Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Sie darüber unterrichten, daß der Herr Bundeskanzler und der Bundesminister des Auswärtigen heute morgen nicht an der Plenarsitzung teilnehmen können. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Europäischen Rates berichtet der Herr Bundeskanzler heute dem Europäischen Parlament in Straßburg über die Ergebnisse der Tagung des Europäischen Rates in Essen. Der Bundesminister des Auswärtigen berichtet als Vorsitzender des Rates der Europäischen Union über die Bilanz der deutschen Präsidentschaft.
Ich komme zu den amtlichen Mitteilungen. Der Kollege Wolfgang Vogt hat am 1. Dezember seinen 65. Geburtstag und der Kollege Dr. Alfred Dregger am 10. Dezember seinen 74. Geburtstag gefeiert. Ich gratuliere beiden im Namen des Hauses nachträglich sehr herzlich.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den 19. Ausschuß künftig wie folgt zu bezeichnen: Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Zusatzpunkte sind aus der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste ersichtlich:
1. Wettere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der weiteren Abgeordneten der PDS: Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der DDR — Drucksache 13/78 —
b) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der weiteren Abgeordneten der PDS: Vergütung der Mitglieder der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR beim Bundesministerium des Innern — Drucksache 13/79 —
Die Anträge der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P., die Tagesordnungspunkte 3 a und b betreffend, sollen am Donnerstagmittag nach der dreistündigen Beratung des Kanzlerhaushalts mit einer Debattenzeit von fünf Minuten für jede Fraktion und für die PDS beraten werden.
Die Überweisungen im vereinfachten Verfahren, Tagesordnungspunkt 2 einschließlich des Zusatzpunktes 1, werden unmittelbar danach aufgerufen. Der Antrag der Fraktion der SPD, betreffend den „Ersatz des Solidaritätszuschlages ... " — Tagesordnungspunkt 3 c —, soll ebenfalls überwiesen werden.
Sind Sie mit diesen interfraktionellen Vereinbarungen einverstanden? — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Bevor ich die Tagesordnungspunkte 1 a bis c aufrufe, gebe ich dem Abgeordneten Manfred Müller von der PDS das Wort zu einem Antrag zur Geschäftsordnung.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte einen Antrag zur Geschäftsordnung stellen, der die zusammenhängende Redezeit der PDS für den morgigen Vormittag, also für die Aussprache über den Etat des Bundeskanzleramtes, von 10 auf 15 Minuten erweitert. Ich bedaure außerordentlich, daß es auch heute früh nicht gelungen ist, im Kreis der Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Parlamentarischen Geschäftsführer eine einvernehmliche Regelung herbeizuführen. Ich stelle fest, daß der Ältestenrat in dieser Frage bedauerlicherweise versagt hat.
Ich bin darauf hingewiesen worden, daß wir Mitte Januar den Versuch unternehmen wollen, eine einvernehmliche Regelung herbeizuführen, an der auch wir sehr interessiert sind.
Bei unserem Antrag geht es um die morgige Aussprache. Ich bitte um eine Ausnahme von der bisherigen Regelung, um eine Ausnahme, die es uns erlaubt, in der sogenannten Elefantenrunde auf die Ausführungen 15 Minuten zusammenhängend zu erwidern.
Ich meine, es muß — wie bei den anderen Fraktionen — das alleinige Recht der Gruppe der PDS sein,
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Manfred Müller
die Zusammenlegung ihrer Redezeit zu bestimmen — ohne Einflußnahme der anderen Fraktionen. Ich sehe hier eine weitere Diskriminierung unserer Rechte als Opposition in diesem Hause.
Ich möchte darauf hinweisen, daß auch in der zurückliegenden Legislaturperiode in Ausnahmefällen eine zusammenhängende Redezeit von 15 Minuten in Haushaltsdebatten möglich war. Ich bin aufmerksam darauf gemacht worden, daß 1992 eine Vereinbarung des Ältestenrates, die eine zusammenhängende Redezeit in Höhe der Hälfte der Gesamtredezeit vorsah, getroffen worden ist
Vor 14 Tagen hatten wir hier schon einmal eine Debatte, in der wir ebenfalls auf zehn Minuten begrenzt worden sind. Nach der mir gestern vorgehaltenen Regelung hätten wir vor 14 Tagen eine zwölfeinhalbminütige Redezeit gehabt. Ich verlange in diesem Fall Wiedergutmachung
gegenüber dem, was uns damals an Begrenzung auferlegt worden ist. Der Abgeordnete Gregor Gysi hat darauf hingewiesen.
Ich bitte diesmal das Hohe Haus um eine Abstimmung. Bisher war es immer Sache der Parlamentarischen Geschäftsführer und des Ältestenrates, darüber zu entscheiden. Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie ebenfalls der Auffassung sind, daß wir in dieser Ausnahmesituation der Debatte um den Etat des Bundeskanzleramtes wiederum in unseren demokratischen Rechten hier im Plenum behindert werden, indem wir nur zehn Minuten Redezeit haben, einen so umfangreichen Einzeletat zu kommentieren.
Ich bitte um Ihre Zustimmung zu meinem Antrag.
Herr Hörster.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben gestern in zwei Runden — einmal unter dem Vorsitz der Frau Präsidentin, einmal in der Geschäftsführerrunde — miteinander die Debattenstruktur für heute und morgen beraten und sind zu dem Ergebnis gekommen, die Redezeiten so festzulegen, daß die PDS in der ersten Runde zehn Minuten hat, in der zweiten Runde null und in der dritten Runde wieder mit fünf Minuten dran ist. Damit praktizieren wir die Regelung, die in der vergangenen Wahlperiode angewandt worden ist und von der wir gesagt haben, daß sie auch in dieser Wahlperiode gelten soll, bis eine abschließende Regelung insgesamt getroffen ist.
In den späten Abendstunden hat uns dann völlig überraschend ein Schreiben der PDS mit den hier soeben skizzierten Sonderwünschen erreicht.
— Selbstverständlich, völlig überraschend, mit den hier skizzierten Sonderwünschen. — Wir haben vorhin noch einmal kurz zusammengesessen und versucht, das Problem einvernehmlich zu lösen. Das war
auf Grund der Wünsche der PDS, hier eine Sonderstellung zu bekommen, leider nicht möglich.
Deswegen darf ich im Einvernehmen mit den Kollegen Dr. Struck, Schulz und van Essen erklären, daß wir an der Vereinbarung, wie sie im Ältestenrat getroffen worden ist, festhalten und damit die Redezeiten nicht so verändern, wie die PDS dies wünscht.
Gibt es weitere Wortmeldungen? — Herr Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gregor Gysi hat in der vergangenen Sitzungswoche bei knapper Redezeit ausführlich — und zu Recht — dagegen protestiert, daß die PDS bei der Verwendung ihrer Redezeit beschränkt wird. Wider besseres Wissen hat er es nicht versäumt, uns ebenfalls in die Schar der Verfolger einzureihen, die der PDS Übles wollen. Das prägt offenbar seinen neuen Stil im Umgang mit unserer Partei.
Deswegen will ich hier ganz deutlich und klar sagen — auch weil ich dazu viele Nachfragen bekommen habe —: Wir sind mit der gegenwärtigen Regelung nicht einverstanden. Und bevor hier neue Unwahrheiten verbreitet werden, sollte Gregor Gysi erst einmal seine eigenen Lebenslügen aufbereiten.
Als wir den Status einer Gruppe hatten, haben wir uns ständig gegen diese Vereinbarung gestemmt, wiederholt darauf hingewiesen, daß es verfassungswidrig ist, wenn eine Gruppe bei der Zusammenlegung ihrer Gesamtredezeit beschränkt wird. An dieser unserer Position hat sich nichts geändert. Wir bestehen darauf, daß die PDS volle parlamentarische Rechte erhält, d. h. als Fraktion anerkannt wird, damit sie entsprechend arbeiten und reden kann.
Alles andere ist unfair und bestärkt diese Partei in ihrer Märtyrerrolle, gibt ihr sogar den Dauerstatus als „Kommitee der Selbstgerechtigkeit".
Meine Damen und Herren, mal unverkrampft, was uns der Herr Bundespräsident schließlich empfohlen hat. Was vergeben wir uns denn, wenn die PDS in der ersten Runde ihre gesamte Redezeit bekommt? Von uns aus könnte sie noch mehr erhalten, damit außer diesem gewendetem Linksimage endlich deutlich wird, daß sie wenig zu sagen hat,
daß häufig leeres Stroh gedroschen wird — neue Worthülsenfrüchte von alten SED-Feldern.
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Werner Schulz
Geben wir doch unserem Entspannungsbedarf freien Raum und lassen den Unterhaltungskünstler Gysi in voller Länge auftreten. Da hungert er nun zwischen zwei Mahlzeiten mit brennender Zigarette vor laufender Kamera für die Parteikasse, springt aus den Wolken, besser als Jürgen W. Möllemann — der ist mittlerweile in der Versenkung gelandet
und ist damit dem Fall seines Vorsitzenden voraus —, und dann hat er noch nicht einmal die Möglichkeit, hier umfassend seine abenteuerlichen Vorstellungen auszubreiten.
Meine Damen und Herren, geben wir der PDS genügend Redezeit,
damit deutlich wird, wie nichtssagend ihre Politik ist.
Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der PDS? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Antrag der PDS abgelehnt. Ich gehe damit davon aus, daß die zur Redezeit getroffene Vereinbarung gilt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 a bis 1 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1995
— Drucksache 13/50 —
Überweisung: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Finanzplan des Bundes 1994 bis 1998
— Drucksache 12/8001 —
Überweisung:
Haushaltsausschuß
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über den Stand und die voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft
— Drucksache 13/76 —
Überweisungsvorschlag:
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die heutige Aussprache sechs Stunden, für morgen acht Stunden und für Freitag fünf Stunden vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Einbringung des Haushalts hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Vorlage des Bundeshaushalts 1995 setzen wir, acht Wochen nach der Bundestagswahl, einen wichtigen Markstein unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik für die kommende Legislaturperiode. Damit stellen wir Handlungsfähigkeit unter Beweis. Wir haben keine Zeit für endlose Debatten verschwendet. Entschlossen und konsequent werden wir unseren finanzpolitischen Weg weitergehen.
Der tiefe Konjunktureinbruch 1993 ist endgültig überwunden. Das Wachstum gewinnt immer mehr an Fahrt. Das reale Bruttoinlandsprodukt 1994 wird nicht mit den prognostizierten 1,5 %, sondern mit 2,5 % wachsen.
Im dritten Quartal 1994 wurden die positiven Wachstumserwartungen noch einmal übertroffen. Die Produktionsverluste der Rezession 1992/93 sind aufgeholt. 1995 erwarten wir eine Wachstumsrate von 3 %. Diese Einschätzung wird von allen nationalen und internationalen Experten und Institutionen geteilt.
Die Opposition wird jetzt wieder kritisieren, das sei allenfalls „ein Auf ohne Schwung". Sie haben noch krampfhaft bis zum 16. Oktober den Menschen einreden wollen, es gebe gar keinen Aufschwung. Wir sind in unseren Prognosen sehr bescheiden gewesen; aber um so mehr sind wir von der Wirklichkeit positiv überholt worden. Das lassen wir uns schließlich nicht vorwerfen.
Keine Rezession seit den 60er Jahren war so kurz wie die von 1993. Die Initialzündung durch den Export spricht nicht gegen die Qualität des Aufschwungs. Die inländischen Faktoren gewinnen an Kraft, vor allem die Investitionen. Sie wissen genau: Der Arbeitsmarkt folgt diesen Indikatoren so sicher wie das Amen in der Kirche.
Pläne, über Umverteilung den Konsum anzukurbeln, bringen nichts. Sie führen vielmehr über höhere Steuern zur Belastung unserer Wettbewerbsfähigkeit oder über höhere Defizite zu konjunkturabwürgenden Zinssteigerungen.
Die öffentlichen Finanzen sind stabil, die Lasten der Einheit geschultert. Die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ist gut vorangekommen. Der größte Teil der einigungsbedingten Zusatzlasten wird über Einsparungen finanziert. Die Finanzierung der Erblasten des Sozialismus ist geklärt. Die Finanzausstattung der neuen Länder wurde durch das vom Bund vorangetriebene Föderale Konsolidierungsprogramm für die nächsten zehn Jahre gesichert.
Der Konsolidierungskurs greift. 1994 und 1995 wird das Defizit des Bundes jeweils um 10 Milliarden DM unter den ursprünglichen Planungen liegen. Und es würde mich nicht wundern, wenn wir am Ende dieses Jahres nicht 10, sondern vielleicht 13 Milliarden DM
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Bundesminister Dr. Theodor Waigel
weniger Nettokreditaufnahme hätten. Das ist ein großer Erfolg
und eine Bestätigung des klaren Kurses. Genau so wie wir 1993 die automatischen Stabilisatoren haben wirken lassen und konjunkturbedingte Mehrausgaben und konjunkturbedingte Mindereinnahmen durch höhere Defizite finanziert haben, müssen wir jetzt das, was mehr in die Kasse kommt, systematisch zur Reduzierung der Nettokreditaufnahme verwenden. Das ist der richtige, solide Weg.
Das Tal ist durchschritten, das Ziel ist in Sicht. Nun dürfen wir allerdings nicht stehenbleiben, wir dürfen uns nicht ausruhen. Jetzt geht es um Konsolidierung, um Steuern, Arbeitsmarkt, Standort Deutschland, Europa, Wirtschaftswachstum, Frieden und Sicherheit in der Welt.
Bei den Steuern haben wir den ersten Schritt getan. In der letzten Woche haben wir eine Neuregelung für das Existenzminimum vorgelegt. Die Opposition darf staunen. Diese Lösung ist verfassungsgemäß, sozial gerecht und schwächt nicht die Leistungsbereitschaft der Bürger und unserer Wirtschaft. Wir sind sehr gespannt, ob sich die SPD-Bundesländer einer Lösung verweigern wollen.
Wir sind und bleiben die wirtschaftliche Nummer eins in Europa. Deutschland bleibt der europäische Stabilitätsanker und Wachstumsmotor. Wir können einen weiteren, noch vor wenigen Wochen für ausgeschlossen gehaltenen großen Erfolg für Deutschland verbuchen. Zusammen mit Luxemburg erfüllt Deutschland bereits 1994 und 1995 alle Konvergenzkriterien von Maastricht — trotz der gerade überwundenen Rezession und der finanzpolitischen Bewältigung der Einheit. Ich halte das für einen großartigen Erfolg.
Auch bei den strukturellen Defiziten haben wir zusammen mit Japan die weltweit günstigste Position. In nur vier Jahren haben wir laut Internationalem Währungsfonds das strukturelle Defizit um vier Fünftel abgebaut. Allein mit diesem internationalen Vergleich erübrigt sich bereits das Gerede von einer „Schuldenexplosion".
Natürlich haben die Schulden zugenommen. Aber: Bedenkt man die Aufgabe der Einheit, die Erblast des Sozialismus und die Rezession, dann darf der Zuwachs nicht überbewertet werden. Wir haben von Beginn an entschlossen gegengesteuert. Die Schulden sind in einem volkswirtschaftlich vertretbaren Rahmen geblieben.
Unsere europäischen Partner haben auf dem Europäischen Rat in Essen am Wochenende die Erfolge der Bundesregierung ausdrücklich anerkannt. Als Vorsitzender des Ecofin-Rates habe ich in Essen über die Umsetzung des Aktionsplans zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unterrichtet. Dabei können wir feststellen: Der Höhepunkt der Arbeitslosigkeit ist überschritten. Die Beschäftigung steigt wieder. Ohne dauerhaftes und kräftiges Wirtschaftswachstum gibt es
keine gesicherten Fortschritte beim Abbau der Arbeitslosigkeit.
Aber wir wissen, das reicht nicht aus.
Neben strukturellen Verbesserungen auf den Arbeitsmärkten müssen wir die hohen strukturellen Defizite in den öffentlichen Haushalten einiger Länder jetzt zurückführen, gerade bei positiver Konjunkturentwicklung. Wer es nicht schafft, im Aufschwung zu konsolidieren, wird Mühe haben, den Anschluß an Maastricht zu gewinnen.
Für den Beginn der Endstufe und für die Auswahl der Teilnehmer wird allein die Erfüllung der im Vertrag niedergelegten Konvergenzkriterien entscheidend sein. Ihre strikte Einhaltung sichert die Funktionsfähigkeit der Wirtschafts- und Währungsunion. Abstriche bei dem Stabilitätskriterium können wir nicht hinnehmen. Für uns gilt: Strikte Konvergenz hat Vorrang vor starren Zeitplänen.
Zwar ist im Durchschnitt der Mitgliedstaaten das Staatsdefizit 1994 gesunken, aber es ist immer noch zu hoch. Weitere Anstrengungen zum Defizitabbau sind notwendig. Damit wird das Vertrauen der Finanzmärkte und Investoren gestärkt. Wir begegnen so auch wirksam der weltweiten Knappheit an Sparkapital.
Ein weiterer Schwerpunkt in Essen waren die transeuropäischen Netze. Der Europäische Rat hat die vorgeschlagenen Verkehrs- und Energieprojekte gebilligt. Unsere Auffassung, wonach neue Gemeinschaftsinstrumente zur Finanzierung nicht erforderlich sind, wurde bestätigt. Es macht auch keinen Sinn, meine Damen und Herren, wenn wir hier in den nationalen Parlamenten und in unseren Ländern versuchen, unter schweren Opfern die Defizite zurückzufahren, wenn gleichzeitig eine zusätzliche Defizitfinanzierung in Europa eröffnet wird. Wir haben uns mit gutem Grund und mit Erfolg dagegen gewehrt.
Die deutsche Präsidentschaft in der Europäischen Union ist ein Erfolg. Unter deutscher Präsidentschaft ist erstmals das Verfahren zur Überwachung der Haushaltslage angewendet worden. Wir haben dabei auf die strikte Anwendung der Maastrichter Konvergenzkriterien geachtet. Es zeigt sich: Der Vertrag von Maastricht hat die Stabilitätskultur in Europa einen entscheidenden Schritt vorangebracht. Noch nie gab es in Europa eine so abgestimmte Finanz- und Wirtschaftspolitik. In der Mehrzahl der Mitgliedstaaten gleichen sich jetzt Preise, Zinsen und Wechselkurse stabilitätsgerecht an.
Die finanziellen Grundlagen der Europäischen Union sind jetzt gesichert. Es ist Deutschland gelungen, den EU-Haushalt 1995 fristgerecht auf den Weg zu bringen. Die Einigung über den Eigenmittelbeschluß hat einen schweren Haushaltsstreit mit dem Europäischen Parlament abgewendet. — Es war nicht ganz einfach, den „Kuhhandel über die Milchquote" zu beseitigen. Aber es ist Gott sei Dank gelungen. — Die Anpassung der finanziellen Vorausschau für die EU der Fünfzehn ist ebenfalls unter Dach und Fach.
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Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Sparsamste Haushaltsführung, Konzentration und Bündelung von Aufgaben sind auch in Europa notwendig. Auch auf europäischer Ebene müssen die Prinzipien des schlanken Staates angewandt werden. Dies ist auch ein Beitrag, die deutsche Belastung mittelfristig zu senken.
Wir können nicht einfach eine Finanzebene, die mittlerweile ein Volumen von rund 150 Milliarden DM hat und zu der wir rund 45 Milliarden DM beisteuern, von den allgemeinen Konsolidierungsanstrengungen in Europa ausnehmen.
Auf dem Ministerrat vom 24. November 1994 wurden die Schlußfolgerungen über die Kriterien einer endgültigen Umsatzbesteuerung verabschiedet. Damit ist für die Verwirklichung der dem Binnenmarkt entsprechenden Besteuerung nach dem Ursprungslandprinzip zum 1. Januar 1997 eine ganz entscheidende Hürde genommen worden.
Wichtige Anliegen wurden entscheidend vorangebracht. In enger Abstimmung mit unseren Partnern, insbesondere mit unseren französischen Freunden, die jetzt die Präsidentschaft übernehmen, werden wir intensiv an der Lösung der noch offenen Probleme weiter arbeiten.
Mit seiner stabilitäts- und wachstumsorientierten Finanzpolitik hat Deutschland einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der weltweiten Rezession geleistet. Auch im Kreis der wichtigsten Industrienationen, der G-7-Gruppe, hat sich Deutschland als erfolgreicher und verläßlicher Partner erwiesen. Die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit in der G 7 ist und bleibt eine wichtige Voraussetzung für stabile internationale Währungsbeziehungen.
Besonders eng und vertrauensvoll war die Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Finanzminister Lloyd Bentsen. Die gemeinsame Arbeit war von Freundschaft und gegenseitigem Vertrauen geprägt. Ich möchte ihm für diese Zusammenarbeit, da er jetzt nach einem reichen politischen Leben, das ihn 1948 zum erstenmal in das Repräsentantenhaus geführt hat, seinen Abschied genommen hat, sehr herzlich danken und ihm alles Gute für die Zukunft wünschen.
Sicher werden wir die Zusammenarbeit mit seinem Nachfolger Robert Rubin in gleicher Weise fortsetzen können.
Die G 7 hat die Reformanstrengungen der Länder in Mittel- und Osteuropa weiter begleitet. Bei verschiedenen internationalen Treffen hat die G 7 ihre Unterstützung zugesagt, zugleich aber auch deutlich gemacht: Die Unterstützung hängt von der Weiterführung eines marktwirtschaftlichen Reformkurses in diesen Ländern ab.
Ein weiteres wichtiges Thema im europäischen und internationalen Bereich ist die Sicherheit der Kernkraftwerke in Osteuropa. Deutschland hat sich auf dem Europäischen Rat in Korfu und auf dem Wirtschaftsgipfel in Neapel erfolgreich dafür eingesetzt,
ein Maßnahmenpaket zur raschen Schließung des Kernkraftwerks in Tschernobyl zu vereinbaren. Die Umsetzung dieses Planes ist auf gutem Weg.
An einem solchen Projekt entscheidet sich wirklich die Verläßlichkeit der internationalen Gemeinschaft. Dies ist nicht nur ein deutsches, sondern ein europäisches und weltweites Problem. Darum werden wir nicht lockerlassen, bis dieses Problem befriedigend gelöst ist.
Deutschland hat sich wie kein anderes Land für die Unterstützung erster entscheidender Reformschritte in der Ukraine eingesetzt. Dazu haben wir die Initiative für eine Zahlungsbilanzhilfe der Europäischen Union ergriffen. Durch unsere Bemühungen gelang es, einen positiven Grundsatzbeschluß über eine Hilfe von 85 Millionen ECU zu erreichen.
Unsere Partner in Europa und der Welt erwarten auch weiterhin die verantwortungsvolle Mitarbeit Deutschlands bei der Lösung der entscheidenden internationalen Probleme und einen klaren Stabilitäts- und Wachstumskurs. Dafür stehen wir auch in Zukunft ein!
Nahezu alle finanzpolitischen Entscheidungen der 12. Legislaturperiode waren durch die Einheit bestimmt. Zugleich mußte eine der schwersten Rezessionen der Nachkriegszeit überwunden werden.
Dies bedeutete: Finanzierung des wirtschaftlichen Strukturwandels in den neuen Ländern und der dazu notwendigen Sozialtransfers. Dazu gehörte die Förderung privater Investitionen, die Bereitstellung der öffentlichen Infrastruktur von Straßen bis hin zu Telefonleitungen, aber auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik.
Dies bedeutete die Sicherung einer angemessenen Finanzausstattung der neuen Länder und ihrer Kommunen, die damit ihren Teil zum Neuaufbau beitragen konnten.
Dies bedeutete Umsteuerung des Bundeshaushalts auf den Bedarf in den neuen Ländern, Veränderung der Prioritäten bei den Ausgaben.
Dies bedeutete Kontrolle und rasche Konsolidierung der öffentlichen Defizite, um einen Anstieg des strukturellen Defizits möglichst gering zu halten und damit die Belastungen der finanzpolitischen Spielräume der Zukunft zu minimieren.
Dies bedeutete gleichzeitig Rücksichtnahme der Finanz- und Steuerpolitik auf die Konjunktur, und es bedeutete, Steuererhöhungen auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken, um die Leistungsbereitschaft der Bürger und die Wachstumskraft der Unternehmen nicht zu beeinträchtigen.
Dazu gehörte auch die Rücksichtnahme auf europäische und internationale Zusammenhänge: Der Standort Deutschland mußte im internationalen Wettbewerb weiter gestärkt werden. Es durfte kein Zweifel an dem in 40 Jahren erarbeiteten internationalen Vertrauen in die Stabilität Deutschlands geben. Keine Aufweichung der D-Mark, Bewahrung ihrer Ankerfunktion für das EWS sowie die entschlossene Weiterentwicklung der europäischen Wirtschafts- und Wäh-
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Bundesminister Dr. Theodor Waigel
rungsunion und die Erfüllung der in Maastricht vereinbarten Konvergenzkriterien waren weitere Ziele.
Jede einzelne dieser Aufgaben erforderte allen Einsatz der Finanzpolitik. Keine Aufgabe durfte auch nur vorübergehend aus dem Blick geraten. In diesem Aufgabenpaket gab es zugleich eine ganze Reihe von Unbekannten, die sich erst im Laufe der Zeit konkretisieren ließen. Der richtige Policy-mix mußte laufend angepaßt werden.
— Haben Sie das noch nie gehört? Entschuldigung, Herr Fischer, Sie waren die letzten vier Jahre nicht hier; dafür kann ich nichts. Aber Sie lernen das noch. Sie sind ja kein Dummer.
Insbesondere die katastrophale ökonomische Situation in den Staaten Osteuropas und auch bei dem vermeintlichen Musterknaben der Planwirtschaft, der ehemaligen DDR, stellte sich ja erst nach und nach heraus. Aus 1 300 Milliarden Mark angeblichen Vermögens wurden schließlich in der Eröffnungsbilanz der Treuhand 210 Milliarden DM Schulden.
— Es ist wirklich erstaunlich, daß auf dieser Seite jemand klatscht, wenn man sagt: Aus 1 300 Milliarden Mark angeblichen Vermögens wurden nun 210 Milliarden DM Schulden. Das ist die Bilanz, die Sie, meine Damen und Herren, zu verantworten haben. Sie haben gar keinen Grund, zu klatschen.
Wir haben jetzt über 500 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt für die Einheit ausgegeben. Auch nach allen Gegenrechnungen betrug die Nettobelastung des Bundes durch die einigungsbedingten Ausgaben noch rund 260 Milliarden DM.
Private Investitionstätigkeit ist mit einer Fülle von Maßnahmen gefördert worden. Dazu gehören Investitionszulagen und Sonderabschreibungen sowie der Verzicht auf die Erhebung der Vermögen- und der Gewerbekapitalsteuer. Umfangreiche ERP-Kreditprogramme und Investitionszuschüsse im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" flossen in die neuen Länder.
Im Mai 1993 wurde das Föderale Konsolidierungsprogramm verabschiedet. Darin wurde der neue Finanzausgleich ab 1995 geregelt. Die dort vereinbarten jährlichen Transferleistungen von über 50 Milliarden DM ermöglichen den neuen Ländern bei etwa gleich hohen Defizitquoten wie im Westen Ausgaben von 120 % des Westniveaus. Bei den Investitionen sind es sogar 180 %. Die Pro-Kopf-Investitionen haben 1993 das Niveau in den alten Ländern überschritten. Damit sind Wachstumsergebnisse von real etwa 9 % möglich geworden — Zahlen, wie wir sie weltweit nur in sehr dynamischen Wirtschaftsregionen kennen, beispielsweise in Asien.
Die Hauptlast der wirtschaftlichen Erneuerung lag bei der Treuhand. Sie hat in den letzten vier Jahren eine herausragende, ausgezeichnete Arbeit geleistet.
Ohne jedes Vorbild, ohne Anweisungen aus Lehrbüchern wurden hier bis Ende 1994 14 500 Unternehmen privatisiert. 65 Milliarden DM Privatisierungserlöse wurden erzielt, 1,5 Millionen Arbeitsplatzzusagen und 207 Milliarden DM Investitionszusagen erreicht.
„Rasche Privatisierung, entschlossene Sanierung und behutsame Stillegung" war die auch heute noch gültige Devise.
Sie stammt von Detlev Rohwedder. Er hat für Deutschland mehr getan, als die Lacher auf dieser Seite.
Vergangene Woche habe ich den Verwaltungsrat der Treuhandanstalt, der die letzten fünf Jahre ehrenamtlich gearbeitet hat, verabschiedet. Zugegen war auch Frau Rohwedder. Ich danke dieser tapferen, großartigen Frau für die Haltung, die sie hier an den Tag legt.
Wir stehen ihr, ihren Kindern und ihrem verstorbenen Mann gegenüber in hoher Pflicht.
Mit Hunderttausenden von unternehmerischen Einzelentscheidungen ist die Treuhand diesen Aufträgen gerecht geworden. An den Finanzen ist keine mögliche Sanierung gescheitert. Um jeden einzelnen Arbeitsplatz wurde gekämpft. Dies belegen auch Sondermaßnahmen der Treuhandanstalt mit einem Volumen von 6,9 Milliarden DM noch bis zum Jahresende. Zu diesen Maßnahmen gehören u. a. die Sicherung industrieller Kerne, die Bereitstellung zusätzlicher Mittel für die Privatisierung der Chemieindustrie und der Deutschen Waggonbau AG sowie weiterer Mittel für mittelständische ehemalige Treuhandunternehmen.
Wenn heute der Umstellungsprozeß der Wirtschaft mit Volldampf läuft, Arbeitsplätze entstanden oder gesichert worden sind, in vielen kritischen Regionen einer wettbewerbsunfähigen Monostruktur nicht das Licht ausgegangen ist, ist das auch ein Verdienst der Treuhand. Wenn dennoch Arbeitsplätze verlorengegangen sind und in manchen Regionen die Arbeitslosenquote noch zu hoch ist, ist dies das Verdienst von 45 Jahren Sozialismus, von Ulbricht, Honecker, Mittag und den Genossen der SED, in deren Nachfolge Sie politisch und moralisch stehen, meine Damen und Herren von der PDS.
Wer dafür die Treuhand oder die Soziale Marktwirtschaft verantwortlich macht, verfälscht geschichtliche
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Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Tatsachen. Ich habe Verständnis für die Menschen in den neuen Ländern, die ihr individuelles Schicksal beklagen. Arbeitslosigkeit ist schwer zu ertragen. Die Chancen und Risiken der Marktwirtschaft leuchten nicht jedem sofort ein. Aber wenn Politikfunktionäre der ehemaligen SED im neuen Gewand der PDS, also die Mitverursacher der Misere, hier die Treuhand, die Bundesregierung und die Soziale Marktwirtschaft in Mißkredit bringen möchten, ist dies eine politische Unverschämtheit. Angesichts der Tatsache, daß so viele Menschen leider in der Welt hungern müssen, und angesichts der Tatsache, daß Hungerstreiks gegen Diktaturen bisweilen das einzige Mittel sind, um zu protestieren, ist Ihr Hungerstreik eine politische Unverschämtheit und ein Mißbrauch der Demokratie.
Hier wird in infamer Weise ein unglaubliches Lügenmärchen gestrickt, um daraus eine politische Suppe zu kochen.
Den größten Teil der Kosten der Einheit haben wir durch Einsparungen finanziert. Im Bundeshaushalt haben wir seit 1990 70 Milliarden DM dauerhaft eingespart. Die dennoch erforderliche maßvolle Erhöhung der Nettokreditaufnahme wurde reibungslos am Kapitalmarkt finanziert. Trotz der Inanspruchnahme des Kapitalmarktes durch die privaten Investoren und die öffentliche Hand sanken die langfristigen, für die Investitionen entscheidenden Kapitalmarktzinsen auf den historischen Tiefstand von knapp 5,5 %. Trotz eines gewissen Anstiegs liegen sie jetzt immer noch unter dem langfristigen Durchschnitt. Darin zeigt sich das große Vertrauen des In- und Auslands.
Wir haben in 40 Jahren konsequenter Stabilitätspolitik einen großen Vertrauenskredit in der Welt erworben. Niemand hatte Bedenken, Geld in Deutschland in der D-Mark anzulegen. Spekulanten haben sich die Zähne ausgebissen.
Trotz der Entlastungen auf der Ausgabenseite waren auch Einnahmeverbesserungen unvermeidlich. Sie konnten aber in engem Rahmen gehalten und konjunkturgerecht zeitlich begrenzt werden.
Mit dem Jahr 1995 kehren wir zur finanzpolitischen Normalität zurück. Die Übergangsfinanzierungen für die Einheit werden beendet und in den Bundeshaushalt übernommen. Die abschließende Regelung der Erblasten und die vollständige Integration der neuen Länder in das Finanzausgleichsystem führen die Finanzpolitik in ruhigeres Fahrwasser.
Im Erblastentilgungsfonds wird die sozialistische Erblast übernommen. Dabei werden die Altschulden des Kreditabwicklungsfonds der Treuhand und des DDR-Wohnungsbaus die ursprünglich angenommenen 400 Milliarden DM wohl nicht ganz erreichen. 1995 zahlt der Bund für den Erblastentilgungsfonds aus seinem Haushalt Zins und Tilgung in Höhe von 26 Milliarden DM. Dazu kommen die direkte Finanzierung der Nachfolgeeinrichtungen der Treuhand von 5,6 Milliarden DM und die Altschuldenhilfe für
die Wohnungswirtschaft in den neuen Ländern von gut 1 Milliarde DM. — Die Umsetzung des Altschuldenhilfegesetzes ist übrigens ein voller Erfolg. Vertreter der Wohnungswirtschaft haben mir dies kürzlich bestätigt und damit auf mögliche Investitionen von insgesamt 200 Milliarden DM in den nächsten fünf bis acht Jahren hingewiesen.
An dieser Stelle noch eine wichtige Bemerkung für den Kapitalmarkt: Allein die Übernahme der Finanzierung der aufgelaufenen Treuhandschulden und der Nachfolgeinstitutionen im Bundeshaushalt entlastet den Kapitalmarkt um etwa 1 % des Bruttoinlandsprodukts, also um gut 30 Milliarden DM. Der neue Finanzausgleich kostet den Bund etwa 35 Milliarden DM. Sieben Umsatzsteuerpunkte gibt der Bund an die Länder ab. Das sind etwa 17 Milliarden DM. Die Bundesergänzungszuweisungen betragen weitere 18 Milliarden DM.
Aus gesamtwirtschaftlichen Gründen holen wir uns nur einen Teil dieser 35 Milliarden DM über den Solidaritätszuschlag zurück. Er muß so bald wie möglich zurückgeführt werden. Aber der Konsolidierungskurs hat Vorrang. Nur wenn sich entsprechende Spielräume ergeben, können wir über eine Kürzung reden. Diese Spielräume haben wir eindeutig definiert: wenn die Belastung des Bundes durch die Transfers für die neuen Länder im Rahmen des Finanzausgleichs sinkt oder die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag dauerhaft stärker steigen, als im Finanzplan vorgesehen. Das wird jährlich überprüft. Damit übernehmen die Länder Mitverantwortung für den Abbau. Wenn die sieben Umsatzsteuerpunkte für den Transfer Ost nicht mehr voll gebraucht werden, müssen die Länder Umsatzsteuerpunkte an den Bund zurückgeben. Dieses Geld darf nicht anderweitig verbraucht werden.
Meine Damen und Herren von der SPD, es macht keinen Sinn, immer wieder über die vermeintliche soziale Ungerechtigkeit des Solidaritätszuschlags zu fabulieren. Der von Ihnen mitbeschlossene Solidaritätszuschlag ist gerecht. Er knüpft an unseren von jedermann für sozial gerecht gehaltenen progressiven Einkommensteuertarif an. Wer viel Steuern zahlt, zahlt viel Zuschlag. Wer wenig oder keine Steuern zahlt, zahlt auch keinen Zuschlag. Eine vierköpfige Familie zahlt schon jetzt bis zu einem Bruttoeinkommen von 47 197 DM keine Mark. Mit der Neuregelung des Existenzminimums steigt dies auf 54 001 DM.
Wie bereits vor der Wahl angekündigt, entspricht der jetzt vorgelegte Bundeshaushalt 1995 weitgehend dem Entwurf vom September. Allerdings können wir heute einen in wichtigen Eckpunkten verbesserten Haushalt vorlegen. Mit 484,1 Milliarden DM — rund 600 Millionen DM weniger als im ersten Regierungsentwurf — steigen die Ausgaben nur um 0,9 %. Das ist deutlich unter dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Wenn wir das Ziel angehen, vor allen Dingen die Staatsquote bis zur Jahrtausendwende etwa auf die Zahl zu senken, wie sie vor der Wiedervereinigung gewesen ist, dann gelingt dies nur, wenn die Steigerung des Haushalts deutlich unter der Steigerung des nominellen Bruttosozialproduktes liegt.
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Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Man kann sich kaum eine stärkere Berücksichtigung dieser Zielmarge vorstellen, wenn man den Haushalt nur um 0,9 % steigerte und das nominelle Bruttosozialprodukt um etwa 5 % zunähme.
Um Ihnen, Frau Matthäus-Maier, und Ihnen, Herr Wieczorek, gleich zuvorzukommen: Sparen Sie sich den Einwand, hier handle es sich um Buchungstricks!
— Natürlich. Ich wußte doch, daß Ihnen nichts Neues einfällt.
— Frau Fuchs, hören Sie doch einmal zu!
— Entschuldigung; ich rede doch. Ich warte nachher darauf, daß Sie fragen.
Ich gratuliere Ihnen übrigens, daß Sie Vorsitzender des Haushaltsausschusses geworden sind.
Bei seinem Geburtstag hat Rudi Walther seinen Wunsch geäußert, daß der Vorsitz des Haushaltsausschusses wechseln möge, und zwar nicht deswegen, weil die SPD gern einen Posten aufgibt, sondern weil das Folge eines Machtwechsels gewesen wäre. Ich habe gesagt: Wir sind fair; die SPD hat wenige gute Leute; einen davon soll sie zum Vorsitzenden des Haushaltsausschusses machen; wir stellen weiter die Regierung. Dabei ist es geblieben.
Natürlich werden die Mittel für den neuen Finanzausgleich als Mindereinnahmen gebucht. Das ist haushaltsrechtlich in Ordnung und ist zu allen Zeiten so angewendet worden, auch zu Ihrer Regierungszeit. Denn mit der gleichen Berechtigung hätten wir dann umgekehrt ab 1990 die Übergangsfinanzierungen aus den Ausgabensteigerungen für diese Jahre herausrechnen können. Das haben wir natürlich nicht getan.
Und wie behandeln Sie denn die neuen Zusatzlasten für den Bund durch den Erblastentilgungsfonds und die zusätzlichen Leistungen für die neuen Länder und die Treuhandnachfolge? Sollen wir sie etwa weglassen? Das wäre ja die logische Folge Ihrer Kritik.
Die Nettokreditaufnahme wird gegenüber dem ersten Entwurf um 10,2 Milliarden DM auf 58,6 Milliarden DM zurückgeführt.
Die von der Bundesregierung im Sommer beschlossenen Einsparmaßnahmen bei der Arbeitslosenhilfe sind mit der Koalitionsvereinbarung in die umfassendere Reform und Neuabgrenzung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe eingeordnet worden. Hier sind Reformen dringend nötig. Es kann nicht sein, daß der Anreiz zur Aufnahme einer regulären Arbeit in vielen Fällen nur minimal ist. Der Anreiz zur Arbeitsaufnahme muß gesteigert werden, nicht der Anreiz zum Ausbeuten sozialer Sicherungssysteme. Das Lohnabstandsgebot muß wieder deutlich gewahrt werden.
Ich danke hier Renate Schmidt und auch Ihnen, Herr Scharping, für deutliche Worte zur Mißbrauchsbekämpfung an Ihre eigene Partei.
Ich glaube, das ist ein guter Beginn, um eine ideologiefreie Debatte über dieses Thema zu führen.
Auch im kommenden Bundeshaushalt bleiben die Hilfen für die neuen Länder der dominierende Faktor. Wie in den Vorjahren kommen den neuen Ländern, einschließlich der Steuerverzichte des Bundes, etwa 150 Milliarden DM zugute. An Einnahmen aus den neuen Ländern erhält der Bund rund 45 Milliarden DM. Im Saldo stellt der Bund also für die neuen Länder 1995 etwa 105 Milliarden DM bereit — bei einem Bundeshaushalt von 484,1 Milliarden und einem Defizit von 58,6 Milliarden DM.
Schon diese Relation zeigt noch einmal überdeutlich die Verschiebung der Prioritäten und das Ausmaß der bereits durchgeführten Konsolidierung im Bundeshaushalt.
Auch wenn wichtige Klippen umschifft worden sind und das Fahrwasser wieder ruhiger geworden ist: Wir müssen weiter klar auf das Ziel zusteuern. Die Konsolidierungsaufgabe ist noch keineswegs erledigt.
Die Ausgabenspielräume bleiben auch in den Jahren nach 1995 eng begrenzt. Der geltende Finanzplan unterstellt bereits ein nominales Wirtschaftswachstum von fünfeinhalb Prozent. Nachdem uns manche Skeptiker noch bis vor kurzem übertriebenen Optimismus vorgeworfen haben, wird niemand mehr bestreiten: Dieses Ziel ist erreichbar.
Aber mehr ist auch jetzt nicht zu erwarten. Das Ausgabenmoratorium muß für die ganze Legislaturperiode gelten.
Wir müssen bei den wichtigen finanzpolitischen Meßgrößen den Stand vor der Wiedervereinigung erreichen.
Die Staatsquote muß von jetzt etwa 50 % bis zum Jahre 2000 auf 46 % gesenkt werden.
Entstehende Spielräume müssen vorrangig für die weitere Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des
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Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Standorts Deutschland genutzt werden. Die Steuer- und Abgabenquote muß mittelfristig wieder zurückgeführt werden. Diese Wachstumsaufgabe anzupakken ist der zentrale finanzpolitische Auftrag dieses Jahrzehnts.
Eine dynamische Wirtschaft, die laufend neue Arbeitsplätze schafft, entsteht durch den Abbau von Wachstumshemmnissen, durch eine aktive, die individuelle und wirtschaftliche Leistungsbereitschaft fördernde Politik. Das ist keine Politik der sozialen Kälte.
Erstens. Nur durch wirtschaftlichen Wohlstand und Wachstum können wir unseren Stand der sozialen Absicherung halten und gezielt verbessern.
Zweitens. Die Ethik einer christlichen Partei hat eine den Schwachen und Benachteiligten zugewandte Sozialpolitik im Mittelpunkt ihrer Politik.
Wenn es um richtig verstandene Solidarität geht, lassen wir uns von den Sozialisten jedenfalls nicht übertreffen.
Aber Sozialpolitik muß an der konkreten Situation des einzelnen orientiert sein. Die staatliche Verwaltung und Regulierung von sozialen Problemen in unüberschaubaren und anonymen Institutionen darf nicht überhandnehmen. Sie ist sonst auch nicht bezahlbar.
Der Sozialstaat muß umgebaut werden.
Statt des Einsatzes der sozialen Gießkanne müssen wir uns um die konkreten Probleme des einzelnen kümmern. Bürokratie muß abgebaut und gestrafft werden.
— Beruhigen Sie sich doch, Herr Fischer.
— Herr Blüm braucht bei mir keine Zwischenfrage zu stellen; denn wir verstehen einander blind.
Marktwirtschaftliche Sozialpolitik hilft den Schwachen. Sie setzt aber zugleich Anreize für die Hilfe zur Selbsthilfe und geht gegen die Ausbeutung der Sozialsysteme zum Schaden der Allgemeinheit vor.
