischen und
militärischen Notwendigkeiten neu überdenkt und in ein
einheitliches Konzept der Krisenbewältigung bringt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Lippelt,
so charmant Sie es auch gestaltet haben: Ihre Redezeit
ist wirklich vorüber.
Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU hat jetzt der Kollege Peter Hintze das Wort.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Dies ist die erste De-batte zum Haushalt des Auswärtigen Amtes, bei der hierim Plenarsaal neben der Bundesflagge die Europaflaggehängt. Dies geschah auf eine Anregung des KollegenÖzdemir hin. Ich finde, das war eine sehr gute Idee. Eswar eine symbolische Handlung.
Das Jahr 1999 ist ein Jahr weitreichender Entschei-dungen in der Europapolitik. Neben den großen Projek-ten, der Erweiterung und Vertiefung und den institutio-nellen Reformen, ist die wesentliche Aufgabe darin zusehen, das Vertrauen der Menschen in die europäischenInstitutionen zurückzugewinnen. Der neue Kommissi-onspräsident Romano Prodi hat sich dies vorgenommen.Wir werden ihn dabei vom Deutschen Bundestag ausunterstützen.
Vertrauen gewinnt man durch kompetente und ver-trauenswürdige Personen in den Institutionen. Gegendiesen Grundsatz hat die Bundesregierung bei der Be-nennung des EU-Balkankoordinators gröblich versto-ßen.
Herr Hombach ist sehr besorgt, daß durch sein Wirkenund seine Person ein Schatten auf die SPD fallen könnte.Ich frage den Herrn Außenminister, ob nicht eher dieSorge angebracht wäre, daß durch die Benennung vonHerrn Hombach ein Schatten auf Deutschland fällt.
Ich frage Sie, Herr Außenminister: Haben Sie oder hatder Bundeskanzler die europäischen Partner vor der Be-rufung von Herrn Hombach über die Vorwürfe, die imRaum standen, und das kurz vor dem Abschluß stehendeMeineidverfahren gegen den Bauleiter von Herrn Hom-bach informiert? Wir werden den Bundeskanzler in derSitzung des Europaausschusses am 29. September dazubefragen. Wir drängen darauf, daß dies öffentlich ge-schieht. Ich frage aber schon heute: Wie kann ein Au-ßenminister bei einer solchen Tragödie so mitspielen,wie Sie es getan haben?
Dr. Helmut Lippelt
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4898 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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– Bleiben Sie entspannt!
Was die deutschen Kommissare angeht: Herrn Ver-heugen und Frau Schreyer begleiten unsere guten Wün-sche. Die beiden sind nicht dafür verantwortlich, daß derdeutsche Kanzler, der deutsche Außenminister, die deut-sche Regierung den Willen der Wähler bei der Europa-wahl so grob mißachtet und eine solche Schieflage her-beigeführt haben.
Der Kollege Erler hat sich gerade darüber mokiert,daß bei der Abstimmung im Europäischen Parlament ei-nige aus den Reihen der CSU gegen die Kommissiongestimmt haben und daß auch die Kommunisten diesgetan haben.
Herr Erler sollte sich eher darüber mokieren, daß mittenin Deutschland Sozialdemokraten und Kommunistenkoalieren und zusammen regieren.
– Lieber Kollege Schlauch, ich scheine einen Punkt ge-troffen zu haben, der Sie berührt und beschäftigt.
Ich glaube auch, daß die Aufregung berechtigt ist
angesichts dessen, was Sie sich in der deutschen Euro-papolitik mit der Berufung von Herrn Hombach erlaubthaben; Stichworte: Kompetenz und Vertrauenswürdig-keit.
Wer den Willen der Mehrheit der Wählerinnen undWähler in Deutschland ignoriert – dies kam heute in derHaushaltsdebatte zum Ausdruck; ich meine die Wahl-entscheidungen in Thüringen, in Nordrhein-Westfalenund einfach überall in diesem Land – und weiter einePolitik gegen die Menschen betreibt, der wird auch beiden nächsten Wahlen die Quittung dafür bekommen.
Es gehört eigentlich nicht hier hinein, aber ich will dochsagen: Wenn Sie auf Wahlniederlagen so reagieren, wiedas mit der Berufung von Herrn Klimmt in das Bundes-kabinett geschehen ist, dann ist das eine Verhöhnung derWähler und der sozialdemokratischen Bundestagsfrakti-on gleichermaßen.
Nun sind wir uns in diesem Hause darüber einig, daßdas wichtigste politische Projekt der vor uns liegendenZeit die Erweiterung der Europäischen Union ist. DerBundesaußenminister hat hier in seiner Rede gesagt, dasErgebnis des Gipfels von Berlin sei ein wichtiger undguter Beitrag gewesen und es sei auch von den Beitritts-kandidaten begrüßt worden.
Daß man das Ergebnis dieses Gipfels begrüßt hat – dasist ja bei einigen angeklungen –, ist darauf zurückzufüh-ren, daß man die Befürchtung gehabt hatte, es könne al-les es noch viel schlimmer kommen.
Diese Bundesregierung hat ja eine Zeitlang so getan, alssei ihr das wichtigste politische Projekt in Europaschnurz. Außerdem hat der Herr Bundeskanzler in seinerRede in Saarbrücken großspurig verkündet, er werdeden deutschen Nettobeitrag senken und die Zeit, in derdeutsches Geld verbraten worden sei, sei vorbei. Das mitdem Verbraten sagt er glücklicherweise nicht mehr. Beiden Verhandlungen über die Agenda 2000 ist fürDeutschland in dieser Beziehung nichts herausgekom-men; die Nettobelastung sinkt nur unwesentlich.Was aber viel problematischer ist, Herr Bundesau-ßenminister: Wenn wir, so wie es in den Vereinbarungenvon Berlin vorgesehen ist, die Agrarpolitik, die Regio-nalpolitik und die Osterweiterung in ein Korsett zu-sammenschnüren, dann werden wir es nicht schaffen.Angesichts der großen Worte, die vorher verkündetworden waren, ist es nicht mehr möglich gewesen, ver-nünftige Reformen durchzusetzen und ein Instrumentzu schaffen, mit dem wir die Aufgaben in der EU-altund in der EU-neu finanzieren können. Den Hintergrunddafür bildet ein ganz schwerer Verhandlungsfehler imVorfeld der Verhandlungen über die Agenda 2000, alsman die Kofinanzierung bei den direkten Einkommens-beihilfen in der Landwirtschaft preisgegeben hat. Damithat man für viele Jahre die Chance verspielt, die Erwei-terung auch wirklich finanzieren zu können. Jetzt mußman an das Nachbessern gehen. Die Regierung hat bis-her überhaupt noch nicht aufgezeigt, wie das gehenkann.
Ich will auch noch ein Wort zur Türkei sagen, weildas in dieser Debatte meiner Ansicht nach ebenfallsfalsch dargestellt wurde. Wenn der Bundesaußenmi-nister hier sagt, wir würden der Türkei nicht die Per-spektive eines Beitritts zubilligen, dann muß ich sagen:Das ist falsch. Das hat der Kollege Lamers in früherenDebatten immer getan. Sie haben früher anders geredet.Sie haben früher beim Thema Türkei nur die Menschen-rechte und die Minderheitenrechte angesprochen. Das istnatürlich wichtig, aber darauf kann man diese Proble-Peter Hintze
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4899
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matik nicht reduzieren. Jetzt haben Sie eine großeKehrtwende vollzogen und wecken Erwartungen, diewir nicht einlösen können und die auch das Verhältniszu unserem NATO-Partner Türkei nicht leichter ma-chen. Folgende Unterscheidung muß man doch ganzdeutlich aussprechen: Wer zu vielen Ländern gleichzei-tig Hoffnung auf den Beitritt zur Europäischen Unionmacht,
der riskiert am Ende, den Beitritt auch der am weitestenfortgeschrittenen Länder zu verzögern. Das darf nichtsein.
Ich will noch ein Thema ansprechen, das uns als Par-lamentarier besonders beschäftigt. Ich meine die Frageder Ausgestaltung und der Durchführung des Grund-rechtskonventes. Die Überlegungen, die uns in dieserFrage von seiten der Regierungen zu Ohren gekommensind, haben wir im Europaausschuß erfreulicherweiseeinmütig als korrekturbedürftig empfunden. Wenn einGrundrechtskonvent in Europa eingesetzt wird, dannmuß natürlich dieser Grundrechtskonvent im wesentli-chen eine Angelegenheit der Volksvertretungen, derParlamentarier, und nicht der Regierungen sein. Denn esist doch klar: Wenn es um Grundrechte geht, geht es umFreiheitsrechte des Bürgers gegenüber dem Staat. Sie si-cherzustellen ist eine Aufgabe der Parlamentarier. Des-wegen sind wir nicht damit einverstanden, daß der Mi-nisterrat den Vorsitzenden bestimmt. Wir sind nicht da-mit einverstanden, daß der Ministerrat bestimmt, wie dasablaufen soll, und wir sind auch nicht mit einem rotie-renden Vorsitz einverstanden. Vielmehr wollen wir, daßdieser Grundrechtskonvent seine Arbeit selbst organi-siert, seinen Vorsitzenden selbst bestimmt und daß dieParlamentarier in diesem Konvent eine klare Mehrheithaben.
Für uns ist dieser Grundrechtskonvent die großeChance, Europa weiterzuentwickeln. Die Grundrechts-charta ist für uns der erste Baustein zu einem Verfas-sungsvertrag, der die Kompetenzen in Europa abgrenzt,mit dem wir es schaffen können, Erweiterung und Ver-tiefung gleichzeitig voranzubringen, und der Europaauch institutionell eine Zukunft einräumt.Es geht darum, die Europäische Union demokrati-scher, bürgernäher und effizienter zu machen. Wir er-warten von unserer Bundesregierung, daß sie dazu Bei-träge leistet. Wir erwarten – das sage ich auch für dasganze Parlament –, daß es uns in Zukunft vor wichtigeneuropäischen Entscheidungen nicht so ergeht wie bei derAgenda 2000, nämlich daß diesem Parlament die De-batte der grundsätzlichen Position der BundesrepublikDeutschland im europäischen Prozeß verweigert wird.Wir wollen die wichtigen Grundfragen debattieren, be-vor sie von unserer Regierung auf europäischer Ebeneeingebracht werden.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Volker Neumann, SPD-Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es reizt michschon, auf die Ausführungen meines Vorredners einzu-gehen. Herr Hintze, Sie sind doch der Generalsekretär,der seine Partei letztes Jahr in die Wahlniederlage ge-führt hat. Sie wären wohl noch Generalsekretär, wennSie alles das, was Sie hier verkündet haben, umgesetzthätten.
Es geht aber um das Thema Osttimor. Dieses Themaverträgt keine lauten Töne; denn Osttimor bedeutet zurZeit Trauer um viele Menschen, die durch proindonesi-sche Milizen umgebracht worden sind. Wie viele Tote esgegeben hat, wissen wir nicht. Sind es Hunderte oder– laut FAO – 7 000 Tote? Wie im Kosovo werden wirdie Wahrheit wahrscheinlich erst in den nächsten Wo-chen erfahren.Lassen Sie mich insbesondere an den deutschen Pa-ter Karl Albrecht erinnern. Einige von uns, die in stän-digem Kontakt mit Friedensnobelpreisträger BischofBelo stehen, kannten ihn gut. Wir sind fassungslos überdie Nachricht, daß dieser 70jährige Jesuitenpater, dernicht geflüchtet ist, sondern in Osttimor ausgehalten hat,bei einem mörderischen Amoklauf der Milizen umge-bracht worden ist, ein Pater, der sein ganzes Leben denMenschen gewidmet hatte, der beim Aufbau lokalerKreditgenossenschaften und bei der Beratung vonKleinstunternehmen geholfen hatte. Was Menschen an-richten können, wird uns deutlich, wenn wir den Tod ei-nes solchen Mannes beklagen müssen.Es ist richtig, auch in diesem Fall des organisiertenMordens in Osttimor eine strafrechtliche Verfolgung derTäter und der Hintermänner zu verlangen. Keiner, derMord oder Völkermord anzettelt, soll sich auf der Weltvor Verfolgung sicher fühlen.
In erster Linie sind die nationalen Gerichte in Indone-sien und – ich hoffe bald – auch das Strafgericht in Ost-timor verantwortlich. Ich erinnere daran: Der indonesi-sche Außenminister Alatas hat von einem verbrecheri-schen Verhalten der Milizen und der Militärs gespro-chen. Ich finde, er sollte konsequenterweise auch die in-donesische Justiz anhalten, die Verbrecher strafrechtlichzu verfolgen. Wenn es nicht gelingt, die nationale Ver-folgung sicherzustellen, und wenn der InternationaleStrafgerichtshof, für dessen Einrichtung wir gestimmtPeter Hintze
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4900 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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haben, seine Arbeit nicht in absehbarer Zeit aufnehmenkann, dann ist die Forderung der Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit, Heidemarie Wieczo-rek-Zeul, richtig, einen besonderen Strafgerichtshof fürOsttimor einzurichten.Es gibt keinen Anlaß für laute Töne bei diesem The-ma. Osttimor ist kein Ruhmesblatt für die Weltgemein-schaft und die Vereinten Nationen. Das Problem Ostti-mor wurde so lange nicht gelöst, bis es schließlich zu ei-ner Katastrophe kam. Diese kleine Insel – 265 Kilometerlang, 92 Kilometer breit, mit 800 000 Menschen –spielte keine Rolle.Ich möchte an einige Tatsachen erinnern. Portugalhatte im Rahmen der Entkolonialisierung 1975 die Ver-antwortung für Osttimor den Vereinten Nationen über-tragen. Der in Osttimor entbrannte Bürgerkrieg wurdeam 7. Dezember 1975 von Indonesien genutzt, um unterBruch des Völkerrechts diese Inselhälfte zu besetzen.Schon vor der damals drohenden Invasion haben dieTimoresen Hilfe von der UNO gefordert.Nach der Besetzung durch indonesische Truppen sindetwa 200 000 Menschen umgebracht worden, oder siesind verhungert – insbesondere Ende der 70er Jahre –,weil keine Hilfe kam.Heute droht wieder 200 000 Menschen der Hunger-tod. Morgen wird – Gott sei Dank – die erste Maschinemit Hilfsgütern Osttimor erreichen. Osttimor leidet bisheute an der Unterdrückung durch den allgegenwärtigenMilitärapparat, dessen Geheimpolizei und den Milizen,die die verantwortungslosen Militärbefehlshaber mitmodernsten Waffen ausgerüstet haben.Auf der Gefängnisinsel Atauro vor der Küste Ostti-mors wurde über viele Jahre jeder, der eine politisch an-dere Meinung hatte, inhaftiert. Es wurden Lager einge-richtet, von denen man wie von Konzentrationslagernsprach. 1985 war zum erstenmal eine interfraktionelleDelegation des Deutschen Bundestages auf dieser InselAtauro und hat gegen die Behandlung der Gefangenenprotestiert. Hans-Ulrich Klose hat damals eindrucksvolldarüber berichtet. Friedensnobelpreisträger Ramos Hortahat kürzlich in Bonn daran erinnert, wie wichtig dieserBesuch in der Haftsituation von Atauro war. Er wußte:Man hat uns nicht vergessen. Ich bitte Sie alle, in sol-chen Situationen die politischen Gefangenen in der gan-zen Welt zu besuchen.Am 12. November 1991 war der Tag des Massakersauf dem Friedhof Santa Cruz in Dili. Die Bilder desBBC-Kameramanns, mehr zufällig geschossen, sind unsallen noch in Erinnerung. Die Täter sind bis heute nichtzur Rechenschaft gezogen worden.1992 wurde Xanana Gusmao gefangengenommen. 17Jahre lang hatte er Widerstand geleistet. Eine Delegationdes Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeitunter Leitung von Adelheid Tröscher, der auch der Men-schenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, PetraErnstberger und ich angehörten, konnten ihn in diesemJahr – noch in der Haft – besuchen. Wir waren froh, alswir nun erfahren haben, daß er freigelassen ist. Jahre-lang haben wir darum gekämpft. Wir hoffen, daß er baldin seine Heimat zurückkehren kann, genauso wie dievertriebenen Bischöfe Belo und Nascimento.
Man darf nicht verschweigen – Herr Gehrcke, wirverschweigen es nicht –: In ganz Indonesien und auch inOsttimor haben der frühere Präsident Suharto und seineFamilie mit Unterstützung weiter Kreise des Militärs je-de politische Freiheit unterdrückt und die Menschen-rechte mit Füßen getreten. Mit einer Umsiedlungspolitikversuchte Suharto das Problem auf perfide Art zu lösenund die Osttimoresen zur Minderheit in ihrer eigenenHeimat zu machen. Übrigens, in Tibet passiert ähnli-ches.Nicht jeder hat Suhartos Politik richtig eingeschätztund sich ihm gegenüber richtig verhalten. Aber in Ost-timor blieb der Widerstand ungebrochen. Rainer Eppel-mann wird nicht vergessen, wie wir unter konspirativenBedingungen junge Menschen im Widerstand getroffenhaben. Sie hatten Angst um ihr Leben und um ihre Zu-kunft. Erst als 1996 der Friedensnobelpreis an BischofBelo und Ramos Horta verliehen worden ist, ist Ostti-mor wieder in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit ge-rückt. Die Kritik der Weltöffentlichkeit an den Men-schenrechtsverletzungen in Osttimor ist immer ver-nehmbarer geworden.Wir haben im Bundestag – noch in Bonn – mehrfacheinmütig zum Ausdruck gebracht, daß wir die Annexionnicht anerkennen und daß wir für die Timoresen dasRecht einfordern, selbst darüber zu bestimmen, ob sieals Provinz bei Indonesien bleiben wollen oder ob siesich für die Selbständigkeit entscheiden.Erst nach dem Sturz von Suharto und nach dem Be-ginn der Demokratisierung war ein Fortschritt in derOsttimorfrage möglich. Wir haben begrüßt, daß sichPräsident Habibie und Außenminister Alatas, wahr-scheinlich gegen den Widerstand weiter Kreise des Mi-litärs, im Februar für ein Referendum ausgesprochenhaben und daß am 5. Mai der völkerrechtliche Vertragzwischen Indonesien, Portugal und den Vereinten Na-tionen über dieses Referendum sehr schnell geschlossenworden ist. Das Referendum war eindeutig: 78,5 Prozentder Osttimoresen haben sich für die Unabhängigkeit undgegen eine Autonomie innerhalb Indonesiens entschie-den.Diese klare Aussage hat offensichtlich aber auch dieMilizenführer überrascht, die schon vorher angekündigthatten, daß sie unter den Befürwortern der Selbständig-keit ein Blutbad anrichten würden. Wer sich etwas mitjavanischen Verhaltensmustern beschäftigt, der dürftenicht überrascht sein. Das Wort „Amok“ ist malaiisch-indonesischen Ursprungs und bezeichnet die Folgen derUnfähigkeit, mit unerwarteten negativen Ereignissenumzugehen.Spät ist die Weltgemeinschaft aufgewacht – zu spätfür viele Opfer. Jeder von uns weiß um die Schwierig-keiten, ein schnelles Handeln der UNO zu erreichen.Dennoch sollten wir ausdrücklich anerkennen, daß indiesem Fall der Sicherheitsratsbeschluß gestern entge-Volker Neumann
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gen manchen Befürchtungen schnell und umfassend ge-faßt wurde. Der Weg ist damit für den Einsatz der Frie-denstruppe frei.Den Menschen in Osttimor muß schnell geholfenwerden, um ihre Sicherheit zu gewährleisten und insbe-sondere um ihnen Nahrung zu bringen. Bis dahin ist dasindonesische Militär in der Verantwortung. Wir werdensehr genau beobachten, was passiert. Wenn es ganzschnell geht, bei Unruhen in Aceh und Ambon Spezial-einheiten dort hinzusenden, dann frage ich mich, warumdas nicht auch nach Osttimor möglich war, um dort fürSicherheit zu sorgen.Ich meine, wir müssen immer beachten, daß wir mitunseren Forderungen nicht den Demokratisierungspro-zeß in Indonesien gefährden und möglicherweise eineEntfesselung nationalistischer oder islamistischer Kräftedurch ungerechtfertigte oder unbedachte Forderungenhervorrufen. Nicht ohne Grund beherrschten in der letz-ten Woche in Indonesien Gerüchte um einen Militär-putsch die Medien. Wir müssen die Kräfte in Indonesienunterstützen, die für Demokratie und Menschenrechteeintreten.
Deshalb appelliere ich an die Wahlsiegerin MegawatiSukarnoputri – ebenso an alle neu gewählten Mitgliederdes Parlaments –, ihre Zusage einzuhalten, das Ergebnisdes Referendums anzuerkennen, auch wenn es ihr per-sönlich nicht paßt. Sie sollte sich wie Präsident Habibiedem demokratischen Votum der Osttimoresen stellen.Fatal wäre es für das Ansehen Indonesiens, wenn wei-terhin die Osttimorfrage bei der Werbung um Stimmenzur Präsidentschaftswahl im November mißbrauchtwürde.Von Anfang an war klar, daß deutsche Truppen nichtzu der Friedensmission gehören würden. Es gab genü-gend Angebote zur Entsendung von Truppen aus derRegion; wir haben heute die Liste bekommen. Ich weisedarauf hin, daß sich auch China – dies begrüße ichsehr – zum erstenmal mit zivilen Polizisten an einerFriedensoperation beteiligt.Wir danken den Staaten, die bereit sind, Truppennach Osttimor zu entsenden. Wir wissen um ihrenschwierigen und gefährlichen Auftrag im Namen derMenschlichkeit und wünschen den Soldaten Erfolg undeine gesunde Heimkehr.
Wir begrüßen, daß die ASEAN-Staaten ihre zuneh-mende Verantwortung für die Lösung von Konflikten inder Region erkennen und sich an der Friedensoperationzivil oder militärisch beteiligen. Hier kann die Katastro-phe in Osttimor einen positiven Einfluß auf die Ent-wicklung der Beziehungen der Staaten Südostasiens zu-einander haben.Nunmehr gilt es, schnell die Truppen zu entsenden –dies ist an diesem Wochenende vorgesehen – und dasErgebnis des Referendums umzusetzen. Ich bin im übri-gen davon überzeugt, daß bei den Milizen die Einsichteingekehrt ist, das Morden einzustellen. Seit heute gibtes erste Anzeichen dafür, daß sie sich Richtung Westti-mor absetzen bzw. ihre Uniformen ausziehen.Große Probleme wird es bei der Rückführung dernach Westtimor geflüchteten oder deportierten Men-schen aus Osttimor geben. Hier ist auch der UNHCR ge-fordert. Ich weiß, daß die Bundesregierung ihn unter-stützen wird.Indonesien wird in der Beratenden Versammlung En-de Oktober oder Anfang November einen neuen Staats-präsidenten wählen und Osttimor in die Unabhängigkeitentlassen. Damit werden aber immer noch nicht alleProbleme gelöst sein. Osttimor wird nach der Unabhän-gigkeit erhebliche wirtschaftliche Probleme haben undzu deren Lösung die Hilfe der Welt benötigen. DieGlaubwürdigkeit unserer Politik verlangt es, dann auchdiese Hilfe zu geben. Dies ist die Konsequenz einer Ent-kolonialisierungspolitik, die für Osttimor vor 24 Jahrenmit der Rückgabe von Portugal an die UN begonnen hat.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Hermann Gröhe, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist gut undder schlimmen Lage in Osttimor angemessen, daß wirheute die Haushaltsdebatte, das Ringen und Streiten umdie richtige Ausrichtung deutscher Politik, unterbrechen,um uns der Lage in Osttimor zuzuwenden und den dazueingebrachten gemeinsamen Antrag zu beraten; dennwir dürfen zu den schrecklichen Verbrechen an der Be-völkerung Osttimors nicht schweigen.
Wir müssen vielmehr deutlich unsere Stimme erheben,die grauenvollen Massaker mit aller Schärfe verurteilenund auch zu entschiedenem Handeln bereit sein. Es istgut, daß dies in diesem Hause in großer Gemeinsamkeitgetan wird.Am 30. August dieses Jahres stimmte die Bevölke-rung Osttimors mit der eindrucksvollen Mehrheit von78,5 Prozent für die Unabhängigkeit. Ihren Mut, sich imVorfeld des Referendums nicht von dem auch damalsschon in schrecklicher Weise vorhandenen Terror derMilizen einschüchtern zu lassen, gebührt höchste Aner-kennung. Bereits damals fielen Hunderte dem Terrorzum Opfer, wurden Zehntausende vertrieben. Deutlichzeigte sich, daß Indonesien entweder nicht willens odernicht in der Lage war, seinen Verpflichtungen aus demAbkommen vom 5. Mai 1999 nachzukommen und dieBevölkerung in Osttimor wirksam zu schützen, und daßdie Streitkräfte, zumindest aber Teile von ihnen, denTerror der von ihnen als Handlanger selbst geschaffenenMilizen offen unterstützten.Volker Neumann
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4902 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Was aber nach dem Votum der Bevölkerung Ostti-mors für die Unabhängigkeit geschah, ist ein schreckli-ches Verbrechen gegen die Menschlichkeit und zu-gleich eine ungeheure Provokation der Völkergemein-schaft – dies um so mehr, als es ernstzunehmende An-zeichen dafür gibt, daß das Verbrechen langfristig vor-bereitet sowie systematisch und unter Beteiligung desMilitärs ausgeführt wurde. Mit ungeheuerlicher Brutali-tät und mit der von der UN-Delegation eindeutig festge-stellten Beteiligung indonesischer Streitkräfte fielen dieMilizen über die wehrlose Bevölkerung her. Über 7 000Opfer des Terrors sind zu beklagen. 400 000 Menschen,also fast die Hälfte der Einwohner Osttimors, wurdenvertrieben oder flohen in die Berge oder nach Westti-mor, wo sie weiter gejagt und terrorisiert werden. Über200 000 Menschen droht der Hungertod und bald auchSeuchen.Dieser Terror kannte und kennt keine Grenzen. DieUN-Vertretung, aber auch internationale Hilfsorganisa-tionen wie das Rote Kreuz wurden angegriffen und zumAbzug gezwungen. Tausende Menschen, die dort Zu-flucht gesucht hatten, wurden auf Lastwagen abtrans-portiert – wohl kaum das Werk allein der Milizen. Aus-ländische Journalisten sind in einer aus anderen Kon-fliktherden so nicht bekannten Weise Zielscheibe desTerrors geworden. Die Mordbanden und ihre Hinter-männer wollen ihre schrecklichen Taten vor den Augender Welt verbergen.Gerade gegen die Kirchen richten sich Haß und Ter-ror. Dies zeigt sich in dem Sturm auf das Haus von Bi-schof Belo, der dafür Soldaten in Zivilkleidung verant-wortlich macht, in dem Niederbrennen von Ordenshäu-sern und Kirchen sowie in der Vertreibung und Ermor-dung von Caritas-Mitarbeitern, Priestern und Ordens-leuten – darunter der deutsche Jesuit Karl Albrecht, des-sen tatkräftiger Solidarität, dessen Aushalten bei denMenschen in Osttimor, das er jetzt mit dem Leben be-zahlt hat, Kollege Neumann zu Recht in bewegendenWorten gedacht hat. Bischof Belo nennt Dili heute eineGeisterstadt.Endlich hat die indonesische Regierung nun in dieEntsendung einer UN-Schutztruppe eingewilligt. Es istgut, daß sich der UN-Sicherheitsrat einstimmig für einMandat nach Kap. VII der UN-Charta entschieden hat,das der UN-Truppe alle notwendigen Maßnahmen zurErfüllung ihrer Aufgabe, notfalls auch die Anwendungvon Gewalt, erlaubt. Es ist sicher auch gut, daß sichasiatische Länder wie Thailand, die Philippinen, Singa-pur und Südkorea zum Teil erheblich an dieser Schutz-truppe beteiligen, um fragwürdiger antikolonialistischerRhetorik, wie sie heute etwa aus Malaysia zu hören war,den Boden zu entziehen. In der Tat ist auch die Beteili-gung der Polizei aus China hier zu würdigen.Australien trägt die Hauptlast dieser sicherlich nichtungefährlichen Mission. Gerade Australien und seinenTruppen gelten haßvolle Drohungen der Milizen. MitKampfhandlungen muß ernsthaft gerechnet werden. Wirwünschen den Australiern wie allen übrigen an derSchutztruppe beteiligten Soldaten eine gesunde Rück-kehr nach Erfüllung ihres Auftrages.
Wir unterstützen aber auch die deutsche Beteiligungan den humanitären Hilfsleistungen der UN, der Versor-gung der Flüchtlinge und Vertriebenen, auch in Westti-mor, und dem Wiederaufbau der zerstörten Dörfer undStädte. Daß zu einer solchen sichtbaren Unterstützungder internationalen Anstrengungen auch die Entsendungeines deutschen Sanitätskontingents, wie Sie es heuteansprachen, Herr Minister, gehört, kann ich mir jeden-falls gut vorstellen.Auch wenn die schrecklichen Bilder aus OsttimorStimmen zum Schweigen gebracht haben, die meinten,Deutschland müsse sich nun nicht auch noch in diesemweit entfernten Teil der Welt engagieren, so sei dochklar gesagt: Wir sind angesichts des ungeheuren Leidsder Menschen in Osttimor zur Hilfe moralisch ver-pflichtet. Wir sind – mir liegt daran, auch dies festzu-stellen – auch gegenüber dem EU-Mitglied Portugal, dassich in besonderer Weise für eine friedliche politischeLösung einsetzt, zur Solidarität verpflichtet.Zudem – insofern paßt dies in die Debatte der Haus-halte des Auswärtigen Amtes und des Verteidigungsmi-nisteriums – muß jeder wissen, daß ein Deutschland, dasnicht bereit ist, ausreichende Mittel für die Wahrneh-mung seiner internationalen Verantwortung aufzuwen-den, damit auch die Grundlagen der eigenen Freiheit,des eigenen Wohlstandes und somit der eigenen sozialenSicherheit untergräbt.Indonesien ist gefordert, mit der UN-Friedenstruppekooperativ zusammenzuarbeiten und endlich alles zutun, um den Schutz der Bevölkerung Osttimors sowieder internationalen Beobachter und Helfer zu gewährlei-sten. Das Verhalten des Militärs, zum Beispiel der vielzu lange dauernde Streit um Sicherheitsgarantien fürHilfsflüge angesichts des Hungers, der den Vertriebenendroht, und die Aufkündigung des Sicherheitsabkommensmit Australien lassen da zur Zeit wenig Gutes hoffen.Deshalb sind Maßnahmen wie die Aussetzung der mili-tärischen Zusammenarbeit und der Kredite von Welt-bank und Internationalem Währungsfonds sowie dasEmbargo für Rüstungslieferungen ein richtiges undwichtiges Signal.Es geht nicht um die Isolierung Indonesiens, dessenDemokratisierungsprozeß auch Entwicklungshilfepro-jekte fördern können, sondern darum, die für dasVerbrechen Verantwortlichen an den Pranger zu stellenund ein unmißverständliches Signal an die Militärs zusenden, welche ernsthaften Konsequenzen für die inter-nationale Unterstützung und die Zusammenarbeit eineweitere schleichende Machtübernahme durch das Militärhätte.Schließlich gilt: Die Verantwortlichen für die schreck-lichen Verbrechen müssen zur Verantwortung gezogenwerden, wie dies auch die Resolution 1264 des UN-Sicherheitsrates fordert. Dabei wäre es für den Demo-kratisierungsprozeß Indonesiens, durch den ja bemer-kenswerte Fortschritte, wie freie Parlamentswahlen, er-reicht wurden, am besten, die indonesische Justiz würdediese Aufgabe übernehmen. Sollte sie dazu aber nichtwillens oder in der Lage sein, muß die Völkergemein-Hermann Gröhe
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schaft dies tun. Verbrechen gegen die Menschlichkeitdürfen nicht straflos bleiben.
Hoffen wir nun, daß die Friedenstruppe eine schnelleBefriedung und Umsetzung des Referendums erreichenkann, damit die Leiden der Bevölkerung Osttimors, die200 000 Tote seit der Besetzung durch Indonesien 1975zu beklagen hat, ein Ende haben! Unterstützen wir denWeg eines unabhängigen Osttimors auch durch eine bal-dige Anerkennung! Stärken wir diejenigen, die wie Bi-schof Belo auch angesichts des Schreckens zur Versöh-nung aufrufen!Ich bitte Sie, dem gemeinsamen Antrag zuzustimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmel-dungen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtesliegen mir nicht vor.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antragder Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/DieGrünen und F.D.P. zur Lage in Osttimor auf der Druck-sache 14/1603. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Antrag beieinigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen ausder PDS-Fraktion angenommen.Es liegen von vier Abgeordneten Erklärungen zurAbstimmung vor, die zu Protokoll gehen.*)Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums der Verteidigung.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Einbrin-gung seines Haushaltes hat der Bundesminister derVerteidigung, Rudolf Scharping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieBehandlung des Verteidigungshaushaltes erfolgt in die-sem Jahr aus drei Gründen in einer neuen Situation: er-stens, weil die Nordatlantische Allianz ihre konzeptio-nelle Neuausrichtung abgeschlossen hat; zweitens, weilEuropa einen großen Schritt in Richtung europäische Si-cherheits- und Verteidigungspolitik getan hat; und drit-tens, weil sich die Bundeswehr in dem umfangreichstenund zugleich auch schwierigsten Einsatz ihrer Ge-schichte befindet.Die Staats- und Regierungschefs innerhalb der NA-TO haben bei ihrem Gipfel im April 1999 ein neuesstrategisches Konzept beschlossen. Auf der Grundlageder Fähigkeit zur Gewährleistung gemeinsamer Sicher-heit und kollektiver Verteidigung wendet sich dasBündnis verstärkt neuen wichtigen Aufgaben zu: näm-lich Konfliktverhütung und Krisenbewältigung. Das*) Anlage 2bedeutet, daß die Staaten darin übereinstimmen, schnel-ler und mobiler auf Krisen und deren Ursachen reagie-ren und die gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten ver-bessern zu wollen. Dazu gehört vieles. In der Sprache derMilitärs heißt das: Verbesserung von Mobilität, Inter-operabilität, Führung und Aufklärung sowie Nutzungmoderner Technologien. Bei allen europäischen Streit-kräften und damit auch bei der Bundeswehr in Deutsch-land gibt es in diesen Bereichen Defizite.Auf europäischer Ebene haben sich die Staats- undRegierungschefs unter deutscher Präsidentschaft ver-pflichtet, eigenständige Mittel und Fähigkeiten zur Kri-senbewältigung zu entwickeln, insbesondere in den Be-reichen strategische Aufklärung, strategischer Lufttrans-port und Führung von Streitkräften. Das deckt sich mitdem, was die Staats- und Regierungschefs auf der Ebeneder NATO mit der sogenannten „defence capabilitiesinitiative“ akzeptiert und beschlossen hatten. Es geht umentscheidende Fähigkeiten für die Zukunft.Der deutsch-französische Gipfel im Mai dieses Jahresin Toulouse hat im übrigen eine Initiative ergriffen, diemittlerweile bei den anderen Partnern Zustimmung ge-funden hat, nämlich das Eurokorps in ein Krisenreakti-onskorps umzuwandeln, das für Einsätze der NATO wieder Europäischen Union zur Verfügung steht.Das heißt, wir haben in einem veränderten internatio-nalen Umfeld auf der Grundlage neuer Beschlüsse derStaats- und Regierungschefs eine klare Priorität, dielautet: Friedenssicherung durch die Fähigkeit zur Lan-desverteidigung und zur gemeinsamen Sicherheit imBündnis. Sie lautet: Friedenssicherung durch Vertrau-ensbildung und Kooperation mit Partnern, die nicht zurEuropäischen Union oder zur NATO gehören. Sie lautetzudem: Friedenssicherung durch die Fähigkeit, präven-tiv Krisen zu begegnen und notfalls auch handeln zukönnen bei ausgebrochenen Krisen.Vor diesem Hintergrund füge ich hinzu, daß die Bun-desregierung am Zustandekommen dieser Entscheidun-gen wesentlich mitgewirkt hat. Es sind Richtungsent-scheidungen für die Gestaltung eines sichereren und sta-bilen Europas. Sie entsprechen unserer übergeordnetenZielsetzung einer dauerhaften Friedenssicherung imeuroatlantischen Raum. Wir können also feststellen, daßwir mit unserer Außen- und Sicherheitspolitik dem Zieleiner Friedensordnung für Europa näher kommen. Vonder Realisierung allerdings – das muß man genauso of-fen sagen – sind wir noch ein gutes Stück entfernt.Bei diesen und bei anderen Erfolgen, die wir aufaußen- und sicherheitspolitischem Gebiet erreicht haben,bleiben wir uns bewußt, daß wir dabei auf einem breitenKonsens der demokratischen Parteien hier im DeutschenBundestag aufbauen können. Ich hoffe, das bleibt auchdann so, wenn es um zukünftige Entscheidungen geht;denn Bündnisfähigkeit, langfristige Berechenbarkeit undauch unser Beitrag zur politischen wie sicherheitspoliti-schen Bewältigung von Krisen haben der Bundesre-publik Deutschland ein hohes Ansehen verschafft. Dassollten wir nicht in Gefahr bringen.
Herrmann Gröhe
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4904 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Genauso deutlich will ich feststellen, daß in den letz-ten Jahren in der praktischen Umsetzung dieser politischgewollten Dynamik die Bundesrepublik Deutschland mitdem, was in anderen Ländern geschehen ist und weiter-hin geschehen wird, nicht Schritt gehalten hat. Ich willdas sehr deutlich sagen. Wir haben uns von der konzep-tionellen Entwicklung in manchen Staaten abgekoppeltund die notwendigen, auch sicherheitspolitischen, Mittelund Fähigkeiten nicht in dem Maße weiterentwickelt,wie das erforderlich gewesen wäre.Ich hatte am Beginn meiner Amtszeit eine Be-standsaufnahme veranlaßt. Sie macht jedermann deut-lich: Erstens. Umfang, Struktur und Ausrüstung unsererStreitkräfte sind trotz jahrelanger Umgliederung immernoch überwiegend auf die Landesverteidigung ausge-richtet. Zweitens. Auftrag, Umfang, Ausrüstung undMittel sind aus dem Gleichgewicht geraten. Drittens.Die Bundeswehr ist seit Jahren unterfinanziert und kanndie künftig erforderlichen Fähigkeiten nur eingeschränktzur Verfügung stellen.Über Jahre hinweg ist der Einzelplan 14 kontinuier-lich abgesenkt worden. Nicht nur der Umfang der Bun-deswehr wurde personell wie finanziell halbiert. Zu Be-ginn der 70er Jahre lag der Anteil der investiven Ausga-ben nach relativ konstant bei gut 30 Prozent. Das wardie Zeit der sozialdemokratischen VerteidigungsministerSchmidt und Leber.Seit Beginn der 90er Jahre wurden dagegen die not-wendigen Investitionen in die Zukunft auf die langeBank geschoben. Der Anteil der Investitionen am Ein-zelplan 14 sank kontinuierlich. Das hat sich erst 1998und dann insbesondere 1999 geändert.Im Jahre 1994 wurden die militärischen Beschaf-fungen mit 5,5 Milliarden DM veranschlagt, im Jahre1995 ebenfalls mit 5,5 Milliarden DM, im Jahre 1996mit 5,6 Milliarden DM, im Jahre 1997 mit 5,3 Milliar-den DM, im Jahre 1998 mit 6,5 Milliarden DM und imJahre 1999 mit 7,3 Milliarden DM. Ich muß Ihnen diepolitischen Daten, die dabei eine Rolle spielen, nichtnoch im einzelnen schildern. Es ist einfach eine Tatsa-che – ich will da niemandem vorausgreifen –: Sie habenden Einzelplan 14 in der Zeit von 1994 bis 1998 als dasmißbraucht, was er nicht sein darf, nämlich als Stein-bruch für andere Bedürfnisse.
– Herr Kollege Breuer, wenn Sie sagen: „Sie wollten janoch weniger“, dann sage ich Ihnen: Die SPD-Bundestagsfraktion hat in der Zeit von 1994 bis 1998Kürzungsanträge im Umfang von 1,2 Milliarden DMgestellt. Sie haben in demselben Zeitraum die tatsächli-chen Mittel für die Bundeswehr um weit über 5 Milliar-den DM reduziert. Das heißt, Sie haben uns deutlichüberboten. Insofern ist Ihre Argumentation schlichtheuchlerisch.
– Herr Kollege Nolting, im Jahre 2000 verbleiben imübrigen die Mittel für die militärischen Beschaffungenauf dem im Jahre 1999 erreichten Niveau.
Deshalb sind im Einzelplan 14 6,9 Milliarden DM undzusätzlich im Einzelplan 60 mehr als 200 Millionen DMveranschlagt worden.Ich will hinzufügen, daß innerhalb der Bundeswehr inder Folge dieser sich über die 90er Jahre erstreckendenEntwicklung ein Investitionsstau von mindestens 20Milliarden DM entstanden ist und daß die Konsequen-zen für die Bundeswehr gravierend sind.
Der Bundeswehr fehlen schon heute Fähigkeiten, umeinen wirksamen, wirkungsvollen und international an-gemessenen Beitrag zu gemeinsamer Sicherheit imBündnis und im Rahmen von Krisenbewältigung undKrisenprävention zu leisten.Im Gegensatz zu Ihnen spreche ich solche Dinge of-fen aus. Da wird nichts schöngefärbt. Wenn hier vonRednern mehrerer Fraktionen beispielsweise gefordertwird, Kriegsverbrecher zu verhaften, dann ist das rich-tig. Peinlich für die Bundesrepublik Deutschland ist al-lerdings, daß sie bei Verhaftungsaktionen zum Beispielin Bosnien, auf Grund derer dem Tribunal in Den HaagKriegsverbrecher zugeführt werden sollen, auf Füh-rungsmittel anderer Streitkräfte zurückgreifen und sieförmlich leihen muß, um solche Aktivitäten überhauptdurchführen zu können.
Unangenehm und für die politische Glaubwürdigkeitder Bundesrepublik Deutschland ein langfristiges Risikoist die Tatsache, daß zum Beispiel die deutsche Marine angemeinsamen Übungen nur eingeschränkt teilnehmenkann, weil mittlerweile die Führungsfähigkeit nicht nur insolchen Marineverbänden, sondern auch in anderen Ver-bänden deutlich eingeschränkt ist. Besonders schön ist esnicht, daß man dann zum Beispiel die portugiesische oderdie türkische Marine bitten muß, doch auf moderne Füh-rungsmittel zu verzichten, damit deutsche Marineschiffean gemeinsamen Übungen teilnehmen können. Das istder momentane Zustand in der Bundeswehr. Ich könnteeine Menge ähnlich gelagerter Fälle nennen.Ich muß Ihnen eines sagen: Die Investitionsmittelbleiben auf einem hohen Niveau. Sie sollten jedoch derjetzigen Koalition – das betrifft nicht nur die Sicher-heitspolitik – nicht das in die Schuhe schieben, was Sieüber Jahre hinweg versäumt haben zu tun.
Sie haben uns ein Schuldengebirge von 1 500 MilliardenDM hinterlassen. Ich weiß, Sie hören das nicht gerne.
Es gehört aber in diesen Zusammenhang.Bundesminister Rudolf Scharping
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4905
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Wer glaubt, er könne einen Einzelplan nach der Me-thode „Der nicht, alle anderen ja“ von dem Erfordernisdes Sparens ausklammern, der begeht einen grobenpolitischen Fehler und verhält sich naiv.
Ihre Naivität wird überdeutlich daran, daß Sie bei derBeratung eines jeden Einzelplanes sagen: Die Grundli-nie könnten wir ja akzeptieren, nämlich die, daß mitstaatlichem Geld vorsichtiger umgegangen wird; nur indiesem Einzelplan, in diesem Einzelfall bzw. bei dieserPersonengruppe ist sie leider nicht richtig. Die SummeIhrer Vorschläge liegt weit über dem mit Blick auf dieZukunft und die Solidität der Bundesrepublik Deutsch-land finanziell Verantwortbaren.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch etwas imZusammenhang mit dem Kosovo-Konflikt sagen. Denner hat in nicht zu überbietender Deutlichkeit klarge-macht, daß die außenpolitischen Gestaltungsmöglich-keiten untrennbar mit den sicherheitspolitischen Hand-lungsfähigkeiten verbunden sind.
Das gilt für das Bündnis als Ganzes; es gilt für jedeneinzelnen Staat; es gilt auch für unser Land. Die Bun-desrepublik Deutschland hätte niemals eine Chance ge-habt, den Fischer-Friedensplan oder den Stabilitätspaktinternational durchzusetzen, wenn sie nicht gleichzeitigauf der militärischen Seite einen wirksamen Beitrag zurBewältigung dieses Konfliktes geleistet hätte.
Der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister und auchich haben versucht, drei Dinge, nämlich politische In-itiative, militärische Handlungsfähigkeiten und Notwen-digkeiten sowie humanitäre Hilfe, zusammenzuhalten.Sie haben mich ja heute einige Male angesprochen.Ich kann Ihre Strategie gut nachvollziehen. Auch wirhaben versucht, Herrn Rühe und zum Teil Herrn Schäu-ble in eine bestimmte Konkurrenzsituation mit dem da-mals amtierenden Bundeskanzler zu bringen. Das istschiefgegangen. Sie sollten daraus gelernt haben. Eswird auch im jetzigen, von Ihnen angestrebten Fallschiefgehen.
Um jetzt kurzfristig notwendige Abhilfe zu schaffenund die langfristige Neuausrichtung der Bundeswehrvorzubereiten, habe ich folgende Entscheidungen getrof-fen:Erstens. Die Kommission „Gemeinsame Sicherheitund Zukunft der Bundeswehr“ unter Vorsitz des ehema-ligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker wirdihre Empfehlungen vorlegen. Ich bedanke mich bei derKommission ausdrücklich dafür, daß sie dies schon imMai des nächsten Jahres tun wird.
Zweitens. Der Generalinspekteur ist beauftragt, einePriorisierung, wie wir das so schön nennen, auf derGrundlage konzeptioneller Neubestimmung vorzuneh-men und daraus Konsequenzen für die weitere Ent-wicklung der Streitkräfte abzuleiten.Drittens. Die wesentlichen Ergebnisse beider Arbei-ten werden, wie gesagt, im Frühsommer des nächstenJahres vorliegen und dann eine solide Grundlage fürpolitische und militärische Entscheidungen bilden.Viertens. Die Krisenreaktionskräfte sind um einDrittel erweitert worden. Sie entsprechen in ihrer Zu-sammensetzung den gegenwärtigen – ich sage aus-drücklich: den gegenwärtigen – Anforderungen.Fünftens. Erste Maßnahmen zur Straffung der Füh-rungsorganisation sind eingeleitet.Sechstens. Wir haben eine umfassende Kooperationmit der deutschen Wirtschaft im Bereich Ausbildung,Fortbildung, berufliche Laufbahnen. Nutzung von ihrenErfahrungen begonnen, um die Effizienz und die Wirt-schaftlichkeit des Einsatzes der Steuermittel zu verbes-sern.Dem dient siebtens auch die Verbreiterung einereigenständigen Verantwortung für Kosten und Leistun-gen in den Einheiten und Dienststellen der Bundeswehr.Ich sage voraus: Wir werden in Kürze eine Fortent-wicklung des Haushaltsrechtes brauchen, um künftigenErfordernissen gerecht werden zu können.
Der Haushalt 2000 ist für die Bundeswehr und ihreFähigkeiten völlig unbestreitbar eine ernste Herausfor-derung, zu Teilen auch eine schwere Belastung. Ange-sichts dieser Situation wäre allerdings nichts schädlicherals ein übereilter und unausgewogener Eingriff in beste-hende Strukturen oder in das Ausrüstungs- und dasStandortkonzept. Wer systematisch vorgehen will – daswerde ich tun –, der muß im Einklang mit unseren inter-nationalen Verpflichtungen sowie mit den Interessenund Zielen unseres Landes handeln und darf den Blickauf die soziale Lage der Menschen in der Bundeswehrzu keinem Zeitpunkt vergessen.
Meine Damen und Herren, wer glaubt, daß man allei-ne mit guten Argumenten in internationalen Zusammen-hängen Einfluß nehmen könnte, verkennt die Realität.Auch das ist eine Erfahrung aus den Konflikten und kri-senhaften Entwicklungen der letzten Jahre. Der Einflußsowohl auf die Entscheidungen selbst als auch auf derenUmsetzung hängt entscheidend von den konkreten Bei-trägen ab, die das jeweilige Land, auch wir, internationalin der Lage und bereit ist zu leisten.
Bundesminister Rudolf Scharping
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4906 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Wer allein auf die Macht des Wortes oder auf die Wirk-samkeit finanzieller oder wirtschaftlicher Interessenvertraut, der wird – siehe Kosovo – humanitäre Krisenund humanitäre Katastrophen nicht verhindern können.
Ich sage das in aller Deutlichkeit. Denn wirksame Kri-senprävention setzt die glaubwürdige Fähigkeit zumKrisenmanagement voraus.
Wir sollten uns immer dessen bewußt bleiben, daßder beste Wille zur Krisenprävention an eine Grenzestoßen kann, die durch Ignoranz, die Menschenverach-tung, die Skrupellosigkeit oder gar verbrecherischeEnergie des Gegenüber markiert wird, mit dem man eszu tun hat. Der heißt manchmal Saddam Hussein,manchmal Milosevic. Hoffentlich werden wir solche Er-fahrungen nicht so oft machen müssen.Wer also seine Verbündeten mit guten Ratschlägenversorgen will, selbst aber nichts zu ihrer Realisierungbeizutragen vermag, der wird auch mit den fundiertestenÜberlegungen und den klügsten Konzepten am Endescheitern.Vor diesem Hintergrund sollten wir uns vergegen-wärtigen, daß der einschneidende politische Umbruchdes letzten Jahrzehnts mit einem einschneidenden Um-bruch unserer Streitkräfte, mit einer konzeptionellenNeuausrichtung verbunden sein wird. Bisher hat dieBundeswehr das sowohl in Deutschland – besonders imHinblick auf die ostdeutschen Länder – als auch in in-ternationalen Einsätzen mit großem Engagement undeiner staunenswerten Loyalität bewältigt. Sie verdientdafür mit allen ihren Angehörigen Respekt und Aner-kennung.
Ich füge hinzu: Die Soldatinnen und Soldaten sindebenso wie die zivilen Mitarbeiter keine beliebige Ver-fügungsmasse. Im Gegenteil: Ihre Ausbildung, ihre Lei-stungsfähigkeit und ihr Verantwortungsbewußtsein sindauch in Zukunft das wichtigste Kapital leistungsfähigerStreitkräfte. Es war dem Einsatz der Angehörigen derBundeswehr zu verdanken, daß trotz einer deutlichenÜberdehnung der personellen und materiellen Ressour-cen der Auftrag erfüllt und unter fordernden Bedingun-gen auf dem Balkan Hervorragendes geleistet worden istund weiter geleistet wird. Das hat für die Angehörigender Bundeswehr zugleich bedeutet, einen wichtigen und,wie ich finde, unverzichtbaren Beitrag für das Ansehenund Gewicht Deutschlands in Europa und in der Welt zuleisten. Deswegen dürfen auch die Soldatinnen und Sol-daten einschließlich der zivilen Angestellten am Endenicht diejenigen sein, die das ausbaden müssen, was esan Versäumnissen in den letzten Jahren gegeben hat.Nur weil zukunftsfähige Reformen verschleppt wordensind, weil die Streitkräfte über Jahre hinweg unterfinan-ziert worden sind
und ihre Vernachlässigung mindestens billigend in Kaufgenommen worden ist, dürfen die Soldatinnen und Sol-daten und die zivilen Angestellten nicht die Gekniffenenneuerlichen Umstrukturierungen sein. Das macht dasPrinzip der sozialen und planerischen Sicherheit für dieAngehörigen der Bundeswehr aus.
Der Konsens über die Streitkräfte in diesem Land istgroß. Das gilt für das Parlament, das gilt aber auch fürdie Bevölkerung. Dieser Konsens ist für die Zukunftentscheidend. Die Angehörigen der Streitkräfte müssenwissen, was ihr Land von Ihnen erwartet. Sie müssendarauf vertrauen können, daß sie die bestmöglichenMittel zur Erfüllung ihres Auftrags erhalten, und siemüssen erkennen können, daß Regierung, Parlament undÖffentlichkeit auch dann hinter ihnen stehen, wenn esum so komplizierte Einsätze wie beispielsweise dem aufdem Balkan geht.Ich will an dieser Stelle ausdrücklich der Koalition,aber auch der Opposition für die konstruktive Zusam-menarbeit danken, die uns bei der Beratung und Ent-scheidung über die Einsätze in Makedonien, Albanienund im Kosovo in gemeinsamer Verantwortung vereinthat. Die außerordentlich große Zustimmung der Bevöl-kerung zum internationalen Engagement unserer Streit-kräfte ist ein wesentliches Ergebnis gemeinsam verant-worteter und verantwortungsbewußter Außen- und Si-cherheitspolitik. Ich hoffe, es gelingt, diesen Konsens zuerhalten, keinen Schaden hinsichtlich der internationalenGlaubwürdigkeit zu nehmen, aber auch kein Risiko fürdie Sicherheit und das Leben eingesetzter Soldaten ein-zugehen.Meine Damen und Herren, längs dieser Richtlinien istIhnen der Haushalt 2000 vorgeschlagen worden. Wirwollen ein internationaler verläßlicher Partner bleiben.Es wird keine Abstriche bei Ausbildung, Übung undBetrieb geben. Die soziale und planerische Sicherheitfür die Angehörigen der Bundeswehr einschließlich de-nen Familien bleibt erhalten.Ich sage mit einem besonderen Dank an den Finanz-minister, daß – –
– Entschuldigen Sie, wenn ich mir die Freiheit nehme,eine Situation offen zu beschreiben. Ich weiß, daß Ihnendas nicht paßt: Das habe ich mancher leichtfertigen Re-de im Kongreßzentrum hier in Berlin entnommen. Zuder Situationsbeschreibung gehört auch – das haben Sieden Leuten systematisch verschwiegen –, zu sagen, daßin diesem schwierigen Haushalt der von Ihnen organi-sierte und zu verantwortende Beförderungsstau deutlichabgebaut wird und entsprechende Stellen für die Leute,die Hauptgefreite, Unteroffiziere oder Truppendienstof-fiziere sind, geschaffen werden.
Im übrigen bedeutet planerische und soziale Sicher-heit auch – ich sagte es bereits –, keine voreiligen Ein-griffe in die Struktur oder keinen übereilten Personalab-bau vorzunehmen.Bundesminister Rudolf Scharping
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4907
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Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage? Ich möchte Sie mit
Vorsicht darauf hinweisen, daß die vereinbarte Redezeit
schon überschritten ist. Sie können in Ihrer Funktion als
Minister natürlich so lange reden, wie Sie wollen. Ich
weise nur darauf hin, daß die Zwischenfrage in der
Nachzeit gestellt wird. – Bitte.
Herr Minister
Scharping, ist es nicht so, daß Sie das Amt des Verteidi-
gungsministers übernommen haben, weil Ihnen unter
anderem vom Bundeskanzler zugesagt wurde, daß der
Verteidigungsetat nicht gekürzt werden sollte? Sie brau-
chen jetzt nur mit Ja oder Nein zu antworten.
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Ich will Ihnen einen dezenten Hinweis geben. Ich
werde Sie im Zweifel auch gern privatim unter vier
Augen über das eine oder andere unterrichten.
Ich lege Wert darauf, daß der Verteidigungshaushalt
nicht singularisiert wird. Er muß den finanziellen Erfor-
dernissen des Staates gerecht werden so wie andere
auch.
Er darf nicht besser, aber auch nicht schlechter behan-
delt werden, sage ich in Ihre Richtung. Es wird auch in
diesem Haushalt keine Luft für weitere Kürzungen ge-
ben. Dafür gibt es keinen Spielraum. Vor diesem Hin-
tergrund geht es mir darum, die Fähigkeiten der Streit-
kräfte zu erhalten und auszubauen und im übrigen die
konzeptionelle Neuausrichtung auf den Weg zu bringen.
Alle, die sich daran debattierend beteiligen, ob bei
dieser Tagung des Bundeswehrverbandes oder durch
Interviews, Denkschriften oder was auch immer, bitte
ich, eines zu bedenken: Die Angehörigen der Bundes-
wehr sind angesichts der Erfahrungen, die sie mit der
Halbierung, der überhasteten Umstrukturierung, der
Kürzung von 370 000 auf 340 000 Mann usw. gemacht
haben, zu Recht besonders sensibel, wenn man ihnen
den einen oder anderen politischen Brocken vor die Fü-
ße wirft, anstatt konzeptionell klar zu denken, und zwar
zunächst über die Ziele und Interessen unseres Landes,
dann über die Aufgaben, die sich daraus ergeben, dann
über die Fähigkeiten, die man zur Wahrnehmung dieser
Aufgaben braucht. Erst danach stehen Fragen nach dem
Umfang, auch nach dem personellen Umfang der Streit-
kräfte, überhaupt zur Debatte. Alles andere ist grob
fahrlässig und sollte unterlassen werden.
Herr Minister,
gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Bitte sehr, Frau Präsidentin.
Herr Mi-
nister Scharping, Sie haben dem Kollegen Nolting einen
dezenten Hinweis gelegentlich in Aussicht gestellt. Ich
bitte Sie um einen dezenten Hinweis schon heute. Sie
haben eine konzeptionelle Neuorientierung der Bundes-
wehr angekündigt. Ich wüßte gern, ob diese konzeptio-
nelle Neuorientierung noch von Ihnen begleitet oder gar
gesteuert werden wird oder ob die Zeitung „Die Welt“
recht hat, die uns heute mitteilt, daß der Kanzler ein
großes Interesse daran habe, Sie aus Ihrem Amt heraus-
zudrängen. Würden Sie sich hierzu bitte äußern? Auch
das wäre für die Soldaten wichtig.
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre freundli-
che Vorlage. Wahrscheinlich hat mich der Bundeskanz-
ler gebeten, von dem durchaus ehrenvollen Angebot,
NATO-Generalsekretär zu werden, keinen Gebrauch zu
machen, und wahrscheinlich hat er mich als Vorsitzen-
der der SPD gebeten, die Diskussion über die langfristi-
gen programmatischen Vorstellungen meiner Partei zu
organisieren, weil er mich loswerden will.
Ihre Frage ist dermaßen absurd, daß ich Ihnen hier nur
eines ankündigen kann: Richten Sie sich bitte darauf ein,
daß Sie sich mit diesem Bundeskanzler, mit diesem
Außenminister und diesem Verteidigungsminister noch
ziemlich lange Zeit und auch über 2002 hinaus werden
auseinandersetzen müssen.
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Austermann.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Es mag schon sein, daßwir mit diesen dreien noch rechnen müssen, aber Siewerden dann mit Sicherheit nicht mehr in den Ämternsein, die Sie jetzt innehaben. Ich glaube, es ist auch klar,warum das der Fall sein wird.Herr Kollege Scharping, ich hatte mir eigentlich vor-genommen, heute ganz nett zu sein.
Aber es gab von Ihnen einige Anmerkungen, die einfachnicht unwidersprochen bleiben können, so allein dieVerwendung des Wortes „heuchlerisch“ in bezug auf dieVergangenheit der Bundeswehr, der Bundeswehrent-wicklung. Auch haben Sie gesagt: Es wäre wahrschein-lich zu dem Fischer-Friedensplan und, und, und nichtgekommen, wenn …
– Er hat vom Fischer-Friedensplan gesprochen. – Ich sa-ge dazu: Es hätte dieses Friedensplans möglicherweisenicht bedurft, wenn die wesentlichen Teile Ihrer Frakti-on und die wesentlichen Teile der Grünen nicht 1994noch ganz andere Positionen in bezug auf die Durchset-
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4908 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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zung von Menschenrechten weltweit, insbesondere inBosnien-Herzegowina, eingenommen hätten.
Wer aber hat – die Wahrheit muß gesagt werden –Verfassungsbeschwerde eingelegt, um den Einsatz vonAdria-Schiffen zur Beobachtung zu unterbinden? Daswar Ihre Fraktion.
Jetzt sagen Sie, wir hätten nicht genügend getan, um dieMenschenrechte weltweit durchzusetzen und dafür dieBundeswehr zu gebrauchen. Das kann doch nicht IhrErnst sein.
Sie haben auch andere Dinge gemacht: Jahr für Jahrkamen von Ihnen Anträge zur Kürzung der Investitio-nen im Verteidigungsetat. Dies ging bis in den Bundes-rat. Auch dort haben Sie gesagt, es sei zuviel, wir müß-ten die Mittel zusammenstreichen, wir müßten davonetwas zurücknehmen.Dazu, daß Sie sagen, es gehe darum, einen breitenKonsens zu erreichen, sage ich: Gerne. Sie werden inden letzten elf Monaten nicht haben feststellen können,daß die Mitglieder der Opposition – egal, ob von derF.D.P. oder der CDU/CSU – Ihnen in den Arm gefallensind, wenn es darum ging, die richtigen Entscheidungenzu treffen. Sie können für entsprechende Berichte dochjeden Tag die Zeitungen aufschlagen. Ich will mich garnicht auf Spekulationen von heute beziehen, wie Schrö-der möglicherweise über diese Position denkt. Man kannsich ja auch andere Gründe vorstellen, warum Scharpingzur NATO gehen soll: natürlich, damit er nicht mehr aufder nationalen Ebene tätig ist. Aber Spekulationen dar-über, wie Mittel der Bundeswehr weiter reduziert wer-den können, kommen doch nicht aus unseren Reihen,sondern von den Herren Kröning und Metzger, von FrauBeer und anderen, die auch gleich noch die Wehrpflichtüber Bord kippen wollen.
Ich glaube schon, daß es gut gewesen wäre, wenn mancheiner von Ihnen die Schärfung seines Gewissens, diejetzt in bezug auf die Haltung zu Einsätzen der Bundes-wehr bei Krisen in der Welt eingesetzt hat, ein bißchenfrüher vorgenommen hätte, anstatt jetzt anderen Vor-würfe zu machen.Dann, Herr Kollege Scharping, haben Sie davon ge-sprochen, wir hätten den Personalabbau – die Redukti-on von 370 000 auf 340 000 – möglicherweise übereiltbetrieben. Haben Sie denn vergessen, daß Ihre Frak-tionskollegen – viele von ihnen sind anwesend; welchePosition Sie damals hatten, weiß ich nicht –, gesagt ha-ben, eine Truppenstärke von 340 000 sei zu viel, undForderungen nach einer Reduzierung des Umfangs auf300 000, 250 000 oder gar 200 000 erhoben haben, da-für sogar den damaligen Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel in Anspruch nehmen wollten? Und jetztwerfen Sie uns vor, wir hätten das Personal bei der Bun-deswehr überstürzt abgebaut. Das haut ja wohl nicht hin.Sie haben zu Beginn dieses Jahres gesagt, beim 99erHaushalt – die Abgeordneten der Koalition haben Ihnen0,5 Milliarden DM weggenommen – seien Ihnen Dau-menschrauben angelegt worden, der Haushalt sei „aufRand genäht“. Der Bundeskanzler hat dann später der„Bild“-Zeitung gesagt:Bei der Bundeswehr ist so viel gekürzt worden –die stoßen schon jetzt mit dem Helm an die Decke.Deshalb haben wir vereinbart: Es wird bis auf wei-teres weder im Etat noch bei der TruppenstärkeVeränderungen geben.Ich stelle fest: Es gilt – wie bei der Rente und bei an-deren Themen – das Motto: Versprochen, gebrochen.Erst stößt man „mit dem Helm an die Decke“, und jetzthaben Sie, Herr Scharping, in jedem der nächsten vierJahre weniger Mittel für die Bundeswehr zur Verfügung,als im Jahr 1998 zur Verfügung gestanden haben.
– Das kann man doch der mittelfristigen Finanzplanungentnehmen.