Auch im Bundeshaushalt 1995 wird jede dritte Mark für soziale Sicherung ausgegeben. Nicht in einem einzigen Haushalt, für den die SPD unter ihren Finanzministern Verantwortung trug, wurde prozentual so viel für Soziales ausgegeben, nicht in einem einzigen Haushalt von 1970 bis 1982.
— Ich freue mich, daß das eine lebendige Auftaktrunde ist. Ich hätte gar nicht gedacht, daß Sie nach Ihrer Niederlage bei der Bundestagswahl schon so munter sind. Sie haben sich offensichtlich rechtzeitig auf die Niederlage eingestellt.
Wir müssen weiterhin konsequent prüfen, welche Aufgabengebiete der Staat der Zukunft in einer offenen Gesellschaft zu übernehmen hat und wie er die Aufgaben, die er übernehmen soll, ausführt. Die Effizienz der Staatstätigkeit muß gesteigert werden.
Wenn wir von jedem Bürger und der Wirtschaft verlangen, flexibel und schnell auf Veränderungen im Markt zu reagieren, muß für den Staat das gleiche gelten. Unter dem Stichwort schlanker Staat wollen wir diese Probleme angehen. Wir wollen den Personaleinsatz in der Verwaltung zurückführen. Dabei haben wir uns ein klares Ziel gesteckt: Wir haben bereits seit 1993 den Personalbestand konsequent verringert.
Wir werden ihn auch künftig um jährlich ein Prozent verringern. Bis zum Ende des Jahrhunderts soll der Stand von 1989 erreicht werden.
Zwischen 1991 und Ende 1995 werden 46 000 Stellen abgebaut. Weitere 10 000 folgen. Das sind dann bei Stellenkosten von durchschnittlich etwa 70 000 DM jährlich dauerhafte Einsparungen von gut 3,5 Milliarden DM.
Bei den Verwaltungsausgaben, die immerhin ein Volumen von 30 Milliarden DM im Bundeshaushalt ausmachen, werden wir 1995 Pilotprojekte zur Erprobung flexibler Haushaltsverfahren starten.
Die erfolgreiche Privatisierung in Ost und West wird weitergeführt. Ordnungspolitisch konsequent trennt sich der Staat mittelfristig von seinen Sondervermögen Bahn und Post. Die Privatisierung der Telekom ist die größte Privatisierungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Dabei geht es nicht um Einnahmen für den Staat. Die Einnahmen, die er dadurch bekommt, werden wir für Gehaltszahlungen für die noch verbleibenden Beamten und für Pensionslasten benötigen. Damit ist dieser Bereich ein für allemal aus dem hoheitlichen Bereich heraus. Langfristig wird es bei Post und Bahn keine Beamten mehr geben. Es entstehen vom öffentlichen Ballast befreite, marktwirtschaftlich ausgerichtete High-Tech-Unternehmen, die ihren erfolgreichen Part auf den Weltmärkten spielen werden.
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Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Neben der Bilanz der Treuhand war es im Westen insbesondere der Einstieg in die endgültige, vollständige Privatisierung der Lufthansa, der von der internationalen Fachpresse als „deal of the year" gewürdigt wurde.
Im Osten werden die Nachfolgeeinrichtungen der Treuhandanstalt dafür sorgen, daß die erfolgreiche Privatisierung in den neuen Ländern weiter auf Kurs gehalten wird und Fehlentwicklungen im Einzelfall rasch korrigiert werden.
Nicht benötigte Liegenschaften wird der Bund weiterhin rasch veräußern. Die bisher gewährten Verbilligungen werden aber auslaufen. Interessierte Länder und Kommunen sind jetzt gefordert, ihre Interessen zu konkretisieren und Verkäufe rasch abzuschließen. Der Bund will Familien mit Kindern beim Verkauf bundeseigener Grundstücke gegenüber anderen Kaufinteressenten bevorzugen. Hier werden wir im Verwaltungsweg zu attraktiven Lösungen für die Familien kommen.
Wichtige Vorhaben in der Steuerpolitik stehen an. Dabei darf es keine Steuersenkungen auf Pump geben. Dennoch wäre es genauso verkehrt, mit der Steuersenkung erst bei Defiziten von Null zu beginnen. Wir werden den steuerpolitischen Aufgaben deshalb in der Finanzplanung Rechnung tragen. Dabei stehen die Sicherung des Existenzminimums und die Verbesserung des dualen Systems des Familienleistungsausgleichs im Vordergrund.
Nach der deutlichen Unterschreitung des geplanten Defizits 1994 und 1995 werden wir 1996 etwa auf dem Niveau des Finanzplans bleiben. 1997 und 1998 werden die Defizite etwas höher als im Finanzplan liegen. Nach dem Vorliegen der mittelfristigen Steuerschätzung und der gesamtwirtschaftlichen Vorausschau werden wir mit dem Haushalt 1996 Mitte nächsten Jahres die genauen Zahlen kennen und den Finanzplan vorlegen.
Insgesamt wird der Konsolidierungspfad jedenfalls nicht verlassen. Alle weiteren richtigen und sinnvollen Steuersenkungen müssen erst durch zusätzliche Konsolidierungserfolge verdient werden; sonst verkehrt sich ihre Wirkung ins Gegenteil.
Die wichtigsten steuerpolitischen Aufgaben werden im Jahressteuergesetz 1996 angepackt. Ich möchte schon heute die Opposition im Bundestag und im Bundesrat auffordern, sich dieser für Deutschland zentralen Zukunftsaufgabe nicht mit Scheuklappen zu widersetzen. Das Thema ist zu wichtig, um es zu einem Wahlkampftheater werden zu lassen. Wir alle tragen Verantwortung für Deutschland. Es sollte hier zu einer Steuerkoalition der Vernunft kommen. Dabei biete ich Ihnen von meiner Seite eine unvoreingenommene Diskussion an.
Mit dem von mir in der letzten Woche gemachten Vorschlag können wir die Steuerfreistellung des Existenzminimums verfassungskonform regeln. Damit wird die bis Ende 1995 geltende Übergangsregelung abgelöst. Mein Vorschlag hat vor allem die folgenden Vorzüge: Jeder wird entlastet; keiner wird belastet. 1,5 Millionen Haushalte fallen zusätzlich aus der Steuerpflicht heraus. Nach unvermeidlichen Belastungen in den letzten Jahren erfolgt 1996 mit einem Volumen von 15 Milliarden DM eine wichtige Entlastung aller Steuerzahler. Dies verstetigt die private Nachfrage und das Wirtschaftswachstum. Der Vorschlag ist leistungsgerecht und verteilungspolitisch ausgewogen. Höhere Einkommen werden prozentual am niedrigsten entlastet. Die niedrigen Einkommen werden am höchsten entlastet.
Der Vorschlag ist auch finanzpolitisch ein zukunftsfähiger Weg; denn künftige Anpassungen des steuerfreien Existenzminimums führen zu wesentlich geringeren Steuerausfällen als alle anderen bisher bekannten Lösungen, wie z. B. der von Nordrhein-Westfalen vorgeschlagene Tarif.
Die Neugestaltung des Einkommensteuertarifs enthält folgende Eckpunkte: Das Existenzminimum wird in Höhe von rund 12 000 DM für Ledige bzw. 24 000 DM für Verheiratete steuerfrei gestellt. Der bisherige Grundfreibetrag wird durch eine außertarifliche Steuerermäßigung, die sogenannte Grundentlastung, ersetzt. Diese Grundentlastung wird mit steigendem Einkommen abgebaut und läuft bei einem zu versteuernden Einkommen von rund 30 000 DM bei Ledigen bzw. 60 000 DM bei Verheirateten aus.
Die tarifliche Grenzbelastung wird über die gesamte Progressionszone hinweg um 0,7 Prozentpunkte leistungsgerecht abgesenkt. Der linear-progressive Tarifverlauf bleibt erhalten.
Diese Lösung hat folgende konkrete Auswirkungen: Ein verheirateter Alleinverdiener mit einem zu versteuernden Einkommen von 30 000 DM wird um rund 2 200 DM entlastet. Bei geringem Einkommen bis zum Existenzminimum von rund 12 000 DM bei Ledigen bzw. 24 000 DM bei Verheirateten wird die Steuerbelastung um 100 % gesenkt. Bei einem Spitzenverdiener ergibt sich eine Entlastung von weniger als 2 % der bisher zu tragenden Steuerschuld.
Rund ein Viertel der Steuerzahler im unteren Einkommensbereich haben einen Entlastungsanteil von über 40 % am Gesamtvolumen. Auf die untere Hälfte der Steuerzahler entfällt ein Entlastungsanteil von rund 70 %.
Die vorgeschlagene Lösung bewegt sich im Spielraum, den das Bundesverfassungsgericht einräumt. Auch der für 1996 vorgesehene Freistellungsbetrag von 12 095 DM bzw. 24 191 DM entspricht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
1995 stellen wir 11 500 DM frei, obwohl nur rund 11 000 DM erforderlich wären. Auch der Freistellungsbetrag für 1996 liegt über dem Existenzminimum und kann ebenfalls 1997 unverändert fortgelten. 13 000 DM sind jetzt nicht notwendig.
Über Modelle mit einem größeren Finanzvolumen können wir selbstverständlich diskutieren, wenn gleichzeitig konsensfähige Vorschläge für eine Gegenfinanzierung unterbreitet werden. Diese Vorschläge müssen aber verteilungspolitisch ausgewogen sein und dürfen zu keiner Steuerkomplizierung führen.
Der Kollege Schleußer ist zum Wortführer der SPD ernannt worden. Das begrüße ich. Dennoch, sein
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Vorschlag ist weniger begrüßenswert. Er wirkt ab einem zu versteuernden Einkommen von 50 000 DM wie eine Ergänzungsabgabe. Das hat das Bundesverfassungsgericht mit Sicherheit nicht gewollt.
Ich kann im übrigen auch nicht einsehen, wieso Sie sich unserer Lösung verschließen, die gerade die Geringverdiener besonders begünstigt. Es ist auch nicht so, daß wir den linear-progressiven Tarifverlauf aufgeben. Es macht wenig Sinn, sich durch eine Diskussion über punktuelle Grenzbelastungen den Blick für das Wesentliche zu versperren. Aus der Sicht der Steuerpflichtigen zählt letztlich das, was unter dem Strich übrigbleibt.
Berücksichtigt man alle zusätzliche Transfers oder Belastungen, die für verschiedene Einkommensgruppen relevant sind, ergeben sich bei der Grenzbelastung ständig Abweichungen von einem Formeltarif. Unbeschritten bleibt: Absolut und relativ werden die unteren Einkommen am stärksten entlastet.
Ich hoffe, wir können bei den anstehenden Verhandlungen konstruktiv zusammenwirken. Ich empfehle Ihnen, in diesem Zusammenhang einmal mit Ihrem früheren Kollegen Apel Kontakt aufzunehmen, der erst kürzlich in einem Interview deutlich gemacht hat, er halte diese Steuerpläne der Bundesregierung für richtig.
Weitergehenden Kompensationswünschen der Bundesländer möchte ich gleich an dieser Stelle eine Absage erteilen. Es kann nicht sein, daß allein der Bund in der Pflicht zum Sparen ist. Die Länder sind durchaus in der Lage, weitere Einsparungen und Haushaltsverbesserungen vorzunehmen. Bereits jetzt haben wir eine finanzielle Schieflage zwischen Bund und alten Ländern, und zwar zu Lasten des Bundes. Die alten Länder und ihre Gemeinden werden 1995 wohl eine Defizitquote von 51/2 % erreichen. Trotz der Konsolidierungsanstrengungen wird sie beim Bund noch 12 % betragen.
Meine Damen und Herren, die Familien sollen weiter entlastet werden. Dies ist ein Schwerpunkt der Politik der Bundesregierung. Der Kinderfreibetrag wird stufenweise auf das volle Existenzminimum eines Kindes angehoben, in einem ersten Schritt zum 1. Januar 1996 um rund 1 000 DM. Dafür wird es möglich, die Familientransferleistungen wie z. B. das Kindergeld ziel- und bedarfsgerecht auf einkommensschwache Familien mit mehreren Kindern zu konzentrieren.
Unser besonderes Augenmerk gilt zukunfts- und wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen. Die Arbeitslosigkeit ist zu hoch, auch wenn sich erste positive Signale zeigen. Zur Sicherung von Wachstum und Beschäftigung werden wir deshalb für 1996 die dritte Stufe der Unternehmensteuerreform in Angriff nehmen. Die international einmalige Sonderbelastung der deutschen Unternehmen durch die Gewerbesteuer muß gesenkt werden. Nur so können wir im internationalen Wettbewerb den Standort Deutschland behaupten. Hochproduktive Arbeitsplätze sind nur mit einer ausreichenden Kapitalausstattung möglich. Deshalb
muß die ertragsunabhängige Gewerbekapitalsteuer abgeschafft werden.
Wer sich dem verweigert, setzt die Zukunft unserer Arbeitsplätze in Deutschland aufs Spiel. Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer wollen wir mit einer mittelstandsfreundlichen Entlastung bei der Gewerbeertragsteuer verbinden.
Eingebettet wird das Gesamtkonzept in eine Gemeindefinanzreform. Klar ist: Die Gemeinden müssen einen vollen Ausgleich erhalten.
Sie sollen auch weiterhin ein Interesse daran haben, die Ansiedlung von Gewerbebetrieben und damit von Arbeitsplätzen zu fördern. Klar ist aber auch: Wie bei den vorhergehenden Stufen der Unternehmensteuerreform kommt auf Grund der haushaltspolitischen Situation nur eine aufkommensneutrale Gestaltung in Frage.
Die Philosophie eines schlankes Staates muß auch für unser Steuersystem gelten. Das Steuersystem muß wieder einfach und transparent werden. Dies ist eine Forderung sowohl im Interesse der Steuerzahler als auch im Interesse der Steuerverwaltung.
— Die Steuergesetze sind zumeist durch den Vermittlungsausschuß gegangen. Sie sind eine Einigung zwischen der Koalition und der Opposition, also gemeinsam mit Ihnen gemacht. Wenn es — leider — zu Verkomplizierungen gekommen ist, tragen wir alle zusammen die Verantwortung.
Wir müssen das gemeinsam abbauen.
Ich habe dazu im September ein Diskussionspaket vorgestellt. Die einzelnen Punkte des Diskussionspaketes werden wir eingehend erörtern, um sie in das Jahressteuergesetz 1996 zu integrieren.
Ich möchte noch einmal betonen: Ich bin gerne bereit, unser Steuersystem nachhaltig zu reformieren. Ich rufe alle gesellschaftlichen Gruppen auf, nicht nur auf die Privilegien der anderen zu zeigen, sondern die eigenen in den Mittelpunkt zu rücken.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Kohlepfennig erfordert jetzt von allen Beteiligten verantwortungsbewußtes Handeln. Über die Parteigrenzen hinweg muß ideologiefrei am Energiekonsens weitergearbeitet werden. Durch die jetzt zu treffenden Entscheidungen zur Kohlefinanzierung darf die Konsolidierungspolitik nicht gefährdet werden. Ziel der Neuregelung muß eine weitgehende
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Bundesminister Dr. Theodor Waigel Belastungsneutralität für den Stromverbraucher sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Friedrich Dürrenmatt hat gesagt: „Die Wirklichkeit ist nur veränderbar, insofern sie noch nicht ist. Wir können versuchen, die Zukunft zu beeinflussen. Das ist alles." In der Tat, es ist die vornehmste Aufgabe der Politik, die Zukunft zu gestalten. Die Bürger wollen klare Perspektiven, Lösungsvorschläge für drängende Probleme.
Wir haben uns für die Lösung der wesentlichen Wiedervereinigungsaufgaben den Zeitrahmen von zehn Jahren gesetzt. Nach diesem Maßstab ist jetzt Halbzeit. Fünf Jahre ohne Stacheldraht und Mauer liegen hinter uns. Ich denke, wir haben diese Halbzeit gut gespielt.
In den neuen Ländern bleibt noch eine Menge zu tun, vieles aufzubauen, wie beispielsweise die Frauenkirche in Dresden, wofür wir eine Sondermünze prägen und den Erlös für diesen guten Zweck zur Verfügung stellen.
Vielleicht ist es eine weniger gute deutsche Eigenschaft, sich über wirkliche Glücksfälle der Geschichte nicht recht freuen zu können. Dabei haben wir gerade jetzt allen Grund dazu. Wir brauchen unsere Einheit nicht protzig zu Markte zu tragen, aber auch nicht griesgrämig vor der Welt zu verstecken.
Wir können dankbar und stolz darauf sein: Deutschland steht für immer auf der Seite der Freiheit, gegen Diktatur und Unterdrückung. Wir haben in Deutschland dazu beigetragen, ein menschenverachtendes System zur Geschichte werden zu lassen. Unsere Aufgabe ist es, diese Erfahrung in Europa einzubringen. Die tragenden Elemente der abendländischen Kultur, das Christentum und die Aufklärung, haben auch an der Schwelle eines neuen Jahrtausends nichts von ihrer Aktualität verloren.
Die europäische Einigung muß kommen — nicht als europäischer Superstaat, sondern als föderale Gemeinschaft, in der aber die wichtigen Interessen und gemeinsamen Überzeugungen entschlossen und mit einer Stimme nach außen vertreten werden. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, mit dem Ende des Ost-West-Konflikts sei ein Europa überflüssig.
Große Herausforderungen warten auf uns. Die Kirchen diskutieren den konziliaren Prozeß, Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Bei der inhaltlichen Ausgestaltung dieser Prinzipien müssen wir einen deutschen, einen europäischen Beitrag leisten. Wir können uns dabei kein kleines Karo leisten. Wer immer nur die Probleme und Schwierigkeiten sieht, wird die Zukunft nicht meistern.
Für uns gilt Immanuel Kants kategorischer Imperativ der Politik: „Du kannst, denn du sollst. " Mit Freude
an der Gestaltung der Zukunft zu arbeiten, Verantwortung für Deutschland, Europa und die Welt wahrzunehmen, das, meine Damen und Herren, ist unser Programm.
Ich danke Ihnen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste nimmt das Wort die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als erstes möchte ich gratulieren; denn zwischen der letzten und der heutigen Bundestagssitzung gab es für den Finanzminister ein bedeutsames persönliches Ereignis: Er und Frau Irene Epple haben geheiratet. Meine Fraktion gratuliert Ihnen recht herzlich und wünscht Ihnen alles Gute und ein bißchen mehr Muße.
Sie werden aber verstehen, Herr Waigel, daß ich jetzt zu etwas weniger lobenswerten Seiten von Ihnen kommen muß, denn der Bundeshaushalt 1995 liegt heute zur Diskussion vor.
Zu Beginn dieser 13. Legislaturperiode stellen sich der Finanzpolitik insbesondere vier Hauptaufgaben: erstens Umschichtung im Bundeshaushalt zugunsten von Zukunftsinvestitionen für neue Arbeitsplätze in Ost und West, für die Förderung von Wissenschaft, moderner Technologie und Ausbildung; zweitens Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, damit wir durch Sparen und Umschichten aus der Schuldenfalle herauskommen; drittens steuerliche Entlastung der viel zu hoch besteuerten Familien mit Kindern; viertens steuerliche Freistellung des Existenzminimums.
Der Entwurf des Bundeshaushaltes 1995 und Ihre anderen Vorschläge geben leider auf keines dieser drängenden Probleme eine befriedigende Antwort.
Durchwursteln ist die Devise. Der vom Bundeskanzler angekündigte Aufbruch in die Zukunft findet nicht statt. Forschung und Technologie kommen zu kurz. Der Bund steckt in einer 100-Milliarden-Zinsfalle. Die Familien mit Kindern müssen sich wieder einmal mit schönen Worten abspeisen lassen und werden auf 1996 vertröstet. Bei den Vorschlägen zur Steuerfreiheit des Existenzminimums werden die kleinen und mittleren Einkommen viel zu gering entlastet.
Wir hatten gehofft, Sie würden den Beginn der neuen Legislaturperiode zu einem finanzpolitischen Neuanfang nutzen. Wir sehen mit Bedauern, daß Sie diese Chance verpaßt haben.
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Ingrid Matthäus-Maier
Der Bundeskanzler hat einen Aufbruch in die Zukunft angekündigt. Zu diesem Zweck hat er das Ministerium für Forschung und Technologie und das Ministerium für Bildung und Wissenschaft zusammengelegt zu einem sogenannten Zukunftsministerium. Dieses begrüßen wir. Wir wünschen Herrn Minister Rüttgers für sein schweres und wichtiges Amt eine gute Hand.
Aber entgegen allen Erwartungen hat der Herr Bundeskanzler bei diesem sogenannten Zukunftsministerium nicht etwa eine halbe oder eine Milliarde DM draufgelegt; real nimmt dieser Haushalt sogar ab. Schon die erste Feuerprobe hat der sogenannte Zukunftsminister nicht bestanden.
Dem neuen Ministerium einen schönen Titel zu geben statt mehr Geld, damit ist der Zukunftssicherung Deutschlands mit Sicherheit nicht gedient.
Der bekannte Unternehmensberater Roland Berger sagte erst vor wenigen Tagen: „Ohne Innovationen geht Deutschland die Arbeit aus." Aber wo bleiben bei Ihnen die Innovationen? Wo bleibt denn die von Ihrem bisherigen Forschungsminister landauf, landab in Aussicht gestellte steuerliche Förderung für Unternehmen, die in Forschung und Technologie investieren? Wo bleibt die dringend notwendige Förderung des Mittelstandes?
Die Forschungslandschaft in Ostdeutschland verkümmert. Der Anteil von Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie am Gesamthaushalt ist weiter zurückgegangen. Ein Bundeskanzler aber, der wie Helmut Kohl den Anteil des Forschungshaushaltes am Bundeshaushalt auf das niedrigste Niveau seit 20 Jahren fallen läßt, sollte das Wort Wirtschaftsstandort Deutschland überhaupt nicht mehr in den Mund nehmen.
Wo bleibt die dringend notwendige Anpassung der Ausbildungsförderung? Unser Land ist ein rohstoffarmes Land. Unser Rohstoff, die Grundlage unseres Wohlstandes sind die Ausbildung, die Leistungsbereitschaft und das Engagement der Menschen. Wir setzen uns daher für eine Erhöhung des BAföG um 4 % ein, was nach zweijähriger Pause nun wirklich nicht maßlos ist und was der Vermittlungsausschuß fast einstimmig beschlossen hat.
Man muß doch wissen: Wer das BAföG vernachlässigt, verlängert die Studienzeiten, weil sich die Studenten dann etwas hinzuverdienen müssen. Wir brauchen aber kürzere und nicht längere Studienzeiten, meine Damen und Herren.
Wir hätten auch gern gewußt, wie Sie die Meisterkurse im Handwerk wieder fördern wollen.
Erst Ende 1993 haben Sie die Meisterfortbildung im Arbeitsförderungsgesetz zerschlagen — angesichts der enormen Bedeutung unseres dualen Ausbildungssystems ein schwerer Fehler. Wenn Sie das jetzt korrigieren wollen, stimmen wir zu. Es wird nämlich Zeit, daß Sie die Teilnehmer an Techniker- und Meisterkursen nicht mehr länger finanziell im Regen stehenlassen.
Sagen Sie nicht, Sie hätten dafür kein Geld. Allein in 1995 erhöhen Sie den Verteidigungshaushalt um 670 Millionen DM. Nicht nur, daß Sie nach dem Ende des Kalten Krieges viel zu spät begonnen haben, im Verteidigungshaushalt einzusparen; jetzt soll damit schon wieder Schluß sein. In Zeiten seines höchsten Standes machte der Verteidigungshaushalt 54 Milliarden DM aus. Erst nach langem Drängen und zögerlichem Schritt für Schritt haben Sie ihn auf 47,2 Milliarden DM gekürzt. Jetzt soll er bereits wieder ansteigen.
Soll das denn schon die ganze Friedensdividende gewesen sein, meine Damen und Herren? Nein, wenn Sie schon nicht bereit sind, hier weiter zu kürzen — was eigentlich notwendig wäre —, dann legen Sie doch wenigstens die 670 Millionen DM nicht beim Verteidigungshaushalt, sondern beim sogenannten Zukunftshaushalt obendrauf.
Es ist auch kein Zeichen von Zukunftsorientierung, daß die Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit Jahr für Jahr zurückgehen: 1993 560 000, 1994 450 000, 1995 geplant 435 000 DM. Der Verwaltungsrat der Bundesanstalt will 510 000 DM. Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf, diesem Vorschlag des Verwaltungsrates zu entsprechen. Denn die Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit sind ein wichtiger Bestandteil zur Bekämpfung der nach wie vor viel zu hohen Arbeitslosigkeit.
Sie fragen uns: Wie wollen Sozialdemokraten diese aktive Arbeitsmarktpolitik bezahlen? Ja, wollen Sie denn behaupten, daß Arbeitslosigkeit kein Geld kostet? Die Bundesanstalt für Arbeit beziffert allein für 1993 die Kosten der Arbeitslosigkeit auf insgesamt 116 Milliarden DM. Hinzu kommen Langzeitarbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, die Arbeitslosigkeit von Menschen, denen man mit Mitte 40 sagt: Eigentlich können wir dich überhaupt nicht mehr gebrauchen. Das ist vor allem ein persönliches Schicksal, ein Schicksal, das oft die ganze Familie trifft, auch die Kinder.
Wissen Sie denn nicht, daß in diesem Lande eine Million Kinder von der Sozialhilfe abhängig sind?
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Ingrid Matthäus-Maier
Wissen Sie nicht, daß sich immer wieder Kinder bei Klassenfahrten krank melden, weil den Eltern das Geld fehlt? Massenarbeitslosigkeit ist außerdem ein gefährlicher Nährboden für Rechtsradikalismus, für wachsende Gewaltbereitschaft und Ausländerfeindlichkeit.
Wenn Sie all das zusammennehmen, die unmittelbaren Kosten und die Folgen, dann stellt Massenarbeitslosigkeit die größte volkswirtschaftliche Verschwendung dar. Wir müssen endlich Arbeit finanzieren statt erzwungene Arbeitslosigkeit.
Notwendig ist es dann z. B. auch, die viel zu hohen Lohnnebenkosten dadurch zu senken, daß man nicht mehr den Beitragszahlern in zweistelliger Milliardengröße — wie durch diese Bundesregierung geschehen — Kosten für Aufgaben aufbürdet, bei denen es sich um allgemeine staatliche Aufgaben handelt, an denen sich alle beteiligen müßten. Alle fordern dies: die Gewerkschaften, die Unternehmer, die Fachleute. Es wird Zeit, daß die Bundesregierung für diese Art Senkung der Lohnnebenkosten endlich konkrete Vorschläge macht.
Daß dieser Haushalt nicht zukunfts-, sondern vergangenheitsorientiert ist, zeigt sich auch an anderer Stelle. Die Ausgaben für Energieeinsparprogramme und regenerierbare Energiequellen nehmen nicht etwa zu, sondern sie nehmen ab.
Das ist schlecht für die Umwelt, und das ist auch schlecht für die Arbeitsplätze.
Ein Beispiel: Die Japaner hatten ein 70 000-
Dächer-Solarenergieprogramm. Wir in Deutschland hatten dagegen nur ein Miniprogramm. Da braucht sich doch keiner zu wundern, daß ein Solarenergieauftrag der Saudis über mehrere hundert Millionen DM an die Japaner ging, weil die in dieser Frage einfach weiter sind. Ich bin aber der festen Überzeugung: Nicht das Land, das die besten U-Boote und die besten Panzer, sondern das Land, das die besten Energieeinspar- und Umweltschutztechnologien produziert und exportiert, wird im Jahr 2000 weltweit die Nase vorn haben.
Auch in Deutschland haben wir längst nicht alle Energieeinsparpotentiale ausgeschöpft.
Ich darf daran erinnern, daß wir in den 70er Jahren ein sehr erfolgreiches Programm zum Einbau von Doppelfenstern aufgelegt haben. Mit Hilfe eines Zuschusses haben damals Hunderttausende von Menschen Doppelfenster eingebaut, Energie gespart und Arbeitsplätze geschaffen — ein besonders gutes Beispiel für die Verbindung von Arbeit und Umwelt.
Wenn Sie endlich bereit wären, einen Teil der rund 700 Millionen DM, die Sie in Ihrem Bundeshaushalt noch immer für die Kernenergie vorsehen, in entsprechende Energieeinsparprogramme umzuschichten, dann hätten wir dafür auch das Geld.
Daß es auch anders geht, zeigt z. B. das Land Hessen. Dort sind binnen zwei Jahren die Fördermittel für Energieeinsparmaßnahmen auf 110 Millionen DM fast verdoppelt worden; die Vorgängerregierung der CDU gab nur 60 Millionen DM aus.
Auch in der Steuerpolitik werden Sie an einer Stärkung des Umweltgedankens nicht vorbeikommen. Der Kanzler sagt, dieses Land müsse fit gemacht werden für das 21. Jahrhundert. Da hat er sicher Recht. Aber dazu gehört dann doch z. B. auch eine ökologische Steuerreform. Wir Sozialdemokraten hatten konkrete Vorschläge gemacht, wie man die Lohnsteuerzahler entlastet und gleichzeitig die Energie verteuert. Wären Sie unseren Vorschlägen gefolgt, wären die Nettolöhne höher und wäre das Existenzminimum schon heute steuerfrei. Statt dessen haben Sie uns beschimpft, gleichzeitig aber die Mineralölsteuer um sage und schreibe 55 Pfennig je Liter erhöht,
ohne die Lohn- und Einkommensteuer zu senken, was wir als Sozialdemokraten vorgesehen hatten.
Ein solches phantasieloses Abkassieren ist keine Reformpolitik.
Auch wenn Sie heute hundertmal nein zur ökologischen Steuerreform sagen: Sie ist richtig, sie wird kommen. Mittlerweile unterstützen auch Teile der Wirtschaft sie. Hier paßt das berühmte Wort von Willy Brandt wirklich besonders gut: „Wer morgen sicher leben will, muß heute für Reformen sorgen. " Die ökologische Steuerreform gehört dazu.
Warum können Sie mit uns eigentlich nicht kleine Schritte in die richtige Richtung machen, so z. B. die Kilometerpauschale durch eine Entfernungspauschale ersetzen, die jedem Arbeitnehmer zur Verfügung steht, egal wie er sich zu seinem Arbeitsort begibt? Das wäre ein wirksamer Anreiz für die Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs oder für die Bildung von Fahrgemeinschaften,
weil dann jeder Beifahrer seine Entfernungspauschale erhielte. Übrigens wäre das auch ein wichtiger Beitrag zur Vereinfachung des Steuerrechts.
Und warum gibt es eigentlich immer noch eine Mineralölsteuerbefreiung für Flugbenzin, für die
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Ingrid Matthäus-Maier
gewerbliche Binnenschiffahrt oder die Gasölbetriebsbeihilfe? Einen Teil davon wird man nur auf europäischer Ebene regeln können, aber man muß es endlich anpacken.
Außerdem zeigen diese Beispiele, daß Umweltschutz nicht immer nur Geld kosten muß, sondern durchaus auch Geld bringt. Daß das Bundesverfassungsgericht Sie durch die Entscheidung zum Kohlepfennig, den es als verfassungswidrig eingestuft hat, zwingt, endlich ernsthafter als bisher an die Energiesteuer heranzugehen, ist sicher zu begrüßen.
Da wir gerade bei der Kohle sind: Daß Sie die Zweidrittelbeteiligung des Bundes an der Kokskohlenbeihilfe im Haushalt 1995 auf 50 % herunterfahren, ist ein Verstoß gegen die Kohlerunde 1991. Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie diesen Vertrauensbruch gegenüber den Arbeitnehmern in der Montanindustrie und ihren Familien zurück!
Was die dringend notwendige Konsolidierung des Bundeshaushaltes angeht, so ist das Ergebnis auch außerordentlich mager. Sie sagen, Ihr Haushalt sei ein Sparhaushalt, weil er nur um 0,9 % steige; Sie haben das eben wiederholt. Das liegt doch aber nur an einer Bilanzierungsänderung. Knapp 30 Milliarden DM des Bundes für die neuen Länder wurden in 1994 auf der Ausgabenseite verbucht, während sie 1995 als Steuermindereinnahmen außen vor bleiben. Wenn man dies berücksichtigt, dann beträgt die Steigerungsrate Ihres Haushaltes mehr als 7 % statt der ausgewiesenen 1 %. Mit Sparen hat das nichts zu tun.
Herr Waigel, da Sie mir das nicht abnehmen, darf ich einmal die „Welt", die uns ja nun nicht gerade nahesteht, von heute morgen zitieren. Dort heißt es in einer Überschrift: „Ein Stabilitätshaushalt, der nur so aussieht, aber keiner ist". Recht hat die „Welt", meine Damen und Herren.
Dann ist Herr Waigel stolz, daß die Neuverschuldung um etwa 10 Milliarden DM geringer ausfällt als vorgesehen. Das begrüßen wir ausdrücklich.
Aber auch dies hat doch mit echter Konsolidierung nichts zu tun.
Denn zum einen hat sich der Finanzminister den Trick einfallen lassen, durch eine Vorverlegung des Fälligkeitstermins bei der Mineralölsteuer zum Jahresende einmalig das Steueraufkommen 1995 um 2,6 Milliarden DM zu liften. Zum anderen werden 13 Milliarden DM durch Privatisierungen erzielt. „Waigels einmaliger Geldsegen", schreibt die „Wirtschaftswoche".
Aber sparen kann man das doch nun wirklich nicht nennen, Herr Waigel.
Außerdem sind die vorgesehenen 58,6 Milliarden DM an neuen Schulden angesichts einer guten Konjunktur auch nicht gerade ein Pappenstiel. Von den beiden letzten Jahren abgesehen ist das die dritthöchste Neuverschuldung des Bundes.
Wenn Sie einmal keinen neuen Schuldenrekord aufstellen, dann ist das doch kein Grund, das gleich als Haushaltskonsolidierung zu feiern, meine Damen und Herren.
Wie ernst selbst in Regierungskreisen die Finanzlage des Staates eingeschätzt wird, hat doch erst jüngst ein Papier aus dem Bundeskanzleramt gezeigt, das dringend vor einem 30-Milliarden-Loch gewarnt hat. Dieses Papier stammt doch aus dem Bundeskanzleramt, nicht von Sozialdemokraten!
Wenn der Herr Bundesbankpräsident Tietmeyer wenige Tage vor den Haushaltsberatungen mahnt, eine Besserung in der mittelfristigen Finanzplanung sei nicht zu erkennen und der Ausstieg aus der — so wörtlich — „Verschuldungsfalle" dürfe nicht scheitern, dann ist das nun wirklich ein Alarmzeichen.
Die Finanzkrise des Staates hat mittlerweile dramatische Ausmaße angenommen: ein öffentlicher Schuldenberg von insgesamt 2 Billionen DM, davon 1,4 Billionen DM — das sind 70 % — allein beim Bund. Die Verschuldung pro Kopf der Bevölkerung beträgt zum Jahresende insgesamt etwa 27 000 DM. Das heißt, Ende 1995 wird eine vierköpfige Familie eine Staatsschuld in Höhe von 108 000 DM auf dem Buckel haben.
Eine Politik, die über einen dauernden Anstieg der öffentlichen Gesamtverschuldung zugleich auch den ständigen Anstieg der Zinsbelastung billigend in Kauf nimmt, verzichtet aber darauf, die Zukunft aktiv zu gestalten, meine Damen und Herren.
Das ist ja das Entscheidende: Auch diejenigen, die sagen, die Investitionsquote sei doch hoch, und das mache man ja alles für die Zukunft, dürfen nicht vergessen, daß diese enorme Verschuldung zu einer enormen Zinsbelastung führt. Auf diese Schulden zahlt nämlich allein der Bund 1995 fast 100 Milliarden DM an Zinsen. Das ist ein Viertel aller Steuereinnahmen des Bundes. Ich darf Sie daran erinnern, daß das Bundesverfassungsgericht bei anderer Gelegenheit eine Zins-Steuer-Quote von 24 % als Haushaltsnotlage bezeichnet hat. Das schreiben Sie sich einmal
328 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ingrid Matthäus-Maier
hinter die Ohren, Herr Waigel: Eine Haushaltsnotlage des Bundes wäre die Folge!
Die gesamte öffentliche Hand, also die anderen Gebietskörperschaften und die Nebenhaushalte dazugenommen, zahlt 1995 145 Milliarden DM an Zinsen. Zum Vergleich: Der ganze Bundeshaushalt für Umwelt beträgt 1,4 Milliarden DM. Obwohl der Staat in jeder Minute 1,6 Millionen DM an Steuern einnimmt, macht er zusätzlich in jeder Minute 340 000 DM neue Schulden und zahlt für seine Schulden in jeder Minute 280 000 DM Zinsen. Meine Damen und Herren, das muß uns doch parteienübergreifend besorgt machen: in jeder Minute 280 000 DM Zinsen! Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, dann versündigen wir uns an den nachfolgenden Generationen, weil die dann kein Geld mehr haben werden, um Politik zu machen.
Noch bedrohlicher als der Schuldenstand ist die Dynamik der Staatsverschuldung. Alle 13 Finanzminister in den 40 Jahren von 1949 bis zur Amtszeit von Herrn Waigel haben in diesen Jahren zusammen nicht soviel neue Schulden wie der Herr Waigel allein in den fünf Jahren seiner Amtszeit gemacht.
Da Sie, Herr Bundesfinanzminister, zugleich CSU- Vorsitzender sind, darf ich Ihnen eine CSU-Wahlkampfanzeige gegen den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt aus dem Jahr 1980 in Erinnerung bringen. Darin hieß es wörtlich:
Endstation Staatsbankrott: Die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte liegt jetzt annähernd bei der Ziffer, welche uns Hitler als Ergebnis seines Wahnsinnskrieges hinterlassen hatte, bei über 400 Milliarden DM.
Herr Waigel, abgesehen davon, daß dieser Vergleich absolut geschmacklos war, will ich hier einmal die Zahlen darstellen.
Als Helmut Schmidt von Ihnen gestürzt wurde,
betrug nach zwei Erdölkrisen die Verschuldung des Bundes 390 Milliarden DM. Heute beträgt die Verschuldung des Bundes 1 400 Milliarden DM. Sie haben während der Amtszeit Ihres Bundeskanzlers die Verschuldung des Bundes um 1 Billion DM erhöht. Meinen Sie nicht, daß es langsam an der Zeit wäre,
sich bei Helmut Schmidt öffentlich zu entschuldigen, meine Damen und Herren?
Da wir gerade beim Entschuldigen sind: Wissen Sie noch, wie Sie Helmut Schmidt mit dem angeblichen Pleitenrekord gejagt haben? Gestern konnten wir lesen: über 20 000 Pleiten allein in den alten Bundesländern, unter Ihrer Bundesregierung!
Da finde ich, daß Sie einmal in sich gehen und merken sollten, wie unfair Sie den ehemaligen Bundeskanzler behandelt haben.
Die Schulden, so sagt die Bundesregierung, seien die notwendigen Folgen der deutschen Einheit. Das ist nun wirklich nicht zutreffend. Niemand bestreitet, daß die deutsche Einheit eine so große Herausforderung darstellt, daß sie vorübergehend eine höhere Nettokreditaufnahme rechtfertigt. Selbstverständlich! Aber das konnte doch kein Freibrief für eine so maßlose Staatsverschuldung sein. Der Herr Bundeskanzler sagt heute dazu gerne beschwichtigend, alle hätten sich damals getäuscht. Nein, meine Damen und Herren, diese Geschichtsklitterung lassen wir nicht zu.
Ich darf daran erinnern, daß es schließlich Sozialdemokraten waren, die bereits im Wahlkampf 1990 mit Entschiedenheit darauf hingewiesen haben, daß die deutsche Einheit dreistellige Milliardenbeträge kosten würde, was von Ihnen immer als Horrorzahl zurückgewiesen wurde. Aber unsere angeblichen Horrorzahlen sind doch von der Wirklichkeit längst übertroffen worden. Es mag sein, daß sich der Herr Bundeskanzler über das Gesamtvolumen der Kosten getäuscht hat, aber in erster Linie hat der Herr Bundeskanzler nicht sich getäuscht, sondern er hat die Wähler getäuscht, als er vor der Wahl sagte: keine Steuererhöhungen für die deutsche Einheit, und danach kamen die größten Steuer- und Abgabenerhöhungen.
Daß diese enorme Staatsverschuldung nicht zwangsläufige Folge der deutschen Einheit war, sieht man an drei einfachen Beispielen:
Erstens. Hätten Sie nicht schlimme wirtschaftspolitische Fehler bei der deutschen Einheit gemacht, wären die Kosten zweifellos geringer gewesen. Jedermann in diesem Lande weiß, daß allein die unselige Eigentumsregelung — Rückgabe vor Entschädigung Investitionen um Jahre verzögert und damit zu Milliardenverlusten geführt hat.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 329
Ingrid Matthäus-Maier
Zweitens. Hätten Sie früher, wie von uns gefordert, beim Verteidigungshaushalt zu kürzen begonnen, dann hätten auch Milliarden gespart werden können.
Drittens. Hätte die Bundesregierung den Solidaritätszuschlag nicht Mitte 1992 auslaufen lassen, sondern ihn, wie alle Experten und auch meine Partei gefordert hatten, für Einkommen oberhalb einer Grenze von 60 000 DM bei Ledigen bzw. 120 000 DM bei Verheirateten auch für die Jahre 1993 und 1994 beibehalten, dann hätte uns das allein 40 bis 50 Milliarden DM Schulden erspart. Das wären schon jetzt ein paar Milliarden DM weniger Zinsen, meine Damen und Herren.
Nein, die Schuldenfalle, in der wir sitzen, ist in großem Maße hausgemacht. Warum war es z. B. nicht möglich, in Zeiten guter Welt- und Binnenkonjunktur in den 80er Jahren den Schuldenstand wenigstens einmal abzubauen, statt ihn ständig auszuweiten? Warum konnten nicht wenigstens die über 130 Milliarden DM Bundesbankgewinne, von denen Sie versprochen hatten, nie und nimmer würden Sie sie kassieren, nicht voll und ganz in den Abbau der Staatsverschuldung gesteckt werden?
Nein, am Sparen, am Kürzen, am Gürtel-engerSchnallen, führt kein Weg vorbei. Aber Vorsicht: Unter dieser Bundesregierung fordern meist diejenigen dazu auf, den Gürtel enger zu schnallen, die selber Hosenträger anhaben. Das kann nicht funktionieren.
Sparen ist nur dann glaubwürdig, wenn es dabei gerecht zugeht. Ich nenne nur zwei Beispiele, wie man nicht sparen darf:
Das eine Beispiel: Das Kürzungspaket dieser Bundesregierung in Höhe von 20 Milliarden DM vom letzten Jahr, bei dem der Herr Bundeskanzler, der Herr Bundesfinanzminister und die Frau MatthäusMaier nicht eine einzige Mark zu den Kürzungen beitragen mußten, wohl aber Arbeitslose, Familien mit Kindern und Sozialhilfeempfänger zur Kasse gebeten wurden, ein solches Kürzungspaket ist nicht gerecht und daher unglaubwürdig — und eine Regierung, die es vorlegt, auch.
Oder: Ein Bundeskanzler, der den schlanken Staat verordnet,
dann zwei Ministerposten einspart — was wir begrüßen —, aber zugleich das Heer der Staatssekretäre wieder um eine Stelle vergrößert, ein solcher Bundeskanzler ist ebenfalls nicht glaubwürdig.