– Herr Scharping, Sie sind jetzt so fröhlich. Können Sievielleicht nachher noch die Frage beantworten – Sie sit-zen jetzt auf den Plätzen der Abgeordneten –: Trifft eszu, daß Sie im Bundeskabinett dem Finanzplan nicht zu-gestimmt haben? Dann sollten Sie mit der Verwendungder Vokabel „heuchlerisch“ ein bißchen vorsichtigersein.
Unsere Positionen in bezug auf die Bundeswehr sindganz klar. Das heißt für uns, daß wir eben nichts über-stürzen.Weshalb haben Sie denn die Wehrstrukturkommissi-on eingesetzt? Die sollte doch wohl ein Ergebnis vorle-gen. Und was machen Sie? Im Haushalt 2000 werdenSoldaten – Wehrpflichtige, Berufs- und Zeitsoldaten –im Umfang einer Division wegrasiert.
– Natürlich, was heißt es denn, wenn 5 000 Berufs- undZeitsoldaten und 6 000 Wehrpflichtige weniger Diensttun sollen?
Was heißt denn „Übung verringern“? Was heißt es denn,daß 1 000 zivile Mitarbeiter weniger beschäftigt wer-den? Rechnen Sie das einmal zusammen: Welche Stärkehat denn eine Division?
Dietrich Austermann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4909
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Man kann natürlich sagen, bei den 375 Standortenfehlt hier einer und dort einer; aber zusammengezähltsind das dann 12 000, 13 000 oder 15 000 Stellen, dieSie insgesamt im kommenden Jahr streichen. Das kön-nen Sie möglicherweise einmal machen, aber jetzt übervier Jahre hinweg jährlich 20 000 oder 25 000 Soldatenabzubauen, das hält die Bundeswehr nicht durch, unddas halten auch Sie nicht durch. Ich glaube, es ist deut-lich, daß Sie die Position, die Sie bisher vertreten haben,nicht durchsetzen konnten.Die Bundeswehr hat – das ist unsere Meinung – ihreFriedensdividende erbracht. Wir werden uns währendder Haushaltsberatungen dafür einsetzen, daß der Ansatzdes Jahres 1999, nämlich 47 Milliarden DM, fortge-schrieben wird, um sicherzustellen, daß es sowohl beiden Soldaten als auch bei der Beschaffung eine ver-nünftige Entwicklung gibt. Man kann uns doch nicht aufder einen Seite vorwerfen, wir hätten die Beschaffungbestimmter Geräte verhindert, und auf der anderen SeiteMaßnahmen ergreifen, die sowohl in der Luft- undRaumfahrtindustrie als auch in der wehrtechnischen In-dustrie ganz erhebliche Einbußen bedeuten. Dies berührtzwangsläufig auch die Entwicklung neuer Technologienin der Zukunft und kostet damit Arbeitsplätze.Das ist aber nicht alles. Ich zitiere aus einem Artikelder „Berliner Zeitung“ von heute, in dem berichtet wird,was die Kollegen Kröning, Metzger und andere Haus-haltspolitiker, bezogen auf den kommenden Haushalt,tun wollen. Als letzter Satz steht dort:So einen Konflikt hat es in einer Koalition seltengegeben. Scharping steht inhaltlich näher bei derCDU/CSU als bei den eigenen Haushältern.Wenn das so bleiben soll, wenn Sie die Unterstützungder Opposition erwarten, dann dürfen Sie jetzt nicht ver-suchen, die Union als Reibebaum zu benutzen, um ande-ren gegenüber einen freien Rücken zu bekommen. Daswerden wir nicht zulassen.
Wir stehen für die Interessen der Bundeswehr und derVerteidigungsgemeinschaft. Ich möchte gerne wissen,was Sie in Toronto gegenüber der NATO sagen, wofürSie in zwei oder drei Jahren stehen. Welche Ziele, dieSie apostrophiert haben, können Sie dann noch aufrecht-erhalten und durchsetzen? Sind Sie sicher, daß das, wasdort von Ihnen vorgetragen wird, das gleiche wie das ist,was Sie vor den 5 000 Soldaten vom Bundeswehrver-band, die sich hier in Berlin versammelt haben, gesagthaben? Weil ich mich darüber geärgert habe, erinnereich mich gut daran, was der Chef des Bundeswehrver-bandes bei Ihrem Amtsantritt gesagt hat. Noch bessererinnere ich mich aber an das, was er jetzt gesagt hatund was die 5 000 Soldaten bei ihrer Versammlung zumAusdruck gebracht haben. Das ist das erste Mal, daßsich die Soldaten in dieser Form gegen ihren oberstenChef – ich meine den Bundeskanzler, nicht den Vertei-digungsminister – gewendet haben und damit deutlichgemacht haben, was Sie von der Regierung erwarten.
– Wir haben sie aufgehetzt? Der Chef dieses Verbandesläßt sich mit Sicherheit nicht aufhetzen.Ich glaube, es ist richtig, was in der „Welt“ vom 2.September dieses Jahres von Hans-Jürgen Leerschkommentiert wurde: „ In der Tat: Rudolf Scharping be-findet sich fest im Griff der SPD-Linken und der Grü-nen.“Wie sollen denn nun die Haushaltsberatungen laufen?Gestern haben wir ein dickes Paket erhalten: 110 SeitenÄnderungsvorschläge aus Ihrem Hause zum Haushalts-entwurf, der einen Umfang von 140 Seiten hat. Heutekam eine Nachlieferung, nach der zahlreiche weitere Po-sitionen geändert werden sollen. Wie soll einer da nochdurchfinden! Und da reden Sie von einem geschlossenenKonzept und einer geschlossenen Vorstellung dessen,was durchgesetzt werden soll! Wenn man das einmaldurchliest, dann stellt man fest, daß es keine neuen Pro-jekte mehr gibt: Die Beschaffung des NATO-Transporthubschraubers wird verschoben, des MAW-Taurus wird verschoben, des Wehrforschungsschiffswird verschoben, der Korvetten werden verschoben, einradargestütztes Abwehrsystem gibt es nicht, Luftüber-wachung gibt es nicht, und das Transportflugzeug gibtes auch nicht. Was machen Sie eigentlich Neues?Sie sagen, früher hätte alles zu lange gedauert. Seiteinem Jahr sitzt Ihre Führungspitze an der Entscheidungüber das GTK. Das wurde für den Haushalt 1998 be-schlossen; erste Mittel wurden eingeplant. Bis heute istnichts entschieden. Aber wir sollen bündnisfähig sein, inder Lage sein, mit unseren Partnern Projekte gemeinsamdurchzuziehen! Was ist mit MAW-Taurus? Das wirdauch nicht gemacht.Welchen Detailpunkt des Haushalts Sie sich auch an-schauen, Sie können erkennen, daß dieser Etat so zu-sammengestrichen worden ist, daß Zukunftsfähigkeitnicht mehr verzeichnet werden kann. Ich sage es nocheinmal – Sie können die Schuldenarie ruhig wieder an-fangen –: In jedem Jahr haben Sie weniger bei denHaushaltsmitteln zur Verfügung als im letzten Jahr.Wenn Sie sich wieder auf das besinnen, womit Sie ange-fangen haben, nämlich auf die gemeinsame Position inSachen Verteidigungspolitik, wird die Union dazu bei-tragen, daß Sie mehr bekommen, daß die Bundeswehrmehr Gerechtigkeit erfährt und daß wir auch im Bereichder Arbeitsplätze nichts Unverantwortliches tun. Jederkann sich vorstellen, daß 5 000 bis 6 000 weniger Wehr-pflichtige und 30 000 weniger Zivildienstleistende plusdas Einstampfen des Programms zur Bekämpfung derArbeitslosigkeit der jungen Leute natürlich Wirkungenauf dem Arbeitsmarkt haben – von der Verteidigungsfä-higkeit einmal ganz abgesehen.Die Soldaten und die zivilen Mitarbeiter der Bundes-wehr können sich auch in Zukunft auf die Union verlas-sen. Wir sind bereit, den Minister zu unterstützen, wenner bei dem bleibt, was er anderenorts sagt, und sich vondem distanziert, was er uns heute erzählt hat.Herzlichen Dank.
Dietrich Austermann
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4910 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.
FrauPräsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es istdoch bekannt, daß die Bundeswehr in einer äußerstschwierigen Situation ist. Das ist durch die inzwischenendlich öffentlich stattfindende Diskussion mehr alsdeutlich geworden. Ich sage Ihnen, Herr KollegeAustermann, aber ganz deutlich, daß die Äußerungenaus den Reihen der Opposition den Eindruck erwecken,als wenn bis zum September letzten Jahres alles in Ord-nung gewesen wäre. Wir wissen doch, wer die Problemezu verantworten hat. Betreiben Sie keine Geschichts-klitterung oder Legendenbildung!
Die permanente Unterfinanzierung und die Re-formunwilligkeit während Ihrer letzten Regierungsjahresind doch die Ursache für den heutigen Zustand und dieProbleme, die wir jetzt zu diskutieren haben.
Dieser Zustand ist von einer mangelnden Anpassung andie sicherheitspolitischen Gegebenheiten und einermangelnden Ausnutzung der Chancen, die nach Endedes Ost-West-Konfliktes bestanden haben, gekennzeich-net.
Ihre Ideologie – auf Sie komme ich noch zu sprechen,Herr Breuer – ist mitverantwortlich für die fehlende Ge-staltung während der letzten Jahre.
Wenn Sie jetzt die Strategie der Besitzstandswahrungverfolgen, dann werden Sie der Bundeswehr und denSoldaten keinen Gefallen tun. Sie werden vielmehr dafürsorgen, die Bundeswehr an die Wand zu fahren.
Bevor ich zur Sicherheitspolitik komme, möchte ichnoch ein paar Worte zur Haushaltskonsolidierung sa-gen. Es hilft nicht, wie Sie es tun, meine Damen undHerren von der Opposition, den Sparkurs der Regierungim allgemeinen zwar zu begrüßen, aber dann alle mögli-chen Ausnahmen einzufordern. Dieses Politikkonzeptwurde abgewählt, weil es gescheitert war. Wenn ein In-teressenverband wie der Bundeswehr-Verband dies tut,entspricht es seinen partikularen Interessen. Doch dieAufgabe von Politik ist es, das Ganze im Auge zu be-halten.
Diese Tatsache sollte einer ehemaligen Regierungsparteidurchaus klar sein. Aber dieser Einsicht scheint IhrKurzzeitgedächtnis im Wege zu stehen.
Jeder, auch die Bundeswehr, wird sich solidarisch andem Sparpaket beteiligen.Die allgemeine Haushaltskonsolidierung ist notwen-dig, um den Schuldenberg abzutragen, den Sie zu ver-antworten haben. Täten wir dies nicht, hätten wir in Zu-kunft keinen Spielraum mehr für die Gestaltung derPolitik. Aber das ist – mit Verlaub gesagt – der An-spruch einer rotgrünen Regierung: Gestalten und nichtVerwalten.Mit der mittelfristigen Finanzplanung hat das Kabi-nett eine solide Grundlage zur Umsetzung des Sparpa-ketes verabschiedet, um so zu verhindern, daß die Gene-rationen der Zukunft die Schulden bezahlen müssen.Doch Voraussetzung für äußere Sicherheit – ich kommejetzt auf einen anderen Sicherheitsbereich zu sprechen –ist der innere Zusammenhalt der Gesellschaft, der nurauf Solidarität beruhen kann. Unser Haushaltskonsoli-dierungskonzept strebt daher soziale Gerechtigkeit anund trägt zum sozialen Frieden zwischen den Generatio-nen in unserem Land bei.
Nun gibt es Kollegen aus der Opposition – ich nennezum Beispiel den Kollegen Breuer –, die sagen, der Ein-zelplan 14 solle aus der Konsolidierung herausgenom-men werden. Sie sagen weiter, der Verteidigungshaus-halt werde als „Steinbruch“ benutzt.
Sie sind der sicherheitspolitischen Strukturanpassungausgewichen. Der Steinbruch ist doch das Ergebnis derPolitik der letzten Jahre von Herrn Waigel.
Fakt ist: Die Bundeswehr wurde in den vergangenenJahren nur bedingt umstrukturiert. Sie haben die Bun-deswehr in die Sackgasse geführt. Dafür müssen unddürften Sie sich verantwortlich fühlen.
Sie haben durch Ihr konzeptloses Herumdoktern dieSoldaten und deren Familien sowie die betroffenen Ge-meinden und Regionen verunsichert.Um diesen Irrweg in die Planungsunsicherheit end-lich zu beenden, ist es richtig, daß die Kommission„Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“eingesetzt wurde. Es ist auch richtig, daß diese bereitsim Mai Konzepte vorlegt, um dann endlich einen Re-formansatz zu präsentieren, der wieder Planungssicher-heit für die Soldaten verspricht.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4911
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Gewundert hat mich nicht, daß die Soldaten unruhigwerden. Sie erleben zum Beispiel im täglichen Einsatz,daß diese Regierung jetzt gezwungen ist, die Versäum-nisse der Vergangenheit sehr schnell zu korrigieren.Nach den Jahren der Reformunwilligkeit bekommt dieBundeswehr jetzt die Langzeitperspektive für das näch-ste Jahrtausend. Sie können noch solange dagegen re-den, wie Sie wollen: Dieser Punkt steht auf der politi-schen Tagesordnung, und dem werden wir nachkom-men.
Frau Kollegin,
es besteht der Wunsch der Kollegin Volquartz nach
einer Zwischenfrage.
Ja,
gerne.
Frau Beer, eine
Frage zu den letzten sicherheitspolitischen Struktur-
überlegungen: Ist es richtig, daß Sie damals gesagt ha-
ben, Schleswig-Holstein solle nach Möglichkeit bun-
deswehrfrei werden?
Ichkann Ihnen darauf antworten, daß die letzten Struktur-entscheidungen aus dem Jahr 1994 stammen. Der ehe-malige Verteidigungsminister hat es aber nicht ge-schafft, sein Konzept umzusetzen.
Ich unterstreiche es noch einmal: Die Politik desStreichkonzerts nach Waigel wird beendet.Um auf das letzte Wochenende zu sprechen zu kom-men: Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn Soldatendemonstrieren, auch nicht, wenn sie das in Uniformtun. Ich habe auch nichts dagegen, daß ein außerordent-licher Verbandstag einberufen wird, um gegen die Bun-desregierung zu demonstrieren. Eines aber will ich Ih-nen sagen: Diese parteipolitische Instrumentalisierungder Bundeswehr kennen wir seit Jahren. Wir haben diesals Opposition immer kritisiert.
Damit tut weder der Bundeswehr-Verband, damit tunauch Sie der Bundeswehr keinen Gefallen.
Sie verlangen von uns, daß wir strukturkonservativeine gescheiterte Strukturpolitik weiter betreiben. Unddas werden wir nicht tun.
– Entschuldigung, das Motto des Bundeswehr-Ver-bandes ist doch: Rettet, was nicht zu retten ist! Das istdoch Kamikaze-Politik. So etwas können Sie doch nichternsthaft von uns einfordern.
Minister Scharping hat in der letzten Woche, aberauch heute hier im Plenum deutlich gemacht, welchenReformbedarf die Bundeswehr hat. Diesem Bewußt-sein für einen Reformbedarf können Sie, Herr Breuer,nicht mit der Behauptung entgegnen, das einzige, wasder Bundeswehr fehle, sei mehr Geld. Was Sie uns vor-schlagen, läuft auf Reaganomics hinaus: auf die Steige-rung des Verteidigungshaushaltes bei gleichzeitigemAbbau der sozialen Leistungen. Das widerspricht demKonzept unserer Regierung.Sie neigen dazu, in dieser Debatte recht drastischeWorte zu verwenden, um darüber hinwegzutäuschen,daß Sie keine politischen Konzepte haben. Ich möchteeinige Äußerungen zitieren und hoffe, dadurch nicht IhrRedekonzept durcheinanderzubringen, weil Sie sichwiederholen würden.Sie meinen, „der Bundeswehr gehe es jetzt richtig ansFell“. Die „Regierung betreibe Sicherheitspolitik nachKassenlage“, ohne Sinn und Verstand. Sie reden von„Buchungstricks, Täuschungsmanövern und Irreführungder Öffentlichkeit“,
Minister Scharping sehen Sie als „Konkursverwalter derBundeswehr“. – Ich glaube, ich habe Sie richtig zitiert.Herr Breuer, sollte es einen Konkursverwalter geben,so müßte in der Firma schon vorher etwas sehr falschgelaufen sein; denn sonst braucht man keinen Konkurs-verwalter. Sie wissen es sehr gut: Die Fehler liegen beiIhnen selbst.
Wir sind gezwungen, durch neue Konzepte aus diesemSteinbruch herauszufinden, und das werden wir tun.
Herr Breuer, Sie führen immer wieder das gleicheArgument an: „Die Bundeswehr wird zur Abbruchbude.Der deutsche Einfluß im Rahmen der NATO und Euro-pas wird schwinden.“
Mit Verlaub, das ist weder stimmig noch triftig. Das be-schreibt lediglich jenen Zustand, den wir von Ihnenübernommen haben. Es ist der Offenbarungseid dafür –dies war längst überfällig –, daß dieser Zustand durchIhre Politik verursacht wurde und Sie auch heute nichtanders damit umzugehen wissen, als relativ niveaulosAngelika Beer
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4912 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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immer wieder die gleichen Vokabeln anzuführen. Nur,dadurch werden diese Aussagen nicht richtiger.
Der ehemalige Bundesverteidigungsminister Rühe hatals Äquivalent zu Waigels Streichkonzert das Konzept„Schieben, strecken, streichen“ bis zur Perfektion be-trieben. Daß dadurch die Probleme nicht zu lösen sind,sondern auf die lange Bank geschoben werden und sichdadurch verschärfen, bekommen wir als die jetzt für denHaushalt Verantwortlichen, aber auch die Soldaten beiihrem täglichen Einsatz zu spüren.Sie werfen uns vor, wir würden in der Sicherheits-politik die „zweite Liga“ ansteuern.
Das Gegenteil ist der Fall: Die BundesrepublikDeutschland beteiligt sich an der europäischen Sicher-heitspolitik in großem Maße, zum Beispiel an dem Sta-bilitätspakt für Südeuropa.Ich sage es Ihnen ganz deutlich, Herr Breuer und HerrAustermann: Wer den Anspruch hat, eine präventiveAußen- und Sicherheitspolitik zu formulieren und zubetreiben – das heißt auch: zu finanzieren –, und wem esgelingt, gewaltträchtige Konflikte frühzeitig zu moderie-ren und den Ausbruch von Kriegen zu verhindern, derwird mit Sicherheit eher zur „Lead nation“ und trägtmehr zur Sicherheit in Europa bei als der, der sich kon-zeptionslos auf militärische Abenteuer einläßt.Über Jahre hinweg hat die CDU/CSU-geführte Bun-desregierung die Konsequenzen, die wir heute ziehenwollen, nicht gezogen: Sie hat auf eine strategischeNeuausrichtung verzichtet. Sie, Herr Austermann, wa-ren damals als Haushaltsexperte verantwortlich. Siehatten vor, so viel Personal, so viel Infrastruktur und soviel Rüstung in der Planung zu halten wie nur irgendmöglich. Mit diesem Konzept sind Sie seit Jahren mitdem Helm an die Decke gestoßen. Das ist keineswegseine Erscheinung, die der rotgrünen Regierung angela-stet werden kann.Auch der von Ihnen praktizierte Vorwurf, die Bun-desrepublik gebe im Vergleich zu anderen Bündnispart-nern zu wenig für ihre Streitkräfte aus, ist meines Er-achtens nicht haltbar.
Die USA haben ja die lange Tradition, uns Europäer imRahmen der Lastenverteilung zu höheren Verteidi-gungsausgaben aufzufordern. Das kennen wir. Aber se-hen Sie sich einmal den jüngsten Bericht zur Lastenver-teilung im Bündnis an, der dem Pentagon vorgelegtworden ist: Das Kriterium des prozentualen Anteils derVerteidigungsausgaben am Bruttosozialprodukt ist nurein Kriterium. Eine faire Beurteilung des deutschenBeitrages zur Stabilisierung im Osten und im SüdostenEuropas fließt dort in die Bewertung ein. Auch Sie wis-sen: Mit Statistiken kann man so ziemlich alles belegen;es kommt lediglich darauf an, welche Zahlen man sichheraussucht.
Ich bezweifle, daß man an solchen Kriterien, wie sieim Moment in den Raum gestellt werden, die Angemes-senheit und Effizienz von Sicherheitspolitik oder auchnur den daraus abgeleiteten politischen Einfluß imBündnis und in Europa beurteilen kann. Ich glaube, daßdas zu kurzsichtig ist.Ich will noch auf die Konsequenzen, die wir aus demKosovo-Krieg gezogen haben, eingehen. Wir werdender Verpflichtung nachkommen, nicht „Lead nation“ immilitärischen Sinn zu werden; wir werden nicht – wieSie sich das möglicherweise wünschen – militärischgleichwertig mit den Amerikanern auf Platz 1 klettern.Wir sehen – auch der Bundeswehr gegenüber – bei derVerpflichtung zur Umstrukturierung ein Junktim mit derVerpflichtung, die Instrumente ziviler Krisenpräventi-on auszubauen. Ich weiß, daß Sie diese Vokabel nichtkennen; Sie haben jahrelang darauf verzichtet, die not-wendigen Instrumente auszubauen.Die Konsequenz aus dem Krieg und aus unserer Ver-antwortung, Soldaten in einen solchen Konflikt zuschicken
– das finden Sie im Haushalt –, muß sein, daß wir dortumsteuern. Das Konzept der präventiven Außen- undSicherheitspolitik bietet nicht nur den Krisenregionen inEuropa mehr Sicherheit; eine Umgestaltung der Bun-deswehr wird mit einer dann adäquaten Ausrüstung auchden Soldaten mehr Sicherheit geben. Wir werden, wennder Bericht der Strukturkommission vorliegt, in dieserRegierung genau diesen Weg gehen. Da können Sie ver-suchen zu spalten, wie Sie wollen: Spaltungsstrategiekann Konzeptionslosigkeit nicht verdecken; das wirdIhnen nicht gelingen.
Ich glaube, daß es gut ist, daß wir nicht nur überZahlen diskutieren, sondern daß wir – angesichts derHerausforderungen und der Veränderung der europäi-schen Sicherheitssituation – eine offene Debatte führen.Ich bin überzeugt, daß es der richtige Weg ist, die Maul-korbstrategie, die von Ihnen über Jahre zu verantwortenwar und dazu diente, das Fehlen von Konzepten zu ver-decken, zu verlassen. Ich bin sicher, daß es für die Zu-kunft richtig ist, gemeinsam mit der Bundeswehr zu dis-kutieren. Ich halte es für falsch, die Bundeswehr gegendie Politik aufzuhetzen. Wenn Sie Bundeswehrsoldatengegen den eigenen Verteidigungsminister aufhetzen,dann tragen Sie zu einer Zuspitzung bei, die nach hintenlosgeht, die nicht Sicherheit schafft, sondern die zur De-stabilisierung beiträgt.Ich glaube, daß der Weg richtig ist, den Verteidi-gungsminister Scharping gegangen ist, indem er dieKürzungen, die für das Jahr 2000 vorgesehen sind, hierAngelika Beer
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zur Diskussion stellt. Wir müssen diesen schweren Weggehen; wir Grünen werden weiter für die Kürzungen imRahmen der mittelfristigen Finanzplanung eintreten. Ichglaube, daß wir im guten Konzert mit den anderenBündnispartnern sind, wenn wir einer Bundeswehr, dienoch einer überdimensionierten Dinosaurier-Armeegleicht, den größten Gefallen tun, wenn wir kreativ, aberverantwortlich gemeinsam eine Struktur für das nächsteJahrtausend entwickeln.Daß Sie dazu nicht bereit sind, haben Sie deutlichgemacht. Sie haben sich geweigert, die Einsetzung derStrukturkommission durch VerteidigungsministerScharping zu unterstützen. Sie haben gesagt: Das istQuatsch; das ist kein Instrument. Jetzt ende ich mit dem,womit ich meine Rede begonnen habe: Sie haben durchIhre Konzeptionslosigkeit den politischen Alltag aus denAugen verloren. So, wie Sie jetzt weitermachen wollen– darüber werden wir gleich noch etwas hören –, werdenSie nicht den sicherheitspolitischen Anschluß an Europaerreichen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Koppelin.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren den Haus-halt der Bundeswehr in einer Zeit, in der die Bundes-wehr sehr viel Zustimmung und Sympathie in unsererBevölkerung erfährt. Das war nicht immer so. Ich denke,wir alle – vielleicht außer der PDS und großer Teile vonBündnis 90/Die Grünen; die Rede der Kollegin Beer hatdies bewiesen – sind froh, daß es Zustimmung in unsererBevölkerung zur Bundeswehr gibt.
Sie, Herr Verteidigungsminister – er hat wieder aufder Regierungsbank Platz genommen –, haben beson-ders durch Ihre Aussagen zur Finanzierung der Bun-deswehr zu Beginn dieser Legislaturperiode, so meineich, zu Recht sehr viel Zustimmung bei der Truppe er-fahren. Sie haben jedoch nicht nur aus der Truppe Zu-stimmung erfahren, sondern auch von den Oppositions-parteien F.D.P. und CDU/CSU; denn wir haben – darandarf erinnert werden – dem Etat 1999, Ihrem Etat, unse-re Zustimmung gegeben.Jede kritische Frage aus den Reihen der Opposition,ob Sie, Herr Verteidigungsminister, Ihr Verspre-chen einhalten werden, daß der Etat der Bundeswehrim Rahmen des Haushaltsentwurfs 2000 nicht dochreduziert wird, haben Sie mit der Bemerkung abge-blockt:Die Koalition hat sich verpflichtet, der Bundeswehrzunächst die notwendige Sicherheit zu geben. Je-der, der das in seinen Reden in Zweifel zieht, redetgegen die erklärte Politik der Bundesregierung. Dassoll klar ausgesprochen werden.So hat sich Rudolf Scharping wörtlich geäußert. Das istnoch nicht lange her.Jetzt aber stellt Bundesfinanzminister Eichel denVerteidigungsminister bloß. Das, glaube ich, wäre nichtnotwendig gewesen; denn daran ist der Verteidigungs-minister selber nicht ganz schuldlos. Herr Bundesvertei-digungsminister, Sie müssen sich fragen lassen, warumSie im Kabinett den Vorschlägen von Herrn Eichel IhreZustimmung gegeben haben, um dann anschließendlandauf, landab in Interviews und Reden die Reduzie-rung des Bundeswehretats anzuprangern, obwohl Siedoch im Kabinett selber dafür gestimmt haben.
Die Bundeswehrsoldaten und ihre Angehörigen ha-ben sich auf die mehrfach gegebene Zusage des Bun-desverteidigungsministers verlassen, daß es keine Kür-zungen geben werde. Deshalb trifft das Diktat des Bun-desfinanzministers, der Bundeswehr erneut Milliarden-beträge wegzunehmen, diese völlig überraschend undvöllig unvorbereitet. Diese Kürzungen – das möchte ichmit Blick auf die Auslandseinsätze sagen – werden auchzu dem denkbar ungünstigsten Zeitpunkt vorgenommen.Nun wäre es unredlich – das ist hier schon angespro-chen worden –, nicht darauf hinzuweisen, daß auch diealte Koalition zur Konsolidierung des Gesamtetats denBundeswehretat gekürzt hat. Wir haben das damalssehr bedauert. Es wäre unredlich, wenn wir das nichteingestehen. Herr Eichel – das muß man hier ganz offensagen – macht eigentlich nichts Neues. Was er vorhat,gab es teilweise auch schon in der Vergangenheit.Nur, Herr Bundesverteidigungsminister, wenn dieBundeswehr – wir Freien Demokraten bestreiten dasnicht – schon seit langem unterfinanziert ist, stellt sichdie Frage: Wieso haben Sie, der heutige Verteidigungs-minister, es früher als SPD-Fraktionsvorsitzender zuge-lassen, daß die SPD-Bundestagsfraktion bei den Haus-haltsberatungen zusätzliche Anträge gestellt hat, um denBundeswehretat noch mehr zusammenzustreichen?
Deswegen ist der Hinweis von Ihnen auf die Politik deralten Koalition nicht korrekt.Jetzt, da sich die Bundeswehr verstärkt an Aus-landseinsätzen beteiligt, ist eine radikale Reduzierungdes Verteidigungsetats – ich wiederhole – unverant-wortlich. Wer will ausschließen, daß die Haushälter derrotgrünen Koalition noch einmal eine Streichorgie imVerteidigungsetat inszenieren, wie sie es auch beimletzten Etat veranstaltet haben? Von Ihren Regierungs-kollegen haben Sie, Herr Bundesverteidigungsminister,bei den Haushaltsberatungen wirklich nichts Gutes zuerwarten; denn auch bei den letzten Haushaltsberatun-gen haben Ihnen allein die Haushalts- und Verteidi-gungspolitiker der F.D.P. und der Union zur Seite ge-standen.Nun mag der eine oder andere sagen: Nein, dasstimmt alles gar nicht, hier überzieht der AbgeordneteAngelika Beer
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der F.D.P. Ich möchte deshalb aus dem „Tagesspiegel“von gestern zitieren – das ist sehr amüsant zu lesen –:In den vergangenen Wochen ist es über den Spar-kurs zu Spannungen zwischen Scharping und denHaushaltspolitikern der rot-grünen Regierungsfrak-tion gekommen. Die zuständigen parlamentarischenBerichterstatter Volker Kröning und OswaldMetzger zeigten sich auch öffentlich verär-gert über den ihrer Ansicht nach ungenügendenSparwillen des Verteidigungsministers.– Man höre!In Kreisen der koalitionären „Sparkommissare“wird Scharping nach Tagesspiegel-Informationenvorgeworfen, er betreibe Oppositionspolitik in derRegierung. Dabei arbeite er mit der Opposition zu-sammen …So steht es im „Tagesspiegel“. Wir haben also nocheiniges zu erwarten.Ich will eine kurze Bemerkung zur Rede der KolleginBeer machen. Es war wirklich sehr anstrengend, ihr zu-zuhören. Ich kenne die Kollegin Beer schon sehr lange,und ich bin der Kollegin Volquartz ausgesprochendankbar für dieses Zitat gewesen. Die Kollegin Beerwollte Schleswig-Holstein wirklich zur bundeswehrfrei-en Zone machen. Kollegin Beer, ich weiß, woher Siekommen. Ich glaube, früher waren Sie bei den Marxi-sten-Leninisten. Ich sage es einmal ganz einfach: In derVergangenheit haben Sie das System sprengen wollen,heute sprengen Sie vielleicht noch den Rasen, und denRest reagieren Sie hier ab.
Selbstverständlich sind wir Freien Demokraten bereit,das Gesprächsangebot über eine Neuausrichtung undeine Verbesserung der Bundeswehr, das der Verteidi-gungsminister an die Opposition gerichtet hat, anzu-nehmen. Herr Verteidigungsminister, dazu gehört dieBereitschaft, Vorschläge aus der Opposition unvorein-genommen zu diskutieren. Auch wir haben unsere Vor-schläge auf den Tisch gelegt.Es muß weiterhin das kontinuierliche Gespräch derfür den Verteidigungsetat zuständigen Abgeordnetengeben. Das hat es in der Vergangenheit immer gegeben.Manch Kritisches – Herr Verteidigungsminister, ich be-streite nicht, daß es das gab – haben wir in dem soge-nannten Bewilligungsausschuß gemeinsam – SPD,CDU/CSU und F.D.P.; die Grünen will ich außen vorlassen, sie wollten sich daran nicht beteiligen – ausge-bügelt. Wir haben dort manches korrigieren können.Ich darf folgendes in Erinnerung rufen: Mit Beginndieser Legislatur hat der Haushaltsausschuß, auch mitden Stimmen der Koalition, beschlossen, diese Einrich-tung fortzusetzen – um diese Gesprächsrunde dann inder nächsten Sitzung des Haushaltsausschusses auf Vor-schlag des Kollegen Kröning total abzuschaffen. Unsfehlen deswegen viele Informationen aus dem BereichVerteidigung, und es fehlt das Gespräch unter den Ab-geordneten. Diese Runde ist ohne erkennbaren Grundbeendet worden. Ich bedaure das außerordentlich, weilwir dort viel Gutes für die bei der Bundeswehr Beschäf-tigten und ihre Angehörigen geleistet haben.Sie, Herr Bundesverteidigungsminister, haben vor derFührungsakademie der Bundeswehr in Hamburg gesagt,der Bundeswehr fehlten elementare Fähigkeiten, umeinen wirkungsvollen und international angemessenenBeitrag zur kollektiven Verteidigung und bei Krisen-einsätzen zu leisten. Umfang, Zusammensetzung undAusrüstung genügten nicht den gewachsenen Aufgaben,so Rudolf Scharping vor wenigen Tagen.Wenn dem so ist – ich glaube, daß Sie die Situationdurchaus richtig beschrieben haben –, dann frage ichmich: Wieso konnten Sie im Kabinett dem Etat zustim-men? Warum haben Sie, Herr Verteidigungsminister,vor der entscheidenden Kabinettssitzung nicht das klä-rende Gespräch mit dem Bundeskanzler gesucht undihm die Situation der Bundeswehr geschildert?Sie haben uns heute erklärt, Ihr Verhältnis zum Bun-deskanzler sei ganz hervorragend. Wenn das so ist, danngeht man doch zu diesem Mann hin, schildert ihm dieSituation der Bundeswehr und sagt: Gerhard, hör malzu, so geht es nicht, wir können nicht streichen! –Das haben Sie nicht getan, und deswegen glaube ichnicht, daß Ihr Verhältnis zum Bundeskanzler ausgespro-chen gut ist, wofür ich übrigens Verständnis habe.
Ich komme zu einigen konkreten Punkten, die unsauch bei den Beratungen beschäftigen werden. HerrBundesminister, wie wollen Sie bei diesem Etat eigent-lich eine Wehrsolderhöhung durchführen? Wie wollenSie endlich die unerträgliche und ungerechte Diskrepanzin der Besoldung zwischen Soldaten in West und Ostbeseitigen?
Wir können doch nicht mehr von der Armee der Einheitsprechen, solange die ungleiche Besoldung der Solda-ten aus Ost und West nicht beseitigt wird. Wie wollenSie die notwendigen Investitionen bei der Bundeswehrbezahlen? Wie sollen die Beschaffungsmaßnahmenfinanziert werden?Wir werden uns auch darüber unterhalten müssen,welche Konsequenzen dieser Etat mit seinen Einsparun-gen für die deutsche wehrtechnische Industrie hat. Ichdarf daran erinnern: Jede Milliarde DM, die bei den In-vestitionen in die Wehrtechnik gekürzt wird, kostet dort20 000 Arbeitsplätze.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen undmüssen seit der deutschen Einheit außenpolitisch in derersten Reihe sitzen. Das hat sich besonders beim Koso-vo-Konflikt gezeigt. Wenn das so ist, dann kann mannicht akzeptieren, daß der Bundeswehr jetzt so vieleJürgen Koppelin
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finanzielle Mittel genommen werden, daß wir nur nochein zweitrangiger Bündnispartner sind.Wir Freien Demokraten können auch nicht akzeptie-ren, daß der Bundesfinanzminister und Mitglieder derrotgrünen Koalition erklären, auch die Bundeswehrmüsse ihren Beitrag zur Konsolidierung der Staatsfinan-zen leisten. Diesen Beitrag hat die Bundeswehr schonmehrfach erbracht. Wenn der Bundesverteidigungsmi-nister sagt, die Bundeswehr sei schon seit Jahren unter-finanziert und könne ihren Aufgaben kaum noch nach-kommen, dann ist es – Herr Verteidigungsminister, ichsage das noch einmal ausdrücklich – unverantwortlich,daß Sie diesem Etat im Kabinett zugestimmt haben.Wenn dieser Entwurf des Verteidigungsetats der rot-grünen Koalition wirklich das letzte Wort sein sollte,dann wird die Handlungsfähigkeit der Bundeswehrerheblich eingeschränkt werden. Die finanziellen Mittel,die wir der Bundeswehr zur Verfügung stellen, müssensich doch nach den verteidigungspolitischen Aufgabenund nicht nach der Kassenlage richten.
Wenn dieser Entwurf des Verteidigungsetats Wirk-lichkeit werden sollte, dann wird Ihre Glaubwürdig-keit, Herr Bundesverteidigungsminister, erheblich be-schädigt. Ein Verteidigungsminister, der bei den Ange-hörigen der Bundeswehr keine Glaubwürdigkeit mehrhat, sollte sich dann allerdings fragen, ob er noch seinAmt als oberster Dienstherr unserer Streitkräfte wahr-nehmen kann. Insofern, Herr Bundesverteidigungsmi-nister, war es vielleicht auch symbolisch, daß Sie ebenschon eine Zeitlang auf Ihrem Abgeordnetenplatz geses-sen haben.Vielen Dank für Ihre Geduld.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Heidi Lippmann.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Nach all der Kritik, die es in dieserDebatte an den erzwungenen Sparmaßnahmen derHardthöhe gegeben hat, sollten wir objektiverweiseeinige Entwicklungen anerkennen.Erstens. Herr Minister Scharping ist trotz erzwunge-ner Etatkürzungen noch nicht zurückgetreten, wie er eszu Beginn seiner Amtszeit angedroht hatte.Zweitens. Einsparungen im Rüstungshaushalt sindmöglich, obwohl bisher immer das Gegenteil behauptetwurde.
Doch leider wird dies nicht als Chance zur Abrüstungund Entmilitarisierung begriffen.Drittens. SPD und Grünen ist es gelungen, in wenigerals zwölf Monaten einen Paradigmenwechsel in deraußen- und sicherheitspolitischen Orientierung ihrerbeiden Parteien zu vollziehen. Während Grüne und So-zialdemokraten noch vor wenigen Jahren die drohendeMilitarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik be-fürchteten und dies auch oft genug in diesem Parlamentberufen haben, treiben sie diese heute mit allen Mittelnvoran; denn sie haben mittlerweile an der neuen macht-politischen Rolle des neuen Deutschland Gefallen ge-funden.
Statt, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, aufzivile Mittel der Krisenvorbeugung umzuschalten, set-zen Sie das fort, was unter den Ministern Rühe und Kin-kel begonnen wurde, nämlich Außen- und Sicherheits-politik mit militärischen Mitteln durchzusetzen. DerHerr Verteidigungsminister ist hier vorhin schon einmalmit dem zitiert worden, was er am 9. September sagte:Die politische Führung unseres Landes muß ge-meinsam entscheiden, was aufzuwenden ist, umdem außenpolitischen Gestaltungsanspruch derBundesregierung durch Bereitstellung angemesse-ner militärischer Mittel Geltung zu verschaffen. Nach dem, was wir in den vergangenen Monaten vonder Regierung in der Außen- und Sicherheitspolitik er-lebt haben – ich nenne hier nur die Stichworte Kriegsbe-teiligung, neue NATO-Strategie und EU-Militärunion –,wird es kaum jemanden wundern, daß heute deraußenpolitische Gestaltungsanspruch mit militärischenMitteln umgesetzt werden soll.Doch im Gegensatz zu Ihnen, Kolleginnen und Kol-legen der Regierungsfraktionen, ist für uns nicht allesSchnee von gestern, was Sie vor der Machterlangunggesagt haben. Wir haben nicht vergessen, daß Bündnis-grüne noch vor einigen Jahren die Abschaffung derBundeswehr und der NATO gefordert haben und daßsie Rüstungsproduktion und Rüstungsexporte verbietenwollten. Wir haben nicht vergessen, daß Sozialdemo-kraten und Grüne die zivile Konfliktbewältigung zueinem Schwerpunkt ihrer Außen- und Sicherheitspolitikerklärt hatten.
Auch haben wir nicht vergessen, daß sie sich massiv ge-gen eine Interventionspolitik mit militärischen Mittelnzur Friedenserzwingung ausgesprochen hatten.Der von Ihnen selbst zu verantwortende Scherben-haufen, vor dem Sie stehen, ist so groß, daß Sie kaumnoch über ihn hinwegblicken können. Die Wahlergeb-nisse der vergangenen Wochen und Monate sind hierfürauch ein Beweis. Sie haben nicht nur nahezu alle Poli-tikziele und Wahlversprechen, die Sie noch vor einemJahr lautstark verkündet haben – Sie erinnern sichsicherlich noch an Ihre Wahlkampfparolen –, verraten,sondern Sie haben auch Ihre Glaubwürdigkeit verloren.Dadurch tragen Sie ganz massiv zu der zunehmendenPolitikverdrossenheit bei.
Jürgen Koppelin
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4916 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Ein Meilenstein in Ihrer einjährigen Regierungsge-schichte ist die deutsche Beteiligung an einem Bomben-krieg der NATO. Damit sind Sie einen ganz entschei-denden Schritt gegangen, den die Kohl-Regierung Ihnenüberlassen hatte. Das war eine deutsche Beteiligung aneinem NATO-Krieg, der durch Völkerrecht und Grund-gesetz nicht gedeckt war.Der Haushalt, den wir heute hier beraten, ist der erstenach den Luftangriffen der NATO gegen Jugoslawi-en, die auch der erste Krieg deutscher Soldaten nach1945 waren. Dieser Krieg war aus vielen Gründen teuer.Er hat nicht nur viele Menschenleben gekostet, Infra-strukturen zerstört und ein umweltpolitisches Desasterauf dem Balkan angerichtet, sondern er hat auch ausfinanzieller Sicht einen enorm hohen Preis. Wenn wirseine Langzeitfolgen einrechnen, kostet er ein Vermö-gen, mit dem man viele Krisenherde der Welt friedlichbereinigen könnte. Doch statt die durch das Militärischegebundenen Ressourcen nun schrittweise in zivile Kon-fliktvorbeugung umzuleiten, ist die Bundesregierungwillens, an der Hochrüstung festzuhalten.Natürlich hat auch der Verteidigungsminister Einspa-rungen hinnehmen müssen. Doch im Gegensatz zu ande-ren Ressorts erhält er zusätzliche Mittel durch denFinanzminister, so zum Beispiel die Kriegskosten, fürdie in diesem Jahr 800 Millionen DM und im nächstenJahr 2 Milliarden DM im Einzelplan 60, der Allgemei-nen Finanzverwaltung, veranschlagt sind.
Bereits jetzt ist im Gespräch, Kollege Nachtwei, daßauch militärische Großprojekte über den Einzelplan 60finanziert werden sollen.
Daß Erhöhungen im investiven Rüstungsbereich er-forderlich sind, ergibt sich zwangsläufig aus dem An-spruch, Deutschland zu einer kriegführenden Macht in-nerhalb eines neuen Militärblocks Europa zu machen. Eshat seinen Preis, wenn Europa rüstungstechnologisch andie USA herankommen will. Das neue Satellitensystem,neue Transportflugzeuge und natürlich auch der Euro-fighter werden unzählige Milliarden verschlingen, vondenen Sie heute noch nicht wissen, wie Sie sie finanzie-ren wollen. Wir befürchten, daß diese zusätzlichen, überden bisherigen Rüstungsetat von 45 Milliarden DMhinausgehenden zig Milliarden zu Lasten des Sozial-staats gehen werden und daß Herr Riester erneut Federnlassen wird.Angesichts von vier Millionen Arbeitslosen und an-gesichts der drastischen Einsparungen im sozialen Be-reich, die gerade durch Ihr Sparpaket deutlich werden,sind die Einsparungen im Verteidigungshaushalt, die Siehier so lautstark bejammern, Peanuts, Ihre Planungen imRüstungsbereich allerdings Größenwahn. Dies werdenwir auf keinen Fall mitmachen. Im Gegenteil, wir wol-len die Rüstungsausgaben schrittweise einschränken, umlangfristig mehr Spielräume für den Sozialstaat zu ha-ben.Mit der sogenannten Weizsäcker-Kommission zurZukunft der Bundeswehr bestünde eine realistischeChance, endlich in einen geordneten, sozialverträglichgestalteten Prozeß der Rüstungsminderung einzutreten.Die dazu überfälligen grundlegenden Strukturreformenkönnten auf den Weg gebracht werden. Dabei darf esaber nicht darum gehen, den Ausbau interventionsfähi-ger High-Tech-Streitkräfte durch Einschnitte bei denPersonalausgaben zu finanzieren; denn das wäre keineAbrüstung, sondern eine qualitative Umrüstung.Die PDS ist nicht bereit, diese militärische Groß-machtpolitik mitzutragen, die zu einem qualitativenWettrüsten, zu neuen kostspieligen Rüstungsrunden,zum Wettlauf bei Rüstungsexporten, zu völkerrechts-widrigen gewalttätigen Interventionen, zu allzeit berei-ten schlagkräftigen Truppen und Bomben, die weltweiteingesetzt werden, führt.
Was wir brauchen, ist eine neue gesellschaftliche De-batte über die außenpolitische Rolle der Bundesrepu-blik. Der Kosovo-Konflikt hat klar die Auffassung be-stätigt, daß Krieg in aller Regel kein geeignetes Mittelder Konfliktbewältigung ist. Wir brauchen eine Diskus-sion darüber, wie die Zukunft durch Abrüstung gesichertwerden kann, und darüber, wie eine gerechtere Arbeits-und Sozialpolitik, eine vernünftige Bildungspolitik undeine gerechte internationale Wirtschaftspolitik Gewaltund Konflikte verhindern können. Investieren wir Milli-arden und nicht nur ein paar Millionen in zivile Kon-fliktbearbeitung, um Alternativen zu Militär, Rüstungund ihrer gesamten Tötungsmaschinerie zu entwickeln!Dies ist die vordringliche Aufgabe, die es zu bewältigengilt. Hierzu brauchen wir dringend eine breit geführteDebatte in der Gesellschaft. Die PDS ist bereit, ihrenAnteil dazu zu leisten. Wir suchen das Gespräch mitBürgern und Bürgerinnen, Experten und Expertinnenund den Betroffenen, also den Soldaten, auf deren Rük-ken diese unsägliche Debatte geführt wird.Das 21. Jahrhundert darf nicht von Gewalt und Mili-tär geprägt sein, sondern muß mit zivilen und nichtmili-tärischen Mitteln gestaltet werden.
Frau Kollegin,
Ihre Redezeit!
Noch ein persönlichesNachwort an die Kollegin Beer, Frau Präsidentin: Alsehemalige Parteifreundin schäme ich mich dafür, daßSie all das, was sie zehn Jahre lang in diesem Parlamentvertreten haben, mit Ihrer heutigen Rede einmal mehrverraten haben.Danke schön.
Heidi Lippmann
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Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Zumkley.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die zu erbringenden Einsparungenbei der Bundeswehr sind schmerzhaft. Es führt aber keinWeg daran vorbei. Auch die Bundeswehr muß ihrenBeitrag zu der unabweisbar notwendigen Konsolidie-rung der Staatsfinanzen leisten.
Wer glaubt, man könne den Verteidigungshaushalt aus-nehmen, wie Sie von der Opposition es fordern, der solldas der Bevölkerung einmal erklären. Ich wünsche dabeiviel Vergnügen.
Die Defizite und Auswirkungen der verfehlten Politikder Vergangenheit sind so nachhaltig, daß sie den Ver-teidigungshaushalt 2000 noch spürbar beeinflussen. Dienicht unerheblichen Mittel für Auslandseinsätze muß-ten früher aus dem Einzelplan 14 erwirtschaftet werden.Dies hat bis heute zu zusätzlichen Einbrüchen in dermateriellen Ausstattung und zu erheblichen Engpässenin der Materialversorgung geführt. Bereits im April1998 haben ich und andere im Parlament auf diese ver-fehlte Politik hingewiesen. Auch Karl Feldmeyer schriebin der „FAZ“ vom 18. Januar 1998 zutreffend:Der Minister will– das war Rühe –eine politisch pannenfreie und lautlos funktionie-rende Bundeswehr gewährleisten.Diese Verschleierungspolitik wird bis heute von derCDU und F.D.P. rückwärtsgerichtet fortgesetzt. Wer, meine Damen und Herren, in Zusammenhangmit unserer Bundeswehr auf einem außerordentlichenVerbandstag des Deutschen Bundeswehr-Verbandesnach dem Motto „Haltet den Dieb!“ mit Schaum vordem Mund spricht, so wie es die Kollegen Breuer undNolting getan haben, der betreibt eine polemische Poli-tik und versucht, die Streitkräfte parteipolitisch zu miß-brauchen und von eigenen schwerwiegenden Fehlern inder Vergangenheit abzulenken.
– Lassen Sie sich einmal von Herrn Nolting sagen, HerrKollege, was er geäußert hat: „Bananenrepublik“ undähnliches.
Sie haben doch den Verteidigungshaushalt als Stein-bruch mißbraucht und nach Kassenlage Kürzungen inden laufenden Haushaltsjahren gegenüber der Planungvorgenommen. In den Jahren 1991 bis 1998 haben Sieden Verteidigungshaushalt um 11,2 Milliarden DM ge-kürzt.
Die jährlichen Zahlen kennen Sie; die habe ich Ihnenschon vorgehalten. Daß auch wir diesbezügliche Anträ-ge gestellt haben – Kollege Koppelin und andere habenes jetzt auch wieder erwähnt –, ist ja wahr. Ich will Ih-nen aber auch hierzu die Zahlen nennen: In der Zeit von1994 bis 1998 haben Sie den Etat um 5,6 Milliarden DMgekürzt. Wir haben demgegenüber Anträge, die Kürzun-gen in Höhe von 1,18 Milliarden DM vorsahen, gestellt.
– Nicht zusätzlich, sondern alternativ!
Wir würden heute fabelhaft dastehen, wenn Sie uns da-mals gefolgt wären und nicht auf Ihren Kürzungen be-standen hätten.
Für uns stellt sich nach der Bestandsaufnahme derZustand der Bundeswehr wie folgt dar – dabei wirdnichts verschleiert und beschönigt –: Die Einsatzfähig-keit der Bundeswehr ist, wie ich es sehe, noch nicht inFrage gestellt. Die überwiegende Zahl der Großgeräteund Waffensysteme hat die Grenzen ihrer Belastbarkeiterreicht. Nur dem Engagement der Soldaten, der zivilenMitarbeiter, der politischen Leitung und der militäri-schen Führung ist es zu verdanken, daß die Bundeswehrihren Auftrag erfüllt. Dafür haben sie Dank und Aner-kennung verdient.
Die durch den Verteidigungsminister vorgeseheneAuflösung der auferlegten Einsparung für 2000 ist vonallen denkbaren Möglichkeiten die beste. Übrigens, Sol-daten sind auch Bürger, die Familie haben und zum Bei-spiel an einer guten Ausbildung ihrer Kinder interessiertsind. Gesellschaftspolitische und auch finanzpolitischeEntwicklungen sind auch für die Angehörigen der Bun-deswehr von großer Bedeutung.
Hätten Sie von der jetzigen Opposition in den ver-gangenen Jahren nicht ständig Einsparungen vorge-nommen, würde es uns jetzt wesentlich besser gehen. Dabrauche ich nur auf den investiven Teil – um eine wei-tere Rubrik zu nennen – des Rüstungsbereichs hinzuwei-sen. Dort ist Ihre Bilanz nicht rosig. 1988 wurden noch13,2 Milliarden DM für Investitionen ausgegeben. Inden Folgejahren haben Sie diesen Anteil ständig abge-
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baut. Die Ist-Ausgaben haben sich von 1991 bis 1997ständig verringert, nämlich von 10,8 Milliarden DM auf7 Milliarden DM.
– Das kommt gleich, Herr Kollege Austermann.Erst 1998 steigen sie etwas, nämlich auf 8,1 MilliardenDM. Das ist ein leichter Anstieg; da waren schließlichBundestagswahlen. Gemessen an diesen Daten, HerrKoppelin, wird der investive Anteil trotz der Einspa-rungsauflagen zugunsten eines Zukunftsprogramms aufannähernd gleichem Niveau gehalten. Im laufenden Jahrwerden 8,9 Milliarden DM investiert. Für 2000 sind 8,45Milliarden DM geplant. Ein höherer Ansatz wäre mirauch lieber; das gebe ich unumwunden zu. Ich habe aberzur Zeit nicht den Eindruck, daß dies erreichbar wäre.Wir werden weiterhin an dem Ziel der sozialen Verbes-serung festhalten. Der Bundesminister hat zu Recht aufden Abbau des Beförderungsstaus hingewiesen. Da wirdes massive materielle Verbesserungen geben, die wir fürwichtig halten, damit der Beförderungsstau, den Sie jah-relang hingenommen haben, endlich abgebaut werdenkann.
Im übrigen, Herr Austermann, empfehle ich Ihnen alsHaushälter, die Zahlen noch einmal nachzulesen. DieZahlen der Berufs- und Zeitsoldaten bleiben wie 1999;da wird nicht gekürzt. Die Zahl der Wehrpflichtigenvermindert sich um 6 000. Das sind ein paar weniger.Da haben Sie recht. Aber es steht auch fest – das will ichder Redlichkeit halber sagen –, daß wir nach wie vor –wie bei Ihnen – 8 000 Berufs- und Zeitsoldaten wenigerals vorgegeben haben.
Das war bei Ihnen auch schon so; das ist kein Vorwurf.Aber die Zahlen müssen stimmen. Ich darf mir alsNichthaushälter einmal erlauben, einem Haushältereinen solchen Rat zu geben. Die Streitkräfte erhalten in den kommenden Jahrenjeweils 2 Milliarden DM für die internationalen Einsätzezusätzlich aus dem Einzelplan 60 für Ausbildung, Mate-rialerhaltung, Schutz und mehr. Bei Ihnen mußte diesder Verteidigungsminister über die jährlichen Kürzun-gen hinaus zusätzlich erwirtschaften. Das hat die kräfti-gen Einschnitte in die geplanten Beschaffungsvorhabenund den laufenden Betrieb beeinflußt.Mit dem Haushaltsentwurf 2000 haben sich die Rah-menbedingungen für die Kommission „Gemeinsame Si-cherheit und Zukunft der Bundeswehr“ übrigens nichtverändert. Eine zukunftsfähige Streitkräftereformbleibt auch weiterhin notwendig. Struktur, Umfang,Ausrüstung und Ausbildung der Bundeswehr sind um-fassend zu planen. Schnellschüsse müssen dabei ver-mieden werden. Schließlich wird es sich um eine quali-tative Reform handeln, die sorgfältiger Vorbereitung be-darf. Allein aus der Verantwortung gegenüber den Men-schen, die in der Bundeswehr arbeiten und dienen, sowiegegenüber unseren internationalen Verpflichtungen mußbei einer derartigen Reform mit der gebotenen Präzisionund Seriösität gearbeitet werden. Hierfür steht auch dieArbeit der Kommission.
Die Umsetzung der Kommissionsarbeit durch Regie-rung und Parlament wird Auswirkungen auf die zukünf-tige Bundeswehr haben. Die weitere Entwicklung desVerteidigungshaushalts in den kommenden Jahren wirdsich deshalb auch an den Ergebnissen der Struktur-kommission und den daraus folgenden Entscheidun-gen orientieren müssen. Wir müssen aber auch den Muthaben, bei der Finanzierung und bei der Organisationder Streitkräfte neue Wege zu gehen. Noch haben wirzum Beispiel viel zuviel Bürokratie, die wir abbauenwollen.Meine Damen und Herren, den Angehörigen derStreitkräfte wird in ihrem Beruf besser mit solidenStaatsfinanzen gedient sein als mit einem Schuldenbergund einer nicht vertretbaren Zinsbelastung.
Dies gilt mittel- und langfristig auch für die Erfüllungeiner effizienten Sicherheitsvorsorge durch die Bundes-wehr, unserer Bündnisverpflichtung und unserer solida-rischen Teilnahme an internationalen Friedenseinsätzen.Dafür treten wir Sozialdemokraten ein. Alle sind herz-lich eingeladen, über Parteigrenzen hinweg an dieserAufgabe mitzuwirken.Vielen Dank.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Nolting
das Wort.
Herr KollegeZumkley, Sie haben zu Recht angesprochen, daß es auchin den zurückliegenden Jahren Kürzungen im Verteidi-gungshaushalt gegeben hat. Ich möchte Sie daran erin-nern, daß es die Opposition, speziell die SPD, war, dieregelmäßig draufgesattelt hat. Sie haben unter anderemden Eurofighter, das GTK, die Entfernungspauschale fürGrundwehrdienstleistende usw. abgelehnt.Der Bundesminister der Verteidigung fordert landauf,landab bei jeder Gelegenheit – letzte Woche zum Bei-spiel in Hamburg –, daß er round about 20 MilliardenDM mehr benötigt. Sie aber – das ist in der mittelfristi-gen Finanzplanung nachzulesen – wollen den Verteidi-gungsetat in den nächsten Jahren um über 18 MilliardenDM weiter kürzen. Das heißt, die Infrastruktur kannnicht verbessert werden, Gerät kann nicht mehr be-schafft werden, der Beförderungs- und Verwendungs-stau wird nicht beseitigt, und die unterschiedliche Be-soldung in Ost und West sowie die Ungerechtigkeiten,Peter Zumkley
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die in diesem Bereich immer noch vorherrschen, könnenund werden nicht gemildert werden.
Herr Kollege Zumkley, wenn Ihre Pläne Wirklichkeitwerden, dann wird in der Bundesrepublik Deutschlandder Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttosozial-produkt im Vergleich zu allen anderen NATO-Staatenan vorletzter Stelle liegen,
und dann können wir – auf diesen Punkt habe ich amletzten Samstag bei der Tagung des Deutschen Bundes-wehr-Verbandes hier in Berlin hingewiesen – unserenaußen- und sicherheitspolitischen Aufgaben nicht mehrgerecht werden. Damit sind wir auf dem Wege zu eineraußen- und sicherheitspolitischen Bananenrepublik. Dieswerden Sie dann, auch in der Öffentlichkeit, zu verant-worten haben.Ich bedauere – denn die Grünen haben diesen Punktheute angesprochen –, daß die Grünen auf dieser Ver-bandstagung nicht anwesend waren. Dort hätten sie ihreVorstellungen, die sie heute hier vorgetragen haben,darlegen können. Dann hätten sie an der Reaktion derdort Anwesenden spüren können, wie bedrohlich dieSituation von den Angehörigen der Bundeswehr emp-funden wird.Vielen Dank.
Herr Zumkley,
bitte.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte drei Bemerkungen ma-
chen:
Erstens. Mit dem Begriff „Bananenrepublik“ müssen
Sie leben, Herr Nolting. Das muß ich Ihnen überlassen.
Es ist schon ein starkes Wort, unsere Bundesrepublik
Deutschland so zu bezeichnen.
Zweitens. Die von uns gestellten Kürzungsanträge
wurden nicht auf Ihre draufgesattelt. Die kannten wir gar
nicht.
Es sind vielmehr Alternativen gewesen. Ich bin bereit,
mit Ihnen an Hand der Aktenlage darüber zu sprechen.
Das ist zugesagt.
Drittens. Was die Ost-West-Besoldung angeht, so
belastet uns diese genauso wie jeden anderen hier im
Hause. Ich weise darauf hin, daß Sie es in Ihrer Regie-
rungszeit nicht geschafft haben, diese Unterschiede ab-
zubauen.
Mit Vergnügen sehe ich einem Antrag von Sachsen und
Thüringen im Bundesrat entgegen, in dem dies gefordert
wird. Herr Nolting, die werden dies nicht fordern, weil
in ihren Ländern zu viele Probleme bestehen.
– Fangen Sie doch nicht an, polemisch zu werden, son-
dern sehen Sie doch einmal die Schwierigkeiten, die wir
haben!
Arbeiten wir gemeinsam an der Ost-West-Besoldung!
Dazu sind wir bereit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Paul Breuer.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Da in dieser Debatte offenbar aufKurzzeitgedächtnis und weniger auf Langzeitgedächtnisgesetzt wird, will ich versuchen, dem Langzeitgedächt-nis etwas nachzuhelfen.Ich beginne mit Ihnen, Frau Kollegin Beer. Ich stellefest, daß die grandiosen verteidigungs- und sicherheits-politischen Reden, die Sie noch vor zwei Jahren gehal-ten haben, heute von Frau Lippmann gehalten werden.
Frau Lippmann von der PDS ist Ihre Nachfolgerin undsagt Ihnen heute nach, daß Sie Ihren Kurs verraten hät-ten. Ihre sicherheitspolitische Kompetenz kann nicht all-zu groß sein, wenn sie heute mit der der PDS überein-stimmt.
Ich komme im einzelnen darauf zurück. Daß Sie hier imBall paradox als Schutzpatronin der Bundeswehr auf-treten wollen, nimmt Ihnen draußen im Land niemandab, Frau Beer.
Kollege Peter Zumkley hat es in anderen Worten ge-sagt als Sie, Herr Minister Scharping: Der Verteidi-gungsetat könne aus der Entwicklung des GesamtetatsGünther Friedrich Nolting
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4920 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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deshalb nicht ausgenommen werden, weil man das derBevölkerung nicht erklären könne.
Das ist sehr interessant. Ich habe eher den Eindruck, daßder Verteidigungsetat deshalb nicht ausgenommen wer-den kann, weil Sie das der SPD-Fraktion und insbeson-dere den Grünen nicht erklären können und dafür keineMehrheit haben.
Der Verteidigungsminister Scharping versucht eshänderingend zu erklären.
Anders kann ich das, was er seit Wochen versucht,überhaupt nicht verstehen. Er redet von sicherheitspoliti-schen Pygmäen. Diese sieht er nicht in der Opposition;das seien keine oppositionellen Attitüden, sagt er. Nein,diese sicherheitspolitischen Pygmäen sieht er in den ei-genen Reihen. Das war sehr deutlich zu sehen. Ich kennezwar nicht die Namen, aber einige Bewerber.
Frau Beer, Sie sind mit absoluter Sicherheit dabei. Aberich kenne auch andere.Herr Kollege Zumkley, welche Unterstützung hatdieser Minister eigentlich in seiner eigenen Fraktion?Ich kann zwar nicht jeden Tag alle Zeitungen inDeutschland verfolgen, aber von einer großen Zahl vonSPD-Politikern, die diesen Verteidigungsminister in denletzten Wochen im Hinblick auf einen höheren Etat un-terstützt haben, habe ich nichts gelesen. Niemand vonden Verteidigungspolitikern hat in den letzten Tagen ge-gen die Sparpläne Eichels geredet. Die armseligen zweiStimmen gegen dieses Sparprogramm kommen dochnicht aus den Reihen der Verteidigungspolitiker, son-dern aus ganz anderen Reihen. Hilflos und konzeptlossind Sie in der Verteidigungspolitik!
Ich muß zugestehen, daß Scharping das rhetorischnicht ungeschickt macht. Allerdings wird die Leistungs-fähigkeit eines Ministers nicht nur am rhetorischen Ge-schick gemessen, sondern insbesondere auch daran,wieviel er durchsetzen kann. Ich stelle fest: Scharpingsetzt im Hinblick auf seine eigenen Vorstellungen nichtsdurch; er verliert bei dem, was er durchsetzen will. Dasist ganz offensichtlich.
Um das Gedächtnis zu schärfen, will ich die Situationbeschreiben, in der Scharping ins Amt kam.
– Der Minister Scharping, wenn Sie darauf Wert legen.Ich habe mit meinen Respekt vor diesem Minister keineSchwierigkeiten. Ich glaube eher, mit dem Respekt ha-ben Leute bei Ihnen Schwierigkeiten.
Als Verteidigungsminister Rudolf Scharping ins Amtkam, da geschah das ganz offensichtlich, Herr Schar-ping, wider Ihren Willen. Das können Sie wirklich nichtbestreiten. Sie wollten Fraktionsvorsitzender der SPDwerden. Das ist im Komplott Schröder/Lafontaine nichtmöglich gewesen. Minister Scharping wurde auf dieHardthöhe abgeschoben.
Wenn ich mir überlege, welche Möglichkeiten erdann hatte, und sie mit dem vergleiche, was er getan hat,dann muß das in der heutigen Debatte erwähnt werden.Ich zitiere aus einem Interview mit Herrn Scharping ausder „Bild am Sonntag“ vom 18. Oktober 1998. Ich gehedavon aus, daß das Interview autorisiert gewesen war.Herr Scharping sagte:Die Koalitionsvereinbarung und die Zusagen deskünftigen Bundeskanzlers sowie des künftigenBundesfinanzministers sind Garantien, die in dieserForm keiner meiner Vorgänger hatte.
Wo er recht hat, hat er recht. Solche Garantien hattekeiner seiner Vorgänger. Die eine Garantie war vomdamaligen Minister Lafontaine – heute ist er es nichtmehr, er ist mittlerweile fahnenflüchtig, auf seine Ga-rantie kann Scharping nicht mehr bauen –, die andereGarantie war von Bundeskanzler Schröder. Herr KollegeScharping, Sie kennen den Mann doch. Daß Sie jemalsauf seine Garantie bauen konnten, kann ich gar nichtverstehen.
– Das müssen Sie schon ertragen. – Ihre beste personal-politische Entscheidung in der Zeit als SPD-Vorsitzender bestand darin, Herrn Schröder als wirt-schaftspolitischen Sprecher in die Wüste zu schicken.Das war die beste personalpolitische Entscheidung. Ichattestiere Ihnen eine große Menschenkenntnis. Wer sichauf Schröder verläßt, ist verlassen. Auf ihn kann mandoch keine Garantien und vor allen Dingen keine Ver-teidigungspolitik bauen.
Verteidigungs- und Sicherheitspolitik – viele Kolle-ginnen und Kollegen auf der Bank der SPD-Fraktionwissen das genauso gut wie wir – hat etwas mit Ver-trauen und Verläßlichkeit zu tun. Wenn ein Ministersein Amt antritt, um Sicherheits- und Verteidigungs-politik im Vertrauen zu betreiben, wie Minister Schar-ping es sollte, und Zusagen in einer Koalitionsvereinba-rung erhält, dann müssen diese Zusagen auch eingehal-Paul Breuer
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ten werden, dann kann man nicht nach Ablauf von zehnMonaten sagen, das können wir der Bevölkerung nichterklären. Das ist nicht ehrlich.
Meine Damen und Herren, jetzt wissen wir, werschuld daran ist, daß die Zusagen nicht gehalten werden.Nach dem, was ich in der Debatte gehört habe, soll esoffenbar Herr Rühe sein.
Ich sage Ihnen eins: Die große Reputation, die sich HerrScharping in seiner Zeit als Verteidigungsminister – ichsage: zu Recht – erworben hat, resultiert aus dem Koso-vo-Konflikt. Wie wäre es aber um seine Reputation undHandlungsfähigkeit bestellt gewesen, wenn nicht VolkerRühe und die CDU/CSU-Fraktion die politische undtechnologische Möglichkeit zum Handeln geschaffenhätten?Sie haben doch damals bezüglich der Auslandseinsät-ze genau das Gegenteil verfolgt. Sie sind vor das Ver-fassungsgericht gezogen. Sie haben immer wieder ge-sagt, sie hielten nichts vom Aufbau der Krisenreaktions-kräfte. Diese Politik haben Sie damals bestritten. Heutewollen Sie die CDU/CSU und Herrn Rühe beschimpfenund gleichzeitig von ihrer Politik profitieren. Daskommt aber nicht hin.
Eines stimmt, Herr Kollege Scharping: Der Verteidi-gungsetat hat in den 90er Jahren in erheblicher Weisegelitten. Das habe ich im übrigen nie bestritten; das wis-sen die Kollegen aus dem Verteidigungsausschuß sehrgenau. Es stimmt auch, daß die Bundeswehr spätestensseit 1995 unterfinanziert war. Auch das habe ich – daswissen die Kollegen aus dem Verteidigungsausschußganz genau – nie bestritten.Sind Sie eigentlich geschichtslos? Wissen Sie, waszwischen 1990 und 1998 passiert ist? Allein die Bun-deswehr ist doch in dieser Zeit von 456 000 auf 340 000Mann reduziert worden. Hinzu kam die Integration derSoldaten aus der NVA: 200 000 die dann nicht mehrSoldaten waren. Wir hatten 200 000 Zivilbeschäftigteaus der ehemaligen NVA zusätzlich, was dann abgebautwurde.
Es gab den Aufbau Ost mit Milliardeninvestitionen, esgab eine neue Dislozierung der Bundeswehr im Westenmit Milliardeninvestitionen, und dann wollen Sie hierheute erzählen, in dieser Zeit sei nichts passiert.
Das ist doch unhistorisch und entspricht der Entwick-lung in dieser Zeit in keiner Weise.
Wenn Sie derart offensichtlich auf das Kurzzeitgedächt-nis setzen, muß man ernsthaft fragen, ob Sie das Lang-zeitgedächtnis eigentlich haben. Ihnen fehlt ein ganzesStück Orientierung.Nun zur Frage eines Umbaus der Bundeswehr, einerAnpassung der Bundeswehr an die neue historische Si-tuation. Ja, Herr Scharping, sie ist notwendig. Aber un-ter welchen Bedingungen? Sie haben doch deshalb vonden Garantien, die danach nicht eingelöst wurden, ge-sprochen, weil Sie wußten – ich bin fest davon über-zeugt, daß Sie als erfahrener Politiker es wußten –, daßman einen Umbau von Strukturen und auch einen Um-bau von Technologien nur dann vornehmen kann, wenndiese Strukturen nicht von außen massiv unter Druckgesetzt werden. Das ist völlig klar. Wenn man Struktu-ren von außen massiv unter Druck setzt, wenn man dasGeld wegnimmt – sie brechen ein, und Notmaßnahmensind notwendig –, hält sich jeder an jedem Strohhalmfest. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Verände-rung wird dadurch immer geringer. Das wissen Sie auch.Deswegen haben Sie gesagt: Ich habe Garantien. Ichbrauche das Geld, um das umzubauen. – Heute habenSie das Geld nicht, und nun kommen die Notmaßnah-men.
Herr Kollege
Breuer, Sie merken nicht, wie die Zeit verfliegt.
Frau Präsidentin, mit ho-
hem Respekt vor der Zeit werde ich die Rede zu Ende
bringen, und zwar sehr flugs; im übrigen wie beim letz-
tenmal, als Sie auch gnädig mit mir waren, wofür ich
Ihnen heute noch dankbar bin.
Eben deswe-
gen wollen wir das nicht zur Regel werden lassen.
Heute stehen die Struktu-
ren unter Druck. Alles hält sich fest. Es wird schwerer,
es zu verändern. Die Technologielücke, von der Sie ge-
sprochen haben, ist existent.
Aber wenn man jetzt dem Haushalt zusätzliches Geld
entzieht, werden Sie die Technologielücke nie schließen
können. Wenn der Anstrich des Hauses vorher nicht in
Ordnung war und man dann noch weniger Geld dafür
ausgibt, wird er doch nicht besser.
Herr KollegeBreuer, jetzt muß der Punkt kommen.Paul Breuer
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4922 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Diese Logik, Herr Mini-
ster, ist nicht in Ordnung. Die Politik, die Sie hier
betreiben, ist deshalb nicht glaubwürdig.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Jetzt hat der
Abgeordnete Manfred Opel das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsiden-
tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Unsere
Bundeswehr lebt vom Konsens.
Dazu gibt es keine Alternative. Ich glaube, die heutigen
Reden haben gezeigt, daß dieser Konsens dann, wenn
man seine Zunge nicht kontrollieren kann, zum Schaden
unseres Landes und der Bundeswehr sehr schnell verlo-
rengehen kann.
Weil Sie die Haushaltszahlen offensichtlich nicht
richtig im Gedächtnis haben, möchte ich sie Ihnen ein-
mal ins Gedächtnis zurückrufen.
Sie haben selbst immer öffentlich verkündet, Sie möch-
ten eine Bundeswehr haben, die einen Investitionsanteil
von 30 Prozent hat. Dabei haben Sie wunderschöne
Planzahlen vorgelegt. Das Problem war, daß am Ende
des Jahres die Ist-Zahlen völlig anders aussahen.
Sie haben zum Beispiel 1990 299 Millionen DM der
Haushaltsplanung einfach nicht ausgegeben, 1991
381 Millionen DM. Das kumuliert sich 1996 auf
791 Millionen DM, die Ihr Verteidigungsminister da-
mals nicht ausgegeben hat.
– Das summiert sich – addieren werden Sie ja wohl noch
können, Kollege Koppelin – auf knapp 3 Milliarden
DM, die Sie zwischen 1990 und 1997 nicht ausgegeben
haben.
Außerdem ist zu dieser Zeit der investive Anteil bei
den Ist-Ausgaben sogar auf unter 15 Prozent – das ist
weniger als die Hälfte von dem, was Sie sich selbst als
Ziel für die Bundeswehr gesetzt haben – gesunken.
Rechnen Sie sich das einmal aus! 15 Prozent mehr jedes
Jahr hatten Sie der Bundeswehr versprochen, aber
gehalten haben Sie es nie. Über die Jahre Ihrer Regie-
rungszeit kumuliert kommt so ein ungeheurer Betrag zu-
stande, der leicht erklärt, warum die Bundeswehr heute
nicht das hat, was sie eigentlich benötigt.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollege Koppelin?
Mit größter Freude.
Lieber Kollege Opel,
erinnere ich mich richtig, daß wir in der letzten Legis-
laturperiode, als Ihre Partei noch in der Opposition war,
eine Haushaltsdebatte hatten, in der Sie so viele Streich-
anträge gestellt haben – unterschrieben unter anderem
von Herrn Scharping –, daß sich die Haushalts- und
Verteidigungspolitiker der Sozialdemokraten geweigert
haben, überhaupt an der verteidigungspolitischen De-
batte zum Haushalt teilzunehmen?
Verehrter Herr Kollege Kop-pelin, das war mit Sicherheit nicht der Grund. Aber Sieerinnern sich vielleicht an das, was der Kollege Zumkleygesagt hat.
– Sie sind doch Ihre Frage losgeworden. Geben Sie mirwenigsten die Chance zu antworten.Sie haben damals Streichungen vorgenommen, dieinsgesamt den Betrag von 5 Milliarden DM überschrit-ten haben. Wir haben alternativ – nicht additiv – andereAusgabenschwerpunkte gesetzt und dabei übrigensStreichungen vorgeschlagen, denen Herr Rühe später,nachdem Fehlausgaben zu verzeichnen waren, zuge-stimmt hat. Wenn Sie die Entwicklung des Haushaltsverfolgen, merken Sie, daß Sie die Streichungen, die wirdamals als für die Bundeswehr unschädlich beantragten,nach langer Einsicht, nach zwei, drei oder vier Jahren,selbst vorgenommen haben. Das ist die Wahrheit, HerrKollege Koppelin.
Ich möchte, weil hier sehr viel gesagt wurde, wasüber das Ziel hinausgeschossen ist, auf die Argumenteder Kollegen eingehen. Kollege Austermann hat als er-stes gesagt, wir hätten das Transportflugzeug nichteingeplant. Das Transportflugzeug hat niemand heraus-genommen; es war nicht eingeplant.
Herr Rühe hat zwar jahrelang davon geredet, aber imHaushalt eingeplant war es nicht.
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Als zweites möchte ich an die Satellitenaufklärungerinnern, die als so wichtig erachtet wurde. Bundes-kanzler Kohl hatte das Projekt zunächst dem PräsidentenMitterrand und später dem Präsidenten Chirac in dieHand versprochen, aber im Haushalt war dafür kein ein-ziger Pfennig vorgesehen, Herr Austermann. Das müs-sen Sie hier erzählen!
Schließlich haben Sie gesagt, der MAW-Taurus seigestrichen worden sei. Auch das ist falsch. Taurus istnach wie vor in der Entwicklung. Da die Entwicklungnicht abgeschlossen ist, ist es nur logisch, die Serie nichtin den Haushalt einzustellen. Das sollten Sie als Haus-hälter schon wissen.Der Herr Kollege Koppelin hat gesagt, ein Rückgangder Investitionen um 1 Milliarde DM würde etwa 20 000Arbeitsplätze kosten. Das ist wahr: Etwa 12 000 Ar-beitsplätze sind direkt und der Rest indirekt betroffen.Das haben Sie völlig zu Recht gesagt. Nur, nicht gesagthaben Sie, daß die Investitionen im Jahre 2000 um über1 Milliarde DM ansteigen werden, rechnet man die zu-sätzlichen Investitionen, die unter anderem durch denKosovo-Einsatz verursacht werden, hinzu. Das bedeutet,daß wir 20 000 Arbeitsplätze mehr schaffen, KollegeKoppelin. Das ist die Wahrheit.
Herr Breuer hat gesagt, es habe Garantien des Bun-deskanzlers gegeben. Der Kollege Breuer hat auf denKommandeurtagungen der Bundeswehr ja immer in derersten Reihe gesessen.
Bundeskanzler Kohl hat damals vor den Kommandeurender Bundeswehr wörtlich gesagt: „Die Bundeswehr be-kommt, was sie braucht.“ Jeder glaubte, sie könntebestimmen, was sie braucht. Nein, Bundeskanzler Kohlhat bestimmt, was sie braucht, nämlich weniger, und hatihr weniger zur Verfügung gestellt. Auch das ist dieWahrheit.Als wir vor das Verfassungsgericht gezogen sind,hatten wir, Kollege Breuer, nur ein Ziel: feststellen zulassen, daß diese Bundeswehr kein exekutives Instru-ment ist, sondern eine Parlamentsarmee. Ich kann nichtverstehen, daß Sie als Parlamentarier hier bedauern, daßdas Parlament durch unseren Antrag beim Verfassungs-gericht in die Verantwortung genommen wird.
Die Soldaten verstehen das und begrüßen das. Auch wirbegrüßen es, daß die Parlamentarier – und nicht nur dieExekutive – Verantwortung tragen.
Ich möchte Ihnen bezüglich der von Ihnen gestelltenFrage zu den Eigenschaften der Bundeswehr deutlichsagen, daß wir Sozialdemokraten zum Beispiel die Aus-rüstung der Soldaten im Kosovo – das Schutzkonzept– immer gefordert haben. Letztlich hat die Einsicht – üb-rigens die des damaligen Rüstungsstaatssekretärs unddie des Ministers Rühe – gesiegt. Wenn Sie in den letz-ten Monaten verfolgt haben, wie es im Kosovo war,dann wissen Sie: Unter einem Fahrzeug ist eine Mineexplodiert; es ist nichts weiter passiert, weil das Fahr-zeug zusätzlich geschützt war. Einer unserer Soldaten istangeschossen worden; es ist nichts passiert, weil dieSchutzweste getroffen wurde. Die Bundeswehr konntedie Schutzwesten aber in Deutschland überhaupt nichtbeschaffen. Sie mußten in England beschafft werden.Wir hatten kein einziges Scharfschützengewehr. Wirkonnten keinen Helm beschaffen, der schußfest war. Dasalles mußten wir im Ausland beschaffen, weil Ihre Re-gierung keine Vorsorge geleistet hatte. Das ist dieWahrheit.
Ich möchte Ihnen abschließend sagen, daß es wichtigist, daß die Bundeswehr eine Außenwirkung hat. Ichmeine die Außenwirkung auf das Bündnis und dieAußenwirkung auf unsere Partner. Denn Sicherheit istnicht nur das, was Sie waffenstarrend vor sich hertragen,Sicherheit ist ein Stück Vertrauensarbeit. Dazu trägt dieBundeswehr bei, und dafür danken wir unserer Bundes-wehr.Die Bundeswehr hat auch eine Binnenwirkung. Die-se Binnenwirkung – ob das nun Ausbildung ist, ob dasnun Beiträge zur kommunalen Infrastruktur sind – kostetGeld. Aber die Binnenwirkung dürfen Sie doch nichtvergessen. Das bedeutet, daß der Verteidigungshaushaltein gutes Stück gesellschaftlichen Nutzen beinhaltet undnicht nur, wie das heute von einigen Rednerinnen undRednern gesagt wurde, parasitären Charakter hat. Letz-teres ist schlicht falsch.Ich sage Dank an unseren Verteidigungsminister Ru-dolf Scharping.
– Ich sage Dank. Und Sie haben auch zu danken, HerrKoppelin, denn einen so guten Verteidigungsministerhaben Sie seit 16 Jahren nicht mehr gehabt.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Kurt Rossmanith.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! An sich fälltes mir schwer,
Manfred Opel
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4924 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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denn eigentlich müßte man jetzt auf eine Argumentationeingehen, die, wie sollte es auch anders sein, bescheidenwar. So möchte ich es einmal bezeichnen, lieber KollegeOpel.
– Nein, weil Sie nichts anderes vorzuweisen haben. Ichkönnte jetzt lange allein auf das Ihre eingehen. Zu denGrünen will ich lieber gar nichts sagen.
Ich bin der Meinung, daß es ganz wichtig wäre, wenndiese Regierungskoalition – damit meine ich insbeson-dere die SPD-Fraktion und auch den Herrn Bundesmi-nister der Verteidigung – zunächst einmal mit dem, wassie sagt, und dem, was sie tut, in Einklang käme. Siesind nicht mehr in der Opposition, sondern tragen Regie-rungsverantwortung – und dies in der Tat, Herr Bun-desminister Scharping, bis zum Jahr 2002.
Vergangene Woche haben Sie in der Führungsaka-demie gesagt, daß den Streitkräften mittlerweile ele-mentare Fähigkeiten fehlen würden, um einen wir-kungsvollen und international angemessenen Beitrag lei-sten zu können. Und dann fällt Ihnen wie allen Rednernvon der SPD nichts weiteres ein, als zu sagen, daß dieFehler in der Vergangenheit gemacht worden seien!
Da gebe ich Ihnen sogar recht, Herr BundesministerScharping.
Ich wäre aber vorsichtig, denn Vergangenheit ist auchdie Zeit von Oktober 1998 bis Januar oder Februar 1999,also bis zu dem Zeitpunkt, als sich der damalige Fi-nanzminister Lafontaine klammheimlich davongemachthat. Wenn Sie heute über Sparmaßnahmen in Höhe von30 Milliarden DM sprechen, dann sollten Sie bedenken,daß uns allein diese Monate, die Lafontaine Finanzmi-nister war, die 30 Milliarden DM gekostet haben, an de-nen Sie heute so schwer zu tragen haben.
Den Haushalt, den Sie vorgelegt haben, kann man nurals Crash-Haushalt bezeichnen. Verehrter Herr Bundes-minister Scharping, Sie müßten doch wissen, daß dieeinzigen Verbündeten, die Sie als Ressortchef noch ha-ben, bei uns in der CDU/CSU und in der F.D.P. zu fin-den sind; im Kabinett stehen Sie nämlich mit Ihrer Posi-tion ganz alleine da. Diesen Eindruck kann man jeden-falls bekommen, wenn man den BundesfinanzministerEichel hört, der heute nicht anwesend ist. Auch seinStaatssekretär hat sich von dannen gemacht.
Da der Finanzminister derart massiv in unsere Si-cherheitspolitik eingreift, wäre es gut, wenn er hier an-wesend wäre. Im Haushaltsausschuß hat er auf die Fest-stellung, daß man Sicherheitspolitik nicht nach der Kas-senlage gestalten könne, geantwortet, er müsse natürlichauch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nachder Kassenlage entscheiden und sie dementsprechendbestreiten. Daher muß ich dem Bundesfinanzministervorhalten, daß er entweder auf diesem Politikfeld über-haupt nicht zu Hause ist oder ganz bewußt eine Schädi-gung unserer Streitkräfte und damit auch unserer Si-cherheitspolitik in Kauf nimmt.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin? – Bitte.
Lieber Kurt Rossmanith,
bist du bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich der
Staatssekretär im Finanzministerium, Karl Diller, bei der
Geschäftsführerin der CDU/CSU-Fraktion und bei mir
als dem Geschäftsführer der F.D.P.-Fraktion entschul-
digt hat? Du konntest natürlich nicht wissen, daß er ei-
nen Augenblick nicht anwesend sein kann.
Ich nehme demlieben Karl Diller nichts krumm.
Aber ich hätte schon erwartet, daß der Bundesfinanzmi-nister angesichts der Tatsache, daß sein Entwurf so mas-siv in den Haushalt der Streitkräfte und damit in unsereSicherheits- und Verteidigungspolitik eingreift, bei die-ser Debatte persönlich anwesend ist.
Lieber Kollege Zumkley, zur Zahl der Berufs- undZeitsoldaten verweise ich auf den Bericht des Bundes-ministeriums der Verteidigung „Erläuterungen und Ver-gleiche zum Regierungsentwurf des Verteidigungshaus-haltes 2000“ vom 9. September 1999. Darin heißt eswörtlich:Im Jahr 2000 wird der Umfang der Berufs- undZeitsoldaten von 197 000 auf 192 000 reduziert.Diese Zahlen hat der Kollege Austermann erwähnt. Sieentsprechen der Wahrheit. Wir sind nämlich der Wahr-heit verpflichtet und genügen ihr immer in ausreichenderWeise.
Lieber Georg Pfannenstein, wir fühlen uns nur immerdann betroffen, wenn es um unsere Sicherheits- undVerteidigungspolitik geht, die von Ihrer Regierung somassiv beschnitten wird, daß die Sicherheit nicht mehrgewährleistet werden kann. Das macht uns betroffen undmacht uns ebenso viel Sorgen wie die Situation unsererSoldaten.Herr Bundesminister Scharping ist ja bis zum heuti-gen Tage zu Recht stolz auf unsere Soldaten, die eineKurt J. Rossmanith
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4925
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hervorragende Arbeit auf dem internationalen Feld, zumBeispiel im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina, in Soma-lia oder damals in Kambodscha, leisten. Lieber Bun-desminister Scharping, nur war es Ihre Vorgängerregie-rung und die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P., diediese Einsätze gegen den massiven Widerstand Ihrer ei-genen Fraktion, der Sie damals als Vorsitzender vorge-standen haben, durchgesetzt hat.Ich habe eingangs gesagt: Es geht um den Unter-schied zwischen dem, was man sagt, und dem, was mantut. Dies gilt besonders für Sie, Herr BundesministerScharping, als den Verantwortlichen für ein hinsichtlichunserer Sicherheit so wichtiges Ministerium.Auf dem Washingtoner NATO-Gipfel wurde von die-ser Regierung hoch und heilig versprochen, daß die Al-lianz gestärkt werden soll. Auf dem Kölner EU-Gipfelwurde der Schwur auf die Europäische Außen- undSicherheitspolitik geleistet. Unter deutscher Ratspräsi-dentschaft wurde dort die konkrete Forderung aufge-stellt, die Europäische Union müsse, gestützt auf einglaubwürdiges Militärpotential, ihre Fähigkeiten zumautonomen Handeln ausbauen. Da muß ich schon fra-gen: Wo bleibt denn die Seriosität, wenn nur wenigeWochen später mit ganz massiven Eingriffen in denVerteidigungshaushalt exakt das Gegenteil verfolgtwird?Ich glaube, daß uns gerade der Kosovo-Konflikt ge-zeigt hat, wie weit bezüglich der militärischen Ausstat-tung die Lücke zwischen uns und den Vereinigten Staa-ten von Amerika auseinanderklafft. Dennoch können wirauf unsere Soldaten, die diese Leistungen erbringen,stolz sein.
Für diese Leistungen haben sie mit Recht unseren Dankund unsere Anerkennung verdient.
Wenn man sich all das ansieht, was die rotgrüne Ko-alition, was die rotgrüne Regierung derzeit auf den Tischlegt, so zeigt dies doch, daß Sie überhaupt nicht dieKraft haben, der Bundeswehr als gut ausgerüsteter Ar-mee eine entsprechende Zukunft zu geben.
Dies sieht man auch an den massiven Kürzungen im In-vestitions- und Forschungsbereich.Lieber Herr Kollege Manfred Opel, Herr General a. D.
– das erkenne ich selbstverständlich an –, von Ihnenhätte ich nicht erwartet – lassen Sie mich das in allerDeutlichkeit sagen –, daß Sie den Versuch machen, et-was zu verschleiern. Wenn das Gesamtvolumen desHaushalts massiv abgesenkt wird und dann relativeWerte genannt werden, ist ganz klar, daß diese höherausfallen, als wenn man bei dem Volumen gebliebenwäre, was zugesagt worden ist.
– Nein, die Mengenlehre haben Sie eingeführt. Wir inBayern haben die Mengenlehre Gott sei Dank nur ganzkurz gehabt. Wir haben dies sofort wieder abgeschafft,
weil wir unsere Schülerinnen und Schüler nicht auf dasNiveau der Schüler in den SPD-regierten Ländern brin-gen wollten.
Ich komme zu meinem letzten Satz: Verteidigungs-und Sicherheitspolitik ist eine langfristige Investition, indie man nicht kurzfristig eingreifen, die man nicht kurz-fristig beschneiden kann.
Deshalb, Herr Bundesminister Scharping, haben Sie uns,die CDU/CSU, immer an Ihrer Seite,
wenn es darum geht, an der Erreichung dieses Ziels mit-zuarbeiten. Wenn Sie diese Politik verfolgen und nichtnur davon sprechen, das heißt auch so handeln, dannsind wir in der Tat dabei.
Zu einer
Kurzintervention erhält jetzt der Abgeordnete Scharping
das Wort.
Verehrte Kollegen, ichhabe mich gemeldet, weil ich für Klarheit bin.Erstens. Sie wissen, daß einschließlich der internatio-nalen Einsätze für das Jahr 1999 Mittel in Höhe von47,6 Milliarden DM veranschlagt waren; für das Jahr2000 sind 47,3 Milliarden DM vorgesehen. Es ist völligklar, daß die Aufgaben, die sich aus der NATO-Defence-Initiative, dem Europäischen Gipfel und durchdie Beseitigung bestimmter Defizite ergeben, nicht oderjedenfalls nicht vollständig durch diese Mittel, auchnicht durch die Ansätze in der mittelfristigen Finanzpla-nung finanziert werden können. Deshalb hat die Bundes-regierung einen entsprechenden Vorbehalt hinsichtlichder Ergebnisse der Arbeit der Kommission unter Vorsitzvon Herrn von Weizsäcker gemacht; das ist in derDrucksache 14/1404 auf Seite 24 nachzulesen.Zweitens. Es gibt die Vorstellung, man könne durcheine rasche Personalreduzierung investive Mittel gewis-sermaßen freimachen. Ich möchte Sie, Herr KollegeRossmanith, darauf aufmerksam machen, daß zwischenKurt J. Rossmanith
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4926 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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der Zahl in der Zielplanung und der tatsächlichen Perso-nalstärke der Bundeswehr immer eine Differenz bestand.Diese Differenz betrug beispielsweise im Jahre 1995minus 9 000,
im Jahr 1996 minus 4 000. Das ist die Größenordnung,die im Jahr 2000 eine Rolle spielen wird. 192 600 Zeit-und Berufssoldaten sind 400 mehr als im Jahr 1999; daswissen Sie sehr genau.Im übrigen will ich Sie – was das Personal angeht –darauf aufmerksam machen, daß ich sehr gerne sowohlden Wehrsold erhöhen als auch die in meinen Augennicht akzeptable Situation mit den 86 Prozent beseitigenwürde. Sie wissen aber auch, daß es dafür einer gesamt-staatlichen Entscheidung bedarf und nicht einer bun-deswehrisolierten.Der letzte Punkt betrifft die Investitionen. Sie be-haupten: 1 Milliarde DM weniger bedeutet 20 000 Ar-beitsplätze weniger. Als Sie die militärischen Beschaf-fungen von 1992 auf 1993 um 1,1 Milliarden DM redu-ziert haben, war Ihnen doch hoffentlich bewußt, daß Siedamit – jedenfalls nach Ihrer Theorie – 20 000 Arbeits-plätze beseitigt haben. Als Sie im vorigen Jahr erneutum 1 Milliarde DM reduziert haben, haben Sie nach Ih-rer Rechnung wieder 20 000 Arbeitsplätze abgebaut. DieErhöhung um eine knappe Milliarde DM im Jahre 1999hat dann 20 000 Arbeitsplätze geschaffen – wenn dasalles stimmen würde. Tatsächlich befinden wir uns infolgender Situation: Auf Grund der Entwicklung in den90er Jahren ist die wehrtechnische Industrie nicht mehrfähig, Kapazitäten zu reduzieren; sie steht vielmehr vorder einfachen Frage, Kapazitäten vollständig abzubauenoder sie auf einem gerade noch verantwortbaren Niveaufortzuführen.Zur Bedeutung der Investitionsentscheidungen: DiePolitik muß sich über folgendes bewußt sein – mir istdas klar, und ich hoffe, allen anderen auch –: In demAugenblick, in dem die Bundesrepublik Deutschland dieMöglichkeit zur Systemführerschaft oder zur System-partnerschaft bei bestimmten Entwicklungen verliert,sind wir nicht nur militärisch auf dem absteigenden Ast,sondern werden technologisch weniger hochwertigeGüter zu höheren Preisen im Ausland kaufen müssen.
Das ist der volkswirtschaftlich, technologisch und indu-striepolitisch falsche Weg. Deswegen wird es darauf an-kommen, den investiven Anteil ein Stück zu erhöhen.
Zurück zum Grund für meine Bemerkung: Wenn wirinnerhalb der politischen Kräfte auf diese Weise einenKonsens herstellen – dazu lade ich Sie ausdrücklichein –, dann ist das gut für die Bundeswehr, gut für dieBundesrepublik Deutschland und gut für ihr außenpoliti-sches Ansehen.
WeitereWortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-nisteriums der Verteidigung liegen nicht vor.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung.Das Wort hat zunächst Frau Ministerin HeidemarieWieczorek-Zeul.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministererinfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdiskutieren in jedem Einzelplan über Kürzungen. Auchim Einzelplan 23 werden im kommenden Jahr wenigerMittel zur Verfügung stehen, denn auch das Ministeriumfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungmuß zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes beitra-gen. Diese Konsolidierung, von der kein Ressort ausge-nommen wurde, obwohl ich dafür gekämpft habe, ist aufGrund der massiven Schuldenlast aus 16 Jahren Kohl-Regierung unumgänglich geworden; sie kann in unse-rem Etat aber nur in den Bereichen erbracht werden, indenen wir keinen rechtlichen Bindungen unterliegen.Auf den folgenden Punkt lege ich Wert – er schließtan die Diskussion an, die wir eben geführt haben –:Nach der Phase der Haushaltskonsolidierung werden wirden Finanzumfang für die Entwicklungszusammenarbeitwieder aufstocken; denn unsere internationalen Ver-pflichtungen verlangen genau dies.
Wie gehen wir mit diesen entsprechenden Einspa-rungen um? Wir werden den finanziellen Einschnitt inunseren Haushalt in den unmittelbar vor uns liegendenJahren als Anlaß zu Reformen nutzen, die schon längstüberfällig sind und auf die die OECD in ihrem Prü-fungsbericht zur Entwicklungspolitik der alten Bundes-regierung 1998 hingewiesen hat. Wir überprüfen, wiewir unsere Beiträge im multilateralen Bereich noch bes-ser steuern und vor allen Dingen in die gesamte Ent-wicklungszusammenarbeit einbinden können.
Viele Aufgaben der globalen Strukturpolitik lassensich nur gemeinschaftlich mit internationalen Finanzin-stitutionen bewältigen. Erinnern möchte ich an dieserStelle an die Anstrengungen zur Erhaltung des weltwei-ten ökologischen Gleichgewichts, an die notwendigenReformen bei der Entschuldungsinitiative oder auch derinternationalen Finanzarchitektur. Unsere multilateralenLeistungen haben zudem auch finanziell eine beachtli-Rudolf Scharping
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che Hebelwirkung. Die internationalen Finanzinstitutemobilisieren etwa das Zehnfache der von den Regierun-gen eingezahlten Beiträge auf dem privaten Kapital-markt. Im übrigen nutzt dieser Ansatz sowohl den Ent-wicklungsländern als auch der deutschen Wirtschaft;denn ihr Anteil an den Aufträgen liegt im Schnitt deut-lich über dem deutschen Kapitalanteil an diesen Organi-sationen.Eine Mitsprache in der multilateralen Entwicklungs-politik setzt aber angemessene finanzielle Beiträge derBundesrepublik – dafür sorgen wir – in den internatio-nalen Finanzorganisationen voraus. Nur dann könnenwir neue Reformen auf den Weg bringen. Vor allem derEuropäische Entwicklungsfonds muß reformiert wer-den. Im Rahmen der Evaluierung, die wir während derdeutschen EU-Ratspräsidentschaft vorgenommen haben,haben wir beträchtliche Mängel festgestellt. Von deninsgesamt 13 Milliarden Euro des letzten Entwicklungs-fonds – des achten – werden Ende des Jahres 2000 we-niger als 20 Prozent ausgezahlt sein. Zu diesem Zeit-punkt ist das zugehörige Lomé-IV-Abkommen bereitsausgelaufen. Dies zeigt eindeutig, daß beim Europäi-schen Entwicklungsfonds ein Konstruktionsfehler vor-liegt, den die alte Bundesregierung niemals beseitigt hat.
Wir haben während unserer EU-Ratspräsidentschaftdie notwendigen Veränderungen in Brüssel angestoßen.Die Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten wird regel-mäßig überprüft werden. Es soll eine Umverteilung zu-gunsten der AKP-Staaten vorgenommen werden, die be-reit sind, ihre Reformen schneller und besser durchzu-führen. Sie sollen also im Rahmen der Entwicklungszu-sammenarbeit belohnt werden. In Zukunft gibt es nurnoch einen einzigen, übersichtlichen EU-Finanzierungs-topf, damit das unkoordinierte Nebeneinander von Pro-jekten und Programmen endlich aufhört.
Wenn diese Reformen greifen, werden wir die Qualitätund Effizienz der EU-Entwicklungspolitik entscheidendverbessert haben. Dadurch entstehen finanzielle Spiel-räume, so daß mit weniger Volumen die Wirkung derFonds erhöht werden kann. Wenn unsere Reformenletztlich nicht zustande kommen oder wenn sie behindertwerden, muß auch eine Senkung des deutschen Beitragsgeprüft werden.Im Bereich der bilateralen entwicklungspolitischenZusammenarbeit werden wir unsere Wirksamkeit vorallen Dingen durch Schwerpunktsetzung und Konzen-tration – auch dies hat die OECD angemahnt – beson-ders deutlich machen. Wir werden den Kreis unsererKooperationsländer überprüfen und uns künftig auf 50bis 60 Schwerpunktländer konzentrieren, bei denen wiralle Instrumente unserer Entwicklungszusammenarbeiteinsetzen werden. Mit den anderen Ländern werden wirbesonders differenzierte Formen der Partnerschaft ent-wickeln. – Wir sollten nicht überall alles machen. – Sowerden wir mit manchen Partnern, zum Beispiel im Be-reich der Berufsbildung oder des Ressourcenschutzes,nur noch in einem oder zwei Schwerpunktbereichenzusammenarbeiten. Aber vor allen Dingen werdenwir die Abstimmung der bilateralen entwicklungspoliti-schen Zusammenarbeit mit der europäischen und dermultilateralen Zusammenarbeit weiter verbessern undunsere Instrumente in der Gebergemeinschaft stärkervernetzen.Wir haben bewußt keine Kürzungen bei der regiona-len Zusammenarbeit und bei den regionalen Zusammen-schlüssen vorgenommen; denn dort sehen wir einen be-sonders erfolgversprechenden Weg zur Krisenpräventi-on und zur Konfliktbewältigung, der in den heutigenDebatten zur Außenpolitik und zur Verteidigungspolitikmehrfach angemahnt worden ist. Wir setzen diesenSchwerpunkt.
Die Bundesregierung hat in kurzer Zeit Schwerpunktegesetzt, die die alte Bundesregierung in 16 Jahren nichtzustande gebracht hat.
Erstens. Der multilaterale Schuldenerlaß hat 70Milliarden US-Dollar für die ärmsten Entwicklungslän-der mobilisiert. Bei den bilateralen Verhandlungen imPariser Club sind die Finanzierungen bereits abgeschlos-sen. Die Finanzierungen der multilateralen Seite werdenwir bei der Herbsttagung, die in gut einer Woche statt-finden wird, mit IWF und Weltbank beschließen. Dasheißt, 36 Länder werden von einer schnelleren Ent-schuldung profitieren. Die Mittel aus den schnellenSchuldendiensterlassen stehen sofort für Maßnahmen inden Bereichen Bildung, Gesundheit und Basisinfra-struktur zur Verfügung.
In bezug auf die internationalen Finanzinstitutionenhalte ich es wirklich für einen revolutionären Ansatz,daß wir erreicht haben, die Entschuldungsinitiative alsHebel zu nutzen, um die Programme von Währungs-fonds und Weltbank zu verändern und in Richtung Ar-mutsbekämpfung zu orientieren.
In einem Grundsatzdokument, das Weltbank und IWFgerade vorgelegt haben, wird von beiden Institutionendeutlich gesagt, daß die Entschuldungsinitiative miteiner umfassenden Strategie der Armutsbekämpfung inden betroffenen Entwicklungsländern verbunden seinmuß. Alle Bereiche – auch die makroökonomischenProgramme – werden einbezogen. Damit wird der Wi-derspruch zwischen IWF-Anpassungsprogrammen undWeltbankprogrammen zugunsten der Entwicklungslän-der endlich überwunden; denn bisher haben die Anpas-sungsprogramme des IWF die Armut in den betroffenenLändern häufig verschärft.
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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4928 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Wenn uns diese Umorientierung gelingt, dann habenwir damit mehr erreicht als mit den vorherigen Initiati-ven zur Armutsbekämpfung in den Ländern der drittenWelt. Das ist ein Veränderungsschub, der in der öffent-lichen Diskussion in dem Maße bisher nicht zur Kennt-nis genommen worden ist.
Zweitens. Der deutsche Beitrag zum Wiederaufbauin Südosteuropa zeigt, daß wir uns auch in Zeitenschmerzlicher Haushaltskonsolidierung den Herausfor-derungen stellen. Mit einem Betrag von insgesamt vier-mal 300 Millionen DM, verteilt auf vier Jahre, wird derStabilitätspakt finanziert. Diese Mittel sind zwar nichtim Einzelplan 23, aber im Einzelplan 60 für unserMinisterium, das BMZ, ausgewiesen.Wir sind im Bereich des Wiederaufbaus federfüh-rend. Wir haben sowohl bei uns im Ministerium als auchin Pristina eine Anlaufstelle eingerichtet. Wir tragenmit unseren Programmen zum Wiederaufbau in der Re-gion bei. Es geht darum, dauerhaft Frieden zu sichernund die Verhältnisse für die Menschen vor Ort zu ver-bessern.
Da ich die wegweisenden Erklärungen von manchenKolleginnen und Kollegen der Opposition lese, will ichan dieser Stelle eines sagen: Wir unterstützen Nichtre-gierungsorganisationen, Stiftungen und Kirchen imRahmen dieses Stabilitätspaktes Südosteuropa im Um-fang von 50 Millionen DM. Damit wird deutlich: Wirengagieren uns für den Aufbau der Zivilgesellschaft.Das ist gerade in der Region, von der wir reden, ein ganzbesonders wichtiger Fortschritt.
Drittens. Wir haben gesagt: Entwicklungspolitik istFriedenspolitik. Ich möchte stichwortartig aufzählen,was wir auf diesem Gebiet in diesem Jahr in Ganggebracht haben. Das neue Instrument des ZivilenFriedensdienstes steht trotz Haushaltskürzungen. Imnächsten Jahr werden dafür voraussichtlich 7,5 Millio-nen DM zur Verfügung stehen. Das ist noch mehr als imEtat für dieses Jahr. Schon Ende 1999 werden die erstenausgebildeten Friedensfachkräfte eingesetzt werdenkönnen.
Wir haben eine Initiative gegen illegalen Transfer so-genannter Kleinwaffen in Gang gesetzt, der sich die Eu-ropäische Union angeschlossen hat. Wir sind dabei, da-für zu sorgen, daß der Bundessicherheitsrat – dem auchdas BMZ jetzt angehört – mit einem erweiterten Sicher-heitsbegriff zu einem effizienten Instrument auch derEntwicklungspolitik wird. Er soll nicht nur ein Instru-ment sein, Rüstungsexporte entweder zu genehmigenoder abzulehnen, sondern auch ein Instrument, in demGesamtkonzepte zur Krisen- und Konfliktpräventionsowie zur Bewältigung von Konflikten in unseren Part-nerländern erarbeitet werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe schon dar-auf hingewiesen, daß wir nach der Phase der Haus-haltskonsolidierung – das ist hier genauso wie in denbereits diskutierten Bereichen – mehr finanziellen Spiel-raum brauchen. Weitere Einschnitte in unseren Haushaltsind nicht vertretbar; das haben wir immer sehr deutlichgemacht.
Wir stehen mit unserer Entwicklungspolitik interna-tional nicht minder in der Pflicht als in anderen Politik-bereichen, beispielsweise im Bereich der Verteidigungs-politik. Denken Sie nur an das, wozu sich die OECD-Länder 1996 verpflichtet haben. Sie haben sich dazuverpflichtet, die Zahl der absolut Armen auf der Welt –das sind 1,3 Milliarden Menschen – bis zum Jahr 2015auf die Hälfte zu verringern, die Kindersterblichkeit dra-stisch zu reduzieren und weltweit den Menschen Zugangzu Grundbildung und Gesundheitsdiensten zu verschaf-fen. In völkerrechtlich verbindlichen Regelungen habenwir uns ferner verpflichtet, dazu beizutragen, daß Kli-maschutz, Artenschutz und Bekämpfung der Wüstenbil-dung in unserer praktischen Entwicklungspolitik veran-kert werden.
Wir werden gemeinsam – ich hoffe, zusammen mit Ih-nen allen – dazu beitragen, daß diese Verpflichtungenauch finanziell umgesetzt werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie miram Schluß noch wenige Worte zum Thema Osttimor,weil es mir besonders am Herzen liegt. Es ist auch des-halb außerordentlich wichtig, daß die Friedenstruppe indiese Region geht, weil die internationale Gemeinschaftdamit deutlich macht, daß die Menschenrechte derOsttimoresen genauso wichtig sind und von uns genausogeschützt werden wie die Menschenrechte in der erstenWelt. Hier ist ein ganz wichtiges Signal für die Men-schen in der einen Welt gesetzt worden.
In diesem Zusammenhang möchte ich vor allen Din-gen denjenigen in der katholischen Kirche, der Caritasund anderen Organisationen dafür danken, daß sie sotapfer und mutig auf der Seite der Menschen in Osttimorgestanden und sich im Interesse dieser Menschen gegenMiliz und Militär zur Wehr gesetzt haben.
Was wir tun können, ist, dazu beizutragen, daß keinerdieser Mörder – die Milizen sind vom Militär geschütztBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4929
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worden; das sagt jeder – seiner strafrechtlichen Verfol-gung entkommt.
Sie müssen vor einen Strafgerichtshof gestellt werden.Damit würde ein Signal für ein demokratisches und un-abhängiges Osttimor gesetzt, das wir von seiten derBundesrepublik, der Bundesregierung und unseres Mini-steriums mit all unseren Möglichkeiten unterstützenwollen.Ich danke Ihnen sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Michael von Schmude, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede der
Frau Ministerin erinnert mich an einen hilflosen Buch-
halter, der versucht, seine Gläubiger zu beruhigen. Sie,
Frau Ministerin, flüchten sich auch heute wieder einmal
auf das für Sie offensichtlich bequemere internationale
Parkett und machen heute schon wieder Versprechun-
gen, von denen Sie ganz genau wissen, daß Sie sie nicht
halten können. Ich sage Ihnen: Sie stehen mit diesem
Haushalt vor einem Scherbenhaufen, vor dem Bankrott.
Dem müssen Sie sich stellen.
Der Bundesminister der Finanzen hat auf geradezu
unglaubliche Art und Weise diesen Haushalt ausgeplün-
dert. Der Bundeshaushalt wird um 1,5 Prozent, und der
Haushalt, über den wir uns jetzt unterhalten, um 8,7
Prozent gekürzt. Das sind 674 Millionen DM, und das
sind, Frau Ministerin, 97,7 Millionen DM mehr als der
eigentlich vorgegebene Konsolidierungsbeitrag.
Abgesehen vom Ministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend mit minus 7,3 Prozent gibt es kein
Ministerium, das vom Bundesfinanzminister auch nur
annähernd so gerupft worden ist wie Ihr Haus. Niemand
kann etwas gegen ausgewogenes, ehrliches und sinn-
volles Sparen haben. Aber dieser drastische Einbruch
beim BMZ zeigt, welchen Stellenwert die Entwick-
lungshilfe bei dieser Bundesregierung noch hat.
Noch deutlicher wird das Bild, wenn man das Haus-
haltsergebnis der letzten Bundesregierung unter Führung
von Helmut Kohl 1998 betrachtet, das 7,902 Milliarden
DM betrug; daran gemessen fehlen Ihnen heute sogar
811 Millionen DM.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege von
Schmude, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Eid?
Ja, bitte.
Herr
Abgeordneter, können Sie mir zustimmen, daß Sie als
Haushälter und für den Einzelplan 23 Zuständiger in den
letzten Jahren der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung mit dar-
an beteiligt waren, daß der Anteil des Entwicklungsetats
am Bruttosozialprodukt zwischen 1982 und 1998 von
0,48 Prozent auf 0,28 Prozent gesunken ist?
Frau KolleginEid, wir haben genauso unter Sparzwängen gestandenwie die Regierung heute.
Ich bin Ihnen dankbar für diesen Hinweis; denn er unter-streicht, daß auch wir gespart haben und daß das, wasSie heute zu der Politik der vergangenen 16 Jahre sagen,alles nur Show ist.
Sie, Frau Ministerin, sind mit vollmundigen Verspre-chungen angetreten. Jetzt haben Sie hier einen Haushaltvorgelegt, den man nur als abgenagten Knochen be-zeichnen kann. Die von Ihnen angekündigte Trendwen-de in der Entwicklungspolitik ist da, aber nicht nachoben, sondern nach unten. Die ODA-Quote, liebe FrauKollegin Eid, sinkt unter Ihrer Führung bereits nach denwenigen Monaten, die Sie im Amt sind, auf 0,26 Pro-zent. Wo bleibt da Ihre internationale Glaubwürdigkeit?
– 0,26 Prozent ist die neue Zahl, die aus Ihrem Hausekommt. Machen Sie sich einmal bei Ihren Damen undHerren schlau.Die Beiträge an die Vereinten Nationen und andereinternationale Organisationen senken Sie entgegen IhrenAnkündigungen von 210,7 Millionen DM auf 156,7Millionen DM. Sie wollen die passenden Einzeltitel aus„optischen“ Gründen zusammenfassen. So etwas nenntman Bilanzkosmetik.Was muten Sie eigentlich den Nichtregierungsorga-nisationen, den Kirchen, den Stiftungen und den zahl-reichen gemeinnützigen Organisationen, zu, denen Sie,jedenfalls in Sonntagsreden, für ihr Engagement Lobaussprechen und die Sie jetzt mit nicht nachvollziehba-ren Haushaltskürzungen abstrafen? Den Kirchen wollenSie 21 Millionen DM, den politischen Stiftungen 27,7Millionen DM und der Humboldt-Stiftung 1,3 MillionenDM wegnehmen. Für Hunderte von Zuwendungsemp-fängern ist die Schmerzgrenze längst überschritten. Ichzitiere VENRO:Viele Projekte müssen jetzt kurzfristig abgebrochenwerden. Die Kürzungen sind ein politisch falschesBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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4930 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Signal und stellen einen Wechsel der rot-grünenEntwicklungspolitik dar.Sehr wahr!
Diese Behandlung haben die Nichtregierungsorganisa-tionen nicht verdient.
Jede Unterstützung des Bundes löst in diesem Bereicheinen Multiplikationseffekt aus und stärkt darüber hin-aus das ehrenamtliche Engagement.Aber noch viel verheerender sind die langfristigenAuswirkungen durch die Kürzung der Verpflichtungs-ermächtigungen. Wenn Sie hier bessere Zeiten verspre-chen, ist das unredlich. Sie sollen bereits im laufendenHaushalt 990 Millionen DM Verpflichtungsermächti-gungen hergeben. Wenn es bei den Kürzungen für dieFolgejahre bleibt, befürchtet Ihr Haus nach eigener Aus-sage eine erhebliche Drosselung des künftigen Hand-lungsrahmens, weil die vorhandenen Barmittel wegenfehlender Verpflichtungsermächtigung gar nicht mehrausgegeben werden können.
Die Folge ist: Die Entwicklungshilfe sackt noch weiterab, und die ODA-Quote schmilzt noch mehr zusammen.Wir bekommen in diesen Tagen ja viele Briefe vonNichtregierungsorganisationen. Sie unterscheiden sichvon denen der Vorjahre ganz erheblich. Da geht es nichtnur um die Existenzsorge, sondern man spürt Enttäu-schung, Bestürzung und Fassungslosigkeit über diesenfinanzpolitischen Kahlschlag. Sie beschädigen die Infra-struktur und setzen leichtfertig Vertrauen bei den NGOsaufs Spiel. Sparsam wirtschaften ist notwendig. Aber beidiesem Einzelplan wird am falschen Ende gekürzt. HerrEichel behauptet, zu seinem Sparkurs gebe es keineAlternative. Dazu möchte ich zunächst einmal feststel-len, daß nicht gespart, sondern gekürzt wird. Sparenheißt nämlich, etwas auf die hohe Kante zu legen; dastut hier aber kein Mensch.
– Klären Sie doch einmal die Begriffe ab. – Die Alter-native zur Eichelschen Sparpolitik lautet, intelligent spa-ren, nämlich da, wo es am wenigsten Schaden anrichtet,und nicht bei den Investitionen, bei den Arbeitsplätzenund bei den Multiplikatoren. Das Geld gehört im über-tragenen Sinne dahin, wo es die meisten Zinsen bringt.Sie fahren in diesem Einzelplan die Investitionen er-heblich zurück, indem Sie bei der FZ, bei der DSE undbei der Deutschen Welle kürzen. Außerdem blockiertder Bundesfinanzminister 600 Millionen DM, die wireigentlich für die Verbundfinanzierung einsetzen woll-ten. Damit setzen Sie Arbeitsplätze aufs Spiel: allein beiCIM 150 Arbeitsplätze, die für die Entsendung von inte-grierten Fachkräften in die Entwicklungsländer gedachtwaren. Nein, meine Damen und Herren, die Verpflich-tungsermächtigungen müssen wieder angehoben wer-den, damit der deutsche Beitrag zur Entwicklungshilfelangfristig berechenbar bleibt.
Das Kürzungsdiktat des Bundesfinanzministers habenSie geschluckt und dann auch noch falsch umgesetzt.Wer einen so sensiblen Etat vertritt, muß sich schon dieFrage gefallen lassen, wieso ausgerechnet die persönli-chen Verfügungsmittel der Leitung des Hauses angeho-ben werden, wenn sonst – bis hin zur Nothilfe – bei al-len anderen Positionen gekürzt wird. Ich möchte aucheinmal wissen, wieso man sich gerade in einem so sen-siblen Bereich wie der Anschaffung teurer Dienstwagennicht ein bis zwei Jahre zurückhalten kann, FrauMinisterin. Peinlich ist auch das Nachschieben von2,7 Millionen DM im Haushalt für eine Kantine imBonner Tulpenfeld, was mit dem Hinweis verbundenwurde, daß man diese Mittel beim Internationalen Wäh-rungsfonds kürzen könne. Sie sollten sich lieber an denEuropäischen Entwicklungsfonds halten und dort zumBeispiel die 75 Millionen DM STABEX-Mittel strek-ken; damit gewinnen Sie finanziellen Spielraum inwichtigeren Bereichen. Es ist schon skandalös genug,daß Brüssel diese Gelder der deutschen Steuerzahler alsTermingelder anlegt.Bei den Verhandlungen über das nächste Lomé-Abkommen sollten Sie folgende ForderungenDeutschlands einbringen:Erstens. Von der bisher geübten Praxis, nur Zuschüs-se zu vergeben, sollte – zumindest teilweise – zugunstenvon Zuschüssen auf Darlehensbasis abgewichen werden.Zweitens. Zinsen, die bei der Europäischen Union an-fallen, weil Beiträge der einzelnen Mitgliedstaaten nochnicht umgesetzt werden können, stehen den jeweiligenGeberländern zu.Drittens. Deutschland zahlt nicht immer als erstesMitgliedsland, sondern verhält sich so wie eine großeZahl anderer Mitgliedstaaten.Viertens. Berichte des Europäischen Rechnungshofessind von der EU-Kommission zu bestimmten Terminenabzuarbeiten, und Stellungnahmen dazu sind den einzel-nen Mitgliedstaaten zeitgerecht zu übermitteln.
Fünftens. Zu Beginn eines jeden Kalenderjahres sindallen Mitgliedstaaten gleichzeitig Projektlisten für daslaufende Jahr vorzulegen. Damit erreichen wir mehrChancengleichheit bei Ausschreibungen.
Sechstens. Bei Auftragsvergaben soll für die Mit-gliedstaaten möglichst jeweils das Volumen erreichtwerden, das ihrem Beitragsanteil entspricht.Bedanken möchte ich mich bei den Mitarbeitern desHauses, die diese destruktiven politischen Vorgabenumzusetzen hatten. Allerdings hätte ich erwartet, daßuns wenigstens das Berichterstatterprotokoll bis zumMichael von Schmude
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4931
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heutigen Tage vorgelegt worden wäre. Das Fehlen die-ses Protokolls ist aus meiner Sicht ein großer Mangel,den wir so nicht hinnehmen können.Das vorliegende Zahlenwerk, meine Damen und Her-ren, ist nicht nur unausgewogen, sondern auch unvoll-ständig und damit unseriös. Es fehlen die Umsetzung derglobalen Minderausgabe und die Veranschlagung desWährungsrisikos. Wer den Dollar mit 1,6823 DM rech-net, hat nach Aussage des Hauses mit mindestens50 Millionen DM Mehrkosten zu rechnen.Für den von Ihnen geforderten Schuldenerlaß, derhier so großartig angekündigt wurde, fehlt Ihnen nochdie Haushaltsdeckung. Sie lassen zu, daß der Bundesmi-nister der Finanzen aus Ihrem Einzelplan Forderungs-verkäufe vornimmt. Das ist im Prinzip gut. Was dabeijedoch schlecht ist – und auch anders als in früherenZeiten –: Der Bundesfinanzminister vereinnahmt diesesGeld zu 100 Prozent für sich. Sie haben keinen Haus-haltsvermerk, in dem steht, daß zumindest ein Teil derMittel der FZ oder der TZ zugute kommt.Dieser Haushalt wird der bisherigen Bedeutung derdeutschen Entwicklungspolitik und auch dem deutschenAnsehen in der Welt nicht gerecht. Er ist ein Armuts-zeugnis für diese Bundesregierung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Dr.Angelika Köster-Loßack.
nen und Kollegen! Nachdem die alte Koalition den Ent-wicklungshaushalt in den letzten Jahren immer stärkergekürzt hat, haben wir diesen Abwärtstrend 1999 zumerstenmal umgekehrt. Jetzt aber müssen in allen Res-sorts tiefe Einschnitte vorgenommen werden, damit dieriesige Verschuldung, die uns die alte Koalition hinter-lassen hat, abgebaut werden kann.
Auch der Einzelplan 23 muß seinen Beitrag dazu leisten.Allerdings hätte ich mir gewünscht, daß bei der Ent-wicklungszusammenarbeit weniger stark gekürzt wor-den wäre.
Dies entspräche nicht nur unserem Koalitionsvertrag,sondern wäre vor allem auch sachlich gerechtfertigt ge-wesen.
Gerade die ständig zunehmenden Aufgaben in derzivilen Krisenprävention – ich erinnere an Ruanda,Kosovo und Osttimor, wo diese nicht zum Tragen kam –erfordern eine ausreichende Finanzausstattung. Ich sagees hier zum wiederholten Male: Zivile Krisenprävention,Armutsbekämpfung und Verbesserung der ökonomi-schen und politischen Bedingungen in den Entwick-lungsländern sind allemal billiger, als später militärischeingreifen zu müssen oder durch Bürgerkriege zerstörteLänder wiederaufzubauen.
Angesichts der verheerenden Zerstörungen in Ostti-mor, der Ermordung, Terrorisierung und Vertreibungvon Hunderttausenden Menschen sind wir in der Ver-antwortung, uns beim Wiederaufbau langfristig zu enga-gieren. Das sage ich insbesondere vor dem Hintergrundder historischen Verantwortung, die wir für diese kata-strophale Entwicklung tragen, da wir in der Bundesre-publik Deutschland über Jahrzehnte das Regime Suhartogestützt haben.Vorrangig ist eine ganz entscheidende Umorientie-rung in der internationalen Politik. Wir müssen anden Ursachen der Konflikte ansetzen, insbesondere ander ungerechten Verteilung der Ressourcen. Wir müssenjede Form der Zusammenarbeit mit „warlords“, die sichauf Kosten der eigenen Bevölkerung bereichern, end-gültig stoppen und ächten.
Eine wirksame Entwicklungspolitik braucht in ersterLinie inhaltliche Reformen. Die bisherigen Erfolge wieauch die Mißerfolge der deutschen Entwicklungszu-sammenarbeit müssen offen bilanziert werden.In der aktuellen Haushaltsproblematik liegt auch dieChance, daß die notwendigen Reformschritte be-schleunigt werden können. Das BMZ hat unabhängigvon der Haushaltssituation die hiefür notwendigenSchritte eingeleitet. Dabei geht es darum, wie in Zukunftdie deutsche EZ sektoral, aber auch in der Orientierungan Länderschwerpunkten stärker konzentriert werdenkann. Über eine bessere Verzahnung in der multilatera-len, europäischen und nationalen Entwicklungspolitikhat die Ministerin schon das Notwendige gesagt.Während der EU-Präsidentschaft haben wir begon-nen, mit unseren europäischen Partnerinnen und Part-nern die gemeinsame Entwicklungszusammenarbeit bes-ser zu koordinieren und umsetzen zu lernen.Auch unsere Stärken werden wir besser bündeln undin der Zusammenarbeit mit den Ländern des Südens ein-setzen müssen. Dazu gehört auch die kontinuierlicheUnterstützung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter desBMZ, ohne die eine zukunftsorientierte und nachhaltigeStrukturreform in der Entwicklungszusammenarbeitüberhaupt nicht machbar wäre.
Neue Schwerpunktsetzungen sind in den BereichenKrisenprävention und Entschuldung eingeleitet worden.Dies sind sehr wichtige Initiativen zum Einstieg in diedringend notwendige Veränderung der globalen Rah-menbedingungen, damit in Zukunft Menschenrechtenicht weiter mit Füßen getreten werden.Michael von Schmude
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4932 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Mit dem zivilen Friedensdienst ist in der Entwick-lungspolitik ein erster Schritt in Richtung einer globalenFriedenspolitik gemacht worden. Diese orientiert sich imGegensatz zu allem anderen, was nebenher noch ge-schieht, an der Wahrung der Menschenrechte und derVermeidung kriegerischer Auseinandersetzungen. Wirwollen in den betroffenen Ländern zivile Kräfte stärken,und wir wollen die jahrzehntelangen Konflikte überRessourcen nicht weiter in Gewalt umschlagen lassen.Genau das ist die Intention des zivilen Friedensdienstes,der die Erfahrungen staatlicher Durchführungsorganisa-tionen und die von Nichtregierungsorganisationen nut-zen wird, um in den Ländern des Südens die zivilenKräfte zu stärken und friedliche Konfliktregelungen um-zusetzen.
Es ist für uns alle entscheidend und wichtig, daß die-ser Schwerpunkt im Haushalt 2000 mit mehr Mittelnausgestattet wird. Auch in der mittelfristigen Finanzpla-nung braucht er selbstverständlich noch mehr Aufwuchs.
In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Mit-wirkung der Bundesministerin für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung im Bundessicherheitsratein entscheidender Fortschritt. Die Überarbeitung derpolitischen Grundsätze für Waffenexporte muß in derUmsetzung dazu führen, daß der bisherigen unverant-wortlichen Praxis, Krisenherde mit Waffenexportenweiter anzuheizen, ein Riegel vorgeschoben werdenkann.
Nachdem die alte Bundesregierung jahrelang auf deminternationalen Parkett als Bremserin in bezug auf mul-tilaterale Schuldenerleichterungen aufgetreten ist, habenwir dieses für die ärmsten Länder zentrale Vorhabenentschieden angepackt. Der deutschen Initiative war eszu verdanken, daß auf dem Kölner G-8-Gipfel Schul-denerleichterungen beschlossen wurden.Auf der anstehenden Tagung des IWF und der Welt-bank – das ist von der Bundesministerin schon erwähntworden – wird es darauf ankommen, daß die in Köln be-schlossenen Maßnahmen umgesetzt werden können. Be-sonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die zu-künftige Ausrichtung der Strukturanpassungsprogrammeauf soziale und ökologische Kriterien. Auch der Faktorder Armutsbekämpfung ist ein zentraler Ansatzpunkt.
Um den Gesamtplafond des BMZ richtig einzuschät-zen, muß berücksichtigt werden, daß das BMZ derHauptträger des Wiederaufbaus in Südosteuropa seinwird. Diese Mittel sind in einer Höhe von 300 MillionenDM im Einzelplan 60 veranschlagt. Wenn man dieseSumme allerdings mit den Ausgaben im militärischenBereich in Höhe von 2 Milliarden DM vergleicht, wirdüberdeutlich, daß wir in Zukunft in den Haushalt vielmehr Mittel für die zivile Krisenprävention einstellenmüssen.
In einzelnen Positionen wird der Regierungsentwurfin den parlamentarischen Haushaltsberatungen eventuellnoch minimal verändert werden können. Gerade jetzt, daauf Grund der notwendigen Haushaltskonsolidierungimmer weniger staatliche Mittel zur Verfügung stehen,ist es um so notwendiger, die gesellschaftlichen Akteurezu stärken. Vor allem muß deshalb der Titel, der für dieMittelausstattung der privaten Träger vorgesehen ist,gegenüber dem Regierungsentwurf deutlich angehobenwerden.
Auch die Kirchen und die politischen Stiftungenbrauchen durch eine Erhöhung der VEs mehr Planungs-sicherheit. Die entwicklungspolitische Bildung, die wirim Haushalt 1999 mit mehr Mitteln ausgestattet haben,muß ebenfalls stärker unterstützt werden, um den Stel-lenwert der Entwicklungszusammenarbeit in unsererGesellschaft zu verbessern. Auch für die Reintegrationsowie für die Aus- und Fortbildung von Personen ausden Entwicklungsländern wird mehr Geld benötigt.Denn es ist ganz einfach sinnvoll und billiger, gut aus-gebildeten Menschen aus dem Süden einen Start in ihrerHeimat zu ermöglichen, damit sie dort für eine Verbes-serung der Situation arbeiten können.Wir werden uns im parlamentarischen Verfahren be-mühen, nachzulegen. Die notwendige Konsolidierungder öffentlichen Finanzen darf die Entwicklungszusam-menarbeit nicht auf Dauer in ihrer Reichweite undHandlungsfähigkeit beschränken.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Gerhard Schüßler, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man denEinzelplan 23 genau liest, seine Daten und Zahlen stu-diert, dann kann man nur sagen: Noch keine Bundesre-gierung hat in diesem Bereich ein so miserables Doku-ment vorgelegt.
Was, Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, ist aus Ihren gro-ßen Ankündigungen geworden? Was ist aus der im Ko-alitionsvertrag angekündigten Aufwertung und Erweite-rung der Entwicklungspolitik zu einer globalen Struk-turpolitik geworden?
Dr. Angelika Köster-Loßack
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4933
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Davon ist weit und breit außer Ankündigungen nichts,aber auch gar nichts zu sehen.Auch in der Entwicklungspolitik hat die rotgrüne Re-gierung genau das Gegenteil dessen gemacht, was sieversprochen hat: Der Haushaltsentwurf sieht keine Auf-wertung und Erweiterung, sondern eine Abwertung undReduzierung der Entwicklungshilfe vor.