Was meinen Sie eigentlich, was die Mitarbeiter der Bundesverwaltung über die Vorbildfunktion einer Regierung denken, wenn diese Regierung der Bundesverwaltung eine Schrumpfkur von 1 % Personalabbau pro Jahr verordnet, selber aber mit einer Mammutriege von über 70 Regierungsmitgliedern in die neue Legislaturperiode geht: ein Kanzler, 17 Minister und ein Heer von über 50 Staatssekretären? Mein Eindruck ist: Die Größe dieser Regierung steht in umgekehrtem Verhältnis zu der Qualität ihrer Arbeit. Deswegen sollten Sie da endlich abspecken.
Sparen heißt außerdem, daß man nicht Dinge anschafft, für die man kein Geld hat. Damit bin ich beim Jäger 90.
Sie sagen: Oje, oje, jetzt kommt die Frau MatthäusMaier mit dem Jäger 90! Aber ich sage Ihnen: Wir können doch nicht aufhören, das Richtige zu fordern, nur weil Sie nicht aufhören, das Falsche zu tun.
Schon die Billigversion des Jäger 90 soll 100 Millionen DM pro Stück kosten. Übrigens, wie Herr Rühe so argumentiert, hat man das Gefühl, man würde sich geradezu ein Schnäppchen entgehen lassen, wenn man nicht ein Flugzeug für 100 Millionen DM pro Stück kauft.
Für einen einzigen Jäger 90 könnte man 1 000 Sozialwohnungen bauen. Da kann ich nur sagen: Wir brauchen endlich ausreichend Sozialwohnungen und haben kein Geld für den Jäger 90, und dabei bleibt's!
Das Verschieben von Kosten auf andere öffentliche Haushalte ist auch kein Sparen, sondern ein finanzpolitisches Schwarzer-Peter-Spielen. Dazu gehört der Vorschlag der Bundesregierung zur Kürzung der Arbeitslosenhilfe. Damit würden Hunderttausende von Langzeitarbeitslosen in die Sozialhilfe geschoben und Kosten von vier bis sechs Milliarden DM auf die Gemeinden verlagert.
Eine solche Politik der Verschiebebahnhöfe lehnen wir ab. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie Probleme lösen, aber nicht, daß Sie die Probleme weiterschieben nach dem Motto: Bundeshaushalt saniert, Gemeindefinanzen ruiniert.
Zu einer soliden Finanzpolitik gehört auch, daß der Staat die Steuern, die ihm zustehen, wirklich erhebt und Steuerhinterziehung und Mißbräuche bekämpft.
330 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ingrid Matthäus-Maier
Darauf haben die ehrlichen Steuer- und Beitragszahler ein Recht, weil sonst die Ehrlichen durch höhere Steuern und Beiträge für die Mißbräuche und Steuerhinterziehungen der Unehrlichen mitbezahlen müssen. Wenn der Staat nicht entschlossen gegen Mißbrauch vorgeht, untergräbt er auch die Akzeptanz des Steuer- und Abgabensystems. Mißbrauch muß also bekämpft werden — das sage ich nicht erst seit heute —, auch im sozialen Bereich.
Allerdings geht diese Aufforderung nicht nur an Arbeitnehmer, sondern auch an Arbeitgeber. Der größte Teil des Sozialmißbrauchs kann doch überhaupt nur funktionieren, weil Arbeitgeber z. B. bei illegaler Beschäftigung oder bei Schwarzarbeit aktiv beteiligt sind, wie der Bericht der Bundesregierung über Mißbrauch in der Arbeitsverwaltung vor wenigen Monaten erst gezeigt hat.
Außerdem muß die Bundesregierung viel entschlossener als bisher gegen Steuerhinterzieher und Subventionsbetrüger vorgehen, zumal die Summen, um die es hier geht, den Mißbrauch im Sozialbereich bei weitem in den Schatten stellen.
Wenn der Baulöwe Schneider, wie in den Zeitungen zu lesen, jahrelang keine Steuern gezahlt hat, wenn Herr Flick nach Österreich geht, um sich seiner Steuerpflicht in Deutschland zu entziehen,
wenn Fußballprofis nach Belgien umziehen, um in den Genuß der geringeren Pauschalbesteuerung zu geraten, und Fernsehmoderatoren ihnen folgen, wenn außerdem noch die Bundesregierung diese Steuerschlupflöcher nicht schließt, dann unterhöhlt das die Steuermoral in diesem Lande.
Frau Matthäus-Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Frau Kollegin, würden Sie in diese Aufzählung auch die öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute in Luxemburg aufnehmen, die tatkräftig mithelfen, daß Steuerhinterziehungstatbestände organisiert werden können, selbst dann, wenn Finanzminister wie Herr Schleußer Verwaltungsratsvorsitzende sind?
Sie werden an einer anderen Stelle meiner Rede merken: Daß sich alle Kreditinstitute bezüglich „Zinsbesteuerung und Luxemburg" nicht mit Ruhm bekleckert haben, ist bekannt.
Aber, Herr Schauerte, jetzt geht es weiter:
Können Sie mir sagen, wie bei einem Sozialhilfeempfänger, der versucht, statt der ihm zustehenden 560 DM im Monat 20 DM mehr zu erschleichen — was sicher nicht rechtens ist —, ein Unrechtsbewußtsein entstehen soll,
wenn er in der Zeitung liest, daß der ehemalige Regierungssprecher Peter Boenisch wegen Steuerhinterziehung zu 1 Million DM Steuerstrafe verurteilt worden ist?
Das bedeutet: etwa eine halbe Million DM hinterzogene Steuern. Um auf diese halbe Million zu kommen, müssen eine Menge Sozialhilfeempfänger ganz schön betrügen, meine Damen und Herren.
Können Sie mir sagen, wie ein Unrechtsbewußtsein entstehen soll, wenn der Sozialhilfeempfänger außerdem noch in der Zeitung liest, daß der Herr Bundeskanzler eben diesen Mann Anfang des Jahres zu seinem persönlichen Wahlkampfberater Nr. 1 berufen hat, meine Damen und Herren?
Wie soll ein Unrechtsbewußtsein entstehen, solange in diesem Lande Schmiergelder, auf deutsch: Bestechungsgelder, steuerlich absetzbar sind? Nein, meine Damen und Herren, der Fisch stinkt vom Kopfe: Oben werden die schlechten Beispiele gesetzt.
Es wäre die Aufgabe der Eliten in diesem Lande, diesem Verfall der Steuermoral durch persönliches Vorbild und durch Verantwortungsgefühl ein Ende zu setzen. Wir Sozialdemokraten jedenfalls werden nicht zulassen, daß eine Schieflage entsteht, bei der der Sozialmißbrauch lauthals angeprangert wird, Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug aber als Kavaliersdelikte durchgehen. Beides muß bekämpft werden!
Speziell bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung bei der Zinsbesteuerung hat sich Herr Waigel nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Jedermann weiß, daß dem Staat Jahr für Jahr Milliarden DM an Zinsbesteuerung verlorengehen. Auch unter der deutschen Präsidentschaft in der Europäischen Union hat sich das trotz aller Versprechen nicht geändert.
Aber, Herr Bundesfinanzminister, Sie können sich nicht einfach hinter Luxemburg verstecken; denn Sie haben doch der Steuerverwaltung durch die Änderung der Abgabenordnung ganz bewußt die Möglichkeit genommen, wirksam gegen diese Steuerhinterziehung vorgehen zu können.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 331
Ingrid Matthäus-Maier
Der Arbeitnehmer wird von dieser Regierung in einer noch nie dagewesenen Höhe durch Steuern und Abgaben geschröpft. Aber wenn einer im Monat an Zinsen so viel verdient, wie ein normaler Arbeitnehmer in einem ganzen Jahr an Lohn oder Gehalt bekommt, stehen ihm die Scheunentore für die Steuerflucht weit offen, und die deutsche Kreditwirtschaft steht im Zweifel zur Hilfe bei der Kapital- und Steuerflucht bereit. Dies muß endlich ein Ende haben.
Dies führt nicht nur zu Steuerausfällen in Milliardenhöhe. Für mindestens genauso gefährlich halte ich die Stimmung, die sich langsam im Lande verbreitet: Der Ehrliche ist der Dumme; wenn er Steuern zahlt, ist er eigentlich nicht ganz dicht. Ich sage Ihnen: Eine Regierung, die zuläßt, daß der ehrliche Steuerzahler meint, er sei der Dumme, untergräbt die Grundlagen unseres Gemeinwesens. Deshalb muß dies schleunigst gestoppt werden.
Angesichts der Zinsfalle, in die Sie uns hineinmanövriert haben, kommt dem Umschichten im Haushalt eine besondere Bedeutung zu. Als wichtigstes Beispiel für intelligentes und sozial gerechtes Umschichten nenne ich die nötige Verbesserung des Familienleistungsausgleichs. Die Familien mit Kindern kommen bei dieser Bundesregierung unter die Räder. Auch 1995 werden sie vergeblich darauf warten, daß die verfassungsrechtlich gebotene Entlastung wirklich stattfindet.
Hat nicht gerade erst die Denkschrift der beiden Kirchen beklagt, daß Kinder immer mehr zu einem Armutsrisiko für die Familien werden? — Dies ist übrigens ein Armutszeugnis für zwölf Jahre Regierung Kohl.
Wir schlagen Ihnen eine Anhebung des Kindergeldes auf 250 DM vom ersten Kind an sowie eine Erhöhung ab dem vierten Kind auf 350 DM als Abzug von der Steuerschuld vor, solide finanziert durch das Ersetzen des Kinderfreibetrages bei der Steuer und durch eine maßvolle Begrenzung des Ehegattensplittings. Die von Ihnen dagegen immer wieder vorgebrachten Gegenargumente sind nicht stichhaltig.
Erstes Gegenargument: Unser Vorschlag sei angeblich nicht verfassungsgemäß, Karlsruhe schreibe Freibeträge vor. Das ist Unsinn. Das Verfassungsgericht hat mehrfach festgestellt, dem Gesetzgeber stehe es ausdrücklich frei, „die kinderbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit entweder im Steuerrecht zu berücksichtigen oder ihr statt dessen im Sozialrecht durch die Gewährung eines dafür ausreichenden Kindergeldes Rechnung zu tragen oder auch eine Entlastung im Steuerrecht und eine solche durch das Kindergeld miteinander zu kombinieren." Das heißt, daß nach unserer Verfassung mehrere Modelle möglich sind. Verstecken Sie sich also nicht hinter Juristereien wenn Sie aus ideologischer Verbohrtheit darauf beharren, daß Kinder reicher Leute dem Staat fast dreimal soviel wert sein sollen wie die Kinder kleiner Leute.
Zweites Gegenargument: Bei unserem Vorschlag würden Familien mit Kindern angeblich schlecht behandelt, weil sie genausoviel Steuern zahlen müßten wie Familien ohne Kinder. Auch das ist Unsinn. Wir sehen ausdrücklich den Abzug von der Steuerschuld vor. Das heißt, daß ein Arbeitnehmer, der zwei Kinder hat, im Monat 500 DM weniger Lohnsteuer zahlen würde als sein Kollege ohne Kinder. Dies wäre auch eine enorme Vereinfachung des Steuerrechts sowie der Verwaltung. Jeder Bürger würde wissen, wieviel ihm für sein Kind zusteht. Dies spart auch Kosten. Die meisten von Ihnen wissen sicher nicht, daß allein im Haushaltsentwurf 1995 650 Millionen DM dafür vorgesehen sind, daß der Bund der Bundesanstalt für Arbeit die Kosten für die Auszahlung des Kindergeldes erstattet.
Das ist sicher unsinnig.
Drittes Gegenargument: Unser Vorwurf, Kinderfreibeträge seien unsozial, stimme nicht. Dies ist nun ganz einfach zu widerlegen. Der heutige Kinderfreibetrag in Höhe von etwas über 4 000 DM führt dazu, daß jemand mit niedrigem Einkommen daraus eine Entlastung von 65 DM im Monat erhält, ein Spitzenverdiener — das ist nach unserer Definition derjenige, der den Spitzensteuersatz zahlt, der im Jahr also mehr als 240 000 DM verdienen muß — jedoch für sein Kind eine Entlastung von 181 DM im Monat erhält. 65 DM für das Kind kleiner Leute, 181 DM für das Kind von Spitzenverdienern: Da bekommen also die Spitzenverdiener 116 DM mehr an Entlastung für ihr Kind im Monat. Hier gilt doch der Satz: „Wer hat, dem wird gegeben" oder, um es einmal mit Luther zu sagen — das ist Luther, das bin nicht ich —:" Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen." Das ist hier offensichtlich der Fall.
Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe ein Gesetz mit der Überschrift „Entlastung für Familien mit Kindern. § 1: Eltern mit niedrigem Einkommen erhalten für ihr Kind im Monat eine Entlastung von 65 DM. § 2: Eltern, die im Jahr mehr als 240 000 DM verdienen, erhalten für ihr Kind im Monat eine Entlastung von 181 DM." Dann würden die Menschen alle meinen, wir hätten sie nicht mehr alle, es seien in den Paragraphen die Zahlen vertauscht worden.
Aber die Zahlen sind nicht vertauscht worden. Das ist exakt die Wirkung des Kinderfreibetrages. Wenn Sie es uns Sozialdemokraten nicht glauben: Bitte schlagen Sie in der Denkschrift der beiden Kirchen nach. Dort steht wörtlich:
332 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ingrid Matthäus-Maier
Als eine sozialstaatliche Fehlentwicklung ist es auch anzusehen, daß ... Kinderfreibeträge . . . die Begünstigten um so mehr entlasten, je höher ihr steuerpflichtiges Einkommen ist.
Frau Matthäus-Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Uldall?
Ja.
Frau Kollegin, wäre es dann nicht das einfachste, den Spitzensteuersatz so abzusenken, daß die von Ihnen vorgegebene Bevorzugung dadurch verringert werden würde?
Um dies zu erläutern: Die von Ihnen vorgegebenen Vorteile des Spitzenverdieners mit einem Einkommen von 240 000 DM kommen — so dürfte Ihnen bekannt sein, Frau Matthäus-Maier — nur dadurch zustande, daß der eine eben 19 % und der andere 53 % Steuern zahlt.
Herr Uldall, daß in Ihrem Kopf herumspukt, Spitzensteuersätze zu senken, und zwar in einer Zeit, in der Sie die kleinen Leute verfassungswidrig hoch besteuern, das weiß ich schon. Das machen Sie immer so.
Aber jetzt ernsthaft: Sie wollen doch, um es einmal steuersystematisch auszudrücken, uns die Frage stellen: Muß es nicht so sein, daß dann, wenn ein Steuersystem progressiv wirkt, also mit steigendem Einkommen belastender wird, auch die Entlastung für Kinder progressiv ist? Wieso denn eigentlich? Schauen Sie sich doch einmal den Grundfreibetrag an. Dieser Grundfreibetrag für alle befreit theoretisch — das reicht bei Ihnen nicht; das müssen wir ändern — das Existenzminimum von der Steuer. Der Grundfreibetrag, der also unser aller Existenzminimum freistellen soll, wirkt aber nur linear. Auf Deutsch: Die Entlastung ist für alle Menschen gleich hoch. Warum muß denn die Entlastung für alle gleich hoch sein?
— Das paßt Ihnen nicht — das weiß ich wohl —, weil sowohl für jeden mit normalem Menschenverstand als auch steuersystematisch Ihre Position verkehrt ist.
— Ja gut, wenn Sie unbedingt noch einmal wollen, gerne. Ich mache mit Ihnen gerne weiter, bitte.
Frau Matthäus-Maier, ist Ihnen nicht klar, daß bei unserem heutigen Steuersystem bei jeder Progression jeder Freibetrag einen größeren Vorteil bietet, je höher die Steuersätze sind?
— Nun hören Sie einmal zu! Vielleicht kann ich diese erhellende Frage für Ihre Kollegen jetzt einmal zu Ende stellen.
Wird nicht durch den Solidaritätszuschlag, der von den Spitzenverdienern zu zahlen ist, die vermeintliche Ungerechtigkeit noch größer werden? Der eine muß mehr zahlen und erhält dadurch angeblich einen größeren Vorteil. Können Sie diese Widersinnigkeit bitte einmal erläutern?
Herr Uldall, da ich Sie persönlich schätze, ist es mir ein bißchen unangenehm, daß Sie das, was ich soeben erläutert habe, nicht verstanden haben.
Denn Ihr Satz — ich sehe doch , daß alle Steuerpolitiker in Ihrer Fraktion sich schon über Ihre Frage heimlich die Haare raufen —,
jeder Steuerfreibetrag würde höhere Einkommen stärker entlasten als kleinere, ist mit dem Beispiel des Grundfreibetrages nun wirklich widerlegt.
— Aha. Sie sagen, der Grundfreibetrag sei kein Freibetrag. Deshalb heißt er ja wohl auch „Grundfreibetrag", weil er kein Freibetrag ist.
Herr Uldall, ich würde sagen: Setzen, Fünf.
Aber da Sie, Herr Uldall, mich nun gereizt haben, in die Steuersystematik einzusteigen — nein, nein, bleiben Sie ruhig stehen; ich bin noch nicht fertig mit Ihnen;
so geht das ja nicht —, will ich gleich weitermachen.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 333
Ingrid Matthäus-Maier
Das Chaos hat bei Ihnen ja Methode. Wieso? Wir haben gerade gelernt, der Grundfreibetrag ist für alle in gleicher Weise entlastend,
der Kinderfreibetrag ist progressiv entlastend. Jetzt haben sie ja einen famosen Tarifvorschlag gemacht. Danach soll die Grundentlastung sogar abgebaut werden. Das nennt man steuertechnisch „regressiv", Herr Kollege. Das heißt, mit steigenden Einkommen nimmt die Grundentlastung sogar ab. Ich frage: Was ist denn das für ein Chaos bei Ihnen: bei den Kindern progressiv, bei der Grundentlastung regressiv? Schließen Sie sich doch besser unserem Vorschlag an. Wir sagen: linear. Das heißt auf deutsch: für alle gleich hoch. Ich frage Sie: Was haben Sie denn eigentlich dagegen?
Es geht mir hier wirklich um Verständigung.
— Nein, Herr Präsident. Sie haben mir das hoffentlich alles von meiner Redezeit abgezogen. Es kann nicht sein, daß dann, wenn ich hier Nachhilfestunden gebe, das auf meine Redezeit angerechnet wird.
Frau Abgeordnete, die Uhr ist jedesmal bei Fragen und Antworten angehalten worden. Wenn Sie Ihre Rede als pädagogisch auffassen, ist das Ihre Sache.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns bitte ernsthaft überlegen. Wenn es bis weit in Ihre Fraktion hinein Stimmen gibt — Frau Süssmuth, Herr Hintze und Herr Geißler —, die sagen, das gleich hohe Kindergeld sei der bessere Weg, dann frage ich: Warum, um Himmels willen, können wir es dann im Deutschen Bundestag nicht gemeinsam beschließen?
Wir hätten das nötige Geld, wenn wir uns entschlössen, ein bißchen von den über 30 Milliarden DM, die das Ehegattensplitting kostet, umzuschichten — wir sagen: etwa 12 Milliarden DM —, hin zu den Familien mit Kindern.
Ich weiß doch, daß bis weit in Ihre Fraktion die heutige Wirkung des unbegrenzten Ehegattensplittings als Ärgernis empfunden wird. Wenn z. B. ein Spitzenverdiener eine nichterwerbstätige Frau heiratet — auch umgekehrt soll es das jetzt schon einmal geben —, dann führt allein die Heirat dazu, daß dieses Ehepaar im Jahr 22 842 DM spart, auch wenn in der Ehe überhaupt kein Kind vorhanden ist. Eine Familie mit niedrigem Einkommen und einem Kind muß, wenn man Kindergeld und Kinderfreibetrag addiert,
14 Jahre lang das Kind erziehen, um auf diesen verrückten Betrag von 22 842 DM zu kommen, den bei Ihnen Spitzenverdiener allein dadurch Jahr für Jahr erhalten, daß sie heiraten. Dazu sage ich: Nein, meine Damen und Herren. Unser Angebot liegt auf dem Tisch. Beschließen Sie mit uns gemeinsam ein Kindergeld in Höhe von 250 DM und den Abzug von der Steuerschuld.
Wir verlangen das übrigens auch deswegen, damit endlich die verfassungswidrige Besteuerung der Familien mit Kindern ein Ende hat.
Denn wir sind der Ansicht, es kann doch nicht länger angehen, daß die Menschen in diesem Lande zu ihren in der Verfassung verbrieften Rechten erst dann gelangen, wenn sie nach Karlsruhe gehen. Wissen Sie denn eigentlich, daß Jahr für Jahr Millionen von Steuerbescheiden nur vorläufig ergehen, und zwar deshalb, weil diese Regierung verfassungswidrige Steuergesetze macht? Haben Sie schon einmal in Ihren Einkommensteuerbescheid geguckt? Stellen Sie sich einmal vor, was im Deutschen Bundestag los wäre, wenn ein sozialdemokratischer Finanzminister dafür verantwortlich wäre, daß Jahr für Jahr Millionen von Steuerbescheiden immer nur vorläufig ergehen? Das ist ein unglaublicher Vorgang, den Sie schnellstens beenden müssen.
Zu dieser verfassungswidrigen Besteuerung gehört das, was Sie beim Existenzminimum machen. Wie können Sie eigentlich durchs Land laufen und kritisieren, daß das sogenannte Abstandsgebot zwischen niedrigen Arbeitseinkommen und Sozialhilfe vor allem bei Familien mit Kindern nicht eingehalten werde? Der Grund dafür ist doch nicht, daß die Sozialhilfe verschwenderisch üppig wäre.
Der Grund liegt doch vielmehr darin, daß die Bundesregierung den Menschen wegen des nach wie vor viel zu niedrigen Grundfreibetrags von nicht einmal 1 000 DM im Monat und des viel zu niedrigen Kindergelds auch noch das Existenzminimum wegsteuert. Sie besteuern den Menschen das Gehalt so stark, daß sie in die Nähe der Sozialhilfe rutschen. Anschließend darüber zu jammern, daß das Lohnabstandsgebot nicht gewahrt ist, ist nun wirklich Zynismus.
Diese viel zu hohe Belastung der Durchschnittseinkommen mit Steuern ist übrigens einer der Gründe, warum wir Sozialdemokraten fordern, Ihren Solidaritätszuschlag für alle ab 1995 durch eine Ergänzungsabgabe nur für Einkommen oberhalb von 60 000 DM bei Ledigen bzw. 120 000 DM bei Verheirateten zu ersetzen. Wir wollen das natürlich mit einem gleitenden Übergang. Weil das auch die Massenkaufkraft stärken würde und deshalb für die Konjunktur gut
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Ingrid Matthäus-Maier
wäre, wäre es wirklich vernünftig, wenn Sie sich diesem Vorschlag anschließen könnten.
Mit dem Vorschlag, den Herr Waigel zur Steuerfreiheit des Existenzminimums gemacht hat, ist die Bundesregierung zu kurz gesprungen. Die Kommentare in den Zeitungen sind entsprechend: Waigels Trick, Waigel versucht es mit der Magerversion, Waigels Sündenfall usw.
Wir Sozialdemokraten kritisieren an Ihrem Tarifvorschlag insbesondere folgendes: Erstens. Ihr Modell ist unglaublich kompliziert. Keiner kann danach mehr den Steuertarif durchschauen.
Zweitens. Der Steuerabzugsbetrag ist zu niedrig, weil er nur ein Existenzminimum von 12 000 DM bei Alleinstehenden bzw. 24 000 DM bei Verheirateten steuerfrei stellt. Man braucht kein Steuerexperte zu sein, um zu wissen, daß ein Mensch mit 1 000 DM im Monat seinen Lebensunterhalt inklusive Miete nicht bestreiten kann. Das ist Ihr Verfassungsrisiko Nummer 1.
Drittens. Der Abbau des Abzugsbetrages bis zu einem zu versteuernden Einkommen von 30 000 DM bei Ledigen bzw. 60 000 DM bei Verheirateten führt doch dazu, daß bei den niedrigen Einkommen ein Buckel entsteht. Ich nenne das einmal den „KleineLeute-Belastungsbuckel von Herrn Waigel".
Das hat Karlsruhe verboten. Die Richter haben gesagt: Einen gleichheitswidrigen Progressionssprung darf es nicht geben. Ich frage Sie: Wenn das kein Sprung ist, was ist dann noch ein Sprung, meine Damen und Herren?
Das ist das Verfassungsrisiko Nummer 2.
Ich persönlich möchte hinzufügen:
Ich halte die ganze Konstruktion des Auslaufens des Abzugsbetrags für einen steuersystematischen Fehler. Um es einmal klar zu formulieren: Wer beim Millionär Steuern holen will, der soll das doch bitte nicht bei seinem Existenzminimum tun, sondern bei dem, was der Millionär oberhalb des Existenzminimums verdient.
Viertens. Die Masse der Durchschnittsverdiener wird viel zuwenig entlastet. Statt dessen werden beim Waigel-Tarif auch noch Spitzenverdiener völlig überflüssigerweise entlastet.
Ich will es einmal in absoluten Zahlen sagen. Sie sagen immer: 100 % beim Kleinen und 2 % beim
Spitzenverdiener. Man lebt doch nicht von Prozenten, sondern von D-Mark in absoluten Zahlen.
Ich sage es daher in absoluten Zahlen. Eine Familie mit einem zu versteuernden Einkommen von 60 000 DM würde bei Ihnen eine monatliche Entlastung von 21 DM erhalten, Menschen mit Einkommen oberhalb von 240 000 DM aber eine monatliche Entlastung von 128 DM. Wer aber in einer Zeit, in der der Staat hinten und vorne kein Geld hat, auch noch eine Steuersenkung für Spitzenverdiener vorschlägt, der weiß doch gar nicht mehr, wie es in den Familien zu Hause aussieht.
Wir Sozialdemokraten werden in den bevorstehenden Gesetzesberatungen unsere konkreten Alternativen einbringen, wobei besonders wichtig ist: erstens die Steuerfreiheit für Einkommen von 13 000 bzw. 26 000 DM. Zweitens. Die breite Masse der Durchschnittsverdiener muß stärker entlastet werden als bei Ihnen. Außerdem darf sich das Steuerrecht nicht verkomplizieren.
Damit komme ich am Schluß zu Ihren Gewerbesteuerplänen. Auf die Details wird der Kollege Jochen Poß eingehen. Eine böse Ahnung beschleicht mich doch: Die Bundesregierung will die Gewerbesteuer abschaffen, in Schritten; das ist ihr Ziel. Die Abschaffung der Gewerbesteuer würde zu einem Steuerausfall von rund 30 Milliarden DM netto führen. Einige von Ihnen fordern, diesen Steuerausfall durch eine Beteiligung der Gemeinden an der Mehrwertsteuer auszugleichen. Was heißt das denn? Sie reden immer so vornehm von der Beteiligung der Gemeinden. Sie können aber nicht von einem Kuchen 30 Milliarden DM abzwacken, ohne daß sich der Kuchen verändert. Das heißt doch auf deutsch, daß diese Bundesregierung zum Ausgleich die Mehrwertsteuer um mindestens drei Prozentpunkte anheben will. Oder aber es geht nach dem Vorschlag von Herrn Schäuble. Er sagt: Ersatz der Gewerbesteuer durch ein eigenes Hebesatzrecht bei der Lohn- und Einkommensteuer. Das würde eine dramatische Anhebung bei der Lohn- und Einkommensteuer bedeuten. Nur, damit man sich das einmal klarmacht, damit würde auf die Lohnsteuer und auch auf den 1995 in Kraft tretenden Solidaritätszuschlag zusätzlich eine Steuerbelastung in Höhe des Solidaritätszuschlages obendrauf gesattelt.
Vielleicht haben Sie das nicht durchgerechnet, Herr Schäuble. Stellen Sie sich doch hierhin und sagen den Menschen, was Sie mit dem Durchschnittsverdiener im Lande vorhaben. Diese Steuerbelastung geht nicht.
Bei der Diskussion über die Gewerbesteuer vertreten wir Sozialdemokraten mehrere Interessen: die Interessen der Verbraucher — deswegen lehnen wir eine Mehrwertsteuererhöhung ab —, die Interessen
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Ingrid Matthäus-Maier
der steuerzahlenden Bürger — deswegen lehnen wir die von Ihnen geplante massive Erhöhung der Lohn- und Einkommensteuer ab — und die Interessen des Mittelstandes. Nur 16 % aller Gewerbesteuerzahler zahlen überhaupt Gewerbekapitalsteuer, darunter z. B. die Banken, denen es offensichtlich finanziell sehr gut geht. Es gibt keinen Grund, diese durch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zu entlasten
und dafür z. B. den Mittelstand und das Handwerk durch höhere Mehrwertsteuer oder Einkommensteuer zu belasten.
Schließlich vertreten wir die Interessen der Bürgerinnen und Bürger in den Städten und Gemeinden. Nicht nur durch ihre Gewerbesteuerpläne, sondern auch durch die geplante Kürzung der Arbeitslosenhilfe will die Bundesregierung die Gemeinden in einer Milliardengrößenordnung belasten. Es sind doch aber gerade die Gemeinden, die für die Menschen notwendige Dienstleistungen erbringen. Wenn z. B. die Gebühren für Büchereien und für Bildungsveranstaltungen steigen, den Sportvereinen die Mittel gekürzt werden und das Geld für den Bau und Unterhalt von Kindergärten und sozialen Einrichtungen fehlt, dann können sich die Menschen in Zukunft bei Finanzminister Waigel bedanken.
Die Sache ist ganz einfach: Bei der Gewerbesteuer gibt es überhaupt keinen Zeitdruck. Koppeln Sie die Gewerbesteuerpläne von Ihrem Gesetzgebungsvorhaben ab, und konzentrieren Sie sich auf die wirklich dringlichen Aufgaben. Schichten Sie im Bundeshaushalt zugunsten zukunftsorientierter Vorhaben und moderner Arbeitsplätze um. Konsolidieren Sie die Staatsfinanzen, damit wir aus der Schuldenfalle herauskommen. Entlasten Sie die Familien mit Kindern, und stellen Sie das Existenzminimum von der Lohn- und Einkommensteuer frei. Das ist es, was die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande von Ihnen zu Recht erwarten.
Herr Kollege Adolf Roth, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte zum Haushaltsentwurf 1995, zu dem ich jetzt in der Sache wieder zurückkommen möchte, erscheint mir in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Der Haushalt beinhaltet die klare Botschaft des Bundesfinanzministers Theo Waigel, daß die schwierigste Phase der deutschen Finanzpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg — die Phase, die geprägt war durch den Prozeß des deutschen Einheitswerks; die Phase, die auch geprägt war durch ein Mitleiden in der internationalen weltwirtschaftlichen Rezession — erfolgreich überstanden worden ist. Der Haushalt 1995 markiert eine Wende hin zu einer zukunftsgerichteten Finanzpolitik, die uns in den nächsten Jahren das Erreichen unserer
strategischen Ziele erlaubt. Dafür, glaube ich, gebührt dem Finanzminister Anerkennung.
Auf der anderen Seite markieren die Haltung der Opposition und die erste Einlassung, die wir soeben gehört haben, weiter ein in der Sache lähmendes Festkrallen an den unproduktiven, falschen Klischees und Angriffsbildern, die wir in den letzten zehn Jahren hier vorgeführt bekommen haben.
Es gibt schon optisch eine bemerkenswerte Innovation in dieser Debatte: Die Plätze hier links von mir, die in den letzten Monaten von der sogenannten Troika belegt waren, sind erstaunlicherweise heute leer geblieben. Die Sterne sind erst einmal verglüht. Sie, Frau Kollegin Matthäus-Maier, sind wieder als Stammspielerin in die Mannschaft gekommen, in Ihre vertraute Aufgabe.
Sie hätten uns einen großen Gefallen getan, wenn Sie einige Änderungen in Ihrem Repertoire gegenüber dem vorgenommen hätten, was Sie in den letzten Jahren hier vorgetragen haben. Sie haben nichts ausgelassen von dem, was in vielen Debatten widerlegt worden ist und uns finanzpolitisch und haushaltspolitisch ja auch in keinem Punkt weiter voranhilft.
Sie sind ja schnell bei der Hand mit den Ausdrücken „Mogelpackung", „Täuschung" und „Tricks". Wer Ihre Rede aufmerksam verfolgt hat, hat zwar gelegentlich zarte Andeutungen über Möglichkeiten zu Einsparungen vernommen, aber Sie haben wieder einmal nicht eine einzige Gelegenheit ausgelassen, in der ganzen Bandbreite politischer Möglichkeiten Mehrausgabeforderungen in diesem Haus zu präsentieren, vom Arbeitsmarkt über die Kohlesubvention, vom BAföG über die Meisterkurse, von der Forschung bis hin zu Doppelfenstern. Sie haben alles an Mehrforderungen aufgetischt.
— Zugleich beklagen Sie, daß angeblich zu wenig gespart wird, daß die Steuern zu wenig abgesenkt werden und daß damit die Verschuldung des Bundes zu hoch ist. Ich glaube, Sie liegen mit diesem Bild
und dem Stichwort „Mogelpackung" in der falschen
Angriffsrichtung. Dieser Vorwurf und dieser Vorhalt
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Adolf Roth
treffen Sie insonderheit und die Politik der SPD in den letzten Jahren hier.
Wir hatten ja mit Spannung gerade bei dieser Debatte erwartet — knapp 14 Tage nach dieser berühmten Tutzinger Stegreifrede des SPD-Vorsitzenden Scharping; nach diesem öffentlichen Kniefall vor der deutschen Wählermitte —,
daß Sie zumindest Ansätze des überfälligen Wendemanövers der SPD hier ausbreiten würden. So hat übrigens die „Süddeutsche Zeitung" diesen Vorgang überschrieben. „SPD rechnete in Tutzingen gnadenlos mit sich selbst ab", so titelte die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung".
Der Kollege Hermann Rappe schob nach: Die SPD muß endlich raus aus der Neinsagerecke. Sie muß offen sein für Innovationen. Er hat hinzugefügt: Der Parteivorsitzende kann auf Unterstützung rechnen.
Meine Damen und Herren, es mag sein, daß er bei einigen dieser Ansätze auf Unterstützung rechnen kann. Aber ich habe noch keine Unterstützung aus den Reihen Ihrer Fraktion vernommen, Herr Scharping. Sie tun sich schwer, Fuß zu fassen in Ihrer Bundestagsfraktion.
Dann können auch solche Debattenbeiträge von dem inneren Zustand der SPD in dieser Situation nicht ablenken.
Wir hätten gerne etwas über die großen Reform- und Modernisierungsfelder der Zukunft gehört, die angesprochen worden sind.
Wenn Sie nicht länger nur Partei der Verteilung, sondern auch der Produktion und der Wertschöpfung sein wollen, wenn Sie Gutverdienende nicht länger nur als Lastesel einstufen wollen, wenn Sie Jüngeren ein Feld für Risikobereitschaft und Engagement hier am Standort Deutschland bieten und den Sozialstaat wirklich modernisieren helfen wollen, dann, meine Damen und Herren, hätten Sie ausreichend Gelegenheit, nicht nur, aber auch in der Haushaltspolitik kräftige Akzente zu setzen. Hier wäre die Gelegenheit für Umkehr, Besserung und Bewährung. Genau darauf haben wir heute vergeblich warten müssen.
Meine Damen und Herren, erst groß ankündigen, dann schnell alles relativieren, schließlich in einer entsprechenden Form schrittweise wieder aussteigen und alles zurückziehen — mit einer neuer Strategie, mit dem Ansatz neuen politischen Denkens hat dies alles herzlich wenig zu tun.
Klaus von Dohnanyi, einer der Altmeister der SPD, hat mit seinem „Spiegel"-Essay vom 28. November recht, in dem er schreibt:
Der Mangel an ... Einsicht in die wirklichen Ursachen der Veränderungen der Industriegesellschaft führt daher die SPD noch immer zu Illusionen und leeren Versprechungen.
Er fügt hinzu:
... nirgends wird soviel verbogen und verklausuliert wie in unserer Partei.
Seine Partei stuft er als „veraltet" und „reformscheu" ein. Das ist die Situation. Davon können Sie auch in dieser Debatte nicht ablenken.
Herr Kollege Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily?
Herr Kollege, haben Sie auch noch die Absicht, zum Bundeshaushalt Stellung zu nehmen?
Ich bin im Begriff, das zu tun, Herr Kollege Schily. Aber ich kann Ihnen nur eines sagen: Wir sind durch diese Rede weit über das Spektrum des Haushalts 1995 hinaus bis an die Grenze des Erträglichen gereizt und provoziert worden. Dann muß es zumindest erlaubt sein, auf den inneren Zustand der Opposition mit einigen Strichen einzugehen.
Herr Kollege Roth, der Kollege Jacob würde auch gerne eine Zwischenfrage stellen. — Keine weitere Zwischenfrage.
Im übrigen scheint Sie zu verblüffen, daß die Tempomacher auf der
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Adolf Roth
Regierungsbank sitzen und nicht bei Ihnen. Die schnelle Wiedervorlage des Regierungsentwurfs zum Haushalt 1995 ebenso wie die rasche Regierungsbildung und die zügige Verabschiedung des Koalitionsvertrages unterstreichen die Handlungsfähigkeit der Koalition, zugleich aber auch unsere Entschlossenheit, durch zügige Haushaltsberatung und Verabschiedung des Etats 1995 den Prozeß der vorläufigen Haushaltsführung auf einen relativ kurzen Zeitraum zu begrenzen und bis Ostern 1995 einen fertigen Haushalt zu verabschieden.
Das ist ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung des Aufschwungs und zur Festigung des Arbeitsmarkts und hat sehr viel mit der Zukunftsfähigkeit unserer deutschen Politik zu tun.
Meine Damen und Herren, es bleibt wie im Juli-Entwurf bei der ehrgeizigen finanzpolitischen Grundlinie dieser Koalition. Konsequente Fortsetzung des Sparkurses bei abnehmender Neuverschuldung und hoher Geldwertstabilität schafft die Voraussetzung für schrittweise Erweiterung unserer Handlungsspielräume und für Steuerentlastungen.
Die SPD ist vor der Bundestagswahl gegen die mittelfristige Finanzplanung von Theo Waigel Sturm gelaufen. Es gab Schreckensbilder über angeblich horrende Lücken und Defizite. Ich denke, die heutige Einbringungsrede von Theo Waigel
hat bewiesen, wer hier festeren Boden unter den Füßen hat.
— Das sind nicht die Opponenten von links.
Das Haushaltsbild 1994 und 1995 hat sich im Blick auf die notwendige Schuldenbegrenzung und auf den Abbau des Finanzierungsdefizits um insgesamt 20 Milliarden DM verbessert.
Was noch wichtiger ist, meine Damen und Herren: Wenn man die steuerpolitischen Vorhaben dieser Legislaturperiode berücksichtigt, ergibt sich, daß wir jetzt in einer Situation sind, in der der vorgelegte mittelfristige Finanzplan bis 1998 insgesamt die Basis dafür abgibt, daß solche Steuersenkungsschritte in die Finanzplanung eingebaut werden können, ohne daß die Dinge aus dem Ruder laufen. Der Entwicklungsbericht des Kabinetts zur Finanzwirtschaft macht dies im einzelnen deutlich. Es bleibt deshalb auch ein klares Ziel für uns, die Haushaltsdefizite schrittweise
weiter zurückzuführen. Steuersenkungen auf Pump wird es mit dieser Koalition jedenfalls nicht geben.
Meine Damen und Herren, ich füge hinzu, daß die Defizitquote des Bundes von 12 % aus den bekannten Gründen, die sehr viel mit dem Prozeß der deutschen Wiedervereinigung zu tun haben — Frau Kollegin Matthäus-Maier hat auf diesen Prozeß übrigens nicht mit einem einzigen Wort hingewiesen —, weit höher liegt als die der Länder und Kommunen. Daher sind die Kompensationsforderungen, die aus dem Bundesrat im Zusammenhang mit der Steuergesetzgebung erhoben werden, politisch absurd, in der Sache unhaltbar und unqualifiziert.
Natürlich muß jede Ebene des Staates entsprechend dem Steuerverteilungsschlüssel im Zusammenhang mit Steuersenkungsmaßnahmen auch Belastungen übernehmen. Meine Damen und Herren, was soll man eigentlich davon halten, wenn der Chef des am höchsten verschuldeten deutschen Bundeslandes, der Ministerpräsident Oskar Lafontaine, noch im August Steuersenkungen von geradezu historischen Ausmaßen angekündigt hat, während jetzt seine neue Finanzministerin Krajewski bereits bei der Mitbeteiligung des Saarlandes in einer Größenordnung von 100 Millionen DM öffentlich Klage darüber führt, dies überschreite die Grenze des auf der Ebene der Bundesländer Erträglichen und Verkraftbaren.
Meine Damen und Herren, dies ist kein Beweis für eine politische oder intellektuelle Glanzleistung. Ich glaube, wir müssen hier ein deutliches Signal setzen, damit Steuersenkung nun wirklich auch bei den Bürgern ankommt, für die die Steuergesetze beschlossen werden.
Meine Damen und Herren, unsere Politik mit der 1993 eingeleiteten Spar- und Konsolidierungsstrategie, verbunden mit unserem Wachstumspaket, unterstützt übrigens von der Deutschen Bundesbank und den Sachverständigen und politisch durchgesetzt gegen massive Widerstände aus der Opposition und dem Bundesrat, zeigt jetzt beachtliche Ergebnisse.
Im laufenden Haushalt 1994 kann die Kreditaufnahme des Bundes um weitere 10 Milliarden DM auf 59 Milliarden DM abgesenkt werden. Das steht im Gegensatz zu all den unentwegten Prophezeiungen aus den Reihen der Opposition, die für dieses Jahr mit einem Bundesdefizit von 80 Milliarden DM oder gar 100 Milliarden DM gerechnet und keinerlei Übertreibungschancen ausgelassen hat.
59 Milliarden DM, Frau Kollegin Matthäus-Maier, sind 1,8 %, gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Eine solche Zahl hat es unter der Verantwortung einer früheren SPD-Bundesregierung selten gegeben. Sie sollten hier nicht den Eindruck erwecken, als würde die heutige Defizitquote irgendwelche historischen Entwicklungen sprengen, als läge sie über dem Durchschnitt. Das Gegenteil ist richtig. Mit 1,8 % haben wir eine vernünftige Marge erreicht.
Übrigens hat diese Bundesregierung seit der Wiedervereinigung in jedem Haushaltsjahr die gesetzlich bewilligte Nettokreditaufnahme durch strenge Aus-
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Adolf Roth
gabenbewirtschaftung immer unterschreiten können. Insgesamt ist dies eine Summe von über 40 Milliarden DM. Wir waren und bleiben bei der Haushaltspolitik und ihrer Veranschlagung immer auf der sicheren Seite.
Auch ökonomisch lag die Opposition schief. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ist nicht, wie von Ihnen angekündigt, durch die Spar- und Entlastungspolitik in sich zusammengebrochen. Im Gegenteil, die vertrauensbildende Wirkung der Konsolidierungsstrategie hat die Angebotsbedingungen der deutschen Wirtschaft verbessert und den unerwartet frühen und kräftigen Wirtschaftsaufschwung 1994 mit ermöglicht.