Anstatt, wie vollmundig angekündigt, die Verpflich-tungsermächtigungen kontinuierlich zu erhöhen, beab-sichtigt die Bundesregierung, sie mit 1,5 Milliarden DMauf den niedrigsten Stand seit 1972 zurückzuführen. Dasbedeutet für die deutsche Entwicklungspolitik, daß sieim Jahr 2000 nicht alle eingegangenen Verpflichtungenerfüllen kann und entweder völkerrechtlich bindendeVerträge brechen oder aber unsere Vertragspartner umStundung bitten muß. Dies kommt einem Offenbarungs-eid der deutschen Entwicklungspolitik gleich.
Vor diesem dramatischen Hintergrund läßt sich dieFeststellung der Bundesregierung, die angestrebteTrendwende für den Einzelplan 23 im Finanzplanungs-zeitraum sei möglicherweise nicht zu schaffen, an Sar-kasmus kaum überbieten.
Ihre Erklärung, Frau Ministerin, anläßlich Ihrer 100-Tage-Bilanz „Neue Entwicklungspolitik“, der Abwärts-trend des Entwicklungshaushalts sei gestoppt und dieGrundlage für den Aufwärtstrend dauerhaft gelegt,klingt kaum ein halbes Jahr später ebenfalls wie blankerHohn.
Meine Damen und Herren, mit einer Kürzung von8,7 Prozent und weiteren Verschärfungen bis zum Jahre2003 – bis zu 13,6 Prozent – geht die Bundesregierungnoch weit über die Kürzungen in anderen Ressorts hin-aus.
Dies macht deutlich, welch relativen Stellenwert sie derEntwicklungspolitik ungeachtet aller Sonntagsredenüber Solidarität mit der dritten Welt tatsächlich beimißt.Sie scheint im übrigen auch nicht bereit zu sein, Konse-quenzen aus einer jüngst von der Bundesministerinselbst vorgestellten Studie zu ziehen, wonach von derEntwicklungshilfe erhebliche Impulse für Arbeitsplätzeund Wachstum in Deutschland ausgehen.Durch die überproportionalen Kürzungen entferntsich die Bundesregierung weiter von dem von den Ver-einten Nationen definierten 0,7-Prozent-Ziel als jede an-dere Regierung vor ihr. Der Widerspruch zu dem imSPD-Parteiprogramm festgelegten Ziel, aus moralischenGründen verstärkte Entwicklungsanstrengungen zu un-ternehmen, um die Schere zwischen Arm und Reich zuschließen, könnte krasser nicht sein.
Der Rückgang der Entwicklungshilfe erreicht ein Aus-maß, bei dem wesentliche Inhalte der in vier Jahrzehntengewachsenen deutschen Entwicklungspolitik schlichtzur Disposition stehen.Die Leidtragenden sind nicht nur unsere Partnerlän-der und -organisationen weltweit, sondern insbesondereauch die unmittelbar vom Abbruch oder von der Stornie-rung von Entwicklungsprojekten betroffenen Menschenin der dritten Welt selbst. Dem guten Ruf der deutschenEntwicklungspolitik und der deutschen Rolle in der Weltwird damit ein schwerer Schaden zugefügt.Daß bei allgemeinen Sparzwängen auch der Einzel-pan 23 von Rationalisierung nicht ausgenommen bleibenkann, wird niemand ernsthaft bestreiten. Anstatt jedochmit dem Rasenmäher durch den Haushaltsgarten zu lau-fen, hätte man besonders von denjenigen, die die Ent-wicklungspolitik als prioritäre Aufgabe ihrer Regie-rungsarbeit bezeichneten, kreative Lösungsansätze er-hofft.
Wenn die Knappheit der Mittel wenigstens mit dennotwendigen Reformen – zwar immer wieder angekün-digt, aber nicht zu sehen –,
das heißt mit der Neubewertung politischer Prioritätenverknüpft würde, wäre vielleicht noch ein positiverAspekt erkennbar.In diesem Zusammenhang ist es auch bedauerlich,daß die Bundesregierung nicht die Anstrengung unter-nommen hat, die bereits seit Jahren diskutierte Reformdes sektoralen und geographischen Ansatzes derdeutschen Entwicklungspolitik in Angriff zu nehmen.Wenn das jetzt geschieht, Frau Ministerin, werden wirSie unterstützen.
– Ja, dann ist es ein Fortschritt.
Dem Beispiel anderer Geberländer wie Frankreich,Großbritannien und den USA folgend, wäre es dringenderforderlich, daß die deutsche Entwicklungshilfe ihre fi-nanziellen und personellen Ressourcen in den Sektorenbündelt, in denen wir in den letzten Jahrzehnten beson-ders erfolgreich waren. Ferner wäre es aus der Sicht derF.D.P.-Bundestagsfraktion sinnvoller, in Absprache mitanderen bilateralen Geldgebern, insbesondere in der EU,aber auch in Koordinierung mit multilateralen Geberngeographische Schwerpunkte zu setzen. Das wäre in ei-Gerhard Schüßler
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4934 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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ner sich globalisierenden Welt ein intelligenter Ansatzfür die globale Arbeitsteilung.
Darüber hinaus wäre es auch im Sinne der durch dieSparbeschlüsse beabsichtigten Verschlankung der Bun-desverwaltung, das Bundesministerium für wirtschaftli-che Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt zu-sammenzulegen.
Hierdurch würden überdies wichtige außenpolitischeKohärenzeffekte erzielt.
Die Bundesrepublik Deutschland ist weltweit das einzi-ge große Geberland, das sich eine Trennung zwischendiesen beiden inhaltlich verwandten Ressorts leistet. Ausder Perspektive der Empfängerländer sind Außen- undEntwicklungspolitik ohnehin zwei Seiten derselbenMedaille.
Es ist besonders bedauerlich, daß die rotgrüne Regie-rung während ihrer Koalitionsverhandlungen nicht denpolitischen Mut gefunden hat, diesen Schritt zu vollzie-hen. Er war ja schon beschlossene Sache, und ein ent-sprechender Vorschlag lag auf dem Tisch.
Trotzdem hatten letztlich Argumente der koalitionsin-ternen Postenschacherei Vorrang vor entwicklungs- undhaushaltspolitischer Vernunft.
Ich weiß, Frau Staatssekretärin, daß die F.D.P. einst,als die Entwicklungspolitik noch ganz andere Voraus-setzungen hatte, für ein eigenständiges Ministerium ein-getreten ist. Das ist wahr, aber inzwischen hat sich dasnachhaltig verändert.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Der Einzelplan23 ist kein Zukunftsprogramm 2000, er ist ein unver-antwortlicher, rückwärtsgewandter Marsch in der Ent-wicklungspolitik, der dem Ansehen der Bundesrepubliknicht nur in den Entwicklungsländern schweren Schadenzufügen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Redner
ist der Kollege Dr. Winfried Wolf, PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der KollegeCarsten Hübner befindet sich auf dem Weg nach Indo-nesien, deswegen müssen Sie ein weiteres Mal mit mirvorliebnehmen.Bei dem Einzeletat 23 zeigt sich ebenso wie bei derZwiesprache zwischen den Kollegen Schmude und Eid,daß wir auf einem Ball paradox sind. Es zeigt sich füruns, daß Unterschiede zwischen der vorausgegangenenchristlich-liberalen Regierung und der sozialdemokra-tisch-grünen Regierung kaum auszumachen sind.Gespart wird bei den Ärmsten der Armen: im Inlandbei den Rentnerinnen und Rentnern und im Ausland beider Hilfe für die ärmsten Länder, für Länder, die durchunsere Wirtschaftspolitik arm gemacht wurden und jetztweiter geschwächt werden. Dabei stehen immer Worteund Taten in krassem Gegensatz. Kanzler Kohl ver-sprach 1992 in Rio de Janeiro, den Anteil der deutschenEntwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttosozialpro-dukts anzuheben. Der Anteil wurde von 0,4 auf 0,28Prozent reduziert.In der Koalitionsvereinbarung der neuen Regierungvom letzten Jahr hieß es, daß die Entwicklungshilfe ge-stärkt und ihre Mittel erhöht werden müssen.
– Sie werden jetzt, Frau Eid, überproportional gekürzt. –Es ist lächerlich, wenn die Ministerin darauf verweist,daß hier noch die Hilfe für den regionalen Aufbau inSüdosteuropa angerechnet werden muß. Es handelt sichhier um Kriegsfolgekosten, um Ausgaben, die überwie-gend der Stabilisierung eines Balkanprotektorats mit in-stitutionalisierter Vetternwirtschaft, mit einem KonsulHombach und einem Vizekonsul Koenigs, dienen.Interessant ist auch zu sehen, wo gespart wird. Das,Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, liegt in Ihrer Verant-wortung. Gespart werden soll in erheblichem Maß beiverschiedenen UN-Organisationen. So werden die deut-schen Mittel für die UN-Organisation UNDP um50 Prozent reduziert. Das schwächt die UNO zu einemZeitpunkt, in dem sie gestärkt werden müßte. Gleichzei-tig betonten Sie, Frau Ministerin – gerade erneut –, Siewollten den deutschen Einfluß bei der Weltbank undbeim Internationalen Währungsfonds ausbauen. Siesagten, damit könnten die globalen Rahmenbedingungenzugunsten unserer Partnerländer im Süden verbessertwerden.Wir sehen das weiterhin umgekehrt. Wir sagen:Weltbank und Internationaler Währungsfonds sind In-strumente, um die neokolonialen Rahmenbedingungenzu festigen, das heißt, um die schwachen Länder nochschwächer zu machen. Es klingt gerade so, als ob mitdem Wechsel von Bonn nach Berlin ein Wechsel bei derPolitik des IWF verbunden wäre. Da sage ich: Hierwackelt der Schwanz mit dem Hund.Gerhard Schüßler
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Das kann man auch am Beispiel Indonesien konkreti-sieren. Was ging denn dem mörderischen Treiben indo-nesischer Milizen in Osttimor voraus? Dies waren einetiefe Wirtschaftskrise in den Jahren 1997/98 infolge derGlobalisierung und ein IWF-Stabilisierungsprogramm,das massiv zum Abbau des Lebensstandards in Indone-sien beitrug. So etwas war schon immer ein direkterBeitrag zur Stärkung rassistischer Akte. Tatsächlich gibtes in ganz Indonesien seit 1997/98 verbreitete Terroraktegegen Christen und gegen die chinesische Minderheit.Hierzu gab es in der Debatte zu Osttimor bisher keinWort.Es gab auch kaum ein Wort zur engen militärischenund wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen derBundesregierung – der alten und der neuen – und demindonesischen Regime bis vor wenigen Wochen. Es gabschließlich kein Wort zum Zusammenhang zwischenHilfe und Verletzung von Menschenrechten.Wir haben im Februar dieses Jahres in einer KleinenAnfrage an Sie, Frau Ministerin, sehr konkret die Fragegestellt – ich zitiere:Verbindet die Bundesregierung ihre bilateraleZusammenarbeit mit Indonesien– immerhin in Höhe von 110 Millionen DM –mit dem Erfolg der Verhandlungen von JamsheedMarker, Osttimor-Beauftragter des UN-General-sekretärs, über eine weitgehende Autonomie Ost-timors?Die Antwort der Bundesregierung lautete schlicht undpräzise: „Nein“. Wohlgemerkt: Wir formulierten vor-sichtig und verlangten keine Erpressung. Ich weiß auchum die Differenziertheit der in Frage stehenden Projektein Indonesien. Doch keinerlei Verbindung zwischen dermassiven Hilfe für Jakarta und den massiven Menschen-rechtsverletzungen in Indonesien herzustellen und nichtszu tun, damit die UN-Mission ein Erfolg wird, indemman mit dieser Hilfe argumentiert, ist meiner Meinungnach kontraproduktiv für die Menschenrechte. Das wi-derspricht auch dem entwicklungspolitischen Ziel einer„good governance“-Politik, also dem Ziel der Schaffungeines Zusammenhangs zwischen Unterstützung undDemokratie.Werte Kolleginnen und Kollegen, Professor Dr. PeterMolt, der Vorsitzende des Verbandes Entwicklungspoli-tik deutscher Nichtregierungsorganisationen, hat denEinzeletat 23 mit sehr ähnlichen Worten wie wir von derPDS kritisiert. Er spricht von einem „falschen politi-schen Signal“ durch Kürzung vor allem auch bei denNichtregierungsorganisationen und von der „Gefahreines Paradigmenwechsels“. Entwicklungspolitik drohedurch Reduktion und Konzentration zum Schmiermitteldeutscher Wirtschaftsinteressen zu verkommen. Profes-sor Molt fordert Sie, Frau Ministerin, und die Bundesre-gierung auf, die Kürzungen in diesem Etat rückgängigzu machen. Wir schließen uns dieser Aufforderung invollem Umfang an.Wir haben viele Beispiele genannt, wie dies durchKürzungen im Rüstungsetat, durch ein Nein zum Trans-rapid und durch ein Nein zu Militäreinsätzen im Aus-land finanziert werden könnte, also durch genau diePolitik, die die Grünen in vollem Umfang und die SPDweitgehend bis zum Wahlabend am 27. September letz-ten Jahres mitgetragen haben.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Detlef Dzembritzki, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU hatschon vor dieser Debatte und heute durch Herrn vonSchmude – ich gehe davon aus, daß sie es auch nochdurch den Nachredner machen wird – lautstark denScherbenhaufen und das sogenannte Desaster im Ent-wicklungshaushalt beklagt.Daß wir uns nicht falsch verstehen, Kollegen: Michstimmt die Kürzung des Etats beim BMZ nicht freudig.Ich bin froh, daß die Bundesregierung nicht nur zu Be-ginn der Regierungszeit, sondern auch heute die beson-dere Verantwortung der Entwicklungspolitik hervorhebt.
Denn es ist uns allen klar: Präventionsmaßnahmen imRahmen der Entwicklungspolitik kosten nicht die Milli-arden, die erforderlich sind, wenn das Kind in den Brun-nen gefallen ist, wie zum Beispiel im Kosovo gesche-hen.Aber, meine Damen und Herren, es muß auch heuteabend wieder festgehalten werden: Das eigentliche De-saster liegt nicht bei den Kürzungen im Entwicklungs-haushalt. Vielmehr müssen jährlich 80 Milliarden DMan Zinsen gezahlt werden, das sind mehr als 220 Millio-nen DM täglich. Die Reduzierung im Entwicklungs-haushalt um 600 Millionen DM entspricht nicht einmaldem Gegenwert der Zinszahlungen von drei Tagen. Dasmuß man sich einmal vor Augen führen.
Zehn Entwicklungsetats werden den Banken hinterher-geschmissen, nur für Zinszahlungen. Das ist das Geld,das den Armen fehlt – nicht die 500 Millionen, von de-nen Sie von der CDU/CSU und der F.D.P. ständig spre-chen.
Das Desaster ist, daß wir Jahr für Jahr das Zehnfachedieses Etats in den Wind schreiben, weil Sie nicht or-dentlich gewirtschaftet haben.
Und dann redet Herr von Schmude hier von Dienst-wagen und Kantinen! Ich habe in der Sommerpause mitgroßer Überraschung in der Zeitung gelesen, daß dasEntwicklungshilfeministerium 1992 in Bonn angeblichRäume für einen Quadratmeterpreis von sage undschreibe mehr als 41 DM angemietet hat, obwohl schondamals das Bundesvermögensamt darauf hingewiesenDr. Winfried Wolf
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4936 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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hat, daß dieser Preis nicht haltbar ist und die Ver-gleichsmiete in einer Spanne zwischen 30 und 40 Markliege. Hätten Sie damals nicht protzig leben wollen,sondern vernünftige Mietverträge gemacht, hätten wirbis heute alleine dadurch 20 Millionen DM sparen kön-nen. Das haben Sie mit Ihrer Politik zu verantworten.
Es ist ja überhaupt nicht zu bestreiten, daß wir überdie Kürzungen betrübt sind und daß wir im Ausschußfür wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dazu beitragenmüssen, die anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Aberes ist doch unverkennbar: Es ist gelungen, aus der Noteine Tugend zu machen und diese Kürzungen zum An-laß für eine Straffung, Neuorientierung und Konzen-tration auf das Wesentliche zu nehmen. Kurz: Das Zielder Steigerung der Effizienz ist erreicht.Herr Kollege Schüßler, Sie sprechen zu Recht an, daßdie bilaterale Zusammenarbeit daraufhin überprüft wer-den muß, welche Länder bereits von anderer Seite kon-zentriert Hilfe erhalten und gewisse Entwicklungs-schritte schon erfolgreich getan haben. Aber erst dieSPD/Grüne-Regierung hat das zum Thema gemacht unddie Politik in dieser Frage vorangebracht.
Warum unterstützen Sie denn nicht die Ministerin darin,daß es möglich gemacht wird – was notwendig ist –,Länder zu identifizieren, auf die sich in Zukunft die Zu-sammenarbeit konzentrieren soll?
– Lieber Kollege, das ist doch weitaus besser, als – wiezu Ihrer Zeit geschehen – die Gießkanne über den Glo-bus zu schwenken und den Versuch zu unternehmen,alle gleichermaßen zu treffen.
Wir wissen, daß in der Vergangenheit auch jeneSchwellenländer gefördert worden sind, die mittler-weile in der Lage sind, für Beratung und technische Hil-fe Gegenleistungen zu erbringen. Gefördert wurde High-Tech. Das wäre alles vertretbar gewesen, wenn gleich-zeitig an anderer Stelle notwendige Entwicklungspro-jekte in armen Ländern auf den Weg gebracht wordenwären. Ich denke, daß Schwerpunktsetzung richtig istund daß in Zukunft eine Politik unterbleiben sollte, dieProjekte fördert, die die Länder selbst finanzieren kön-nen. Statt dessen sollten wir zum Beispiel Public-private-partnership unterstützen, weil wir damit dieMöglichkeit des gezielten Einsatzes von Mitteln erhal-ten.Organisatorisch gesehen hat das BMZ erweiterte Mit-spracherechte. Die Ministerin hat hier noch einmal denBundessicherheitsrat angesprochen. Die Aufgaben derEntwicklungspolitik werden in der Regierung als Quer-schnittsaufgabe wahrgenommen. Wir müssen auf inter-nationaler Ebene dafür sorgen, daß zum Beispiel Nach-folgeabkommen zum Abkommen von Lomé unter Dachund Fach gebracht werden. Wir müssen bei den Ver-handlungen der Welthandelsorganisation dafür sorgen,daß die Welt nicht in zwei Lager geteilt wird: hier sub-ventionierte Erzeuger von Lebensmitteln, dort hungern-de Almosenempfänger, deren Märkte durch unsere sub-ventionierten Produkte kaputtgemacht werden.
In bezug auf die Bewältigung dieser Aufgaben ist diePolitik vorangebracht worden.Lieber Kollege Ruck, es geht um Kohärenz, dieÜbereinstimmung auf verschiedenen Politikfeldern unddamit um die Glaubwürdigkeit unserer Politik. Sie wer-den das nicht gerne hören, aber die frühere Politik unterMinister Spranger war gerade in diesem Punkt ein To-talausfall.Da ich heute die Rede von Herrn Schäuble zurKenntnis nehmen mußte, in der er kritisiert, daß derEntwicklungsetat deutliche Kürzungen aufweist und daßmit diesen Finanzmitteln keine adäquate Eine-Welt-Politik mehr möglich sei,
dann muß ich schon fragen, wer denn mit der Eine-Welt-Politik begonnen hat. Es ist doch die rotgrüne Ko-alition gewesen, die die Dinge in diesem Bereich voran-gebracht hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUund der F.D.P., Sie können doch überhaupt nicht weg-diskutieren, daß Sie zum Beispiel 1994 einfach einmal400 Millionen DM im Entwicklungsetat gestrichen ha-ben. Sie werden nicht wegdiskutieren können, daß Sie1996 angekündigt haben, den Etat um 2 Prozent zu er-höhen. Am Ende haben Sie ihn um 2 Prozent reduziert.Damit waren schon wieder 4 Prozent dieses Etats weg.
Das ist doch die Basis, die wir übernehmen mußten.Was hat diese Regierung eingebracht? Was hat sievorangebracht? Schuldenerlaß, Kohärenzpolitik, Ein-flußnahme auf den IWF und auf die Weltbank.
– Es tut mir ja leid, daß es Ihnen weh tut, Herr Kollege.In vielen Punkten stimmen wir ja überein, aber Sie müs-sen die Wahrheit ertragen. Das läßt sich doch nicht ver-hindern.
Wer hat denn mit der Strukturpolitik und der Bekämp-fung von Armut begonnen? Meine Damen und Herren,es ist doch unbestreitbar, daß diese BundesregierungDetlef Dzembritzki
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4937
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trotz der Schwierigkeiten, die Sie uns hinterlassen ha-ben, zu ihren internationalen Verpflichtungen steht.
Ich denke, das sind inhaltliche Schwerpunkte, die – trotzder bedauerlichen Kürzungen – in vieler Hinsichtweitaus mehr bringen als die eine oder andere Mark imEtat. Ich empfehle Ihnen, sich einmal die Studie vonWolfensohn durchzulesen, der sehr zu Recht sagt, daßes nicht so sehr auf das Volumen, sondern auf die Er-gebnisse ankommt. Die Ergebnisse nach einem Jahr rot-grüner Entwicklungspolitik können sich doch sehen las-sen!
Im Kosovo und in den Anrainerstaaten hat die Arbeitdes BMZ auf der Grundlage entwicklungspolitischer Er-fahrung sichtbare Erfolge gebracht: Wasser, Stromver-sorgung, Medizin, Baumaterial – kurz, die Hilfe zurSelbsthilfe ist eingeleitet. Das ist ein richtiger Weg. Diesgeschieht – die Kolleginnen und Kollegen haben schondarauf hingewiesen – zum großen Teil mit Mitteln, diezwar entwicklungspolitischen Zielen zugute kommen,gleichwohl aber nicht im Haushaltsplan des Ministeri-ums stehen. Das betrifft zum Beispiel die 300 MillionenDM im Einzelplan 60. Das geschieht unabhängig vonden multilateralen Verpflichtungen; das sollte man nichtvergessen, wenn wir die Kürzungen im Haushalt be-trachten.Die Bundesrepublik stellt in den nächsten Jahren 1,2Milliarden DM für den Stabilitätspakt mit Südosteu-ropa zur Verfügung. Gerade wir Entwicklungspolitikersollten das Selbstbewußtsein haben, immer wieder deut-lich zu machen, daß Entwicklungspolitik dazu beiträgt,auch den Menschen in diesem Teil Europas eine Per-spektive zu geben.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß Sie Ver-ständnis haben, wenn ich an dieser Stelle ein Wort zuOsttimor sage. Das gesamte Haus ist sich – das istwohltuend, das will ich an dieser Stelle feststellen –in der Einschätzung dieser bedrückenden Situation einig,in der es der internationalen Gemeinschaft trotz gro-ßen Einsatzes – mein tiefer Respekt gilt den tau-send Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der UN, die sichdort unbewaffnet zur Verfügung gestellt haben, umdas Referendum durchzuführen; das war eine mutigeGeste –
wieder nicht gelungen ist, Mord, Brandschatzung undVertreibung zu verhindern. Auch angesichts des not-wendigen Militäreinsatzes, den wir wohl alle als in die-ser Form unvermeidlich ansehen, wird eine nachhaltigeBefriedung des Konfliktes nur mit dem Instrument derbi- und multilateralen Entwicklungszusammenarbeitmöglich sein. Das sollten wir als langfristige Zielvor-stellung im Auge haben.
Ich möchte auf die zukünftigen Aufgaben zurück-kommen, weil ich mich nicht vor Themen drücken will,die besonders sensibel sind. Ich denke, bei dem Titel derNichtregierungsorganisationen werden wir auf Grundunserer parlamentarischen Verantwortung – das kannich jedenfalls für die Koalition sagen – dafür Sorge tra-gen, daß es nicht bei dem jetzigen Haushaltsansatzbleibt. Wir müssen versuchen, eine Anhebung gegen-über dem vorliegenden Entwurf vorzunehmen.Ich denke, daß wir uns in diesem Punkt einig sind:Unsere entwicklungspolitischen Prinzipien zur Förde-rung einer Zivilgesellschaft – Good Governance, Ach-tung der Menschenrechte, Schutz von Minderheiten so-wie Bildung und Erziehung – machen es geradezu erfor-derlich, daß Nicht-Regierungsorganisationen bei uns,aber insbesondere auch in den betroffenen Ländern zufördern sind. Sie sind die Hefe im Teig der Zivilgesell-schaften. Deswegen müssen wir darauf achten, daß eineentsprechende Ausstattung erfolgt. Das gleiche – in die-sem Punkt werden Sie mir zustimmen – gilt für Bildungund Erziehung. Man sollte in diesem Zusammenhangauch den beruflichen Bereich einbeziehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Dzem-
britzki, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Ja. – Da ich gerade bei
der Diskussionsvorbereitung im Ausschuß bin, möchte
ich noch sagen, daß wir eine vernünftige Balance hin-
sichtlich der Verpflichtungsermächtigung finden wer-
den.
Zum Schluß noch eine Bemerkung: Was wir jetzt
entwicklungspolitisch zu bewältigen haben, hängt na-
türlich auch sehr stark damit zusammen, ob wir in unse-
rer Forderung nach Good Governance glaubwürdig
sind. Wie wollen wir denn von den Regierungen, zum
Beispiel von den Regierungen der AKP-Staaten, erwar-
ten, daß sie ihre Haushalte in Ordnung bringen, wenn
wir das schon nicht tun?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, zum
Schluß kommen heißt, nur noch einen Gedanken vorzu-
tragen.
Als letztes will ich sa-gen, Frau Präsidentin: Liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Opposition, hindern Sie uns nicht daran, denHaushalt in Ordnung zu bringen! Springen Sie über Ih-ren Schatten! Helfen Sie uns dabei, diese Konsolidie-rung zu ermöglichen! Dies ist die Voraussetzung, umauch in Zukunft zu unseren internationalen Verpflich-tungen zu stehen. Wir sind auf einem guten Weg.
Detlef Dzembritzki
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4938 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Klaus-Jürgen He-
drich.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen!Ihre CDU, Herr Schäuble, und F.D.P. haben imHaushaltsausschuß gerade einmal sage und schrei-be 7,65 Milliarden DM für Entwicklungspolitikbeschlossen – knapp doppelt so viel wie der Jahres-etat der Stadt Stuttgart. ...Ich kritisiere, daß sich die Bundesregierung durchlangsames Austrocknen dieses Politikbereiches ausihrer Verantwortung für die Bewältigung globalerProbleme verabschiedet. Ich meine, daß Entwick-lungspolitik Zukunftssicherung ist. Das hat dieseRegierung nicht begriffen.Dies erklärte die damalige entwicklungspolitischeSprecherin der Grünen, Frau Kollegin Dr. Uschi Eid, am15. Januar 1998 in einer Bundestagsdebatte in Bonn.
Vielleicht, liebe Frau Kollegin, sind Sie irgendwanneinmal bereit, uns den Vorschlag, den Sie jetzt präsen-tiert haben, mit einem Etat von 7 Milliarden DM für dasnächste Jahr und von 6,5 Milliarden DM im Jahre 2003– zu diesem Zeitpunkt werden Sie natürlich nicht mehrregieren – zu erklären. Ich überlasse Ihnen die Bewer-tung. Der Vorschlag macht wieder den Widerspruchzwischen Ankündigung, Kritik und aktuellen Tatendeutlich.Wir kritisieren Sie übrigens nicht nur allein wegendieser Einschnitte, sondern wir kritisieren Sie vor allemdeshalb, weil Sie den Menschen etwas versprochen ha-ben und dieses Versprechen, wie die Versprechen invielen anderen Bereichen, nicht gehalten haben.
In der Koalitionsvereinbarung haben Sie festgehalten:Um dem international vereinbarten 0,7-Prozent-Ziel näher zu kommen, wird die Koalition den Ab-wärtstrend des Entwicklungshaushaltes umkehrenund vor allem die Verpflichtungsermächtigungenkontinuierlich maßvoll erhöhen.Was passiert? Jetzt kann man natürlich sagen: Viel-leicht war es die Euphorie. Aber die Ministerin hat dannnoch am 24. Februar dieses Jahres gesagt: Mit dem jetztvorgelegten Bundeshaushaltsplan – das war noch dervon 1999 – haben wir den Abwärtstrend des Entwick-lungshaushaltes gestoppt und die Grundlage für eineAufwärtsentwicklung geschaffen.Jetzt wird von Ihnen häufig argumentiert, sie müßtennun sparen, weil wir Ihnen so einen Scherbenhaufenhinterlassen hätten.
Jetzt kann ich natürlich folgende Frage stellen: Als Siediese Koalitionsvereinbarung unterschrieben haben, alsdie Ministerin diese Erklärung abgegeben hat – übrigensist eine entsprechende Erklärung von der Ministerinnoch im Mai abgegeben worden; damals haben wir sieschon gewarnt: liebe Frau Ministerin, seien Sie mit IhrenAnkündigungen vorsichtig –, waren Sie sich da über denHaushalt der vergangenen Jahre und das, was vor Ihnenliegt, nicht im klaren? Das hätten Sie doch eigentlichwissen müssen.
Wenn ich mich nicht völlig irre, dann ist der zustän-dige Staatssekretär im Finanzministerium für den Haus-halt bei Eichel wie bei Lafontaine noch derselbe wie beiWaigel. Hat dieser Mann möglicherweise uns oder Siein die Irre geführt? Das will ich nicht unterstellen.
Sie kannten natürlich die Zahlen. Der Punkt ist nur– darauf ist schon mehrmals hingewiesen worden –: Siemußten mit dem Eichel-Vorschlag das korrigieren, wasIhnen der unmittelbare Vorgänger von Eichel einge-brockt hatte. Das und nichts anderes sind die Fakten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie täu-schen – oder haben getäuscht – nicht nur die deutscheÖffentlichkeit. Sie täuschen darüber hinaus sogar unsereinternationalen Gesprächspartner. Der G-7-Gipfel inKöln hat festgelegt, daß sich alle Mitgliedsländer der G7verpflichten, die Entwicklungshilfemittel zu steigern.
Das war Ende Juni. Wissen Sie, Frau Kollegin Eid, wasdas Schlimme ist? Als der Bundeskanzler und die Ent-wicklungsministerin ihre Unterschrift unter dieses Pa-pier gesetzt haben, wußten Sie bereits, daß der Finanz-minister dramatische Kürzungen im Entwicklungsetatvorbereitet. Sie haben also nicht nur die deutscheÖffentlichkeit getäuscht. Sie haben auch noch unsereinternationalen Partner getäuscht. Das halte ich fürschäbig.
Das heißt: Sie haben der Reputation Deutschlands er-heblichen Schaden zugefügt. Das ist Ihre Politik. Wirsind in unserer Bewertung nicht allein. Ich rechne Ihnenerst einmal zugute – das darf man bei aller Diskussiondurchaus sagen –: Die Entwicklungspolitiker der Koali-tion teilen unsere Einschätzung. Das wissen Sie dochganz genau.Der Punkt ist aber: Diese Kritik wird nicht nur vonuns geteilt. Gehen Sie doch durch die deutsche Land-schaft! Das ist von mehreren Kollegen angesprochenworden. In einem Papier von VENRO wird darauf hin-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4939
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gewiesen: Aus Sicht der entwicklungspolitischen Nicht-regierungsorganisationen sind mit dem Sparprogrammnicht nur schmerzhafte finanzielle Einschnitte ver-bunden, sondern es deutet sich ein grundlegenderPolitikwechsel der rotgrünen Bundesregierung in derEntwicklungszusammenarbeit an. Das ist der Punkt.Der entscheidende Fehler, den Sie darüber hinausnoch machen, ist, daß Sie hier davon reden – HerrDzembritzki hat das angesprochen –, Sie hätten irgend-welche Dinge auf den Weg gebracht. Diese Diskussionnehme ich Ihnen persönlich gar nicht übel. In den letztenJahren gab es einen breiten Konsens zwischen denFraktionen. Wir haben gemeinsame Beschlüsse über dieentwicklungspolitische Landschaft gefaßt. Ich kannnichts dafür, daß Sie mit dem Haushalt, den Sie unsvorlegen, die Gemeinsamkeit in der Entwicklungspolitikaufkündigen. Drehen Sie aber den Spieß bitte nicht um.Sagen Sie nicht, Sie hätten mit Armutsbekämpfung oderdergleichen begonnen.Ganz im Gegenteil: Führen Sie sich einmal das Do-kument des deutschen NRO-Forums Weltsozialgipfelzu Gemüte. Darin wurde festgelegt, daß sowohl dieEntwicklungsgeber wie die Entwicklungsländer 20 Pro-zent ihrer Mittel, die sie für Entwicklungspolitik zurVerfügung stellen, für soziale Anliegen, für Armutsbe-kämpfung usw. zur Verfügung stellen. Dieses Forum hatausdrücklich erklärt: Mit dem jetzt vorliegenden Haus-halt werden die Ziele des Weltsozialgipfels massiv ver-fehlt. – Ich führe hier nicht uns, sondern andere Zeugenan.
Wir werden uns darüber Gedanken machen müssen, wiewir mit der Sache weiter umgehen.Sie haben die Frage angesprochen, ob man innerhalbdes Haushaltes nicht das eine oder andere umschichtenkönne. Daß wir dafür plädieren, diesen Haushalt nichtzur Grundlage unserer Diskussion zu machen, ist selbst-verständlich. Wir sind aber trotzdem gewillt, Ihnen beiVorschlägen möglicherweise Rückendeckung zu geben:Frau Ministerin, Sie kündigten an, Sie würden sorgfältigdarüber nachdenken, ob zusätzliche Mittel aus dem EEF,dem Europäischen Entwicklungsfonds, umzuschichtenseien. Sie hätten uns auf Ihrer Seite; das möchte ichdeutlich machen; denn die europäische Entwicklungs-politik hat bisher ihre Erwartungen in der Tat nicht er-füllt.Wenn ich übrigens rechtsradikaler Politiker in diesemLande wäre
– kann ich mir auch nicht –, dann hätte ich mir zum Bei-spiel den Bericht des Europäischen Rechnungshofes zuGemüte geführt und hätte im Wahlkampf daraus zitiert.Es ist eine absolute Katastrophe. Wir haben das immerkritisiert, sind damit aber häufig nicht durchgedrungen.Es geht nun darum, eine Politik auf den Weg zu brin-gen, die gegenüber der deutschen und der internationa-len Öffentlichkeit glaubhaft bleibt. Deswegen will ichmit folgendem Aspekt abschließen: Sie haben die Ent-schuldungsinitiative hier wieder angesprochen und an-gemahnt. Von der Bundesregierung kam bezüglich derVorbereitung der Weltbank- und IWF-Tagung letzteWoche die Information, daß sie noch nicht wüßte, wiesie das finanzieren solle; vielleicht ist das heute anders.Die internationalen Finanzierungsorganisationen erklär-ten, sie hätten dafür nicht das Geld.Die Konsequenz ist: Selbst wenn Sie sich mit die-ser Initiative durchsetzen, würde das im nächsten Haus-halt im Höchstfalle 40 bis 50 Millionen DM an Be-lastung des Entwicklungsetats zugunsten der Ent-wicklungsländer bedeuten. Gleichzeitig streichen Sieaber den Entwicklungsländern Gelder in Höhe von700 Millionen DM. Das ist die negative Bilanz IhrerPolitik. Damit werden wir Sie auf keinen Fall durch-kommen lassen.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich das Wort der Abgeordneten
Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich fange beim letzten Punkt, zudem ich angesprochen wurde, an. Ich möchte Sie auffolgendes hinweisen: Die Entschuldungsinitiative, diewir in Gang gesetzt haben und die wir verwirklichenwerden, wird – das habe ich vorhin gesagt – für die ärm-sten Entwicklungsländer 70 Milliarden US-Dollar mo-bilisieren.
Dies wird im Haushalt mit etwa 60 bis 80 Millionen DMjährlich zu Buche schlagen. Das werfen Sie uns vor! Ichfinde es gut, wenn man mit einem vergleichsweise ge-ringen Haushaltsumfang ein solches Maß an finanziellerEntlastung mobilisiert. Meine Güte, das habt ihr nochnie hinbekommen!
Der zweite Punkt. Es wird hier über Kürzungen dis-kutiert. Dazu will ich eines sagen: Es ist kein Geheim-nis, daß ich bis zum Schluß den Versuch gemacht habe,den Entwicklungshaushalt aus diesen Kürzungen he-rauszuhalten. Ich bin aber nicht bereit, diese Heucheleihinzunehmen. Wir konsolidieren den Haushalt, dasheißt, wir reduzieren und sparen überall. Sie dagegenhaben den Bundeshaushalt von 1991 bis 1998 um rund14 Prozent aufgestockt, und im gleichen Zeitraum habenSie die Mittel im Entwicklungshaushalt um rund5 Prozent reduziert. Das heißt, Sie haben den Entwick-lungshaushalt als Steinbruch benutzt.
Klaus-Jürgen Hedrich
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4940 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Wer eine solche Politik zu verantworten hat, dersollte hier schweigen und uns nicht kritisieren, wenn wirdie Konsequenzen Ihrer Politik ausbaden müssen.
Ich möchte noch folgendes zitieren:Der Maßstab bei der Beurteilung unserer Entwick-lungshilfe kann eben nicht nur beim Haushaltsvo-lumen selbst oder etwa bei der umstrittenen ODA-Quote angelegt werden. Mehr denn je muß dieQualität – das heißt für mich Effektivität und Effi-zienz – und vor allem auch die Nachhaltigkeit unse-rer Hilfe im Vordergrund stehen.Dieses Zitat vom 27. November 1996 stammt von Mi-chael von Schmude, der vorhin unsere Arbeit kritisierthat. Sie sollten öfter Ihre früheren Reden lesen. WennSie das täten, würden Sie einen Teil Ihrer Diskussions-beiträge anders gestalten.
An die Adresse des Kollegen Schüßler: Wenn Sieeinerseits sagen, es werde zu viel gekürzt, und anderer-seits fordern, das Auswärtige Amt solle das BMZschlucken, dann ist das ein großer Widerspruch. Ich sageIhnen: Wer in diesem Bereich Ministerien zusammen-legt, der reduziert die Mittel für die Entwicklungszu-sammenarbeit in drastischem Umfang. Entwicklungszu-sammenarbeit heißt, in die innergesellschaftlichen Ver-hältnisse unserer Partnerländer auch eingreifen zu kön-nen. Das ist angesichts der Globalisierung ein ganz mo-derner Ansatz. Für diesen werden wir uns immer enga-gieren und immer kämpfen.Ministerien zusammenzulegen bedeutet auch, Haus-halte drastisch zu reduzieren. Ich werde dafür kämpfen,daß der Entwicklungshaushalt, der Einzelplan 23, in Zu-kunft wieder aufgestockt wird und von Ihren unsinnigenVorschlägen verschont bleibt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Wiec-
zorek-Zeul, eine Kurzintervention darf sich nur auf
einen Debattenbeitrag beziehen. Sie haben genauso wie
andere Ministerinnen und Minister aus Ihrem Kabinett
den Fehler begangen, sich auf mehr als eine Rede zu be-
ziehen. Ich bitte, dies bei zukünftigen Kurzinterventio-
nen zu beachten, gerade dann, wenn sich Ministerinnen
und Minister als Abgeordnete zu Wort melden.
Zur Erwiderung erteile ich jetzt dem Kollegen He-
drich das Wort.
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Meine erste Feststellung: Der Haushalt des BMZ von
1998 – der Kollege von Schmude hat darauf hingewie-
sen – war im Vergleich zu denen der Vorjahre der
zweitgrößte in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland.
Meine zweite Feststellung betrifft die Entschuldung.
Ich habe vorhin vielleicht folgenden Punkt zu erwähnen
vergessen. Sie tun so, als habe die Entschuldung erst mit
Ihnen begonnen. Das ist natürlich schlicht und ergrei-
fend falsch. Korrekt ist: Bereits die Regierung Helmut
Schmidt hat mit dem Schuldenerlaß begonnen. Seitdem
sind die Schulden kontinuierlich über zwei Jahrzehnte
hinweg erlassen worden.
Ich möchte auch noch etwas zu dem eben von mir
angesprochenen Weltsozialgipfel anmerken. Dort ist
zum erstenmal von der Bundesregierung das Problem
angesprochen worden, daß es keinen Sinn macht, sich
nur auf eine bilaterale Entschuldung zu beschränken;
vielmehr ist eine multilaterale Entschuldung notwendig.
Darüber ist bereits seit 1995 intensiv in den internatio-
nalen Gremien diskutiert worden. Die HIPEC-Initiative,
die die Entschuldung der ärmsten Länder zum Ziel hat,
ist ja nicht auf Ihre Initiative, sondern auf die von Carl-
Dieter Spranger zurückzuführen.
Ich habe nur angemahnt, daß Sie auch diesmal nicht
erklärt haben, wie Sie die Finanzierung der angekün-
digten 60 Millionen bis 80 Millionen DM sicherstellen
wollen. Sie sind in Ihrem Etat nicht vorgesehen. Sie sind
genauso wenig belegt – das hat der Kollege von Schmu-
de schon angesprochen – wie die 50 Millionen DM – in
diesem Jahr sind es 35 Millionen DM –, die Sie für die
Schwankungen der Wechselkurse aufbringen müssen.
Sie haben bisher keine Auskunft darüber gegeben, aus
welchen Einzeletats diese Summe finanziert werden soll.
Möglicherweise kürzen Sie wieder die Mittel für die
bilaterale Hilfe, für die Unterstützung der Kirchen und
der Nichtregierungsorganisationen. Nur wenn Sie so
handeln, können Sie diese Verpflichtung erfüllen, die
Sie nicht sauber etatisiert haben. Das ist die Wahrheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnenund Kollegen, auch im Interesse der Zeit lasse ich keineweiteren Kurzinterventionen mehr zu. Im übrigenmöchte ich anmerken: Herr Kollege Schmude, Sie habensich gemeldet, nachdem es eine Kurzintervention derAbgeordneten Wieczorek-Zeul gab. Es ist problema-tisch, wenn wir anfangen, auf Kurzinterventionen zureagieren. Wir sollten dieses Mittel dort einsetzen, wo esvonnöten ist.
Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich desBundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung liegen mir nicht mehr vor.Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f auf.Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Aussprache: a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Zehnten Geset-zes zur Änderung des Außenwirtschaftsgeset-zes– Drucksache 14/1415 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft und Technologie b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zu-satzprotokoll vom 22. September 1998 zu dem
waffenstaaten der Europäischen Atomgemein-schaft, der Europäischen Atomgemeinschaftund der Internationalen Atomenergie-Organi-sation in Ausführung von Artikel III Absätze 1und 4 des Vertrages über die Nichtverbreitungvon Kernwaffen– Drucksachen 14/1416 –
eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgeset-zes zu dem Übereinkommen vom 5. April 1973zwischen den Nichtkernwaffenstaaten der Euro-päischen Atomgemeinschaft, der EuropäischenAtomgemeinschaft und der InternationalenAtomenergie-Organisation in Ausführung vonArtikel III Absätze 1 und 4 des Vertrages vom1. Juli 1968 über die Nichtverbreitung vonKernwaffen sowie zudem Zusatzprotokoll zu diesem Übereinkommenvom 22. September 1998
– Drucksache 14/1417 –
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Einführungsgesetzes zum Ge-richtsverfassungsgesetz– Drucksache 14/1418 –
ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderungdes Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsge-setzes– Drucksache 14/1517 –
ne Ostrowski, Dr. Christa Luft, Gerhard Jütte-mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder PDSÄnderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes – Ab-senkung der Privatisierungspflicht und Auf-hebung der Erlösabführung zum 1. Januar2000– Drucksache 14/1123 –
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4942 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Wir setzen jetzt die Haushaltsberatungen fort. Wirkommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeri-ums für Bildung und Forschung.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Einbrin-gung ihres Haushalts hat die Bundesministerin für Bil-dung und Forschung, Edelgard Bulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr ge-*) Anlage 3ehrte Kollegen und Kolleginnen! Die Bundesregierunghält an ihrem Versprechen fest.
Wir haben mit dem Jahre 1999 die längst überfälligeKurskorrektur vorgenommen und rund 1 Milliarde DMmehr für Bildung und Forschung zur Verfügung gestellt.
Wir setzen mit dem Haushaltsjahr 2000 diesen Kurs fort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben inDeutschland nicht von Rohstoffen, sondern von einerstarken Forschung und von sehr gut ausgebildeten, qua-lifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Des-halb haben wir mit diesem Haushalt den Kurs fortge-setzt.Der Haushalt für das Jahr 2000 wird im Bereich Bil-dung und Forschung insgesamt 14,59 Milliarden DMbetragen. Dazu kommt, daß der Darlehensanteil für dasBAföG im Jahre 2000 erstmals von der Deutschen Aus-gleichsbank bereitgestellt wird.
Für die Studierenden ändert sich überhaupt nichts. DieZinslasten werden vom Bund gestellt. Wir haben aberdadurch einen zusätzlichen finanziellen Spielraum inHöhe von zirka 550 Millionen DM gewonnen. Es stehenim Haushaltsjahr 2000 rund 210 Millionen DM mehr fürBildung und Forschung zur Verfügung.
Die Bundesregierung hat einen Haushalt für das Jahr2000 vorgelegt, der einen Sanierungskurs darstellt unddamit einen Weichenwechsel beinhaltet, damit wir auchnoch in fünf, sechs oder sieben Jahren die nötigen Mittelfür Bildung und Forschung bereitstellen können, damitwir auch noch in zehn Jahren das nötige Geld haben, umaktive Arbeitsmarktpolitik durchzuführen, und damit wirauch in Zukunft noch das Geld haben, um wichtigepolitische Ziele erreichen zu können.
Wir gehen dabei nicht nach der Rasenmähermethodevor, sondern setzen Schwerpunkte. Einer dieser Schwer-punkte ist der Bereich Bildung und Forschung. Daherhalten wir auch an dem Ziel fest, die Zukunftsinvestitio-nen für Bildung und Forschung zu verdoppeln. Es wirdetwas länger dauern, als wir ursprünglich geplant hatten.Entscheidend ist aber, daß wir diesen Kurs nicht wiederverlassen, sondern ihn fortsetzen werden. Die mittelfri-stige Finanzplanung, die wir im Bundeskabinett be-schlossen haben, zeigt, daß der von mir eben beschrie-Vizepräsidentin Petra Bläss
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4943
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bene Kurs Jahr für Jahr, Schritt für Schritt fortgesetztwird.
Wenn ausgerechnet die Kolleginnen und Kollegenvon der Opposition sagen, daß das nicht ausreiche, dannist das nicht mehr glaubwürdig, denn F.D.P. undCDU/CSU haben in ihren Regierungsjahren das Gegen-teil gemacht. Sie haben die Ausgaben für Bildung undForschung über Jahre hinweg gekürzt,
um 800 Millionen DM allein zwischen 1993 und 1998,und das trotz eines insgesamt steigenden Haushalts. Wirmachen es andersherum: Der Haushalt insgesamt sinkt,aber wir setzen trotzdem einen klaren Schwerpunkt aufBildung und Forschung.
Das, meine Damen und Herren, können Sie selbst nach-rechnen; es ist an den Zahlen deutlich erkennbar – ob-wohl ich heute morgen, als ich den Debatten zuhörte,gelernt habe, warum der Mathematikunterricht inDeutschland verbessert werden muß. Ich hoffe aber, Sievon der CDU/CSU werden das in der Debatte um mei-nen Haushalt nicht erneut deutlich machen.
Mit diesen Kürzungen in Bildung und Forschung ha-ben Sie damals an der falschen Stelle gespart, und Siehaben auch die falschen Zeichen gesetzt. In den letztenJahren fehlten deutliche Zeichen, und zwar auch an dieWirtschaft, Zukunftsinvestitionen zu erhöhen.Liebe Kollegen und Kolleginnen, Wissen hat eineimmer größere Bedeutung in unserer Gesellschaft. Im-mer mehr und immer spezialisierteres Wissen ist imDienstleistungssektor und auch in der Produktion ge-fragt. Viele Lebens- und Arbeitsbereiche der Menschenwerden sich dadurch sehr stark verändern. Darauf müs-sen die Menschen vorbereitet sein, und wir müssen dieMenschen darauf vorbereiten.Die Informations- und Kommunikationsbrancheist eine der zukunftsträchtigsten Branchen für Innovati-on und neue Arbeitsplätze. Trotzdem besteht inDeutschland die absurde Situation, daß es in dieserBranche einen dramatischen Mangel an Fachkräftengibt. Schätzungen gehen davon aus, daß allein deshalbzirka 75 000 bis 100 000 Arbeitsplätze nicht besetztwerden können.Diese für mich besorgniserregenden Zahlen zeigenganz deutlich, daß die alte Bundesregierung dieses Pro-blems verschlafen hat.
Sie hat viel zuwenig dafür getan, um das enorme Be-schäftigungspotential das wir gerade in diesem Bereichhaben, auszuschöpfen.Wir dagegen haben sehr schnell gehandelt. Wir habenmit zusätzlichen Mitteln für die Informations- undKommunikationstechnologien den Wandel zur Infor-mationsgesellschaft aktiv unterstützt. Wir haben ihnaktiv gestaltet, zum Beispiel mit neuen Programmen wiedem Programm, mit dem wir die neue Mobilfunkgene-ration in Deutschland entwickeln. Hier haben wir, auchweltweit, eine spezielle Stärke, die wir nutzen müssen,indem wir für den weiteren Ausbau von Wissenschafts-netzen sorgen.In der nächsten Woche werden wir das Aktionspro-gramm „Innovation für Arbeitsplätze in der Informati-onsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ vorstellen. Mitdiesem Aktionsprogramm werden wir zahlreiche Vor-schläge machen, wie wir die Chance, die wir in derBundesrepublik haben und die wir bisher nicht ausrei-chend genutzt haben, nutzen können, um neue Arbeits-plätze zu schaffen und damit den für unsere ganze Indu-strie wichtigen Bereich weiterzuentwickeln.Darüber hinaus haben wir im „Bündnis für Arbeit“einen Maßnahmenkatalog gegen den Fachkräftemangelin der informationstechnologischen Branche vereinbart,in dem wir ganz konkrete Schritte festgelegt haben, da-mit der „bottle neck“, den wir hier inzwischen haben,überwunden wird.
Dabei werden wir bei unseren Schülerinnen undSchülern anfangen; denn Lernen und Lehren am Com-puter muß bereits in der Schule eine Selbstverständlich-keit sein. Deshalb haben wir einen neuen Haushaltstitelgeschaffen, mit dem wir das Lernen am Netz und amComputer im nächsten Jahr mit 60 Millionen DM för-dern werden.In den neuen Ländern ist der Strukturwandel amdeutlichsten spürbar.
Wir werden hier die Rahmenbedingungen für Innovatio-nen deutlich verbessern und auch im Jahr 2000 mehr als3 Milliarden DM für Bildung und Forschung in den neu-en Bundesländern bereitstellen.Mit der Initiative „Inno-Regio“ geben wir dem Auf-bau Ost neue Impulse.
Gefördert wird die regionale Zusammenarbeit bei derEntwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen. Die-ses Programm ist im Mai gestartet worden. Wir haben essehr schnell nach der Regierungsübernahme konzipiert.Das war eine Forderung, die wir bereits in unseremWahlprogramm erhoben haben. Dieses Programm stößtauf eine riesige Resonanz. Wir haben inzwischen über440 Bewerbungen. Die Tatsache, daß sehr viele, zweiDrittel, dieser Anträge von Wirtschaftsunternehmenoder Technologie- und Gründerzentren gestellt werden,zeigt mir sehr klar, daß wir in den neuen Bundesländerninzwischen eine gute Forschungsinfrastruktur haben.Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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4944 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Wir werden mit diesem Programm, das im nächstenJahr mit 30 Millionen DM startet und das sukzessive auf500 Millionen DM aufgestockt werden wird, einenwichtigen Beitrag dazu leisten, daß sich in den neuenLändern eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklungvollzieht. Darum geht es; das ist das Ziel.
Wir setzen mit diesem Programm auf die Forschungs-und Innovationskraft, die in den neuen Ländern steckt,aber noch ein Stück Unterstützung braucht. Damit schaf-fen wir zukunftsfähige Arbeitsplätze.Wir setzen auf Chancengleichheit und soziale Ge-rechtigkeit. Zu Beginn unserer Arbeit haben wir auf demLehrstellenmarkt eine sehr schwierige Situation vorge-funden. Zwischen Angebot und Nachfrage klaffte einegroße Lücke. Die Ausbildungsplatzbilanz war im drittenJahr hintereinander nicht ausgeglichen, vor allem in denneuen Bundesländern. Die Jugendarbeitslosigkeit war inIhrer Regierungszeit, meine Herren und Damen vonCDU/CSU und F.D.P., so hoch wie nie zuvor.
Deshalb mußte dringend gehandelt werden.Die neue Bundesregierung hat sofort gehandelt. Wirhaben ein Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslo-sigkeit aufgelegt. Über 400 000 Menschen haben einkonkretes Angebot für eine Lehrstelle, eine Beschäfti-gung oder eine Trainingsmaßnahme erhalten.
Dies ist ein Erfolg des Programms. Wir haben damitMenschen erreicht, die vorher überhaupt nicht mehr er-reichbar waren. Ich finde es verantwortungslos, wennman das einfach abtut
oder so tut, als würde das nicht für Hunderttausende vonJugendlichen bedeuten, daß sie wieder Tritt fassen. DasGeld ist richtig eingesetzt, und deshalb lasse ich mirnicht daran herummäkeln. Mir sind 400 000 Jugendlichenicht egal, und ich hoffe, auch Ihnen nicht.
Wir haben außerdem eine gemeinsame Aktion vonBund und Ländern gestartet, indem wir ein Ausbil-dungsprogramm Ost aufgelegt und damit zusätz-lich 17 500 Lehrstellen in Ostdeutschland geschaffenhaben.Wir haben es geschafft, meine Damen und Herren,junge Menschen aus der Arbeitslosigkeit zu holen undihnen wieder Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen.Mit den Gewerkschaften und der Wirtschaft haben wirim „Bündnis für Arbeit“ einen Ausbildungskonsens er-reicht, so daß alle Jugendlichen in diesem Jahr ein Aus-bildungsplatzangebot erhalten. Im Rahmen dieses Kon-senses haben wir konkrete Schritte vereinbart: Die Wirt-schaft hat zugesagt, ihr Angebot an Ausbildungsplätzenauf eine Zahl zu erhöhen, die um über 10 000 Plätze hö-her liegt, als es der demographische Zuwachs verlangenwürde. In der Informationstechnik haben wir die Zahlder Ausbildungsplätze auf 40 000 erhöht und noch einweiteres Bündel an Maßnahmen vereinbart, um geradeden Jugendlichen mit schlechteren Startchancen dieMöglichkeit zu geben, eine Ausbildung zu erhalten.
Ich finde, daß es dem Parlament, uns und mir, gut an-steht, den Jugendlichen Mut zu machen und ihnen deut-lich zu sagen, daß sie nicht resignieren sollen. Es istauch notwendig, sie immer wieder darauf hinzuweisen,daß sie nicht resignieren und aufgeben sollen. In denkommenden Wochen werden alle Jugendlichen, dienoch keinen Ausbildungsplatz haben, noch einmal vonden Arbeitsämtern angesprochen oder angeschrieben.Wir versuchen, sie noch zu vermitteln.
Wir werden jetzt nicht aufhören, sondern die Vermitt-lungsbemühungen in den nächsten vier Wochen unterBeteiligung sowohl von Gewerkschaften wie auch derWirtschaft fortsetzen.
Das ist genau der richtige Weg. Wir haben es, HerrMayer, zum erstenmal geschafft, daß sich wirklich alleauf dieses Vorgehen verständigt haben. Bisher war dasnicht der Fall.
Mit der BAföG-Novellierung haben wir einen erstenSchritt getan, um soziale Ungerechtigkeiten bei derAusbildungsförderung zu beseitigen. Dabei ging es nichtum Peanuts oder Pizzas, wie manche Herren oder Da-men von der Opposition hier zynisch behauptet haben,sondern darum, die rapide Talfahrt bei der Zahl der BA-föG-Empfänger zu stoppen und zu verhindern, daß jedesJahr mehr Studierende völlig aus der Förderung heraus-fallen. Deshalb haben wir die Elternfreibeträge um6 Prozent erhöht.
Das sind keine Peanuts. Das führt vielmehr dazu, daßrund 23 000 Studierende zusätzlich Anspruch auf BA-föG haben werden.
Auf Grund der Erhöhung des BAföGs selbst und der Er-höhung des Kindergeldes, das ja auch für StudierendeBundesministerin Edelgard Bulmahn
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gezahlt wird, haben diese jetzt mindestens 70 DM mehrin der Tasche. Auch das sind keine Peanuts; ich finde esfahrlässig, wenn man so darüber redet.
Wir meinen es ernst mit der sozialen Gerechtigkeit.Dies bedeutet auch, daß es gleiche Chancen für Männerund Frauen in Bildung und Wissenschaft geben muß.Zur Durchsetzung der Chancengleichheit von Frauen inBildung und Forschung haben wir ein neues Programmaufgelegt. Wir setzen dieses Ziel um, und reden nichtnur darüber. Ich verhandle zur Zeit mit den Ländernüber die Fortsetzung der Frauenförderung, die bisherim Rahmen des HSP III durchgeführt wird. Hiermit er-richten wir nun ein zweites Bein gerade für die Förde-rung von Frauen an Hochschulen und von Nachwuchs-wissenschaftlerinnen. Die Umsetzung von Gleichstel-lung ist eines unserer großen gesellschaftlichen Reform-projekte. Die Debatte in der letzten Woche hat ja leiderdeutlich gemacht, daß dieses Thema sich noch nicht er-ledigt hat; wir sind zwar auf einem guten Weg, es mußaber noch eine ganze Menge getan werden.
Der Bericht zur technologischen Leistungsfähig-keit der Bundesrepublik Deutschland sagt klar, daßunsere Kompetenzen in neuen Technologiefeldern aus-gebaut werden müssen, wenn wir international wettbe-werbsfähig bleiben wollen. Das ist in der Vergangenheitbei weitem nicht ausreichend genug berücksichtigt wor-den. Deshalb lege ich einen besonderen Schwerpunktauf die Projektförderung; sie ist nämlich in manchenwichtigen Punkten der institutionellen Förderung über-legen: Sie ist flexibler, leistungsorientierter und ver-spricht damit auch mehr Qualität. Deshalb steigern wirdie Haushaltsmittel im Jahr 2000 in wichtigen Zukunfts-bereichen: in der Biotechnololgie einschließlich der Si-cherheitsforschung, für innovative Arbeitsgestaltung undDienstleistung, in der Gesundheitsforschung, in der In-formationstechnik und bei der umweltgerechten nach-haltigen Entwicklung.Nachhaltigkeit und Markterfolg widersprechen sichnämlich nicht, wie es einige immer noch behaupten,sondern das Gegenteil ist der Fall. Mit dieser Politikwollen wir erreichen, daß mehr neue Ideen in Innovatio-nen umgesetzt werden, Forschungsergebnisse in markt-fähige Produkte münden, innovative Produkte zu Exi-stenzgründungen führen und damit schließlich auchneue Arbeitsplätze geschaffen werden. Diese Zielset-zung verfolgen wir.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland darf inder Grundlagenforschung und bei Spitzentechnologieninternational nicht den Anschluß verlieren; das wäreverheerend. Deshalb werden die Mittel für die DeutscheForschungsgemeinschaft und für die Max-Planck-Gesellschaft trotz der schwierigen Situation, die wir ins-gesamt haben, überproportional steigen.
Wir werden die Mittel für den Hochschulbau auch indiesem Haushaltsjahr auf dem hohen Niveau von 2 Mil-liarden DM halten. Die alte Bundesregierung hat geradehier ständig gekürzt. Deshalb konnten wichtige Ausbau-und Sanierungsvorhaben jahrelang nicht umgesetzt wer-den. Das hat seit diesem Jahr ein Ende. Deutschlandbraucht nämlich moderne und gut ausgestattete Hoch-schulen, weil unsere jungen Leute gut ausgebildet wer-den sollen.
Ein weiteres mir wichtiges Anliegen ist neben derStärkung des wissenschaftlichen Nachwuchses, der indiesem Haushalt eine ganz klare Priorität hat, die Stär-kung der Internationalität. Deshalb verstärken wir dieMittel für den internationalen Austausch, in der berufli-chen Bildung, bei den Studierenden, im Studierenden-und Wissenschaftleraustausch, bei der Entwicklung in-ternationaler Studiengänge erheblich. Wir wollen inter-national wieder eine Spitzenstellung einnehmen. DieserHaushalt zeigt, daß wir es ernst damit meinen.Meine Herren und Damen, Bildung und Forschungsind das Zukunftsprogramm für Deutschland. Ich hoffeauf Ihre Unterstützung für dieses Zukunftsprogramm.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege Steffen Kampe-
ter.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch vor we-nigen Monaten stand diese Bildungs- und Forschungs-ministerin nicht an diesem Pult, aber an anderen Pultenund vor Fernsehkameras und hat behauptet, daß der Be-reich Bildung und Forschung ein besonderes Herzens-anliegen der Regierungskoalition sei.
Heute, wenige Monate nach der letzten Etatberatung,müssen wir alle ernüchtert feststellen: Kaum ein Politik-bereich hat in den vergangenen Monaten unter der Re-gierung Schröder so viel an Bedeutung verloren wie dervon Ihnen, Frau Minister Bulmahn, verantwortete.
Wenn man Ihre heute eher lustlos vorgetragene Redebeispielsweise mit den Debattenbeiträgen des Bundes-verteidigungsministers vergleicht, so drängt sich eigent-lich allen öffentlichen Beobachtern der wohl zutreffendeEindruck auf, daß der Bundesverteidigungsminister inBundesministerin Edelgard Bulmahn
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4946 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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dieser Regierung stärker um den Erhalt seiner Haus-haltsmittel kämpft als die angebliche Zukunftsmi-nisterin.
Dies verwundert insbesondere, da Sie, sich selbstzum linken Flügel Ihrer Partei zählend, eher stets „Bil-dung statt Raketen“ gefordert haben. Jetzt aber, da es umdie Durchsetzung praktischer Politik geht, sind Siegleichsam zur Erfüllungsgehilfin von Hans Eichels Auf-räumarbeiten in Sachen Oskar Lafontaine geworden.Rudolf Scharping kämpft für seine Soldaten mit mehrKraft und Engagement als Edelgard Bulmahn für dieForscher, Tüftler und die Hochschulen in dieser Repu-blik. Was für ein beschämender Befund!
In ihrer letzten Etatrede hat die Bundesforschungsmi-nisterin angeführt, daß der Bundeshaushalt in der Bil-dungs- und Forschungspolitik einen Wendepunkt mar-kiert. Wie recht Sie damit haben: Der politische AbstiegIhres Ressorts wird auch mit dem ersten Etat des neuenJahrtausends festgeschrieben.Ich stelle für die CDU/CSU Bundestagsfraktion fest:Ihr Etat für Bildung und Forschung sinkt. Er sinkt imVergleich zum Vorjahr. Er sinkt im Rahmen der bisheri-gen mittelfristigen Finanzplanung. Er sinkt vor allem imVergleich zu den politischen, forschungspolitischen so-wie wirtschaftlichen Notwendigkeiten unseres Landes.
Ihnen, Frau Ministerin steht für Bildung und Forschungheute ungefähr 1 Milliarde DM weniger zur Verfügungals noch vor fünf Jahren. Sie sind die Bildungs- und For-schungsministerin mit dem sinkenden Etat.Eher irreführend und Nebelkerzen werfend mutet IhreAufzählung von Programmen und Progrämmchen an,mit denen Sie in einer gesundbeterischen Art und Weiseversuchen, Ihr politisches Versagen zu kaschieren.
Wenn Sie beispielsweise anführen, daß Sie für die In-ternationalisierung gekämpft haben und hierfür zu-sätzlich Mittel bereitstellen, dann frage ich mich, warumbeim Deutschen Akademischen Austauschdienst, fürden die Mittel stark gestrichen worden sind, die Lekto-ren für das halbe Geld arbeiten müssen, wo nach IhrenAussagen doch Milch und Honig fließen müßten. Ichglaube, diejenigen, die Sie hier beglücken, müssen ehernach dem Geld forschen, als daß sie wissenschaftlicheErkenntnisse nach vorne tragen. Auch dies ist ein höchstbedauerlicher Befund.
Dies wird sich auch in den nächsten Jahren nicht än-dern. Denn nach den Angaben Ihres Finanzministerssinkt der Anteil der Ausgaben für Bildung, Wissenschaftund Kultur am Ende des Finanzplanungszeitraums 2003auf einen Anteil von 3,9 Prozent der Bundesausgaben.Einen Anteil von 3,9 Prozent gab es zuletzt im Jahre1970. Sie haben im Bundeskabinett einem Entwurf zu-gestimmt und ihn abgenickt, in dem der von Ihnen mit-verantwortete Bereich auf das Niveau von vor 29 Jahrenzurückgeführt wird. Dies ist vor dem Hintergrund IhrerAnkündigung dürftig; ich muß sagen: äußerst dürftig.
Frau Ministerin Bulmahn, ich erinnere Sie an IhrWahlkampfversprechen, daß Sie innerhalb von fünf Jah-ren die Investitionen in Bildung und Forschung ver-doppeln wollten. Bereits in den Etatberatungen 1999 istvon mir darauf hingewiesen worden, daß überhauptnicht erkennbar ist, wo Sie die entsprechenden Wei-chenstellungen hierfür treffen.Mit der Vorlage des Etats für das Jahr 2000 hat sichdies leider nicht geändert. Ausweislich der Zahlen IhresFinanzberichts, dem Sie im Kabinett zugestimmt haben,sinken die Investitionen in Ihrem Etat. Nach Angabenvon Herrn Eichel werden die Investitionen für Bildungund Forschung inklusive der BAföG-Darlehen und derGemeinschaftsaufgabe zum Hochschulbau im Jahre1999 um 490 Millionen DM höher sein als im Jahre2003.Damit sind Sie die Ministerin, die entgegen der An-kündigung, die Investitionen in Bildung und Forschungzu verdoppeln, nunmehr die politische Verantwortungdafür trägt, daß die Investitionen in diesem Bereich inden nächsten Jahren nachhaltig sinken werden.
Etwas amüsiert hat mich Ihre Ankündigung einesProgramms, in dem das Erlernen des Umgangs mit demComputer besonders gefördert werden soll. In der„Wirtschaftswoche“ aus der vergangenen Woche wurdeein Überblick über den Einsatz von Computern inden verschiedenen Ministerien gegeben. Ich habe denEindruck – denn Ihr Ministerium wurde als beson-ders rückständig respektive abwartend beschrieben –,daß Sie insbesondere Ihren Mitarbeitern in Ihrem Mi-nisterium die Teilnahme an diesem Programm nahele-gen sollten.
Denn es wird festgestellt, daß Sie, was den Technologie-und Computereinsatz betrifft, zu den rückständigerenTeilen dieser Bundesregierung zählen. Beispielgebendsind Sie zweifelsohne nicht.
Daß dieser Ministerin an allen Ecken und Enden dasGeld ausgeht und sie nicht im Mindestmaß die politischeDurchsetzungskraft hat, entsprechende Finanzmittelbeim Bundesfinanzminister für den Zukunftsbereichherauszuholen, zeigt die leidige Geschichte der von Ih-nen verschleppten BAföG-Reform. Wir diskutierenSteffen Kampeter
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4947
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schon seit einigen Jahren über dieses Thema. Erinnernwir uns doch einmal an die letzte Legislaturperiode, inder Sie als bildungs- und forschungspolitische Spreche-rin der SPD diese BAföG-Reform wiederholt angemahntund angekündigt haben, daß Sie im Falle eines Regie-rungswechsels unmittelbar, rasch und schnell handelnwürden.Nunmehr, ein Jahr nachdem Sie als die neue Bundes-regierung die politische Verantwortung, vor Kraft kaumgehend, übernommen haben, stelle ich fest, daß nochnicht einmal die Konturen einer BAföG-Reform vorlie-gen, geschweige denn ein Referenten- bzw. Gesetzent-wurf vorliegt.
Es gibt noch nicht einmal eine gemeinsame Positionzwischen Ihnen und dem bildungs- und forschungspoli-tischen Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen,Herrn Berninger. Nach Ihrer Absage, BAföG für alle zugewähren, und dem vom Bundesrat vorgeschlagenenBAföG-Reformmodell schwimmen Ihnen die Felle weg.Diese verschiedenen BAföG-Ansätze haben aller-dings eines gemeinsam: Es wird für die Studentinnenund Studenten nicht viel Zusätzliches dabei heraus-kommen. Ich stelle fest, daß Sie die Bundesbildungsmi-nisterin sind, an der das Studentenwerk kritisiert, daßSie die Verantwortung dafür tragen, daß die BAföG-Ausgaben auf das Niveau von 1978 abgesunken sind.Wo ist denn Ihr entschlossenes Handeln in Sachen BA-föG?
Auch hier wandern Sie zurück in die 70er Jahre, machennichts als leere Versprechungen und hohle Ankündigun-gen, denen keine Taten folgen.
Ich muß Ihnen sagen, daß ich etwas enttäuscht überden Umstand war, wie Sie das Thema Lehrstellen an-gegangen sind, nämlich so, als ob die Opposition nichtdaran interessiert wäre, daß alle ausbildungsfähigen undausbildungswilligen Menschen in diesem Land einenAusbildungsplatz bekommen.
Noch vor einigen Tagen haben Sie das Versprechen„Ausbilden werden wir alle“ mit Ihrer Unterschrift ver-sehen. Dies ist nochmals ein Ausbildungsversprechenauf der Ebene der Bundespolitik. Heute war in den Zei-tungen zu lesen, daß der DGB angesichts 80 000 nichtmit Lehrstellen versorgter Jugendlicher zusätzlicheMaßnahmen für Lehrstellenbewerber fordert. Ganz soerfolgreich und rosig, wie Sie die Aktivitäten der Bun-desregierung dargestellt haben, kann die Situation dannwohl nicht sein.Sie haben wohlweislich nicht von Ausbildungsplät-zen, sondern von Angeboten, die Sie unterbreitet haben,gesprochen. Heute in der Generaldebatte hat auch derBundeskanzler mit der Zahl operiert: 170 000 Menschenhätten von dem Programm profitiert.
Der Präsident der Handwerkskammer Aachen, Phil-ipp, hat festgestellt, daß lediglich 10 000 Teilnehmernein reeller Arbeitsplatz oder Ausbildungsplatz vermitteltworden ist. 2 Milliarden DM für gerade einmal 10 000neue Arbeitsplätze respektive Ausbildungsplätze, dasmacht 200 000 DM für die Vermittlung eines einzigenJugendlichen.
Bei aller Einheit im Ziel muß man es doch als eine gi-gantische Geldverschwendungsmaschine empfinden,wenn die Erfolgsbilanz so vernichtend schlecht ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kam-
peter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Niebel?
Gerne.
Herr Kollege Kampeter, Sie
haben gerade das Jugendarbeitslosenprogramm der
Bundesregierung angesprochen. Ist Ihnen bekannt, daß
ich der Staatssekretärin Niehuis Einzelfälle nachgewie-
sen habe, in denen jugendliche Aussiedler und Asylbe-
rechtigte, die sich in vom Bund finanzierten Sprachkur-
sen befanden, um hier integriert zu werden, unter An-
drohung des Wegfalles der Leistungen zum Lebensun-
terhalt in kurzfristige Betriebspraktika gezwungen wur-
den, weil das Jugendarbeitslosenprogramm bei den So-
zialämtern als gegenüber der Sozialhilfe vorrangig gese-
hen wurde?
Ihr Schriftwechselmit der Staatssekretärin ist mir natürlich nicht bekannt;tut mir leid, Herr Kollege. Aber ich habe aus meinemeigenen Wahlkreis Fälle mitgeteilt bekommen, in denentatsächlich Menschen aus laufenden Maßnahmen oderaus Schulklassen heraus intensiv in dieses neu aufge-legte Programm eingeladen worden sind.Frau Bulmahn, das einzig Gute an diesem Programmist, daß es nicht aus Ihrem Etat finanziert worden ist.Aber fachlich scheint es mir höchst zweifelhaft zu sein,weil viele aus bereits laufenden Maßnahmen in diesesProgramm umgeleitet worden sind, damit Sie eine Er-folgsbilanz vorlegen können, ohne daß sich dieses Pro-gramm für die Menschen dauerhaft und nachhaltig aus-zahlt. Das ist meine Hauptkritik an der Ausführung die-ser Maßnahme.
Steffen Kampeter
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4948 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, es gibt
eine weitere Zwischenfrage. Gestatten Sie die?
Aber selbstver-
ständlich.
Herr Kollege
Kampeter, Sie beziehen sich bei der Kritik an dem So-
fortprogramm auf eine Stellungnahme des Präsidenten
des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, der
vorgestern mit einigen Zahlen die Kritik an diesem Pro-
gramm untermauert hat. Ihnen ist doch sicherlich auch
bekannt, daß die Bundesanstalt für Arbeit gestern in ei-
ner Stellungnahme davor gewarnt hat, zum jetzigen
Zeitpunkt negativ und polemisch über die Auswirkun-
gen dieses Programms zu sprechen, angesichts der Tat-
sache, daß bis jetzt keine konkreten Zahlen und keine
konkreten Begleituntersuchungen über die Auswirkun-
gen dieses Programms vorliegen.
Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, daß die Zahlen, die
der Präsident des Zentralverbandes verwendet hat, von
der Bundesanstalt als aus dem Zusammenhang gegrif-
fen, falsch und methodisch äußerst zweifelhaft bezeich-
net wurden?
Herr Kollege, es istmir bekannt, daß die Bundesanstalt für Arbeit – daskann ich selbstverständlich verstehen – versucht, dasvon ihr organisierte Programm in ein gutes Licht zu rük-ken. Dagegen ist auch nichts einzuwenden.
Aber die Erfahrungen, die der Zentralverbandspräsidentschildert, decken sich mit Erfahrungen beispielsweiseaus dem Kammerbezirk Koblenz. Daß dort genau diegleichen Befunde dargestellt werden, deutet darauf hin,daß Kollege Philipp – –
– Daß Dieter Philipp ein ausgesprochen engagierterChristdemokrat ist, ist doch eine sehr lobenswerte Sa-che. Dessen brauche ich mich nicht zu schämen. Wirsind stolz, in den Reihen der christlichen Demokratie inDeutschland einen so engagierten Handwerksmeister zuhaben, der auch Verbandsaufgaben wahrnimmt.
Präsident Philipp gibt hier also Befunde wieder, diein weiten Teilen der Kammerorganisation vorhandensind und die sich auch mit meinen Erfahrungen aus mei-nem Wahlkreis decken. Ich nehme zwar zur Kenntnis,daß die Bundesanstalt für Arbeit ihr Programm vertei-digt. Ich sehe aber keinen Grund, daran zu zweifeln, daßin der Konzeption und in der Durchführung einiges ver-besserungswürdig ist, obschon Sie und ich wahrschein-lich gleichsam der Auffassung sind, daß das Ziel desProgramms, jedem ausbildungsfähigen und ausbil-dungswilligen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zuverschaffen, zumindest anzubieten, von weiten Teilendes Hauses geteilt wird und keinerlei Anlaß zu partei-politischer Profilierung auf seiten der Regierung oderder Opposition geben sollte.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird nicht weiter tatenlos dem Ab-gesang auf Bildung und Forschung durch diese Bundes-regierung zuhören.
Daher gehört der Etat des Einzelplans 30 bei diesenHaushaltsberatungen zu denjenigen Etats, bei denen wirentgegen der Generallinie zusätzliche Investitionen un-terstützen. Wir glauben, Frau Bulmahn, daß Sie mit ei-nem Ausgabenvolumen von unter 15 Milliarden DMnicht in der Lage sind, Ihren Beitrag für mehr Wachstumund Beschäftigung zu leisten. Daher wollen wir in denEtatberatungen Vorschläge unterbreiten, die es Ihnenermöglichen werden, in einem Volumen von zirka500 Millionen DM zusätzliche Investitionen in Bildungund Forschung zu tätigen.Wir werden durch unsere Anträge versuchen, insbe-sondere den Investitionsanteil zu steigern. Ein Anliegendabei ist die Auflösung der globalen Minderausgabe, dieals ungedeckter Scheck des Finanzministers in Höhe von200 Millionen DM auf Ihnen lastet.Ebenso muß darüber nachgedacht werden, die Inve-stitionen zur Stärkung des nationalen Weltraumpro-gramms zu steigern. Ich erinnere Sie daran, daß Sie denVertretern der beteiligten Wirtschaft so etwas wie eineVertrauenszusage gegeben haben, daß das nationaleWeltraumprogramm um einen Anteil von 10 Prozent er-höht wird. Sie haben bei den durchaus respektabel ge-führten Verhandlungen bei der letzten Ministerratskon-ferenz über die Weltraumforschung einige Programmeauf Eis gelegt, die man im Rahmen dieser Umstrukturie-rung und zusätzlichen Bildungs- und Forschungsoffen-sive, die die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützenwird, noch einmal überprüfen sollte.Schließlich sind wir der Auffassung, daß die Mittelfür den Hochschulbau eine gute Möglichkeit sind, demvon uns nachhaltig unterstützten Ziel, den Investitions-anteil als Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigungzu steigern, näher zu kommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist schonetwas beschämend, daß die Opposition der Bildungs-und Forschungsministerin beispringen muß,
damit Sie den Aufgaben, die sie selbst formuliert hat,auch tatsächlich Folge leisten kann. Wir werden unsaber auch guten Vorschlägen in anderen Bereichen nichtverschließen;
denn wir sind der festen Auffassung, daß es uns, wennes uns nicht gelingt, in diesem wichtigen staatlichen Be-reich von Bildung und Forschung die richtigen Akzente
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zu setzen, auch nicht gelingen wird, für die Zukunft derjungen Menschen – das ist doch unser Anliegen – dieSignale zu setzen, die unser Land in das nächste Jahrtau-send leiten. In diesem Sinne werden wir die Haushalts-beratungen führen.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Matthias Berninger, Bündnis 90/DIE GRÜ-
NEN.
Lieber Kollege Kampeter, bei aller Wertschätzung: Wir
sitzen morgen früh in der Berichterstatterrunde zusam-
men und reden über die Zahlen, wenn sie schwarz auf
weiß vorliegen. Ich habe mir ein paar Stichworte mitge-
schrieben, die Sie in der Debatte von sich gegeben ha-
ben. Das können Sie zwar machen, dann bekommen Sie
auch Applaus von Ihrer eigenen Fraktion, aber Sie stel-
len die Realität auf den Kopf.
Ich fange mit der Halbwahrheit Nummer eins an.
Wenn Sie den Etat von Frau Bulmahn mit dem Ihres
Vorgängers vergleichen und dabei zu sagen vergessen,
daß ein beträchtlicher Teil, nämlich der Technologiebe-
reich, vom Bildungsministerium zum Wirtschaftsmini-
ster verlagert wurde, dann vergleichen Sie Äpfel mit
Birnen und disqualifizieren sich aus meiner Sicht als
Haushälter.
Denn das ist die Form von Nebelkerzenwerferei – oder
besser: Niebelkerzenwerferei –, von der ich persönlich
relativ wenig halte. Sie wissen, ich bin jemand, der ver-
sucht, sehr sachlich an diese Fragen heranzugehen.
Bei diesem Punkt muß ich Ihnen einfach sagen: Es fällt
mir schwer, mich auf eine nüchterne Art und Weise mit
den Zahlen auseinanderzusetzen, mit denen Sie jongliert
haben.
Zur Sache selbst: Der jetzige Bundesfinanzminister –
lieber Kollege Kampeter, ich kenne keinen CDU-
Bundesfinanzminister, der das gemacht hat – hat bei der
Einbringung des Haushalts erneut gesagt, daß es das Ziel
der Bundesregierung sei, die Investitionen im Bildungs-
bereich in den nächsten fünf Jahren zu verdoppeln.
Ein Grund, warum Frau Bulmahn dafür nicht, wie
Herr Scharping, kämpfen muß, ist, daß sich diese Koali-
tion darüber einig ist, daß trotz des allgemeinen Konso-
lidierungsziels Akzente im Bildungs- und Forschungsbe-
reich gesetzt werden sollen. Dies ist schon ein Erfolg der
Ministerin, ohne daß sie dafür kämpfen muß.
– Ich gehe davon aus, daß der Kollege eine Zwischen-
frage stellen möchte; selbstverständlich.
Herr
Kampeter zu einer Zwischenfrage, bitte schön.
Herr Kollege Ber-ninger, sind Sie vor dem Hintergrund der von Ihnenwiederholten Behauptung, daß der Investitionsanteil desBereiches Bildung und Forschung gesteigert würde, be-reit, zur Kenntnis zu nehmen, daß nach den Zahlen aufSeite 54 des von Herrn Eichel selbst vorgelegtenFinanzplans des Bundes 1999 bis 2003 – daran kann ichnichts fälschen – die Investitionsausgaben des Bundesfür den Bereich Forschung und Bildung sowie für denHochschulbau von 1998 bis 2003 zusammengenommensinken? Das sind die Ziffern 6 und 10 der hier aufge-führten Tabelle. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-men, daß die Investitionsausgaben sinken? Wir bekom-men keine anderen Zahlen. Ich muß mich auf das verlas-sen, was mir Herr Eichel sagt. Danach stelle ich fest, daßdie Investitionsausgaben für den Bereich Bildung undForschung bis zum Ende dieses Finanzplanungszeitrau-mes um 490 Millionen DM sinken. Sind Sie bereit, daszur Kenntnis zu nehmen?
ist wieder nur die halbe Wahrheit. Sie erwähnen nicht,daß die Bundesregierung das Einsparziel erreichenmöchte und gleichzeitig Jahr für Jahr – nachdem dasEinsparziel erreicht ist – die Investitionsausgaben fürden Bereich Bildung und Forschung um zusätzlich1 Milliarde DM erhöht.
Das ist in der Zahlenkolonne nicht enthalten.
Das entspricht genau der Schwerpunktsetzung dieserBundesregierung. Das ist der Unterschied zur altenBundesregierung. Unter ihr mußte die Bildungspolitiküberproportional bluten. Bei der neuen Bundesregierungist es anders. Dies ist gar nicht einmal unumstritten. Esgibt Politiker in den Reihen der Koalition, die sagen:Warum bevorteilt ihr den Bildungsbereich gegenüberallen anderen Bereichen?
Ich freue mich darüber, daß die Zukunftsausgabenvom Bundesfinanzminister aufgeteilt werden zwischenSteffen Kampeter
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4950 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Forschungsinvestitionen im Bereich des Wirtschaftsmi-nisteriums und dem Bildungsetat von Frau Bulmahn.Vor diesem Hintergrund bin ich, Herr Kollege Kampe-ter, sehr zuversichtlich, daß wir nach vier Jahren einenBildungsetat haben werden, der deutlich machen wird,daß diese Regierung versucht hat, den Haushalt insGleichgewicht zu bringen und gleichzeitig die neuenAkzente zu setzen. – Im übrigen darfst du dich auchwieder setzen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was mich ärgert, istdie Art und Weise, in der die Opposition in bezug aufdas Lehrstellenangebot agiert. Es gibt eine ganz einfacheFeststellung der Bundesanstalt für Arbeit. Diese hat dieJugendarbeitslosigkeit im August 1998 mit der imAugust 1999 verglichen. Dabei stellen wir fest, daß dieJugendarbeitslosigkeit um 7 Prozent reduziert wordenist.
Sie sollten sagen: Das ist ein Erfolg dieser Regierung,statt sich hier hinzustellen und die Maßnahmen derBundesregierung pauschal zu diskreditieren.
Herr Kollege Kampeter, ich komme nun zu dem vonder Bundesanstalt für Arbeit finanzierten Programm alsStarthilfe für die absoluten Verlierer am Arbeitsmarkt,also für die jungen Leute, die auf Grund einer schlechtenSchulausbildung keine Chance haben, in den Arbeits-markt hineinzuwachsen. Das ist die Gruppe, die der alteBundeskanzler Helmut Kohl permanent vergessen hat
und zu der diese Regierung gesagt hat: Das erste, waswir tun wollen, ist, für diese jungen Leute etwas durchein Sofortprogramm zu tun.Dieses Sofortprogramm wird fortgesetzt, obwohlwir einsparen, weil wir sagen: Das sind die Verlierer aufdem Arbeitsmarkt. Für diese müssen wir etwas tun. De-nen müssen wir eine Chance bieten. Diese Form vonChancengerechtigkeit in der Art und Weise, wie Sie esgetan haben, oder – was ich noch gravierender finde – inder Art und Weise, wie es Herr Schäuble meistens tut,zu diskreditieren, halte ich für eines der gefährlichstenDinge,
weil Sie keine Alternative benennen, wie diesen jungenLeuten eine Chance gegeben werden soll.
Jetzt höre ich von der Opposition: Das beste, wasman machen muß, ist, Lehrstellen zu schaffen.
Haben Sie jetzt endlich dazugelernt? 16 Jahre lang ha-ben wir hier Jahr für Jahr darüber diskutiert, wie manLehrstellen schaffen könnte. Jahr für Jahr haben Sie da-bei eine Pleite nach der anderen erlebt.
Erzählen sie uns doch bitte nicht, daß das die beste Poli-tik für junge Leute ist. Dazu brauchen wir von Ihnen nunwirklich keine Belehrung. Das ist das, was wir im„Bündnis für Arbeit“ gemeinsam mit den Unternehmenversuchen werden. Wenn es denn gelingt, das auf frei-williger Basis hinzubekommen, in einer Übereinkunftzwischen Bundesregierung, Gewerkschaften und Ar-beitgebern, dann ist das ein Erfolg. Ich warte ab, ob das„Bündnis für Arbeit“ diesen Erfolg bringt.Eines kann ich Ihnen sicher sagen, Frau KolleginPieper: Von Ihnen brauchen wir da keine Belehrung.Wir alle in diesem Haus wissen, daß Lehrstellen für jun-ge Leute ganz zentral sind.
Ein großes Thema ist die BAföG-Strukturreform.Das ist schon angesprochen worden: Wir als Koalitionsind noch immer nicht so weit, Ihnen hier präsentierenzu können, wie die BAföG-Strukturreform aussehensoll. Das hat den Grund, daß wir im Bildungsbereich ge-sagt haben: Sorgfalt geht vor Schnelligkeit. Wir wolleneine Strukturreform – nachzulesen in der Koalitionsver-einbarung –, die zwischen Bund und Ländern mehrheits-fähig ist, die die Chancengerechtigkeit wiederherstelltund das Recht auf Bildung verwirklicht.Diese BAföG-Strukturreform will sorgfältig erarbei-tet sein. Denn wenn wir einen Vorschlag präsentieren,der am Ende scheitert, erreichen wir für die Studieren-den in Deutschland überhaupt nichts. Ich halte es fürvernünftig, daß wir hier mit Sorgfalt herangehen. Ichhalte es aber auch für wichtig, daß wir das Ziel, das wirin der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben, nämlichhier einen Akzent zu setzen, am Ende des Jahres errei-chen.Ich kann Ihnen ganz offen sagen: Ich bin sehr optimi-stisch, daß wir eine BAföG-Strukturreform hinbekom-men, daß sich die Koalition hier einigt. Ich will Ihnenauch sagen, warum: Es ist eines der zentralen Ziele die-ser Koalition, daß nicht der Geldbeutel der Eltern dar-über entscheidet, ob die Söhne und Töchter an die Unigehen können oder nicht.
Weil wir uns darüber absolut einig sind, werden wir beider BAföG-Strukturreform einen Erfolg erzielen.Dazu ist es nötig, daß wir in den nächsten Jahren vonden zusätzlichen Mitteln, die wir vom Bundesfinanzmi-nister für Zukunftsinvestitionen bekommen, einen be-trächtlichen Teil in die BAföG-Strukturreform stecken.Ich werde mich dafür einsetzen. Ich glaube, daß dieseBAföG-Strukturreform nötig ist. Ohne sie könnten wirbei der Bildungsreform nur halbe Sachen machen. Ichbin sehr optimistisch, daß Kollege Hilsberg, MinisterinMatthias Berninger
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Bulmahn und ich Ihnen einen Vorschlag präsentierenwerden, der sich sehen lassen kann.Sie tragen auf Grund der Wahlerfolge, die Sie bei denLandtagswahlen erzielt haben, eine große Verantwor-tung. Sie müssen von seiten der Länder ebenfalls bereitsein, in diesen Bereich zu investieren. Ich bin gespannt,ob dies passiert. Meine Erfahrung in der BAföG-Debatteist: Das wichtigste Ziel der Länderfinanzminister ist, denAnteil der BAföG-Empfänger an der Gesamtzahl derStudierenden zurückzuschrauben und mit den einge-sparten Mitteln etwas anderes zu finanzieren. Sie tragenda Mitverantwortung. Das ist ein zentraler Punkt. Des-halb erwarte ich von Ihnen Vorschläge, anstatt sichwohlfeil zurückzulehnen und so zu tun, als gäbe es dagar keine Probleme, als sei es selbstverständlich, daß dieLänder bei der BAföG-Strukturreform ihre Hausaufga-ben machen.
– Der Kollege möchte mir noch eine Zwischenfragestellen. Dazu müßtest du dann aber aufstehen.Diese Verantwortung müssen Sie ernst nehmen. Ichbin sehr gespannt, ob Sie das tun.Was mich beim Kollegen Kampeter auch stört: Wenner einmal ein Lob für die Bundesregierung übrig hat,dann murmelt er das in seinen Bart. Stichwort Raum-fahrtpolitik: Der Berichterstatter Kampeter, der beiHerrn Rüttgers ständig auf Granit gebissen hat, der vordiesem Hohen Hause ständig die Mißerfolge der altenBundesregierung bei den ESA-Verhandlungen vertretenmußte, lobt ganz klamm und heimlich, daß sich Ministe-rin Bulmahn in der Weltraumpolitik tatsächlich enga-giert hat. Ich finde, das muß man deutlicher sagen.
Man muß deutlicher sagen, daß wir im Gegensatz zuralten Bundesregierung Spielräume geschaffen haben.Nachdem Sie den Fehler gemacht haben, in die be-mannte Raumfahrt auf diese Art und Weise einzustei-gen, hat die Ministerin Spielräume geschaffen, so daß esmöglich ist, im Bereich der Erdbeobachtung, im Bereichder Klimaforschung Fortschritte zu machen.Sagen Sie es demnächst deutlicher, damit Ihre Kolle-gen verstehen, worin der Unterschied zwischen FrauBulmahn und ihren Vorgängern liegt! Ich finde, ange-sichts der Erfolge der Ministerin war das ein bißchen zuleise.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das wird noch einsehr harter Weg. Denn auch die Bildungspolitiker sindder Meinung – die Ministerin sagte es –, daß der Haus-halt ins Gleichgewicht gebracht werden muß. Wenn wirimmer mehr Geld für Zins und Tilgung ausgeben, fehlenuns die Spielräume im Bildungsbereich.Ich bin sehr optimistisch, daß dieser Kurs der Bun-desregierung Erfolg haben wird, daß wir den Haushalt inder mittelfristigen Perspektive wieder ins Gleichgewichtbekommen. Ich glaube auch, daß der Finanzminister zuseinem Wort steht und im Bildungsbereich besondereAkzente setzt. Wir werden nach vier Jahren Bilanz zie-hen, und Sie werden sehen, Herr Kollege Kampeter, daßdiese Bundesregierung erstens eine solide Haushalts-politik gemacht hat und zweitens die Zukunftsinvestitio-nen deutlich erhöht hat. Das ist das, was wir unserenWählerinnen und Wählern versprochen haben. Ich bingewillt, dieses Versprechen auch zu halten.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Cornelia Pieper von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Liebe Kolleginnen! LiebeKollegen! Liebe Frau Ministerin Bulmahn, in der Vor-bereitung auf die Debatte zu Ihrem Haushalt habe ichmir überlegt, warum wir dieses Thema wohl zu nächtli-cher Stunde gegen 21 Uhr beraten, obwohl es für dieseBundesregierung doch Priorität hat!
Als ich in den Haushalt geschaut habe, habe ich festge-stellt: Der uns vorliegende Haushaltsentwurf für das Jahr2000 ist der Abschied dieser Bundesregierung von ihrengroßen bildungspolitischen Zielstellungen und setztkaum noch Akzente für Innovationen zu Beginn desneuen Jahrtausends.
– Ich komme gleich zu den konkreten Zahlen, HerrKollege.Von einer Verdoppelung der Forschungs- und Bil-dungsinvestitionen, wie sie vor der Wahl noch von SPD-Parteichef Schröder und der damaligen bildungspoliti-schen Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Bul-mahn, angekündigt wurden, ist heute nicht mehr die Re-de. Auch die von der jetzigen BundesbildungsministerinBulmahn abgeschwächte Zielstellung, die von einerdurchschnittlichen Steigerung des Haushalts von rund 1Milliarde DM pro Jahr für Bildungs- und Forschungs-förderung ausging, ist in Ihrem Haushalt nicht mehr ge-lungen. Das waren alles Versprechen, die in diesem Ho-hen Haus einmal gemacht worden sind.
Daran darf man ja wohl gelegentlich noch erinnern. Wirnehmen nämlich Versprechungen sehr ernst,
genauso wie die Investitionen in Bildung und For-schung.Matthias Berninger
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Frau Ministerin, ich habe Ihre Worte vom 23. Februardieses Jahres noch in bester Erinnerung, wo es hieß, Bil-dung und Forschung hätten in Deutschland wieder Prio-rität.
Allein mir fehlt der Glaube, wenn ich in den Bundes-haushalt schaue. Von der einstigen festen Entschlossen-heit, die Zukunftsinvestitionen auf diesem Gebiet deut-lich zu erhöhen, ist angesichts des uns vorliegendenHaushalts wenig übrig geblieben.
Der Einzelplan 30, der im Haushaltsjahr 1999 nochbei rund 14,9 Milliarden DM lag, wird um 2,3 Prozentzusammengestrichen. Dabei ist Ihnen und Ihrem Fi-nanzminister jeder nur erdenkliche Buchungstrick recht,um die nackten Tatsachen zu verschleiern. Jedoch habenIhre Nebelkerzen den Bürgerinnen und Bürgern im Landnicht den Blick zu trüben vermocht. Sie haben nämlicherkannt, daß bei der SPD Wort und Tat nicht zwei Seitenderselben Medaille sind.
Frau Ministerin Bulmahn, waren Sie es nicht, die zuZeiten eines Bundesbildungsministers Laermann nielocker ließ
und die zu früheren Zeiten immer wieder deutliche Zu-wächse des Einzelplans 30 forderte? Aber wie sieht esheute aus? Noch im Mai dieses Jahres betonten Sie übri-gens, daß Investitionen für Bildung und Forschung keineEintagsfliegen sein dürften und die Bundesregierung ge-rade deshalb die Zukunftsinvestitionen für Bildung undForschung künftig deutlich erhöhen werde. Heute hatSie die Realität offensichtlich eingeholt, wenn Sie dieradikalen Streichungen in Ihrem Haushalt selbst alsKürzungen in vertretbarer Größenordnung bezeichnen.Sie haben versucht, klarzustellen, daß für Bildungund Technologie wieder rund 1 Milliarde DM mehraufgewendet werden soll. Davon erhält aber schon dasWirtschaftsministerium 200 Millionen DM. IhremHaushalt verbleiben demnach noch 800 Millionen DM.Jedoch mußten Sie im Rahmen des allgemeinen Spar-zwanges Ihres Finanzministers 7 Prozent, das sind rund1,2 Milliarden DM, abgeben. Somit verliert Ihr Haushaltnach Adam Riese letztlich gut 400 Millionen DM. Wassind das für Rechenkünste, die Sie anstellen?Wer glaubt, damit habe es sein Bewenden, der wirdschnell eines Besseren belehrt. Ein Blick in den Haus-halt des Wirtschaftsministeriums zeigt, daß auch derHaushalt für die Technologieförderung gekürzt wird.Das sind die falschen Investitionen. Sie tätigen keine In-vestitionen in die Zukunft. Das ist – so möchte ich esbezeichnen – rückschrittliche Politik.
Über Buchungstricks verschaffen Sie sich Spielraum.In der Tat: Sie haben einfach die notwendige Mittelbe-reitstellung zur Finanzierung der Staatsdarlehen fürdas BAföG aus Ihrem Haushalt der Deutschen Aus-gleichsbank aufgebürdet und sich damit 550 MillionenDM mobile Finanzmasse verschafft. Warum schiebenSie damit nicht eine ordentliche BAföG-Reform an? Daswäre doch jetzt die Konsequenz gewesen.Herr Staatssekretär Catenhusen sagt den Studentenderweil, für sie bleibe es beim alten. Das hatten die Stu-dierenden und das Deutsche Studentenwerk von dieserBundesregierung wahrscheinlich auch nicht anders er-wartet.
Ich darf Sie daran erinnern, daß wir gerade bei der Bun-desausbildungsförderung eine Reform dringend brau-chen. Die Ausgaben für das BAföG entsprechen heutedem Stand vor 20 Jahren.
Damals gab es allerdings 900 000 Studierende, heutesind es fast doppelt so viele. Sie brauchen uns nicht im-mer vorzuwerfen, daß wir in den vergangenen Jahrenkeine Reform auf den Weg gebracht hätten. Wir habenIhnen gesagt: Wir wollen diese BAföG-Reform. LassenSie uns diese Reform gemeinsam machen! Sie und nichtwir zögern doch jetzt.
Für mich ist klar: Die Signale für eine BAföG-Reform stehen auf Rot und nicht auf Grün. Herr Bernin-ger, ich habe in der Sommerpause in der Ausgabe einerbekannten deutschen Tageszeitung vom 10. August zurKenntnis nehmen dürfen: Bulmahns Äußerungen zumBAföG verstimmen Grüne; bildungspolitischer Sprecherbefürchtet Verschiebung der Reform. – Anlaß zur Sorgegab Ihnen eine Äußerung von Frau Bulmahn in der„taz“, die da hieß, daß Chancengleichheit für sie nichtbedeute, reichen wie auch ärmeren Familien eine staatli-che Unterstützung für das Studium zu geben. Vorrangigsei für sie eine Erhöhung der Einkommensgrenzen, dieder Bemessung des BAföG zugrunde gelegt werden.Was wollen Sie? Wollen Sie eine Reform oder wollenSie keine? Wenn Sie eine Reform wollen, dann legenSie einen Gesetzentwurf vor und lassen Sie uns nichtlänger darauf warten! Die Studierenden leiden unter die-ser Verzögerung.
Wie sieht es mit der Forschungsförderung aus? DieFraunhofer-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsge-meinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft erhaltenallesamt in diesem Haushalt nicht die ihnen langfristigin Aussicht gestellten jährlichen Mittelerhöhungen von5 Prozent, sondern sie müssen sich mit zwei- bis drei-prozentigen Erhöhungen zufrieden geben. Das ist dochkeine Verdoppelung. Es ist vielmehr eine Abschwächungder Forschungsförderung. Das heißt konkret: 10,7 Mil-lionen DM weniger als im Ansatz der alten Bundes-regierung für das Jahr 2000 für die Max-Planck-Cornelia Pieper
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Gesellschaft, 10,6 Millionen DM weniger für die Deut-sche Forschungsgemeinschaft und 4,7 Millionen DMweniger für die Fraunhofer-Gesellschaft. Das sind dieFakten. Der Haushalt spricht für sich.Ebenso sind die meisten Forschungsprojekte zu denThemen Mobilität und Verkehr gekürzt worden, ob-wohl Frau Bulmahn vor Jahresfrist – hört, hört – nochvon der Notwendigkeit eines Innovationsschubes ge-sprochen hat, der sich auf Schiene, Schiffahrt und öf-fentlichen Nahverkehr auswirken sollte.Wieder scheint mir an dieser Stelle ein Blick in dasWirtschaftsministerium geboten: Minister Müller kürztin seinem Haushalt bei der Förderung erneuerbarerEnergien um 35 Millionen DM auf 70 Millionen DM,während Frau Bulmahn die Förderung umweltgerechterund nachhaltiger Entwicklung lediglich um 18 MillionenDM erhöht. Was die Grünen hierzu in der Debatte zusagen haben, wäre für uns alle interessant. Dabei mußdoch so mancher Grüner rot werden!
Die Förderung von Forschung und Innovation imMittelstandsbereich, die Sie so angepriesen haben, FrauMinisterin, wird um 82 Millionen DM auf 817 MillionenDM gekürzt. Besonders hart trifft das den Mittelstandim Osten, der 15 Millionen DM an Fördermitteln ver-liert. Diese Lücke schließen Sie auch nicht mit dem In-no-Regio-Programm.Ich darf an dieser Stelle in Erinnerung rufen, daßBundeskanzler Schröder bei seinem Amtsantritt in sei-ner Regierungserklärung deutlich gesagt hat, daß dieBundesregierung ein Förderkonzept entwickeln wolle,welches sich unter anderem an folgenden Zielen orien-tiert: der Stärkung der Innovationsfähigkeit der Unter-nehmen und dem Ausbau von Finanzierungsformen, dieden besonderen Problemen der ostdeutschen Unterneh-men gerecht werden. Genau das tun Sie aber in diesemHaushalt nicht – im Gegenteil. Das wäre aber angesichtsder Probleme im Bereich der Ausbildungsplätze so bitternötig.
– Sie mögen das lustig finden. Ihnen scheint das, waswir hierzu diskutieren, nicht ernst genug zu sein. IhrVerhalten ist nicht mehr zumutbar, wenn ich das einmalsagen darf.
Sie müssen die Fakten schon einmal zur Kenntnis neh-men.
– Es ist so. Ich sage Ihnen auch namens der F.D.P.-Fraktion zu Ihrem Sonderprogramm: Jede Mark, die indie Ausbildung gesteckt wird, ist es wert, daß sie für ei-nen jungen Menschen in diesem Land ausgegeben wird.
Sie ist es nur dann nicht wert, liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD und den Grünen, wenn es einTopf ohne Boden ist, in den dieses Geld gesteckt wird.Von daher würde ich die Fakten, die Ihnen vom Präsi-dent des Zentralverbandes des Deutschen Handwerkesvorgelegt worden sind, schon ernst und zur Kenntnisnehmen.Man kann die Zahlen sicher anzweifeln. Aber er hatauch deutlich gemacht: Wenn man beim Handwerk dieMittel kürzt, die Förderung der überbetrieblichen Lehr-lingsunterweisung, dort, wo pro Jahr rund 625 000Lehrlinge ausgebildet werden, wenn man dort um10 Millionen DM herunterfährt und die Beratungsförde-rung um 6 Millionen DM kürzt, ist das genau der falscheWeg. Wir brauchen weiterhin eine Stärkung der dualenAusbildung.Wenn Sie den Mittelstand schwächen, werden auchweiterhin die jungen Menschen, die in Ihr Sonderpro-gramm gehen, keine Anschlußausbildung haben. Esgeht doch darum, daß eine Kontinuität auch in der Aus-bildung gegeben ist. Die meisten jungen Menschen, de-nen Ihr Sonderprogramm zugute kommt, haben nach ei-nem Jahr keine Aussicht auf eine Fortsetzung ihrer Aus-bildung und erst recht keine Aussicht auf einen Arbeits-platz. Dadurch steigt die Jugendarbeitslosigkeit nochmehr.
Das können Sie nicht in Frage stellen. Das sind dieFakten, die vorliegen.Ich kann nur sagen: Die Regierung Schröder hatmit diesem Haushalt ihre Schwerpunktsetzung für eineInnovationspolitik aufgegeben. Eine Erhöhung derAusgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschungist auch in Zukunft von dieser Regierung nicht zu er-warten.Frau Bulmahn, Sie haben uns jetzt einen Haushaltpräsentiert, der exklusiv Ihre Handschrift trägt, der nichtmit den Haushalten der Vorgängerregierung verglichenwerden kann.
Im Gegenteil: Sie haben den Abwärtstrend in IhremRessort über diesen vorgelegten Haushalt eingeleitet.Eine Bundesregierung, die Milliardenbeträge für Sub-ventionen an die Steinkohle ausgibt, aber keine Kohlefür die Bildung hat, muß sich nach ihrer Zukunftsorien-tierung hinterfragen lassen.
FrauKollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.Cornelia Pieper
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4954 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Es ist kein Zukunftspro-
gramm, das Sie hier vorgelegt haben, sondern ein Pro-
gramm von gestern. Also: Bessern Sie sich!
Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Maritta Böttcher von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Frau Ministerin Bulmahn, lassenSie mich zunächst würdigen, daß es im Einzelplan 30auch leichte Zuwächse gibt. Ich finde, das ist angesichtsdes Sparpakets schon eine ordentliche Leistung, die ichnicht verhehlen will.
Beim BAföG haben Sie – das ist schon angesprochenworden, und auch hier gereicht es Ihnen zur Ehre, daßSie es selbst angesprochen haben; ich bin schon derMeinung, wir alle sollten bei der Wahrheit bleiben – ei-nen kleinen Buchungstrick bei der Darlehensrückzah-lung angewandt, die derzeit noch in den Bundeshaushaltfließt. Sie wissen genau, daß sich dies nur wenige Jahreauswirkt und sich somit natürlich nicht für eine radikaleErweiterung des Bildungsetats eignet.Außerdem bleibt es bei der staatlichen Ausbildungs-förderung für eine kleine Minderheit. Auch das wurdehier schon angesprochen. Die BAföG-Novelle hat wederden Rückgang der Gefördertenquote aufhalten können,noch wurden die ausgezahlten Beiträge wirklich we-sentlich erhöht. Hinsichtlich der angekündigten grundle-genden BAföG-Reform will ich nichts wiederholen. Au-ßer den heutigen Ankündigungen des Kollegen Bernin-ger ist von einer grundlegenden Reform keine Rede. In-sofern verfestigt sich natürlich der Eindruck, daß Re-formen für mehr Chancengleichheit auch bei Rotgrünauf die lange Bank geschoben werden. Derweil ziehtHerr Rüttgers mit dem Slogan „Bildung für alle“ in denWahlkampf und tut so, als ob das Thema bei ihm besseraufgehoben wäre.Zwei Probleme bestimmen die Ausgaben für Bildungwie für Kultur: Erstens werden die Investitionen, diehier getätigt werden, erst in der Zukunft spürbar. Zwei-tens werden Bildungs- und Kulturaufgaben von Bundund Ländern gemeinsam bestritten. Kürzungen undRichtungsentscheidungen werden – wie wir alle wissen– nicht nur auf der Bundesebene, sondern auch in denLändern vorgenommen: Die Abschaffung von mutter-sprachlichem Unterricht zum Beispiel können wir vonhier aus nicht verhindern; wenn Länder Projekte nichtanteilig finanzieren können, nutzen die Bundesmittelleider auch nichts. Diesen Problemen sollten wir unsverstärkt zuwenden. Die Mittel der Bundesregierungsollten so verteilt werden, daß eine klare Schwerpunkt-setzung erkennbar ist.Fünf Erwartungen hatte ich persönlich an die Bil-dungspolitik einer rotgrünen Regierung, die aber leidernicht oder nur annähernd erfüllt werden. Erstens habeich erwartet, daß Sie sich um eine dauerhafte und durch-greifende Verbesserung des Lehrstellenangebots be-mühen. Die Weiterführung des 100 000-Stellen-Programms sowie die Aufstockung des Sonderpro-gramms für zusätzliche Ausbildungsplätze in den neuenLändern sind zwar Kraftakte, die ein wenig helfen; zu-gleich bestätigt sich aber die Kritik, die die PDS vonAnfang an dazu geäußert hat: Der Lehrstellenmangelkann auf Dauer nicht mit Sonderprogrammen bekämpftwerden. Das zeigen die aktuellen Zahlen.
Solange es für die Unternehmen billiger ist, Ausge-bildete aus Handwerksbetrieben oder aus staatlicherAusbildung zu übernehmen, statt selbst Lehrstellen an-zubieten, wird sich hier – dieser festen Überzeugung binich – nichts ändern. Für den Service, Unternehmen aufstaatliche Kosten ausgebildete junge Menschen zu lie-fern, muß eine Erstattung verlangt werden. Die Umlage-finanzierung ist der einzige Weg, eine grundsätzlicheWende bei der Sicherung der benötigten Ausbildungs-plätze herbeizuführen.
Obwohl diese Umlage bei weitem nicht in Sicht ist, sen-ken Sie die Ausgaben für überbetriebliche Ausbildungs-stätten sowohl für laufende Zwecke wie auch für Inve-stitionen. Das ist für mich schlichtweg nicht nachvoll-ziehbar.Ich habe zweitens erwartet, daß Sie – weil Sie die Zu-stände an den Hochschulen kennen und in den letztenJahren selbst heftig kritisiert haben – die Grundfinan-zierung der Hochschulen wesentlich anheben. Dochstatt die Grundfinanzierung deutlich anzuheben, wei-chen Sie auf Sonderprogramme aus, für die sich dieHochschulen bewerben können – auf daß der Wettbe-werb entscheide. Ich will aber nicht mißverstanden wer-den: Wettbewerb ist richtig und notwendig.Es geht den Hochschulen im Vergleich zu den For-schungsinstitutionen nach dem Haushaltsentwurf aberdeutlich schlechter: Bei den Ausgaben für Bildung undForschung, sofern sie an Schulen und Hochschulen statt-findet, wird schon einmal gekürzt. Dabei erwarten Sievon den Hochschulen – das haben Sie auch heute wiederdeutlich gemacht – Leistungsorientierung und modernsteAngebote mit denselben Mitteln wie bisher. Daß unterdiesen Bedingungen Studiengebühren erhoben werden,privatwirtschaftliche Sponsoren gesucht werden und derRuf nach Eliteuniversitäten lauter wird, folgt zwangs-weise aus der staatlichen Unterfinanzierung. Genausozwangsweise ist dann aber auch der Abschied vom Prin-zip der Chancengleichheit und von demokratischer Mit-bestimmung.Drittens habe ich erwartet, daß Sie in Bildung undForschung deutlichere Akzente zugunsten einer nach-haltigen Entwicklung setzen. Den Haushaltstitel „Um-weltgerechte nachhaltige Entwicklung“ sollte man sichschon genau ansehen: Insgesamt beträgt die Erhöhung
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4955
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stolze 18 Millionen DM. Ein Drittel der Erhöhungkommt der Forschung für eine Politik der Friedensge-staltung zugute. Zieht man diesen erfreulichen neuenPunkt vom Teil „Globale Umweltaspekte“ wieder ab, sozeigt sich am Ende eine reale Kürzung: Während diewirtschaftsbezogene Nachhaltigkeit eindeutig gesteigertwird, sind die Erhöhungen der Mittel für die sozialöko-logische Forschung Kleinigkeiten.Ein weiteres Beispiel für Verschiebungen vonSchwerpunkten, die sich hinter wohlklingenden Titelnverstecken, will ich benennen: Die Gewichtung zwi-schen der Forschung zur Gesundheitsvorsorge und zurKrankheitsbekämpfung wird massiv zugunsten der Be-kämpfung von Krankheiten verschoben. Hier stehenKürzungen um 12 Millionen DM der Erhöhung um 2Millionen DM gegenüber. Dabei ist die Vorsorge – auchangesichts knapper Gesundheitskassen – langfristig diebessere Investition.Kürzungen muß auch der Bereich „Forschung imVerkehrswesen“ hinnehmen; darunter am deutlichstender Personenverkehr, während die Forschung zur Mo-bilität in Ballungszentren stärker gefördert wird. Hiersoll wohl – zumindest entsteht der Eindruck – mit mo-dernen Verkehrsleitsystemen noch mehr Individualver-kehr durch die Städte geschleust werden. Eine klare Ori-entierung für den Schienenverkehr fehlt.Viertens habe ich erwartet, daß Sie sich um eine zü-gige Durchsetzung der angekündigten BAföG-Reformbemühen.Fünftens und letztens habe ich erwartet, daß Sie Ihreneuen Haushaltstitel in der geplanten Höhe fortführen.Die Maßnahmen im Titel „Strukturelle Innovationen inBildung und Forschung“ klangen nicht nur innovativ,sondern hatten mit der Förderung zur Entwicklung neuerKonzepte vor allem auch spannende Inhalte. Bedenklichfinde ich, daß die Entwicklung und der Einsatz neuerMedien aus dem gesamten Bildungswesen herausge-nommen wurden.Dennoch gibt die PDS-Fraktion die Hoffnung nichtauf, daß bald rundherum klar wird, daß Bildung undForschung die Grundlage für Zukunftsgestaltung bilden.Wir jedenfalls werden aktiv Vorschläge einbringen, umSchieflagen, die momentan eventuell noch existieren, zukorrigieren.Danke schön.
Ich
möchte Ihnen mitteilen, daß nach jetzigem Stand die
Aussprache noch bis 0.30 Uhr dauert. Deswegen wäre
ich dankbar, wenn sich jeder Redner so kurz wie mög-
lich faßt.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege
Stephan Hilsberg von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ladies first,deshalb möchte ich zuerst auf die F.D.P. zu sprechenkommen. Sehr geehrte Frau Kollegin Pieper, bei IhrenAusführungen insbesondere über Statistik und Rechnenhatte ich den Eindruck, daß Sie das personifizierte Bei-spiel für die Mathematikschwächen sind, auf die in derTIMSS-Studie hingewiesen wird. Wie können Sie allenErnstes behaupten, wir würden die Titel „Max-Planck-Gesellschaft“ und „Deutsche Forschungsgemeinschaft“senken? Diese Titel steigen tatsächlich um 3 Prozent.
Es gibt in unserem Haushalt – Bildung und Forschung –keinen einzigen nichtauslaufenden Titel, der gesenktwird. Sie werden dafür kein Beispiel finden.Ich möchte Frau Böttcher darauf aufmerksam ma-chen, daß sie bei Ihrer Bewertung des Titels „Struktu-relle Innovationen in Bildung und Forschung“ etwasnicht bedacht hat. Aus dem alten Titel ist nämlich derTitel für das rechnergestützte Lernen ausgegliedert wor-den. Wenn Sie beide Titel zusammenfassen, werden Siefeststellen, daß der alte Gesamttitel sogar gestiegen ist.Insgesamt sieht das alles also sehr gut aus.
Herr Kampeter, wir alle haben hier Sinn für Show.
Sie stehen lächelnd vor diesem Hohen Hause, das zwarauf Grund der späten Stunde ein bißchen leer ist, wie ichauch finde. Aber hier muß jeder Haushaltsbereich zuseinem Recht kommen. Aber, Herr Kampeter, die Showhat einen ernsten Hintergrund. Wenn Sie sich vorstellen,daß nur ein Teil jener 500 000 arbeitslosen Jugendli-chen, die es zum Zeitpunkt unserer Regierungsüber-nahme gab, oben auf den Zuschauertribünen säße unddarunter eine Reihe von Jugendlichen wäre, die von un-serem Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit profitierthaben: Können Sie dann noch Ihr Gesicht im Spiegelbetrachten?
– Wer ist denn demagogisch? Das erlebe ich doch dieganze Zeit bei Ihnen.Wir verdoppeln den Haushalt für Bildung und For-schung.
Dies ist vorher versprochen worden und wird auch reali-siert. Jedes Jahr wird um 1 Milliarde DM aufgestockt.
Sie unternehmen hier nichts anderes als den demagogi-schen und dummen Versuch, einen der wichtigen undzentralen Teile unserer Politik zu diskreditieren. Dieskann ich unter Machtgesichtspunkten akzeptieren. AberMaritta Böttcher
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Sie sollten sich, wenn Sie das tun, angesichts der Politikschämen, die Sie in den letzten 16 Jahren zu verantwor-ten hatten.
Gemessen am Sanierungsbedarf und dem deshalb er-forderlichen Sparhaushalt, den wir für die Zukunft dernachfolgenden Generationen vorlegen müssen, ist dieSteigerung der Ausgaben für Bildung und Forschungetwas, was es in der ganzen Geschichte der Bundesrepu-blik für meine Begriffe noch nicht gegeben hat.
Die Kohl-Regierung hatte den Generationenvertragdoppelt gebrochen. Deswegen werden wir ihn doppelterneuern. Natürlich müssen wir dazu – wir stehen garnicht an, das zu sagen – im Rahmen unseres Bildungs-und Forschungsetats einen solidarischen Beitrag leisten.Es wäre auch schlimm, wenn wir dies nicht getan hätten.Trotzdem ist die 1 Milliarde DM dazugekommen.Ich möchte Sie nur auf Titel des Forschungsbereichsaufmerksam machen – schauen Sie sich den Haushaltgenau an! –, die, wenn man die Entwicklung dieses unddes Jahres zusammen betrachtet, in einem Maße gestei-gert werden, daß Sie sich in den nächsten drei Jahrentatsächlich verdoppeln. Das ist zum Beispiel bei derGenomtechnologie der Fall. Wir haben immer davongesprochen, daß wir die Zukunftsinvestitionen in diewichtigsten technologischen Bereiche verdoppeln wer-den. Dies werden wir tun.
Die ersten Gewinner unserer Politik sind die Jugend-lichen. Ihr permanentes Herumgezetere an dem Akti-onsprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit kann ichüberhaupt nicht verstehen. Selbst der von Ihnen viel zi-tierte Herr Philipp hat gestern deutlich erklärt: Laßt dieDemagogie sein! Sie haben noch nicht einmal anständi-ge Zahlen, mit denen Sie Ihre Aussagen belegen können.In unserem Ausschuß – Sie waren dabei – war einVertreter der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg. Erhat gesagt: Das ist die Erleichterung, und das hilft uns ineinem Maße, wie wir es bisher nicht gehabt haben undwie wir es immer dringend haben wollten. Ich kennepersönlich viele Jugendliche, denen auf diese Art undWeise eine Chance vermittelt worden ist, auf die sieschon gar nicht mehr gehofft hatten.
Verbunden mit dem Ausbildungsplatzkonsens gibt eserstmals wieder eine Lehrstellengarantie. Das ist in die-ser Bundesrepublik zum erstenmal so. Ich habe es nochnicht erlebt. Wir geben jedem Jugendlichen die Garan-tie, einen Ausbildungsplatz tatsächlich zu bekommen,und zwar vorrangig einen betrieblichen, wie Sie es zurecht angemahnt haben. Auch wir sind der Meinung, daßein betrieblicher Arbeitsplatz besser ist. Aber es ist bes-ser, einen außerbetrieblichen Ausbildungsplatz zu be-kommen, als gar nicht versorgt zu sein.In der alten Bundesrepublik gibt es noch immer Ju-gendliche, für die Ausbildung offenbar nicht möglich ist.15 Prozent aller Jugendlichen werden bis jetzt noch im-mer nicht ausgebildet. Dies kann nicht normal sein. Eshandelt sich um Mädchen und ausländische Jugendliche.Man schafft sich dort hinsichtlich der Integration undder Emanzipation Probleme in der Zukunft. Das kostetsozial sehr viel Geld.
Herr
Kollege Hilsberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Pieper?
Ja.
Herr Kollege Hilsberg,
was sagen Sie dazu, daß im außerbetrieblichen Bereich,
also im Sonderprogramm, 53 Prozent der Teilnehmer
die Hochschulreife oder den Realschulabschluß haben
und eigentlich nicht zu der Zielgruppe gehören, die Sie
mit diesem Sonderprogramm erreichen wollen?
Frau Pieper, es mag indiesem Projekt Mitnahmeeffekte geben. Noch vielschlimmer sind die sozialen Härten und Existenzsor-gen, vor denen die betroffenen Jugendlichen stehen. Siestehen doch nur deshalb davor, weil die Wirtschaft bis-her nicht in der Lage war, genügend Lehrstellen anzu-bieten.Sie behaupten immer, die Interessen des ostdeutschenMittelstandes zu vertreten. Schauen Sie doch einmalnach Ostdeutschland! Woran liegt es denn, daß in Ost-deutschland weniger Betriebe als in Westdeutschlandausbilden? Verehrte Frau Pieper, ich bin mit meinerAntwort fertig. Sie brauchen nicht länger stehenzublei-ben.
Ich möchte an dieser Stelle einen Appell an alle Be-triebe richten, die sich um ihren Nachwuchs kümmernund Daseinsvorsorge zu betreiben haben. Ab dem Jahre2005 werden sie jedem Lehrling nachtrauern, der nichtausgebildet wurde.
Ein nächster Gewinner unserer Bildungspolitik sinddie Hochschulen. Es ist bereits angesprochen worden,daß wir die Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulbau“deutlich aufstocken werden. Im übrigen ist es doch so,daß davon vorrangig ostdeutsche Hochschulstandorteprofitieren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Uns wirdgelegentlich vorgeworfen, wir vernachlässigten denStephan Hilsberg
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Aufbau Ost. In Wirklichkeit sind viele Projekte geradeim Bildungs- und Forschungshaushalt integraler Be-standteil anderer Titel.
Das ist bei der Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulbau“,bei der Forschung und Entwicklung an Fachhochschu-len, bei der Förderung überbetrieblicher Bildungsstätten,beim Ausbildungsprogramm Ost und bei den Blaue-Liste-Instituten der Fall.
– Das sind schlicht und einfach Tatsachen. Wenn Sie dienicht akzeptieren können, dann kann ich nichts dafür,Frau Pieper.Das hier bereits erwähnte Inno-Regio-Programm istin der Förderung innovativer Kompetenz ganzer Regio-nen ein einmaliger Qualitätssprung. Es geht um dasWiederherstellen der Wachstumsfähigkeit ganzer Re-gionen, die zwar jetzt deindustrialisiert sind, aber dieFähigkeit zum Wachstum einmal hatten. An diese Fä-higkeit muß man wieder anknüpfen. In meinen Augenist das fast wichtiger als die allerdings berechtigten Be-mühungen, jene Forschungsbetriebe Ostdeutschlandsüber Wasser zu halten, die ohne Bundesmittel nicht le-bensfähig sind. Mit diesem Strukturproblem haben wirhier zu kämpfen. Das kann kein Zustand von Dauer sein.
So wie die Behauptung, wir würden die Mittel für denAufbau Ost kürzen, eine Legende ist, so falsch und ab-wegig ist Ihre Behauptung, wir wollten das Sockelmo-dell für die Studenten nicht mehr verwirklichen. MeineDamen und Herren von der CDU/CSU, woher nehmenSie eigentlich die Frechheit, uns vorzuwerfen, wir wür-den hier ein Wahlversprechen brechen?
Mir ist das in jeder Hinsicht ein Rätsel. Wir haben klippund klar erklärt, daß wir in diesem Jahr ein Konzeptvorlegen und bereits 1999 mit dessen Umsetzung begin-nen werden. Letzteres haben wir getan, indem wir be-reits die Freibeträge um 6 Prozent erhöht haben.
– Sie können ja nicht ignorieren, daß durch das Famili-enurteil des Bundesverfassungsgerichtes finanziell völ-lig neue Verhältnisse vorliegen, für die man entspre-chende Lösungen erarbeiten muß. Die F.D.P. hat inihrem interessanten Antrag, der nur unserem alten Drei-Körbe-Modell abgekupfert ist, schlicht und einfach dasFamilienurteil des Bundesverfassungsgerichtes ausge-klammert. Damit kommen Sie nicht weiter, das ist etwaso innovativ wie kalter Kaffee, Frau Pieper.
Wenn Sie einmal die Freibeträge von 1982 mit demInflationskoeffizienten für die Jahre von 1982 bis heutemultiplizieren, dann stellen Sie fest, daß das heutigeBAföG ähnlich hohe Freibeträge wie 1982 ansetzt.Trotzdem ist die Anzahl derjenigen, die mit BAföG stu-dierten, permanent gesunken. Dies zeigt, daß der Hand-lungsbedarf für unser Sockelmodell in erster Linie ausden Umständen folgt, daß Eltern sich ihrer Unterhalts-pflicht entziehen und daß es ein Mittelstandsloch gibt.Es geht hier nicht in erster Linie um Elternunabhängig-keit, sondern wir wollen mit diesem Konzept auch so-ziale Gerechtigkeit verwirklichen.
Ich gebe Ihnen Brief und Siegel darauf, daß wir alles,was in unserer Kraft steht, tun werden, um dies zu reali-sieren.Was sind übrigens die Alternativen? Ich höre immervon Herrn Schäuble, er jage uns mit Alternativen. Wosind die Alternativen der CDU/CSU? Ich kann sie nichterkennen; sie sind auch heute nicht vorgetragen worden.Allerdings steht in der Zeitung – in der „Welt“, einerZeitung, die nun wirklich nicht dafür bekannt ist, daß sieunsere Positionen stützt –, daß Sie inzwischen beginnen,unsere Politik nachzumachen. Dies tut Herr Rüttgers,der einzige, der sich bei Ihnen überhaupt um Alternati-ven kümmert. Er bekommt bei Ihnen noch etwas dafürübergebraten, daß er das tut. Aber von ihm hört man tat-sächlich interessante Ansätze. Da geht es beispielsweiseum Wertevermittlung, und da heißt es, man solle jetztdie Gesamtschulen unterstützen.
– Entschuldigen Sie einmal, das steht alles in diesemArtikel.
Arme CDU, die es nötig hat, unsere Positionen andieser Stelle abzukupfern. Aber wir warten einmal ab,bis Sie mit tatsächlichen Alternativen kommen. Dannkann man sich vielleicht mit Ihnen etwas intensiver undsachkundiger über andere Formen der Bildungspolitikunterhalten.
– Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Herr Jork, daßSie und Herr Schmidt, der hinter Ihnen sitzt, mirmanchmal leid getan haben. Sie mußten während deracht Jahre, die wir gemeinsam im Bundestag sind, ver-treten, daß ein Haushalt, der eigentlich hätte gesteigertwerden müssen, reduziert wurde, und zwar gerade beiTiteln, die Ostdeutschland betrafen. Ich habe noch HerrnSchmidt im Ohr, der gestern sagte, er sei in dieser Hin-sicht ein geprügelter Hund.In unserem Haushalt gibt es keinen Titel, der nichtSubstanz hat, der nicht erhöht wurde. Nehmen Sie allei-ne die Internationalisierung der Hochschulen. Wir setzendoch die Titel für Stipendien für Studenten hoch. Wirerhöhen doch die Titel, mit denen internationale Koope-Stephan Hilsberg
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4958 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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ration gefördert wird. – Sie sehen mich da so staunendan. Sie müssen einmal in den Etat hineinschauen.
Das alles sind gute Ansätze, mit denen wir unsere Poli-tik fortführen können.Vielleicht haben Sie von uns erwartet, daß wir die5 Milliarden DM, die wir in den nächsten fünf Jahrenzusätzlich in diesen Haushalt einstellen wollen, miteinem Mal einstellen. Eine solche Vorstellung – HerrMöllemann hatte so etwas einmal geäußert – offenbartfür meine Begriffe, daß Sie völlig – –
– Ja, wo ist er überhaupt hin? Das ist ja interessant. Ergibt sich wahrscheinlich gerade Mühe, die F.D.P. inNordrhein-Westfalen unter die Fünfprozenthürde zudrücken. Damit hat er auch viel Erfahrung.
Wie Sie von der F.D.P. angesichts der Entwicklung IhrerPartei noch Zukunftshoffnung schöpfen können, ist mirallerdings schleierhaft.Schlußendlich sage ich: Dies ist ein Haushalt, überden wir uns freuen, mit dem wir uns sehen lassen kön-nen, der eine echte Leistung, und zwar eine Gesamtlei-stung der Bundesregierung darstellt und der viel Solida-rität auch von den Kollegen verlangt. Ich freue mich aufdie Beratung dieses Haushaltes im Ausschuß.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Gerhard
Friedrich von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eigentlich habe ich gedacht, daß sich die SPD heuteehrlich von ihren unrealistischen Wahlversprechungenverabschiedet. Dann hätten Sie wenigstens nur kurzProbleme und könnten anschließend wieder eine klareLinie fahren.Aber das, was der Bundeskanzler, der Finanzministerund Frau Ministerin Bulmahn zu der künftigen Ent-wicklung der Ausgaben für Bildung und Forschung sa-gen,
ist ein unerträglicher Eiertanz.