Diesen Weg werden wir mit dem Bundeshaushalt 1995 konsequent weiter beschreiten. Gegenüber dem ersten Regierungsentwurf vom Juli sinkt die Ausgabenrate auf 0,9 %. Im nächsten Jahr wird die Nettokreditaufnahme um über 10 Milliarden DM auf 58,6 Milliarden DM herabgesetzt. Dies alles geschieht bei einem sechzehnprozentigen Zuwachs der Investitionsausgaben auf 74,4 Milliarden DM und einer überproportionalen Aktivierung des Forschungsetats um 2,7 %.
Meine Damen und Herren, wenn von einer Weichenstellung in Richtung Zukunft die Rede ist, glaube ich, daß die Berechenbarkeit, die Stabilität und die Festigkeit der Finanzpolitik hierfür eine unverzichtbare und wichtige Voraussetzung sind und bleiben.
Deutschland wird nach den jüngsten Berechnungen auch 1995 als einziges Land der Europäischen Union neben Luxemburg die Eintrittsvoraussetzungen für die Wirtschafts- und Währungsunion erfüllen, und zwar sowohl beim laufenden Defizit von 2,5 % als auch bei einer Gesamtquote der Schulden von unter 60 %, jeweils gemessen am Bruttoinlandsprodukt.
Gleichwohl seien alle gewarnt, die sich der Illusion hingeben, der konjunkturelle Aufschwung löse die haushalts- und finanzpolitischen Probleme in diesem Land von allein. Jetzt müssen — bildlich gesprochen — die politischen Stabilisatoren wirken. Da die Nettokreditaufnahme der letzten Jahre im Gefolge der Rezession gestiegen ist, müssen nun auch folgerichtig die steuerlichen Mehreinnahmen der wirtschaftlichen Erholungsphase vorrangig zur Reduzierung der Neuverschuldung eingesetzt werden.
Wir, die Koalition, bleiben deshalb auf der Ausgabenbremse. Dazu gibt es keine vernünftige politische Alternative.
Schließlich muß der Bund im Rahmen einer abgesenkten Kreditaufnahme 1995 sämtliche Zusatzbelastungen aus dem Solidarpakt und dem Föderalen Konsolidierungsprogramm auffangen. Das beginnt mit der Übertragung höherer Steueranteile und Ergänzungszuweisungen sowie der Gewährung von massiven Investitionshilfen an die Länder. Das macht insgesamt 42 Milliarden DM aus. Dieser Transfersumme von 42 Milliarden DM steht aber aus den
erwarteten Einnahmen durch den Solidaritätszuschlag nur eine Größenordnung von 26 Milliarden DM gegenüber. Meine Damen und Herren, dies ist die eine Seite.
Man muß hinzufügen, daß vor allem auch die vollständige Übernahme der Ausgabeverpflichtungen für den Erblastentilgungsfonds und für die Eisenbahnaltschulden sowie darüber hinaus die Erfüllung der Aufgaben der Nachfolgeeinrichtungen der Treuhandanstalt den Bundeshaushalt jährlich mit großen Ausgaben belasten, so daß wir allen Anlaß haben, auch in den nächsten Jahren unsere Strategie der Konsolidierung konsequent fortzusetzen; selbstverständlich, Frau Kollegin Matthäus-Maier, auch mit Blick auf die Zinslastendynamik.
Wenn Sie schon mit diesen horrenden Summen umgehen, darf ich darauf hinweisen, daß das wesentliche Veränderungselement bei den Zinsausgaben des Bundes nicht etwa in den Zinsen auf Schulden besteht, die originär in einem Zusammenhang mit der operativen Tätigkeit des Bundes in seinem klassischen Bereich stehen, sondern daß es sich hier um Zinserstattungen für diese historischen Erblasten in Höhe von 37,6 Milliarden DM handelt. Diese Summe muß bezahlt werden. Sie haben keine Formel dafür angegeben, auf welche Weise dies anders geschehen könnte als durch die Verantwortungsübernahme seitens des Bundes.
Deshalb bleibt es bei der mittelfristigen Finanzplanung, deshalb bleibt es bei den marginalen Zuwachsraten bei den Ausgaben in Höhe von nur 1 % bis 1998.
Im Blick auf das von Ihnen immer wieder strapazierte Schuldenthema möchte ich einmal mehr darauf verweisen, daß dieser Haushalt 1995 eine entscheidende Zäsur darstellt. Es wird in Zukunft keine Kreditaufnahme außerhalb des Bundeshaushalts geben wie etwa im Bereich der Treuhandanstalt oder des Fonds „Deutsche Einheit". Dies ist eine qualitative Veränderung.
Hören Sie auch endlich auf, dem Bundesfinanzminister all die Schulden in die Schuhe zu schieben, die sozialdemokratisch regierte Länder aufgenommen haben und die der Kommunismus in der ehemaligen DDR nach 40 Jahren hinterlassen hat.
Offenbar ist Ihnen entgangen, daß das Finanzierungsdefizit der öffentlichen Hand 1995 nur noch 117 Milliarden DM betragen wird. Das ist das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit. Das bedeutet eine Verbesserung gegenüber diesem Jahr um 50 Milliarden DM. Einen größeren Konsolidierungsschritt hat es überhaupt noch nicht gegeben.
In Ihrer Rede haben Sie nicht eine Silbe auf dieses Thema verwandt.
Es bleibt dabei: Die Steigerung der Ausgaben muß deutlich unter der nominalen Zuwachsrate des Sozial-
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produktes bleiben. Wir werden mit unserem Zielkonzept 2000 die Staatsquote auf das Niveau von 1989 mit 46 % absenken. Das heißt im Klartext: Nur wenn die Staatsausgaben jährlich um mindestens zwei Prozentpunkte langsamer wachsen als der Zuwachs des nominalen Bruttoinlandsproduktes, wird es möglich sein, einen solchen Konsolidierungsfortschritt auch in einer Verringerung der Staatsquote von jährlich 1 % umzusetzen. Dies wird dann am Ende der Finanzplanungsperiode erreichbar sein. Allerdings müssen wir bis dahin auch alles daransetzen, die Spielräume zu halten und abzusichern.
Der Sachverständigenrat unterstützt unsere politische Linie in seinem jüngsten Gutachten, in dem übrigens ausdrücklich der Konsolidierungserfolg 1994 als geglückter Stabilisierungsbeitrag hervorgehoben worden ist. Der Sachverständigenrat sagt, nun gelte es, die Konsolidierungserfolge nicht zu verspielen, sondern bei anhaltendem wirtschaftlichem Wachstum den forciert eingeschlagenen Weg fortzusetzen.
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie bitten, daß wir bei der Beratung des Bundeshaushalts 1995 im Ausschuß zügig vorangehen, daß wir unseren Beitrag leisten, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland in Europa die Nummer eins bleibt, daß wir im Blick auf den Einigungsprozeß in Europa ein Beispiel auch hinsichtlich der Stabilisierung der Konvergenzkriterien setzen und daß wir mit unserer Festigkeit in Sachen Ausgabenbegrenzung Wachstumsspielräume für die Zukunft auch für Technologie und Innovation schaffen.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Die Koalitionsfraktionen unterstützen den Finanzminister auf seinem Weg, den er heute mit seiner Etateinbringung hier skizziert hat.
Vielen Dank.
Frau Abgeordnete Christine Scheel, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf den ersten Blick, Herr Waigel, sieht es ganz gut aus; man muß schon sagen: sehr eindrucksvoll, aber leider eben nur auf den ersten Blick. Auch das Existenzminimum ist jetzt als eine Art Weihnachtsbescherung ganz nett und — wie in der Zeitung zu lesen war — das doppelte Glück des Theo Waigel. Damit war übrigens nicht Ihre Ehe gemeint — herzlichen Glückwunsch auch von unserer Seite —, sondern eher, daß Sie von einmaligen Sondereinnahmen durch die Privatisierungserlöse profitieren. Das ist nicht unbedingt auf die nächsten Haushalte übertragbar. Das wissen Sie sehr gut.
Das helle Strahlen jetzt wird nicht viel nutzen; denn für die Steuerzahler und -zahlerinnen ziehen in den nächsten Jahren sehr finstere Wolken am Himmel auf. Diese werden auch nicht an der österreichischen Landesgrenze kurz vor Bayern haltmachen, sondern sie werden leider die gesamte Bundesrepublik überziehen.
Wenn man sich dann anschaut, was gestern sogar in der FAZ mit der Überschrift „Waigels Sündenfall" stand: „Der Gesetzgeber beschäftigt sich zunehmend damit, die eigenen Fehlleistungen durch neue Fehlleistungen zu ersetzen" , dann muß man sich schon fragen, ob hier wohl wirklich etwas nicht stimmt.
Auch ein bißchen Entlastung als Ausgleich für die Mehrwertsteuererhöhung — sie wird kommen; das müssen Sie den Bürgern und Bürgerinnen ehrlich sagen —, gestiegene Sozialabgaben, die wir hatten, Versicherungssteuer, Solidaritätszuschlag — all dies wird über Maßen die niedrigeren Einkommen treffen.
Ebenso sind Sie mit den Geringverdienern und vor allem mit den Familien in den letzten Jahren auf eine Art und Weise verfahren, zu der man einmal ganz flapsig sagen muß: Die Sau vom Hof geholt und jetzt ein Kotelett zurückgegeben.
Wie die katholischen Verbände in den letzten Wochen geschrieben haben, heißt es auch: „Die Kinder zählen, und die Eltern zahlen. "
Die Lösungsansätze dieser Regierung waren sehr kurzsichtig. Sie sind wirkungslos.
Es sind Schmalspurreformen — das ist das Problem —, und Steuerhinterziehung ist regelrecht zum Volkssport geworden. 330 Milliarden DM fließen jährlich ins Ausland, laut dem Bund der Steuerzahler werden 130 Milliarden DM Steuern hinterzogen. In Bayern hat man es ja teilweise vorgemacht. Ich erinnere an Herrn Zwick und Konsorten.
Man muß sich schon fragen, was hier passiert ist.
Die Familien haben geblutet, es gibt nicht weniger Arbeitslose, den Kommunen steht das Wasser bis zum Hals, und Fakt ist — auch das muß man einmal sehen —, daß Bürgerinnen und Bürger heute mit durchschnittlich 25 % mehr Steuern und Abgaben belastet sind, als dies noch vor 10 Jahren der Fall war. Im gleichen Zeitraum stieg, das ist das Fatale, die Zahl der Millionäre z. B. in Bayern — ich komme aus Bayern — um 22 %,
von denen ein Teil — auch das muß man leider sehen — überhaupt keine Steuern bezahlt.
Es ist fazinierend, wie Sie durch die Welt der großen Zahlen benebelt sind. Es kann doch nicht nur darum gehen, Schulden zu verschieben, Steuern zu erheben oder zu senken, je nachdem, wie es gefällt, der einen oder anderen Interessengruppe einmal etwas mehr oder etwas weniger Geld zuzuweisen. Es kann doch nicht angehen, daß Opposition und Regierung — das
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Christine Scheel
sagen wir von der Opposition — sich in ewig gleichen Ritualen und Schuldzuweisungen ergehen.
Müssen wir nicht uns alle einmal grundsätzlich fragen, wie unsere ökonomische und finanzielle Leistungsfähigkeit mit den politischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen für das nächste Jahrtausend zusammengehen können? Das ist die Kernfrage, die der gesamten Situation zugrunde liegt.
Die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte wird 1995 auf mehr als 2 Billionen DM — man kann sich diese Dimension kaum mehr vorstellen —steigen. Das ist eine Verdopplung innerhalb von nur fünf Jahren. Allein die Zinsbelastung des Bundes wird auf mehr als 90 Milliarden DM beziffert.
— Melden Sie sich zu Wort, wenn Sie etwas zu sagen haben. Dann verstehe ich es besser.
Was nutzt denn die Kürzung der Neuverschuldung in Höhe von 10 Milliarden DM gegenüber dem Haushaltsansatz von September? Man muß die Optik auch einmal überlegen. Sie wissen, daß durch die Erlöse aus den Privatisierungen — ich habe das vorab schon angesprochen - einige Verfälschungen enthalten sind.
Herr Schäuble selbst hat gesagt: Ab 1996 sind höhere Steuern unausweichlich. Was heißt das denn? Gibt es eine Mehrwertsteuererhöhung oder nicht? Warum wird das heute nicht gesagt? Warum wird die Wahrheit den Leuten vorenthalten? Ich denke, es ist angebracht, Ehrlichkeit walten zu lassen und den Bürgern und Bürgerinnen die Wahrheit zu sagen, nicht immer so zu tun, als ob Sie alles auf die Reihe bekämen, und dann zwischendurch einfach mal so flapsig wieder die Steuern zu erhöhen.
Zu den Gesamtschulden in Höhe von 800 Millarden DM müssen Sie seriöserweise die Lasten z. B. der Bahnreform und einige andere Posten — sie kennen das ja genauso gut wie ich — hinzuzählen. Dann kommen wir schon auf Schulden in Höhe von 1 400 Milliarden DM allein im Haushalt des Bundesfinanzministers. Das muß man sich einmal vorstellen.
— Ja, ja. — Jeder kleinere Unternehmer stünde mit dieser betrügerischen Bilanz schon längst vor dem Kadi bzw. säße eventuell auch in einem viereckigen, relativ kleinen Zimmer.
Dieses Land muß wirtschaftlich und gesellschaftlich auf das kommende Jahrtausend vorbereitet werden. Wir brauchen Reformen. Wir brauchen Reformen im Energiebereich, wir brauchen Reformen in unserem Sozialsystem, bei der Verkehrspolitik, vor allen Dingen beim Strukturwandel in der Industrie und nicht zuletzt — auch das wissen wir alle — in unserer Gesellschaft. Damit unsere Jugend, die wir nicht vergessen dürfen, eine Perspektive hat und nicht überhaupt nicht mehr weiß, wie sie diesen Wahnsinnsschuldenberg in den nächsten Jahren auf die Reihe bekommen soll. Deshalb müssen wir Reformen angehen. Dazu ist diese Regierung nicht fähig.
Eine umfassende Finanzreform ist auch für eine politische Handlungsfähigkeit notwendig. Wir brauchen kein beliebiges Sammelsurium in einem Steuerrechtsänderungspaket, wie Sie es jetzt vorhaben, dessen Inhalt Tag für Tag immer mehr an konfuse Flickschusterei erinnert. Selbst Ihre eigenen Experten sagen schon, daß das im Steuerchaos endet. Sie wissen es genauso gut wie wir, geben es bloß leider öffentlich nicht zu.
Es geht auch nicht an — das stinkt mir ganz besonders —, daß angesichts der Tatsache, daß die Gerichte überlastet sind und etwa bei den Asylverfahren Berge abgebaut werden müßten, das Bundesverfassungsgericht immer wieder Stück für Stück politische Fehlentscheidungen im nachhinein korrigieren muß, womit es der Bundesregierung — das ist nämlich die Konsequenz — im Prinzip permanent Politikunfähigkeit zudiktiert.
Sparen heißt die Devise. Darin sind wir uns alle einig. Auch DIE GRÜNEN wollen keine weitere Staatsverschuldung. Vielmehr wollen wir sie abbauen helfen. Es ist nur die Frage, wie, auf wessen Kosten und mit welchen politischen Zielen.
Ich möchte Ihnen nur einige Dinge nennen: Da ist zum einen die Fortsetzung des Sozialabbaus zu Lasten der Arbeitslosen und der kommunalen Haushalte. Selbst wenn Sie jetzt die Befristung der Arbeitslosenhilfe ausgesetzt haben, führt diese Aussetzung zu einem späteren Zeitpunkt unter dem Strich dazu, daß die geplanten Kürzungen ab Oktober, auf das ganze Jahr umgerechnet, den gleichen Kürzungsbetrag wie vorher ausmachen. Das ist der Hammer.
Obwohl die Bundesanstalt für Arbeit in ihrem Etatentwurf bereits jetzt mit einem Defizit von 14,6 Milliarden DM in 1995 rechnet, senken Sie den Bundeszuschuß. Wir wissen aber aus den vergangenen Jahren, welche fatale Auswirkungen das gerade im Fortbildungs- und Umschulungsbereich hat. Das gilt vorwiegend für die neuen Bundesländer, aber auch, Herr Waigel, für Teile Bayerns, z. B. für die Oberpfalz oder für strukturschwache Regionen in Unterfranken.
Ein weiterer Punkt: der soziale Wohnungsbau, der Städtebau und das Wohngeld. Hierfür wollen Sie keine müde Mark mehr ausgeben, obwohl bekannt ist, daß der Bedarf täglich steigt. Das bedeutet in der Konsequenz entweder, daß immer mehr Menschen sich Wohnraum bei steigenden Mieten nicht mehr
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leisten können, oder Sie verschieben die Last letztendlich auf die Länder und Kommunen.
Auch die Devise in der Regierungserklärung, Deutschland zukunftsfähig zu machen, kommt nicht über. Was nutzt uns denn dieser Zukunftsminister, wenn gleichwohl die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der beruflichen Qualifizierung eingefroren und damit faktisch gekürzt wird? Mit dem Zukunftsministerium wird nach außen mit Mordstrara ein Zeichen gesetzt, aber es wird inhaltlich, haushaltstechnisch nicht unterfüttert.
Auch die nur 1,4 Milliarden DM für Umweltmaßnahmen sind ein faktisches Eingeständnis, daß Umweltschutz in diesem Land zum Looser der Nation geworden ist. Es geht auch nicht an, daß Sie hier 8 Milliarden DM anrechnen, die aus den Einzelplänen zusammengefaßt werden, dabei aber nicht einmal merken, daß der Einzelplan 35 überhaupt nicht mehr existiert. Das hat mich sehr verblüfft. Ich nehme einmal an, daß die Beamten im Finanzministerium nicht mit den Textbausteinen umgehen können.
Zum Thema Kohlepfennig. Wir brauchen eine Energiesteuer — daß DIE GRÜNEN das schon längst einfordern, ist kein Geheimnis —, die über eine mittelfristig erforderliche Kohlesicherung hinaus eine nachhaltige Energiesparpolitik unterstützt und uns langfristig aus der Abhängigkeit von „DinosaurierEnergien" wie Kernkraft, Kohle und auch Öl
befreit.
Im übrigen muß diese neuerliche Finanzforderung an ihren geknebelten Haushaltsansatz letztlich auch die CDU/CSU und die F.D.P. zur Verzweiflung bringen. Wo wollen Sie denn für 1996 die 7,5 Milliarden DM hernehmen? Wissen Sie das überhaupt? Ich glaube nicht.
— Das ist eine sehr gute Frage. Ich weiß. Deswegen stelle ich sie auch.
Und dann diese Trickbetrügereien bei der Steuerfreistellung des Existenzminimums. Herr Waigel sagt, es ist verfassungskonform. Wir sagen und auch die Experten und Expertinnen sagen, es ist nicht verfassungskonform,
und zwar deswegen nicht, weil Sie Berechnungen vom Jahr 1991 bzw. 1990 und nicht die Berechnungen von 1994 zur Freistellungsgrenze bezüglich des Existenzminimums zugrunde gelegt haben. Auch was die Progression mit ihrem Buckel anbelangt, verweise ich im übrigen auf Frau Matthäus-Maier. Dem kann ich mich nur anschließen.
Auch der Familienlastenausgleich wird Geld kosten. Hier liegt das Problem, daß das Existenzminimum, das von Ihrer Seite für die Kinder angesetzt worden ist, viel zu gering ist. Ich kann nur hoffen, daß die katholischen Verbände, daß die Eltern in diesem
Land insgesamt auf die Barrikaden gehen. Wir werden sie heftigst dabei unterstützen.
Zu unseren Überlegungen: Wir brauchen selbstverständlich den Abbau von Steuervergünstigungen. Wir brauchen mehr Steuergerechtigkeit für die unteren und mittleren Einkommen. Das ist überhaupt keine Frage.
— Jawohl, Herr Schäuble. Wir brauchen auch die Einpassungen der heimlichen Steuererhöhungen über die Inflation z. B. Wir brauchen eine Entbürokratisierung, und wir brauchen eine Vereinfachung unseres Steuerveranlagungssystems bzw. der -praxis. Ich denke, da sind wir uns alle einig. Das Problem ist aber, daß wir, um diese Reform erst einmal angehen zu können, einen gescheiten Kassensturz brauchen, der ehrlich sein muß, der gründlich sein muß, der alle Daten offenlegt, damit man überhaupt planen kann, um dann zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zu kommen. Dazu sind Sie nicht in der Lage oder auch nicht gewillt, weil so viel auftauchen würde, was man in den letzten Jahren versucht hat zu verstecken, aber mittlerweile nicht mehr verstecken kann.
Ich muß sagen, wir verdammen nicht alles in Bausch und Bogen, was in den Koalitionsvereinbarungen steht. Das sind Kindereien; dazu haben wir keine Lust. Der Vorschlag z. B. zur Budgetierung, Verwaltung effizienter oder auch kostengünstiger zu gestalten, ist in Ordnung, aber ich warne davor, es mit der Rasenmähermethode zu versuchen. Man muß dies sehr differenziert anschauen und darf es dann nicht mit einem Prozent oder pauschal durchziehen, sondern man muß in den einzelnen Abteilungen sehr genau überlegen, wo das Leistungsprinzip in unserer Verwaltung gestärkt werden kann.
Also: An erster Stelle steht der Kassensturz, an zweiter Stelle steht die Offenlegung der staatlichen Finanzlage ohne Schönfärberei und drittens keine weitere Verschiebung von Lasten auf der föderalen Ebene. Es ist das Problem, daß eingespart und dann wieder umgeschichtet wird.
Wir müssen insgesamt eine Verteilung erreichen, die sehr ehrlich ist. Da muß der Staat bei den Einsparungen bei sich selbst anfangen und kann nicht immer nur fordern, daß die Bürger und Bürgerinnen dies tun. Wir leisten uns weltweit das größte Parlament. Wir haben eine Regierung: von Entschlackung keine Spur! Das bißchen am Wolfgangsee wird nichts nutzen. Die Reduktion der Ministerien bei gleichzeitiger Einstellung von mehr Staatssekretären kostet mehr als zuvor. Das ist auch kein Geheimnis.
Es ist notwendig, daß wir den wirtschaftlichen Strukturwandel mit allen seinen sozialen, seinen ökonomischen und ökologischen Komponenten bewältigen. Ich rede hier von einer grundlegenden sozialen
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Christine Scheel
und auch ökologischen Steuerreform, die zwingend notwendig ist. Wir haben das hier schon ausgeführt. Wir haben dezidierte Vorschläge gemacht, die wir in die parlamentarische Beratung selbstverständlich mit einbringen.
Wir sind bereit, am Deutschland der Zukunft mitzuarbeiten, dies aber mit Offenheit, mit Rücksicht auf die Schwächeren in diesem Land, im Hinblick auf eine ökologisch und ökonomisch verträgliche Zukunft.
Wir wollen kein Steuerchaos mehr. Wir wollen weg davon, daß Steuern zunehmend zu Dummensteuern werden. Hier ist Mut angesagt und kein Hofknicks vor irgendwelchen senilen Interessenverbänden.
Herr Waigel, zum Abschluß: Steuerlügen haben nun mal kurze Beine.
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie, daß ich vorab die Gelegenheit nutze, um dem Kollegen Michael Glos zu seinem heutigen 50. Geburtstag zu gratulieren.
Politik ist — so hat Hofmannsthal einmal gesagt — Verständigung über das Wirkliche. Es wäre gerade bei einer Haushaltsdebatte gut, wenn wir uns hier einmal über das Wirkliche oder das Mögliche unterhalten würden und nicht über das Wünschbare.
Denn wir wissen: Vieles ist wünschbar, aber nicht alles können wir erreichen.
Deshalb diskutieren wir über den Haushalt, der ja das Schicksalsbuch der Nation sein soll,
weil sich in ihm deutlich niederschlägt, wie die politischen Dinge gestaltet werden und wie die führenden Koalitionsparteien die Zukunft gestalten wollen: nämlich in Richtung einer Erneuerung der gesellschaftspolitischen Strukturen und weg von der Verkrustung, die jetzt überwunden werden muß.
Der Bundeshaushalt 1995 ist dafür eine realistische Handlungsanweisung. Anhänger schöngeistiger utopischer Vorstellungen mag er sicherlich nicht befriedigen. Aber dafür entspricht er in seiner Offenheit und konkreten Aussage den Aufgaben, die vor uns liegen und die wir uns selbst gestellt haben.
In den kommenden Jahren geht es darum, die Leistungen für die neuen Bundesländer langfristig sicherzustellen, den Haushalt zu konsolidieren und die Staats- und Abgabenquote zu senken, und zwar beides gleichzeitig, Herr Kollege Waigel. Ich bin nicht der Meinung, daß die Konsolidierung der Steuersenkung vorauslaufen muß. Es muß beides Hand in Hand gehen. Denn die extrem hohen Steuerbelastungen, denen die Bürger und die Unternehmen heute ausgesetzt sind, können auf Dauer nicht beibehalten werden, wenn die Leistungsbereitschaft nicht sinken soll.
Jetzt geht es darum, die Staatsquote wieder auf das Maß zurückzuführen, das sie vor der Wiedererlangung der deutschen Einheit gehabt hat, nämlich rund 46 %, und den Schuldenanstieg zu reduzieren. Mit einem Haushalt, der eine Steigerung von unter 1 % in sich birgt, ist das auch machbar. Das ist eine gute Zahl, mit der wir gut leben können.
Jetzt geht es natürlich darum, die Neuverschuldung weiter zu reduzieren und gleichzeitig die Steuerbelastung zu senken. Unsere politische Maxime muß bleiben: für leistungsgerechte Steuern, für den soliden Staatshaushalt. Denn die Steuerbelastung muß der Leistungsfähigkeit der Bürger entsprechen. Sie darf Leistungswillen und Leistungsbereitschaft nicht beeinträchtigen.
Kernstück einer Politik für mehr Leistung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen kann daher nur eine Reform des Steuersystems sein, weil über das Steuersystem darauf direkt Einfluß genommen wird. Die Vision ist realisierbar, aber eben nur durch konsequentes Sparen, durch weitere Privatisierungen, durch weiteren Abbau von Regulierungen, durch weiteren Abbau der Bürokratie.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, auch Sie haben als Zielsetzung das Konsolidieren betont, aber konkrete Vorschläge waren nicht vorhanden.
Es geht eben nicht, immer von der Schuldenfalle zu sprechen, aber nicht gleichzeitig zu sagen, wie man sie schließen will.
Wirklich etwas kümmerlich fand ich, Frau Matthäus, den Verweis auf den Sturz von Helmut Schmidt.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 343
Dr. Hermann Otto Solms
Es müßte doch mittlerweile selbst bei Ihnen angekommen sein, daß er damals durch seine eigene Fraktion gestürzt worden ist.
Aber es mag sein, daß Sie diese Geschichtsklitterung brauchen, um Ihr schlechtes Gewissen wegen Ihres Parteiübertritts zu beruhigen.
Die Auffassung, die Einsparungen, die wir in den letzten Jahren durchgeführt haben, hätten nur die Kleinen betroffen, ist augenscheinlich falsch. Die Einführung des Solidaritätszuschlags und die Erhöhung der Vermögensteuer treffen insbesondere die Besserverdienenden; das ist nicht zu bezweifeln. Im übrigen haben die SPD-geführten Bundesländer dem Einsparungs- wie auch dem Steuererhöhungsteil zugestimmt. Deswegen ist diese Klage nun wirklich nicht berechtigt.
Der Solidaritätszuschlag, zu dem ich dann auch gleich kommen will, ist gerade ein Produkt der Verhandlungen zwischen Bund und Ländern. Die Bundesländer insgesamt, insbesondere auch die SPD- geführten Länder, angeführt von Herrn Lafontaine aus dem Saarland, haben darauf gedrängt, daß die Lasten, die ihnen wegen der Transferzahlungen in die neuen Bundesländer entstehen, größtenteils vom Bund übernommen werden
und daß der Solidaritätszuschlag in dieser Höhe eingeführt wird, was wir ursprünglich nicht wollten.
Herr Kollege Solms, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
Bitte schön.
Solche Fragen wie Herr Uldall stelle ich in der Tat nicht, Herr Kollege. — Herr Solms, würden Sie mir zustimmen, daß die SPD bei den Verhandlungen über das Föderale Konsolidierungspaket bis zum Schluß darauf beharrt hat, beim Solidaritätszuschlag eine Einkommensgrenze einzuführen — was allerdings an Ihnen gescheitert ist —, daß wir in jeder Verhandlung gesagt haben: „Einkommensgrenze "?
Nein, das kann ich nicht bestätigen.
Ich war bei diesen Verhandlungen dabei. Was die SPD gefordert hat, war die Einführung einer Ergänzungsabgabe. Das kann ich bestätigen.
— Die Ergänzungsabgabe mit Einkommensgrenze, selbstverständlich; nicht aber den Solidaritätszuschlag mit Einkommensgrenze. —
Was die SPD darüber hinaus gefordert hat, war eine Arbeitsmarktabgabe. Ich bestätige, daß wir nicht diese, sondern den Solidaritätszuschlag eingeführt haben. Aber als es um die Höhe des Solidaritätszuschlags ging, haben die Bundesländer immer höher gepokert, weil sie immer mehr Geld haben wollten, um selbst entlastet zu werden. Das ist nun einmal ein Faktum.
Dies wird uns im nächsten Jahr volkswirtschaftlich sehr schwer belasten. Wenn nun gerade von Ihrer Seite beklagt wird, daß die Nachfrageseite durch den hohen Solidaritätszuschlag belastet werde, so kann ich das nur zurückweisen. Wären Sie etwas sparsamer mit dem Geld der Steuerzahler umgegangen, dann wäre er nicht so hoch und die Nachfrageseite würde nicht so belastet.
Also, Frau Kollegin Matthäus-Maier, so war das; ich selbst war dabei. Das Ergebnis ist nun einmal, wie es ist. Wir haben das gemeinsam zu verantworten. Wie immer auch die Begründungen waren; wir haben dem gemeinsam zugestimmt. Sie können sich nicht aus der Verantwortung stehlen.
Herr Kollege Solms, die Kollegin Matthäus-Maier möchte eine weitere Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Solms, da Sie sagen, es sei richtig, daß die SPD eine Ergänzungsabgabe mit Einkommensgrenze gefordert habe, nicht aber einen Solidaritätszuschlag mit Einkommensgrenze: Wollen Sie mir bitte bestätigen, daß der Solidaritätszuschlag — in der Sache wie auch steuersystematisch, nach unserer Finanzverfassung — nichts anderes ist als eine Ergänzungsabgabe?
Frau MatthäusMaier, wir sind hier nicht im volkswirtschaftlichen Seminar. Sie haben soeben schon Herrn Uldall geschulmeistert, wie es sich eigentlich nicht gehört; das muß ich einmal sagen.
Wenn Sie aber schon glauben, das alles so genau zu wissen, dann will ich Ihnen sagen: Was Sie zu den Kinderfreibeträgen gesagt haben, ist in dieser Formulierung falsch; Kindergeld wird gegeben, bei Kinderfreibeträgen wird nichts gegeben,
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Dr. Hermann Otto Solms
es wird weniger weggenommen. Das ist das Entscheidende. Sie haben immer gesagt: Es muß das Gleiche gegeben werden. — Es wird überhaupt nichts gegeben. Steuerfreibeträge führen dazu, daß Menschen von dem von ihnen selbst verdienten Einkommen etwas weniger an Steuern abgezogen wird.
— Nein, das ist eine ganz saubere Definition. — Sie können dann darüber streiten, ob Sie das von der Bemessungsgrundlage oder von der Steuerschuld abziehen. Dies ist ein politischer Streit, den man ausfechten muß. Aber eines muß klar sein: Die Steuerfreibeträge egal, wo sie abgezogen werden — führen dazu, daß der Steuerpflichtige weniger Steuern von dem, was er verdient hat, abgeben muß. Nur das Kindergeld bzw. der Kindergeldzuschlag führt zu einer direkten Zuwendung, nämlich aus Steuern auf Einkommen anderer.
Die Freibeträge betreffen das eigene Einkommen. Das ist der systematische Unterschied. Es ist wichtig, dies zu unterscheiden, weil es für den einzelnen Betroffenen psychologisch einen Unterschied macht. Dies wirkt sich auf seine Leistungsmotivation aus. Daher darf man dies nicht falsch darstellen.
Meine Damen und Herren, es gilt jetzt, bei der Steuerpolitik eine Reihe von Zielen gleichzeitig zu verwirklichen. -- Und dies möglichst in einem einzigen Gesetzgebungsakt. Dies stellt eine Steuervereinfachung gegenüber einer Regelung in drei oder vier verschiedenen Gesetzen dar. — Es geht darum, das Existenzminimum freizustellen, wie dies das Bundesverfassungsgericht geboten hat. Es hat genauso geboten, die Entlastung der Familien fortzuführen. Dies muß geschehen. Auch muß die Unternehmensteuerreform fortgesetzt werden. Wir müssen die Standortbedingungen für Arbeitsplätze in Deutschland verbessern. Hieran führt kein Weg vorbei. Dazu ist jedoch von der SPD überhaupt kein Vorschlag gemacht worden.
Gleichzeitig müssen wir alle Kraftanstrengungen unternehmen, um den Solidaritätszuschlag so schnell wie möglich abzubauen und so bald wie möglich obsolet zu machen.
Auch der Sachverständigenrat hat gesagt, aus volkswirtschaftlichen und insbesondere auch aus finanzpsychologischen Gründen wäre eine Befristung des Solidaritätszuschlags besser gewesen. Das ist auch die Auffassung der F.D.P. Dies ist jedoch nicht durchsetzungsfähig, weil alle Bundesländer dagegen sind. Sie wollen diesen Finanzausgleich natürlich möglichst lange gesichert wissen. Deshalb müssen wir nun so vorgehen, wie wir es im Koalitionsvertrag vereinbart haben, daß nämlich dann, wenn sich die Leistungen aus dem Solidarpakt reduzieren, der Solidaritätszuschlag entsprechend gesenkt wird.
Morgen haben wir einen Antrag der SPD mit dem Thema „Ersatz des Solidaritätszuschlages durch eine
sozial gerechte, ökonomisch vernünftige Ergänzungsabgabe" auf dem Tisch. Hier geschieht wieder das großangelegte Täuschungsmanöver, den Menschen zu beteuern, die Ergänzungsabgabe sei sozial gerecht, der Solidaritätszuschlag jedoch, der auf unserem progressiven Steuertarif beruht, sei ungerecht.
Ich habe Herrn Lafontaine hier schon einmal erklärt, daß dies definitiv falsch ist. Sie haben der Steuerreform 1990 und damit dem linear-progressiven Tarif, so wie wir ihn gestaltet haben, zugestimmt. Der Kollege Poß hat mir damals bestätigt, daß er diesen Tarif eigentlich nicht für schlecht hält.
— Darauf komme ich gleich noch.
Wenn Sie einen Solidaritätszuschlag einführen, dann ist das ein Zuschlag auf die Steuern, die diesem Tarif entsprechen. Ein Kleinverdiener zahlt überhaupt nichts. Er zahlt keine Einkommen- und Lohnsteuer und auch keinen Solidaritätszuschlag. Mehrverdiener zahlen wenig Steuern und einen geringen Solidaritätszuschlag. Hochverdiener zahlen viel Steuern und einen hohen Solidaritätszuschlag, und zwar genau 4 Prozentpunkte Solidaritätszuschlag auf 53 % Steuern, also insgesamt 57 %. Der „Geringverdiener" zahlt 1,4 Prozentpunkte bei einem Eingangssteuersatz von 19 %; das sind insgesamt 20,4 %. Dies ist wirklich sozial gerecht. Daß es gerechter sein soll, bei einem Einkommen bis zu 50 000 DM jährlich keinen Zuschlag zu zahlen, danach aber einen um so höheren Zuschlag, kann mir niemand erklären.
— Nein, nein. Frau Matthäus-Maier, ich habe mir vor dieser Rede einmal die Tariflohnstrukturen angesehen. Nahezu alle Facharbeiter in Westdeutschland und alle Angestellten in Industrie, Handel und Gewerbe liegen über dieser Einkommensgrenze.
Das heißt, daß gerade diejenigen, auf deren Mehrleistung es in unserer Volkswirtschaft ankommt, nicht zusätzlich durch eine leistungserdrückende Steuerbelastung belastet werden dürfen.
Deswegen ist dieser Solidaritätszuschlag das weitaus gerechtere System als die Ergänzungsabgabe.
Damit komme ich auch gleich zu der Frage der Entlastung durch sie steuerliche Freistellung des Existenzminimums. Hier hat Herr Schleußer für die SPD einen Tarif vorgeschlagen, der versucht, diese verfehlte Ergänzungsabgabe wieder in den Tarif einzubauen.
— Gut, NRW-Vorschlag, Entschuldigung. Ich nehme
das zurück. Trotzdem ist das Ganze interessant, weil
es ursprünglich hieß, es werde einen Vorschlag für die
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Dr. Hermann Otto Solms
SPD geben. Aber ich nehme das zur Kenntnis. Es ist ein NRW-Vorschlag.
Es war interessant, daß Frau Matthäus auf diesen Vorschlag überhaupt nicht eingegangen ist. Das hat jedenfalls mich verblüfft. Das heißt, man hat die Flucht angetreten, bevor das Modell Wirklichkeit geworden ist und in der Öffentlichkeit diskutiert wird.
Und warum? — Weil der Bundesfinanzminister ein erheblich überlegenes Modell vorgeschlagen hat. Deswegen hat man das andere schnell in den Papierkorb geworfen.
Jedenfalls hat Herr Schleußer versucht, die Ergänzungsabgabe über den Tarif wieder einzuführen mit dem Ergebnis, daß nach Freistellung des Existenzminimums die Steuerentlastung, die bei den unteren Einkommensgruppen entsteht, durch eine erhebliche Mehrbelastung der Alleinstehenden mit einem Jahreseinkommen von über 50 000 DM ausgeglichen wird. Dazu ist das gleiche zu sagen, was ich schon vorher zu der Ergänzungsabgabe gesagt habe:
Nein, das geht nicht. Wir müssen das Existenzminimum freistellen.
Die Expertenkommission, die Herr Waigel einberufen hat, hat einen Vorschlag gemacht. Der Vorschlag ist vom System her eigentlich der beste. Nur, er führt zu Steuerausfällen von knapp 40 Milliarden DM.
Das ist, wie jeder zugeben wird, gegenwärtig und in naher Zukunft nicht zu realisieren und nicht zu verantworten. Wir würden uns für lange Zeit jeden finanziellen Bewegungsspielraum nehmen.
Das hat natürlich auch die Expertenkommission erkannt und deshalb eine Reihe von Gegenfinanzierungsvorschlägen gemacht. Das, was sie vorgeschlagen hat, ist theoretisch gut und vernünftig. Aber wenn man es praktisch sieht und die Mehrheitsverhältnisse sowie die politischen Motivationen der einzelnen Parteien kennt, dann weiß man: Das ist nicht realisierbar.
Ich will Beispiele nennen: die Besteuerung der Lohnersatzleistungen und die Besteuerung des Wohngeldes. Wenn wir das Wohngeld besteuern würden, müßten wir es entsprechend anheben. Finanzpolitisch wäre das kein Geschäft. Ich nenne auch die Abschaffung der Steuerbegünstigung für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit. Wer seinerzeit die Vereinheitlichung der Steuerbegünstigung mitgemacht hat, der weiß, wie schwierig schon das war. Wir haben damals zugesagt: Das ist es nun in der Steuerreform. — Jetzt können wir nicht wieder darangehen. Ich nenne auch den Wegfall der Begünstigung für die Vermögensbildung. Ich denke dabei an die Bausparförderung. Das ist jedenfalls für die F.D.P. völlig
undenkbar. Die Bausparförderung darf nicht angetastet werden. Sie muß verbessert werden,
weil sie das beste Instrument ist, Bezieher kleinerer Einkommen schon in jungen Jahren allmählich an das Sparen zur Schaffung von Wohneigentum heranzuführen. Das ist in meinen Augen sozial- und gesellschaftspolitisch besonders förderungswürdig.
Ich nenne ferner den Abbau der Begünstigungen im Rahmen der Wohnungsbauförderung, die Reduzierung der Abschreibungsbedingungen oder der Förderung der Abschreibungen. Darüber kann man theoretisch gut diskutieren. Das macht auch einen Sinn. Aber das ist in den Verhältnissen, in denen wir uns befinden, nicht umsetzbar. Soviel Sympathie ich für diesen Tarif mit der Gegenfinanzierung habe: Er ist politisch nicht umsetzbar. Das muß man zur Kenntnis nehmen.
Der Tarif von Bundesfinanzminister Waigel hat einige große Vorteile. Er führt dazu, daß keiner mehrbelastet wird und daß der lineare Tarif im Prinzip erhalten bleibt. Er hat natürlich den Nachteil des Buckels, den Frau Matthäus hier angesprochen hat. Das muß man zugeben. Aber im Ergebnis wirkt sich der Buckel so aus, daß es zu einer Mehrbelastung der von dem Buckel beim Grenzsteuertarif Belasteten nicht kommt. Keiner zahlt also mehr Steuern. Das Existenzminimum wird freigestellt.
Man muß jetzt noch darüber diskutieren, ob man den Buckel mindern kann, ob die Freistellung von 12 000 DM ausreicht. Ich würde es natürlich ungern sehen, daß wir uns hier auf 12 000 DM konzentrieren — wohlwissend, daß wir im Bundesrat oder im Vermittlungsausschuß auf 13 000 DM gehen. Dann würde ich lieber vorschlagen: Wir einigen uns ehrlich vorher und machen es dann so. Denn Sie sind in der Mitverantwortung. Wir wissen das. Das Ganze dann auf den Vermittlungsausschuß zu schieben, obwohl man schon vorher weiß, was man will, macht keinen Sinn.
Ich würde mich nicht gerne vom Vermittlungsausschuß korrigieren lassen. Auch das muß ich dazu sagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme dann zum Thema Familienlastenausgleich. Dazu habe ich soeben schon einiges gesagt. Auf jeden Fall — das ist auch das Verfassungsgebot — müssen Familien mit Kindern stärker entlastet werden.
Hier gibt es verschiedene Wege. Die Expertenkommission, die Herr Waigel einberufen hat, hat vorgeschlagen, daß man im jetzigen System bleiben soll, welches ohne Zweifel verfassungskonform ist. Das bedeutet, Erhöhung der Kinderfreibeträge und eine entsprechende Erhöhung des Kindergeldes. Unser Vorschlag geht eher in die Richtung eines Negativ-
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Dr. Hermann Otto Solms
steuersystems. Das würde auch dem Gedanken eines Bürgergeldes näher kommen.
Das Kindergeld sollte durch die Finanzämter ausgezahlt werden.
Das haben wir damals in der sozialliberalen Koalition gemeinsam verabschiedet; es ist dann am Widerstand aller elf Bundesländer gescheitert. Ich weiß, daß dies teilweise auch in der SPD Sympathien genießt. Nur vermute ich, daß sich wieder sämtliche Bundesländer dagegen aussprechen werden, nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern aus Gründen der Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern. Eigentlich müßte in bezug darauf unter vernünftigen Menschen eine Einigung zu erzielen sein.
Leider ist das gegenwärtig anscheinend nicht möglich. Das jedenfalls wäre die Zielrichtung, die in unseren Augen die höchste Attraktivität hätte.
Dann muß man noch über die Frage: Steuerschuld oder Bemessungsgrundlage reden. Das ist natürlich ein politisches Thema. Es sollte aber nicht dazu führen, daß jede vernünftige Lösung verhindert wird.