Zufällig, Frau Ministerin Bulmahn – aufgeschriebenhabe ich mir eigentlich etwas anderes –, habe ich wenig-stens einige Originalbelege dabei. Wenn Sie schon soeiern, muß ich Ihnen das einmal wörtlich vorhalten.Hier habe ich zunächst das Wahlprogramm der SPD.Darin steht:Die SPD-geführte Bundesregierung wird die Zu-kunftsinvestitionen in Bildung, Forschung undWissenschaft innerhalb der nächsten fünf Jahreverdoppeln.Was „Zukunftsinvestitionen“ sind, haben Sie nie ge-sagt. In vielen Wahlversammlungen wurde der Be-griff „Investitionen“ bewußt weggelassen. Die Leute ha-ben verstanden, daß Sie die Ausgaben für Bildung undForschung verdoppeln wollen. Mein Freund Kampeterhat da immer gesagt: Das heißt fünfmal 3 MilliardenDM.Vor der Bundestagswahl haben wir, Frau Bulmahn,über die letzte Vorlage eines Waigel-Haushalts disku-tiert. Ich war erstaunt, was Sie – damals noch als Spre-cherin der Opposition – alles angekündigt haben. Ichhabe Sie seinerzeit gefragt – das Protokoll habe ich da-bei –:
Stehen diese Versprechungen unter einem Finanzie-rungsvorbehalt? Daraufhin heißt es in dem Protokollvom 2. September 1998 wörtlich:Wir werden in diesem Bereich eine Ausnahme ma-chen. Wir werden die Ausgaben für Bildung, Wis-senschaft und Forschung deutlich erhöhen.
Vorher habe ich gefragt: Gibt es einen Finanzierungs-vorbehalt?Ich habe Ihrer Antwort damals entnommen und ent-nehme das auch heute noch, daß Sie sich für Finanzenund die Haushaltslage des Bundes wirklich überhauptnicht interessieren.Es gab auch bei der SPD Haushaltspolitiker, die imWahlkampf ehrlich gesagt haben, daß diese Wahl-kampfversprechen absolut unrealistisch sind.
Das haben Sie ignoriert.Dann haben Sie den Haushalt 1999 vorgelegt. Darinhaben Sie näher interpretiert – ich finde es sehr gut, daßSie da konkreter geworden sind –, was „Verdoppelungvon Investitionen“ bedeutet. Begriffen habe ich das nochimmer nicht, aber Sie haben damals gesagt – den Beleghabe ich heute nicht dabei –: Das bedeutet etwa fünfmal1 Milliarde DM.Dann hat Herr Eichel als zweiter Finanzminister derRegierung Schröder am 24. Juni hier sein Sparpaket er-läutert. Auch dieses Protokoll habe ich dabei. Darinsteht:Stephan Hilsberg
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Die Verdoppelung in diesem Bereich wird zwarnicht nach fünf, aber nach sechs Jahren erreicht.
Frau Bulmahn, daran orientieren Sie sich offensichtlichnoch immer ein bißchen.Zwischendurch sind auf meinem Schreibtisch weitereVeröffentlichungen, und zwar die „VDInachrichten“gelandet; das Datum habe ich nicht im Kopf, aber es warvor ungefähr ein, zwei Wochen. Darin stand: „Bulmahn-Einsparungen sind vertretbar“. Plötzlich reden Sie von„Einsparungen“. Das ist ja ganz erstaunlich.Heute haben Sie, wahrscheinlich auf Grund derEichel-Aussagen, gesagt: Verdoppeln wird länger dau-ern. Sie wissen aber offensichtlich nicht genau, was HerrEichel gestern bei der Haushaltsdebatte verkündet hat.Ich habe es selber gar nicht glauben können. Laut Proto-koll des gestrigen Tages sagte er:Wir werden unser Versprechen umsetzen, die Zu-kunftsinvestitionen in Bildung und Forschung inden nächsten fünf Jahren zu verdoppeln.Plötzlich sagt er nicht mehr, es dauere länger.
Sie haben überhaupt keine einheitliche Sprachrege-lung bei Ihrer Vernebelungstaktik. Das ist wirklich un-erträglich.
Dann nehme ich mir den Finanzplan vor, den auchder Kollege Kampeter schon erwähnt hat. Ich rechne einbißchen anders als er. Ich habe jetzt Seite 16 aufge-schlagen; Sie können das später daheim oder im Büronachlesen. Der einzige Unterschied zwischen meinerRechnung und der des Kollegen Kampeter ist, daß ichbeim Zusammenzählen die kulturellen Ausgaben,Kanzleramt und neuer Staatsminister herauslasse, weildas nicht Bildung und Forschung im engeren Sinne ist.Sie schauen auch dann nicht besser aus. Beim Zusam-menzählen habe ich festgestellt, daß bei der Ist-Ausgabe1998 steht: 16,6 Milliarden DM. Als Zuwachs für dasJahr 1999 ist dann dort – das betrifft nicht nur Ihr Res-sort, sondern Bildung und Forschung allgemein, alsoauch den Etat des Wirtschaftsministeriums – ein Plusvon 818 Millionen DM verzeichnet. Im laufenden Haus-haltsjahr haben Sie echt zugelegt. Für uns war es nichtsehr angenehm nach der Wahl, das festzustellen. Wirhaben gedacht: Die machen ja Ernst.Beim weiteren Zusammenzählen komme ich nachIhrem Finanzplan im Jahr 2000 auf ein Minus von265 Millionen DM, im Jahr 2001 auf ein Plus von118 Millionen DM, im Jahr 2002 auf ein Plus von125 Millionen DM und im Jahr 2003 auf ein Plus von122 Millionen DM. Insgesamt bedeutet das bis 2003 einPlus von 918 Millionen DM, das entspricht 5,5 Prozent.Diese Zahlen legen Sie uns gedruckt vor. Ich kapierewirklich nicht, wie man diese verwirrenden Spielereienfortführen – ich will nicht von „Lüge“ sprechen – undvon einer Verdoppelung in fünf, sechs oder noch mehrJahren sprechen kann. Das ist unerträglich.
Jetzt zum Einzelplan 30 des Haushaltes 2000, überden wir heute debattieren. Sie wollen dafür gelobt wer-den, daß Sie sparen, und gleichzeitig dafür, daß Sie nichtsparen. Ich habe den Unterlagen, die Sie uns freundli-cherweise vor der Sommerpause zufaxen ließen – allzu-viel bekommen wir ja nicht – entnommen, daß dieseAktion folgendermaßen abläuft – dafür muß ich jetzteinmal die detaillierten Zahlen nennen –: Nach den Un-terlagen Ihres Hauses bekommen Sie zunächst einmalrein rechnerisch von der angeblich zusätzlichen 1 Milli-arde DM 768 Millionen DM. Es steht ausdrücklich drin,daß dieses Ihr Anteil an der Milliarde ist. Als Sparbei-trag zieht man Ihnen 7,4 Prozent von den zu erbringenden 30 Milliarden DM ab, also 1,1 Milliarden DM.Wenn mich meine Rechenkenntnisse nicht ganz verlas-sen haben, komme ich auf ein Minus von 340 MillionenDM in diesem Jahr.
In der letzten Zeile Ihres Haushaltes steht also, daß dieAusgaben sinken. Ich komme gleich auch noch daraufzu sprechen, wie Sie versuchen, die Neuregelung desBAföG zu unterlaufen.Zunächst möchte ich Ihnen aber einmal sagen, daßSie ganz vorsichtig sein müssen, selbst wenn Sie überdie Ausgaben des Jahres 1999 reden, weil Soll bekannt-lich nicht gleich Ist ist. Ich habe gesehen, daß das Haus-haltsgesetz erst am 21. Juni 1999 ausgefertigt wurde. Daich selber einmal als Beamter Geld verwaltet habe, weißich, daß bis zu diesem Zeitpunkt die Grundsätze dervorläufigen Haushaltsführung gelten. Sie konnten alsoerst jetzt im August oder im September wirklich Gelderzusagen und dementsprechende Bescheide verschicken.Ich sage Ihnen jetzt vorher, daß die Adressaten gar nichtin der Lage sind, im zweiten Halbjahr das ganze Geld,das für ein Jahr geplant ist, auszugeben.
Sie werden uns, Frau Bulmahn, eines Tages noch beider Vorlage der Ist-Abrechnung des Jahres 1999 beich-ten müssen, daß Sie das Ihnen in diesem Jahr zur Verfü-gung gestellte zusätzliche Geld gar nicht aus-, sondernzum Teil an den Finanzminister zurückgegeben haben.
Wenn Sie das schaffen, wäre das wirklich eine haus-haltstechnische Leistung.
Aber seien Sie vorsichtig, vielleicht müssen Sie da nocheine ganz unangenehme Beichte irgendwann im Früh-jahr nächsten Jahres ablegen.Dr. Gerhard Friedrich
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4960 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Ich gebe zu – was Sie gesagt haben, verwirrt alles einwenig –,
daß Sie versuchen, die einzusparenden 340 MillionenDM, wie es aus der letzten Zeile Ihres Einzelplanes her-vorgeht – das sagte ich bereits – zu unterlaufen. Sie ha-ben es angedeutet, aber ich will es noch einmal wieder-holen, damit klar ist, was da gemacht wird: Der Finanz-minister sagt: Ich muß die Nettokreditaufnahme senken,also streiche ich bei der Frau Kollegin Bulmahn Geld.Gleichzeitig rät er ihr aber, selber einen Kredit aufzu-nehmen. Das bedeutet, daß der Finanzminister seineNettokreditaufnahme nach unten rechnen kann, währendtatsächlich Sie den Kredit aufnehmen, also alles beimalten bleibt. Finanzpolitisch, Herr Kollege Hilsberg, istdas absolut unsolide.
Ich sage Ihnen – ich merke, dann muß ich aufhören –:Das Ganze würde ich unter einer Voraussetzung akzep-tieren, nämlich daß Sie dieses Finanzierungsmanöverdurchführen, um die von uns allen seit langem verspro-chene große BAföG-Reform zu finanzieren. Das würdeich gerade noch hinnehmen, auch wenn es finanzpoli-tisch unsolide ist.Wenn Sie Ende des Jahres ein Konzept für dasBAföG vorlegen – vielleicht einigen Sie sich nochmit dem Herrn Berninger –, heißt das noch lange nicht,daß irgendwann Geld fließt. Der Finanzminister hatschon erklärt, er wolle im Jahr 2001 über die nächsteStufe des Familienleistungsausgleichs entscheiden unddabei auch Ihre BAföG-Reform berücksichtigen. Aufdeutsch heißt das: Das Geld fließt frühestens im Jahr2002. In der „Frankfurter Rundschau“ habe ich gelesen,daß der Kollege Berninger Angst hat, daß dann dernächste Vorwurf einer Wahlkampflüge auf Sie zu-kommt.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Hans-Josef
Fell von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich bin sehr froh darüber, daß esFrau Ministerin Bulmahn auch in diesem Jahr gelungenist, den Gedanken der Zukunftsmilliarde aufrechtzuer-halten.
Der Bildungs- und Forschungshaushalt konnte sichangesichts der notwendigen Sparbemühungen gut be-haupten. In den nächsten Jahren ist trotz Haushaltssanie-rung sogar wieder mit einem kräftigen Aufwuchs zurechnen. Die Bildungs- und Forschungspolitik der Bun-desregierung unterscheidet sich damit deutlich von deralten Bundesregierung, die Schulden anhäufte, Ausga-ben steigerte und dennoch bei den Zukunftsinvestitionenkräftig kürzte.
Die Begründung für die Hervorhebung der Bildungund Forschung ist ebenso überzeugend wie einfach. Hierwird in die Zukunft investiert. Jede Mark, die wir in Bil-dung und Forschung ausgeben, kann dazu führen, daßdas Mehrfache wieder hereinkommt, ganz zu schweigenvon der Bedeutung für die Lösung wichtiger Problemeund für das Wissensbedürfnis der Menschen.Zur Zukunftsfähigkeit dieses Landes gehört aberauch, daß der Staat handlungsfähig ist, daß er auch inBildung und Forschung, Infrastruktur usw. investierenkann
und die Einnahmen nicht im Schuldendienst verschwin-den. Schon die Regierung Kohl war angetreten, dieSchulden zu verringern. Sie hat kläglich versagt.
Ein Scheitern der neuen rotgrünen Bundesregierungkann sich dieses Land nicht leisten. Ein Scheitern würdezwangsläufig bedeuten, daß dieses Land in der Schul-denfalle hängenbleibt. Für die Durchsetzung des ehrgei-zigen Sparpaketes ist es wichtig, daß alle mitmachen.Anderenfalls ist die Gefahr groß, daß die Akzeptanz zugering wird und das ganze Projekt scheitert. Daher warMinisterin Bulmahn gut beraten, Teamgeist zu zeigenund keine Sonderrolle einzufordern.Besonders in finanziell schwierigen Zeiten ist eswichtig, das Geld, das man hat, sinnvoll auszugeben.
In diesem Haushalt werden neue Akzente gesetzt. Vorallem die Forschungsbereiche werden gestärkt, bei de-nen der Nutzen für die Gesellschaft im Vordergrundsteht. Ich möchte einige Beispiele hervorheben.Ganz besonders freut mich als Mitglied des Verteidi-gungsausschusses die Entwicklung bei der Friedens- undKonfliktforschung. Nachdem es uns 1999 gelungen ist,die Friedens- und Konfliktforschung wieder zu etablie-ren – sie war aus Ihrem Haushalt fast völlig verschwun-den –, werden wir die Mittel im Jahre 2000 sogar ver-dreifachen.
Im Mittelpunkt werden unter anderem die Forschungzur konstruktiven Konfliktbearbeitung und die For-schung zur Voraussetzung zukunftsfähiger Sicherheits-und Friedensprozesse stehen. Die Fraktion Bündnis90/Die Grünen bewertet Technologien vor allem nachderen Nutzen und Risiken. Es ist daher erfreulich, daßDr. Gerhard Friedrich
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im Haushalt 2000 die Mittel für die Technikfolgenab-schätzung erneut kräftig steigen.
Der Zuwachs um 40 Prozent auf 7 Millionen DM wirdunter anderem folgenden Bereichen zugute kommen: derTechnikanalyse und der Technikbewertung sowie dervorausschauenden Gestaltung von Rahmenbedingungenbei Innovationen.
In diesem Zusammenhang möchte ich meine Freudedarüber zum Ausdruck bringen, daß wir im Haushalt desBundestages wie versprochen den Titel für das Büro„Technikfolgenabschätzung“ auf 4 Millionen DM erhö-hen werden.
Im Augenblick stehen so wichtige Projekte an wie dieAbschätzung der Potentiale erneuerbarer Energien, dieFolgen des Atomausstiegs und das Potential von Ener-giepflanzen in der dritten Welt. Daß Ihnen, Herr Fried-rich, das nicht wichtig ist, ist mir klar. Denn die Frage,wie sich Großtechnologien in der Zukunft auswirken,haben Sie ja immer ignoriert.Wie schon 1999 werden auch im Jahr 2000 die Mittelfür die Nachhaltigkeitsforschung kräftig ansteigen.
So werden in den Bereichen Klima- und Atmosphären-forschung neue Programme aufgelegt. Es wird das neueForschungsprogramm „Biodiversität“ geben und einneues Projekt bezüglich der globalen Veränderungen imWasserkreislauf mit speziellem Fokus auf die Nieder-schläge vor Ort entwickelt. Ich bin sehr zuversichtlich,daß sich in absehbarer Zeit auch die alte rotgrüne Forde-rung nach einer Förderung kleiner und mittlerer Instituteim Bereich der Nachhaltigkeitsforschung verwirklichenläßt. Ich bin auch optimistisch, daß bei der Biotechnolo-gie neue Akzente vor allem in der Sicherheitsforschunggesetzt werden.Meinen besonderen Respekt möchte ich Frau Mi-nisterin Bulmahn auch hinsichtlich des Bereiches derRaumfahrt zukommen lassen.
Ihr gelang es, sich auf der ESA-Ministerkonferenz aufsinnvolle Projekte zu konzentrieren und Arbeitsplätze zusichern.
Zugleich konnten die Ausgaben stabil gehalten werden,und es wurde den weitaus übertriebenen Forderungender Opposition nicht nachgegeben.
Mindestens ebenso wichtig wie die Verteilung derMittel zwischen den Titeln ist deren Verwendung inner-halb der einzelnen Forschungsbereiche. So ist der An-satz des Ministeriums löblich, das Leitbild einer nach-haltigen Entwicklung zur Leitlinie der Forschung zumachen. Dies kann nicht über Nacht geschehen. Mittel-und langfristig werden sich die Prioritätensetzungen al-lerdings ändern müssen.Lassen Sie mich zum Abschluß noch ein paar Wortezur Forschung im Haushalt des Bundesministeriumsfür Wirtschaft sagen; Frau Pieper hatte das ja ge-wünscht.
200 Millionen DM im Rahmen der Zukunftsmilliardesind für den Haushalt des Bundeswirtschaftsministeri-ums vorgesehen. Im ersten Regierungsentwurf warendiese Mittel leider nicht aufzufinden. Statt dessen wur-den vor allem die Mittel für nichtnukleare Energiefor-schung stark gekürzt. Es droht eine teilweise Beendi-gung der Forschung in den Bereichen erneuerbarerEnergien und Energieeffizienztechnologien. Für die Re-gierungsfraktionen ist es eine wichtige Aufgabe, dieseGefahr in den Haushaltsberatungen abzuwenden. Durchdie erfolgreichen Verhandlungen des Bundeswirt-schaftsministers mit den Vertretern des Bergbaus sindhierfür neue Spielräume entstanden. Diese müssen jetztauch genutzt werden.
Herr
Kollege Fell, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich bin gleich am Schluß. – Dann wird in allen For-
schungsbereichen der Zukunftsanspruch der Regierung
deutlich, so wie es Frau Bulmahn mit dem vorgelegten
Haushalt bereits verwirklicht hat.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Als
nächster Redner hat der Kollege Thomas Rachel von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter HerrPräsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Haus-haltsentwurf für das Jahr 2000 gibt Anlaß zu einer erstenBilanz der bisherigen Amtszeit der Bundesbildungs- und-forschungsministerin Edelgard Bulmahn. In ihrer erstenRede als Ministerin am 12. November 1998 hat sie ge-sagt – ich zitiere –:Wenn der Bundeskanzler in seiner Regierungser-klärung die Verdoppelung der Zukunftsinvestitio-nen in Bildung und Forschung angekündigt hat,dann ist das mehr als ein Symbol.So weit die Ankündigung.Hans-Josef Fell
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4962 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Jetzt zur Realität nach knapp einem Jahr Regierungs-zeit: Nimmt man die damaligen Ausgaben für Bildungund Forschung zum Maßstab, hätte eine Verdoppelungbedeutet, daß 3 Milliarden DM pro Jahr zusätzlich mo-bilisiert werden müssen. Im Wahlkampf hatte die SPDsogar eine Garantiekarte verteilt. Auf der war zu lesen:Wir versprechen eine Verdoppelung der Investitionenin Bildung und Forschung in fünf Jahren.Dauerhaften Bestand haben diese Aussagen nicht ge-habt.
Tatsächlich sinkt der Bildungs- und Forschungshaushaltvon 14,93 Milliarden DM in 1999 auf 14,58 MilliardenDM im Jahr 2000. Von einer Verdopplung kann keineRede sein: Er sinkt um 340 Millionen DM.
Meine Damen und Herren, wer die Menschen miteiner Garantiekarte und mit der Regierungserklärung desKanzlers dermaßen täuscht, der verspielt das Vertrauender Menschen. Noch nie hat eine Bundesregierung in sokurzer Zeit die Erwartungen der Menschen so enttäuschtwie diese Regierung. Die Quittung dafür haben Sie beiden letzten Wahlen bekommen.
Sie haben für Ende dieses Jahres das Konzept dergroßen BAföG-Reform angekündigt. Das Bundeskabi-nett hat aber im Sparpaket beschlossen:Über die Ausgestaltung des Familienleistungsaus-gleichs ab 2002 entscheidet die Bundesregierung ...im Zusammenhang mit der Reform der Ausbil-dungsförderung.Die Bundesregierung plant also, die große BAföG-Reform erst im Jahr 2002 zu realisieren. Der Präsidentdes Deutschen Studentenwerks, Professor Rinkens,kommentiert das mit den Worten:Die sang- und klanglose Verschiebung der BAföG-Reform ist ein Skandal.Recht hat der Mann.
Das Studentenwerk sagt weiter:Offenbar setzt Ministerin Bulmahn ihre Prioritätennicht im Bereich der Ausbildungsförderung. Hierfehlt der politische Wille, der jungen Generation inDeutschland bessere Zukunftschancen zu verschaf-fen.Richtig sagt dies das Studentenwerk.Frau Bulmahn, so kommen Sie nicht durch. Offenbarist das auch den Grünen peinlich. Der Bonner „General-Anzeiger“ berichtete am 13. Juli über die Kritik des grü-nen Bundestagsabgeordneten Matthias Berninger,
schon die Wahlversprechen, Studiengebühren zu ver-bieten und Bildungsausgaben zu verdoppeln, habe dieKoalition nicht gehalten. Weiter sagt er:Wenn wir unser drittes Versprechen jetzt auch nichthalten, machen wir uns vollends unglaubwürdig.Recht hat der Kollege Berninger.
Sie gliedern über 500 Millionen DM an BAföG-Darlehen aus dem Haushalt aus; die Ausgleichsbank sollsie übernehmen. Die Leistung fällt weg; die Mittel blei-ben aber verfügbar und werden an anderer Stelle ver-frühstückt. Genau das, Frau Bulmahn, ist Ihr strategi-scher Fehler. Hier hätte die einzigartige Chance bestan-den, wenigstens einen Teil der durch die Umschichtunggewonnenen 549 Millionen DM für eine durchgreifendeVerbesserung der Situation der BaföG-Bezieher zu nut-zen. Aber genau da versagen Sie.
Sie sind die Antwort schuldig geblieben, wie Sie an-gesichts der langfristigen Streichpläne von Minister Ei-chel in den kommenden Jahren „fresh money“ für einegroße BAföG-Reform mobilisieren wollen. Ich finde,die BAföG-Studenten haben ein moralisches Anrechtdarauf, daß die durch die Finanzoperation freiwerdendenBAföG-Mittel tatsächlich für eine BAföG-Reform ge-nutzt werden. Sie versagen an dieser Stelle.
Wir sind uns mit Ihnen einig, daß im Rahmen einerDienstrechtsreform eine stärker leistungsorientierte Be-soldung der Professoren an den Hochschulen erreichtwerden soll. Wir werden dabei konstruktiv mitarbeiten.Ein Fehler war allerdings, daß Sie den Deutschen Hoch-schulverband mit dem Präsidenten Schiedermair alsVertretung der Universitätsprofessoren nicht als voll-wertiges Mitglied in die Kommission berufen haben. Ei-ne solche Reform kann man nicht gegen die Betroffenenmachen; vielmehr muß man sie mit den Betroffenengemeinsam realisieren.Katastrophale Auswirkungen hat das von Ihnen be-schlossene 630-Mark-Gesetz auf die Hochschulen inunserem Lande. 55 000 junge Menschen sind wissen-schaftliche Hilfskräfte. Sie jobben auf 630-Mark-Basis.Sie korrigieren Klausuren, halten Aufsicht in den Bi-bliotheken, leiten Tutorien. Durch das 630-Mark-Gesetzmüssen die Hochschulen zusätzlich 10 Prozent an Kran-ken- und 12 Prozent Rentenversicherungsbeiträgen zah-len. Pro 630-Mark-Kraft entstehen Zusatzkosten von138,60 DM. Mehrkosten für die Universitäten: 400 000DM für die Uni Potsdam, 1,2 Millionen DM für die UniHeidelberg, 1,9 Millionen DM für die Uni Erlangen, 1,6Millionen DM für die Uni Karlsruhe. Wie sollen dieHochschulen diese von Ihnen zu verantwortendenMehrkosten bezahlen, Frau Ministerin? Wer ein solches630-Mark-Gesetz beschließt, muß bei den UniversitätenThomas Rachel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4963
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im Gegenzug die anfallenden Mehrkosten ausgleichen.Aber genau das tun Sie nicht.
Sie verursachen mehr Personalkosten bei den studen-tischen Hilfskräften in Höhe von 22 Prozent. Die Unisbekommen kein weiteres Geld, als Konsequenz reduzie-ren sie die studentischen Hilfskraftstellen. TausendeStudenten bangen um ihre Jobs, die Zahl der Tutorienwird zum Nachteil der Studierenden reduziert, und dieUniversität Erlangen zum Beispiel schließt ihre juristi-sche Bibliothek drei Stunden früher als bisher.Meine Damen und Herren, nach unserer Auffassungist das eine falsche Politik. Sie haben den Bezug zurWirklichkeit an den Hochschulen längst verloren.
Frau Bulmahn, ohne Zweifel sind Sie eine kompe-tente Bildungs- und Forschungspolitikerin, aber die Artund Weise, in der Sie Ihr Ressort führen, ist farb- undideenlos. Seit Ihrem Amtsantritt ist die Forschungspoli-tik in der öffentlichen Debatte abgesoffen. Dies wirdauch von der Wissenschaft kritisiert.Frau Bulmahn, warum hat die Bundesregierung diegroßartige Einrichtung des Technologierats beim Bun-deskanzler aufgegeben? Warum werden, nachdem Sieerhebliche Kompetenzen abgegeben haben, bei derEnergieforschung und den erneuerbaren Energien29 Millionen DM gekürzt? Vor der Wahl haben Sie ge-nau das Gegenteil angekündigt.
Mit Ihrem bürokratisierten Gesundheitsreformgesetzschaden Sie Deutschland als Standort für Innovationen.Sie bauen eine neue Innovationshürde auf, indem Arz-neimittelinnovationen nach ihrer Zulassung nicht mehrautomatisch verordnungsfähig sein sollen.
Vielmehr soll eine Zweitprüfung aller Arzneimittel ein-geführt werden, was den Marktzugang verzögert undenorme Kosten für die forschungsintensive pharmazeuti-sche Industrie bedeutet.Jeder weiß, daß rund 500 Millionen US-Dollar für dieEntwicklung eines neuen Medikaments aufgewendetwerden müssen. Die verzögerte Markteinführung einesneuen Medikaments kostet 1 Million DM pro Tag. Da-mit ist klar, daß die Zweitprüfung der Arzneimittel eineschädliche Innovationshürde darstellt, die unseremStandort schadet.
Sehr geehrte Damen und Herren, in den letzten Jah-ren haben wir die Patentamtsgebühren gesenkt, um dasErfindungswesen zu fördern. Wir wollen, daß wirt-schaftlich nutzbare Forschungsergebnisse in Deutsch-land in Patente umgesetzt werden, damit die Erfindun-gen kommerziell genutzt werden können. Was macht dierotgrüne Bundesregierung? Sie hat die massive Anhe-bung der Patentgebühren beschlossen.Allein im nächsten Jahr wollen Sie 48 Millionen DMzusätzlich bei Tüftlern und Erfindern eintreiben.
Vor der Wahl das Schlagwort von der Innovation, undnach der Wahl torpedieren Sie sie mit Gebührenerhö-hungen! Das ist heuchlerisch.
Sie dämpfen mit dieser Gebührenerhöhung die An-meldetätigkeit und das Innovationsklima. Der Bundes-verband der Deutschen Industrie und die Forschungsein-richtungen der Helmholtz-Gemeinschaft haben gegendiesen forschungspolitischen Unsinn protestiert. Es gibtauch keine sachliche Begründung für eine Gebührener-höhung in Höhe von 48 Millionen DM. Das DeutschePatent- und Markenamt weist nämlich jährlich steigendeJahresüberschüsse auf. Allein 1997 waren es 58 Millio-nen DM an Überschüssen und 1998 63 Millionen DM.Ihnen geht es also nur darum, die Löcher in Ihrem all-gemeinen Bundeshaushalt zu stopfen. Sie vernichten dieInnovationsbedingungen in unserem Land.
Schauen Sie doch einmal, was andere Länder ma-chen! Das Europäische Patentamt und auch die Patent-ämter in den USA und Japan haben durch drastischeGebührensenkungen bei den Patenten Innovationssti-mulierungen vorgenommen. Sie bringen die Patentge-bühren in die Nähe einer Patentsteuer. Damit untergra-ben Sie die Tätigkeit der Erfinder und die Umsetzungihrer Erfindungen in kommerziell zu nutzende Produkte,aus denen Arbeitsplätze entstehen.Herr Hilsberg, das, was Sie offensichtlich nicht ver-standen haben, ist: Die Patente von heute sind die Ar-beitsplätze von morgen. Deshalb ist Ihre Politik verfehlt.
Die vollmundigen Ankündigungen der Bundesregie-rung haben sich ins Nichts verflüchtigt. Ihnen fehlt diepolitische Kraft und auch der Wille, den Zukunftsinve-stitionen Priorität einzuräumen. Von einem Aufbruch inRichtung Modernität und Innovation ist nichts zu sehen.Im Gegenteil: In vielen Feldern verschlechtern Sie dieRahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung.Das geht zu Lasten der Entwicklungsfähigkeit unseresLandes und damit zu Lasten der nächsten Generation.An der Schwelle zum dritten Jahrtausend hatten wir vonIhnen etwas anderes erwartet.Herzlichen Dank.
Alsletzter Redner zu diesem Themenbereich hat das Wortder Kollege Jörg Tauss von der SPD-Fraktion.Thomas Rachel
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4964 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Liebe Kolleginnen, liebe Kolle-gen! Ich sehe schon, Sie fiebern meinen Ausführungenentgegen.
Es besteht aber das kleine Problem, daß man Ihnen vor-halten muß, daß Sie nicht rechnen können. Aber Siekönnen miesmachen. Und darüber werden wir heutenoch ein wenig miteinander diskutieren, ob es Ihnenpaßt oder nicht.Frau Böttcher, Sie haben hier über die Geisteswis-senschaften geredet. Das Problem ist, daß auch Sie,obwohl Sie sich ein wenig von der anderen Seite derOpposition unterscheiden, nicht rechnen können. Alleinbei den Geisteswissenschaften gibt es eine Aufstockungvon 29 auf 31 Millionen DM. Im Forschungs- und Ge-sundheitswesen, das Sie hier kritisiert haben, gibt es eineAufstockung von 159 auf 178 Millionen DM. Was Siemachen, ist Miesmacherei; das ist das Problem.Die schlimmste Miesmacherei betrifft das Aktions-programm für Jugendliche. Allein in meinem Wahl-kreis ist die Jugendarbeitslosigkeit in einzelnen Ar-beitsamtsbezirken dank des Programms um bis zu 25Prozent zurückgegangen. Ich bin stolz darauf, daß wirdas so gemacht haben.
Hören Sie deshalb auf, hier einen solchen Blödsinn zuerzählen!
– Nun blöken Sie doch nicht herum, Herr Fischer. Siehaben doch die Konferenz in unserem Wahlkreis mitVertretern des Handwerks, des Arbeitsamts und derAusbilder miterlebt. Alle waren voll des Lobes und ha-ben gesagt: Dieses Programm muß fortgesetzt werden.Die größte Sorge war, daß es nicht kontinuierlich fortge-führt wird.
Also auch hierzu kommt von Ihnen nichts als Luftblasenund Unfug. Was Sie hier abziehen, ist unerträglich.
Nun zu Frau Pieper. Wo ist sie denn? Wo ist über-haupt Herr Möllemann, unser Ausschußvorsitzender?Also gut, richten Sie Frau Pieper, die hier eine großeKlappe riskiert hat, einfach aus: Was sie hier vorgetra-gen hat, war nichts als Blödsinn. Sie hat hier Zahlen desStudentenwerks aus 1998 vorgelesen und kritisiert, alsoZahlen aus der Zeit, als Sie an der Regierung waren.Und das hat sie uns vorgehalten. – Es wird albern undmacht kaum Spaß, darüber mit Ihnen eine Diskussion zuführen.
Zu den Studiengebühren. Herr Rachel, es kommenmir gleich die Tränen.
– Ich muß schreien, damit einige von Ihnen aufwachen.Sie merken ja noch nicht einmal, was in diesem Land losist. Das ist das Problem.
Herr Rachel, es ist das Land Baden-Württemberg, dasbis heute einen Kompromiß bei den Studiengebührenverhindert. Das ist ein Land, das von Ihnen regiert wird.Sie werfen uns vor, was der baden-württembergischeWissenschaftsminister in seiner Trampelei in diesemLand anrichtet. Das ist nicht zu ertragen.
Kommen wir noch einmal auf den Technologierat zusprechen! Herr Rachel, dieser Kanzler braucht im Ge-gensatz zu Kohl – ich erinnere nur an die Datenauto-bahn, die er mit einer normalen Autobahn verwechselthat – nicht auf allen Gebieten Rat. Er holt sich den Ratgezielt dort, wo er ihn braucht. Es gab im Technologie-rat einen großen Frust darüber – das muß man an dieserStelle auch einmal sagen –, daß die Vorschläge, die demalten Kanzler damals gemacht wurden, nicht umgesetztworden sind. Das war das Problem. Deswegen schaffenwir neue Instrumentarien.Nun komme ich noch zu einzelnen Punkten desHaushaltsetats der neuen Bundesregierung: Der Einzel-plan 30 des Forschungsministeriums ist – dieses Kom-pliment muß man Ihnen, Frau Ministerin, machen – derBeleg für die Trendwende in der deutschen For-schungspolitik:
weg von der Sprechblasenproduktion aus der Rüttger-schen Seifenfabrik hin zu einer Neuorientierung aufwichtigen Feldern. Trotz schwierigster Haushaltslagehaben wir Schritt für Schritt das umgesetzt, was wir an-gekündigt haben.
– Was heißt: Das ist das Schlimme? Was werfen Sie unseigentlich vor? Werfen Sie uns vor, daß wir die Ankün-digungen eingehalten oder daß wir sie nicht eingehaltenhaben? Darüber müssen Sie sich einmal klarwerden.Wir haben das, was wir angekündigt haben, umge-setzt. Die Bildungs- und Forschungsministerin hat sichbeim Finanzminister durchgesetzt. Das war allerdingsnicht schwer, weil er an Bildung und Forschung interes-siert ist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4965
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Wenn sich Jürgen Rüttgers damals so durchgesetzt hätte,wie sich heute Edelgard Bulmahn durchgesetzt hat, hät-ten wir die Probleme, die wir heute haben, nicht.
Zu Ihrem neuen Hoffnungsträger, der durch die Talk-Shows gereicht wird: Wenn sich Jürgen Rüttgers fürNordrhein-Westfalen so interessiert wie für sein Mi-nisterium, ist allein seine Kandidatur eine Zumutung fürdie Menschen in Nordrhein-Westfalen. Auch das wollenwir einmal klar sagen.
– Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen.
– Ich rege mich überhaupt nicht auf. Ich versuche, Ihnenein wenig das nahezubringen, über das wir heute abendreden. Sie haben noch nicht einmal in den Haushaltsplangesehen, über den Sie heute irgendwelche Sprüche ab-gegeben haben.Was wir mit dem Zukunftsprogramm vorgelegt ha-ben, wird von den Forschungseinrichtungen gewürdigt.Diese Woche waren wir bei den Forschungseinrichtun-gen der Helmholtz-Gemeinschaft. Dort gab es keineSpur von Kritik. Keiner hat gesagt: Wir leiden untereiner zu geringen Mittelausstattung. Alle sind dankbardafür, daß wir ihre Arbeit auf eine finanziell sichereGrundlage gestellt haben: klare Konzeption, klare Wei-chenstellungen, solide Finanzen.
Das ist das Konzept moderner Forschungspolitik, für daswir stehen und auf das wir stolz sind.Der Kollege Fell hat zum Thema Raumfahrt – dasist ja ein Hobby von Ihnen, Kollege Fell, wahrscheinlichnur, weil es da dampft und raucht und das damals ambesten zu der von Herrn Schäuble so genannten „Kra-wallopposition“ paßte – schon darauf hingewiesen, daßdie Ministerin einen Kompromiß auf europäischer Ebe-ne zustande gebracht hat. Übrigens verstehe ich die PDSauch hier nicht so richtig: Ihr drescht reflexartig – undimmer technikfeindlich – auf dieses Feld ein, obwohlauch Forschungseinrichtungen und Betriebe in den neu-en Bundesländern, zum Beispiel auf dem höchst interes-santen Feld der Kleinsatelliten, profitieren. Wir habenuns um diesen Bereich gekümmert, genauso darum, daßdie europäischen Trägerraketen Spitze bleiben und wei-terentwickelt werden. Auch diesen Erfolg der Ministerinwollen Sie am heutigen Abend miesmachen.
Sie reden zwar immer von der Bedeutung der Raum-fahrt, und ich nehme es Ihnen ja ab, daß Sie Ihr Herzblutdafür hingeben – wahrscheinlich ebenfalls, weil esdampft und raucht –, aber auch in diesem Bereich habenSie uns keine seriöse Finanzplanung hinterlassen. Dasist jetzt ungerecht: Ich kann noch nicht einmal sagen,Sie hätten uns eine unseriöse Finanzplanung hinterlas-sen. Nein, Sie haben uns überhaupt keine Finanzplanunghinterlassen. Das ist das Problem, vor dem wir hier ste-hen.
Sie haben dafür keine Mittel eingestellt, das waren – dashaben wir auch auf allen anderen Feldern zur Kenntnisnehmen müssen – Luftbuchungen. Letztendlich – daswäre die Wirkung – ginge die Raumfahrt bei beiden ka-putt: bei der PDS wegen deren Technikfeindlichkeit, beider CDU wegen ihrer „Weiter-so-Haltung“.Man kann, meine Damen und Herren von der Union,viele Menschen einige Zeit lang täuschen, aber nicht alleMenschen über die ganze Zeit. Dieses Kalkül wird nichtaufgehen.
Aber reden wir jetzt noch ein bißchen von der Zu-kunft und nicht von der CDU.
Wir haben in der IuK-Technologie – das ist dem Haus-haltsentwurf zu entnehmen – große Anstrengungen un-ternommen. Das ist zukunftsgerecht und war auch inso-fern dringend nötig, als die alte Bundesregierung keinenBeitrag geleistet hat, um hier Arbeitsplätze zu schaffen.Das Internet
– die Datenautobahn; das, was Ihr Kanzler mit der Au-tobahn verwechselt hat – hat unserer Ansicht nach vorallem Rationalisierungspotentiale geschaffen. Und inden USA sind dadurch Jobs entstanden. Dieser Bereichist eines der kläglichsten Versäumnisse der alten Bun-desregierung. Es gab keine Internet-Politik. Sie wußtennoch nicht einmal, was das ist, und deswegen haben Sieauch nichts getan.
– Daß Sie es jetzt wissen, darüber bin ich ganz froh.Dann können wir darüber wenigstens gemeinsam disku-tieren. Aber heute abend hatte ich nicht das Gefühl.Wir wollen, daß das eingesetzte Geld mehr bringt.Deshalb werden wir darauf achten – das haben wir auchbeim Deutschen Forschungsnetz diskutiert –, daß Inve-stitionen tatsächlich zu Spin-offs, wenn möglich zu Un-ternehmensgründungen führen. Genau das, was Sie ver-säumt haben, werden wir nachholen, und deshalb wirdes in diesem Bereich zu Unternehmensgründungenkommen.
– Regen Sie sich nicht auf! Wir werden das ganz gedie-gen in aller Ruhe machen.Jörg Tauss
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In der Biotechnologie, in der Genomforschung müs-sen selbverständlich vorhandene Chancen genutzt undRisikopotentiale erforscht werden. Das wollen wir tun.Die Sorge der Menschen vor Risiken muß man ernstnehmen. Man muß wissenschaftlich, nicht mit Lippen-bekenntnissen – ich glaube, da sind wir uns mit denFraktionskollegen der Grünen einig –, den Nachweiserbringen, was gegenüber Mensch und Natur auch künf-tig verantwortet werden kann. Sie haben in Ihrer Regie-rungszeit den Anschluß zu den USA verloren – genausowie in anderen modernen Technologien –, wir wollenihn wieder herstellen. Das ist das Problem: Sie habendarüber geredet und dabei versagt. Wir reden nicht, son-dern handeln.
Zum Thema Patentierung. Ich habe bei Ihnen keineAnsätze einer international ausgerichteten Patentie-rungspolitik bemerkt, wie sie Herta Däubler Gmelinmomentan verfolgt, die sich um Fragen der Genompa-tentierung, der Softwarepatentierung und ähnlicheskümmert.Verantwortung gegenüber Mensch und Natur –ein, wie ich glaube, ganz wichtiges Thema –, das istüberhaupt die Philosophie, die dem Einzelplan 30zugrunde liegt.
– Natürlich ist das eine traumhafte Rede, Frau Kollegin.Sie kennen mich ja.Das Thema der nachhaltigen Entwicklung, die Ver-antwortung für kommende Generationen, zieht sich wieein roter Faden durch den Forschungsetat. Wir begrüßendas sehr, Frau Ministerin Bulmahn.Gleichzeitig begrüßen wir Ihr Bekenntnis zur Frie-dens- und Konfliktforschung, das Sie, liebe F.D.P., auchzu Zeiten, in denen Sie den Außenminister stellten, stetsabgetan haben. Nicht nur Kosovo und Bosnien, sondernjetzt auch Osttimor haben gezeigt, daß ethnische Kon-flikte vorhersehbar sind. Unsere Aufgabe ist es, alles zutun, um solches Morden künftig zu vermeiden, oder zu-mindest zurückzudrängen.
Das ist eine ganz wichtige ethische Verpflichtung. Des-wegen haben wir dafür Geld eingestellt und das in dieHand genommen.
Verantwortung für diesen Planeten findet auch in un-serem Bekenntnis zur Erdforschung Ausdruck. Das istPolitik der Nachhaltigkeit, nicht nur ein Gerede darüber.Wir müssen unseren Planeten besser verstehen lernen.
– Ja, besser verstehen lernen. Herr Austermann, Sie ver-stehen das nicht. Wir müssen ihn besser verstehen ler-nen, um ihn schützen zu können, um mit natürlichenRessourcen besser umgehen zu können und um eineverantwortliche Energiepolitik zu betreiben, die wir beiIhnen über all die Jahre vermißt haben.
Sie sind auf alten Schienen gefahren. Wir machen kein„Weiter so!“, wir machen das Neue.Ein wichtiges Beispiel ist übrigens auch die Vorher-sehbarkeit von Naturkatastrophen. Es ist tragisch, aberdas Erdbeben in der Türkei war vorhersehbar. Obwohlbereits ein entsprechendes Projekt begonnen wurde, kamdie Warnung für viele Menschen zu spät. In diesem Be-reich wollen wir mehr tun. Das hat ökonomische Be-deutung; aber die verblaßt ganz zweifellos, wenn es nurein verschüttetes Kind, geschweige denn Tausende vonToten weniger gäbe. Auf diesen Bereich setzen wir ei-nen Schwerpunkt.
Zu den 630-Mark-Jobs. Herr Rachel, bleiben Sie dieGeringfügigkeitspartei, wir sind die Zukunftspartei.
Wir haben dieses Thema an vielen Stellen diskutiert. DieBundesregierung stellt – Herr Gysi hat heute Blödsinngeredet; das müssen Sie ihm ausrichten –, für die neuenBundesländer, von Sachsen bis Mecklenburg, 500 Mil-lionen DM für Inno-Regio zur Verfügung.
Das ist ein stolzer Betrag für die Vernetzung von Wis-senschaftseinrichtungen.
Herr
Kollege Tauss, Sie haben Ihre Redezeit bereits weit
überschritten. Kommen Sie zum Schluß!
Das tut mir leid, deswegen der
letzte Satz, Herr Präsident: Wir sorgen für Aufbruch-
stimmung.
Herr Friedrich, ein Vorschlag: Lesen Sie vor unseren
nächsten Beratungen einfach einmal den Haushaltsplan!
Bereiten Sie sich ordentlich vor! Dann reden wir wenig-
stens über dieselben Zahlen; und vielleicht wird das
dann auch noch konstruktiv. Das wäre sinnvoll. Darauf
würde ich mich freuen.
DieRednerliste ist nun abgeschlossen.Jörg Tauss
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Damit kommen wir zum nächsten Themenbereich,nämlich dem Geschäftsbereich des Bundesministe-riums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.Gleichzeitig rufe ich die Tagesordnungspunkte 2 aund 2 b auf: a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Ver-kehr, Bau- und Wohnungswesen
gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu demAntrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kan-sy, Dirk Fischer , Eduard Oswald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUDas Wohngeld jetzt und familiengerecht re-formieren– Drucksachen 14/292, 14/1580 –Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Spanier b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christi-ne Ostrowski, Eva-Maria Bulling-Schröter, Ger-hard Jüttemann, weiterer Abgeordneter und derFraktion der PDSNovellierung des Wohngeldgesetzes zum 1.Januar 2000– Drucksache 14/1346 –
Auf der Schiene werden noch 16 Prozent der Gütertransportiert. 1970 betrug ihr Anteil noch 32 bis 34 Pro-zent. Wir wissen, daß parallel zum Wirtschaftswachstumimmer auch ein Wachstum im Güterverkehr vorhandenist. Wenn man einmal fünfzehn Jahre nach vorne blickt– das ist eine Dimension, die in der Verkehrsplanungnicht zu lang ist –, dann kann man sehen, daß in dennächsten 10 bis 15 Jahren der Güterverkehr um rund 25Prozent wachsen wird. Diesen Anstieg kann die Straßenicht verkraften. Wenn deshalb die dazukommendenGüter auf der Schiene transportiert werden sollen, dannmuß sich das Volumen des Schienentransportes verdop-peln bis verdreifachen. Diese riesige, vor uns liegendeAufgabe muß organisiert werden.Wir werden deshalb die Lkw-Gebühr im Jahre 2002einführen. Die Vorbereitungen dazu laufen.
Sie wird bewirken, daß der Lkw-Transport auf den lan-gen Strecken teurer wird. Diese Gebühr kann flexibelgestaltet werden. Nach ihrer vollständigen Einführungkann sie nach Zeit und Entfernungskilometern bemessenwerden. Sie wird damit für all diejenigen, die Gütertransportieren, ein Ansporn sein, zu überlegen, ob esnicht auf der langen Strecke günstiger ist, auf die Schie-ne oder auf das Wasser umzusteigen.
Auf der kurzen und auf der mittleren Strecke ist derLkw unschlagbar. Diese Tatsache muß man sehen.Ebenso muß man anerkennen, daß die Lkws sehr vielökologiefreundlicher geworden sind. Auf der langenStrecke müssen wir aber den Weg auf die Schiene undauf das Wasser finden. Dazu wird es nötig sein, die Ei-senbahn europäischer zu gestalten, als sie bisher ist. Eswar eine Aufgabe unserer Präsidentschaft im erstenHalbjahr diesen Jahres, durch intensives Bemühen unse-rerseits dafür Verständnis in Europa zu finden. Ich mußaber leider sagen: Es müssen noch viele Vorbehalte aus-geräumt werden.Wir haben 16 verschiedene Signalsysteme, zwei ver-schiedene Schienenbreiten und sechs verschiedeneStromaggregatsysteme bei der Bahn. Das muß sich än-dern. Wir müssen diese Aufgabe in unserem Lande an-Jörg Tauss
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4968 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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gehen und auf der europäischen Ebene weiter vorantrei-ben.Wir müssen im Rahmen unserer Verkehrspolitik dasintegrierte System, welches wir im Bundesverkehrswe-geplan, der zwischen 2000 und 2002 weiter entwickeltwird, darstellen, zu einem intelligenten System verknüp-fen. In diesem Zusammenhang geht es darum, wie wirdie Möglichkeiten der Telematik nutzen. Auf diesemGebiet könnten wir heute schon mehr unternehmen. DieBedeutung der Telematik wird zunehmen. In ihr liegt ei-ne Chance und eine Herausforderung. Die Chance derTelematik liegt darin, Verkehrsströme zu optimieren,indem Informationen direkt an das Gerät oder an das Sy-stem weitergegeben werden.Heute ist in der Verkehrspolitik nicht mehr das ein-zelne Gerät wie das Auto, das Flugzeug oder die Loko-motive von Bedeutung. Auf diesem Gebiet ist unsere In-dustrie top. Wir müssen uns dafür einsetzen, daß das Sy-stem zu einem in sich schlüssigen System weiterentwik-kelt wird. Darin liegt unsere Exportchance. Die Weltwartet darauf, wie man die großen Mobilitätsproblemelöst. Die großen Metropolen der Welt – im nächsten Jahrwerden wir dazu die Konferenz „Urban 21“ in dieserStadt durchführen – mit 20 Millionen bis 40 MillionenMenschen sind darauf angewiesen, daß man das Pro-blem der Mobilität löst. In 10 bis 20 Jahren werden fast60 Prozent der Menschen in diesen Metropolen wohnen.Darin liegt eine Chance und eine Herausforderung. Da-bei handelt es sich auch, wenn man so will, um eineentwicklungspolitische Aufgabe, über die wir nachden-ken müssen.
Abgesehen davon, daß unser Land – das gilt ins-besondere nach der Osterweiterung – Drehscheibe inEuropa sein wird, hat es eine entscheidende Funktion beider Entwicklung eines europäischen Verkehrssystems.Das ist eine riesige Herausforderung. Wir haben dazubeigetragen – ich habe das zusammen mit Frau Bulmahneuropaweit organisieren können –, daß ein eigenes,europäisch bestimmtes Satellitensystem entsteht. Diesesist auch industriepolitisch von großer Bedeutung.
Wir müssen uns in Europa auf diesem Gebiet stärkerengagieren. Wir wollen nicht von GPS und damit vonden USA abhängig sein. Wenn die Amerikaner ihrNachfolgesystem in den Jahren 2006/2007 fertiggestellthaben, müssen wir ein europäisch mitbestimmtes Sy-stem besitzen, damit wir selbst darüber entscheidenkönnen, wie wir es und unter welchen Bedingungen wires einsetzen können. Es handelt sich also um eine großeund spannende Aufgabe für integrierte und intelligenteVerkehrspolitik.
Das Thema Sicherheit besonders im Straßenverkehr,bleibt ganz obenan. Wir haben für diesen Bereich dieMittel erhöht. Denen, die vor Ort helfen, zum Beispielder Deutschen Verkehrswacht, dem Deutschen Ver-kehrssicherheitsrat, ein herzliches Dankeschön. DieZahlen der Schwerstverunglückten sind deutlich zurück-gegangen. Das ist ein Verdienst der Autoindustrie, aberauch der Politik und der vielen, die ehrenamtlich tätigsind.
Zum Thema Transrapid wollen Sie sicher auch einWort hören. Das will ich gerne tun. Die Magnetschwe-betechnik ist eine hochentwickelte Technologie. Wir ha-ben in unserer Koalitionsvereinbarung festgelegt: DieBundesregierung ist entschlossen, diese Technologie aufder Strecke Berlin–Hamburg, einer Referenzstrecke, zurealisieren. Der Transrapid wird zunächst einspurig mitder Ermöglichung von Begegnungsverkehr gebaut. DasBaurecht wird vorbereitet. Die Inbetriebnahme ist2006/2007 erreichbar.Das finanzielle Engagement des Bundes für den Bauder Strecke wird dabei nicht über die in der Koalitionvereinbarte Summe von 6,1 Milliarden DM hinausge-hen. Die Bundesregierung geht davon aus, daß das Indu-striekonsortium für den Transrapid und die DB AG alsBetreiber ihren Teil zur Realisierung beitragen.Unser Bemühen zielt darauf, die Chance der Magnet-schwebetechnik zu nutzen, sie zu realisieren. Auch an-deren Ländern, die an dieser Technologie interessiertsind, soll die Chance gegeben werden, einzusteigen unddiese Technologie in Zukunft zu nutzen.Ich gebe zu: Als ich in dieses Amt kam, war ich inSachen Transrapid neutral. Mit der Zeit wurde meineÜberzeugung immer fester, daß dies eine Technologieist, die wir nicht aufgeben sollten. Wir haben inDeutschland einige Male Dinge zu Spitzenleistungenentwickelt und anschließend nicht realisiert. Hier solltenwir versuchen, das zu tun. Wenn wir das so tun können,wie die Koalition es vereinbart hat, ist das, glaube ich,ein vernünftiger Weg.Was das soziale Wohnen angeht, so haben wir im„Programm soziale Stadt“ dafür gesorgt, daß wir stärkerals in den vergangenen Jahren unser Augenmerk aufStadtteile richten, die abzusinken drohen und denen wirdeshalb neue Impulse geben wollen.
Das ist ganz wichtig, damit die belastete Nachbarschaftentlastet wird. Wir wollen in Deutschland keine Gettosund keine Bronx. Dafür müssen wir aber auch etwas tun.
Dafür müssen die einzelnen Politikbereiche ihre Mög-lichkeiten zusammenführen und dafür Sorge tragen, daßvor Ort mit denen, die sich dort engagieren, Wohnungenmodernisiert werden und daß in solchen Stadtteilen vie-les neu organisiert wird, damit sich die Menschen in die-sen Stadtteilen wieder wohlfühlen. Stadtqualität ist Le-bensqualität. Es ist ganz wichtig, daß wir den Menschendies deutlich machen, gerade in den Stadtteilen, in denenman abzusinken droht.Die Stadtpolitik, die Kommunalpolitik wird uns –hoffentlich – auf Bundesebene in den nächsten Jahrenmehr als in den letzten Jahren beschäftigen.
Bundesminister Franz Müntefering
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Die Stadtentwicklung in Deutschland steckt in großenProblemen. Wir müssen alle miteinander dafür sorgen –ganz besonders in den großen Städten –, daß uns dortnichts wegrutscht. Auch das ist ganz wichtig für dieDemokratie. Ich denke, dazu sollten alle Parteien ihrenTeil beitragen.
Ein besonderes Problem gibt es in den neuen Län-dern. Wir haben begonnen, über eine Änderung im Be-reich des Altschuldenhilfe-Gesetzes zu Entlastungen zukommen. Hier müssen wir noch weitergehen.
Denjenigen Gesellschaften und Genossenschaften in denneuen Ländern, die sich bei der Privatisierung hartleibignicht bewegt haben, muß man nicht helfen. Ihnen mußman sagen: Ihr müßt euch bewegen! Aber denjenigen,die sich bewegt haben und die ihre Ziele erkennbar nichterreichen können, muß man helfen. Man kann nicht er-warten, daß in einer Stadt – ich will jetzt keinen Namennennen, es gibt ja mehrere davon –, die 20 Prozent Ar-beitslosigkeit hat, in der 20 Prozent der Wohnungenleerstehen und in der es eine rückläufige Bevölkerungs-zahl gibt, privatisiert wird. Es hat keinen Sinn, eine sol-che Gesellschaft oder Genossenschaft dem Risiko derPleite auszusetzen. Hier muß gründlich gearbeitet undkorrigiert werden; sonst werden wir in solchen Städtenbald große Pleiten haben.
Wir haben die Fortschreibung des KfW-Pro-gramms erreicht. Das ist gut. Es ist eine besondere Hilfefür die neuen Länder. Es wird auch in den nächsten dreiJahren mit insgesamt 10 Milliarden DM – mit entspre-chenden Quoten für die jeweiligen Länder in diesemTeil unseres Vaterlandes – zur Verfügung stehen.Das Wohngeld wird zum 1. Januar 2001 erhöht. Daswissen Sie; das ist ja verkündet worden. Ich hätte mirgewünscht, wir hätten die Erhöhung eher verwirklichenkönnen. Das war nicht möglich; dazu muß man stehen.Wir haben, was die Kassenlage betrifft, in diesemJahr eine Wahrhaftigkeit erlebt, von der man nur sagenkann: Wir werden in diesem Lande zu finanzieller Soli-dität zurückkehren.
Ich bin mir sicher, daß sich das auszahlen wird.
Wir werden mit unhaltbaren Versprechungen und mitder Methode von Wunsch und Wolke, mit der die alteKoalition marschiert ist, aufhören. Im Bundesverkehrs-wegeplan fehlen 80 bis 90 Milliarden DM. Sie habenVersprechungen gemacht und bei Menschen mit IhrerSpatenstichmentalität Illusionen geweckt. Das alles istaber nicht zu finanzieren. Die Enttäuschung gegenüberallen demokratischen Parteien ist groß. Deshalb sage ichIhnen: So kann das nicht weitergehen.
Wer in diesem Land stabilisieren will, der muß dafürsorgen, daß wir auf den Boden der Realität zurückkom-men. Alles, was im Bundesverkehrswegeplan steht, istmit mittelfristiger Finanzplanung, so wie Sie sie ange-legt haben, nicht zu finanzieren. Was Sie getan haben,ist unverantwortlich. Das werden wir den Menschen sa-gen.
Wir müssen den Menschen sagen, was Sache ist. Ichverspreche Ihnen: Die Menschen werden sehen, daß wirrecht haben; denn soziale Gerechtigkeit hat vor allenDingen auch eine Zeitdimension: Soziale Gerechtigkeitbedeutet nicht nur, daß man die Dinge heute gerechtverteilt, sondern auch, daß man etwas für die Generatio-nen, die nach uns kommen, in der Kasse läßt. Deswegenmüssen wir wieder solide Finanzen schaffen.
Der Haushalt 2000 umfaßt 49,75 Milliarden DM; dieInvestitionsquote beträgt 52,5 Prozent. Bei allem Spar-bedarf haben wir also die Investitionsquote hoch gehal-ten, weil wir wissen, daß wir sowohl bei den Verkehrs-trägern als auch bei den Gebäuden nachfinanzieren müs-sen. Das ist ja das zweite, was man Ihnen vorzuwerfenhat: Sie haben nicht nur auf Pump gelebt, sondern auchvon der Substanz.
Sie haben über Jahre hinweg nicht in der nötigen Weisein den Bestand der Infrastruktur investiert. Das mußheute nachgeholt werden. Das wird uns in den nächstenJahren noch schwer zu schaffen machen; denn man kannStraßen und Schienenwege nicht in kaputtem Zustandlassen, man muß sie reparieren. Hier muß aufgeholtwerden, weil in den letzten Jahren zuwenig in diesenBereichen getan wurde.
– Jetzt komme ich auf den Kollegen Fischer zu spre-chen, der gerade dazwischenruft: Die Investitionsquotevon 52,5 Prozent bedeutet im nächsten Jahr 500 Millio-nen DM mehr für Investitionen. Allein im Verkehrsbe-reich haben wir im Jahre 2000 700 Millionen DM mehrfür Investitionen zur Verfügung. Sie werden den Haus-halt ja noch lesen können; das werden Sie wohl nochschaffen. Ehe Sie nachher mit der Polemik beginnen,sollten Sie sich das einmal anschauen. Sie haben anStellen gespart, an denen es für viele Beteiligte eineZumutung war. An der entscheidenden Stelle, bei denInvestitionen, bleibt der Verkehrshaushalt auf der Höhe,wie ich es eben beschrieben habe. Die Hälfte davon wirdin den neuen Ländern, also in Ostdeutschland, einge-setzt. Bei der Bahn werden 6,8 Milliarden DM inve-Bundesminister Franz Müntefering
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stiert, etwas mehr als in diesem Jahr, und für den Lärm-schutz an der Schiene werden wieder 100 Millionen DMausgegeben.Der Lärmschutz ist eines der größten Probleme, daswir im Lande haben.
Darauf gibt es bisher keine Antworten. Wenn wir aberwollen, daß auf der Schiene mehr gefahren wird, dannmüssen wir hier Antworten finden. Denn die Menschensagen uns zu Recht: Um die Städte baut ihr Umgehungs-straßen, dort baut ihr Lärmschutzwände. Was macht ihran der Schiene?
– Die Schiene läuft in der Regel durch die Stadt, nichtum die Stadt herum. Deswegen muß an dieser Stelle ge-forscht und entwickelt werden, und es müssen Maßnah-men durchgeführt werden. Die 100 Millionen DM, diewir in diesem Jahr veranschlagt haben und die wir inden nächsten Jahren beibehalten werden, sind ein guterund vernünftiger Ansatz.Beim Städtebau haben wir 600 Millionen DM veran-schlagt – unverändert. Davon sind 520 Millionen DMfür die neuen Länder;
100 Millionen DM für die „soziale Stadt“. Im Bereichdes sozialen Wohnungsbaus haben wir einen Rückgangauf 600 Millionen DM. Ich mußte mich an einer Stelleentscheiden. Und ich sage Ihnen: Das ist im Augenblickdie richtige Stelle. Wir brauchen im Augenblick inDeutschland nicht viel neuen sozialen Mietwohnungs-bau. Wir haben in den meisten Städten so viele Woh-nungen, daß man von einer ausgeglichenen Situationsprechen kann. Es macht keinen Sinn, gegen den Marktneue Wohnungen zu bauen. Sehen Sie sich an, wie dasinsbesondere in den neuen Länden aussieht: Dort wur-den, auch dank Ihrer Hilfe, in den vergangenen JahrenWohnungen und Häuser gebaut – nicht weil sie ge-braucht wurden, sondern weil die Investoren Steuernsparen wollten. Da gerinnt das ganze System zum blan-ken Wahnsinn.
Da sind Milliarden hineingeflossen. Man muß heutedarüber nachdenken, was mit diesen Leerständen in denStädten geschehen soll. So einen Quatsch setzen wirnicht fort. Wir sagen deshalb: Wir fördern im sozialenWohnungsbau nur noch wenige Neubauten. Aber wirmüssen die 600 Millionen DM nutzen, um den Bestandim sozialen Wohnungsbau zu erhalten.Wir führen die Eigenheimzulage auf hohem Niveaufort, und zwar mit einer verbesserten Förderung vonFamilien mit Kindern. Familien mit zwei Kindern, dieweniger als 15 000 DM im Monat zur Verfügung haben,werden auch in Zukunft in den Genuß der Eigenheim-zulage kommen. Diejenigen, die zwischen 15 000 und20 000 DM im Monat verdienen, werden sie allerdingsnicht mehr erhalten. Ich meine, daß es vernünftig war,hier eine Kinderkomponente einzuführen.
Diejenigen, die zwischen 15 000 und 20 000 DM imMonat zur Verfügung haben, sind auch ohne Eigen-heimzulage in der Lage, sich ihre Wohnung oder ihrHaus zu finanzieren. Wir müssen denen helfen, die mitihren Einkommen an der Fördergrenze liegen und diedeshalb nicht genau wissen, ob sie ohne eine solche Hil-fe klarkommen. Deshalb bleibt die Eigenheimzulage be-stehen. Mit dieser Art der Eigentumsförderung setzenwir ein richtiges Signal für die Entwicklung auf demWohnungsmarkt und für das ganze Land.Sie wissen, daß dies mein letzter Abend als Ministerist. Ich möchte mich bei Herrn Kalb bedanken, der michim Haushaltsausschuß kritisch, aber konstruktiv beglei-tet hat. Ich fand die Zusammenarbeit ordentlich. Desweiteren möchte ich mich bei Herrn Oswald bedanken,der mit mir im Ausschuß fair und konstruktiv zusam-mengearbeitet hat. Ich bedanke mich bei allen Aus-schußmitgliedern. Besonders herzlich bedanke ich michbei denjenigen, die herzlich geklatscht haben, wenn ichgesprochen habe.
Ich bedanke mich ein bißchen weniger bei den KollegenFischer und Kansy, die laufend – natürlich ungerecht-fertigterweise – gegen mich polemisiert haben und diewahrscheinlich gleich wieder darauf hinweisen werden,was alles nicht stimmt. Das ist natürlich nicht wahr. Al-les, was ich gesagt habe, ist richtig. Das darf ich Ihnenschon im voraus sagen.
Also, danke für die gute Zusammenarbeit.Der Bereich der Städtebau- und der Verkehrspolitikist von allen Bereichen am nächsten an der Kommunal-politik. Er ist sehr konkret. Dieser Bereich wird in dennächsten Jahren für alle, die bereit sind, sich zu engagie-ren, eine spannende Aufgabe sein; denn in den Kommu-nen – vor Ort – erfahren die Menschen die Qualität vonGesellschaft und den Wert der Demokratie. Wohn- undStadtqualität sowie Mobilität gehören sehr wohl zur Le-bensqualität eines Landes.Glück auf!
HerrBundesminister, ich bedanke mich im Namen des gan-zen Hauses – nicht nur im Namen der Abgeordneten,sondern auch der Regierungsmitglieder – für die guteZusammenarbeit und wünsche Ihnen für die Zukunft al-les Gute.
Bundesminister Franz Müntefering
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4971
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Allerdings, was das betrifft, werden die Meinungen un-terschiedlich sein. Aber es ist nicht meine Aufgabe, dieszu qualifizieren.Als nächster Redner hat das Wort der Kollege DirkFischer von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! FranzMüntefering hat sein Ressort ein knappes Jahr nur halb-herzig verwaltet. Wir haben bei ihm jegliches Engage-ment, das notwendig ist, um in der Sache erfolgreich zusein, vermissen müssen.
Seine Schlußaktion richtete sich gegen zwei CDU-Mitglieder im Vorstand der Deutschen Bahn AG. Siewar äußerst unappetitlich und parteipolitisch motiviert.Ich meine die Ablösung von Johannes Ludewig undAxel Nawrocki. Der dritte, Peter Reinhardt, wurde vor-fristig schon im Sommer abgelöst. Die Begründung vonHerrn Müntefering, er wolle diese Aktion noch durch-ziehen, um seinen Nachfolger Klimmt nicht zu belasten,besagt eigentlich alles. Jetzt hat Herr Müntefering seinenTraum erreicht, nämlich einen CDU-freien Vorstand derDeutsche Bahn AG.
– Herr Schmidt, Herr Minister, Frau Mertens, ich habemich schon gewundert, daß Sie über erhebliche Ver-säumnisse im Güterverkehr gesprochen haben, um dieAblösung des Vorstandes für den Personenverkehr zubegründen. Diese Logik hat mich schon sehr gewundert.Aber dies ist Ihr eigenes Problem.
Die willkürliche Opferung zweier Vorstandsmitglie-der kann doch nur ein Verzweiflungsakt zur Verdeckungeigener Fehlleistungen und Mißerfolge sein. Als Rats-präsident des EU-Verkehrsministerrates ist Herr Münte-fering auf dem Gebiet der europäischen Eisenbahnpoli-tik völlig gescheitert. Was er vorhin beschrieben hat, dashat er nicht durchgesetzt. Seine Politik war ein Total-flop. Er hat uns im Ausschuß versprochen, bis zurSommerpause ein neues Konzept zur Förderung deskombinierten Ladungsverkehrs auf den Tisch zu legen.Er ist gescheitert. Er hat es nicht getan.Bei den notwendigen Investitionen für die Bahnre-form ist dem Unternehmen ein stetiges Investitionsni-veau von mehr als 10 Milliarden DM zugesichert wor-den. Dürr hat schon immer gesagt: Wer das nicht tut,kann die Bahnreform zum Scheitern bringen. Jetztmacht sich Herr Müntefering daran, die Investitionen inSchienen übel zusammenzustreichen. Seine Ausführun-gen über die Bedeutung der Schiene und über die Verla-gerung des Verkehrs auf die Schiene sind völlig un-glaubwürdig, wenn er gleichzeitig Investitionen in dieSchiene streicht.
Es hat bisher einen interfraktionellen Konsens überZiele und Vollzug der Bahnreform gegeben. Dazu ge-hörte auch, daß man in zehn Jahren schwierigster Trans-formationsphase dem Management Flankenschutz gebenmuß. Müntefering hat diesen Konsens aufgekündigt.Jetzt kann man erkennen, wer bei der DB AG wirklichdas Sagen hat: der Bundesverkehrsminister. Bis zum jet-zigen Zeitpunkt hat der Aufsichtsrat noch gar nicht ge-tagt, nicht beraten und nicht entschieden. Gleichwohlverkündet der Minister die Ablösung von Vorstandsmit-gliedern. Das ist ein eigentümlicher Umgang mit demdeutschen Aktienrecht. Das sagt wohl alles darüber aus,welche Nummer hier gelaufen ist.
Wenn das so ist, dann müssen wir als Opposition kri-tisch analysieren und den Minister für jeglichen Vor-gang bei der DB politisch unmittelbar voll verantwort-lich machen. Die Rahmenbedingungen für eine Eisen-bahnreform haben sich nachhaltig verändert. Wir wer-den nicht zögern, für derartige Entwicklungen den Bun-desminister für Verkehr unmittelbar politisch verant-wortlich zu machen.Herr Müntefering hat seinerzeit mit einem Fehlstartim Ministerium begonnen. Er hat fast alle Abteilungs-leiter entlassen. Sein rabiates Vorgehen hat selbst voreiner Reihe parteiloser Fachleute nicht haltgemacht. Erhat dem Ressort damit erheblichen Fachverstand zumdenkbar ungünstigsten Zeitpunkt, nämlich während derdeutschen EU-Ratspräsidentschaft, entzogen. Es wun-dert deswegen nicht, daß diese EU-Ratspräsidentschaftin der Sache ein totaler Mißerfolg geworden ist.
Jetzt schließt er seine kurze und erfolglose Ministerepo-che so rabiat ab, wie er sie begonnen hat. Er macht dasLicht aus und sagt zu seinem Gehilfen Machnig, den ermitnimmt: Hol schon mal den Wagen, Harry. – So endetdas ganze Unternehmen.Durch Schröders „Klimmt-Zug“ steht dem Ministeri-um bereits nach wenigen Monaten ein weiterer umfas-sender Personalaustausch bevor. Man hört, daß Klimmtmit 20 Mitarbeitern einrückt. Mit dieser Zahl übertriffter sogar noch Müntefering, der nur mit 16 Leuten vonaußen gekommen ist. Die Schlagkraft der Ressorts Bauund Verkehr unter Oswald und Wissmann ist nachknapp einem Jahr Vergangenheit. Wir richten die drin-gende Bitte an Klimmt, die Motivation und die Lei-stungsbereitschaft der Mitarbeiter in den Ressorts nichtnoch weiter zu drücken.Bei Müntefering passen Reden und Handeln nicht zu-sammen. Wenn er sich in höhere philosophische Etagenentfernt, dann hört sich das manchmal ganz gut an; aberwenn wir die Dinge messen, dann ist der Mißerfolg lei-der Gottes die Realität.
Es gibt eine positive Ausnahme. Für Herrn Schmidtund andere hier im Hause ist heute ein wirklich großerVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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4972 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Tag, denn es wurde verkündet: Der Transrapid wirdgebaut. Das ist dann immerhin der fünfte Verkehrsträ-ger.
Der Minister hat in seinem politischen Programm zu-nächst Kontinuität bedarfsgerecht ausgestalteter undwettbewerbsorientierter Verkehrspolitik auf der Basisseines Vorgängers Wissmann suggeriert. Die mobilitäts-feindliche Ideologie in den Wahlprogrammen von Grü-nen und SPD fand sich in seinem Programm nicht wie-der.Im übrigen ist es ziemlich traurig, wenn ein Ministernach einem Jahr immer noch nicht gelernt hat, daß derBundesverkehrswegeplan ein reiner Bedarfsplan ist, indem der objektive Bedarf festgestellt wird. Er ist ebenkein Finanzplan. Deswegen kann er auch nicht unterfi-nanziert sein.
Sie wollen doch nicht am objektiv vorhandenen Bedarf,dem wir haushaltspolitisch leider nicht sofort und voll-ständig gerecht werden können, herummanipulieren!Wir müssen auf der einen Seite den objektiv vorhande-nen Bedarf feststellen, auf der anderen Seite stellen wirfest, was wir uns leisten können. Das geschieht durchFünfjahrespläne, die nach Planungsfortschritt der Pro-jekte, nach Ausweisung in der mittelfristigen Finanzpla-nung und nach Jahreshaushalten die Umsetzung derProjekte ermöglichen. So ist das Verfahren.
Das war übrigens schon bei Lauritz Lauritzen nichtanders. Auch dessen Plan aus dem Jahr 1976 endetemit einem gewaltigen Überhang notwendigen Bedarfes,den wir uns haushaltspolitisch nicht leisten konnten.Deswegen ist das gar nichts besonderes. Ich sage voraus,daß das bei jedem künftigen Bedarfsplan nicht anderssein wird, weil die Haushaltsmöglichkeiten beschränktsind.
Hören Sie doch auf, draußen mit derartigen Verfäl-schungen einen Eindruck zu Lasten der Vorgängerregie-rung zu erzeugen, der systematisch einfach falsch ist.Das ist eine Manipulation, die wir klar zurückweisenmüssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kommenun zum Stichwort Ratspräsidentschaft. Das war einreines Trauerspiel. Die angekündigten Prioritäten laute-ten Weiterentwicklung des Transeuropäischen Netzes,Stärkung der umweltfreundlichen Verkehrsträger, Wett-bewerb auf der Schiene, Förderung des kombiniertenVerkehrs, Ausbau leistungsfähiger Schnittstellen undweitere Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungenim Güterverkehrsmarkt. Aus all diesen Zielen wurdensamt und sonders reine Nullnummern. Herr Münterfe-ring hat nichts nach Hause gebracht.
Schlimm waren übrigens auch sein Einknicken beimLandverkehrsabkommen mit der Schweiz, das vonWissmann vehement als unausgewogen abgelehnt wor-den ist,
und sein halbherziger Vignettenkompromiß. Die Folgewaren eine zusätzliche Belastung allein des deutschenGüterverkehrsgewerbes und eine schlimme Verletzungdeutscher Interessen.
Zum Stichwort Ökosteuer: Nicht zu verstehen ist indiesem Zusammenhang Münteferings Nichteintreten fürdie Verkehrsbelange. Hier handelt es sich um einen völ-lig falschen Ansatz. Statt umweltgerechte Techniken zufördern, wird ausschließlich abkassiert. In der Koaliti-onsvereinbarung wurde versprochen: „Berücksichtigungder besonderen Anforderungen an Mobilität gerade imländlichen Raum“ und „Förderung des ÖPNV“. Was istgemacht worden? Ohne Kompensation geschieht genaudas Gegenteil.Das vorweihnachtliche Kanzlerwort von GerhardSchröder lautete, bei der Mineralölsteuer werde es nureinmal eine Erhöhung von 6 Pfennigen geben. Dannwurden es drei Stufen. Jetzt sind es fünf Stufen: insge-samt 30 Pfennige plus Mehrwertsteuer, also35 Pfennige. Im Jahr 2003 wird der Benzinpreis2,20 DM betragen. Das wirklich irre Ding – ich sage dasso hart – ist, daß die Autofahrer um zusätzlich52 Milliarden DM abkassiert werden und gleichzeitigdie Investitionen in ihre Straßen um 4 Milliarden DMgekürzt werden. Das heißt, daß sie für ihre Belange nichtnur nichts abbekommen, sondern es wird ihnen sogaraus dem Bestand etwas genommen. Diese Nummer istmit uns nicht zu machen.
Die Bahn rechnet mit zusätzlichen Belastungen von400 Millionen DM pro Jahr. Das wird ihren Gewinn alsoschmälern. Beim Güterkraftverkehr kostet die Ökosteuermehr als 13 000 DM pro Lastzug und Jahr. Als Folgewerden weitere Arbeitsplätze vernichtet.
Man kann gespannt sein, ob Klimmt als Ex-Ministerpräsident für die Probleme der Länder bei derÖPNV-Finanzierung mehr Verständnis hat und sie bes-ser vertritt. Münterfering jedenfalls hat nicht den gering-sten Widerstand gegen die Benachteiligung des ÖPNVdurch die Ökosteuer geleistet. Er hat es hingenommen;es war ihm ziemlich egal. Wir haben nicht gespürt, daßer sich dem entgegengestemmt hat.
Dirk Fischer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4973
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Zum Stichwort Haushalt: Der Haushaltsentwurf2000 und die mittelfristige Finanzplanung sind der Gip-fel der verkehrs- und finanzpolitischen Fehlleistungendieses Ministers: unverantwortlicher Kahlschlag bei denInvestitionen, Kürzungen bis 2003 um rund 3,5 Milliar-den DM, eine unspezifizierte globale Minderausgabenvon über 5 Milliarden DM und Risiken allein im Ver-kehrsbereich von knapp 12 Milliarden DM, bisher fehl-geschlagener Verkauf der Eisenbahnerwohnungen miteinem Volumen von 4,6 Milliarden DM – das steht alsEinnahme im Haushalt 1999 –, die nicht vollzogeneVeräußerung von Bundesforderungen gegenüber der DBAG an eine Finanzierungsgesellschaft in Höhe von6 Milliarden DM – auch diese steht schon im 99erHaushalt; kommt aber nicht – und schließlich die stritti-ge Forderung von Schily an die Bahn, für die Polizei-dienste in der Zukunft 1 Milliarde DM zu bezahlen.Auch das ist noch nicht finanziert.
Hinzu kommt – Dietmar Kansy wird darauf eingehen –im Baubereich das Wohngeld, wo mal eben10 Milliarden DM aus der Bundeskasse in die Gemein-dekassen verschoben werden sollen. Das ist eine Sache,die im Bundesrat überhaupt keine Chance hat.Das heißt, wir haben hier einen Haushalt, zu dem ichnur wiederholen kann: Die Ansätze von Wissmann imHaushalt 2000 waren um zirka 460 Millionen DM hö-her. Das Fazit ist: Schröder, Müntefering und Co stehennach nicht einmal einem Jahr vor den Haushaltsruineneiner desaströsen rotgrünen Politik.
Die Risiken, die ich eben aufgezählt habe, lassenweitere Streichungen bei den Investitionen befürchten,wobei wir immer im Hinterkopf haben müssen, daß dieStreichung von 1 Milliarde DM den Verlust von 15 000Arbeitsplätzen bedeutet, damit jeder weiß, welcher Tortdem Arbeitsmarkt hier angetan wird.
Die sogenannte Erblast der alten Bundesregierung istdoch längst als demagogische Lüge entlarvt worden.
Wissmann hat in der letzten Legislaturperiode ungefähr4,4 Milliarden DM eingespart und die Infrastrukturinve-stitionen dennoch auf konstant hohem Niveau gehalten.Waigel hat seit 1995 Schrumpfhaushalte gefahren. DerKonsolidierungskurs der alten Bundesregierung sah eineReduzierung der Nettokreditaufnahme 1999 um56 Milliarden DM und 2002 um 45 Milliarden DM vor.Lafontaine aber hat seinen Haushalt 1999 um exakt31,2 Milliarden DM aufgebläht. Das ist ein völligerKurswechsel in der Konsolidierungspolitik. Das bedeu-tet eine Steigerung um 6,3 Prozent – seit zehn Jahren diemit Abstand höchste Steigerung, und das nur, um Wahl-versprechen zu bezahlen. Jetzt muß Eichel den Haushaltum 30 Milliarden DM auf ziemlich genau den Waigel-Ansatz zurückfahren. Dieses Rauf und Runter ist derProzeß, der hier läuft. Gehen Sie doch nicht raus undverdummen Sie die Leute; sie können doch bis dreizählen.
Betroffen sind jetzt viele Bürger, die von den Wahl-geschenken nichts hatten. Diese Politik der RegierungSchröder verunsichert die Menschen, beschädigt dasVertrauen der Wirtschaft und des mittelständischen Ge-werbes in den Standort Deutschland. Fehlende Investi-tionsbereitschaft, keine neuen Arbeitsplätze und Ausbil-dungsplätze sowie Ausbluten unseres Know-hows wer-den die katastrophalen Folgen sein.Ich sage zum Schluß: Würde Müntefering jetzt nichtfreiwillig gehen, müßte er sofort abgelöst werden.
Er hat der deutschen Verkehrspolitik großen Schadenzugefügt.
Jetzt wird also Trittin für 14 Tage unser Verkehrsmini-ster.
Auch das sagt eigentlich alles. Das paßt richtig in dasBild dieser Koalition. Schröders „Klimmt-Zug“ soll ein-zig die Parteilinken besänftigen und einen Kritikerdisziplinieren. Verkehrspolitische Interessen verfolgtSchröder nicht. Sie sind für ihn bedeutungslos. Das ha-ben wir schon bei der Regierungserklärung gemerkt,denn dort gab es kein einziges Wort dazu. Hier steht in-nerparteilicher Abzählreim kontra Fachkompetenz. Ichdenke aber, unsere Verkehrspolitik braucht Investition indie Infrastruktur, Innovation, Berechenbarkeit und vorallem einen Minister, –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Fi-
scher, Sie hatten den Schluß Ihrer Rede schon angekün-
digt.
– der für dieBelange seines Ressorts kämpft. Deswegen bringt derheutige Abend für uns eine absolute Negativbilanz desMinisters, dem ich – sicherlich wir alle – für sein per-sönliches Wohlergehen in der Zukunft alles Gute wün-sche. Aber ich glaube, daß wir Fachkollegen froh sind,
daß er jetzt nicht mehr Minister ist, da er diese Fehllei-stungen erbracht hat.
Dirk Fischer
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4974 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Albert
Schmidt, Sie haben das Wort für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Fischer freut sich schon auf Herrn
Klimmt; das hätte ich mir nie träumen lassen.
Aber in allem Ernst, Herr Kollege Fischer: Wenn Sie
sich hier hinstellen und behaupten – ohne es wissen zu
können – bei der Umbesetzung an der Spitze des Bun-
desunternehmens Deutsche Bahn AG habe der Auf-
sichtsrat nicht mitgewirkt, so ist dies eine unverschämte
Unterstellung, die ich hier in aller Form zurückweise.
Mit jedem einzelnen Mitglied des Aufsichtsrates wurde
über die Sache und zur Person Klartext gesprochen. Der
formale Beschluß wird selbstverständlich in der entspre-
chenden Sitzung gefaßt werden.
– Wenn Sie hier sagen, dies sei eine parteipolitische
Entscheidung gewesen, ist das nicht nur eine Beleidi-
gung des Ministers, sondern auch eine Beleidigung eines
hervorragenden Unternehmers namens Hartmut Meh-
dorn, der wegen seiner Fähigkeiten und wegen keiner
anderen Kriterien an die Spitze des Unternehmens beru-
fen wurde.
– Die Sitzung wird am 24. September stattfinden. Dort
wird der Vorschlag unterbreitet werden; dann entschei-
det der Aufsichtsrat darüber.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Bitte schön.
Ich möchteSie fragen, ob Ihnen bewußt ist, daß nach dem Aktien-recht ein telefonischer Rundruf nicht ausreicht, sonderneine Meinungsbildung und eine Sitzung, die ordnungs-gemäß protokolliert werden muß, stattzufinden haben.Telefonanrufe, die man in der Politik manchmal alsMauschelei bezeichnet, können so etwas nicht ersetzen.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Zunächst einmal, Kollege Fischer, frage ichSie, woher Sie wissen, daß es Telefonanrufe waren. Ichhabe gesagt, es wurde mit jedem einzelnen persönlichüber den Vorschlag gesprochen. Außerdem bestätige ichIhnen gerne noch einmal – ich habe das vorhin schongesagt –, daß demnächst eine formale Sitzung gemäßAktienrecht stattfinden wird, auf der vom Aufsichtsrats-vorsitzenden – dazu ist er ja da – ein Kandidat vorge-schlagen, eine Abstimmung durchgeführt und eine Pro-tokollierung erfolgen wird. Selbstverständlich erfolgterst dann die formale Inthronisation.
– Tun Sie doch nicht so scheinheilig: Das Procedere wardoch bei der Berufung von Ludewig damals nicht an-ders.Wer selbst das Unternehmen Deutsche Bahn AG jah-relang als Abstellbahnhof für mißglückte Parteikarrierenbenutzt hat, sollte an dieser Stelle ganz still sein.
Johannes Ludewig hat das Unternehmen damals in einersehr schwierigen Phase übernommen. Es gebührt ihmausdrücklich unser Respekt und unsere Anerkennungund nicht eine so unwürdige Debatte zum Abschluß.
Nun aber zu einem anderen Punkt, der von Ihrer Seitehier immer wieder hochgekocht wird: die Lüge von dengekürzten Investitionen. Als ich, lieber Kollege Fischer,1994 Mitglied dieses Hauses wurde, betrugen der Haus-haltsansatz für den Straßenbau 10 Milliarden DM undder Haushaltsansatz für den Schienenbau ebenfalls 10Milliarden DM. Ausgegeben wurden jeweils nur 8 Mil-liarden DM – soviel nebenbei zur Haushaltswahrheit.Als Wissmann aus dem Amt schied, waren der Straßen-bautitel innerhalb von fünf Jahren auf 8,2 MilliardenDM und der Schienenbautitel auf 6,7 Milliarden DM ge-schrumpft. Ihre Politik war es, von Jahr zu Jahr Milliar-den zu kürzen. Es ist gerade die Leistung dieses Mi-nisters, daß er trotz der Einsparzwänge im Bundeshaus-halt 2000 die Investivposten nicht nur gehalten, sondernbei der Bahn sogar 100 Millionen DM draufgesattelt hat.Dafür sollten Sie ihm dankbar sein, statt solche Lügenzu verbreiten.
– Lesen Sie es doch nach. Ich stelle es Ihnen gerne zurVerfügung.Nun zum Projekt Transrapid: Sie erinnern sich, imApril 1997 wurde von den drei Projektbeteiligten, vonder Deutschen Bahn AG, vom Industriekonsortium undvom Bund mit der Unterschrift von Wissmann zumTransrapid ein sogenanntes Eckpunktepapier verab-schiedet, in dem steht, daß eine zweispurige Verbindungzwischen Hamburg und Berlin gebaut werden soll, aufder im 20-Minuten-Takt gefahren werden und die ma-
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ximal 6,2 Milliarden DM zu Lasten des Bundes kostensoll. Seitdem ist folgendes passiert: Die Fahrgastprogno-sen mußten bis zu einem Drittel nach unten korrigiertwerden, und die Schätzung der Kosten hat sich als nichtrealistisch erwiesen. Für den Fahrweg liegen sie eher bei9 als bei 6 Milliarden DM. Man hat versucht, auf demKapitalmarkt nach privaten Investoren zu suchen, aberdas ist offenbar gescheitert.Die nun herrschende Ratlosigkeit durchbrach der Mi-nister mit seinem schlitzohrigen Vorschlag, man könneja zunächst einmal einen einspurigen Transrapid bauen,also einen Transrapid light oder einen Schmalspur-Transrapid, wie auch immer man ihn nennen will. Ge-nau dieser Vorschlag wurde ja von den Projektbeteilig-ten im Frühjahr dieses Jahres geprüft. Das Ergebnis die-ser Prüfung möchte ich dem Hohen Hause nicht vorent-halten. Ich zitiere aus der Risikoanalyse „Bewertung vonLösungen und Ausnutzung teileinspuriger Streckenab-schnitte“ vom 24. März 1999, die aus Sicht der Deut-schen Bahn AG erstellt wurde. Dort heißt es wörtlich:Die Deutsche Bahn AG hält diese Ansätze – also dieEinspurigkeit – nicht für eine Umsetzung geeignet, undzwar aus folgenden Gründen:Erstens. Eine Teileinspurigkeit führt zu Einschrän-kungen im angebotenen Betriebsprogramm und damit zudeutlich verringerten Ertragspotentialen. Im Klartextheißt das: Ich muß den 20-Minuten-Takt auf einen 30-Minuten-Takt strecken, habe weniger Fahrgäste, weni-ger Einnahmen, ein höheres Defizit und ergo rote Zahlenbeim Betreiber Deutsche Bahn AG.Zweitens. Die Verfügbarkeit und die betriebliche Zu-verlässigkeit werden vermindert. Damit ergeben sich zu-sätzliche Ertragsrisiken. Es ergibt sich übrigens auch einpsychologisches Problem. Denken Sie, die Fahrgäste fah-ren mit jeweils 400 km/h aufeinander zu, im Vertrauen,daß im richtigen Moment die Ausweichstelle kommt? –Das wird im Unternehmen ernsthaft diskutiert.Drittens. Derartige Konzepte können nur als Zwi-schenstufe auf dem Weg zum geplanten Gesamtpro-gramm verstanden werden. Die Nachrüstung auf dievolle Streckenkapazität muß in jedem Fall in die Be-trachtung des Businessplans einbezogen werden.Hierbei ist dann – jetzt hören Sie genau zu – vondeutlich höheren Gesamtinvestitionen sowohl für denFahrweg als auch für das Betriebssystem auszugehen.Im Klartext: Es wird dann am Ende noch teurer. Ichkann auch sagen um wieviel: um ca. 500 Millionen DM.Vierter Grund. Simulationen haben ergeben, daß esein erhöhtes Betriebsrisiko im Störfall gibt. Wenn ichnur eine Schiene oder eine Strecke habe und es passiertdie kleinste Störung, dann ist natürlich Schicht. Da kannnicht ausgewichen oder anderswo gefahren werden. EineKettenreaktion wird in Gang gesetzt.Fünfter Einwand. Es gibt eine sehr starke Einschrän-kung beim Komfort durch das Überfahren zahlreicherWeichen.Soweit die Analyse der Deutschen Bahn AG.
Die Industrie hat es entsprechend formuliert: Gegen-über einer Doppelspur verschlechtert sich die Wirt-schaftlichkeitsberechnung des Systems durch die wegender Einspurigkeit hohen Nachrüstkosten um nochmals 2Prozent. Es wird empfohlen, auf dieses Modell zu ver-zichten. Übrigens müßten wahrscheinlich auch die Plan-feststellungsverfahren neu eröffnet werden.Ich neige also dazu, diesen Vorschlag des Ministersnach dem Motto „Halbe Strecke zum gleichen Preis“,der in Wahrheit der doppelte Preis ist, unter der Rubrik„Abschiedsscherz eines scheidenden Ministers“ abzubu-chen.
Ich glaube, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, indem die Ziffer 10 des Eckpunktepapiers in Kraft tretenmuß, daß sich nämlich die drei Projektbeteiligten Bahn,Industrie und Bund in Ruhe zusammensetzen und über-legen müssen: Was machen wir angesichts der Situati-on? Wie entscheiden wir gemeinsam? Dann – darüberbin ich sehr beruhigt – wird die richtige Entscheidungherauskommen. Das ist jedenfalls das Vorgehen, das ichempfehle.Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Haushaltsagen. Der Kollege Fischer hat die ökologische Steuer-reform angesprochen. Herr Kollege Fischer, das RWIhat gerade erst vor wenigen Tagen nachgewiesen, daßdurch die Stetigkeit bei der Erhöhung der Mineralölsteu-er ein Verlagerungseffekt zugunsten des öffentlichenVerkehrs erfolgt, was zusätzliche Einnahmen bei denÖPNV-Betrieben erwarten läßt. Das ist genau das, waswir erreichen wollten. Deswegen sind wir froh, daß mitmaßvollen Steuersätzen eine Verstetigung der Ökosteuererreicht worden ist.Was sich ebenfalls mit der Ära Franz Münteferingverbinden wird, ist eine wichtige Grundsatzentscheidunghinsichtlich des weiteren Streckenausbaus bei der Bahn.Am 7. Juli dieses Jahres wurde vom Aufsichtsrat mitausdrücklicher Unterstützung der Bundesregierung unterdem Stichwort „Netz 21“ eine völlig neue Investi-tionsstrategie beschlossen und auf den Weg gebracht.Diese sieht vor, daß in den nächsten zehn Jahren fürden Ausbau des Bestandsnetzes, die Modernisierungder Strecken bis in die Fläche hinein mit moderner Leit-und Sicherungstechnik, mit elektronischen Stellwer-ken 48 Milliarden DM – hauptsächlich aus Bundesmit-teln – aufgewendet werden sollen. Dieses soll Vorranghaben vor Einzellösungen bzw. überteuerten Einzelpro-jekten. Dies ist eine richtige Entscheidung, für die wirjahrelang gekämpft haben. Das begrüßen wir. Das soll-ten die neue Bahn- und die neue Ministeriumsführungfortsetzen.
Die Frage Alpentransit und Güterverkehr ist vonder Opposition angesprochen worden. Es ist ja geradedie Leistung von Franz Müntefering gewesen – übrigensdie allererste, die er bereits nach wenigen Wochen er-bracht hat –, daß er die Blockadepolitik von Wissmannin Brüssel zur Verhinderung einer produktiven LösungAlbert Schmidt
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4976 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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im Alpentransit beendet hat, daß er vermittelt und dieverschiedenen Parteien zueinander gebracht hat, so daßnun eine faire Lösung für die Schweiz erreicht wordenist. Darüber hinaus hat Deutschland schon damals zuProtokoll gegeben, daß spätestens ab 2002 auch inDeutschland die elektronische streckenabhängige Lkw-Maut eingeführt wird. Das ist leistungsgerechter alsheute. Die Maut muß so hoch sein, daß die Lkw-Lawinen wirklich gestoppt und die Güter auf die Schie-ne oder Binnenschiffe verlagert werden. Das ist einrichtiger Impuls, der sich auch mit dem Namen FranzMüntefering verbindet.
Zum Bundesverkehrswegeplan. Das ist ja nun eineHerkulesarbeit, die vor uns liegt. Es ist schon damit be-gonnen worden. Die Studien sind in Auftrag gegeben.Die ersten Auswertungen liegen vor. Es sind keine rot-grüne Marotte, kein Übermut und auch nicht Jux undTollerei bzw. grüne Streichwut, daß wir an den Bundes-verkehrswegeplan herangehen, sondern es ist derschlichte Auftrag des Gesetzes.Der jetzige BVWP gilt seit 1992. Dort steht, daß eralle fünf Jahre revidiert werden muß, und zwar substan-tiell und ehrlich. Das haben Sie versäumt. Deshalb holenwir diese Hausaufgabe nach.
Wir werden ihn – auch hier kann ich dem Ministerausdrücklich zustimmen und ihn unterstützen – nicht alsMärchenbuch mißbrauchen, um allen Landräten und al-len Ministerpräsidenten etwas zu versprechen, was mangarantiert nicht halten kann. Wir werden vielmehr ehr-lich miteinander umgehen und feststellen müssen, wasnotwendig, was unabweisbar, was umweltverträglichund was am Ende auch bezahlbar ist.
Diese Kriterien werden wir unter der Überschrift„Neue Ehrlichkeit“ in die Verkehrswegeplanung einfüh-ren.
– Das haben Sie sich nicht getraut, weil Sie allen etwasversprochen haben. In dem Moment, als Sie diese Ver-sprechen hätten einlösen müssen, sind Sie abgetauchtbzw. abgewählt worden. So war das.
Lassen Sie mich kurz einige weitere Punkte im Rah-men einer Zwischenbilanz – mehr kann dies nach einemJahr Amtszeit nicht sein – ansprechen. Die Lärmsanie-rung an den Schienenwegen, ein 100-Millionen-DM-Programm, ist angesprochen worden. Die leichtereAusweisung von innerörtlichen Tempo-30-Zonen ist aufden Weg gebracht worden. Die entsprechenden Bera-tungen befinden sich gerade in einer sehr konstruktivenPhase. Wir werden demnächst zu einem Ergebnis kom-men. Weiterhin werden die Bedingungen für die Bahn-reform hinsichtlich des Güterverkehrs diskutiert. DieSenkung von Trassenpreisen ist für mich ein Thema, dasnoch auf der Tagesordnung steht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Schmidt, denken Sie bitte an die Redezeit.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Nach diesem einen Jahr Amtszeit kann man
sagen: Eine ganze Menge Impulse sind auf den Weg ge-
bracht worden. Einiges ist schon abgearbeitet bzw. erle-
digt worden. Manches wartet auf den neuen Minister,
auf den ich mich schon freue und dem ich von unserer
Seite aus eine gute Zusammenarbeit anbiete.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen!Zu zugegebenermaßen interessanter Zeit beraten wir dengrößten Investitionshaushalt des Bundes. Er ist gleich-zeitig der zweite und letzte Entwurf des Ministers fürVerkehr, Bau- und Wohnungswesen, Franz Müntefe-ring, der sich gewissermaßen in der Götterdämmerungseiner Ministerzeit befindet,
der aber trotzdem die Verantwortung für den Zahlensalatübernehmen muß. Originalton Müntefering: Das Elendist zu Ende.
Es bleibt dabei: Der gute Klimmt – OriginaltonKlimmt: Oskar und ich, wir sind wie ein altes Ehepaar;da können wir eine tolle Politik erwarten – wird mit denSegnungen des Haushaltes von Müntefering leben müs-sen.Infrastrukturinvestitionen sind Zukunftsinvestitio-nen für den wirtschaftlichen, sozialen und gesell-schaftlichen Standort Deutschland. Ein hohes Inve-stitionsniveau bleibt für die weitere konjunkturelleund arbeitsmarktpolitische Entwicklung unver-zichtbar.Dies sagt Müntefering im „Zukunftsprogramm 2000“, indem er gleichzeitig zugesteht, daß bis 2003 die Investi-tionen sowohl für die Straße als auch für die Schiene um2,3 Milliarden DM gekürzt werden und daß sie auch imBereich der Wasserstraßen um 1 Milliarde DM reduziertwird.Die Realität sieht eben anders aus: 1997 wurden fürBedarfsplanmaßnahmen im Bereich Autobahnbau tat-sächlich 4,63 Milliarden DM ausgegeben, 1998, also imletzten Jahr unserer Regierungszeit, 4,81 MilliardenAlbert Schmidt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4977
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DM. Der Haushaltsansatz der neuen Regierung für dasJahr 1999 betrug im gleichen Titel 3,36 Milliarden DM,und für das Jahr 2000 sind es nur noch sagenhafte 3,1Milliarden DM.
Im Finanzplan bis 2003 sehen die Zahlen so aus:1998 sind im Haushalt Gesamtinvestitionen in Höhe von57,1 Milliarden DM vorgesehen worden. Diese werdenim Jahre 2003 auf 53,3 Milliarden DM zurückgeführt,bei gleichzeitiger Erhöhung der Steuereinnahmen von341,5 Milliarden DM in 1998 auf – man höre und staune– 437,2 Milliarden DM im Jahre 2003. Irgendwie warmir im Ohr, daß dies alles ohne Steuererhöhungen erfol-gen soll. Die Hauptlast dieser Steuererhöhungen trägtder Straßenverkehr. Nach Berechnungen unterschiedli-cher Institute sind das zusätzlich rund 52 MilliardenDM, und das bei gleichzeitiger Senkung der Investitio-nen für die Straßen. Wenn das eine sozial gerechte Poli-tik ist, dann verstehe ich wirklich einiges nicht mehr,
es sei denn, man ist mindestens auf einem Auge blind.Daß eine funktionierende Straßenverkehrsinfra-struktur in Deutschland wichtig ist, mögen Sie viel-leicht an folgenden Zahlen erkennen: Der Lkw befördertderzeit jährlich immerhin unter anderem 13 MilliardenLiter alkoholfreie Getränke, 10 Milliarden Liter Bier,700 000 Tonnen Schokolade und Kekse, 2,5 MillionenTonnen Äpfel, 1 Million Tonnen Bananen
– hören Sie zu; das ist wichtig; so lernen Sie vielleichtnoch etwas; wir haben ja vorhin über Bildung gespro-chen – und 6 Millionen Tonnen Gemüse. Nach neuenTrendprognosen nimmt der Güterverkehr auf den Au-tobahnen im Westen um 51 Prozent zu, in den östlichenBundesländern um 78 Prozent. Der Herr KollegeSchmidt hat heute erklärt, auch die Infrastrukturinvesti-tionen in den neuen Ländern müßten auf den Prüfstand.Auch dort ist offensichtlich nicht mehr alles notwendig.Selbst wenn man glaubt, daß man mit einer Ver-dopplung des Güterverkehrs auf der Schiene rechnenkann – wer auch immer das zu verantworten hätte; indiesem Zusammenhang muß man allerdings fragen,warum Herr Sinnecker bei diesen Zahlen eigentlich nochim Amt ist –, wäre die verbleibende Transportmenge aufder Straße gigantisch. Darauf reagiert dieses Haus, wieschon gesagt, mit weiteren Kürzungen im Straßenbau-haushalt. In einigen Jahren werden Sie sich wahrschein-lich wegen dieser Periode mit der Frage konfrontierenlassen müssen: Wie verhält sich Ihr Fahrzeug im Stau?Das ist fürwahr keine glänzende Bilanz. Deswegenkann man tatsächlich froh sein, wenn die Ära Müntefe-ring beendet ist. Ob der Nachfolger allerdings besserwird, wage ich zumindest mit einem Fragezeichen zuversehen, auch wenn ich ihm zugestehe, daß er zunächsteinmal die Chance bekommen soll, nachzuweisen, waser machen wird.Herr Minister Müntefering redet von der Vernetzungder Verkehrsträger, die wichtig für die Lösung aller Pro-bleme sei. Das ist okay. Nur muß er sich fragen lassen,warum er dann die Investitionen in die Schiene aus-weislich des Finanzplanes um 2,3 Milliarden DM kürzt.Wie soll sich das auf die Investitionen, auch in das„Netz 21“, auswirken? Auch die kosten Geld; das mußirgendwoher kommen. Wie soll das umgesetzt werden?Wie wirken sich die Entscheidungen zum Vorstandder Bahn in den kommenden Monaten aus? Sie schaffenmit dieser Entscheidung ein Interregnum. Der alte Chefist nicht mehr in der Lage, etwas zu machen; ihm hörtkeiner mehr zu. Der neue ist noch nicht da; er hat ei-gentlich noch bis September 2000 einen Vertrag mitdem RWE. Den kann man lösen; aber auch er muß sicheinarbeiten.Man kann über Johannes Ludewig viel sagen. Er istmit Sicherheit nicht an allem persönlich schuldig.
Er hat auch nicht alle Pannen alleine gemacht.
Er hat allerdings einen folgenschweren Fehler für sichselbst gemacht: Er hat darauf hingewiesen, daß die Öko-steuer – da gab es eine unsinnige Debatte – die Bahn zu-sammen mit den Gebühren für den Bundesgrenzschutzum schätzungsweise 750 Millionen DM im Jahr belastenwird.
– Originalton Ludewig: 750 Millionen DM. – Daskönnte Konsequenzen für das Ergebnis haben. Deswe-gen bleibt ein gewisses „Geschmäckle“.Im übrigen darf ich darauf hinweisen, Herr KollegeSchmidt, daß Mehdorn nicht unbekannt ist.
Er hat sich über den Airbus profiliert. Auch der mußtelange Zeit gegen Tausende von Bedenkenträgern durch-gesetzt werden und ist letztendlich zum Erfolg gewor-den.
Ich bin nun einmal gespannt, wie Herr Mehdorn aufdie Situation reagiert, daß bei der Bahn auf der einenSeite unternehmerische Entscheidung gefordert ist undauf der anderen Seite alles Herrn Ludewig angelastetHorst Friedrich
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4978 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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wurde. Das fängt bei der Senkung des Personalbestandesan und geht mit Eingriffen in unternehmerische Ent-scheidungen weiter;
dazu gehört die Diskussion über die Kostenanlastungund all das, was kommt. Ich kann nur sagen: Es wird mitHerrn Mehdorn mit Sicherheit sehr kurzweilig werden –
nach dem Motto: Der Neue kommt; warten wir es ab!
Nun kommen wir zum Thema Wohnungsbau. Dasist
ein Stück aus dem Tollhaus.
Das Kapitel ist geprägt durch die im Haushaltssanie-rungsgesetz – wohlgemerkt dort! – enthaltenen Wohn-geldoperationen der Bundesregierung und durch Inve-stitionskürzungen bei der Städtebauförderung
und beim sozialen Wohnungsbau. Der Entwurf sieht vor,den Ansatz für Wohngeld nach dem Wohngeldgesetzvon 4,02 Milliarden DM auf 1,845 Milliarden DM zukürzen. Damit ist im wesentlichen die geplante Verlage-rung der Wohngeldlasten für das pauschalierte Wohn-geld auf die Kommunen eingestellt, obwohl offensicht-lich ist, daß dieser Ansatz eine Luftbuchung sein wird;denn er wird bei den Ländern und Kommunen keine Zu-stimmung finden. Insofern fehlt diesem Haushaltsansatznach unserer Ansicht bis jetzt die gesetzliche Grundlage.
– Liebe Frau Fuchs, wenn wir noch an der Regierungwären und beim Wohngeld den Eiertanz, den sich dieneue Regierung geleistet hat, aufgeführt hätten, wärenSie lauter als jetzt. Das muß man klar sagen.
Lediglich – das muß man sich auf der Zunge zerge-hen lassen – die von Ihnen vorgesehene Kürzung desWohngelds für Sozialhilfeempfänger
auf das Niveau des normalen Tabellenwohngelds hatAussicht auf Erfolg. Aber selbst dieser Vorschlag istmangels gesetzlicher Grundlage eigentlich noch nichthaushaltsreif.Die Förderung des Städtebaus wird gegenüber demim Jahre 1999 schon reduzierten Ansatz erstmals unterdie 600 Millionen-Grenze gedrückt, wobei die Kürzun-gen um 14 Millionen DM ganz eindeutig und aus-schließlich zu Lasten der neuen Bundesländer gehen.
Bei einem Gesamtvolumen von 2,5 Milliarden DM in1999 bleiben im Jahre 2000 für den sozialen Woh-nungsbau noch 2,05 Milliarden DM übrig. Dem stehteine wahrhaft gigantische Erhöhung des Haushaltstitels„soziale Stadt“ – haushaltswirksam – von 5 MillionenDM auf sagenhafte 30 Millionen DM gegenüber. Das isteine tolle Leistung, das kann man nur sagen.Die im Haushaltssanierungsgesetz enthaltene Wohn-geldnovelle wird wahrscheinlich unter Verlagerungsge-sichtspunkten nicht inhaltlich beraten, sondern aus-schließlich im Haushaltsausschuß. Die Fachpolitiker,auch die der Koalition, dürfen oder können geordneteFachberatungen der vorhandenen wohnungspolitischenNovelle nicht zulassen, ganz zu schweigen von der Tat-sache, daß die Wohngelderhöhung mittlerweile auf dasJahr 2001 verschoben wurde, und zwar immer noch un-ter Vorbehalt der Finanzierung.Was ist uns vor und seit dem September 1998 nichtalles versprochen worden: Ich erinnere an die diversenPodiumsgespräche, die wir auch noch im Januar 1999beim Institut für Städtebau hatten. Das hat der eine oderandere aus Ihren Reihen noch volltönend öffentlich er-klärt, wann das alles in trockenen Tüchern wäre. Einbißchen weniger Vorschußlorbeeren und etwas mehrEinhalten von Versprechungen wäre besser gewesen.
Insgesamt ist in der Subsumierung aller Maßnahmen,deren Umsetzung Sie seit Ihrer Regierungsübernahmebegonnen haben, vom Streichen des Vorkostenabzugsbis hin zu den neuerlichen Überlegungen zur Erhöhungder Erbschaftsteuer – das tun Sie, um das Haus- undGrundvermögen der Landwirte und Häuslebauer konfis-zieren zu können –, die Axt an die Wurzeln des Woh-nungsbaues gelegt worden. Die Investoren im Mietwoh-nungsbau sind schon lange auf die Suche nach anderenAnlagemöglichkeiten gegangen, und das eigentlicheZiel, Eigentum zu schaffen, das vor Armut im Alterschützt – das ist angesichts Ihrer Rentenpolitik wich-tig –, wird mit diesen Maßnahmen konterkariert.Lassen Sie mich zum Schluß versuchen, eine Würdi-gung der Arbeit von Herrn Minister Müntefering aus derSicht der F.D.P. vorzunehmen. Vorweg möchte ich dasPositive nennen; das muß auch sein. Ich habe ihm am25. Februar dieses Jahres bei der ersten Lesung desletzten Haushalts dringend ans Herz gelegt, eine Exper-tenkommission einzuberufen, die Möglichkeiten echterPrivatfinanzierung untersuchen soll. Ohne diese Mög-Horst Friedrich
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lichkeiten werden wir die Probleme nicht lösen. Das istauf gutem Weg. Danke schön, Herr Minister.Ich habe ihm am 6. Mai empfohlen, daß ein Ministerdann, wenn er die wesentlichen Antworten auf die Infra-strukturproblematik schuldig bleibt, seinen Regierungs-auftrag zurückgeben sollte. Auch das hat er soeben voll-zogen. Insofern klappt ja eigentlich alles.
– Nein, Sie regiert nicht mit. Sie sagt nur die Wahrheit.Die Gesamtbilanz ist trotzdem desaströs. In der Ko-alitionsvereinbarung gab es bestenfalls vage Andeutun-gen und in der Regierungserklärung des Kanzlers keinWort zu diesem wichtigen Bereich. Im Kampf mit bei-den Finanzminstern, sowohl mit Lafontaine als auch mitEichel, sind Sie, Herr Müntefering, als Verlierer vomFelde gegangen, wenn Sie überhaupt gekämpft haben.Die Mittel für Investitionen in Ihrem Haushalt, HerrMinister, sinken kontinuierlich. Die Zahlen für diesesJahr sind aus unserer Sicht unseriös, weil sie Luftbu-chungen und Haushaltsrisiken in zweistelligen Milliar-denbeträgen beinhalten, die dann, wenn sie sich nicht soumsetzen lassen, wie Sie es glauben, dazu führen, daßInvestitionen in noch stärkerem Maße gekürzt werdenmüssen, als dies jetzt schon der Fall ist. Bestenfalls kön-nen Sie darüber ungedeckte Wechsel ausstellen.Die Deutsche Bahn – das habe ich schon gesagt –haben Sie in ein Interregnum entlassen. Ich kann nurhoffen, daß Sie sich nicht noch stärker in unternehmeri-sche Entscheidungen einmischen.Zu den wesentlichen Problemen der Luftfahrt sindSie bisher alle Antworten schuldig geblieben. Ihr Nach-folger tritt ein schweres Erbe an. Wir werden das auf-merksam verfolgen. Aber wir können Ihren Haushalts-entwurf ohne Zögern in allen Punkten ablehnen. Dabeiwerden wir uns aber vorbehalten, Ihrem Haus Vorschlä-ge dazu zu unterbreiten, wo aus unserer Sicht tatsächli-che Einsparungen vorgenommen werden können.
Ich erinnere hier an das immer noch nicht umgesetzteGutachten Wibera II zur Regionalisierung des Nahver-kehrs und ähnlichem. Über all diese Punkte muß manreden. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Glück fürIhr Parteiamt; hoffentlich nicht zu unseren Lasten.Danke sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Christine Ostrowski.
Vielleicht sollte ichjetzt auch etwas wehmütig tun, weil es immerhin meineletzte Rede ist, die ich an einen Minister richte, derheute abend seinen Hut nimmt. Aber ehrlich gesagt,hatte ich, Herr Müntefering, nie den Eindruck, daß Siesich für den Wohnungsbau besonders interessiert haben.Allein die ungleichen Einsparsummen im Wohnungs-bau- und im Verkehrsetat sprechen Bände. Insofern hältsich meine Trauer durchaus in Grenzen, obwohl ich Ih-nen persönlich selbstverständlich auch alles Beste wün-sche. Egal, wie der künftige Minister heißt: Schlechterkann es mit Sicherheit nicht werden.Damit komme ich zum Haushalt, welcher heute daseigentliche Thema ist. Ich hatte nicht erwartet, daß der99er Haushalt, der schon der niedrigste seit Jahren war,noch einmal zu übertreffen sei. Ich hatte mich geirrt.Meine Damen und Herren, Sie legen mit dem Haus-halt 2000 eine so radikale Ausgabenstreichung vor, wiesich das nicht einmal Schwarzgelb getraut hatte. DieAusgabenstreichung erfolgt aber alles andere als ge-recht. Wenn Sie nämlich in den nächsten vier Jahren un-gefähr 12 Milliarden DM im Wohnungsetat einsparenund davon allein 9,6 Milliarden DM den Kommunen imRahmen des Pauschalwohngeldes überstülpen, also denfinanziell schwächsten Gliedern der öffentlichen Hand,ist das nicht gerecht. Wenn Sie die Förderung des so-zialen Wohnungsbaus in den Keller fahren und damitMenschen treffen, die auf preiswerten Wohnraum ange-wiesen sind, ist das ebenfalls nicht gerecht.
Wenn Sie dem die Summe gegenüberstellen, die imRahmen der Steuer über die Eigenheimzulage und beimVorkostenabzug eingespart wird, die eben nur ein Fünf-tel dieses Betrages ausmacht, ist das eine Schieflage, obSie das nun wollen oder nicht.Es ist spannend: Manche der Streichkonzerte zumHaushalt – das wage ich zu behaupten – sind sogarwahltaktisch angelegt, zum Beispiel zum Wohngeld.Das Tabellenwohngeld West soll um 80 DM, das Ta-bellenwohngeld Ost um 35 DM erhöht werden. Vor ei-nem Jahr hatten wir dazu einen Antrag vorgelegt. Denhaben Sie verrissen, daß es nur so rauchte. Sie könnensich sicher erinnern. Heute ist es wie häufig: Sie erfüllenbeim Tabellenwohngeld nicht nur unsere Forderung, Siegehen sogar noch darüber hinaus. Fast würde ich sagen:Sie überholen uns, ohne uns einzuholen.Aber, meine Damen und Herren, meine Freude istgetrübt, denn erstens wird die Erhöhung auf das Jahr2001 verschoben,
und 2002 sind Wahlen. Sie wird verschoben, obwohl Sienächstes Jahr das Wohngeld für Sozialhilfeempfängerdie Kommunen bezahlen lassen wollen und damit schonerkleckliche Milliarden einsparen. Das verschlägt mirschon die Sprache. Wenn Sie sich schon in dieser Posi-tion aus der Finanzierung des Wohngeldes zurückzie-hen, ist es doch das Mindeste, daß Sie das Wohngeldzugleich und zeitgleich angeben.Zweitens. Die Kostenverschiebung von der einen öf-fentlichen Hand in die andere ist wirklich nichts anderesHorst Friedrich
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4980 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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als eine Luftbuchung. Das sehe ich ganz genauso. Es istin Anbetracht der finanziellen Lage der Kommunen völ-lig inakzeptabel. Die Gemeinden sind weder bereit nochdazu in der Lage, die auf sie zukommenden Mehrausga-ben hinzunehmen. Sie sind auch nicht die Ersatzkassendes Bundes.
Besonders schlimm ist, daß Sie sich Ihrer politischenVerantwortung auf eine unredliche Art und Weise entle-digen. Denn Arbeitsmarktpolitik ist in erster Linie IhreSache, ist Sache des Bundes. Sie ist in zweiter Linie Sa-che der Länder und erst in dritter Linie Sache der Kom-munen. Deshalb ist die Feststellung – die sich im Ge-setzentwurf manifestiert –, es gebe da einen Sachzu-sammenhang, völlig unzutreffend. Vielleicht lesen Sieeinmal bei Rommel nach, der so schön gesagt hat – ichzitiere ihn einmal -:Im Umgang mit den Bonner Ministerien hat manoft den Eindruck, sie könnten sich nie irren, da sichdie Kommunen ihrer Ansicht nach immer irren.Denken Sie einmal über diesen klugen Satz nach!Drittens. Was Sie mit den Sozialhilfeempfängernvorhaben, ist besonders problematisch. Wir warnen da-vor, die Anhebung des Tabellenwohngeldes mit einemAbbau der Leistungen bei den Schwächsten zu bezahlen.
Nun schlagen Sie das nicht so direkt vor – vielmehrschweigen Sie in dieser Sache –, aber im Ergebnis läuftes darauf hinaus. Es ist doch zum einen völlig klar, daßdurch die Abwälzung der finanziellen Lasten auf dieKommunen ein ungeheurer Druck auf die Gemeindenentsteht. Er wird dazu führen, daß Sozialhilfeempfängerin schlechteren Wohnungen untergebracht werden. Zumanderen werden die Betroffenen normiert und zukünftigwie Tabellenwohngeldempfänger behandelt. SteigendeMieten, steigender Zuschuß – dieser Zusammenhang giltnun nicht mehr. Sie drücken das ja auch aus, wenn auchetwas verschämt – ich zitiere -:Der besondere Mietzuschuß für Sozialhilfeempfän-ger steigt künftig weniger dynamisch an.Aber der Anstieg des Wohngeldes war ja nicht densteigenden Ansprüchen der Bedürftigen geschuldet,sondern steigenden Mieten. So beseitigen Sie die Unge-rechtigkeit gegenüber den Tabellenwohngeldempfän-gern und erzeugen eine neue gegenüber Sozialhilfeemp-fängern. Wenn Sie das als soziale Gerechtigeit verkau-fen – nicht mit uns. Die Sozialhilfeempfänger sind we-der schuld, daß sie Hilfe zum Lebensunterhalt brauchen,noch daß ihre Mieten steigen.Zum sozialen Wohnungsbau. Schon in den letztenfünf Jahren wurden die Fördermittel von Bund und Län-dern massig zurückgefahren; die Auswirkungen sindsichtbar. Und doch bin ich versucht auszurufen: Was istdieser Rückgang schon gegen den Kopfsprung insNichts, den Sie mit diesem vorgelegten Haushaltsent-wurf wagen: von 1,1 Milliarden DM auf 600 MillionenDM. Das ist das Aus für den sozialen Wohnungsbau,und das bei einer SPD-geführten Regierung. Da ist manschon sprachlos. Achim Großmann sagte seinerzeit – ichzitiere –:Eine SPD-geführte Bundesregierung wird dafürsorgen, daß die Zahl der Sozialwohnungen wiedersteigt.
Vielleicht haben Sie es ja vergessen, meine Damenund Herren von Rotgrün: Der soziale Wohnungsbau istfür Menschen da, die auf bezahlbares Wohnen angewie-sen sind. Mit dieser Talfahrt legen Sie eine soziale Zeit-bombe, weil bezahlbare Wohnungen für Bedürftigekaum mehr gebaut werden, weil vorhandene Sozialwoh-nungen – das wissen Sie ja alles – en masse aus der Bin-dung herausfallen und der Verkauf von öffentlichenWohnungsbeständen bei Bund, Ländern und Kommunenvoranschreitet. Darüber hinaus legen Sie eine arbeits-marktpolitische Zeitbombe – auch das ist eine Binsen-weisheit –, weil sinkender Mietwohnungsbau zu einemAbbau der Arbeitsplätze in der Bauindustrie führt. Dasheißt letztlich, daß Sie auch hinsichtlich der Steuerein-nahmen eine Zeitbombe legen.Um noch einmal die soziale Gerechtigkeit zu bedie-nen: Ihre radikale Kürzung beim sozialen Wohnungsbauist eben auch ungerecht. Ich frage mich, warum Sie nichtan die hohen degressiven Abschreibungen im freifinan-zierten Wohnungsbau herangehen. Da waren ja – dasmuß ich ja auch einmal sagen – die Petersberger Be-schlüsse schon weiter.Ganz schlimm ist noch, daß Sie – Sie sind Woh-nungsbaupolitiker, Sie sind Fachleute, Sie wissen das –die nächste Wohnungskrise einleiten. Der Wohnungs-markt ist ja nur bei oberflächlicher Betrachtung ent-spannt. Das Fehlen von 1 Millionen Wohnungen, dieNotwendigkeit des Ersatzes von Wohnungen, die verän-derten Haushaltsgrößen, die veränderten Wohnbedürf-nisse und die Zuwanderung erfordern Jahr für Jahr denBau von mindestens 400 000 Wohnungen. Diese Zahlhaben Sie auf dem Rostocker Mietertag genannt. Sieaber folgen dem alten Muster: Rückzug, wenn es ent-spannt aussieht, statt eines vorausschauenden Handelns.So lief es immer in der Bundesrepublik. Ich bedauere,daß Sie nichts gelernt haben.Kommen wir zum Programm „Soziale Stadt“. Auchwenn Sie ein zweites Programm von 100 Millionen DMauflegen – real stehen im nächsten Jahr nur 30 MillionenDM zur Verfügung –, kann dies nicht darüber hinweg-täuschen, daß Sie beim sozialen Wohnungsbau immenseKürzungen vornehmen. Die Mittel reichen – das wissenSie – auch nicht aus, um dem Anspruch des Programmsgerecht zu werden. Denn es geht ja nicht nur um die Be-seitigung von Problemen in gefährdeten Stadtteilen. Ei-gentlich geht es darum, eine Politik zu machen, die einenachhaltige – auch und gerade eine sozial nachhaltige –Entwicklung der Städte ermöglicht: „Lebensqualität inChristine Ostrowski
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4981
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den Städten“, wie der Herr Bundesminister zu Rechtsagte.Man fragt sich: Wenn beim sozialen Wohnungsbauschon so gekürzt wurde, waren sie denn dann nicht inder Lage, diese Kürzungen wenigstens mit Ihrem wirk-lich hervorragenden Ansatz zur sozialen Stadt so zu ver-binden, daß Sie dort mehr draufpacken? Man fragt sichüberhaupt, wo all die Millionen und Milliarden ver-schwunden sind, die im Wohnungsbereich direkt undsteuerlich eingespart worden sind. Im Wohnungsbausind sie jedenfalls nicht gelandet.Noch ein letztes Wort zum KfW-Programm für dieneuen Länder. Das ist sehr witzig: Wir hatten im letztenJahr beantragt – daran werden Sie sich noch erinnern –,die Zinszuschüsse zu erhöhen, damit das Programmfortgesetzt wird. Sie haben das entschieden abgelehntund uns für blöd erklärt. Jetzt aber – man höre und stau-ne – gehen Sie diesen Schritt. Natürlich ist er richtig.Was denn sonst? Nur dieser Schritt ist die Garantie fürdie Fortsetzung des Programms.Zusätzlich zu diesen 330 Millionen DM, die Sie alsZinszuschüsse neu auflegen, kündigen Sie für das Fol-gejahr ein weiteres Programm mit einem Volumen von10 Milliarden DM an. Spannenderweise steht dafür keinBetrag im Haushalt.
Wenn es zu diesem angekündigten Programm kommt,dann entfaltet dieses Programm seine volle Wirkung et-wa im Jahr 2002 und damit – wann auch sonst? – pünkt-lich zu den nächsten Bundestagswahlen. Dafür soll dieZinsstützung zur Hälfte von den Ländern getragen wer-den. Ich vermute, die Länder werden das tun, weil sieum die Notwendigkeit der Modernisierung der Woh-nungen wissen. Ich vermute aber auch, daß die Länderdiese Mittel an anderer Stelle in ihrer Wohnungsförde-rung einsparen müssen. Ein Loch wird gestopft, ein an-deres aufgemacht. Ich könnte Position für Position imHaushalt durchgehen. Ich erspare es mir.
Im Prinzip gilt: Wohin man schaut, es wird abgebaut.In der letzten Legislaturperiode hatten Sie wieder undwieder die Reform der Wohnungsbauförderung ange-mahnt. Heute – ich hoffe, das fällt Ihnen überhaupt auf –ist das Wort Reform aus Ihrem wohnungspolitischenWortschatz nahezu verschwunden. Das ist der eigentli-che Vorwurf, den ich Ihnen machen muß. Wenn Sieschon sparen, dann wäre das ja noch zu akzeptieren,dann wäre das alles ja noch hinnehmbar, wenn Sie daswenigstens mit einem neuen qualitativen Ansatz verbin-den würden; aber genau der fehlt. Bei der MickrigkeitIhrer Fonds stellt sich ja auch die Frage, wie Sie über-haupt noch etwas reformieren sollen können. Es ist zumReformieren fast nichts mehr da. Das kommt dabei her-aus, wenn ein Finanzminister der oberste Wohnungspo-litiker der Bundesregierung ist.Ich hatte eigentlich etwas anderes erhofft, aber IhrHaushalt –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, ich
bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
– ich komme zum
Schluß – ist die Fortsetzung der alten Politik – nicht mit
anderen, sondern mit weniger, mit deutlich weniger
Mitteln. – Na dann, gute Nacht!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin An-
nette Faße, Sie haben jetzt das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich habe mich gefragt, ob ichnoch heute oder erst morgen reden kann; wir haben esdenn ja noch heute geschafft.Ich muß Ihnen ehrlich sagen, daß es schwer zu ertra-gen war: Die eine Seite tut so, als wenn sie mit den Ver-säumnissen der Verkehrspolitik in den letzten 16 Jahrennichts zu tun gehabt hätte; die andere Seite tut so, alswenn ohne sie der ganze Sozialstaat zusammenbrechenwürde, die Menschen ohne Wohnung wären und wir dieZelte aufbauen müßten.
Die einen stellen sich hin und sagen, das seien allesfurchtbare Kürzungen, haben aber überhaupt nicht rich-tig in den Haushalt geschaut; die anderen sagen, wirmüßten mehr Geld einstellen, verschweigen aber, woherwir es nehmen sollen. Meine Damen und Herren, wasdie Oppositionsparteien uns heute geboten haben, warVerschwendung der Zeit.
Es war nicht nur Zeitverschwendung, sondern auchschlechter Stil, was Sie, Herr Fischer, heute abend gelie-fert haben.
Man kann sich ja in der Sache streiten, aber einen Mini-ster anzugreifen, der sich in der ganzen Verkehrswirt-schaft einen hervorragenden Namen erworben hat,
steht Ihnen nicht zu. Sie haben sich an dieser Stellewirklich unhöflich und unmöglich benommen.
– Dann muß ich Ihnen sagen, daß Sie den Kontakt zurWirtschaft nicht mehr halten. –
Christine Ostrowski
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4982 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Der Minister hat sich in diesem Jahr eine hohe Anerken-nung erworben – trotz des Vermächtnisses, das Sie unshinterlassen haben,
trotz der vielen Spatenstiche, die Sie gemacht haben undbei denen die Finanzierung nicht stand, und trotz einesBundesverkehrswegeplans mit einem Minus von 80 bis90 Milliarden DM, auch wenn Sie das jetzt abschwächenwollen.Sie haben hier Versprechungen gemacht und im gan-zen Land munter Geschenke verteilt, sich dabei aber niedamit auseinandergesetzt, wie Sie das finanzieren wol-len. Wir werden die Finanzierung auf eine sichere Basisstellen, so daß der Streit vor Ort aufhört und jeder weiß,woran er ist. Das ist eine schwierige Aufgabe. Wenn Siebei dieser Aufgabe, der wir uns stellen, nicht mitmachenwollen, dann ist es Ihr Bier. Ein „Weiter so“ wird es je-denfalls bei uns nicht geben.
20 744 000 000 DM beträgt die Summe, die imHaushalt 2000 für Verkehrsinvestitionen zur Verfügungsteht. Das sind 726 357 000 DM mehr als im vorigenHaushalt. Ich frage mich, ob Sie den Haushaltsentwurfgelesen haben.
Wenn man noch bedenkt, daß wir aus dem EU-Strukturprogramm 3 Milliarden DM in den Jahren 2002bis 2006 bekommen und damit zusätzlich Investitionenin Höhe von 8 Milliarden DM anstoßen, dann muß dasan dieser Stelle ganz deutlich und ganz besonders inRichtung der neuen Länder gesagt werden. Damit wer-den die Maßnahmen schneller finanziert, als es andersmöglich gewesen wäre.
Es ist fast so, als ob der Brandstifter nach der Feuer-wehr ruft. Ich finde es schon sehr erstaunlich, was Siehier geleistet haben. Wir haben es mit 1,5 Billionen DMSchulden und mit 82 Milliarden DM Zinsen jedes Jahrzu tun.
Wenn ich in dem zuständigen Ausschuß sagen würde, eswürde trotz dieser Tatsache keine einzige Mark einge-spart, dann wäre das unverantwortlich.
Die vorgesehenen Kürzungen treffen eben nicht deninvestiven Bereich, weil wir natürlich selber ganz genauwissen, daß jede Mark in diesem Bereich den Arbeits-plätzen zugute kommt. Wir stehen außerdem in der Ver-pflichtung, neue Projekte anzugehen, aber vor allenDingen – ich will betonen: auch das ist ein Vermächtnisvon Ihnen – müssen wir von Jahr zu Jahr mehr Geld fürden Erhalt unserer Straßen und Schienenwege ausgeben.