Lassen Sie mich noch eine kurze Bemerkung zum Kohlepfennig machen. Das Bundesverfassungsgericht hat nun diese Sonderabgabe für verfassungswidrig erklärt. Jetzt darf doch nicht die erste Frage lauten: Wie, durch welche Steuerbelastung, ersetzen wir das? Die erste Frage muß vielmehr lauten: Ist das denn zwingend und in dieser Höhe nötig?
Ist es nicht richtig, diese volkswirtschaftlich verfehlte Förderung der deutschen Steinkohle schneller abzubauen, als das bislang vorgesehen ist?
Es kann doch nicht richtig sein, daß wir die in Deutschland geförderte Tonne Steinkohle zum Preis von 290 DM zur Verfügung haben, die Tonne Steinkohle aus Australien oder Kanada frei Hafen Hamburg für 70 DM pro Tonne bekommen können. Macht das denn Sinn? Es werden 7 Milliarden DM allein für den Kohlepfennig bereitgestellt. Das kann doch keinen Sinn machen.
Dazu kommt die Kokskohleförderung.
— Es kommt die knappschaftliche Versicherung
hinzu. Das kostet unglaublich viel Geld. Der Kumpel
wird mit weit über 100 000 DM pro Arbeitsplatz
gefördert. Ich frage: Wieviel Arbeitsplätze könnten woanders mit einer solchen Förderung entstehen?
Wie viele Arbeitsplätze gehen in den mittelständischen Unternehmen Jahr für Jahr verloren? Gleichzeitig betreiben wir die Erhaltung veralteter Strukturen weiter.
— Ich weiß das, Frau Fuchs. Aber jetzt gibt es ein neues Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Jetzt sollten wir die Grundlagen überprüfen. Ich bin nicht der Meinung, daß man einfach sagen kann: So, jetzt ersetzen wir das durch diese oder jene Steuer. So einfach können wir es uns nicht machen, insbesondere nicht angesichts der hohen Belastung mit Steuern, die es heute gibt.
— Ich habe nicht gesagt, wir geben sie auf; ich habe gesagt: „schneller abbauen" . Sie müssen genau zuhören.
— Ja, es muß auch weiter abgebaut werden. Das ist unsere Überzeugung, weil das Geld falsch ausgegeben wird.
Es wird zu viel Geld in die Vergangenheit gesteckt und zu wenig in die Zukunft.
Das hat doch Frau Matthäus-Maier vorher eingeklagt: mehr in die technologische Entwicklung, mehr in die Forschungsförderung, mehr in die Bildung. Darm müssen Sie woanders weniger Geld ausgeben; es hilft nun einmal nichts.
— Ich weiß ja, daß Sie, Herr Fischer, sich über unseren basisdemokratischen Parteitag freuen.
Wenn ich mir die Parteitage der GRÜNEN aus der jüngsten Zeit anschaue,
dann stelle ich fest: Das sind harmonische Treffen, ja Weihnachtsfeiern eines katholischen Mädchenpensionats, im Gegensatz zu unseren Veranstaltungen.
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Dr. Hermann Otto Solms
— Ich habe nichts dagegen. Ich sage nur: Es tritt eine gewisse Änderung im Erscheinungsbild dieser Partei ein.
Ich glaube, daß Sie, Herr Fischer, persönlich dafür verantwortlich sind, weil Sie die GRÜNEN weg von ihren ursprünglichen Anfängen führen, von der linken Mitte oder von ganz links hin nach rechts, an die Töpfe der Machtbeteiligung.
Wenn bei uns einer so leichtfertig über die Umsetzung der eigenen Programmatik reden würde
— hören Sie doch mal einen Moment zu —, wie Sie das über Ihre tun,
dann wären bei uns alle weg.
Bei uns beginnt schon bei dem Thema Amt und Mandat die Revolution.
— Warten Sie es doch ab! Sie waren weg und sind wiedergekommen. Wir gehen gar nicht weg, wir sind standhaft. Wir hatten ein schlechtes Jahr, und jetzt haben wir ein gutes Jahr vor uns.
Wir werden in Hessen ein gutes Wahlergebnis erzielen. Warum? — Weil Sie dort einen solchen Scherbenhaufen hinterlassen haben, Herr Fischer.
Denn Sie haben dort als Umweltminister genau das Gegenteil von dem erreicht, was Sie hier verkünden. Sie haben dazu beigetragen, daß wichtige Verkehrswege nicht gebaut worden sind.
Sie haben ein technologie- und innovationsfeindliches Klima geschaffen.
Sie haben die Genforschung aus Hessen in die USA vertrieben. Ihre Arbeit hat dazu geführt, daß die Fabrik in Hanau geschlossen werden mußte.
Wenn die Lkw — einer nach dem anderen — durch die Dörfer in Nordhessen fahren müssen und dort die Umwelt verschmutzen und die Menschen gefährden, dann ist das Ihre Verantwortung, weil Sie den Ausbau der A 44 verhindert haben.
Diese Auseinandersetzung führen wir im hessischen Landtagswahlkampf gern.
Ich muß zum Schluß kommen und sage daher nur noch: Wir haben einen verantwortbaren und guten Haushaltsentwurf vorgelegt. Wir werden ihn sorgfältig beraten und umsetzen. Uns geht es darum, daß wir eine Politik für mehr Arbeitsplätze, für die Erneuerung der Gesellschaft und für Fortschritt machen. Dann wird uns auch der Erfolg wieder zuteil werden.
Vielen Dank.
Frau Kollegin Dr. Barbara Höll, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Waigel, gestatten Sie mir, daß ich Ihnen ebenfalls gratuliere, und zwar zu Ihrer heutigen Rede. Denn Sie haben in Worte gefaßt, was Nietzsche mit philosophischer Tiefe als „ewige Wiederkehr" bezeichnete.
So verhält es sich in der Tat: Jahr für Jahr bringen Sie die gleiche Rede zum Haushalt ein. Auch die heutigen Ausführungen unterscheiden sich wohl nur in der Anordnung der Textbausteine von den Etatreden früherer Jahre. Das einzig Lebendige Ihrer haushalts- und finanzpolitischen Reden ist das wachsende Defizit des Bundes.
Woher, Herr Waigel, nehmen Sie nach dem Scheitern Ihrer finanzpolitischen Prognosen noch den Mut, vor dem Bundestag zu behaupten, gegenüber dem ersten Haushaltsentwurf für 1995 werde sich die veranschlagte Nettokreditaufnahme um rund 10 Milliarden DM auf rund 59 Milliarden DM reduzieren? Seit Jahren schon verkünden Sie Konsolidierungsstrategien, die Sie auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger austragen.
Das strukturelle Haushaltsdefizit ist in Ihrer Amtszeit förmlich organisch gewachsen. Seit Jahren nehmen Sie für sich in Anspruch, die Nettokreditaufnahme zu senken. Ebenfalls seit Jahren melden Sie Erfolge, bevor Sie gehandelt haben. Wahrlich unschlagbar ist Ihre Formulierung — nachzulesen in den „BMF- Finanznachrichten 35/93" —: „Bei der Rückführung der Kreditaufnahme wird es bleiben. Nur leider auf einem höheren Niveau." Das heißt im Klartext: Ich werde sparen und dabei noch mehr ausgeben.
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Dr. Barbara Höll
Wie sieht das konkret aus? Der Finanzplan 1992 bis 1995 erwartete für das kommende Haushaltsjahr ein Ausgabevolumen von rund 450 Milliarden DM und eine Nettokreditaufnahme von 25 Milliarden DM. Nach der im Juli vorgelegten und von Ihnen offenbar aus guten Gründen nicht mehr aktualisierten Finanzplanung für 1994 bis 1998 rechnen Sie für das kommende Jahr mit Ausgaben in Höhe von 484 Milliarden DM, zu deren Finanzierung die offizielle Neuverschuldung auf mindestens 59 Milliarden DM verdoppelt werden soll.
Doch obwohl Ihnen die Finanzplanung völlig aus dem Ruder gelaufen ist, stellen Sie sich hier vor den Bundestag und rühmen sich einer maßvollen Begrenzung der Ausgaben. Diesen Schein können Sie nur deshalb wahren, weil Sie zum einen das über Nachtragshaushalte stetig gewachsene Ausgabensoll unterschlagen und zum anderen absehbare Belastungen kommender Haushalte einfach nicht in der Finanzplanung berücksichtigen. So haben Sie z. B. die im Wahlkampf von der CDU/CSU versprochene und von der Koalition vereinbarte Erhöhung der sozial ungerechten Kinderfreibeträge von 4 104 DM auf 7 000 DM in der Finanzplanung nicht berücksichtigt. Steuerausfälle in Höhe von insgesamt 12 Milliarden DM, die den Bund rund 5 Milliarden DM kosten würden, wären die Folge. Dafür ist keinerlei Vorsorge getroffen.
Ich halte die Entscheidung des Bundesfinanzministers, dem Bundestag keine aktualisierte Finanzplanung vorzulegen, für eine Mißachtung des parlamentarischen Budgetrechts.
Denn tatsächlich liegen ja dem neuen Haushaltsentwurf um etwa 3,5 Milliarden DM höhere Steuereinnahmen, als im ersten Entwurf ausgewiesen, zugrunde. Der hehre Anspruch, die Nettokreditaufnahme gegenüber dem Juli-Regierungsentwurf um 10,2 Milliarden DM zu senken, stellt doch wohl keine „peanuts" dar. Gleiches gilt für die eher beiläufig gemachte Mitteilung, die Neuverschuldung werde 1997 und 1998 höher ausfallen, als im Sommer verkündet.
Weil die Bundesregierung ganz offensichtlich versucht, die wahren Folgen ihres Anschlußkurses sowie das volle Ausmaß ihrer chaotischen Finanzpolitik zu verschleiern, verstößt der Entwurf des Bundeshaushalts 1995 gegen die Bundeshaushaltsordnung.
Beträge und Sachverhalte werden verschleiert und vorgetäuscht. Ich frage mich, Herr Waigel: Ist es Ihnen nicht langsam peinlich, hier wie eine Gebetsmühle ständig die gleichen Unwahrheiten zu wiederholen?
Zur Begründung für den dramatischen Anstieg der Neuverschuldung wird — heute wieder einmal — auf die angeblichen Erblasten der DDR hingewiesen. Die DDR soll der reichen Bundesrepublik angeblich einen Schuldenberg von 400 Milliarden DM hinterlassen haben. Dieser plumpen Propaganda möchte ich nachprüfbare Fakten entgegenhalten.
Erstens. Die Schulden des Staatshaushaltes der DDR, die Teil des Kreditabwicklungsfonds wurden, betrugen am 3. Oktober 1990 nachweislich 28 Milliarden DM.
Zweitens. Laut Monatsbericht der Bundesbank vom Juli 1990 war die DDR gegenüber dem Ausland mit netto 20,3 Milliarden DM verschuldet. Die aus den Wohnungsbaukrediten resultierenden Schulden machen noch einmal 38 Milliarden DM aus. Damit ergibt sich insgesamt eine Summe von 86,3 Milliarden DM. Das klingt ja wohl etwas anders. Das können Sie übrigens in der Drucksache 26 des früheren Unterausschusses „Treuhand" nachlesen.
Der frühere Bundesbankpräsident Pöhl hat vor dem Treuhand-Untersuchungsausschuß bezüglich der Auslandsverschuldung eindeutig Stellung genommen. Ich zitiere:
Die DDR hatte ja interessanterweise fast keine Staatsschulden; die Regierung hatte praktisch keine Schulden oder nur geringe Schulden .. . Verglichen mit Polen z. B. oder mit anderen Ostblockstaaten war es nicht sehr hoch ... Hat uns auch keine großen Probleme bereitet, weil wir gesagt haben: Gut, das wird übernommen, erledigt.
— Herr Faltlhauser, Herr Pöhl sagte das. Herr Pöhl bezeichnete die Währungsunion nicht nur als eine „Roßkur", „die keine Wirtschaft aushält", sondern er bezeichnete sie vor dem Europäischen Parlament schlicht als „Desaster".
Der Schuldenberg von jetzt 400 Milliarden DM, den nun der Bund abtragen muß, ist die Folge der gegen jeden ökonomischen Sachverstand aus politischen Erwägungen herbeigeführten Währungsunion.
Hier wuchs nichts zusammen; hier wurde etwas zusammengenagelt. 400 Milliarden DM Schulden — das ist die Erblast aus vier Jahren christlich-liberaler Wirtschafts- und Finanzpolitik im Geiste Günther Mittags und Erich Honeckers.
Herr Waigel, Sie können den Bürgern in den neuen Bundesländern auch nicht die Pro-Kopf-Verschuldung von 27 000 DM erklären.
Es ist nicht ersichtlich, wie die Absicht der Bundesregierung, durch eine nicht näher definierte Neuordnung der Bestimmungen zur Arbeitslosenhilfe und zur Sozialhilfe im Bundeshaushalt ab Oktober 1995 1 Milliarde DM einzusparen, umgesetzt werden soll. Wir hoffen, daß hier die SPD-regierten Länder wenigstens einmal Rückgrat beweisen und daß diese Pläne, die in den Schubladen liegen, nicht verwirklicht werden.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 349
Dr. Barbara Höll
Der Bundeszuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit soll von 1994 auf 1995 um 6,5 Milliarden DM auf 11,5 Milliarden DM gekürzt werden. Nach Ihrem Juli-Entwurf waren es noch 14,8 Milliarden DM. Keinerlei Tatsachen stehen dahinter, woher Sie diese Kürzungen nehmen wollen. Man höre und staune: Sie bleiben bei Ihrer Zielstellung, bis 1998 die Zuschüsse des Bundes für die Bundesanstalt für Arbeit auf Null herunterzufahren. Ich frage mich wirklich, wie da noch irgend etwas finanziert werden soll, denn Sie glauben doch nicht, daß die Massenarbeitslosigkeit bis dann durch Ihre Politik in den Griff zu kriegen sein wird.
So ganz nebenbei bedienen Sie sich zur Tilgung Ihrer Haushaltsdefizite dann auch noch aus Dingen, die Ihnen eigentlich nicht zustehen. Beispiel: Die zur bundeseigenen Staatsbank Berlin mutierte ehemalige Staatsbank der DDR soll wieder als Melkkuh mißbraucht werden. Bereits in diesem Jahr bediente sich Herr Waigel mit 1,05 Milliarden DM aus diesem Geld. Nun soll durch eine Zusammenführung mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau überschüssiges Eigenkapital in den Bundeshaushalt fließen. Stillschweigend nimmt Herr Waigel 5,6 Milliarden DM — Geld, das eigentlich die neuen Bundesländer einfordern.
Zu der ungerechten Steuerfreistellung hat Frau Matthäus-Maier hier ausführlich gesprochen.
Ich möchte vielleicht noch darauf hinweisen, daß die westdeutsche Industrie nach Prognosen des IfoInstituts in diesem Jahr vor einem Gewinnanstieg um rund 150 % auf etwa 50 Milliarden DM steht. Dennoch beabsichtigt die Bundesregierung, die Unternehmen um Steuern in Höhe von rund 30 Milliarden DM zu entlasten.
Das soll aufkommensneutral geschehen, d. h. durch Steuererhöhungen an anderer Stelle gegenfinanziert werden, und setzt voraus, daß der Solidaritätszuschlag entfällt. Denn der Bund darf diese Abgabe nur zur Deckung eines wirklich bestehenden zusätzlichen Finanzbedarfs erheben. Das erklären Sie einmal bei diesen Zahlen und den Gewinnanstiegen auf der anderen Seite.
Wenn die Bundesregierung an dieser Absicht festhält, die Unternehmensteuern zu senken, dann muß sie gleichzeitig den Steuerausfall von 58 Milliarden DM als Folge erklären, nämlich wie sie das ohne den Wegfall des Solidaritätszuschlags machen will. Auf Ihre Buchungstricks hat Frau Matthäus-Maier ebenfalls sehr ausführlich hingewiesen.
Zum Ende: Wenn Sie als Finanzminister sagen, im Haushalt und auch in der mittelfristigen Finanzplanung muß man sich konzentrieren, so frage ich mich: Worauf? Auf Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit? — Nein. Auf Bekämpfung der Armut? Ebenfalls nein. Entsprechend dem großdeutschen Getöse konzentrieren Sie sich auf den Rüstungshaushalt.
Ausdrücklich wurde im Juli-Finanzbericht mit offensichtlichem Stolz darauf hingewiesen, daß der Rüstungshaushalt — ich zitiere — „von der Fortschreibung der globalen Minderausgabe 1994 sowie sonstigen Kürzungen ausgenommen" wird. Der Verteidigungshaushalt 1995 wird gegenüber 1994 um fast
670 Millionen DM auf rund 48 Milliarden DM wachsen.
Frau Kollegin, die Redezeit.
Nach NATO-Kriterien wird dies dann insgesamt 60 Milliarden DM betragen.
Es gäbe noch etliches zu sagen. Lassen Sie mich zusammenfassend feststellen: Der Bundesfinanzminister ist bestenfalls ein Mann der Halbwahrheiten. Verglichen mit der mittelfristigen Finanzplanung der Bundesregierung war selbst die Buchführung eines Al Capone solide und mustergültig.
Immer nur weiter so!
Ich erteile das Wort dem Kollegen Joachim Poß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst ein Wort zum Kohlepfennig, Herr Kollege Solms. Ich glaube, daß auch nach diesem Urteil klar sein muß, daß sich die 100 000 Bergleute - es waren einmal 600 000 — und ihre Familien auf die Zusagen der Bundesregierung aus der Kohlerunde verlassen können müssen;
denn wir können hier nicht theoretisch über Politikverdrossenheit reden, aber mit unserem eigenen Tun jeden Tag dazu beitragen, daß die Menschen immer verdrossener werden.
Über die Lösungswege werden wir reden müssen. Da hat der Herr Bundeswirtschaftsminister schon Wege angedeutet.
In den nächsten Monaten wird sich zeigen, meine Damen und Herren, ob diese Bundesregierung — —
Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms?
Ja, bitte schön.
Herr Poß, ich verstehe ja Ihre besondere Interessenlage als nordrhein-westfälischer Abgeordneter, sich dafür einzusetzen. Aber sehen Sie denn nicht auch, daß beispielsweise die energieintensive Wirtschaft — auch aus Nordrhein-Westfalen —, die eben hohe Energiekosten hat, größte Sorgen davor hat, daß jetzt der Kohlepfennig durch eine Energiesteuer ersetzt wird, weil sie schon durch den Kohlepfennig zu sehr belastet wird und teilweise ihre Arbeits- und Betriebsstätten schließen muß?
Mir ist die Struktur der nordrhein-westfälischen Wirtschaft sehr genau bekannt. Ich kenne auch die Vor- und Nachteile einzelner Lösungen. Deswegen habe ich mich zunächst so allgemein geäußert. Ich habe in den Vordergrund
350 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Borm, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Joachim Poll
gestellt, was jetzt wichtig ist: daß die betroffenen Arbeitnehmer und ihre Familien nicht in Panik gestürzt werden.
Lassen Sie uns das an dieser Stelle genug sein. Allerdings meine ich, daß sich eine Energiesteuer nicht allein darauf beziehen darf, sondern wir auch über kurz oder lang z. B. die Finanzierung von Energieeinsparung oder regenerativen Energien sehr sorgfältig prüfen müssen, unabhängig von diesem Urteil.
In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob diese Bundesregierung noch in der Lage ist, die längst fällige Neuorientierung in der Steuer- und Finanzpolitik vorzunehmen,
oder ob sie, was leider viel wahrscheinlicher ist, weiterwurstelt wie bisher. Damit würden Sie keine Probleme lösen, sondern nur neue schaffen. Am Ende der vergangenen Legislaturperiode wurde unser Steuerrecht vielfach als Steuerchaos bezeichnet.
Wenn die Bundesregierung so weitermacht wie bisher, dann zeichnet sich zum Ende dieser Periode eine Steuerkatastrophe ab.
Bei der zukünftigen Ausgestaltung der Steuerpolitik geht es in ganz besonderem Maße auch darum, daß die Bürger wieder Zutrauen zu unserem Gemeinwesen fassen. Die Bürger haben die große Steuerlüge des Jahres 1990 nicht vergessen. Sie haben auch die vielen Steuertricks des Bundesfinanzministers satt. Doch offenbar soll alles so weitergehen wie bisher. Das von Ihnen, Herr Waigel, vorgelegte Modell zum Existenzminimum und die in den Wind geschlagenen Warnungen vor einem Solidaritätszuschlag für alle Steuerzahler sind hierfür zwei aktuelle Beispiele.
In den letzten vier Jahren war Ihre Steuerpolitik vor allem durch eine in wesentlichen Bereichen verfassungswidrige Besteuerung und durch einen ständigen Anstieg der Steuer- und Abgabenbelastung gekennzeichnet. Darunter leiden in erster Linie die normal verdienenden Arbeitnehmer. Auch das vor der Tür stehende Jahr 1995, über dessen Haushalt wir heute reden, beginnt mit einem steuerlichen Paukenschlag: mit der Einführung des Solidaritätszuschlags für alle, also auch für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen.
Dadurch steigt die Steuerbelastung schlagartig um zwei Punkte an, auf den fast einmaligen Rekordwert von fast 48 %.
Viele Bürger, Herr Faltlhauser, werden sich im neuen Jahr verwundert die Augen reiben, wenn sie netto noch weniger in der Tasche haben als in diesem Jahr.
Die Minderung der Nettoverdienste führt mit einer Verzögerung auch zu einer Minderung der Renten. Die Bürger müssen wissen, wem sie diesen Griff in ihr Portemonnaie zu verdanken haben: der Steuererhöhungskoalition aus CDU/CSU und F.D.P.
Nach der wiederholten Erhöhung der Mineralölsteuer, der Versicherungsteuer und der Mehrwertsteuer sowie den inflationsbedingten heimlichen Steuererhöhungen ist dies der vorläufige Höhepunkt einer Flut von Steuer- und Abgabenerhöhungen.
Im übrigen steht jetzt fest, daß die Regierungskoalition den Solidaritätszuschlag zumindest bis zum Ende dieser Periode in voller Höhe erheben will. Entweder hat die F.D.P. ihre Forderung nach einer baldigen Abschaffung von vornherein nicht ernst gemeint, oder sie ist vom Bundesfinanzminister bei den Koalitionsverhandlungen über den Tisch gezogen worden.
Denn die vereinbarten Kriterien für ein Absenken des Solidaritätszuschlags werden, wie der Herr Kollege Waigel in einem Interview mit der „Wirtschaftswoche " eingeräumt hat, in den kommenden Jahren nicht eintreten. Das Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlag wird nämlich nicht höher, sondern wegen der beabsichtigten Änderung bei der Einkommensteuer niedriger sein, als bisher geplant. Auch hier hat also der Bundesfinanzminister mit falschen Karten gespielt.
Meine Damen und Herren, durch die bereits vorgenommenen Steuer- und Abgabenerhöhungen sind die normalverdienenden Bürger schon bis an die Schmerzgrenze belastet worden. Daß sie jetzt noch zusätzlich den Solidaritätszuschlag von 7,5 % zahlen sollen, ist nicht nur sozial ungerecht, sondern auch wirtschaftspolitisch unvernünftig.
Hierdurch wird Nachfrage geschwächt. Sehen Sie doch: Trotz aller Zahlen ist das zarte Pflänzchen Konjunkturaufschwung immer noch bedroht und könnte verkümmern.
Der Verlauf des Weihnachtsgeschäfts zum Beispiel zeigt, daß die geminderte Kaufkraft der Bürger derzeit das größte Problem ist. Auch die Verhandlungen der Tarifparteien werden durch die Einführung des Soli-
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Joachim Poß
daritätszuschlags belastet, da viele Arbeitnehmer eine weitere Verminderung ihres Reallohnes nicht hinnehmen wollen.
Die SPD hat von Anfang an vorgeschlagen, die ohnehin zu hoch belasteten Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen von dem Solidaritätszuschlag auszunehmen und statt dessen eine Ergänzungsabgabe für höhere Einkommen zu erheben. Wir haben hierzu einen Antrag formuliert und eingebracht, über den morgen abgestimmt wird. Ich bitte Sie, stimmen Sie diesem Antrag zu, damit ein erster Schritt hin zu mehr Steuergerechtigkeit und zur Sicherung des wirtschaftlichen Aufschwungs erfolgt!
Auf Dauer, meine Damen und Herren, sind die Bürger nur dann bereit, ihre Steuern zu zahlen, wenn die Steuerlasten gerecht verteilt sind, keine ungerechtfertigten Vergünstigungen und Schlupflöcher bestehen, das Steuerrecht einigermaßen überschaubar ist und der Staat vernünftig mit den Steuergeldern seiner Bürger umgeht. In all diesen Punkten hat die Bundesregierung in den letzten Jahren versagt. Ich möchte das an einigen Beispielen belegen.
Das Verfassungsgericht hat schon im September 1992 entschieden, daß der geltende Einkommensteuertarif verfassungswidrig ist, weil das Existenzminimum nicht ausreichend berücksichtigt wird. Statt diesen elementaren Verstoß gegen die Steuergerechtigkeit so schnell wie möglich zu beseitigen, haben Sie, Herr Bundesfinanzminister, eine Lösung auf die lange Bank geschoben, auf den letzten möglichen Zeitpunkt vertagt. Das zeigt, daß Sie an der Herstellung von Steuergerechtigkeit gar kein eigenes Interesse haben.
Sie müssen vom Verfassungsgericht getrieben werden. Ihnen fehlt das Engagement für soziale Gerechtigkeit, Herr Dr. Waigel.
Da setzen Sie, von Ihnen handverlesen, eine Sachverständigenkommission ein, geben ihr einen umfassend formulierten Auftrag, erzählen in der Öffentlichkeit, Sie bräuchten die Arbeitsergebnisse dieser Sachverständigenkommission. Und wenn die Sachverständigen ihre Arbeit auftragsgemäß vorlegen, hauen Sie sie in die Pfanne, und in welchem Stil! Dies ist Arroganz der Macht.
Aber die politische Wirklichkeit ist noch viel schlimmer, wie der gesamte Ablauf deutlich macht. Sie haben die Kommission doch nur deswegen so spät eingesetzt, damit ihre Arbeitsergebnisse nicht vor der Bundestagswahl herauskommen.
Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Faltlhauser?
Bitte, gern.
Herr Kollege Faltlhauser, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Poß, heißt Ihre Kritik an dem Verfahren um das Gutachten von Herrn Professor Bareis, daß Sie die Gegenfinanzierungsvorschläge von 33,7 Milliarden DM in diesem Umfang mit realisieren wollen? Nehmen Sie das positiv auf, oder wollen Sie das mit wesentlichen Teilen dieser Gegenfinanzierung tun? Falls das nicht der Fall ist, frage ich Sie, welches Gegenkonzept Sie haben.
Sie wissen ganz genau: Damit ist nicht gemeint, daß man diese Gegenfinanzierungsvorschläge blind aufnimmt. Gemeint ist damit, daß dieses Gutachten wirklich zur Grundlage von Beratungen gemacht wird, daß man nicht im Kämmerchen schon eine Lösung nur unter Finanzaspekten erarbeitet hat und sich eine Auftragsarbeit bestellt, die man im Wahlkampf als Alibi benutzt, um keine Auskunft geben zu müssen. Dies ist der Punkt, um den es hier geht.
Lassen Sie eine Zusatzfrage zu?
Bitte.
Heißt das, Herr Kollege Poß, daß Sie die massiven und fast beleidigenden Kritikpunkte und Anwürfe aus den Reihen Ihrer eigenen Fraktion gegen die Kommission, die nach dem Vorlegen des Gutachtens geäußert wurden, auf diese Weise zurücknehmen wollen?
Aus meiner Fraktion wurden einzelne Vorschläge sehr kritisch — teilweise zu Recht — kommentiert. Das bezog sich aber nicht auf die Kommission und ihre Arbeit insgesamt.
Sie haben das als Trick benutzt, Herr Dr. Waigel, um vor der Wahl behaupten zu können, Sie könnten noch nicht so genau sagen, wie Ihre Steuerpolitik 1995/96 aussehen wird, weil Sie die Kommissionsergebnisse abwarten wollten. Sie wollten Ihre eigenen Pläne verstecken.
Das war der Hintergrund. Das Bareis-Gutachten war noch nicht einmal übergeben, da hatten Sie es schon verurteilt. So kann man mit Gutachtern nicht umgehen. Das war ein Mißbrauch des steuerrechtlichen Sachverstands der Kommission, ein mieses Spiel und ein lange geplantes Täuschungsmanöver gegenüber der Öffentlichkeit.
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Joachim Poß
Ich werfe Ihnen vor: Mit dem von Ihnen jetzt präsentierten Vorschlag wollen Sie sich an den Vorgaben des Verfassungsgerichts vorbeimogeln. Der von Ihnen selbst in einer Mischung aus Selbstgefälligkeit und Eitelkeit als „Quadratur des Kreises" gelobte Vorschlag erfüllt kein einziges der notwendigen oder von Ihnen selbst genannten Ziele. Zunächst ist festzuhalten: Sie wollen nur ein Einkommen bis zur Höhe von 12 000 DM freistellen. Dabei hat das Verfassungsgericht bereits für den Zeitraum von 1992 bis 1994 einen Betrag von 12 000 bis 14 000 DM für erforderlich gehalten.
Da nach Ansicht des Verfassungsgerichts das steuerfrei zu stellende Existenzminimum sich an dem Niveau der durchschnittlichen Sozialhilfeleistung zu orientieren hat, muß, wie auch die von Ihnen selbst eingesetzte Kommission festgestellt hat, für 1996 von einem Betrag von mindestens 13 000 DM ausgegangen werden.
Herr Waigel, Ihr Vorschlag führt dazu, daß die Bezieher kleiner Einkommen weiter in verfassungswidriger Weise zuviel Steuern zahlen sollen.
Sie treten heute morgen hier wie der Weihnachtsmann auf, der den kleinen Leuten eine Vorfreude verkünden kann, als würde er ihnen sozusagen nach eigenem Gusto ein Weihnachtsgeschenk offerieren. Dabei setzen Sie noch nicht einmal das Verfassungsgerichtsurteil um.
Das ist aber nicht alles, womit Sie die erstaunte Öffentlichkeit überrascht haben. Sie stellen auch eine tragende Säule unseres Einkommensteuerrechts in Frage. Sie wollen den Grundfreibetrag einfach abschaffen. Sie wollen statt dessen einen besonderen Abzugsbetrag einführen. Allerdings soll dieser Abzugsbetrag eine Steuerminderung nur bis zu einem Jahreseinkommen von 30 000 DM bewirken. Der von Ihnen vorgesehene schnelle Abbau des neuen Abzugsbetrags führt zu dem von Frau MatthäusMaier so genannten Buckeltarif mit dem KleineLeute-Berg.
Damit geben Sie faktisch den linear-progressiven Tarif auf. Die Grenzbelastung steigt für Einkommen bis 30 000 DM bzw. 60 000 DM um bis zu acht Prozentpunkte gegenüber dem geltenden Recht und sinkt für höhere Einkommen wieder.
Das heißt, zitiert nach einer für Sie vollkommen unverdächtigen Quelle, nämlich der „FAZ", in Zahlen: Der Fiskus behält bei Kleinverdienern von jeder zusätzlich verdienten Mark bis zu 33 Pfennig ein, während es bei Personen, die mehr verdienen, nur 25 Pfennig sind. Dieser Belastungsbuckel ist nicht zu rechtfertigen.
Die Versprechungen in den Wahlprogrammen von CDU/CSU und F.D.P. werden dadurch übrigens gebrochen.
In diesen Programmen hieß es nämlich: Es gibt keinen Anstieg der Grenzbelastung.
Einen derartigen Tarifverlauf mit willkürlichen und gleichheitswidrigen Progressionssprüngen hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Beschluß von 1992 ausdrücklich als verfassungswidrig ausgeschlossen. Der Vorsitzende Ihrer Kommission, Herr Bareis, hat dementsprechend auch nur ein vernichtendes Urteil für diesen Tarif übrig. Er erklärte: „Die Pläne sind noch schlimmer, als wir erwartet haben. Sie gehören zu den schlechtesten denkbaren Lösungen. " Und: „Ein solch verkrüppelter Tarif wäre bei der Expertenkommission unverzüglich im Papierkorb gelandet. "
Herr Waigel, Ihre „Quadratur des Kreises" ist in Wirklichkeit ein häßliches Viereck, und zwar ein Viereck aus vier Täuschungen: Sie besteuern weiterhin das Existenzminimum in verfassungswidriger Weise, Sie schaffen de facto den linear-progressiven Tarif ab, Sie erhöhen die Grenzbelastung für ca. 40 % = 8,6 Millionen Steuerbürger, und Sie können den Steuerausfall nicht, wie von Ihnen angegeben, auf 15 Milliarden DM begrenzen.
Gegenüber den bisherigen Ansätzen in der Steuerschätzung für 1996 führt Ihr Modell nämlich zu einem Steuerausfall von insgesamt fast 20 Milliarden DM. Der Grund für diesen höheren Steuerausfall liegt in der Tatsache, daß Sie unter dem Deckmantel einer Steuerfreistellung des Existenzminimums eine damit in keinem inhaltlichen Zusammenhang stehende Tarifsenkung für Spitzenverdiener vorschlagen. Diese verfassungsrechtlich überflüssige Tarifsenkung führt dazu, daß verheiratete Spitzenverdiener jährlich um 1 536 DM entlastet werden, während die verheirateten Normalverdiener eine Entlastung von jährlich nur 250 DM erhalten sollen.
Dies ist nur ein Sechstel der Entlastung der Spitzenverdiener. Daß ausgerechnet in dieser finanzpolitisch schwierigen Zeit, in der die Bundesregierung von allen Steuerpflichtigen einen Solidaritätszuschlag erhebt und das Verfassungsgebot der Steuerfreistellung des Existenzminimums unterlaufen will, der Bundesfinanzminister Geld für eine Steuersenkung auf Pump für Spitzenverdiener hat, ist ein Skandal für sich.
Eine der wenigen konkreten Festlegungen in den Koalitionsvereinbarungen lautet: Die Gewerbekapitalsteuer soll zum 1. Januar 1996 abgeschafft werden. Aber bis heute haben Sie, Herr Bundesfinanzminister, nicht dargelegt, wie Sie den hierdurch eintretenden Steuerausfall von 7 Milliarden DM jährlich — die
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Joachim Poß
Länder sagen 8 Milliarden DM — für die Städte und Gemeinden ausgleichen wollen.
Das soll nur der Anfang sein. Nach der Koalitionsvereinbarung will die Regierungskoalition die Gewerbesteuer sogar vollständig abschaffen. Das würde insgesamt einen Steuerausfall von 30 Milliarden DM bedeuten. Ich habe angesichts der großen Probleme in vielen unserer Städte, gerade in den strukturschwachen Städten, sehr großes Verständnis dafür, daß die Städte und Gemeinden diese Pläne ablehnen und sie als einen schwerwiegenden Angriff auf die kommunale Autonomie ansehen.
Daher frage ich Sie, Herr Finanzminister: Was ist Ihre Konzeption? Wie stellen Sie sich den vollen Ausgleich und den gleichwertigen Ersatz vor? Ist es der Vorschlag des Fraktionsvorsitzenden Schäuble, bei einem Wegfall der Gewerbesteuer die Lohn- und Einkommensteuer um 30 Milliarden DM jährlich anzuheben und ein Hebesatzrecht auf die Einkommensteuer für die Kommunen einzuführen? Herr Schäuble müßte wissen, daß sein Vorschlag im Klartext bedeutet: Eine Lohn- und Einkommensteuererhöhung um 30 Milliarden DM wäre eine Anhebung um rund 9 % und damit eine noch größere Steuererhöhung als jetzt der Solidaritätszuschlag mit 7,5 %.
Warum soll ausgerechnet die Masse der normal verdienenden Arbeitnehmer milliardenschwere Steuersenkungen für eine kleine Zahl gewinn- und kapitalstarker Großunternehmen finanzieren? Im übrigen hat das Bundesfinanzministerium, u. a. auf Fragen von mir, derartige Modelle in der Vergangenheit geprüft und verworfen.
Nachdem Herr Schäuble bereits im Frühjahr angekündigt hat, er arbeite an einem steuerpolitischen Konzept, das u. a. eine Erhöhung von Verbrauchsteuern, eine Anhebung der Vermögensteuer sowie die Einführung der Straßenbenutzungsgebühr vorsieht, muß man doch nach dem erneuten Vorstoß von Herrn Schäuble ernsthaft fragen, wer denn nun die Steuerpolitik innerhalb der Koalition bestimmt. Finanzminister Waigel, der sich in immer chaotischeren Einzelregelungen verfängt, ist offensichtlich nicht in der Lage, sich gegen die Pläne von Herrn Schäuble zu wehren.
Ich fordere daher den Herrn Bundeskanzler auf, morgen hier in der Debatte klipp und klar zu sagen, ob seine Zusagen gegenüber den Städten und Gemeinden, daß das Gewerbesteueraufkommen erhalten und die kommunale Finanzautonomie gewahrt bleiben, noch gelten.
Der Bundeskanzler muß hier verbindlich erklären, ob die Bundesregierung die Lohn- und Einkommensteuer oder die Umsatzsteuer zur Finanzierung einer Senkung der Gewerbesteuer erhöhen will.
Meine Damen und Herren von der Koalition, jetzt nach der Wahl können Sie doch offen und ehrlich sagen, was die Koalition in der Steuerpolitik tatsächlich will — wenn Sie es wissen.
— Sie wollen die Landtagswahlen in Hessen abwarten; den Eindruck habe ich auch.
Unser Steuerrecht droht im Chaos zu versinken. Die meisten Steuerpflichtigen verstehen die Steuergesetze nicht mehr. Selbst Steuerbeamte und Steuerberater sind zunehmend nicht mehr in der Lage, das steuerrechtliche Regelungsdickicht zu durchschauen. Obwohl die Bundesregierung von Steuervereinfachung redet, leistet sie keine eigenen Beiträge dazu. Sie kompliziert das Steuerrecht ständig weiter. Man hatte in der letzten Periode bei der Schaffung verschiedener Einkommensbegriffe usw. nicht selten den Eindruck, als seien im Bundesfinanzministerium auch die letzten steuersystematischen Sicherungen durchgebrannt.
Die von Steuerrechtler Professor Lang vorgenommene Bewertung „Die Chaoten machen weiter" hat sich also leider bestätigt. Denn auch die in den von Herrn Waigel vorgelegten sogenannten 20 Punkten zur Steuervereinfachung enthaltenen Vorschläge sind nicht dazu geeignet, zu einer tatsächlichen Steuervereinfachung beizutragen. Die Vorschläge sind Punkt für Punkt ein Flop.
Die SPD dagegen will das Steuerrecht in wichtigen Bereichen materiell vereinfachen und nicht nur an Symptomen herumkurieren. Frau Matthäus-Maier hat das am Beispiel des Familienlastenausgleichs erläutert; ich kann mir das sparen. Das führt dazu, daß Tausende von Stellen frei werden, die sinnvoller eingesetzt werden können. Auf dieser Ebene muß man reden. Herr Solms hat ja ein solches Angebot hier formuliert.
Bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht ist es ganz ähnlich wie bei der Steuervereinfachung: Die Bundesregierung redet zwar davon, aber wenn es ernst wird, tut sie nichts. Statt die Steuerhinterziehung nur als Kavaliersdelikt zu behandeln, muß die Bundesregierung endlich ihre Grundeinstellung ändern und konkrete Maßnahmen ergreifen.
Nur so kann die Steuerhinterziehung als Diebstahl an der Allgemeinheit geächtet werden. Zur wirksamen Bekämpfung der Steuerflucht ist es auch erforderlich, der Verlagerung von Steuern ins Ausland entgegenzuwirken und auf europäischer Ebene entschlossen
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Joachim Poß
und glaubwürdig eine Harmonisierung der Zinsbesteuerung voranzutreiben.
Herr Kollege Poß, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Herr Präsident, mir wurde gesagt, ich bekäme von meiner Fraktion noch einige Sekunden Redezeit dazu.
Das müßte Ihre Fraktion dem amtierenden Präsidenten sagen. Außerdem weiß ich gar nicht, ob Ihre Fraktion noch Zeit zur Verfügung hat.
Leider ist der Bundesfinanzminister auch hier gescheitert. Großspurig hatte die Bundesregierung vor der Bundestagswahl angekündigt, sie werde in der Zeit der deutschen EU- Präsidentschaft eine Harmonisierung der Zinsbesteuerung durchsetzen. Das Ergebnis, das jetzt vorliegt, ist mehr als dürftig. Eine deutsche Tageszeitung hat mit dem Spruch, den wir alle kennen, treffend kommentiert: „Der Bundesfinanzminister ist gestartet wie ein Löwe und gelandet wie ein Bettvorleger."
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Vielen Dank, Herr Präsident, daß ich diesen Satz noch aussprechen durfte. Sonst haben wir hier am Rednerpult gelegentlich schon positive Erfahrungen machen können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich muß noch einmal klarstellen: Die Redezeiten sind vereinbart. Wenn jemand längere Redezeit beansprucht, muß dies die Fraktion rechtzeitig anmelden. Wenn aber gar keine Zeit mehr zur Verfügung steht, dann sehe ich mich mit Blick auf die anderen Fraktionen außerstande, die Redezeit zu verlängern. Sie haben eh fast zwei Minuten länger geredet, Herr Poß.
Als nächster hat der Kollege Hansgeorg Hauser das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochen haben wir sehr viel über Farbenlehre lesen und hören können. Lassen Sie auch mich an diesen Gedanken anknüpfen: Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Grün die Farbe der Hoffnung, Rot die Farbe der Liebe und Schwarz die Farbe der Finsternis.
Wie anders stellt sich das in der politischen Farbenlehre dar: Da steht Grün für die Behinderung des
Wirtschaftsstandortes Deutschland und damit den Verlust von Arbeitsplätzen.
Was uns bei einer rot-grünen Koalition auf Bundesebene erwartet hätte, zeigt die industriefeindliche Politik der Landesregierung in Hessen,
in der Joschka Fischer Minister war und Hans Eichel zur Zeit noch Regierungschef ist. Aber das wird sich sehr bald ändern. Gentechnik, mit der hochqualifizierte Arbeitsplätze zusammenhängen, gibt es in Hessen nicht mehr. Auch die Uranbrennelemente werden nun künftig im Ausland produziert.
Ich zitiere die „Frankfurter Neue Presse" vom 10. Dezember 1994:
Hessenfürst Hans Eichel kann durchaus stolz sein, daß seine Politik Arbeitsplätze schafft, zwar nicht bei uns, aber in den USA.
Rot steht in der politischen Farbenlehre für Neid, immer höhere Belastungen der Leistungsträger unserer Gesellschaft — der sogenannten Besserverdiener —, immer mehr Reglementierungen der Bürger
und rückwärtsgewandte sozialistische Ideologie.
Wann setzt sich denn endlich bei dem „Betriebsrat der Nation" die Erkenntnis durch, daß wir die Rahmenbedingungen für den Standort Deutschland verbessern müssen, damit wir Anschluß an die Weltspitze halten, unsere Industrie wieder verstärkt im Inland investiert und wir damit wieder mehr Arbeitsplätze schaffen? Die echten Betriebsräte an der Basis haben diese Probleme schon längst erkannt. Die überholten Umverteilungsideologien sind doch Gift für unsere Wirtschaft und für die Gesellschaft.