Man muß deutlich sehen, daß es in diesem Bereich eineUmgewichtung geben wird. Wenn wir nämlich unsereStraßen und Schienenwege nicht mehr befahren können,dann können wir einpacken. Das wollen wir nicht.
Für uns gilt weiterhin klar und deutlich: Wir schaffenArbeitsplätze mit diesem Haushalt; wir sichern dieHandlungsfähigkeit in der Verkehrspolitik; wir über-nehmen Verantwortung für zukünftige Generationen;wir sichern die Mobilität, und wir setzen Wachstumsim-pulse. Ganz klar und deutlich gesagt: Diese Erblast, diewir übernommen haben, hat uns nicht dazu bewegt, zusagen, daß nichts mehr passiert und daß wir einen radi-kalen Kahlschlag durchführen. Wir haben vielmehr klarund deutlich gesagt, daß wir investieren wollen, weil wirwissen, daß diese Vorgehensweise richtig ist.Bei den Bundeswasserstraßen liegt der Etatansatz fürInvestitionen bei mehr als 1,3 Milliarden DM. Im Schie-nenbereich werden 6,83 Milliarden DM zusätzlich zuden Eigenmitteln der Bahn zur Verfügung gestellt. Fürdie Bundesfernstraßen bleiben die Investitionen mitknapp 8,3 Milliarden DM auf einem hohen Niveau.
– Ich habe schon im letzten Jahr an diesem Punkt IhrenEinwurf gehört. Dieses Jahr können Sie ihn sich sparen,Herr Friedrich.
Wir bleiben bei unserem Ziel, ein integriertes Ver-kehrssystem auf die Beine zu stellen, in dem jeder Ver-kehrsträger seine Systemvorteile nutzen kann. Wir blei-ben bei unserer Aussage, daß wir die umweltfreundli-chen Verkehrsträger Schiene und Wasserstraße stärkenwollen. Um das zu erreichen, werden wir die strecken-bezogene Lkw-Gebühr einführen, um eine Stärkung fürSchienen- und Wasserwege erreichen zu können.Trotz aller Haushaltsnöte sind wir weiterhin in derLage, die 100 Millionen DM für die Lärmsanierung inden Haushalt einzustellen.Wir veranschlagen weiterhin 60 Millionen DM fürden Schwerpunkt Kombiverkehr. In diesem Zusam-menhang habe ich mich schon gewundert, daß unserAusschußvorsitzender gesagt hat, wir könnten die60 Millionen DM eigentlich in den Straßenbau stecken.Heißt das, daß sich die CDU/CSU vom Kombiverkehrverabschiedet?
Annette Faße
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999 4983
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Dann frage ich mich: Haben Sie die ganzen Jahre aufdas falsche Pferd gesetzt, oder was ist das für ein Zei-chen? Diese Aussage hat mich schon sehr gewundert.Es ist schon richtig, daß der kombinierte Verkehr zurZeit nicht die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt.
Mit den Ergebnissen der aktuellen HaCon-Studie, in de-nen der KV unter derzeitigen Voraussetzungen auch imJahr 2010 lediglich bei 30 Millionen Tonnen Ladungs-aufkommen pro Jahr liegt, können wir uns nicht zufrie-dengeben. Aber das heißt nicht, daß wir diesen Bereichaufgeben.
Darum begrüße ich es ausdrücklich, daß MinisterMüntefering eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat, die unsim Herbst – eher war es nie angekündigt – konkreteVorschläge für diesen Bereich auf den Tisch legen wird.Ich sehe gerade hier einen Bereich, in dem die Deut-sche Bahn ganz klar eine Verbesserung der Netzqualitätauf ihre Fahnen schreiben muß und wird, daß ganz klarein diskriminierungsfreier Zugang neuer Wettbewerbernötig ist, daß eine Straffung von Managementstrukturenund ein Angebot marktfähiger Preise ein Ziel sein muß.Ich verspreche mir hierbei von Herrn Mehdorn sehr viel.Wir kennen ihn aus dem Norden. Wir haben unsere Da-sa-Werke gehabt. Es ist ein Mann, der sich einsetzt undAhnung hat. Er wird es hinbekommen. Mit ihm wollenwir es gerne tun.Eine aktive Schiffahrts- und Hafenpolitik zeigt er-ste Erfolge. Mich wundert, daß es von Herrn Fischernicht erwähnt worden ist. Wir haben dabei einen Teilgemeinsam gemacht. Nachdem die Umsetzung der Ton-nagesteuer erfreulicherweise im ersten Halbjahr gelun-gen ist, setzen nun die erwarteten positiven Wirkungenein. Deutsche Unternehmen kehren zurück. Ausländi-sche Reedereien lassen sich am deutschen Standort nie-der. Ich will betonen, daß wir die Probleme, was dieSchiffsbesetzung betrifft, weiterhin kritisch sehen.Die Seeschiffahrt bekommt auch in Zukunft5 Millionen DM für den Bereich Ausbildung. Das istuns sehr wichtig, um es deutlich zu sagen. Wir sehen fürdie Seehäfen in Gemeinsamkeit mit den Ländern großeChancen. Wir haben heute die gemeinsame Plattformdes Bundes und der Länder. So etwas hat es vorher niegegeben. So etwas ist unter diesem Minister entstanden.Wir stehen zu den seewärtigen Zugängen und natürlichauch für die Bereitstellung der Hinterlandverbindungen,sei es Straße, Schiene oder Wasserstraße ein.Wir werden in unser integriertes Verkehrskonzeptnatürlich auch den Luftverkehr einbeziehen. Anfangdes Jahres 2000 wird ein Lufthafenkonzept vorgelegt,das Bestandteil des für das erste Quartal 2000 angekün-digte Luftfahrtkonzept 2015 sein wird.
– So eine Konzeptverbundenheit aller Verkehrsträgerhaben Sie nie in Ihrem Kopf als Idee, Vorstellung oderZiel gehabt.
Wir haben es. Wir gehen ganz vernünftig daran, diesauch Stück für Stück umzusetzen.
– Das meinen Sie. Wenn Sie schlafen gehen wollen,können Sie das gerne tun, Frau Baumeister. Ich be-urlaube Sie gerne, wenn Sie gehen wollen.
Ich habe etwas zum Erhalt der Straße gesagt und daßdieser Erhalt für uns eine höhere Wertigkeit haben muß.Ich habe ganz klar und deutlich die Worte von HerrnFriedrich gehört, der nun meint, die Privatfinanzierungsei seine Idee. Ich bin nicht bereit, heute nacht mit Ihnendarüber zu streiten.
Ich halte es für sehr richtig und wichtig, daß wir hier beidem großen Bedarf an Straßenausbau und -erhalt neueWege beim Straßenneubau suchen. Ich begrüße es sehr,daß diese Arbeitsgruppe eingesetzt worden ist.Was wir nicht mehr machen werden, ist die reine pri-vate Vorfinanzierung von Projekten. Das muß ich ganzklar und deutlich sagen; denn die Probleme werden eini-ge Länder in nicht allzu langer Zeit bekommen. Siemüssen zurück zahlen. Die ersten Projekte stehen an.Dabei ist die Quote, die jedem Land zusteht, zu berück-sichtigen.
Es wird in den Ländern noch ganz lange Gesichtergeben, die sich zuerst gefreut haben, daß sie eine Maß-nahme schnell bekommen haben. Dabei wird es engwerden. Es wird viele Schwierigkeiten geben.
Ich bin dafür, die Bahn ganz massiv zu unterstützen.Wir wollen den Wettbewerb auf der Schiene forcieren.Inwieweit in diesem Zusammenhang eine neutrale In-stitution von Nutzen sein kann, die den Schienenzugangregelt, muß sicherlich diskutiert werden.Bei den Bundeswasserstraßen liegt der Etatansatzfür Investitionen bei mehr als 1,3 Milliarden DM unddamit gut 16 Millionen DM höher als im Haushalt 1999.Die Binnenschiffahrt spielt für uns eine sehr wesentlicheRolle. Ich begrüße es an dieser Stelle ausdrücklich, daßdie 3 Millionen DM für die Ausbildungsförderung in derBinnenschiffahrt, die wir im letzten Jahr zum erstenmalAnnette Faße
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einstellen konnten, auch für das Jahr 2000 bereitgestelltwerden. Das ist für die Binnenschiffahrt ein wichtigesZeichen in Richtung Zukunft. Dieses Zeichen – so denkeich – braucht die Binnenschiffahrt auch.Wir werden bei den Projekten für die Wasserstraßendanach vorgehen, welche für den Erhalt und für dieSteigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vongrößter Bedeutung und Wichtigkeit sind. Schwerpunktewerden weiterhin die seewärtigen Anbindungen, dasKanalnetz und natürlich das Verkehrsprojekt 17 Deut-sche Einheit sein. Wir wissen aber auch, daß wir beimErhalt großen Handlungsbedarf haben; ich denke nur andie große Problematik bei den Schleusen. Wenn wirnicht etwas für den Erhalt tun, dann bekommen wir ganzklar und deutlich Schwierigkeiten.Ich freue mich, daß es wahrscheinlich gelingt, für dieBinnenschiffahrts-Berufsgenossenschaft eine gute,haushaltsneutrale Lösung zu finden. Manchmal darf mannicht allen Verbänden glauben. Es kann andere Lösun-gen geben als die, wie sie im Bundeshaushalt vorgese-hen ist.Meine Damen und Herren, ich möchte mich an dieserStelle bei Minister Müntefering für seine Arbeit bedan-ken. Wir alle, die wir hier sitzen – ich denke, ich sprecheauch für Sie –, wünschen Ihnen für die Zukunft allesGute. Die SPD und die Kolleginnen und Kollegen derArbeitsgruppe haben mit Ihnen hervorragend zusam-mengearbeitet. Ein neuer Minister, an den wir uns si-cherlich erst gewöhnen müssen, braucht bestimmt etwasEinarbeitungszeit. Wir sind bereit, ihm diese zu geben –ich hoffe, Sie auch.Der frühere britische Premier Edward Heath hat ein-mal gesagt:Ich hätte gerne ein Regierungssystem, in dem die,die etwas tun wollen, an der Macht sind – und die,die gerne reden, die Opposition bilden.Wir tun etwas. Das macht dieser Haushalt deutlich. Ichdenke, die Rollen im Bundestag sind hervorragend ver-teilt.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner an
diesem Tag – aber noch nicht in dieser Debatte – ist der
Kollege Dr. Dietmar Kansy, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ichhatte mir schon immer gewünscht, einmal um Mitter-nacht im Reichstagsgebäude zu reden. Wir haben jetztsozusagen Geisterstunde – auch deswegen, weil ab heuteausgerechnet Herr Trittin Verkehrs- und Bauministerdieses Landes ist. Das spricht eine Menge für das, washier passiert ist.Herr Müntefering, bitte haben Sie Verständnis dafür,daß ich die guten Wünsche der Frau Kollegin aus-schließlich auf Ihr persönliches Wohlergehen der näch-sten Jahre beziehe. Nachdem Sie schon zu Anfang einegewisse Erwartungshaltung hinsichtlich Polemik an DirkFischer und mich gerichtet haben, muß auch ich michdaran halten, damit ich im Rahmen bleibe.Als die rotgrüne Koalition im letzten Herbst die Bil-dung eines – wie es damals hieß – neuen Superministe-riums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen bekannt-gab, da wurde der damalige Ministeraspirant, der heutegerade noch Minister ist, neben Lafontaine – der auchschon weg ist – als zweiter Superminister dieser Regie-rung gefeiert. Es wurden entsprechend der Koalitions-vereinbarung Erwartungen geweckt, es wurden von Ih-nen Verzahnungs- und Synergieeffekte versprochen, dieauch dem Wohnungs- und Städtebau zugute kommensollten. Die Erwartungen waren tatsächlich sehr hoch.Ich möchte an Wilfried Drager erinnern, der zwei Ta-ge nach Ihrer Vereidigung, Herr Minister – Sie werdensich bestimmt noch daran erinnern –, auf dem Ver-bandstag des Gesamtverbandes der Wohnungswirtschaft1998 noch hoffnungsvoll erklärte – ich zitiere –:Ihre Bestellung als neuer Wohnungsminister ist ausSicht der Wohnungswirtschaft ein Glücksfall.Dies sagt heute keiner mehr, selbst nicht der Ihnensehr nahestehende Mieterbund.Nicht nur die rotgrünen Wahlversprechen, sondernauch die Koalitionsvereinbarung ist nach einem Jahr, indem Sie Minister waren, nur noch Makulatur. Verstär-kung der Städtebauförderung – Fehlanzeige! Das viel-gepriesene Projekt „Soziale Stadt“, das in den letztenzwei oder drei Jahren von der ARGE Bau entwickeltwurde und nicht von dieser Regierung, ist in zweifacherHinsicht eine Luftnummer. Real stehen 30 MillionenDM zur Verfügung. Diese werden aus dem Etat für densozialen Wohnungsbau abgezogen, über den der Mini-ster eben noch sagte, er müsse die Mittel im sozialenWohnungsbau bedauerlicherweise kürzen, aber er wollesie auf den Ausbau der Bestände insbesondere in denneuen Ländern konzentrieren. Dieses ganze Paket wirddann „Soziale Stadt“ genannt.Verbesserung des sozialen Wohnungsbaus – Fehlan-zeige! Ein schnell verbessertes Wohngeld – Fehlanzei-ge! Weiterentwicklung der Eigentumsförderung – Fehl-anzeige! Alle diese Maßnahmen stehen in Ihrer Koali-tionsvereinbarung. Stärkere Beschäftigungsimpulse inder Bauwirtschaft – das Gegenteil ist auf Grund der vor-herigen Fehlanzeigen der Fall. Aus der Ankündigungdes Bundeskanzlers „Wir machen nicht alles anders,aber manches besser“ ist nach unserer generellen Erfah-rung der Satz geworden: „Wir machen vieles anders,aber nichts besser.“ Für das verantwortliche Ministerium– das werfe ich Ihnen auch hier noch einmal vor –scheint in diesem Jahr die Parole gegolten zu haben:„Wir machen gar nichts mehr.“ Das ist im Grunde dasErgebnis der Wohnungs- und Städtebaupolitik des letz-ten Jahres.
Aus Ihrem Ministerium, Herr Minister, haben Sie ei-ne Verfügungsmasse Ihrer Parteizentrale gemacht. SieAnnette Faße
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und die anderen Kampa-Experten wie Machnik, Don-nermeyer, Wasserhöfel und wie sie alle heißen, werdenständig zwischen der Parteizentrale und den Ministerienhin und her geschaufelt. Dies ist einer der Gründe dafür,warum Ihr Ministerium nie vorangekommen ist undauch in den nächsten Monaten nicht vorankommen wird;denn diese Schaufelei geht weiter.Auch der Einzelplan 12 für den Baubereich ist dasErgebnis dieser Politik. Dazu wird der Kollege Willnerim Laufe dieser Debatte noch detailliert Stellung neh-men. Natürlich sind die finanziellen Rahmenbedingun-gen seit Jahren schlecht. Wir haben auch nicht erwartet,daß Sie die von uns angeschobenen Reformvorhabenwie die im Bundesrat an der Lafontainschen Blockade-politik gescheiterte Reform des sozialen Wohnungsbausoder die Wohngeldnovelle der alten Regierung, die mit250 Millionen DM mehr ausgestattet war, einfach über-nehmen würden. Aber daß Sie, Herr Minister, im Woh-nungsbau gleichzeitig die Rahmenbedinungen für denfrei finanzierten Wohnungsbau, für den sozialen Woh-nungsbau und für die Eigentumsförderung sichtbar ver-schlechtert haben, eine Wohngeldnovelle nicht auf denWeg gebracht haben und sich auf dem Polster eines aus-geglichenen Wohnungsmarktes ausgeruht haben – daswar ein Riesenfehler, der auch schon in der Wohnungs-baupolitik der letzten Jahre mehrfach gemacht wurde –,lassen wir Ihnen nicht durchgehen.Beispielhaft für gebrochene Wahlversprechen undnicht eingelöste Ankündigungen – das ist heute schonmehrfach angesprochen worden – ist das Wohngeld.Keiner weiß mehr in diesem Hause – außer vielleicht derehemalige Bauminister Oswald auf Grund seiner Erfah-rungen, die er während der letzten Monate der letztenLegislaturperiode gesammelt hat –, wie schwierig es ist,bei einem Finanzminister Geld für eine Wohngelderhö-hung lockerzumachen. Aber 250 Millionen DM zusätz-liche Bundesmittel haben wir dem damaligen Finanzmi-nister – trotz der bekannten Finanznot der letzten Jahre –im wahrsten Sinne des Wortes abgerungen. Wir habenuns öffentlich mit ihm angelegt, um dieses Ziel zu errei-chen.Was haben Sie nach den großartigen Ankündigungen– ich meine nicht nur Ihre, sondern auch die des Kanz-lers – eigentlich getan? Schröder schrieb in der „Mieter-Zeitung“ kurz vor der Wahl – ich zitiere –:Die Wohngeldreform steht auf der Agenda einersozialdemokratisch geführten Bundesregierungganz oben.Heute steht sie auf der Kürzungsliste ganz oben.
Immer noch O-Ton Schröder:Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Mini-reform mit 250 Millionen DM hätte das Problemnicht gelöst. Schon Ex-Bauminister Töpfer hatteeinen Bedarf von 1,8 Milliarden DM ermittelt.Im Plenum des Deutschen Bundestages – damalsnoch in Bonn – sagte in einer sehr erregten Debatte derSPD-Senator Wagner aus Hamburg: „Und Sie stellensich hierhin und kommen mit Ihren 250 Millionen DM.“So war die Situation am Ende der Legislaturperiode. DerErwartungshorizont war hoch. Was jetzt passiert, kannangesichts der Dreistigkeit nur die Sprache verschlagen:2,3 Milliarden DM werden über das pauschalierteWohngeld den Ländern und Gemeinden einfach aufsAuge gedrückt. Zusätzlich zu Lasten der Länder kom-men noch rund 0,3 Milliarden DM Wohngeld aus derKrankenhausmischfinanzierung, die bisher vom Bundgetragen wurden.Frau Kollegin Mertens, als wir dies Anfang diesesJahres im Ausschuß ansprachen, haben Sie – das habenSie auch in Ihren Presseveröffentlichungen dokumentiert– gesagt, die Finanzierung der Wohngeldnovelle – derBedarf liegt bei 750 Millionen DM mehr für den Bund;das war noch im Februar – eine Verschiebung vom pau-schalierten Wohngeld zum Tabellenwohngeld lehne dieArbeitsgruppe ab. Statt dessen ist eine Finanzierungvorgesehen, die unter anderem aus dem Wegfall desVorkostenabzugs des Eigenheimzulagengesetzes resul-tiert, so wie es im Steuerentlastungsgesetz vorgesehenist. Auch die Förderung des selbstgenutzten Wohnei-gentums wird nicht etwa zur Finanzierung des Wohn-gelds genutzt; vielmehr wird sie zum zweiten Abkassie-rungsmodell innerhalb weniger Monate umgepolt.Ich möchte etwas zur Diskussion über das Thema„soziale Gerechtigkeit“ in Ihrer Partei sagen. SchauenSie sich doch einmal das Wohngeldgesetz im Detail an:geringere anzuerkennende Höchstbeträge für Miete undBelastung, Wegfall des degressiven Familienfreibetra-ges, Verringerung der pauschalen Abzüge vom Ein-kommen. Jeder, der behauptet, dies werde unterm Strichbesonders den Rentnern, den Alleinerziehenden und denEmpfängern von Transferleistungen besonders weh tun,hat recht. Eine Partei, die den Anspruch erhebt, einePartei der sozialen Gerechtigkeit zu sein, darf eine sol-che Politik nicht für sich in Anspruch nehmen.
Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht verwunder-lich, daß der Fachausschuß des Bundesrates diese Su-perwohngeldregelung dieses Superministers ohne Ge-genstimme vom Tisch gewischt hat. Ich teile die Be-fürchtung, daß sie auch im Plenum des Bundesratesnicht verabschiedet wird. Für das, was dann passiert,gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste besteht darin, daßwir ein zusätzliches Finanzloch von 2,6 Milliarden DMhaben. Dieses Finanzloch würde wieder zu Lasten vonInvestitionen gehen, die schon in erheblichem Umfanggesenkt wurden. Die zweite Möglichkeit wäre, daß dieWohngeldnovelle erneut scheitert. Dies ist das letzte,was wir brauchen.
Der Direktor des Deutschen Mieterbundes, Franz-Georg Rips – es handelt sich um Ihre ehemaligen politi-schen Freunde; wessen Parteibuch er hat, das wissenwir –, hat gesagt:Das Bonner Sparpaket mit drastischen Kürzungenund Streichungen in der Wohnungspolitik ist eineDr.-Ing. Dietmar Kansy
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einzige Enttäuschung. Der soziale Wohnungsbausteht vor dem Aus, und die längst überfällige undimmer wieder versprochene Wohngelderhöhungwird auch nicht kommen.Ein sehr mutiges Wort von ihm:Die zahlreichen Versprechen vor und nach derWahl werden von der Bundesregierung nicht ein-gehalten.Das sagt der sozialdemokratische Direktor des Deut-schen Mieterbundes.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kansy,
schauen Sie bitte einmal auf die Uhr. Es ist nicht nur ein
neuer Tag, auch Ihre Redezeit ist vorbei.
Falls Ihnen
das immer noch nicht zu denken geben sollte, meine
Kolleginnen und Kollegen:
Der Rückzug des Bundes aus einer aktiven, konti-
nuierlichen und stetigen Wohnungspolitik wird
Konsequenzen haben.
Allerdings!
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Fran-ziska Eichstädt-Bohlig, Sie haben jetzt für die FraktionBündnis 90/Die Grünen das Wort.
Kollegen! Wir hören uns den ganzen Tag über Sankt-Florians-Reden an: Sparen ja, aber doch bitte nicht inmeinem Ressort!
Wir hören sie von dieser und von der anderen Seite derOpposition, vor allen Dingen aber von denjenigen, dievier Jahre lang den schlanken Staat gepredigt haben.
Heute fragen sie uns nur nach mehr Staatsknete.
Eigentlich sollten doch gerade Bau- und Verkehrspo-litiker wissen, daß man mit einer solchen Form von Po-litik keinen Blumentopf gewinnen kann. Wir wissenganz genau, daß wir langfristig denken müssen. Schonum unsere Investitionsaufgaben auch in den nächstenJahren noch erfüllen zu können, müssen wir gemeinsamein existentielles Interesse daran haben, daß die Haus-haltssanierung auf den Weg gebracht wird.
Den Kopf in den Sand zu stecken, nutzt da überhauptnichts.Wenn Sie, Herr Kollege Kansy, und andere hier sovollmundig reden, muß ich Sie darauf hinweisen, daß esIhre Regierung war, die durch die milliardenschwerenSonderabschreibungen Ost die Staatsfinanzen so weithinunter gefahren hat, daß wir jetzt mit leeren Taschendastehen. Das sollten Sie jetzt endlich einmal eingeste-hen. Herr Stoiber hat es bereits eingestanden, als er ge-merkt hat, daß er die Sonderabschreibungen sogar nochbis in den Defizitbereich hochgeschraubt hatte. Wirmüssen also einmal Tacheles darüber reden, woher dieganze Situation kommt.
Sie werfen uns vor, daß wir während der Koalitions-verhandlungen und in der Wahlkampfzeit noch einigeIllusionen darüber hatten, was wir mit dem Haushaltmachen könnten.
Das gebe ich zu; das wissen wir, und das wissen Sie.
Aber dann sollten Sie jetzt auch anerkennen, daß wirtrotz der Sparzwänge, die Sie uns hinterlassen haben,nicht nach der Rasenmähermethode gekürzt haben, son-dern sehr wohl darauf geachtet haben, daß wir die poli-tisch wichtigen Ziele im Auge behalten. Die Städtebau-förderung ist nicht gekürzt worden, das Programm „So-ziale Stadt“ – Herr Minister hat es vorhin schon darge-stellt – ist überhaupt erst neu eingeführt worden. Es istschön, daß Sie auf die ARGE Bau verweisen; aber siehat das Geld nicht gefunden. Wir haben uns darum be-müht.
Ferner geht das CO2-Minderungsprogramm weiter, derKreditrahmen für das Wohnraummodernisierungspro-gramm Ost wird noch einmal aufgestockt. Sie sehen, wirnehmen unser Ziel, die Förderung stärker auf den Be-stand auszurichten, sehr ernst. Bei dieser wichtigen Auf-gabe gibt es keine Abstriche.Zu Frau Kollegin Ostrowski muß ich noch sagen, daßwir nicht auf Neubau, sondern auf Bauinvestitionen an-gewiesen sind, um die Bauwirtschaft zu erhalten. DieInvestitionen können sehr wohl im Bestand vorgenom-men werden. Dort bringen sie sogar noch mehr Arbeits-plätze. Diesen Unterschied sollten wir deutlich sehen.
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
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Zum Thema Wohngeld. Es ist wirklich ein Skandal,wie CDU/CSU und F.D.P. mit diesem Thema umgehen.Mehr als vier Jahre lang haben sie die Wohngeldreformversprochen, aber nicht auf die Reihe gebracht, weil siegleichzeitig stets vom schlanken Staat geredet haben.
Jetzt legen Sie uns einen Antrag auf den Tisch, den Sieseinerzeit mit Ihren 250 Millionen DM nie und nimmerhätten finanzieren können.
Dann mobilisieren Sie auch noch gegen die einzig reali-stische Finanzierungsform, die es heute gibt – hören Siezu, Herr Kansy! –, die wir uns mit Mühe und nicht ausDaffke und mit Vergnügen ausgedacht haben, nämlichdie Absenkung der Einkommensgrenzen bei der Eigen-heimzulage.
Ich fordere Sie von der CDU/CSU und auch Sie von derF.D.P. auf, während der Beratungen des Haushalts unddes Haushaltssanierungsgesetzes zu erklären, wie Sie dieWohngeldnovelle, die wir eigentlich alle gemeinsamwünschen, bezahlen wollen.
Sie wissen ganz genau, daß Sie über den Vermittlungs-ausschuß jetzt mit im Verfahren sind und sich nicht umdie Antwort drücken können, auch wenn Sie hier nochso großartige Reden halten.
– Den Vorschlag haben wir gemacht. Ja, es wäre gut,wenn Sie das mittragen würden. Wenn Sie diesen Vor-schlag nicht mittragen wollen, dann möchte ich hören,wie Sie den einkommensschwachen Haushalten erklärenwollen, daß kein Geld übrig ist, weil ein Haushalt mit240 000 DM Jahreseinkommen nicht auf 5 000 oder8 000 DM Eigenheimzulage verzichten soll. Das müssenSie den Menschen erklären, wenn Sie der Wohngeldno-velle, die wir jetzt auf den Weg bringen, nicht zustim-men wollen.
Bei allem Gejammer darüber, daß Ihnen die Novellenicht gefällt, sollten Sie sich Ihren Antrag durchlesen.Die Reform bringt zumindest für die westdeutschenHaushalte – die ostdeutschen werden gegenüber demjetzigen Status nicht wesentlich bessergestellt; da sollteman nichts versprechen – im Durchschnitt 83 DM mehrim Monat. Das sind keine Peanuts, sondern das ist einechter sozialpolitischer Fortschritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,Sie werden im Bundesrat mit darüber entscheiden, obdie Wohnverhältnisse und Wohnkosten der einkom-mensschwachen Haushalte in dieser Situation endlichverbessert werden. Mehr als eine Million Haushaltewarten dringend auf diese Entlastung. Im Interesse die-ser Menschen fordere ich Sie auf, in dieser Frage end-lich die Polemik zu lassen und sich der Verantwortung,die Sie mit tragen, nicht zu entziehen. Denn wenn dieWohngeldnovelle scheitert, können Sie noch so sehr re-den: Dann werden Sie dafür mit haftbar gemacht.
Ich habe von der Wohngeldreform und vom Tabel-lenwohngeld gesprochen. Jetzt sage ich einen Satz zurFinanzierung des pauschalierten Wohngelds.Diese Frage muß im weiteren Verfahren zwischenBund, Ländern und Kommunen geklärt werden. Das istein Finanzproblem, das so gelöst werden muß, daß dieFinanzierung keinen der Beteiligten überfordert. Der Fi-nanzminister hat als Gegenfinanzierung vorgeschlagen,die Kappung des Anstiegs der Beamtenbesoldung undder Pensionen einzubringen.
– Moment. – Wem das nicht ausreicht, der muß entwe-der andere oder ergänzende Vorschläge dazu machenund darf nicht einfach nur über das Sankt-Florians-Prinzip sprechen. Da muß dann endlich Butter bei dieFische kommen, auch von Ihrer Seite.
Nur Lamentieren nützt überhaupt nichts. Hier muß eineLösung gefunden werden.
– Nein, das ist kein Unding, das ist einfach die Realität.Sie werden im Verfahren des Vermittlungsausschussesmerken, wo Ihre eigenen Verantwortlichkeiten liegen.Aber ich möchte noch zu einem anderen Themakommen. Gerade wenn ich mir die Presseerklärungender letzten Zeit von der Seite der CDU/CSU und derF.D.P. anschaue, fühle ich mich in die wohnungspoliti-schen Debatten der 70er Jahre zurückversetzt: „MasseFranziska Eichstädt-Bohlig
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macht Masse“; – „Mehr Geld, mehr Wohnungsfertig-stellungszahlen“. In der Praxis – darauf hat Herr Mini-ster Müntefering vorhin sehr deutlich hingewiesen – hatdie Wohnungspolitik inzwischen ganz andere Probleme,und das wissen Sie auch sehr gut. Es geht überhauptnicht mehr um die quantitative Frage, mehr und mehrWohnungen herzustellen, sondern es geht um die quali-tative Frage: Wie können wir in den Städten die sozialeLage stabilisieren, bzw. wie verhindern wir weitere De-stabilisierungen?Tatsache ist: Wir haben keinen Bevölkerungszu-wachs, und wir haben keinen größeren Nachholbedarfan Wohnungen und Wohnflächen. Statt dessen habenwir – auf der einen Seite durch die Arbeitslosigkeit undwachsende soziale Distanzen, auf der anderen Seitedurch die extensive Neubaupolitik, die Sie betrieben ha-ben, insbesondere durch die Steuerabschreibungen, diees erlaubt haben, sich auf Null herunterzurechnen –Überangebote. Das Problem ist nicht durch das Wartenauf den nächsten Schweinezyklus aus der Welt zu schaf-fen, sondern damit ist die Gefahr verbunden, daß unsereStädte räumlich, siedlungsmäßig und sozial auseinan-derdriften: Die einkommensstarken Haushalte gehen inden Speckgürtel, und die Haushalte mit den sozialenProblemen und den niedrigen Einkommen bleiben inden Städten. Insofern hängt mit Ihrer schicken Politikder Überangebote zusammen, daß wir in den Städtenzunehmend soziale Probleme bekommen. Ich glaube,wir alle wollen keine amerikanischen Verhältnisse.
Von daher ist für uns die Verbindung des Programms„Soziale Stadt“ mit der Städtebauförderung einerseitsund die Stadterneuerung mit der Reform des sozialenWohnungsbaus andererseits mit mehr Bestandsorientie-rung in dem Bereich und mehr Integration mit städte-baulich-räumlichen Aspekten ein wichtiges Ziel, das dieKoalition auf den Weg bringen wird, statt einfach nurnach Fertigstellungszahlen zu schielen.Dazu gehört auch die ökologische Dimension, dieuns wichtig ist. Auch die Energieeinsparverordnung unddie Ökosteuer werden wir – auch wenn Sie das nie hörenwollen – auf den Weg bringen, wodurch die Bauwirt-schaft wesentlich mehr Beschäftigung erhalten soll, alses beim Neubau der Fall wäre.
Letzter Satz. Wir warten auf Ihre Beiträge zu diesenProblemen, statt von Ihnen immer nur billige Forderun-gen nach Geld und Quantität zu hören, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der Opposition in beiden Rich-tungen. Warten wir nicht auf den nächsten Schweinezy-klus.Ein Wort zum Schluß. Herr Minister Müntefering, ichmöchte mich bei Ihnen für die konstruktive Zusammen-arbeit bedanken. Im Unterschied zu den anderen Kolle-gen, die Ihnen immer nur persönlich Glück wünschen –ich halte es schon für ein wenig mißgünstig, wie sich dieOpposition verhält –, wünschen wir Ihnen nicht nur per-sönlich, sondern insbesondere auch für Ihre neue Auf-gabe: Glück auf!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Bartholomäus Kalb, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich Sie,Herr Bundesminister, richtig verstanden habe, haben Sieausgeführt, Sie würden in die drei großen Verkehrsträ-ger im kommenden Haushaltsjahr 500 Millionen DMmehr investieren. Ich kann diese Zahl nicht nachvollzie-hen. Sie haben dabei auf den Haushalt verwiesen; in ei-ner Vorlage aus Ihrem eigenen Hause kann ich jedochanderes nachlesen: Von der in der mittelfristigen Fi-nanzplanung von 2000 bis 2003 vorgesehenen Summewerden bei den Straßen jährlich 149 Millionen DM imkonsumtiven und 200 Millionen DM im investiven Be-reich, 100 Millionen DM bei der Bahn – ab 2001 jähr-lich 214 Millionen DM – und 113 Millionen DM bei denWasserstraßen eingespart. Das geht so weiter; ich sparemir jetzt das übrige zur mittelfristigen Finanzplanung.Ich habe im Einzelplan 12 nachgesehen und mir dieKapitelabschlüsse vergegenwärtigt. Dabei mußte ichfeststellen, daß ausweislich der Zahlenangaben im Ka-pitel 12 22 „Eisenbahnen des Bundes“ tatsächlich eineSteigerung der Investitionen von 99 Millionen DM ge-genüber 1999 und bei den Bundeswasserstraßen von sa-ge und schreibe 60 Millionen DM vorgesehen ist, aberdafür bei den Bundesstraßen eine Minderung um98 Millionen DM festzustellen ist. Insgesamt kürzen Siebeispielsweise im Kapitel 12 10 „Bundesfernstraßen“238 Millionen DM gegenüber dem Haushaltsjahr 1999.Dort ist ja auch bereits im vergangenen Jahr gekürztworden.
Soweit habe ich das auf die Schnelle feststellen kön-nen. Die von Ihnen gemachten Angaben kann ich aller-dings nicht nachvollziehen. Sie scheinen dort Nebelker-zen zu werfen, da diese Angaben nicht mit der Realitätübereinstimmen. Im Gegenteil ist es so, daß weniger indie Verkehrswege investiert wird, obwohl wir mehr In-vestitionen bräuchten.
Dazu möchte ich anmerken, daß Sie für meine Be-griffe die Verkehrspolitik immer sehr realistisch undvergleichsweise ideologiefrei darstellen, so daß man die-sen Teil Ihrer Politik querschreiben kann. Nur die Er-gebnisse kann man nicht querschreiben, weil die Ergeb-nisse nicht dem entsprechen, was hier gesagt und ange-kündigt worden ist.Dieses ganze Sparprogramm wird als Zukunftspro-gramm dargestellt. Es wird dabei aber an der falschenFranziska Eichstädt-Bohlig
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Stelle gespart. Man sollte nicht so einfältig sein, sparenzu wollen, weil man Sparen zur Tugend erhebt, sondernman muß immer schauen, wie man insgesamt dievolkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit und damit auchdie Einnahmesituation des Staates und der öffentlichenHände verbessern kann. Hier wird keine Vorsorge fürdie Zukunft getroffen, sondern die Zukunft gefährdet,weil nicht mehr Wachstum und Beschäftigung generiertwerden, sondern Wachstum und Beschäftigung vielmehrgefährdet werden. Direkt und indirekt werden Arbeits-plätze gefährdet, und vor allen Dingen werden Ent-wicklungschancen in peripheren Gebieten und in denländlichen Räumen, aber auch in innerstädtischen Berei-chen gefährdet. Wir bekommen ja reihenweise Presse-meldungen, daß Bürger Ortsumgehungen fordern, daßnichts mehr geht und so weiter.
– Nein, der Bundesminister selber, Herr KollegeSchmidt, hat doch darauf hingewiesen, daß der Unter-haltsbedarf immer größer wird. Ich kann auch hier nocheinmal Aussagen des Ministeriums selber zitieren, daßbegonnene Maßnahmen noch durchgeführt werden kön-nen, die Priorität beim Ausbau Ost fortgesetzt wird, aber– so geht es dann weiter – zur Sicherung von Substanzund damit der Funktionsfähigkeit der Bundesfernstraßendie Ausgaben für die Erhaltung Vorrang vor weiterenneuen Ausbauvorhaben haben.
Im Klartext heißt das: Im Neubau geht nichts mehr, daes schon schwierig genug ist, überhaupt die Substanz zuerhalten. Damit wird auch unsere volkswirtschaftlicheLeistungsfähigkeit und damit unsere Zukunft gefährdet.Wir können auch nicht eine Politik betreiben, die denIndividualverkehr in die Enge treibt. Darauf kann manauch nicht setzen.Damit bin ich beim nächsten Thema, nämlich bei derÖkosteuer. Sie ist vorhin schon angesprochen worden.Was sich hier abspielt, ist eine Politik gegen die periphe-ren Gebiete, gegen das flache Land, gegen die kleinenLeute und gegen die sozial Schwachen; auch das mußman hier sagen.
Der Kollege Fischer – ich glaube, er war es – hat vor-hin schon darauf hingewiesen, daß der Benzinpreis mitdiesen Stufen der Ökosteuerreform in wenigen Jahrenbei über 2,10 DM bzw. 2,20 DM angekommen seinwird. Damit haben sich die Grünen dann schon fast zurHälfte durchgesetzt.Die Bundesregierung steht hier selbst in größten Wi-dersprüchen. Erst vor kurzem habe ich vernommen, daßder Bundeswirtschaftsminister sehr wohl günstige Ener-giepreise für den Standort Deutschland haben wollte.
Sie verschlechtern einen weiteren Standortfaktor zu La-sten und zum Nachteil der Bundesrepublik Deutschland.
Ich meine damit insgesamt Ihre Politik der Besteue-rung von Energie und der damit verbundenen Kostener-höhung. Wenn Sie die Einnahmen wenigstens zur Sen-kung der Lohnnebenkosten verwenden würden. Aberdas ist ja nicht der Fall. Sie verwenden nur einen Teil fürdiesen Zweck. Sie haben sich bei jeder Stufe eine Re-serve von 1,6 Milliarden DM bzw. 1,7 Milliarden DMzugelegt.Nach Ihren Vorschlägen senken Sie die Lohnneben-kosten im Jahre 2001 um 0,2 Prozent. Das sind ungefähr3,4 Milliarden DM. Aber Sie kassieren 5,1 MilliardenDM plus Mehrwertsteuer zusätzlich. So stellt es sichdar, wenn man sich Dinge genauer ansieht.Leider läuft mir die Zeit davon. Ich habe nur wenigeMinuten Redezeit zur Verfügung.Es muß die Leute schon sehr geschockt haben – auchdie tüchtigen Mitarbeiter im Verkehrsministerium –, daßsie den größten Feind aller Verkehrspolitik, weil er vorIdeologie gar nicht anders denken kann, nämlich denHerrn Trittin, vorübergehend als Verkehrsminister ertra-gen müssen. Ich würde mich gar nicht trauen, so etwaszu sagen, wenn nicht ausgerechnet „Der Spiegel“ am12. Juli 1999 über ihn getitelt hätte: Der Rüpel vomDienst. – Gestern hat er hier in der Debatte diesem Titelalle Ehre gemacht. Ich will mich nicht länger damit auf-halten.Das Thema Wohngeldverschiebung zu Lasten derKommunen ist bereits angesprochen worden. Es ist un-erträglich, wie Sie hier die Last wegschieben wollen unddas dann auch noch als Sparerfolg für den Bund verkau-fen. Der Herr Schleußer, der Städtetagspräsident, auchIhrer Partei angehörend, und viele andere haben bereitsmassivsten Widerstand angekündigt, so daß wir davonausgehen können, daß diese Belastung auf die Kommu-nen nicht zukommen wird. Das macht für jeden einzel-nen Landkreis im Durchschnitt eine Mehrbelastung vonetwa 1,5 bis 2 Millionen DM aus, die dann von denKommunen getragen werden müßte.Herr Minister, meine Vorrednerin hat Ihnen schongedankt. Sie hat Ihnen noch etwas mehr gewünscht, alsich Ihnen wünschen kann. Da ich Berichterstatter undvon den Haushaltsberichterstattern wohl der einzige bin,der in dieser ersten Lesung spricht, darf ich Ihnen imEinverständnis mit allen Berichterstatterkollegen zumEinzelplan 12 persönlich alles Gute wünschen. Daß Ih-nen der Kollege Rübenkönig und der Kollege Schütz fürIhr neues Amt mehr Erfolg wünschen als ich, ist ver-ständlich. Das will ich nicht so sehr tun, damit es nichtzu sehr zu unseren Lasten geht. Aber das wird hoffent-lich auch nicht eintreten.Herzlichen Dank.
Bartholomäus Kalb
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4990 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Dieter Maaß, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! Die bisher gehaltenen Reden zurEinbringung des Haushalts 2000 haben deutlich ge-macht: Die von uns Sozialdemokraten geführte Bundes-regierung macht Ernst mit dem Abbau der Staatsver-schuldung,
einer Verschuldung in einer Größenordnung von fast1 500 Milliarden DM. Sie, meine Damen und Herrenvon der CDU/CSU und der F.D.P., tragen dafür die Ver-antwortung. Sie sollten dies bedenken, wenn Sie Kritikan unserem Haushaltsentwurf üben. Das strukturelleHaushaltsdefizit, das uns die Regierung Kohl nach16 Jahren hinterlassen hat, läßt uns keinen anderenAusweg, als mit der Haushaltskonsolidierung unver-züglich zu beginnen, und zwar in einer solidarischenGemeinschaftsanstrengung. Das wissen auch Sie, meineDamen und Herren von der CDU/CSU. Sie haben nurnicht den Mut, den Bürgerinnen und Bürgern die Wahr-heit zu sagen.
Um es gleich vorweg zu sagen: Wir werden im Haus-halt 2000 im Bereich Bau- und Wohnungswesen2,4 Milliarden DM einsparen. Sie können versichertsein: Wir hätten es gerne anders gehabt. Denn Zuwachszu verteilen ist allemal leichter, als mit Einsparungen ei-ne möglichst hohe Effizienz zu erzielen und dabei denMaßstab von Solidarität und Gerechtigkeit nicht preis-zugeben.
Darum will ich darauf hinweisen, daß in diesem Teildes Haushaltes für den Investitionsbereich 5,4 Milliar-den DM zur Verfügung stehen. Wir haben auch nicht dieAbsicht, aus der Förderung des sozialen Wohnungs-baus auszusteigen. Wir erhalten den sozialen Woh-nungsbau und fördern ihn mit 600 Millionen DM. Er-halten bleiben auch die bisherigen 600 Millionen DMfür die Städtebauförderung. Wir alle hier wissen, wieviele private Investitionen gerade diese Förderung mo-bilisieren kann.Eine wichtige Aussage in unserem Regierungspro-gramm ist der Hinweis auf einen innovativen Einsatzvon Finanzmitteln. Das Projekt „Soziale Stadt“ ist einwichtiger Ansatz, um den Verfall von bestimmtenWohnquartieren zu stoppen.
Hier gilt es, Förderprogramme von Bund, Ländern undGemeinden zusammenzuführen und diese finanzielleKraft so zu bündeln, daß wir ein gutes städtebauliches,vor allem aber ein sozial gerechtes Ergebnis erzielenkönnen. Nordrhein-Westfalen und Hamburg, zwei Bun-desländer mit sozialdemokratisch geführten Regierun-gen,
haben auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet.Ich möchte Ihnen dazu Beispiele aus Nordrhein-Westfalen nennen: Im nördlichen Ruhrgebiet hat dieInternationale Bauausstellung Emscherpark zweiStadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf beispiel-haft gefördert, nämlich Duisburg-Marxloh, einen Stadt-teil am Rande der Stahlindustrie im Duisburger Norden,und Gelsenkirchen-Bismarck, eine jahrzehntelang in-takte Bergbausiedlung, solange die Zeche im Herzendieses Stadtteils noch Kohle gefördert hat. Beide Stadt-teile, der Stahlstandort Duisburg und die Bergbausied-lung Gelsenkirchen-Bismarck, sind durch massive Ar-beitsplatzverluste von der allgemeinen Entwicklung ab-gekoppelt worden. Beide Wohnviertel zeichnen sichdurch eine hohe Arbeitslosenquote – sie liegt bei etwa20 Prozent – und durch einen enorm hohen Ausländer-anteil aus.Hier hat die Internationale Bauausstellung Emscher-park Projekte auf den Weg gebracht, die eine Stadtteil-erneuerung unter Berücksichtigung der Wünsche undMöglichkeiten der Menschen erlauben, gekoppelt mitAngeboten zur Qualifizierung und Beschäftigung sowiemit Initiativen zur Förderung von Handel und Handwerkin diesen Stadtteilen.
An diesen gelungenen Projekten orientiert sich unserProgramm „Soziale Stadt“. Dafür werden wir im Haus-halt 2000 insgesamt 100 Millionen DM zur Verfügungstellen.
Das sind 100 Millionen DM, die mit Geldern aus ande-ren Förderprojekten gekoppelt werden. Insgesamt löstdieses Programm ein Volumen von 300 Millionen DMaus. Weiterhin sind dies 100 Millionen DM, die wir zu-sätzlich zu den schon genannten 600 Millionen DM fürdie Städtebauförderung in den Haushalt einstellen.An dem Ziel orientiert, die Bundesfinanzen zu sanie-ren und gleichzeitig möglichst viele Finanzmittel für In-vestitionen zur Verfügung zu haben, verweise ich aufdas Programm für Wohnraummodernisierung in denneuen Ländern bei der Kreditanstalt für Wiederauf-bau. Das bewährte Modernisierungsprogramm der Kre-ditanstalt für Wiederaufbau wird mit einem Gesamtvo-lumen in Höhe von 10 Milliarden DM eine modifizierteNeuauflage erhalten. Der Zinsvorteil beträgt bis zu2 Prozent. Wie Sie wissen, sichert und schafft diesesProgramm Arbeitsplätze in den mittelständischen Unter-nehmen. Allerdings wollen wir, daß sich die Länder anden Zinslasten zur Hälfte beteiligen.Meine Damen und Herren, ich möchte an dieserStelle auch über das Wohngeld reden. Auf eine Wohn-geldnovelle warten die Länder, die Städte und Gemein-
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den und auch die Verbände seit gut neun Jahren verge-bens, obwohl die Mietpreissteigerungen bei 30 Prozentlagen. Drei Minister der vorigen Regierung haben sicherfolglos daran versucht. Ich danke Franz Münteferingdafür, daß er dieses Problem angepackt hat.
Das Wohngeld ist im Reformstau der Regierung Kohlsteckengeblieben. Wir werden die angekündigten Re-formen zum Wohngeld im nächsten Jahr auf den Wegbringen, damit sie im Jahre 2001 wirksam werden. DieWohngeldleistungsnovelle hat ein Gesamtvolumen vonrund 1,4 Milliarden DM. Dafür wird der Bund zusätzlich700 Millionen DM zur Verfügung stellen, wie wir So-zialdemokraten es lange gefordert haben.Die abgewählte Regierung Kohl hat es jahrelang ver-säumt, das Tabellenwohngeld an die tatsächliche Miet-entwicklung anzupassen. Wir beseitigen diese sozialeSchieflage.
Außerdem wird das Wohngeld in Ost und West angegli-chen. In diesem Fall heißt das: Die Nachteile für Wohn-geldempfänger im Westen werden beseitigt.Pauschaliertes Wohngeld, das Empfängern von Sozi-alhilfe zusteht, soll sich künftig im Sinne der Gleichbe-handlung nach den gleichen Regeln richten wie beiEmpfängern des Tabellenwohngelds. Für das pauscha-lierte Wohngeld geht ab 1. Januar 2000 die finanzielleVerantwortung auf die Länder und Gemeinden über.Damit nehmen wir die bisherige Mischfinanzierung zu-rück, ohne daß sich daraus rechtliche Nachteile für denberechtigten Personenkreis ergeben.Meine Damen und Herren von der Opposition, Siewerfen uns vor, dies sei ein Verschiebebahnhof.
Ordnungspolitisch ist das jedoch eine richtige Entschei-dung.
Städte und Gemeinden werden zwar stärker in dieVerantwortung genommen,
doch wird der finanzielle Mehraufwand durch wirksameEntlastungen ausgeglichen. Finanzminister Eichel hatvorgestern an dieser Stelle darauf hingewiesen. Ernannte die zu erwartenden Steuermehreinnahmen, dieVerbesserung bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik unddie Entlastung bei der Sozialhilfe.
Ich wollte in diesem Zusammenhang einige Ausfüh-rungen zu den vorliegenden Wohngeldanträgen vonCDU/CSU und PDS machen, aber die Anträge sind,meine ich, durch unsere Wohngeldnovelle erledigt. Siewerden noch in den Ausschüssen beraten.Meine Damen und Herren, trotz des Sparzwanges er-halten wir die Eigenheimzulage als Beschleuniger derBildung von Wohneigentum. Doch wir werden die Ein-kommensgrenzen senken. Bisher erhalten Ledige bei ei-nem zu versteuernden Jahreseinkommen von 120 000DM und Verheiratete bei 240 000 DM diese Zulage. Wirmeinen, bei Einkommen in dieser Höhe muß der Staatden Kauf von Wohneigentum nicht fördern. Wir wollenuns darauf konzentrieren, Familien mit geringerem Ein-kommen beim Bau und beim Kauf von Eigenheimenund Eigentumswohnungen unter die Arme zu greifen,und senken diese Einkommensgrenzen auf 80 000 DMbzw. 160 000 DM. Für jedes Kind kommen 10 000 DMhinzu.Damit fördern wir weiterhin gezielt Familien inDeutschland. Die Durchschnittsfamilie, ein Ehepaar mitzwei Kindern und 15 000 DM oder weniger Monatsein-kommen, bekommt als Bauherr auch künftig die Eigen-heimzulage. Sie sehen: Auch bei notwendigen Sparmaß-nahmen sorgen wir für soziale Ausgewogenheit.Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren habeich die Einbringung des Haushaltes stets dazu genutzt,die Fertigstellung des Schürmann-Baus – richtiger: desGebäudes an der Kurt-Schumacher-Straße in Bonn – zufordern. Jetzt wird dieses Bauwerk fertiggestellt und ei-ner wirtschaftlichen Nutzung zugeführt. Die „DeutscheWelle“ wird hier eine neue Bleibe finden. 610 MillionenDM sind dafür einschließlich der Planungskosten imHaushalt eingestellt.Ich stelle fest: Hier haben sich die Baupolitiker frak-tionsübergreifend durchgesetzt. Das ist sicher ein gutesBeispiel für die weiteren Beratungen über den Haushalt.Schönen Dank, meine Damen und Herren.Auch ich möchte mich bei Minister Franz Müntefe-ring recht herzlich bedanken. Lieber Franz, ich wünschedir alles Gute. Du hast dieses Ministerium elf Monatehervorragend geleitet, dafür hat die CDU/CSU nochzwei Mann gebraucht, während du das alleine gemachthast. Ich wünsche dir persönlich alles Gute und natürlichberuflichen Erfolg. Ich stehe hinter dir.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kompliment, Herr
Kollege Maaß, Sie sind der einzige, der noch reichlich
Zeit gehabt hätte.
Letzter Redner in dieser langen Debatte ist der Kolle-
ge Gert Willner, CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Auch Sparen muß man können, und zumSparen muß sich Wachstum gesellen. Richtiges Sparenheißt sparen am Konsum, aber nicht an Investitionen.Dieter Maaß
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Infrastrukturinvestitionen sind Zukunftsinvestitionenfür Deutschland, für den wirtschaftlichen, sozialen undgesellschaftlichen Standort Deutschland.Herr Minister Müntefering, Sie begehen einen schwe-ren Fehler, weil Sie bei Investitionen auf die Bremsetreten und keine Signale setzen, wie Sie den Verkehrs-zuwachs bewältigen wollen. Wer die Mineralölsteuererhöht, muß auch etwas für den Verkehr abzweigen. Sie,Herr Minister, hätten die Macht gehabt, sich gegenüberdem Finanzminister durchzusetzen. Sie haben das nichtgetan. Sie haben statt dessen wichtige Investitionsmaß-nahmen falschen Sparzielen preisgegeben.Das wird im sozialen Wohnungsbau ganz deutlich.Sie reduzieren den Verpflichtungsrahmen der Bundesfi-nanzhilfen binnen zwei Jahren um 60 Prozent. Das ist inder Tat ein radikaler Einschnitt, so daß man sehr wohlvon einem Steinbruch für die rotgrüne Sparpolitik spre-chen kann,
und das, obwohl Sie noch vor der Wahl für eine deutli-che Erhöhung des gesetzlichen Mindestrahmens einge-treten sind. Wir werden in den Beratungen Korrekturenbeantragen.Sie verhindern durch diese Politik jeden Monat denBau von Tausenden neuer Wohnungen und schließen dieAugen vor dem notwendigen Erneuerungsbedarf im so-zialen Wohnungsbau. Sie vergessen, daß der Bau von10 000 neuen Wohnungen Beschäftigungseffekte vonrund 20 000 Arbeitsplätzen mit sich bringt.Dabei haben Sie noch vor der Wahl vollmundig ge-sagt, Sie wollten auch den sozialen Wohnungsbau ver-stärken, und jetzt rufen Sie in der Tat zum Kampf umdie rote Laterne im Wohnungsbau auf; denn auch dieLänder werden selbstverständlich ihr finanzielles Enga-gement zurückfahren. Ihre Wohnungsbaupolitik, HerrMinister, führt in die Sackgasse.Das gilt auch für Ihr Herumbasteln an der Eigen-heimzulage. Wir haben seinerzeit in großer Überein-stimmung im Ausschuß mit der Eigenheimzulage geradefür Familien ein einfaches und wirksames Förderinstru-ment geschaffen, das von der Bauwirtschaft und vonbauwilligen Bürgern schnell angenommen wurde, weiles unbürokratisch umgesetzt werden konnte. Die Eigen-heimzulage wurde ein Renner in der Bauwirtschaft undein stabilisierender Faktor in der Baukonjunktur.
Im Jahreswirtschaftsbericht 1999 ist zu lesen, daß dieBundesregierung prüft, wie die Eigenheimförderungweiterentwickelt werden kann. Eine Herabsetzung derEinkommensgrenzen ist nun genau das Gegenteil. Dievon Rotgrün geplanten Änderungen der Einkommens-grenzen bei der Eigenheimzulage treffen Familien, die einsicheres Potential für Eigentumsbaumaßnahmen sind.Die Kürzungen sind in der Sache nicht gerechtfertigt.Tausende von Bauwilligen werden auf den eigenenHausbau verzichten oder ihn hinausschieben, weil derAnreiz fehlt. Sie zerstören damit ein hervorragend funk-tionierendes Programm, das dazu beigetragen hat, daßauch die Innenstädte wieder mit Wohnungen belebtwerden.Dies ist ein Beitrag zu einer Stop-and-go-Politik inder Wohnungswirtschaft, die zur Verunsicherung bei-trägt. Wie wollen Sie eigentlich bei einer solchen Ver-unsicherung der Bauwirtschaft den Aufschwung schaf-fen? Lassen Sie die Finger von dem funktionierendenInstrument Eigenheimzulage, und basteln Sie darannicht herum!
Schön wäre es auch gewesen, liebe Kolleginnen undKollegen, wenn den Ankündigungen früherer Jahre,mehr Geld für die Städtebauförderung zu fordern, diesesMal Taten gefolgt wären, da ein Ausbau – darin sind wiruns einig – aus arbeitsmarktpolitischen Gründen sinn-voll wäre.Jetzt haben Sie auch noch die flexibilisierendenHaushaltserläuterungen gestrichen, nach denen bisherEinsparungen beim sozialen Wohnungsbau zugunstenvon Sanierungs- und Entwicklungsgebieten möglich wa-ren. Es ist schon bedauerlich, daß Sie auch hier eine bis-her bestehende Gemeinsamkeit aufgegeben haben. Be-kanntlich – der Kollege Maaß hat es vorhin schon ange-deutet – ist die Städtebauförderung ein anerkanntes In-strument zur Stärkung und Belebung von Innenstädten,Wiedernutzung von Flächen und Behebung sozialerMißstände. Deshalb müssen wir gemeinsam darüber be-raten, wie hier mehr Mittel bereitgestellt werden könn-ten. Aber wir wollen auf jeden Fall die Flexibilität er-halten.Sie haben vollmundig ein Hundert-Millionen-Mark-Programm „Soziale Stadt“ angekündigt. Wer nunmeint, hier würde angesichts der Volumina, angesichtsder tatsächlichen Mittelbereitstellung effektiv etwas ge-schehen, der wird enttäuscht sein. Angekündigt ist einjährlicher Verpflichtungsrahmen von 100 MillionenDM. Veranschlagt sind aber für 2000 als kassenwirksa-mer Betrag nur 5 Millionen DM. Der Rest wird imRahmen von Verpflichtungsermächtigungen in dennächsten Jahren vergeben. Auch hier besteht ein Wider-spruch zwischen Reden und Handeln.Zum Stichwort Wohngeld: Der Kollege Kansy hatvorhin bereits daran erinnert, daß die SPD vor der Bun-destagswahl dem Bürger zugesichert hatte, eine Wohn-geldanpassung so schnell wie möglich,
nämlich spätestens zum 1. Juli 1999 – so nachzulesen –in die Wege zu leiten.
Die Grünen haben sogar eine Rechnung aufgemacht,Frau Eichstädt-Bohlig, daß Bund und Länder mehr Mit-tel für eine Wohngeldreform zur Verfügung hätten, so-gar ohne zusätzliche Haushaltsbelastung.
Gert Willner
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Joschka Fischer sprach von einer Wohngeldreform be-reits zum 1. Januar 1999.Doch das, was jetzt von Rotgrün und von Ihnen, HerrMinister, auf den Tisch gelegt wird, widerspricht zeitlichund inhaltlich diesen Ankündigungen und ist in der Tateine abenteuerliche Konstruktion. Das sehen auch vieleSPD-Landes- und Kommunalpolitiker so.
Ich sage es deutlich: Sie mißbrauchen die Wohngeldre-form zur Haushaltssanierung.
Eine Nullquote des Bundes an der Mitfinanzierungder Wohnkosten für Sozialhilfeempfänger ist schlichtinakzeptabel. Der schleswig-holsteinische Finanzmini-ster Möller, SPD, hat die Vorschläge von MinisterMüntefering als plumpe Verschiebung bezeichnet.Städtetagspräsident Hoffmann hat diese rotgrünen Plänezu Recht als Armutszeugnis für die Politik der Bundes-regierung bezeichnet und festgestellt – hören Sie bittegut zu –:Es ist unseriös, den Städten Lasten für Aufgabenaufzubürden, die Sache des Bundes sind. Sparenauf Kosten der Kommunen ist keine Konsolidie-rung, sondern eine Mogelpackung.– So Herr Hoffmann, auch SPD-Oberbürgermeister vonSaarbrücken.Hier muß daran erinnert werden, daß BundeskanzlerSchröder sein Versprechen gebrochen hat. Er hat vor derWahl erklärt, daß mit dem Verschieben von Lasten vonder einen auf die andere Ebene endlich Schluß sein müs-se. Und was tut er? – Er verschiebt Lasten auf Länder,Städte und Gemeinden in einer unvorstellbaren Höhe.Bis zum Jahre 2003 sind dies insgesamt 9,6 MilliardenDM. Dies ist eine unvorstellbare Größenordnung. Sieverschieben diese Lasten in die Sozialhilfe. Dadurchwerden sich die Sozialhilfekosten um 20 Prozent erhö-hen. Das verkaufen Sie, meine Damen und Herren, alsZukunftsprogramm. Verschiebebahnhöfe sind kein Zu-kunftsprogramm!
Durch dieses sogenannte Zukunftsprogramm nehmender Bundeskanzler und diese rotgrüne Bundesregierungden Gemeinden und Städten die Luft zum Atmen, neh-men sie den Kommunen die Investitionskraft. Erhöhungder Gebühren oder Einsparungen bei Schulen, Kinder-gärten oder anderen kommunalen Einrichtungen sind dieFolge.Die beim Deutschen Gemeindekongreß in Berlin am16. September dieses Jahres versammelten Bürgermei-sterinnen und Bürgermeister haben vor wenigen Stundeneinstimmig, das heißt parteiübergreifend, festgestellt:Die Kommunen sind nicht die Kolonien und auchnicht die Ersatzkassen des Staates!Aber aus Niedersachsen wissen wir, meine Damenund Herren: Städte und Gemeinden haben GerhardSchröder noch nie interessiert.Auch wesentliche andere Reformziele des Entwurfsdes Wohngeldgesetzes werden nicht erreicht:Das bezieht sich darauf, daß der Verwaltungsaufwandfür pauschaliertes Wohngeld in nicht vertretbarem Um-fang steigt und die geringfügigen Entlastungen beimVerwaltungsaufwand für das Tabellenwohngeld bereitsdurch die Zunahme der Fallzahlen überkompensiertwerden.Was häufig vergessen wird, ist, daß jedem Wohn-geldhaushalt seit Januar 1999 monatlich im Durchschnitt38 DM entgehen, weil die SPD im vergangenen Jahr denVorschlägen der CDU/CSU zur Wohngelderhöhungnicht zugestimmt hat –
man kann auch sagen: vorsätzlich verhindert hat.Als ich bei der Vorbereitung des Redetextes in mei-nen PC bei dem Stichwort „globale Minderausgabe“ dieFrage eingab, wo denn das Geld erwirtschaftet werdensoll, schlug mir mein Computer bei der Überarbeitungim Rahmen des Korrekturprogramms vor, statt desWortes „erwirtschaftet“ das Wort „verwirtschaftet“ zunehmen. Fürwahr: Sie erwirtschaften nichts, Sie verwirt-schaften – auch Vertrauen der Bürger in die Politik.
Lassen Sie mich zusammenfassend feststellen: DieserHaushalt und die mittelfristige Finanzplanung sind Aus-druck einer negativen Bilanz der Amtszeit von MinisterMüntefering. Diese Bilanz ist gekennzeichnet dadurch,daß Investitionen radikal gekürzt werden. Wer dies tut,schadet bestehenden und neuen Arbeitsplätzen. Sie ha-ben es nicht geschafft, sich gegen den Bundesfinanzmi-nister durchzusetzen. Sie haben riesige Löcher im Haus-halt; denn die pauschalen Minderausgaben sind nichtbelegt, der Verkauf der Eisenbahnerwohnungen aus1999 ist gestoppt, und zur Verlagerung der Wohngeld-kosten haben Sie noch keine Zustimmung im Bundesrat.Damit wird deutlich: Das gesamte Sparpaket derBundesregierung wackelt. Auch Sparen will gelerntsein, und Wachstum gehört dazu.Minister Müntefering, hinsichtlich der Wünsche fürIhr neues Amt schließe ich mich den Kollegen DietmarKansy und Bartholomäus Kalb an.Damit habe ich meine Redezeit präzise eingehalten.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmel-dungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriumsfür Verkehr, Bau und Wohnungswesen liegen nicht vor.Interfraktionell wird die Überweisung des Antragsder Fraktion der PDS auf Drucksache 14/1346 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist die Überweisung beschlossen.Gert Willner
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4994 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. September 1999
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Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesord-nung. Ich möchte mich ausdrücklich bei all denjenigenKolleginnen und Kollegen, die hier bis zuletzt, bis0.52 Uhr, ausgehalten haben, für ihre Geduld, aberauch für ihr Temperament bei den Zwischenrufen be-danken.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf heute, Freitag, den 17. September 1999,9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.