Die politische Farbe Schwarz und ihr weiß-blaues Kernstück
stehen dagegen für Aufschwung, Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und mittelfristige Entlastung der Leistungsträger.
Wir werden die Staatsquote bis zum Jahr 2000 auf das bereits 1989 mit konsequenter Konsolidierungspolitik erreichte niedrige Niveau absenken.
Der Entwurf des jetzt eingebrachten Bundeshaushaltes 1995 und die Fortschreibung der Finanzplanung
verfolgen diesen eisernen Weg der Sparsamkeit. Das
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Hansgeorg Hauser Haushaltsmoratorium gilt für diese Legislaturperiode unverändert weiter.
Die Kollegen Roth und später auch Austermann haben die weitergehende Konsolidierung dargestellt bzw. werden sie darstellen. Ich möchte auf die steuerpolitischen Zielsetzungen eingehen.
Haushalt — die Ausgabenseite — und Steuerpolitik — die Einnahmenseite — sind die beiden Seiten einer Medaille, deren Glanz wir nicht durch sozialistische Experimente ankratzen lassen.
Was hat doch der Vorsitzende der SPD — er ist jetzt leider nicht mehr hier — in seiner Tutzinger Rede entlarvend über seine eigene Partei gesagt? Ich zitiere aus der „Frankfurter Rundschau" vom 2. Dezember 1994:
Wir
— damit meint er also seine SPD —
sind ... als Partei noch längst nicht so weit, daß wir auch nur annähernd als ein Ort wahrgenommen werden, an dem über die Zukunft unseres Landes — interessenintegrierend und Konzepte formulierend — nachgedacht wird.
Dem braucht man wahrlich nichts hinzuzufügen. Diese Partei wollte die Regierung übernehmen. Das wäre eine absolute Katastrophe geworden.
Meine Damen und Herren, uns Finanzpolitikern steht eine Fülle von Aufgaben in dieser Legislaturperiode bevor. Zentrales Thema für das nächste Halbjahr ist das Jahressteuergesetz 1996, auf das ich anschließend noch näher eingehen werde.
Es stehen an die Folgerungen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Kohlepfennig. Verehrter Herr Kollege Poß, hierbei geht es ja nicht nur um die Bergmannsfamilien, die Sie zitiert haben. Leider werden von den Subventionen ja noch weit mehr Menschen erfaßt, und darüber sollten wir uns einmal unterhalten.
Das wird für uns eine gemeinsame Aufgabe für die Zukunft sein. Diese Fragen müssen wirklich sehr sorgsam erörtert werden. Wir können uns in diesem zugegebenermaßen sehr sensiblen Bereich keine Schnellschüsse leisten.
Wir erwarten etwa Mitte des Jahres die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zu den Einheitswerten. Unsere Position dazu steht insoweit fest, als wir jedenfalls keine Verkehrswerte, keine neuen Belastungen wollen.
Die Finanzverfassung muß geändert werden, weil wir den Gemeinden einen fairen Ausgleich für den Wegfall der Gewerbesteuer geben wollen. Diese Sondersteuer — der Finanzminister hat das auch schon
ausgeführt — für deutsche Unternehmen muß endlich fallen.
Sicherlich besteht auch hier Diskussionsbedarf über den Weg des Ausgleichs: Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer oder Hebesatzrecht der Gemeinden an der Einkommensteuer. Jedenfalls darf das System nicht kompliziert sein, und es muß auch das Interesse der Gemeinden an Gewerbeansiedlungen gewahrt bleiben.
Weiterhin müssen Richtlinien und Vorlagen der Europäischen Union rechtzeitig vor der Verabschiedung beraten werden. Das Parlament muß auch vor den weiteren Stufen der Währungsunion eingebunden werden.
Ich lade — das gilt auch für die anderen Themen — die Opposition herzlich ein, im Interesse unseres Landes und seiner Bürger und Unternehmen eine vernünftige Politik mitzugestalten. Herr Poß, diese Aufforderung geht besonders an Sie und Ihre Arbeitsgruppe „Finanzen". Ich denke, daß wir diese Themen in unserer sachlichen Art werden behandeln können.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr, ja.
Herr Kollege Hauser, Sie sprachen eben von günstigen Rahmenbedingungen, die durch die Farbe Schwarz geschaffen würden, und von der Lage der Städte und Gemeinden. Harsche Kritik an der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer übt aber der Vorsitzende des Bayerischen Städtetages. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kampfansage an die Städte und Gemeinden" . Es reiße riesige Löcher in die kommunalen Finanzen, sagt er in diesem Monat. Welches ist ganz konkret der vollwertige Ausgleich, und wann greift der Ausgleich? Was sagen Sie Herrn Deimer von der CSU, Oberbürgermeister in Landsberg?
Liebe Frau Kollegin, Herr Deimer ist Oberbürgermeister von Landshut. Wenn Sie sich, wie ich, mit diesem Thema schon längere Zeit beschäftigt hätten, dann wüßten Sie, daß es eine Fülle von Vorschlägen des Städtetages gibt , der sich sehr wohl für eine Beteiligung an der Umsatzsteuer erwärmen kann. Es gibt auch andere Vorschläge. Diese Vorschläge müssen wir gemeinsam diskutieren. Wir haben es als Konzept festgelegt, daß wir die Gewerbesteuer und in einem ersten Schritt die Gewerbekapitalsteuer abschaffen wollen. Es macht keinen Sinn, daß ein Betrieb, der Verluste produziert, dafür noch Steuern zahlen muß. Das ist eine Wettbewerbsbehinderung ohnegleichen. Diese Verbesserung der Rahmenbedingungen müssen wir erreichen.
Zentrales Thema ist, wie schon erwähnt, das Jahressteuergesetz 1996 mit den vier Hauptelementen:
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Hansgeorg Hauser
Freistellung des Existenzminimums, Fortsetzung der Unternehmensteuerreform, weitere Verbesserung des Familienleistungsausgleichs und die Steuervereinfachung.
— Ich weiß nicht, ob Sie sich überhaupt schon einmal mit Gesetzen beschäftigt haben. Das ist der Inhalt des Jahressteuergesetzes mit den vier Teilen. So ist das vorgesehen. Daran werden Sie auch mit Ihren Zwischenrufen nichts ändern.
Mit dem vorliegenden Entwurf ist es Finanzminister Waigel gelungen, die vielschichtige Problematik der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums trotz des vorgegebenen engen Finanzrahmens umfassend und gerecht zu lösen. Die Kritik aus den Reihen der SPD ist offensichtlich ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit. Der Finanzminister hat nicht nur der SPD den Wind aus den Segeln genommen, sondern auch viele Pessimisten überrascht. Mit seinem Konzept ist es ihm gelungen, die Vorgaben des Verfassungsgerichtes voll umzusetzen, die unteren Einkommen freizustellen, ohne den Mittelstand zusätzlich zu belasten, wie es das SPD-Modell vorsieht.
Hauptkritikpunkt ist die angeblich zu hohe Progressionssteigerung bei den unteren Einkommen, die als „Geringverdienerbauch" bezeichnet wird. Für mich ist es ein durchsichtiges Manöver, weil man hier auf den Mittelstandsbauch des früheren Tarifs anspielen und unterstellen will, daß eine leistungsfeindliche Besteuerung stattfindet.
Ein Blick auf die Tatsachen entlarvt diese Kritik allerdings schnell als pure Vernebelungstaktik. Auch der neue Tarif bleibt linear progressiv und leistungsfreundlich, denn die Freistellung des Existenzminimums erfolgt durch eine außertarifliche Steuerentlastung, eine Grundentlastung, die mit steigendem Einkommen abgeschmolzen wird und bei 30 000 bzw. 60 000 DM ausläuft. Diese außertarifliche Regelung hat keinen Einfluß auf den linear-progressiven Tarifverlauf.
Es gibt innerhalb und außerhalb des Steuerrechts zahlreiche entlastende Regelungen, die mit steigendem Einkommen reduziert werden bzw. bei Überschreiten von Einkommensgrenzen völlig entfallen. Niemand ist bisher auf die Idee gekommen, in diesem Zusammenhang von einer Progressionsverschärfung zu reden. Es ist deshalb willkürlich und an den Haaren herbeigezogen, in eine graphische Darstellung der Grenzbelastung des Tarifs den außertariflich geregelten Abbau der Grundentlastung hineinzurechnen und den so entstehenden kleinen Bauch in einer völlig überzogenen Weise als Mangel des Tarifs anzuprangern. Es ist schon bezeichnend, daß man Schaubilder zeigt, auf denen diese Entwicklung überdimensional dargestellt wird, um zu suggerieren, daß es sich hier um eine riesige Benachteiligung handelt.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Grundsatzbeschluß vom September 1992 ausdrücklich festgestellt, daß die steuerliche Freistellung des Existenzminimums nicht bedeutet, daß jeder Steuerpflichtige vorweg in Höhe eines nach dem Existenzminimum bemessenen Freibetrags verschont werden muß, sondern es dem Gesetzgeber freigestellt ist, in
welcher Weise er der verfassungsrechtlichen Vorgabe Rechnung trägt. Erforderlich ist lediglich, daß von den das Existenzminimum übersteigenden Einkommensteilen dem Steuerpflichtigen jeweils angemessene Beträge verbleiben und kein Progressionssprung stattfindet, der die vertikale Gleichheit geringerer Einkommen im Verhältnis zu höheren außer acht läßt. Das können Sie in dem Beschluß ausführlich nachlesen.
Angesichts dieser klaren gerichtlichen Äußerung kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Vorschlag zur Freistellung des Existenzminimums verfassungskonform ist.
Denn die Entlastungsbeträge vermeiden im wirtschaftlichen Ergebnis einen Progressionssprung und stellen auch unter Berücksichtigung des Abbaus der Grundentlastung sicher, daß den Steuerpflichtigen jeweils angemessene Beträge im Sinne der Entscheidung des Gerichtes verbleiben. Ebenso wird die vertikale Gleichheit beachtet, da die durchschnittliche Belastung auch unter Einschluß der Steuerfreistellung kontinuierlich wächst.
Niedrige Einkommen — das ist heute in einer Art und Weise vom Tisch gewischt worden, die unbeschreiblich ist — bis zum Existenzminimum von rund 12 000/24 000 DM werden zu 100 % entlastet.
Man konnte hier den Eindruck bekommen, als würden die niedrigen Einkommen jetzt noch zusätzlich mit Steuern belastet. Das stimmt doch alles nicht.
Mit steigendem Einkommen nimmt dann die Entlastung ab und sinkt bei Spitzeneinkommen auf unter 2%.
So beträgt beispielsweise die Entlastung bei einem zu versteuernden Einkommen von 13 000 DM 74,5 %, bei 20 000 DM sind es immer noch 26 %,
bei 50 000 DM sind es 2,4 %, und bei 122 364 DM sind es 1,8 %.
— Frau Matthäus-Maier, Sie hatten ausführlich Gelegenheit, sich darzustellen, zu produzieren und eine Schau abzuziehen. Wir haben die Zahlen auf den Tisch gelegt. Bei einem zu versteuernden Einkommen von 122 364 DM — das ist der Beginn des Spitzensteuersatzes für Ledige — beträgt die Entlastung gerade noch 1,8 %.
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Die soziale Ausgewogenheit der Regelung zeigt sich auch darin, daß der weit überwiegende Teil der Gesamtentlastung den unteren Einkommen zugute kommt. So erhalten die unteren 50 % der Steuerzahler 70 % des Entlastungsvolumens. Die Kritik der SPD wegen einer angeblich sozialen Unausgewogenheit der Vorschläge kann angesichts dieser Fakten nur als heuchlerisch bezeichnet werden.
Der für 1996 vorgesehene Betrag von 12 095 DM bzw. 24 191 DM bleibt über dem Existenzminimum. Hierfür spricht auch, daß für 1995 ein Freistellungsbetrag in einer Größenordnung von 11 000 DM statt des gesetzlich festgesetzten Freistellungsbetrages von 11 500 DM ausreichend wäre.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß wir bereits 1993 mit der Übergangsregelung das Existenzminimum von der Steuer freigestellt haben. Es ist deshalb unzutreffend, wenn immer wieder gesagt wird, wir hätten den Beschluß des Verfassungsgerichtes nicht rechtzeitig umgesetzt.
Die Neuregelung des Existenzminimums bedeutet, daß 1,5 Millionen Haushalte völlig aus der Steuerpflicht herausfallen. Die Kritik an einer angeblichen Leistungsfeindlichkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen ist deshalb nicht nachvollziehbar. Es ist gerade die SPD, die mit ihren Vorstellungen, z. B. dem Schleußer-Modell, Steuerpflichtige bereits mit einem zu versteuernden Einkommen vom 50 000 DM bei Ledigen stärker zur Kasse bitten will.
Die SPD zeigt auch damit wieder ihren Charakter als Steuererhöhungspartei; denn sie will, daß alle, die mehr als 50 000 DM verdienen, mit höheren Steuerabzügen belastet werden. Gerade das ist für den Mittelstand Gift, denn dadurch wird jeglicher Leistungsanreiz genommen.
Alle Kritiker müssen sich die Frage gefallen lassen, wie sie ihre weitergehenden Vorschläge mit den daraus resultierenden weitaus größeren Steuerausfällen angesichts der engen haushalts- und finanzpolitischen Spielräume finanzieren wollen. Das gilt auch für manche Wissenschaftler, die vergessen, daß zur Umsetzung ihrer Vorschläge parlamentarische Mehrheiten erforderlich sind. Dabei könnten die Vorschläge der sogenannten Bareis-Kommission durchaus bedacht werden, um Spielräume für weitergehende Entlastungen zu gewinnen.
Ich darf noch einmal in aller Deutlichkeit sagen, daß der Finanzminister nicht die Bareis-Kommission in irgendwelchen kritischen Äußerungen verdammt hat. Vielmehr hat er gesagt: Die gemachten Vorschläge sind in der zur Verfügung stehenden Zeit absolut nicht umsetzbar. Das Problem dabei ist, daß wir einen Gegenfinanzierungsbedarf haben, der in dieser kurzen Zeit nicht zu decken ist. Die Einzelvorschläge sind schon gar nicht in allen Punkten umsetzbar.
Mein Problem ist, daß wir für die Umsetzung solcher Vorschläge die Bereitschaft aller Betroffenen einschließlich der Wirtschaft und der Gewerkschaften brauchen. Leider herrscht überall das Sankt-FloriansPrinzip vor, so daß wir hier nicht zurechtkommen können.
Ein Problem möchte ich noch ganz kurz ansprechen: Das ist die Entwicklung, daß eine immer kleinere Gruppe von Steuerzahlern einen immer größeren Anteil am Steueraufkommen erbringen muß. Mittelfristig müssen wir daher auch die Steuern im mittleren und höheren Bereich wieder senken, wenn wir die Leistungsbereitschaft der Bürger nicht behindern wollen.
Das Wort hat der Abgeordnete Metzger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus dem Mund von Theodor Waigel verlautete am bayerischen Wahlabend, nachdem die CSU die absolute Mehrheit bekommen hatte: Ich bin ein Gottesgeschenk.
Wie viele Gottesgeschenke brauchen Sie als Finanzminister, Herr Waigel, urn die finanziellen Risiken, die über Ihrem Bundeshaushalt 1995 schweben, in Zukunft meistern zu können?
Sie haben sich heute morgen in Schale geworfen und in Szene gesetzt, indem Sie gesagt haben: Die Konjunktur läuft an, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Steuerquellen sprudeln.
In Wirklichkeit haben Sie in der Steuerschätzung für nächstes Jahr gerade mal 3,5 Milliarden DM zusätzliche Einnahmen veranschlagt. Der Sockel an Arbeitslosigkeit, der aus jeder Krise zurückbleibt, wird um ein Vielfaches mehr kosten, als der Aufschwung nach der letzten Konjunkturkrise erbracht hat. Wir haben jedesmal einen Sockel von mindestens 500 000 zusätzlichen Arbeitslosen.
Herr Waigel, wir hätten gerne Antworten, und zwar von den Regierungsparteien. Sie stellen sich heute hin und machen aus der Not eine Tugend. Sie sagen: Bringt uns doch als Opposition Konzepte! Sie haben eine so knappe Mehrheit, daß bei jedem Einsparvorschlag Ihrer Regierung sofort ein betroffener Lobbyist aufheult und die Regierungsfähigkeit daran scheitert.
Das ist doch das Problem. Deshalb hören wir von Ihnen keine Antworten.
Wie wollen Sie eine Unternehmensteuerreform mit 30 Milliarden DM Volumen finanzieren? Wie wollen Sie die Freistellung des Existenzminimums, die insgesamt 15 Milliarden DM kostet, finanzieren? Wie wollen Sie den Scheck über die Bahnreform, der im Jahre 1996 mit 6 Milliarden DM noch nicht gedeckt ist,
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Oswald Metzger
einlösen? Wie wollen Sie die langfristigen Risiken finanzpolitischer Art in dieser Gesellschaft in den Griff bekommen, die da lauten: Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsfonds für die politisch schwachsinnige gesetzliche Regelung im Rahmen der deutschen Vereinigung „Entschädigung vor Rückgabe"? Wie wollen Sie diese Risiken abfedern?
Wie wollen Sie beispielsweise der Tatsache Rechnun tragen, daß die Pensionsbereitstellungen im Bundeshaushalt wegen der Beamtenpensionen verhältnismäßig stark steigen und die Versorgungslasten für den Bundeshaushalt deshalb in Zukunft eine Erblast darstellen?
Für viele dieser Fragen gibt es keine Antworten. Als jemand, der aus der Kommunalpolitik kommt, weiß ich eine Antwort, die Ihnen auch die CDU-, CSU- Bürgermeister, -Oberbürgermeister und -Landräte singen: Der Bund hat die Möglichkeit, Kosten nach unten, auf die Kommunen, wegzudrücken. Das hat er in der Vergangenheit mit einer Fülle von gesetzlichen Regelungen gemacht.
Die Planung, die im Bereich der Arbeitslosenhilfe ansteht, besagt nichts anderes, als daß Sie an Ihrer ursprünglichen Konzeption festhalten. Dadurch, daß Sie das erst im Oktober nächsten Jahres finanzwirksam in Szene setzen, haben wir die jährliche Belastung der Kommunen von 4 Milliarden DM auf 1 Milliarde DM im Jahre 1995 reduziert. Das heißt doch im Klartext: Man führt eine gespenstische Debatte über Sozialmißbrauch — zu der sich jetzt auch die Sozialdemokraten verführen lassen —,
um damit einen Generalangriff auf die Kommunen vorzubereiten. Wo bleibt der Soziallastenausgleich des Bundes für die Gemeinden,
die die Kosten der Reparaturpolitik zahlen, weil hier keine Arbeitsmarktpolitik gemacht wird?
Es gibt eine Fülle von Aufgaben, deren Lösung nach der Fachdiskussion der entsprechenden Gremien einen Konsens erforderlich macht. Joschka Fischer hat in seiner Rede zur Regierungserklärung gesagt, wir werden keine Opposition der Dämlichkeit in diesem Parlament sein. Deshalb werde ich auch einen Teufel tun und hier nur angreifen und keine Konzepte oder wenigstens Ideen einbringen. Wir werden dies auch im Haushalts- und im Finanzausschuß machen. Sie können uns dann an unseren Taten messen und nicht nur an parlamentarischen Fensterreden.
Jetzt komme ich zum Thema „Wo gibt es Rezepte?".
Ich habe mich gefreut, als ich in der Regierungserklärung den schlichten Satz gelesen habe: Der Bund will seine Hausaufgaben machen, die die Gemeinden schon seit zwei Jahren machen, seit ihnen nämlich das Wasser bis zum Hals steht, und betriebswirtschaftliche Elemente bei der öffentlichen Leistungserbringung stärker zur Geltung bringen.
Diese Konzepte, nämlich dezentrale Ressourcenverantwortung, Abflachung von Hierarchien — in der Industrie längst erprobt —, müssen wir in die öffentliche Verwaltung einbringen. Hier gibt es Ressourcen in der Leistungserbringung, die wir erst einmal mobilisieren sollten, bevor wir aus ideologischen Gründen einfach das Schlagwort der Privatisierung verwenden.
Sie können mit uns eine Haushaltsreform beschließen, die ihren Namen verdient: weg von der Kameralistik, hin wenigstens zur doppelten kaufmännischen Buchführung, zu Leistungs- und Kostenbilanzen, zum Sparen nicht nach dem Rasenmäherprinzip, sondern mit Intelligenz und Sachverstand.
Und was darüber hinaus not tut: endlich einmal eine Philippika gegen die Angriffe, daß im öffentlichen Dienst nur Pflaumen arbeiten. Wir haben im öffentlichen Dienst gute Leute beschäftigt, aber die muß man von den starren Regelungen des Dienstrechts befreien. Stellenobergrenzenverordnungen gehören beispielsweise in den Orkus geworfen. Darunter leiden nicht nur die Kommunen, die ihre guten Leute an die jeweils nächsthöhere Ebene, die besser bezahlt, ziehen lassen müssen. Darunter leiden auch der Bund und die Länder. Hier gibt es einen großen Aufgabenbedarf. Man muß natürlich auch an Besitzständen rütteln, die uns allen — im Parlament sitzt ja fast die Hälfte aus dem öffentlichen Dienst — lieb geworden sind. Hier müssen wir auch an die eigenen Pfründe gehen.
Ein weiteres Beispiel: Man kann auch intelligente Politik betreiben, ohne Kosten nach unten abzudrükken. Die Kommunen stehen mehr als wir Bundestagsabgeordnete als Zielscheibe der öffentlichen Kritik am Pranger. Jedes Bundesgesetz, das wir verabschieden, das nicht ausgegoren ist und Kosten nach unten wegdrückt, müssen die Gemeinderäte und -rätinnen, Kreisräte und -rätinnen aller Fraktionen ausbaden.
Deshalb gibt es von unten unisono diese Klage.
Ich nenne ein Beispiel: In den Bundesländern werden derzeit die ÖPNV-Gesetze gemacht bzw. sind teilweise bereits beschlossen. Ein Haupthemmnis eines vernünftigen Mitteleinsatzes im öffentlichen Nahverkehr in strukturschwachen Räumen abseits der Ballungsräume ist das Personenbeförderungsgesetz des Bundes, das bei anderer Ausgestaltung den Zugriff der Landkreise auf die Linienkonzessionen der Busunternehmen ermöglichen würde. In unserem Landkreis beispielsweise — dies ist der schwärzeste Landkreis Baden-Württembergs; der CDU-Kollege von Waldburg-Zeil kann Ihnen das bestätigen, er hat
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Oswald Metzger
das höchste Erststimmenergebnis seiner Partei in Baden-Württemberg — beklagt sich der Landrat Schneider von der CDU, daß nicht einmal die eigenen Leute der CDU-Landtagsfraktion merken, daß hier der Bund den Weg über eine Änderung des Personenbeförderungsgesetzes frei machen muß. Dann kann mit den bisherigen Subventionen des ÖPNV das Fahrgastangebot um ein Drittel erhöht werden, ohne daß zusätzliche Finanzmittel geschoben werden müssen. Dies ist ein praktisches Beispiel.
Ein weiteres Beispiel: Führen Sie im Stromeinspeisungsgesetz des Bundes, das 1991 in Kraft getreten ist, Einspeisevergütungsmindestbedingungen für KraftWärme-Kopplung ein. Sie werden einen Investitionsboom auslösen, der die Kommunen in die Lage versetzen wird, diese sinnvolle ökologische Technik einzusetzen, die auch mittelstandsfreundlich ist. Es würde viele Installationsbetriebe in die Lage versetzen, solche Dinge für rund 500 000 DM pro Blockheizkraftwerk zu bauen. Dann haben Sie eine ökologische Investition mittelstandsfreundlich verkauft, ohne daß der Bund eine zusätzliche Mark zuschießen muß. Dies ist eine intelligente Lösung.
So einfach ist es manchmal, wenn man sich den Kopf über etwas zerbricht und nicht nur vordergründig nach Milliardensparvorschlägen schielt, sondern auch daran denkt, daß das, was wir in diesem Parlament machen, Auswirkungen auf die Situation der Bürgerinnen und Bürger in ihrem Heimatort hat.
Ein letztes Wort. Frau Matthäus-Maier hat heute früh Beispiele dafür genannt, was die Freistellung des Existenzminimums von der Steuer einem Durchschnittsverdienerhaushalt pro Monat an Entlastung bringt. In einem Beispiel nannte sie als den untersten Wert eine Entlastung von 21 DM pro Monat. Ich verfolge derzeit die Presse in Oberschwaben aus der Gegend, aus der ich komme. Ich lese, daß serienweise Kreise und Gemeinden Abfall- und Abwassergebühren in einer Größenordnung erhöhen, die beim Abwasser 1,50 DM bis 2 DM pro m3 im Monat ausmacht. Das bedeutet für einen Vierpersonenhaushalt — das ist eine Folge des Wegdrückens von Kosten vom Bund auf die Länder und Gemeinden — bei 150 m3 Abwasser im Jahr Mehrkosten von knapp 300 DM im Jahr. Schon ist die Entlastung weg.
: Was hat
Abwassergebühr mit dem Bund zu tun?)
— Das hat damit zu tun, daß die Kämmerer in den Städten und Gemeinden wegen der Finanzmisere die kalkulatorischen Kosten in den Gebührenhaushalten plötzlich bis zum Gehtnichtmehr ausreizen.
— Ich weiß, wovon ich rede. Die kalkulatorischen Kosten steigen beispielsweise durch die Tatsache, daß die Anlagekapitalverzinsungssätze in der Gebührenkalkulation erhöht werden. Das alles liegt daran, daß Sie diese Politik im Bund machen.
Damit möchte ich schließen. Machen Sie Ihre Hausaufgaben im Bund, und treten Sie dann vor Ihre Kommunalpolitiker in Ihren heimatlichen Wahlkreisen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wolfgang Weng.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man neu in diesem Hause ist, ist es natürlich verhältnismäßig einfach, eine Momentaufnahme aufzuzeigen, die Entwicklung zu dieser Momentaufnahme zu unterlassen, zu unterbinden und damit diese Entwicklung in ihrer Wertigkeit auch nicht richtig darzustellen. Mein Vorredner hat natürlich nicht gesehen, daß die Gemeinden im Westen mit der deutschen Einheit und der Wirtschafts- und Währungsunion in Wirklichkeit — trotz der Warnungen aus dem Deutschen Bundestag — ihre Ausgaben eklatant nach oben gefahren haben und daß sie in diesen enormen Haushalten heute gefangen sind.
Damals gab es ein hohes Steueraufkommen; heute ist es überall knapp. Aber wenn man den Appellen von hier aus, die Haushalte sparsam zu führen, eher gefolgt wäre, dann hätte man diese schwierige Situation heute nicht.
Auszulassen, daß der Bund im Föderalen Konsolidierungsprogramm auf Grund der damaligen Mehrheitsverhältnisse gegenüber den Ländern West bei den notwendigen Umschichtungen in Richtung der Länder Ost den kürzeren gezogen hat, und hier zu sagen, was alles besser sein könnte, ist unverhältnismäßig einfach.
Ich will ein Weiteres sagen. Die Worte von seiten der GRÜNEN, daß sie an Zukunftskonzepten mitwirken würden, habe ich in den letzten zwölf Jahren so oft und an so vielen Stellen gehört — nirgendwo haben sie wirklich getragen —, daß man sie hinterfragen muß.
Sie wollten immer alles anders machen. Sie wollten z. B., je nachdem, wie sich die Dinge darstellen, unterschiedlich abstimmen. Sie wollten jeder nach seiner Auffassung abstimmen. Sie wollten sich nicht verschließen. Sie wollten immer präsent sein und ähnliches. Das alles hat am Schluß nicht gestimmt. Es wird auch in diesem Punkt wieder nicht stimmen. Die Worte haben wir wohl vernommen; aber sie sind dahergeredet.
Herr Kollege Poß, Sie haben in Ihren Ausführungen deutlich gemacht, daß Sie einer neuen Unterneh-
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Dr. Wolfgang Weng
mensteuerreform nicht zustimmen wollen. Zumindest war es so zu verstehen. An der letzten haben sie mitgewirkt in der Einsicht, daß eine solche Unternehmensteuerreform notwendig war, insbesondere um dem Mittelstand bessere Standortbedingungen zu geben und um Arbeitsplätze im Land zu halten,
die bei den Veränderungen in der Wirtschaftslandschaft und der -struktur in großem Maße in andere Länder verlagert worden sind.
Nun sagen Sie, Sie machen solche Änderungen nicht mit, Sie machen keine eigenen Vorschläge, wie eine solche Reform, wie eine solche notwendige Entlastung aussehen könnte.
Da sind Sie meines Erachtens zu kurz gesprungen. Sie müssen, wenn Sie unsere vorgeschlagenen Entlastungen ablehnen wollen, deutlich machen, wo Sie selbst Entlastungen einräumen und wie Sie sie finanzieren wollen. Denn das ist der Punkt, an dem Sie sich immer ganz schnell verabschieden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Weng, wollen Sie im Ernst behaupten, daß die Umsetzung Ihrer Vorstellungen zur Gewerbesteuer dem Mittelstand zugute kommen wird?
Ja, Herr Kollege von Larcher.
Meine Damen und Herren, der heute erneut in erster Lesung debattierte Bundeshaushalt ist der finanzpolitische Einstieg in die neue Wahlperiode und gleichzeitig ein Haushalt des Übergangs. Die Koalition und die Bundesregierung zeigen Handlungsfähigkeit. Was wir den Wählern vor der Wahl, auch bei der ersten Lesung dieses Haushalts im September und im Wahlkampf gesagt haben, daß wir einen klaren Kurs der Haushaltskonsolidierung fortführen würden, wird jetzt schnellstmöglich in Angriff genommen. Die Bürger sehen, daß sie trotz der knapper gewordenen Mehrheit der Koalition Vertrauen in uns setzen können, und unsere Arbeit dient natürlich auch dem Ziel, diese Mehrheit künftig wieder zu verstärken.
Der neu vorgelegte alte Entwurf — es sind daran ja keine ganz wesentlichen Änderungen vorgenommen worden — kann selbstverständlich noch nicht alle Impulse umsetzen, die sich aus den Wahlprogrammen der Koalitionsparteien und aus der Koalitionsvereinbarung ergeben. Hierzu sind nicht nur vielfältige
technische, sondern auch gesetzgeberische Vorarbeiten notwendig. Einen Teil der Aufgabe wird der Haushaltsausschuß allerdings erfüllen können und auch erfüllen. Sowohl der Hinweis darauf, daß der Zukunftsbereich aus Bildung und Forschung ein Aufwärtssignal erhalten muß, als auch die Aussage, daß der Haushalt des Verteidigungsministers künftig kein Steinbruch für beliebige Einsparungen sein darf, werden Leitpunkte unserer Arbeit sein. Hier stehen wir im Wort, und dieses Wort werden wir halten.
Es bleibt aber auch die Aussage wahr, daß in Zeiten der Sparsamkeit mit weniger Geld mehr Politik gemacht werden muß. Das heißt, alle Ministerien werden künftig im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für einen effektiveren Umgang mit dem zur Verfügung stehenden Geld sorgen müssen.
Ich füge hinzu, daß wir die Stärkung des Mittelstandes in den Haushaltsberatungen entsprechend den Zielen der F.D.P. zu einem weiteren Schwerpunkt machen wollen. In den letzten Wochen ist ja viel über Steuerflucht und Steuerflüchtlinge diskutiert worden. Sie erinnern sich an die Bundesliga-Fußballspieler, die aus Steuergründen ihren Wohnsitz im benachbarten Ausland nehmen. Von Steffi Graf über Boris Becker führt eine gerade Linie zu Michael Schumacher. Die Öffentlichkeit nimmt interessanterweise diese Steuerflucht bei Spitzensportlern hin. Aber man soll sich nicht täuschen: Sie nimmt sie nicht ohne Kritik hin. Sie ist ja auch nicht gut. Wir müssen natürlich alles tun, daß nicht die Leistungsträger unserer Volkswirtschaft nach gleichen Wegen suchen, der drückenden Steuer- und Abgabenlast zu entgehen.
Mit der falschen Politik, die die Sozialdemokraten jetzt wieder im Zusammenhang mit der Steuerfreiheit des Existenzminimums fordern, werden wir am Schluß den gesamten Mittelstand nach Luxemburg oder Monaco vertreiben.
Steuerfreiheit des Existenzminimums: Wie immer in der Politik gibt es Idealvorstellungen; es gibt das Machbare, und es gibt Rosinenpicker. Ich sage zunächst in aller Deutlichkeit an die Adresse der SPD: Wir werden Sie aus Ihrer Gesamtverantwortung, die Sie durch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat haben, nicht entlassen. Wenn Sie glauben, über den neuen Steuertarif Ihre verfehlten Wahlziele bezüglich massiver Umverteilung und des Schröpfens gerade der mittleren Einkommen noch verwirklichen zu können, so werden Sie sich täuschen. Wir haben in der Koalitionsvereinba rung den haushaltsmäßig vertretbaren Umfang, den diese Entlastung bei der prognostizierten Wirtschafts- und Steuerentwicklung haben kann, umrissen. Eine andere Frage ist, wie weit die Anregungen der Einkommensteuerkommission noch in das Konzept des Bundesfinanzministeriums einfließen können. Dieses Konzept bringt eine hochinteressante Gesamtdarstellung der Situation, und wenn nicht die Finanzierungsseite nach erstem Eindruck
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 361
Dr. Wolfgang Weng
unter das Stichwort „politisch leider nicht machbar" fallen würde, dann wäre vor allem mit Blick auf ein schrittweises Vorgehen hier tatsächlich eine steuerpolitische Zukunftsvision umzusetzen.
Gerade hierzu allerdings muß die SPD auch klar Stellung nehmen; denn interessanterweise gab es zwar negative Äußerungen zur Haltung von Bundesfinanzminister Waigel gegenüber den Kommissionsvorschlägen, aber das Konzept des SPD-Finanzministers Schleußer berücksichtigt diese Vorschläge praktisch gar nicht — ein Beleg sozialdemokratischer Unwahrhaftigkeit und fast gewohnter Doppelzüngigkeit.
Meine Damen und Herren, die sehr lebhaften Ausführungen des Kollegen Solms sorgen leider dafür, daß meine Redezeit ein bißchen knapper ist, als sie eigentlich vorgesehen war.
Erlauben Sie mir deshalb nur noch eine persönliche Anmerkung: Der Beginn der neuen Wahlperiode bedeutet auch neue Aufgaben.
— Der Kollege Fischer jedenfalls ist weggegangen und kotzt sich jetzt wahrscheinlich draußen aus, was besser ist, als wenn er es immer hier drin tut.
Der Neubeginn bedeutet für jeden von uns neue Aufgaben und Befassung mit neuen Themen, die bisher in anderer Verantwortung lagen. Ich selbst werde die Berichterstattung meiner Haushaltsgruppe für den Etat des Bundesrechnungshofes übernehmen, und in diesem Zusammenhang möchte ich heute eine persönliche Aussage machen, von der ich hoffe, daß das Parlament sie breit unterstützen wird.
Die Föderalismuskommission hat, ohne daß dies eine vertiefende Einzeldiskussion ausgelöst hätte, die Verlagerung des Bundesrechnungshofes nach Bonn mit einer Dependance in Brandenburg, die in Potsdam geplant ist, vorgeschlagen. Ich meine, der Bundesrechnungshof ist ein so wichtiger Helfer und Partner des Parlaments, daß der Fehler, ihn 1949 nicht in der Bundeshauptstadt Bonn anzusiedeln, beim Umzug nach Berlin nicht wiederholt werden sollte. Er gehört nach meiner Überzeugung an den Sitz des Parlaments. Wer das Gewicht des Parlaments im gesamten Machtgefüge stark haben will, sollte bereit sein, diese geplante Außenstelle gedanklich zum Hauptsitz und den Hauptsitz Bonn in Zukunft zur Außenstelle zu machen. Darüber sollten wir erneut diskutieren.
Meine Damen und Herren, dank unserer Politik ist die Konjunktur in Deutschland im Aufschwung, und dieser Aufschwung sorgt nicht nur für einen Zuwachs an Arbeitsplätzen und damit für einen geringeren notwendigen Bundeszuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit, sondern in der Prognose auch für höhere Steuereinnahmen.
Die Bundesregierung war gut beraten, bei der hohen geplanten Nettoneuverschuldung diese Entlastungsfaktoren zur Reduzierung der Schulden einzusetzen. Hierfür verdient der Finanzminister ausdrücklich unser Lob.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Wir fordern die Opposition in diesem Hause zu konstruktiver Arbeit auf. Blockadepolitik schadet dem Land und unseren Bürgern. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, werden für solche Blockadepolitik auch nicht honoriert werden.
Wir sichern der Union erneut kooperative Zusammenarbeit zu, die auf der Basis gemeinsamer Ziele in der Haushalts- und Finanzpolitik dem Wohl aller Bürger dient.
Die Haushaltsgruppe der F.D.P. in veränderter Formation
geht mit der Entschlossenheit an die Detailberatung, das Vertrauen der Menschen durch konsequentes Einhalten der im Wahlkampf gemachten Zusagen zu stärken und auszubauen.
Vielen Dank.
Herr Kollege Struck, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte im Deutschen Bundestag soll eigentlich so geführt werden, daß die Redner jeweils auf die Argumente der Vorredner eingehen.
Ich will das versuchen.
Anfangen möchte ich mit dem Beitrag des Kollegen Weng. Ich denke, bei der Konstituierung des Bundestages wäre es richtig gewesen, Herr Weng, wenn Sie sich Ihrer beruflichen Ausbildung entsprechend in den Gesundheitsausschuß statt in den Haushaltsausschuß begeben hätten.
Zu dem Kollegen Metzger möchte ich sagen: Respekt vor Ihrer Rede. Sie hat mir sehr gut gefallen, insbesondere auch weil Sie frei geredet haben: eigentlich der Regelfall im Deutschen Bundestag. Inhaltlich haben Sie zu dem Thema Gewerbesteuer das gesagt, was ich auch gesagt hätte. Deshalb verzichte ich auf längere Ausführungen dazu; Respekt also für Ihre Rede!
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weng?
Natürlich, wenn ich ihn so beleidigt habe, muß ich das schon zulassen.
Herr Kollege Struck, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich jetzt drei Wahlperioden im Haushaltsausschuß als Vollmitglied gewesen bin und daß ich mir in dieser Zeit entsprechend dem, was „Focus" bei einer Umfrage der Abgeordneten des Deutschen Bundestages veröffentlicht hat, durch meine Arbeit in diesem Hause ein hohes Ansehen erworben habe?
Würden Sie auch zur Kenntnis nehmen, daß ich während meiner ersten Wahlperiode — wo ich sicherlich noch erheblich weniger Sachkenntnisse hatte — auf Vorwürfe, wie Sie sie gerade gemacht haben, gegen Ihre Person, die ja damals im Haushaltsausschuß war, nicht gekommen bin?
Würden Sie schließlich zur Kenntnis nehmen, daß ich Berichterstatter für das Gesundheitsministerium und auch stellvertretendes Mitglied im Gesundheitsausschuß bin?
Das letzte ist ja nicht schlecht, Herr Weng. Aber das andere? Wenn Sie sagen, „Focus" hält Sie für einen sehr einflußreichen — —
— Ach so. Ja, es muß ja nicht alles stimmen, was in dieser Zeitung steht.
Freunde haben mir, als ich ihnen mitteilte, daß ich heute den Ausputzer in der ersten Lesung machen soll, gesagt, es werde mir nicht gelingen, über Borussia Dortmund zu reden. Nun will ich das Wort Borussia Dortmund nicht oft in den Mund nehmen, will aber an dieser Stelle sagen: Ich sehe mit hohem Respekt die Leistungen von Borussia Dortmund.
Ich kann diese Leistungen in keiner Weise — Theo Waigel hat auch über „Halbzeit" gesprochen — mit dem Verein vergleichen, dem der Bundesfinanzminister zuneigt, 1860 München. Vielleicht wird es ja noch besser, lieber Kollege Waigel, aber über Dortmund geht es nicht.
— Ja, letzten Sonntag war schon nicht schlecht.
Ich habe keine Rede mitgebracht, sondern nehme einfach die von Theo Waigel gehaltene Rede und versuche, sie kurz zu kommentieren, wenn es gestattet ist. 46 Seiten war sie lang. Ich glaube, eine so lange Rede haben Sie noch nie gehalten, Herr Bundesfinanzminister, und weniger wäre ganz bestimmt viel besser gewesen. Da helfen dann auch keine Zitate von Dürrenmatt und Kant; das trägt dann alles nicht, das ist dann allenfalls so ein Aperçu. Es ist viel leeres Gerede
dabei gewesen — ein paar gute Worte jedoch auch. Die will ich nun der Fairneß wegen, lieber Kollege Waigel, auch zitieren.
— Ein Satz auf Seite 20 ist es nur; es war wenig, aber dieser Satz muß schon sein.
Sie haben gesagt: „Wir haben in 40 Jahren konsequenter Stabilitätspolitik einen großen Vertrauenskredit in der Welt erworben." Sehr richtig!
— Ja, klatschen Sie mal ruhig, denn von den 40 Jahren hat die SPD 16 Jahre mitregiert, d. h. Ihr ganzes Gerede von früher — als Sie noch in der Opposition waren —, wie schlimm alles ist, was die Sozialdemokraten machen, haben Sie jetzt wieder einkassiert und haben auch diese Leistung anerkannt. Vielen Dank dafür, Herr Waigel.
Antworten auf die wichtigen finanzpolitischen Fragen haben Sie allerdings nicht gegeben. Das ist aber bei der Politik, die Sie in den vergangenen Jahren gemacht haben, auch nicht zu erwarten gewesen. Im Gegenteil, es sind doch immer nur noch inhaltsleere Sprüche, insbesondere wenn ich auf das Thema zu sprechen komme, das viele Kommunalpolitiker in Deutschland interessiert. Wer die Gewerbekapitalsteuer abschaffen will — so wie Sie das vorhaben, Sie haben das angekündigt, und das ist offenbar auch Inhalt der Koalitionsvereinbarung —, der muß wissen, daß er damit die Gewerbesteuer ganz erheblich gefährdet. Das weiß jeder, der sich mit solchen Fragen beschäftigt, vor allem derjenige, der das auch juristisch bewertet.
Dann kommt die Frage: Was kommt denn an die Stelle der Gewerbesteuer, Herr Kollege Waigel? Da gucke ich dann, was Sie zu diesem Thema eigentlich gesagt haben. Der Satz lautet — ich zitiere wieder wörtlich —: „Klar ist, die Gemeinden müssen einen vollen Ausgleich erhalten. Sie sollen auch weiterhin ein Interesse daran haben, die Ansiedlung von Gewerbebetrieben und damit von Arbeitsplätzen zu fördern." So weit, so gut — einverstanden.
Aber was denn nun? Wie denn? Wie geschieht das denn eigentlich? Ich spreche hier nicht nur für sozialdemokratische Kommunalpolitiker oder für grüne Kommunalpolitiker — F.D.P.-Kommunalpolitiker gibt es ja nicht mehr —, sondern auch für CDU/CSU- Kommunalpolitiker.
— Ja, nur wenige, aber aus meiner Sicht noch viel zu viele.
Ich meine: Wenn Sie so etwas als Bundesminister der Finanzen sagen — und zwar auch in Gremien wie Finanzplanungsrat und dergleichen, in denen ja auch
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 363
Dr. Peter Struck
die Gemeinden vertreten sind —, dann müssen Sie, Herr Waigel, schon konkreter werden. Es tut mir leid, man kann nicht einfach sagen: Wir werden irgendwie etwas für die Gemeinden machen. Aber was man konkret machen will, sagt man nicht. Das ist unverantwortlich gegenüber den Kommunalpolitikern in Deutschland.
Der Kollege Metzger — ich habe ihn vorhin gelobt, da war er gerade draußen; ich hoffe, man hat ihm das übermittelt — hat ja schon auf die Konsequenzen hingewiesen. Es kann doch nicht nach dem Motto weitergehen: Der Bund saniert sich zu Lasten der Länder. Und was machen die Länder, und zwar egal, ob sie SPD- oder CDU-regiert sind? Die sanieren sich zu Lasten der Kommunen über ihre kommunalen Finanzausgleichsgesetze. Und den letzten beißen die Hunde — das sind die Gemeinden.
Ich mache Ihnen einen konkreten Vorschlag, Herr Waigel, weil uns dieses Thema noch lange beschäftigen wird. So schnell wird das alles nicht durch Bundestag und Bundesrat gehen. Es wäre gut, wenn Sie neben dem Instrument des Finanzplanungsrates, das ja dafür bestimmt ist, auch die kommunalen Gebietskörperschaften in die Finanzplanung einzubeziehen, einen runden Tisch unter Beteiligung der Gemeinden, des Städtetages und der kommunalen Spitzenverbände einrichteten.
— Sie sollten auch die SPD — durch einen A- Finanzminister oder wen auch immer; darüber können wir ja in Ruhe reden — einbeziehen.
Es wäre jedenfalls gut, wenn wir versuchten, das wichtige Thema „Wie retten wir die Gemeindefinanzen?", urn das es jetzt geht, im Konsens zu lösen. Das wäre gut. Wenn es keinen Konsens gibt, dann muß halt entschieden werden. Aber der erste Ansatz wäre mit Sicherheit der bessere Weg.
— Ja, natürlich. Ich habe nie Probleme, Herr Weng, Vorschläge zu machen.
— Nein, nein. Ich habe manche Rede im Deutschen Bundestag — in diesem Plenarsaal, im Wasserwerk und in dem alten Plenarsaal — zu dem Thema Gewerbesteuer gehalten. Ich bleibe dabei, daß ein Satz immer gilt: Die Gewerbesteuer ist die Säule des gemeindlichen Finanzsystems. Wenn ich die wegbreche, muß ich eine andere Säule errichten. Sonst geht überhaupt nichts mehr in Deutschland.
Herr Kollege Waigel, Sie haben sich in Ihrer Rede auch an die von uns regierten Länder gerichtet. Ich stelle hier einmal mit Stolz fest: Es gibt 16 Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland, und in
14 Ländern regiert die SPD mit. In den zwei Bundesländern, in denen wir noch nicht regieren, kann sich das auch noch ändern.
Manchmal dauert das etwas länger, aber es kann ja passieren.
Wir stellen zehn Ministerpräsidenten. Ich spreche von dem, was passiert, wenn jetzt der Haushalt durch den Haushaltsausschuß geht. Sie haben die steuerlichen Maßnahmen — diese Formulierung ist mir neu —Jahressteuergesetz '96 genannt. Ich verstehe darunter diese drei Pakete, über die wir zu reden haben:
Kinderleistungsausgleich, Existenzminimum und Unternehmensteuerreform.
— Plus Steuervereinfachung, wobei mich wundert, daß Sie sich da nicht wieder einen gigantischen Namen ausgedacht haben. Ihr Haus ist ja sehr stark darin, Namen zu erfinden. Jahressteuergesetz '96, das ist ja relativ harmlos. Aber vielleicht setzen Sie noch ein paar Leute daran, die sich da wieder etwas „Gigantisches" ausdenken.
Ich sage nur: Dieses Paket wird den Bundesrat beschäftigen. Das ist uns völlig klar. Es wird zweifellos der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Ich erkläre hier ausdrücklich für die SPD-Bundestagsfraktion: Ich werde mich in Zukunft aus gewisser Erfahrung hier nicht mehr hinstellen und sagen: Und der Bundesrat wird dieses oder jenes tun oder unterlassen. Es entspricht meinem Verfassungsverständnis und auch den Erfahrungen, die wir gemacht haben, daß die Länder ein eigenständiges Interesse zu vertreten haben und nicht ferngesteuert werden aus dem Ollenhauer-Haus oder aus der SPD-Bundestagsfraktion, sondern — das sage ich jetzt auch ganz deutlich — zunächst einmal ihre eigenen Finanzinteressen zu berücksichtigen haben. Das gilt übrigens nicht nur für sozialdemokratische Ministerpräsidenten. Das gilt auch für die Ministerpräsidenten, die von der CDU bzw. CSU gestellt werden.
Ich gehe aber soweit, Herr Kollege Waigel, zu sagen: Es ist wohl keine waghalsige Prophezeihung, daß dieses gesamte Paket mit den vier Elementen im Bundesrat so nicht akzeptiert werden wird, wie Sie es jetzt wohl einzubringen beabsichtigen. Ich glaube, es wäre unrealistisch, wenn man nicht einschätzte, daß der Bundesrat zunächst einmal dieses Paket aufschnüren und anhalten wird.
— Nein, das ist nicht bedauerlich, weil wir nämlich schon dann die Möglichkeit haben, eingehend zu prüfen. In manchen Bereichen kann ich mir durchaus Kompromisse vorstellen. Das will ich aber den Ver-
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Dr. Peter Struck
handlungen überlassen, die da zu führen sein werden.
Fazit ist: Dieser Haushalt bringt nichts Neues gegenüber dem, den wir vor der Bundestagswahl diskutiert haben. Es konnte ja auch nichts anderes, Neues werden, weil es leider keine neue Regierung gegeben hat.
Der Haushaltsausschuß wird diesen Haushalt mit Sicherheit — das ist jedenfalls meine Erfahrung aus dem Haushaltsausschuß — so bearbeiten, daß er nicht so wieder herauskommt, wie er jetzt hereinkommt. Sonst hätten die Haushälter ihre Aufgabe verfehlt. Aber ich glaube, wir, Herr Kollege Waigel, die SPD- Bundestagsfraktion, die SPD-regierten Länder und die Bundesregierung, werden uns über die wichtigen politischen Fragen noch in aller Ausführlichkeit unterhalten müssen. Ich kündige ausdrücklich an, daß wir auch zu Kompromissen bereit sind, daß wir nicht blockieren wollen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Da will aber jemand eine Zwischenfrage stellen. Das kann er gerne machen.
Herr Kollege Struck, Sie haben gesagt, Sie würden nichts mehr unternehmen, den Bundesrat parteipolitisch zu instrumentalisieren. Gilt das für Ihre gesamte Fraktion, Ihre Partei und Ihren Parteivorsitzenden auch? Denn der hatte sich gerade anders geäußert.
Das müssen Sie mißverstanden haben, Herr Kollege Weng.
— Ich denke, diese Antwort reicht. Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Struck hatte sich als Ausputzer seiner Fraktion für die Haushaltsdebatte angekündigt. Es ist erstaunlich, daß er bis auf den letzten Satz zum Haushalt praktisch nichts gesagt hat.
— Das überrascht natürlich auch nicht, da er offensichtlich kein Konzept mitgebracht hatte, sondern lediglich die Rede des Bundesfinanzministers. Er hätte etwas Gutes leisten können, wenn er Teile davon vorgelesen hätte.
Hier ist lediglich über die Kommunalfinanzen geredet worden, wie sie sich möglicherweise nach dem
Ende des Jahres 1995 entwickeln werden. Es ist nichts zu der Frage gesagt worden, wie der Haushalt 1995 im Entwurf tatsächlich beschaffen ist — bei dem Kollegen Struck nicht, und bei der Frau Matthäus-Maier hat es sich hauptsächlich auf das Thema Steuerreform konzentriert.
Herr Struck, Sie sagen, daß es bei der Frage der Gewerbesteuersenkung, die im nächsten Jahr entwickelt werden soll, natürlich auch auf die Bundesländer ankommt und daß eine Zusammenarbeit zwischen den Kommunen, den Bundesländern und dem Bund auch bei der Frage der Steuerreform geprobt werden und stattfinden muß. Aber wenn Sie so tun, als gäbe es ein geschlossenes Bild der zehn Ministerpräsidenten der SPD, dann erinnern Sie sich bitte daran, welche Probleme es bereitet hat, einen Sprecher für den Vermittlungsausschuß zu finden. Man konnte sich nicht entscheiden zwischen dem Notar, dem Kämpfer und dem Raufbold. Nachher hat man sich für das finanzpolitische Schlußlicht entschieden.
Sie sollten sehen, daß es um andere Dinge geht. Dem Bürger geht es um die Frage: Bei welcher Politik ist mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken? Wo ist mit Stabilität zu rechnen? Wenn Sie die Umfragen aus den letzten Tagen sehen, dann wissen Sie, daß der überwiegende Teil der Bevölkerung in Ost wie in West mit Zuversicht in die Zukunft guckt, daß der überwiegende Teil mit der Entwicklung nach der Vereinigung unseres Landes einverstanden ist. Dies kann doch nur bedeuten — nach der Bundestagswahl hat sich das noch verbessert —, daß man davon ausgeht: Diese Regierung gewährleistet Stabilität, Stabilität vor allen Dingen auch in Haushaltsfragen. Wir sind auf dem richtigen Wege.
Ich will deswegen überhaupt nicht bestreiten — ich sage das auch ganz klar für die Bürger, weil der Eindruck entsteht, wir hätten hier etwas zu verheimlichen —, daß ab dem 1. Januar höhere Steuern gezahlt werden müssen. Wir müssen den Bürgern zusätzlich einen Solidarbeitrag abverlangen. Damit auch das ganz klar ist: Je höher die Einkommen sind, um so höher wird dieser Solidarbeitrag sein. Wir verlangen zusätzlich einen Beitrag zur Pflegeversicherung. Dies wird wahrscheinlich im nächsten Jahr keine explodierenden Nettolöhne bedeuten. Aber wer die Wahrheit kennt, muß sie auch vollständig nennen und sagen, daß sich die Nettoeinkünfte seit 1982 tatsächlich um 40 % nach oben bewegt haben.
— Auch die der Kleinverdiener, nicht nur Ihre.
Man muß vor allen Dingen auch erkennen, daß die Entscheidungen zum Thema Pflegeversicherung, zum Thema Steuererhöhung und zum Solidarbeitrag im Bundesrat mit der Mehrheit der SPD-regierten Länder beschlossen worden sind. Es ist einfach schäbig, jetzt so zu tun, als hätte man mit all dem nichts zu tun.
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Dietrich Austermann
Damit bringt man auch das wirklich wertvolle Thema Pflegeversicherung in Mißkredit. Hier ist eine großartige soziale Leistung vollbracht worden. Wir danken den Bürgern dafür, daß sie sich an dieser großartigen Leistung je nach Finanzkraft beteiligen.
Meine Damen und Herren, es geht in Deutschland heute nicht darum, einen größeren Kuchen auf verschiedene Ebenen der öffentlichen Hand zu verteilen. Wenn man hört, was Sie zur Finanzsituation sagen, hat man den Eindruck, die Ärmsten im Lande seien die Kommunen. Das mag in Teilbereichen, bei einzelnen Großstädten, zutreffen. Aber man muß auch eindeutig erkennen, daß der kommunale Finanzausgleich ein Thema ist, das in erster Linie die Länder angeht, das unter die Länderhoheit fällt und dort entschieden werden muß.
Man muß vor allen Dingen auch erkennen, daß der Bund in erheblichem Maße Leistungen erbracht hat, um die Kommunen besserzustellen und sie zu entlasten. Ich nenne das FKPG, das Spar-, Wachstums- und Konsolidierungsprogramm, den Abbau von Steuervergünstigungen, das Thema Zinsabschlag, das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, die zusätzlich eingenommene Konzessionsabgabe, die Entlastung bei der Pflegeversicherung, die Entlastung durch die Postreform, den Rückgang der Asylbewerberzahlen, den Wegfall der Beteiligung am Fonds Deutsche Einheit — alles Entlastungen für die Kommunen.
Gleichzeitig haben die Länder durch die Entscheidungen des letzten Jahres deutliche Zuwächse bei den Einnahmen. Ich nehme als Beispiel das Land Schleswig-Holstein. Es wird im Jahre 1995 nach jetziger Schätzung 14 % mehr Gemeinschaftssteuern einnehmen. Die Gemeinden werden an dieser Entwicklung leider nicht entsprechend beteiligt. Selbst nach Abzug der geringen Ergänzungszuweisungen ist davon auszugehen, daß die Einnahmen der Länder fast zweistellig zunehmen.
Zu den Einnahmen und zur Finanzsituation der Kommunen habe ich etwas gesagt. Ich glaube, wir sollten die Erklärung, es ginge heute nur darum, sich über die kommunalen Finanzen zu unterhalten, in etwas anderem Licht sehen. Wenn man tatsächlich die Verschuldung, die Belastung des Bundes, der Länder und der Gemeinden sieht, wird das Ganze bestätigt.
Man muß auch erkennen, welche gewaltigen Sonderleistungen aus dem Bundeshaushalt in den letzten vier Jahren erbracht worden sind, und zwar durch UNO-Einsätze, die zusätzliche Kosten verursacht haben, durch den Abzug der Russen, durch Katastrophenfälle, durch Soforthilfen für eine Fülle von Ländern an allen Ecken und Enden der Erde. Man sollte diese gewaltigen Leistungen nicht kleinreden und die eigene Arbeit richtig einschätzen.
Ich möchte einige wenige Sätze zu den neuen Bundesländern sagen — früher ein Hauptthema, das heute meines Erachtens etwas zu kurz gekommen ist.
Die Leistungen für die neuen Bundesländer werden sich im kommenden Jahr vor allen Dingen aus diesem Bundeshaushalt auf 200 Milliarden DM belaufen, d. h. um 60 Milliarden DM über den Leistungen des Jahres 1991 liegen.
Wenn man die Rednerin der PDS zu diesem Thema gehört hat, hat man den Eindruck, es sei überhaupt nicht nötig, daß angesichts des brillanten Zustandes, in dem die DDR zurückgelassen wurde, eine einzige Mark fließt. Lafontaine sprach ja damals von der zehntgrößten Industrienation. Weshalb dann eigentlich ständig neue Forderungen gerade von den Kommunisten, von der Partei des Stacheldrahts, wenn die Situation so ideal ist?
Der Nettotransfer nach Abzug der Steuern wird 155 Milliarden DM betragen, davon 106 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt, 40 Milliarden von Ländern und Gemeinden und immerhin 7 Milliarden von der EG — ein gewaltiges Programm für die neuen Bundesländer, das zeigt, daß wir die Verantwortung für die Erreichung der gleichen Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet übernehmen.
Man sollte auch darauf hinweisen, welche Leistungen direkt an die Bürger im Osten gehen: durch Kriegsopferversorgung, aktive Arbeitsmarktpolitik, Vorruhestand, Altersübergangsgeld, Sozialversicherung, Erziehungsgeld und Kindergeld 47 Milliarden DM!
Von Frau Matthäus-Maier ist vorhin der Eindruck erweckt worden, wir würden Leistungen bei Arbeitsbeschaffung, Fortbildung und Umschulung einschränken. Der Entwurf des Bundeshaushalts für 1995 sieht höhere Leistungen bei Fortbildung und Umschulung vor. Und in diesem Jahr geben wir die ABM-Mittel nicht einmal voll aus. Wer da hergeht und sagt, wir sollten ständig neues Geld geben, der verkennt offensichtlich die tatsächliche Situation.
Ich habe gesagt, Stabilität drücke sich auch darin aus, daß wir keine unnötigen Versprechungen machen, sondern den Bürgern sagen, daß es im nächsten Jahr voraussichtlich keine Nettolohnerhöhung geben wird. Wenn man aber den Leuten sagen kann, es werde zumindest so bleiben, wie es ist, wäre das im Vergleich für viele Länder der Welt ein hervorragender Zustand.
Meine Damen und Herren, die Bürger der Bundesrepublik haben deshalb Vertrauen und Zuversicht in diese Bundesregierung, weil sie in manchen anderen Bereichen ihre Erfahrungen mit SPD-geführten Regierungen gemacht haben. Ich nehme dafür gar nicht das Beispiel von 1969 bis 1982. Wir wissen alle, in welchem Zustand das Land hinterlassen wurde.
— Das kann man sicher nicht sagen; denn selbst die Arbeitslosenquote lag damals wesentlich höher als heute, und das ist ein ganz entscheidendes Kriterium, Regierungsarbeit zu messen. Auch wenn Sie hier den
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Dietrich Austermann
Rekord im Wettbrüllen auch noch schlagen wollen, das schaffen Sie nicht!
— Auch Ihr Gebrüll, Herr Fischer, wird daran nichts ändern.
Auf der einen Seite wird es offensichtlich Mode, davon zu reden, man müsse der Wirtschaft mehr helfen, die Standortbedingungen verbessern — Herr Scharping hat das in Tutzing ganz kurz einmal sagen dürfen —; gleichzeitig aber stellen wir fest, daß in den Bundesländern von Ihnen das Spießrutenlaufen der Wirtschaft geübt wird. Ob das in Hamburg, in Gorleben, in Hanau oder woanders ist: Es gibt 30 Fälle juristischen Spießrutenlaufens, das Sie der Wirtschaft durch Ihr Verhalten zumuten.
offenbar macht das dem Schläger, Herr Fischer, Freude.
Auf SPD-Parteitagen werden ständig neue Forderungen erhoben. Ich glaube, daß man auch feststellen muß, daß die SPD in vielen Bereichen die Schlachten der Vergangenheit schlägt. In einer Zeit, da sich die Tarifvertragsparteien bereits über Ganzjahrestarifverträge unterhalten, beantragt die SPD im Bundesrat, die Schlechtwettergeldregelung müßte ab 1996 fortgeführt werden. Die SPD hat offensichtlich nicht erkannt, wie die Entwicklung über sie hinweggeht. Das gilt für jedes Thema, das heute angesprochen wurde.
Frau Matthäus-Maier redet noch von den Doppelfenstern des Jahres 1975. Vor drei Monaten mußten wir aber feststellen, daß sich die SPD im Bundesrat geweigert hat, den erneuerbaren Energien neue Chancen zu geben.
Wir haben im Bundesrat mehr Chancen für erneuerbare Energien gefordert, zusätzlich zu den 300 Millionen DM, die für diesen Bereich im Bundeshaushalt bereitstehen.
Dasselbe gilt für Themen wie UN-Solidarität. Was sagt da Ihr Seniorenbeauftragter? Wie redet Herr Scharping? Was sagen Sie zum Thema PDS? Welches Thema man auch nimmt: Die SPD ist zu einer „ARD"- Partei verkommen: alles rennt durcheinander.
Während Herr Scharping in Tutzing von der Notwendigkeit einer Modernisierung sprach und politische Thesen vortrug, die, als die CDU sie vertrat, im Wahlkampf noch verteufelt wurden, zeigte die Reaktion der Partei im Hinblick auf die beabsichtigte Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, daß es Ihnen überhaupt nicht ernst ist mit der Entlastung der Wirtschaft.
Es ist vorhin kritisiert worden, daß die Ausgaben im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit im kommenden Jahr in Teilbereichen geringer sind. Die Lösung ist ganz einfach: Das hängt mit dem Aufschwung zusammen, das hängt damit zusammen, daß die Bundesanstalt weniger Kurzarbeitergeld bereitstellen muß, das hängt damit zusammen, daß sie weniger Arbeitslosengeld bereitstellen muß.
Dies ist der entscheidende Grund, nicht etwa, daß wir sparen wollen, um die Arbeitslosigkeit zu finanzieren.
Als letzten Punkt möchte ich die Frage ansprechen: Geht es bei der Diskussion um Kinderfreibeträge, Kindergeld oder Ausgaben der Gemeinden darum, daß man dem einen oder anderen mehr Geld zukommen lassen möchte? Dabei wird immer verschwiegen, daß der Besserverdienende nur ein begrenztes Kindergeld bekommt.
Es geht ganz einfach um die Frage: Wem nützt es? Es nützt den Bundesländern, wenn man mehr Kindergeld zahlt und weniger abschreibt, weil die Länder dann bei der Einkommen- und der Lohnsteuer höhere Einnahmen haben. Es nützt den Menschen aber nichts, wenn sich unter dem Strich nichts ändert.
Sie wollen mehr Kindergeld und geringere Abschreibungsmöglichkeiten nur deshalb, weil Sie die Situation der Länderhaushalte verbessern wollen. Dabei geht es den Ländern ohnehin wesentlich besser als dem Bund. Es geht Ihnen überhaupt nicht um die Familien mit Kindern. Es geht um diese einzige Frage.
Nein, die Bürger wollen Rechtsstaat, Stabilität, Zuversicht und Perspektive. Dieser Bundeshaushalt vermittelt Zuversicht. Er ist besser als vor einem halben Jahr, was nicht bedeutet, Herr Kollege Weng, da ja auch gute Dinge noch verbessert werden können, daß wir im Haushaltsausschuß das eine oder andere nicht noch verbessern werden. Warum denn nicht? Es ist die Frage, ob wir unter Umständen zu einem Nullwachstum kommen, was relativ bescheidene Einsparmöglichkeiten bedeuten müßte.
Wir unterstützen den Bundesfinanzminister in dem Bemühen, die Stabilitätspolitik fortzusetzen und damit Zuversicht beim Bürger zu erzeugen.
Herzlichen Dank.
Frau Kollegin Matthäus-Maier wollte eine Zwischenfrage stellen. Das war nicht mehr möglich, weil die Redezeit abgelaufen war. Deswegen erhält sie das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Austermann, ich muß Ihre Behauptung zurückweisen, die SPD sei für das Kindergeld, weil dann der Bund über die Bundes-
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Ingrid Matthäus-Maier
anstalt für Arbeit die Kosten tragen müßte. Ich habe nicht nur hier heute morgen, sondern auch in anderen Debatten, z. B. in der Debatte über die Familienpolitik und in der Debatte über die Regierungserklärung auf eine Intervention von Herrn Schäuble hin, sehr klar dargelegt: Wir Sozialdemokraten wollen ein Kindergeld als Abzug von der Steuerschuld und die Finanzamtslösung..
Das bedeutet, daß der Bund das selbstverständlich nicht allein bezahlt. Das wäre eine völlig unzulässige Verschiebung der Kosten auf den Bund. Das wollen wir nicht.
Im Gegenteil: In unserem Programm steht ausdrücklich, daß die Länder und die Gemeinden, weil sie dann ja mehr belastet werden, einen entsprechenden Ausgleich erhalten. Ich möchte Sie wirklich bitten, Herr Austermann, daß Sie, nachdem wir das hier 27mal klargestellt haben, nicht mehr eine solche Unwahrheit wiederholen.
Jetzt hat der Kollege Herr Dr. Rössel das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie die einkommensschwachen Bürgerinnen und Bürger haben auch die Kommunen offenkundig keine Lobby in der Bundesregierung. Anders kann ich die heutige Rede des Bundesfinanzministers nicht sehen. Herr Kollege Austermann, es gehört schon Mut dazu, das Gegenteil zu behaupten. Sie erbringen den Beweis nicht.
Die Kommunen sind die letzten in der Reihe der öffentlichen Haushalte. Herr Struck, Sie haben völlig recht: Den letzten beißen die Hunde. Die Verschuldung der Kommunen hat sich vor allem in den 90er Jahren in einem schwindelerregenden Umfang entwickelt. Die Kreditmarktschulden liegen derzeit bereits bei 170 Milliarden DM. Besorgniserregend ist die Lage in Ostdeutschland: Die Pro-Kopf-Neuverschuldung der ostdeutschen Städte, Gemeinden und Landkreise ist bereits doppelt so hoch wie die im Altbundesgebiet. Ihre desolate Haushaltslage bringt die Kommunen vielerorts an den Rand ihrer Handlungsfähigkeit.
Der Bund und auch die Länder — diese im Rahmen ihrer Finanzausgleichsgesetze — tragen dafür eine große Verantwortung. Beide sorgen dafür, daß die vielgepriesene kommunale Finanzautonomie immer mehr zur Farce und die kommunale Selbstverwaltung damit überhaupt in Frage gestellt wird.
Die Bundestagsgruppe der PDS und die 6 000 PDS-Kommunalabgeordneten wenden sich entschieden gegen derartige Praktiken.
Denn Kommunen in Not heißt immer auch Menschen in Not. Im Ergebnis der finanziellen Knebelung der Kommunen werden in einem bisher nicht gekannten Ausmaß Kindertagesstätten, Jugendfreizeiteinrichtungen und Schwimmbäder geschlossen oder müssen ihren Betrieb stark einschränken. Dringend notwendige Investitionen in die kommunale Infrastruktur können nicht wie vorgesehen durchgeführt werden. Bekanntlich sind Investitionen immer der kurzfristig flexible Teil öffentlicher Haushalte. Sie lassen sich leichter strecken, aufschieben oder streichen als die meisten laufenden Ausgaben.
Damit läßt sich die Investitionsquote als ein guter Indikator für die Finanzlage der kommunalen Haushalte heranziehen. In den 60er Jahren lag diese Investitionsquote im Altbundesgebiet bei den Gemeinden noch bei rund 40 %. Derzeit beträgt sie 21 % — ein spürbarer Rückgang. Die Kommunen können damit ihrer Verantwortung als größter öffentlicher Auftraggeber und somit auch als eine wichtige Konjunkturlokomotive immer weniger gerecht werden.
In dieser für die Kommunen dramatischen Lage holt die Bundesregierung zu einem Rundumschlag aus. Zum 1. Januar 1996 sollen die Gewerbekapitalsteuer vollständig liquidiert sowie die Gewerbeertragsteuer weiter reduziert werden. Den Kommunen wird für den Ausfall des Gewerbesteueraufkommens ein fairer Ausgleich versprochen. Doch wie dieser aussieht, steht in den Sternen, wie auch die heutige Rede des Herrn Bundesfinanzministers zeigt.
Die Bundesregierung setzt mit den neuerlichen Einschnitten bei der Gewerbesteuer ihren Kurs der steuerlichen Entlastung der Großunternehmen auf Kosten der Kommunen fort. Nach der Abschaffung der Lohnsummensteuer noch unter der sozialliberalen Koalition wurde die Gewerbesteuer unter der KohlRegierung vor allem durch die drastische Reduzierung ihrer Bemessungsgrundlagen zunehmend ausgehöhlt.
Mit dem zum Jahresbeginn in Kraft getretenen Standortsicherungsgesetz finanzieren die Kommunen durch die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage die Unternehmensteuerentlastung in einem Umfang von 1,1 Milliarden DM pro Jahr. Der Vorschlag von Kollege Dr. Schäuble, als Ersatz für den Gewerbesteuerausfall ein kommunales Hebesatzrecht auf die Lohn- und Einkommensteuer einzuführen, würde nach Ansicht des Deutschen Städtetages zum Krieg zwischen den Gemeinden sowie zu einem drastischen Anstieg der Einkommensteuer führen.
Auch einer teilweisen Substitution der Gewerbesteuer durch eine direkte Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer steht die Bundestagsgruppe der PDS kritisch gegenüber.
Ein solcher Vorschlag würde in seiner Konsequenz nämlich weg von der direkten Kapital- und Unternehmensbesteuerung und hin zu einer indirekten Besteuerung des privaten Konsums führen.
Ein weiteres Argument gegen den Vorschlag, die Kommunen direkt an der Umsatzsteuer zu beteiligen, ist folgendes: In einer Zeit anhaltender Knappheit der
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Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel
öffentlichen Finanzen ist kaum zu erwarten, daß Bund und Länder ungefähr 3 % ihrer derzeitigen Beteiligung an den Einnahmen aus der Umsatzsteuer an die Kommunen weitergeben werden. Deshalb liegt eine entsprechende Erhöhung der Mehrwertsteuer in der Luft,
die wir im Interesse vor allem der einkommensschwachen Bürgerinnen und Bürger ablehnen müssen.
Nicht unerwähnt bleiben sollte auch, daß entscheidende technische Fragen bei der Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer ungeklärt sind. Das betrifft vor allem die Art und Weise der Verteilung des Umsatzsteueraufkommens auf die Gemeinden. Die Ermittlung der Schlüsseldaten kann nach jüngsten Erkenntnissen von Finanzexperten frühestens im Jahr 2000 erfolgen. Das heißt im Klartext: Die Bundesregierung will die Gewerbekapitalsteuer bereits in einem Jahr vollständig abschaffen, obwohl die Datenbasis zur Ausarbeitung vernünftiger Ausgleichsmaßnahmen für die Kommunen erst in sechs Jahren vorliegen kann. Das ist fürwahr eine Meisterleistung.
Solche Praktiken, meine sehr verehrten Damen und Herren, können nicht anders als mit dem Begriff „steuerpolitische Luftnummern" betitelt werden.
— Jawohl, Herr Kollege Fischer, dafür wird sich eine passende Gelegenheit ergeben.
— Ich sprach von einer steuerpolitischen Luftnummer, Herr Fischer.
Die Leidtragenden wären wiederum die Schwachen. Die Städte, Gemeinden, Landkreise, ihre Einwohnerinnen und Einwohner wären betroffen.
Die PDS-Bundestagsgruppe fordert die Bundesregierung auf, endlich eine umfassende Reform der Kommunalfinanzierung in Angriff zu nehmen, die kein bloßes Anhängsel einer Unternehmensteuerreform ist. Wir unterstützen nachhaltig den Vorschlag der kommunalen Spitzenverbände, dafür eine Enquete-Kommission beim Deutschen Bundestag einzurichten.
Von welchen Eckpunkten sollte eine umfassende Reform der Kommunalfinanzierung nach Ansicht meiner Gruppe ausgehen? Vor allem kommt es darauf an, das Band zwischen Wirtschaft und Kommunen nicht weiter zu zerschneiden, wie das die Bundesregierung
vorsieht. Es sollte im Gegenteil wieder enger geknüpft werden. Dazu ist es erforderlich, die Gewerbesteuer wiederzubeleben. Bestimmte Maßnahmen, die zu ihrer Demontage geführt haben, sollten schrittweise zurückgenommen werden. Die Gewerbekapitalsteuer darf 1996 nicht abgeschafft werden. Geprüft werden sollte, auch die freien Berufe ab einer angemessenen Einkommensgrenze zur Gewerbesteuerzahlung heranzuziehen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, momentan nicht. — Die heutigen Freibeträge für die Gewerbesteuer sollten aufgehoben werden. Sie könnten durch gleitende Freigrenzen ersetzt werden, um auf diese Weise Kleinunternehmungen und Handwerkern die Steuerbefreiung von der Gewerbesteuer zu gewähren, ohne daß gleichzeitig Großunternehmen von einer Art Mitnahmeeffekt profitieren.
Des weiteren schlägt unsere Gruppe vor, zur weiteren Stärkung der Finanzkraft der ostdeutschen Kommunen im Finanzreformgesetz langfristig eine kommunale Investitionspauschale zu verankern. Eine solche kommunale Investitionspauschale sollte sich an der Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner orientieren und sollte darauf gerichtet sein, die Investitionskraft der ostdeutschen Städte und Gemeinden sowie der Landkreise zu sichern.
Gegenwärtig ist vor allem die mangelnde Planungssicherheit ein Manko, das Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker in Ostdeutschland besonders drückt.
Wir schlagen vor, daß als erster Schritt zur Wiedereinführung einer kommunalen Investitionspauschale eine solche Maßnahme im Haushalt 1995 geprüft wird, mit dem Ziel, die Finanzkraft der ostdeutschen Kommunen in einem Umfang von etwa 5 Milliarden DM zu stärken. Wir werden dazu bei den Haushaltsberatungen einen Entwurf einbringen, der auch Finanzierungsgrundlagen umfaßt. Beiträge zu einer soliden Finanzierung der öffentlichen Finanzen zu leisten ist ein besonders großes Anliegen des Bundestages.
Ich fordere im Namen meiner Gruppe den Bundesfinanzminister auf, einen energischen Kampf gegen die Steuerhinterziehung und gegen Subventionsbetrug zu führen. Die Zahlen sind genannt.
Wir fordern eine radikale Besteuerung der Spekulationsgewinne und erachten es auch für notwendig, die Spekulationsgewinne auch aus dem Handel mit sogenannten Finanzderivaten, wie Termingeschäften und Optionen, heranzuziehen.
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Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel
Diese Summen in einer Größenordnung von zig Milliarden könnten zur Finanzierung der öffentlichen Haushalte einen gewichtigen Beitrag leisten.
Die PDS-Bundestagsgruppe sieht auch in der rigorosen Privatisierung von kommunalen Unternehmungen keinen geeigneten Weg zur Sanierung der Kommunalfinanzen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.
Wir sehen in der Privatisierung von Kommunalvermögen keinen geeigneten Weg, weil — das ist analytisch nachgewiesen — sich Ausgaben und Einnahmen hier in etwa die Waage halten. Wir sind lediglich dafür, im Rahmen einer Einzelfallprüfung einer Privatisierung dann zu folgen, wenn sie tatsächlich Vorteile für die Kommunen und ihre Einwohnerinnen und Einwohner hat und eine kontinuierliche Aufgabenerfüllung gewährleistet.
Ich danke Ihnen recht schön.
Meine Damen und Herren, wir kommen damit zum Haushaltsplan des Bundesministers des Innern, Einzelpläne 06, 33 und 36. Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Manfred Kanther.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Kriminalitätsbekämpfung ist eine der wichtigsten Aufgaben der Innen- und natürlich auch Rechtspolitik. Weil sich die Kriminalitätslage in unseren Zeiten so schnell wandelt wie noch nie, haben wir schnelle und unterschiedliche Antworten zu geben.
Wir erleben eine erschreckende Zunahme an Brutalität im Alltag, die auf Menschen keine Rücksicht nimmt. Wir müssen mit neuen Formen der Bedrohung leben: neuen Rauschgiftrouten, ungeahntem Waffenhandel sowie Plutoniumschmuggel, einer Form von Kriminalität mit ungeahnter Gefährlichkeit für die Zukunft. Zudem haben die politischen Veränderungen in Osteuropa dazu geführt, daß Deutschland wieder zu einem Tor zwischen Ost und West geworden ist, leider aber auch mit negativen Begleiterscheinungen: nämlich zu einem Tor, durch das zunehmend die grenzüberschreitende Kriminalität, die sich ständig verstärkt, ihren Weg gefunden hat.
Das verlangt Zusammenarbeit zwischen den demokratischen Parteien in der Bekämpfung dieses Phänomens und Zusammenarbeit weit über unsere Grenzen hinaus. Daß wir das intern, wenn es not tut, leisten können, ist mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz bewiesen worden. Es wäre durchaus wünschenswert, wenn es in Zukunft mit weniger Gezerre geleistet werden könnte, weil es auf die Bürger überzeugender wirkt, wenn ein gemeinsamer politischer Wille zum Handeln in diesen Fragen, die man nicht sonderlich zwischen Parteien trennen kann, zu bemerken wäre.
Das Verbrechensbekämpfungsgesetz stellt nach meiner Überzeugung einen ersten bedeutenden Schritt dar. Es werden weitere Maßnahmen folgen müssen, um dem Anstieg der Kriminalität und dem damit verbundenen materiellen, aber auch gesellschaftlichen Schaden mit der erforderlichen Konsequenz entgegenzutreten. Sonst drohen angesichts der rasanten weltweiten Kriminalitätsentwicklung infolge Internationalisierung und Technisierung des organisierten Verbrechens gewaltige Schäden. Wir müssen verstärkt dazu kommen, die präventiven, die vorbeugenden Möglichkeiten der Kriminalitätsbekämpfung zu nutzen. Es darf nicht so bleiben, daß sich die Verbrecher zwar modernster Kommunikationsmittel bedienen können, international arbeiten und die neuesten Managementmethoden aus der Wirtschaft abgucken,
die Sicherheitsbehörden aber nicht gleichermaßen in der Lage sind, z. B. mit modernster Technik zu arbeiten.
Deshalb ist das Abhören von Gangsterwohnungen eine ebenso unentbehrliche Maßnahme wie etwa die Verwendung von Ermittlungsergebnissen der Geheimdienste im Kampf gegen das Verbrechen oder die Verlängerung der Kronzeugenregelung.
Technische Sicherungen gegen den bandenmäßigen Kraftfahrzeugdiebstahl, den Mißbrauch von Kreditkarten oder drohende Gefahren im Bereich elektronisch gesteuerter Dienstleistungen beweisen neue Chancen der Technik in der Verbrechensbekämpfung. Ich sage voraus, daß sich sogar neue Chancen wirtschaftlicher Art für diejenigen erweisen werden, die zuerst den werblichen Faktor der Sicherheit in Produkten und Dienstleistungen richtig erkennen.
Die Koalition stellt sich diesen Herausforderungen, die sich für den Rechtsstaat aus der weiter ansteigenden Bedrohung durch das Verbrechen ergeben. Daß wir in der Koalition nicht in allen Punkten völlig einig sind, ist offenkundig. Wir werden dieses Einvernehmen im Laufe der Zeit herstellen. Wir befinden uns im ersten Monat der Legislaturperiode, und ich meine, wir werden ein anderes Ergebnis in ihrem letzten Monat haben, nämlich eines, das der Verbrechensbekämpfung mit modernsten Methoden weiteren Raum gegeben hat.
Wir werden also die jetzt geschaffenen Vorschriften des Gesetzes zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens oder des Verbrechensbekämpfungsgesetzes bis Anfang 1996 sorgfältig analysieren, praktische Erfahrungen in diese Überprüfung einfließen lassen und dies alles in einem nationalen Kriminalitätsbekämpfungsplan unterbringen, unter Beteiligung von Bund und Ländern, die dabei unverzichtbar mitwirken müssen. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung in einer Vielzahl von Punkten den dringlichsten
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Bundesminister Manfred Kanther
Handlungsbedarf angesprochen: z. B. Verfahrensbeschleunigung, Opfer- und Zeugenschutz, die Notwendigkeit, die Untersuchungshaft bei Jugendlichen und den Jugendstrafvollzug zu überprüfen. Das alles wird schnell angepackt. Wir werden haushaltsmäßig durch eine entsprechende Prioritätensetzung wirksame Bedingungen für die Verbrechensbekämpfung schaffen. Der Haushalt der Sicherheitsbehörden steigt deutlich höher, wofür ich dankbar bin, als der Haushalt im Ganzen.
Deutschland ist keine Insel bei der Kriminalitätsbekämpfung, sondern Deutschland ist durch seine zentrale Lage ein schlimmes Betätigungsfeld für international operierende Straftäter. Insbesondere die Grenzöffnungen zu unseren östlichen Nachbarn haben auch die Kriminalitätsszenerie in Deutschland nachhaltig verändert. Es ist leider wahr, daß die Gruppen der Asylbewerber oder Pseudotouristen besonders kriminalitätsbelastet sind, und zwar diejenigen, die nur kurze Zeit in unserem Land verweilen, kriminell hineingeschleppt werden, häufig schon zum Zwecke illegaler Arbeit oder von Straftatenbegehung. Dies kann niemanden freuen. Hier zeigt sich eine schlimme Verbindung zwischen grenzüberschreitender Schleuserkriminalität, weltweit wirkenden Verbrecherorganisationen und den Reflexen im Inland. Auf diese Wechselwirkungen stellen wir uns ein, insbesondere durch den Ausbau der Grenzsicherung, was den BGS vor besonders wichtige Aufgaben stellt. Das findet sich übrigens auch im Haushalt wieder.
Wir müssen die europäische Seite der Verbrechensbekämpfung stärken. Wir haben dort einen erheblichen Nachholbedarf im Bewußtsein unserer Partner. Unsere Bemühungen in dieser Präsidentschaft sowohl zum Thema Europol wie zum Thema burden sharing im Bereich von Asyl- und Flüchtlingswesen, wie in der Frage von Wegfahrsperren für Kraftfahrzeuge werden nun einmal zu meinem Bedauern nicht gleichermaßen von all unseren Partnern beantwortet. Ich bin froh, daß der Gipfel in Essen wichtige Leitentscheidungen zum Thema Europol oder auch z. B. zum Ausbau der EDE als Vorstufe von Europol gegeben hat, um Menschenhandel, um Nuklearkriminalität und gewerbsmäßigen Kraftfahrzeugdiebstahl in einen großen Straftatenkatalog aufzunehmen, der schrittweise in die Arbeit von Europol hineinführt. Kein Zweifel, Herr Kollege, mir wäre mehr lieber gewesen. Aber ich kann nicht darüber hinweg, daß es in Europa immer noch Staatsmänner gibt, die sich über die Frage der Rechnungsprüfung bei Europol tagelang mit anderen streiten können und das für wichtiger halten als die Bekämpfung von Terrorismus oder organisiertem Kraftfahrzeugdiebstahl. Das zu ändern liegt nicht in der Hand der Bundesregierung.
— Ich glaube nicht, daß es an meiner Überzeugungskraft gelegen hat. In anderen alten Nationalstaaten haben die Fragen der Souveränität bei der Verbrechensbekämpfung und bei Angelegenheiten von Polizei und Justiz einen derart herausgehobenen Stellenwert, daß sie selbst zu kleinen weiteren Schritten nur
mühsam zu bewegen sind. Solche Schritte sind getan und werden weiter getan.
Von besonderer Bedeutung ist das Zusammenwirken mit den Ländern in der Kriminalitätsbekämpfung ebenso wie anderen Fragen des inneren Friedens, in der Frage der Ausländerpolitik ganz besonders. Es geht nicht an, daß die Länder freihändig, je nachdem, wie es einem gerade am bequemsten ist, der eigenen Verantwortung auszuweichen, ihre Abschiebestopps verhängen und damit den Asylkompromiß durch die Hintertür unterlaufen. Das geht nicht.
Ich bin in der letzten Innenministerkonferenz von den Abschiebestoppvorschlägen betreffend Aserbaidschan, Armenien, türkische Christen, Kurden, Togo, Zaire und sämtliche Altfälle heimgesucht worden. Sie müssen sich nur einmal an einem Beispiel die sozialdemokratische Politik vorführen lassen.
Da wird von Bremen ein Abschiebestopp für Togo verlangt. Weil sich dafür niemand erwärmt, wird der Antrag in der Sitzung zurückgenommen. Heute morgen lese ich in der Zeitung, daß Schleswig-Holstein die Abschiebung nach Togo wieder gestoppt hat.
In der vorigen Woche habe ich die Visumfreiheit für Togo — und einige andere schwarzafrikanische Staaten — aufheben müssen, weil übelstes Schlepperwesen die Visumfreiheit in Togo und die Tatsache, daß Rußland nicht sicheres Herkunftsland ist, zum Einschleppen von Tausenden von Togolesen von Togo über Moskau nach München — weil es da ein Togo-Generalkonsulat gibt benutzt hat. Das ist die Realität einer Länderpolitik, die der Verantwortung ausweicht. Das geht nicht.
Wir werden in dem derzeit wichtigsten Fall der Abschiebeproblematik bis zum 20. Januar einen Abschiebestopp miteinander beachten. Dem habe ich zugestimmt, weil das türkische Abgeordnetenurteil in der Tat von so besonderer Bedeutung auch für die beidseitigen Beziehungen unter den Aspekten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist, daß es gründlich geprüft werden möge.
Wenn es hingegen lediglich Bezüge zum Thema PKK hat, was nicht unser reales Abschiebeproblem darstellt, und keine Bezüge zum allgemeinen Kurdenthema besitzt — Herr Schnoor hat mir erklärt, daß er im vergangenen Jahr 1 000 Kurden als normale Asylbewerber abgeschoben hat, die keinen Berechtigungsstatus in Deutschland gewinnen konnten —, dann ist es selbstverständlich, daß die Abschiebung wieder aufgenommen werden muß.
Denn wenn wir in der Welt den Eindruck entstehen lassen, daß man nach Deutschland nur hereinkommen muß, um dann vor Abschiebung sicher zu sein, kann es
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Bundesminister Manfred Kanther
nicht zweifelhaft sein, daß wir den Zugang nicht beherrschen werden und erneut die innenpolitischen Probleme wie in der Zeit vor dem Asylkompromiß haben werden.
Es sind zu viele und aus aller Welt, die überwiegend kriminell geschleppt in dieses Land drängen, als daß wir unter bevorzugt humanitären Aspekten dieses dulden könnten. Das wird nicht geschehen.
Das Ausländerrecht hat nicht nur die Funktion, ausländerrechtliche Probleme im Sinne von Rechtsansprüchen der Ausländer zu regeln, sondern natürlich auch die Funktion, die inländische Gesellschaft vor einem solch unbeherrschbaren Zustrom von Ausländern oder gar rechtswidrigen Verhalten im Inland zu sichern. Beide Komponenten des Ausländerrechts werden diese Bundesregierung und diese Koalition weiter wesentlich beachten.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Fritz Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man die Rede des Bundesinnenministers hört, stellt sich einem insbesondere bei dem Thema der Verbrechensbekämpfung die Frage: Wer regiert hier eigentlich?
Man kann Ihnen, Herr Kanther, auch etwas zurufen: Machen Sie es doch!
Offensichtlich — ich werde nachher noch darauf eingehen — haben Sie einige Probleme innerhalb Ihrer Koalition. Die Kolleginnen und Kollegen von der CDU sollten, wenn es um das Thema „Innere Sicherheit" geht, nicht in Richtung der SPD-Fraktion sehen. Sie sollten sich vielmehr an die Kolleginnen und Kollegen aus der F.D.P.-Fraktion wenden, die hier eine andere Position vertreten.
Herr Kollege Kanther, Sie haben gesagt, daß Sie heute aus bestimmten Gründen nicht ausführlich über Ihre Koalitionsvereinbarung reden. Ich will aber einmal einen Punkt aufgreifen. Wenn man Ihre Koalitionsvereinbarung liest, kann man sehr viel zu den Themen „Bürokratie abbauen" , „Verwaltung straffen", „Verfahren vereinfachen" oder „Rechtsschutz konzentrieren" zur Kenntnis nehmen. Angesichts Ihres vorgebrachten, notwendigen Veränderungsbedarfs zum Thema „Modernisierung des Staates" stellt sich für mich die Frage: Wer hat eigentlich in den letzten zwölf Jahren regiert?
Mein Eindruck ist, daß diese Bundesregierung ihre alten Privatisierungsideologien beibehält. Sie sieht
Privatisierung als das Allheilmittel zur Modernisierung des Staates an.
Das scheint mir ein falscher Weg zu sein.
Es geht vielmehr — hören Sie gut zu — um die Handlungsfähigkeit unseres Staates, um die Zukunft für unsere nachfolgenden Generationen. Wir müssen bei unseren Vorstellungen weg davon, daß es ausschließlich um Kosten und Köpfe geht. Auch stellt sich die Frage, wie der Staat zukünftig seine neu zu bestimmenden Aufgaben in öffentlich-rechtlicher Verantwortung wahrnimmt: durch Privatisierung oder beispielsweise durch die Delegation an privatrechtliche Organisationen.
Bei der Modernisierung des Staates, bei einer Veränderung unserer Verwaltungsstrukturen geht es nicht in erster Linie um das Sparen, nicht nur um die Erhaltung finanzieller Spielräume des Bundes, der Bundesländer und der Kommunen. Nein, es geht um eine moderne, effiziente und sparsame Verwaltung als Standortvoraussetzung für unsere Bundesrepublik Deutschland als investitionsfreundliches Land. Es geht hierbei um Bürgerfreundlichkeit und Bürgernähe der Verwaltung, die zu jeder Zeit deutlich machen muß, daß sie für die Bürgerinnen und Bürger da ist und nicht umgekehrt.
Ich sage ganz deutlich: Alle denkbaren Reformbemühungen müssen davon ausgehen, daß eine Reform nur mit den Beschäftigten und nicht gegen sie möglich ist.
Herr Kollege Kanther, das Zurückschneiden von Vorschriften und die Verbesserung von Qualität, allerdings auch mit der notwendigen Personalkostenreduktion, sind zu verbinden. Ich halte das in der Koalitionsvereinbarung beschlossene Personalwirtschaftskonzept für außerordentlich dürftig. Die Forderung, den Personalbestand in den Bundesbehörden in den nächsten vier Jahren um insgesamt 1 % jährlich zu senken, wird im Grunde genommen der von uns eingebrachten Zielvorstellung zur Modernisierung unseres Staates nicht gerecht. Hier wird mit der Rasenmähermethode vorgegangen. Hier wird nicht darauf geachtet, wie Staat und staatliche Aufgaben verändert, ja angepaßt werden müssen.
Kostendenken und Kostenbewußtsein sind gefragt; weg von der Kameralistik, hin zum betriebswirtschaftlichen Denken. Dazu müssen aber bessere Feststellungsmethoden und Kontrollmechanismen entwickelt werden, mit denen auch der erforderliche Personalaufwand ermittelt und ein Überaufwand vermieden wird.
Ich möchte ein paar Bemerkungen zum Dienstrecht machen. Was das Dienstrecht anbelangt, möchte ich kurz skizzieren, worum es nach meiner Überzeugung geht. Wir brauchen eine funktionsgerechte Bezahlung. Die heutigen Stellenobergrenzen sind leistungsfeindlich. Statt ein mangelhaftes Beurteilungswesen
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Fritz Rudolf Körper
partiell außer Kraft zu setzen, muß das Beurteilungswesen reformiert werden. Die Personalsteuerung sollte im Rahmen einer Personalentwicklungsplanung erfolgen. Nach meiner Auffassung verkennen das Bundesinnenministerium und die Bundesregierung, daß eine grundlegende und umfassende Reform des Laufbahnrechts notwendig ist. Im Prinzip muß künftig der Aufstieg ebenso wie der Laufbahnwechsel nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung möglich sein.
Herr Bundesinnenminister, Sie haben sich sehr stark mit der Verbrechensbekämpfung und der Kriminalität auseinandergesetzt. In den letzten zwölf Jahren — das stellen Sie auch fest — hat insbesondere die organisierte Kriminalität unbekannte Dimensionen erreicht. Im Jahre 1992 waren in Deutschland 641 Ermittlungsverfahren im Bereich der organisierten Kriminalität anhängig. In diesen Verfahren wurden insgesamt 60 564 Einzeldelikte erfaßt. Die Bandbreite dieser Delikte erstreckte sich auf nahezu den gesamten Straftatenkatalog der polizeilichen Kriminalstatistik. Die Bekämpfung der organisierten Kriminalität erfordert eine Gesamtstrategie, die die Bundesregierung nicht hat und auch heute nicht aufgezeigt hat.
Wer dem widerspricht, den möchte ich auf die Koalitionsvereinbarung verweisen. Zu dem Thema „Innere Sicherheit" stehen sage und schreibe zwei nichtssagende Sätze in fünf oder sechs Zeilen. Dies zeigt die Wichtigkeit, die Sie diesem Thema beimessen. Ich meine, dies wird der Sache nicht gerecht.
Das Schlimme ist, daß Sie, Herr Kanther, mit Ihren Positionen handlungsunfähig sind, weil Sie in Ihrer eigenen Koalition für Ihre Vorstellungen keine Mehrheiten bekommen.
Dies wird beispielsweise an dem Zustandekommen des Geldwäschegesetzes deutlich. Obwohl die Bundesregierung erkannt haben soll, daß die Bekämpfung der organisierten Kriminalität bei der wirtschaftlichen Attraktivität ansetzen muß, hat sie entgegen unseren Forderungen das Zustandekommen eines wirksamen Geldwäschegesetzes verhindert. Man beachte, daß nach vorsichtigen Schätzungen des Bundesnachrichtendienstes jährlich in Deutschland sage und schreibe 100 Millionen DM gewaschen werden — ich wiederhole: 100 Milliarden DM.
— Entschuldigung, Milliarden. Herr Fischer, wenn ich mich versprochen haben sollte, korrigiere ich: Milliarden. Es geht nicht um lächerliche Millionen.
— Vielen Dank. Ich freue mich, wenn Sie gut aufpassen. Das erleichtert es dem Redner, seine Rede zu halten.
Meine Damen und Herren, die Aussage der Regierung in ihrer Koalitionsvereinbarung, erst auf der Grundlage eines Erfahrungsberichtes 1996 den möglichen Gesetzgebungsbedarf festzustellen, ist bezeichnend. Es steht nämlich jetzt schon fest, daß dieses Geldwäschegesetz in der Praxis unbrauchbar
— schlicht gesagt: eine Farce — ist.
Da brauche ich keine sozialdemokratischen Experten zu zitieren.
Ich verweise nur auf die Aussage des BKA-Präsidenten Zachert, der sagt: Ganze 2,4 Millionen DM wurden in den letzten zwölf Monaten beschlagnahmt. Präsident Zachert sieht weiteren Reformbedarf.
Wenn Sie, meine Damen und Herren, dem BKA- Präsidenten keinen Glauben schenken, sehen Sie sich doch einmal ein wenig in anderen Erfahrungsberichten um. Wir sind der Auffassung: Wer nicht am Hauptpunkt der wirksamen Geldwäsche ansetzt, verurteilt im Grunde genommen Polizei und Justiz zur Statistenrolle.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat auch in ihrer repressiven Drogenpolitik versagt und damit den gewaltigen Bereich der Beschaffungskriminalität maßgeblich mitzuverantworten.
Wer das Strafrecht für ein geeignetes Mittel der Drogenpolitik hält, sollte der Ehrlichkeit halber zugeben, daß es ihm nicht um die Hilfe für verelendete Menschen geht, sondern um eine repressive Ordnungspolitik und die Demonstration exekutiver Potenz.
Wir wollen den Grundsatz „Hilfe statt Strafen" stärken und erweitern. Ich sage auch, Herr Geis: Der Verelendung langjährig Abhängiger ist mit sozialtherapeutischen Maßnahmen zu begegnen, anstatt sie mit repressiven Mitteln zu verstärken. Daher muß das organisierte Rauschgiftwesen richtig und gut bekämpft werden.
Meine Damen und Herren, ich will auch der Wirtschaftskriminalität hier noch kurze Beachtung schenken. Ich sage ganz deutlich: Mit der SPD wird es keine Politik geben nach dem Motto, die Kleinen zu hängen und die Großen laufen zu lassen.
Ich will das ein bißchen konkret machen, lieber Erwin Marschewski. Es ist unfaßbar und auch unverantwortlich, daß diese Bundesregierung noch immer nicht in der Lage ist, die längst überfällige Novellierung der
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Fritz Rudolf Körper
gesetzlichen Grundlagen für die Arbeit des Bundeskriminalamtes vorzulegen.
Hier liegt bis heute kein ernstzunehmender Entwurf vor.
Dies ist im Hinblick auf Schengen und den gescheiterten Verhandlungen mit der EU zur Verabschiedung der Europol-Konvention unverantwortlich und zeigt nach meinem Dafürhalten deutlich das Desinteresse und das Unvermögen dieser Bundesregierung.
Ich sage, Herr Kanther: Sie können im Grunde genommen über den EU-Gipfel in Essen sagen, was Sie wollen. Thema bleibt, daß Europol im Moment versagt. Unsere Aufgabe ist es — ich will die Schwierigkeiten überhaupt nicht wegdiskutieren —, gemeinsam die nationalen Egoismen in der Verbrechensbekämpfung beiseite zu schieben und damit wirksamere Methoden an den Tag zu legen.
Ich will auch ein paar Sätze über die Kulturpolitik verlieren, die ebenfalls zu dem Bereich der Innenpolitik gehört. Lieber Herr Kanther, es ist schon erstaunlich, daß Sie das Thema Kulturpolitik, das auch im Zuge dieser Haushaltsberatungen letztendlich eine Rolle spielen sollte, nicht erwähnt haben. Aber in den Koalitionsvereinbarungen wurde sich ja auch nur mühsam etwas abgerungen. Ich will in diesem Zusammenhang Richard von Weizsäcker zitieren. Er bat in seiner Abschiedsrede am 1. Juli 1994 die Haushälter und Finanzverantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen, sich auch in diesen finanziell schwierigen Zeiten für die Kultur einzusetzen. Denn — so sagte er — „Kultur ist eben kein entbehrlicher Zierat, sondern humane Lebensweise der Bürger". Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Meine Damen und Herren, ich komme zur Zuwanderungspolitik. Ob wir wollen oder nicht, wir tragen hierbei auf zwei Schultern. Das eine ist die Steuerung und Begrenzung des Zuzuges, und das andere betrifft die Integration der auf Dauer mit uns und unter uns lebenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.
Um mit letzterem zu beginnen: Die alte wie die neue Bundesregierung zeigt hierbei eine — lassen Sie es mich einmal so sagen erbärmliche Kontinuität, die in einem Wort zusammenzufassen ist: Fehlanzeige.
Fehlanzeige vor allem bei der überfälligen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Insbesondere die verehrten Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. können sich schon einmal darauf einstellen, daß sie erneut Gelegenheit bekommen werden, den traurigen Spagat zwischen hehren Parteitagsbeschlüssen einerseits und Koalitionsdisziplin andererseits vorzuführen, indem wir uns konkret für eine deutliche Erleichterung der Einbürgerung mit Zulassung der doppelten Staatszugehörigkeit einsetzen.
— Wenn Sie den Dialog beendet haben, mache ich weiter.
Kommen Sie uns jetzt bitte nicht mit Ihrer Mißgeburt einer sogenannten Kinderstaatszugehörigkeit. Diesem merkwürdigen Konstrukt haben Sie in Wahrheit selbst doch nur eine Lebensdauer von ca. 48 Stunden zugedacht, die Zeit zwischen der Veröffentlichung der Koalitionsvereinbarung und der Wahl des Kanzlers. Jetzt können Sie dieses Ausstellungsstück aus dem Kuriositätenkabinett dorthin tun, wo es hingehört, nämlich in den Papierkorb.
Meine Damen und Herren, was den europäischen Vergleich anbelangt, ist Ihre Kinderstaatszugehörigkeit ein nationaler Irrweg. Wie erklären Sie uns, daß das einzige greifbare Ergebnis zum Schengener Abkommen eine weitere Verschiebung seines Inkrafttretens war? Wo sind die Ansätze einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge und der mit ihrer Aufnahme zusammenhängenden Lasten?
Ihre Erfolglosigkeit in Europa paart sich mit Ideenlosigkeit und Reformunwilligkeit auf nationaler Ebene. Das betrifft nicht zuletzt die Asyl- und Flüchtlingspolitik. Ich werde Ihnen jetzt nicht den Gefallen tun, den mittlerweile zwei Jahre alten Asylkompromiß in Frage zu stellen, im Gegenteil. Dazu stehen wir. Sie aber verschanzen sich hinter ihm. Sie wollen nicht wahrhaben, daß Asylpolitik eine lebendige Materie ist, weil sie mit lebendigen Menschen zu tun hat.
Sie stellen sich taub gegenüber der Kritik zahlreicher Flüchtlingsorganisationen am neuen Asylrecht. Sie, die Sie das große „C" im Parteinamen führen, wollen den Kirchen nicht zuhören. Richtig ist: Die Politik muß sich dieser Kritik stellen.
Ich wäre einstweilen ja schon damit zufrieden, wenn der Herr Bundesinnenminister ab und an auf seine Kollegen Innenminister in den Ländern hören würde. Dann gäbe es beispielsweise einen richtigen Abschiebestopp für Kurdinnen und Kurden aus der Türkei und nicht nur ein halbgares Moratorium über die Festtage bis zum 20. Januar.
Auch beim Aufenteltsstatus für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge müssen Sie Ihre Sprachlosigkeit überwinden und den Ländern ein vernünftiges finan-
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Fritz Rudolf Körper
zielles Angebot unterbreiten, damit dieser sogenannte B-Status endlich angewandt werden kann.
— Herr Kollege Hirsch, ich bin der Auffassung, daß auch die Bundesländer ihren Beitrag dazu leisten müssen. Darüber haben wir überhaupt keinen Streit.
Ich will noch einen Satz zu dem Thema der Aussiedlerpolitik sagen. Leider muß ich feststellen, daß die Aussiedlerpolitik gerade in den letzten beiden Jahren aus den Fugen geraten ist, deshalb, weil die Balance zwischen Zuzug und Integration der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler nicht mehr stimmt. Einst wurde das System der Aussiedlereingliederungsleistungen als Modell für eine erfolgreiche Integration von Einwanderern schlechthin gepriesen. Heute kann davon keine Rede mehr sein. Das Tor bleibt offen, verkünden Sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Aber Sie kümmern sich nicht darum, was hinter der Tür passiert. Damit lassen Sie die Spätaussiedler allein; das lassen Sie die Sozialhilfeträger und andere ausbaden.
Sie sollten zugeben, daß die Hilfen für die deutschen Minderheiten in Rußland und anderswo nur mäßig wirksam sind. Sie sollten sich eingestehen, daß der Auswanderungsdruck unverändert hoch ist. Erst dann sind die Voraussetzungen für eine notwendige Neubesinnung in der Aussiedlerpolitik dieser Bundesregierung geschaffen.
Immerhin knirscht es schon im Gebälk der Bundesregierung, und ich habe aufmerksam registriert, daß sich der Kollege Blüm als Angehöriger der Bundesregierung jüngst aus arbeitsmarktpolitischen Gründen für eine Begrenzung des Aussiedlerzuzugs ausgesprochen hat. Ich bin der Auffassung, darüber muß man weiter nachdenken.
Meine Damen und Herren, die Innenpolitik kann mit Sicherheit auf vielen Feldern zum notwendigen sozialen Frieden beitragen. Innerer Friede und innere Sicherheit können nicht ausschließlich mit staatlichen Maßnahmen gewährleistet werden. Nein, es ist eine gemeinsame, eine gesellschaftspolitische Aufgabe, in der wir uns klar und deutlich mit Gewalt und Aggression auseinandersetzen müssen.
Aber Zivilcourage zu stärken, solidarisches Handeln zu fördern und persönliches Engagement zu unterstützen ist notwendiger denn je. Sie, Herr Kanther, haben aber mit Ihrer Politik dazu bisher nicht viel beigetragen.
Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Marschewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Glückwunsch, Herr Kollege Körper, für diese erste Rede als innenpolitischer Sprecher Ihrer Fraktion! Ich wünsche Ihnen alles Gute. Nur, Ihre Kritik an der Innenpolitik der Bundesregierung geht voll ins Leere.
Ich will einmal sagen, was das Ausland über den Essener Gipfel in bezug auf die Innenpolitik geschrieben hat. „Le Figaro" schreibt: gefestigte Demokratie. Die „Financial Times" schreibt: Sieg der Union hat Unsicherheit beseitigt.
Meine Damen und Herren, die Zeitungen haben recht; denn gerade im Bereich der Innenpolitik können wir auf große Erfolge zurückblicken.
Ich denke an das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Dazu hat die SPD nein gesagt. Ich denke an das Geldwäschegesetz. Da hat die SPD erst im Bundesrat oder im Vermittlungsausschuß zugestimmt, nachdem sie hier nein gesagt hatte. Ich denke an das Bundesgrenzschutzgesetz. Dazu hat die SPD in diesem Hause nein gesagt. Ich denke an das Verbrechensbekämpfungsgesetz.
— Herr Kollege Singer, das ist ein Gesetz gegen Gewalt, gegen Extremismus, ein Gesetz, mit dem wir den Gangstern den Kampf angesagt haben. Da haben Sie erst im Vermittlungsausschuß zugestimmt, zu spät zugestimmt. Auch da, meine Damen und Herren, das klare Bekenntnis!
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Singer, wenn Sie ihn schon angesprochen haben?
Bitte schön, natürlich.
Herr Kollege Marschewski, haben Sie vergessen, daß wir zum Geldwäschegesetz und Verbrechensbekämpfungsgesetz in der ersten Fassung nein gesagt haben, weil die beiden von Ihnen vorgelegten Gesetze noch zahnloser und wirkungsloser waren als das, was endgültig verabschiedet worden ist?
Herr Kollege Singer, ich denke, daß das jetzt verabschiedete Verbrechensbekämpfungsgesetz, dem Sie zugestimmt haben, ergänzungsbedürftig ist. Wenn Sie mit der Polizei reden, dann ist ein Punkt natürlich von ausgesprochener Wesentlichkeit. Ich will das ganz vorurteilslos sagen, auch zu Herrn Kollege Dr. Hirsch: Wir müssen einmal darüber nachdenken, das zu tun, was Sie sicherlich gesagt haben und was wir auf dem Parteitag der CDU auch beschlossen haben, nämlich an die Umkehr der Beweislast heranzugehen.
Wenn wir das gemeinsam tun, dann wird dieses
Gesetz sicherlich noch effektiver sein. Ich wiederhole:
Wir haben Gesetze beschlossen, mit denen wir den
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Erwin Marschewski
Kampf gegen die Gangster angesagt haben. Das wollen wir auch weiterhin tun.
Meine Damen und Herren, ich darf die Liste der erfolgreichen Vorhaben fortsetzen: Wir haben das Ausländerrecht neu geordnet. Wir haben das Asylrecht novelliert. Zum Asylrecht: Unser Asylrecht ist weiterhin das großzügigste in der Welt, nur dem Mißbrauch wird ein Riegel vorgeschoben, und wirklich politisch Verfolgten ist Schutz sicher. Aber, Herr Kollege Körper, ich weiß doch, wie schwer es gerade Ihrer Fraktion gefallen ist, diesem Gesetz letzten Endes mit einer Handvoll Stimmen zuzustimmen. Ich bedanke mich dafür. Aber Sie können doch auf Grund der Mehrheit im Bundesrat nicht sagen: Wer regiert hier denn eigentlich?
Ich meine, unser Asylrecht ist ein großzügiges Recht. Das wird auch durch die Entscheidung des Bundesinnenministers hinsichtlich der Abschiebung der Kurden bestätigt. Damit eines klar ist: Die türkischen Urteile gegen ihre eigenen kurdischen Abgeordneten sind ein schlimmes Zeichen für die Einschätzung der demokratischen Ordnung in der Türkei; sie verlangen eine neue Bewertung des Verhältnisses zu diesem NATO-Partner.
Aber ich denke, daß der Abschiebestopp bis zum 20. Januar genügend Gelegenheit gibt, darüber nachzudenken. Deswegen entbehren alle Vorwürfe an den Innenminister jeder Grundlage.
Denn bisher — Sie wissen dies — ist kein einziger PKK-Anhänger von Deutschland an die Türkei ausgeliefert worden. Das ist auch die Linie des Innenministers. Wir wollen im Einzelfall entscheiden. Eine Einzelfallentscheidung ist letzten Endes generellen Regelungen vorzuziehen.
Meine Damen und Herren, im Bereich der inneren Sicherheit müssen wir das Ausländer- und Asylrecht weiterentwickeln; denn der Friede, das wissen wir, beginnt im eigenen Haus. Im innenpolitisch geistigen Kampf um die Herrschaft muß die Gesinnung der Friedlosigkeit, die die Gewalt wollen würde, wenn sie nur könnte, verschwinden. Ich meine, der Etat des Finanzministers zeigt auf, daß wir im Bereich der Gewährleistung der inneren Sicherheit zufrieden sein können.
Ich denke erstens daran: Wir werden bis 1996 die Lücke im Bundesgrenzschutz geschlossen haben. Herzlichen Dank, Herr Bundesfinanzminister, herzlichen Dank, Herr Bundesinnenminister! Wir werden damit den Schleppern den Kampf angesagt haben. Das Schleppertum ist ein schlimmes Verbrechen. Wir müssen deswegen die Zahl an Grenzschutzbeamten erhöhen.
Als zweites werden wir das Bundeskriminalamt personell und finanziell besser ausstatten. Ich meine, die Verbrechensbekämpfung beim, BKA hat sich bewährt.
Schließlich wollen wir weiterhin die Länder bei den Bereitschaftspolizeien unterstützen. Das kostet Geld. Das wissen wir. Wir wissen auch, daß für die innere Sicherheit in erster Linie die Länder verantwortlich
sind, in denen Sie oft das Sagen haben. Ich weiß, daß wir als Bund Gesetze zu beschließen haben, und wir werden dies tun.
Meine Damen und Herren, wir brauchen z. B. dringend eine gesetzliche Regelung der Hauptverhandlungshaft. Warum haben Sie dem im Vermittlungsausschuß nicht zugestimmt? Sie wollen darüber nachdenken. Unser Ziel: Sofort festzunehmen, sofort zu verurteilen, sofort zum Strafantritt zu kommen. So Dinge wie in Oberhof dürfen sich nicht wiederholen. Das hat diese Koalition beschlossen.
Ich fordere Sie auf, darüber nachzudenken und es uns gleichzutun. Wir brauchen — richtig, Herr Kollege Körper — eine Novellierung des BKA-Gesetzes. Da ist eine effektive Verbrechensbekämpfung erforderlich. Ich verstehe nicht, warum die großen Länder sich dagegen sperren, dem BKA die Vorfeldbeobachtung zu übertragen. Aber dies, meine Damen und Herren, wird nicht ausreichen.
Was ich Ihnen vorschlage, ist etwas, was wir bereits als Koalition beschlossen hatten. Ich halte es für dringend vonnöten, das G-10-Gesetz zu erweitern. Wir setzen den Bundesnachrichtendienst zum Einsatz gegen Terrorismus, gegen Drogen und gegen Handel mit spaltbarem Material ein. Warum beziehen wir nicht die individuelle Verbrechensbekämpfung ein? Es kann doch nicht sein, daß ein Gangster hier überwacht wird, weil er mit Drogen oder mit radioaktivem Material handelt; dieser Gangster hat eine zweite Wohnung in Frankreich, und er zieht dorthin und betreibt sein verbrecherisches Geschäft von dort. Dieser Gangster muß überwacht werden, meine Damen und Herren. Ich bitte Sie herzlich, das G-
10-Gesetz mit uns entsprechend zu ändern.
— Ich spreche ja nicht von Ihnen, Herr Kollege Fischer. Ich spreche von Gangstern. Wissen Sie, Sie werden noch Gelegenheit haben, mit uns gemeinsam unverkrampft, ohne Überspanntheiten und ohne Übertreibungen an die Reformierung von Gesetzen zu gehen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, Herr Kollege Hirsch, bitte schön.
Herr Kollege Marschewski, Sie haben, ebenso wie der Bundesinnenminister an verschiedenen Stellen, von der Überwachung von Gangstern gesprochen. Müßten Sie nicht richtiger von Bürgern oder von Leuten sprechen, die berechtigt oder unberechtigt in einen Verdacht geraten sind, und davon, daß es um die Aufklärung eines Verdachtes geht? Ist es nicht so, daß Sie jemanden,
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Dr. Burkhard Hirsch
von dem Sie wissen, daß er ein Gangster ist, verhaften
müßten und nicht weiter zu überwachen bräuchten?
Herr Kollege Hirsch, ich gebe Ihnen folgenden Sachverhalt: Es wird jemand auf richterliche Anordnung hin als Drogenhändler überwacht. Er geht nach Frankreich. Wir sind dabei, ihn festzunehmen. Wir schaffen dies nicht. Wir wollen ihn auch von Frankreich aus, wo er seine zweite Wohnung hat, weiter überwachen. Dies ist im Augenblick wegen der derzeitigen Formulierung des G-10-Gesetzes nicht möglich. Das möchte ich ändern.
— Meine Damen und Herren, Sie wissen doch, daß die Möglichkeit besteht, durch den Bundesnachrichtendienst diese Gangsterwohnung abzuhören. Wenn Sie das nicht wissen, Herr Kollege Hirsch, dann sage ich Ihnen dies. Das wollen wir tun, um den Gangstern keinen Spielraum in Europa zu geben. Das ist unsere Politik, meine Damen und Herren.
— Ich habe gerade gesagt: Wir wollen unverkrampft und ohne Überspanntheiten an die Bewältigung dieser wichtigen Probleme gehen, meine Damen und Herren. Ich spreche ganz bewußt den Einsatz technischer Mittel in Wohnungen an, den sogenannten Lauschangriff, meine Damen und Herren. Es ist doch nicht einzusehen, daß Gangster in Hinterzimmern
ihre Verbrechen besprechen können. Ich bin natürlich dafür: Die Wohnung ist unverletzlich. Aber dies darf nicht für diese Leute gelten, meine Damen und Herren.
— Herr Kollege Hirsch, was in Italien richtig ist, was in England richtig ist, was in der Schweiz praktiziert wird, in Dänemark und in den Vereinigten Staaten, das ist doch hier in Deutschland nicht verfassungswidrig. Wir wollen dem Verbrechen in seiner Gänze den Kampf ansagen, und das tun wir mit diesen Gesetzen, meine Damen und Herren.
Ein zweiter Bereich wird sicher im Bereich
der — —
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Singer?
Jetzt möchte ich zu Ende ausführen. Die Zeit eilt auch ein bißchen, lieber Johannes Singer.
Ein zweiter wichtiger Bereich ist der Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts. Wir sind uns einig, daß wir dieses Gesetz, aus dem Jahre 1913 stammend, ändern wollen. Wir wollen den Grundcharakter
der Einbürgerungstatbestände ändern. Wir wollen an die Stelle des Ermessens die Anspruchsentscheidung setzen. Wir wollen Erleichterungen der Einbürgerung vornehmen, insbesondere bei den Fristen.
Aber, meine Damen und Herren, wir müssen auch die Gründe für den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit regeln. Wer freiwillig eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt, obwohl er dauernd bei uns lebt, oder wer endgültig in sein ursprüngliches Heimatland zurückkehrt, der soll die deutsche Staatsbürgerschaft wieder verlieren.
Meine Damen und Herren, bei der Reform werden wir an zwei bewährten Prinzipien festhalten: am Abstammungsprinzip und an der grundsätzlichen Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit. Denn, meine Meinung: Wer Mitglied unserer staatlichen Gemeinschaft werden will, soll es ohne Wenn und Aber tun. Deutscher Staatsangehöriger zu werden heißt, sich zu dieser Schicksalsgemeinschaft zu bekennen, aus der man nicht nach Belieben ein- und austreten können soll, meine Damen und Herren.
— Ich bin im Gegensatz zu Ihnen zutiefst davon überzeugt, daß die grundsätzliche Gewährung einer doppelten Staatsbürgerschaft die Integration unserer ausländischen Mitbürger im Ergebnis nicht fördert, sondern beschädigen wird.
Meine Damen und Herren, ein dritter Bereich, der die Innenpolitik angeht, ist der Bereich der Reform des öffentlichen Dienstes. Wir sind uns einig: Eine Reform an Haupt und Gliedern tut not. Dabei wissen wir schon jetzt — ich habe Ihre Rede beim letzten Mal natürlich gehört, Herr Kollege Schily —, daß viele Private auch ohne Einbuße öffentliche Aufgaben besser erfüllen können.
Mit einem bin ich wohl nicht einverstanden: mit einer reinen Organisationsprivatisierung. Denn dies führt, das ist die Erfahrung, die ich als Kommunalpolitiker habe, dazu, daß die entsprechenden Vorstandsmitglieder vielleicht eine höhere Gehaltssumme bekommen. Ich kann Ihnen Beispiele aus dem Ruhrgebiet liefern. Ansonsten ändert sich wenig.
Ich bitte in diesem Zusammenhang die Bundesregierung dringend, über den sogenannten Perspektivbericht hinaus ein Reformkonzept „Öffentlicher Dienst 2000" vorzulegen. Hier tut Handeln wirklich not, meine Damen und Herren.
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Erwin Marschewski
Zum Schluß ein Wort zur Parlamentarischen Kontrollkommission oder, genauer, zur Mitwirkung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an der Kontrolle unserer Geheimdienste: Wir wollen Ihre Beteiligung, meine Damen und Herren, an diesen parlamentarischen Gremien. Wir akzeptieren Ihre volle Teilhabe, aber mit allen Rechten und mit allen Pflichten. Hieran hegen wir Erwartungen. Wollen Sie immer noch wie vor zwei Jahren die existierenden Verfassungsschutzbehörden auflösen — ich habe dies gelesen — oder „die kasernierten Polizeieinheiten" — Sie meinen damit Bereitschaftspolizei und Grenzschutz — abschaffen? Wollen Sie immer noch V-Leute verbieten? Wollen Sie immer noch keine Gefängnisstrafe für kriminelle Heranwachsende verhängen, obwohl, Herr Kollege Fischer, diejenigen, die in Frankfurt gerade hundert Autos aufgebrochen haben, nur zu dem Zweck nach Deutschland gebracht worden sind, um diese kriminellen Dinge zu tun? Wollen Sie den Tatbestand des § 129a, Bildung terroristischer Vereinigungen, immer noch streichen, Herr Kollege Fischer? Wollen Sie das immer noch tun?
Herr Kollege Marschewski, hier ist ein Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Jetzt will ich gerne zu Ende ausführen. Ich bin kurz vor dem Schluß. Wollen Sie dies immer noch tun, Herr Fischer?
— Hoffentlich nehmen Sie Abstand von diesen Vorschlägen. Diese Vorschläge schaffen keine innere Sicherheit. Sie fördern keinen inneren Frieden.
Zu dem inneren Frieden, den ich meine — hören Sie zu —, gehören natürlich Spannungen und Konflikte und sicherlich ein unvermeidliches Maß an Unruhe. Damit dies klar ist: Ich will keinen inneren Frieden ohne Einspruch, ohne Widerspruch, ohne jeden Antagonismus. Das geht doch auch gar nicht.
Nur: Unser Ziel ist eine Politik, die das Verbrechen von seiner Wurzel an bekämpft. Unser Ziel ist, zu zeigen, was Recht ist, was Unrecht ist, was man darf und was man lassen muß. Manches, was ich in diesem Hause gehört habe, macht den inneren Frieden nicht sicherer, sondern eher notleidend. Dies ist nicht gerade die Aufgabe derjenigen, die für die innere Sicherheit zu stehen haben.
Herzlichen Dank.
Ich gebe jetzt dem Kollegen Cem Özdemir das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen wurden zwei Vorstandsmitglieder der angesehenen Menschenrechtsstiftung der Türkei vor dem Staatssicherheitsgericht in Ankara angeklagt. Der eine, Yavuz Önen, hatte eine Politik kritisiert, die „die kurdische politische und demokratische Bewegung verbietet" . Der andere, Fevzi Argun, hatte von einer „sich vertiefenden Kluft zwischen dem kurdischen und dem türkischen Volk" gesprochen. Für diese Äußerungen droht ihnen eine empfindliche Geldstrafe sowie eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren in der Türkei.
Derzeit laufen in der Türkei über 2 000 ähnliche Verfahren, und 117 Schriftsteller, Wissenschaftler und Gewerkschafter der Türkei befinden sich deswegen im Gefängnis.
— Das sind die, die von der Menschenrechtsstiftung belegt sind. Ich nehme bewußt die Zahlen der Menschenrechtsstiftung, weil das Zahlen sind, die, wie Sie wissen, international Anerkennung genießen. — Die meisten dieser 117 haben mit der PKK nicht den Hauch einer Gemeinsamkeit, nicht den Hauch einer Übereinstimmung.
Auch einige Tage nach der Urteilsverkündung gegen die ehemaligen Abgeordneten der Großen Nationalversammlung der Türkei sind wir in diesem Haus über alle Fraktionsgrenzen hinweg betroffen und fassungslos ob der unversöhnlichen Haltung des Generalstaatsanwalts, der Regierungsmehrheit und des Militärs in der Türkei.
Als jemand, der deutscher Staatsbürger türkischer Herkunft ist, sage ich: Die Türkei ist viel zu wichtig, als daß wir es uns leisten könnten, daß die Türkei in fundamentalistische, in nationalistische Fahrwasser abdriftet.
Ich denke, gerade als Europäer müssen wir alles daransetzen, daß diese Kräfte in der Türkei nicht mehrheitsfähig werden.
Ich füge aber hinzu: Wer die Türkei nicht den Islamisten und Nationalisten aller Couleur überlassen möchte, muß sich anschauen, welche Freunde und Freundinnen er in der Türkei hat und unterstützt.
Es gibt ein türkisches Sprichwort, das ich an dieser Stelle zum besten geben möchte. Es lautet türkisch: „Dost aci söyler" und deutsch: „Ein guter Freund sagt stets die Wahrheit". In diesem Sinne würde ich mir wünschen, Herr Marschewski, daß wir als bundesdeutsche Politikerinnen und Politiker in dieser Frage die bittere Wahrheit aussprechen und in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen, daß nur eine Politik,
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Cern Özdemir
die auf Gewaltfreiheit setzt, die ausschließlich auf Menschenrechte setzt, eine Zukunft hat.
Dies wird in der Türkei von der Mehrzahl der Menschen kurdischer und türkischer Abstammung auch so gesehen.
Der Herr Bundeskanzler sitzt hier.
— Nein, nein, er ist hier. Der Bundeskanzler schwebt stets über uns.
Es müßte Sie, Herr Bundeskanzler Kohl, doch seltsam berühren, wenn in türkischen Tageszeitungen wenige Tage vor der Bundestagswahl die Schlagzeile „Çiller betet für Kohl" zu lesen war.
Ich glaube, es ist auch ein Armutszeugnis für unseren Außenminister, wenn ihn einer der nationalistischsten türkischen Kolumnisten über alle Maßen lobt und in einer türkischen Tageszeitung deutsch schreibt: „Danke, Herr Kinkel! " Das sagt einiges darüber aus, wie deutsche Außenpolitik in der Türkei wahrgenommen wird, wie sie ankommt.
Das Versagen in der Außenpolitik paßt sehr gut zu der Politik, mit der Innenminister Kanther auf dem Rücken der Schwächsten vermeintliche Stärke demonstriert.
Es ist bezeichnend: Während bei Flüchtlingen an allen Ecken und Enden gespart und geknausert wird, hat der Bundesinnenminister genug Geld, um in den nächsten vier Jahren über 400 Millionen DM für ein erkennungsdienstliches System für Asylbewerber auszugeben, mit dem Fingerabdrücke verglichen werden können.
All dies zeigt: Statt Fluchtursachen zu bekämpfen und mit Flüchtlingen in unserem Land trotz — zugegebenermaßen — aller Schwierigkeiten human umzugehen, werden Menschen bekämpft, und dafür scheut man keine Mühen und Kosten.
Ich möchte an dieser Stelle, wenn Sie gestatten, auch ein paar Bemerkungen zum Schreckensszenario machen, das Bundesinnenminister Kanther im Bereich der inneren Sicherheit an die Wand gemalt hat. Ich habe schon die Angst gehabt: Was droht mir, wenn ich dieses Gebäude verlasse? Wartet dann schon die Mafia vor der Tür? Warten die Schlepperbanden? Was passiert dann?
Man sollte in aller Deutlichkeit sagen: Trotz aller Schwierigkeiten im Bereich der inneren Sicherheit gibt es nicht den archimedischen Punkt, mit dem die Frage der inneren Sicherheit zu klären wäre. Die Welt ist eben etwas komplizierter, als daß man sagen könnte, die Ausländer und das Ausland seien quasi für alle Probleme, die wir im Bereich der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland haben, verantwortlich. So einfach sollte man es sich nicht machen.
Ich würde auch einen Blick in die „Frankfurter Rundschau" von heute empfehlen. Dort steht einiges zu einem Thema, zu dem ich mir heute Ausführungen gewünscht hätte. Da ist z. B. die Tatsache, daß jeder zwanzigste Deutsche als suchtkrank gilt, daß wir in Deutschland 2,5 Millionen Menschen haben, die alkoholabhängig sind. Wir haben 1,4 Millionen Medikamentenabhängige, 150 000 Menschen sind von harten Drogen abhängig. Ich hätte mir Ausführungen dazu gewünscht, wie wir an dieses Problem herangehen, anstatt daß hier ein Horrorszenario aufgebaut wird, das mit der Realität nichts, aber auch gar nichts gemein hat.
Meine Damen und Herren, ich begrüße den vorliegenden Antrag zur Verlängerung des Abschiebestopps für Kurdinnen und Kurden. Es ist ein erster Schritt zu einer konsequenten Menschenrechtspolitik, die ich mir wünsche. Lassen Sie uns aber morgen um der Humanität willen noch einen weiteren kleinen Schritt tun: Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Antrag, einen Abschiebestopp für Wehrdienstverweigerer aus dem ehemaligen Jugoslawien zu erlassen. Es wäre ein schönes Signal, das von diesem Hause angesichts dessen ausgehen sollte, was im ehemaligen Jugoslawien zur Zeit passiert. Lassen wir nicht zu, daß diese Menschen der Kriegsmaschinerie wieder ausgeliefert werden!
Es genügt nicht, wie der F.D.P.-Generalsekretär wolkig und fern jeder realpolitischen Analyse zu erklären, was wäre, wenn seine Partei die Mehrheit im Bundestag hätte, was sie dann alles gern tun würde. Es geht hier nicht um irgendeine Milchkannenverordnung der Europäischen Union, sondern hier geht es um das Schicksal von Menschen. Es liegt an Ihnen, meine Damen und Herren von der F.D.P.— an die ich mich ganz besonders richte —, zu zeigen, ob Sie gewillt sind, etwas Konkretes für die Menschen zu tun und sich nicht aus der praktischen Politik zu verabschieden, weil die Regierungsvereinbarung anderes angeblich nicht zugelassen hat.
Ich denke — hier wende ich mich wieder gezielt an die Mehrheit dieses Hauses, an die Vertreterinnen und Vertreter, die Kolleginnen und Kollegen von Union und F.D.P. —, diesem Parlament, diesem Hohen Hause, stünde es gut zu Gesicht, wenn es uns gelänge, in dieser Legislaturperiode einen interfraktionellen Kompromiß — ich rede bewußt von einem Kompromiß — in bezug auf die Erleichterung der Einbürge-
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Cern Özdemir
rung und bezüglich der großzügigeren Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft zu finden.
Ich denke, dieses Haus braucht die Koalition der Vernunft. Als Angehöriger der ersten Generation von „neuen Inländern" — oder wie man gemeinhin sagt: der zweiten Einwanderergeneration, wobei das auf mich nicht zutrifft, da ich nie eingewandert bin, sondern immer hier war; nicht in diesem Hohen Hause, aber immer in diesem Lande — kann ich mir nicht vorstellen, was die Phrase von dem „zurück in die Heimat", die offensichtlich nach wie vor in manchen Köpfen herumspukt, bedeuten soll. Das hieße für mich: zurück nach Bad Urach.
Die Redezeit ist abgelaufen.
Der größte Flop der Koalitionsvereinbarung, die sogenannte Kinderstaatszugehörigkeit, ist für meine Begriffe medial genug gewürdigt worden. Ich möchte es Ihnen ersparen, hierzu weitere Kommentare anzufügen. Ich denke, Sie haben alle die Kommentare gelesen. Es wurde in diesem Hause genügend gewürdigt. Kein weiterer Verriß an dieser Stelle; keine Sorge.
Allerdings möchte ich meinerseits nochmals den Appell an die Kolleginnen und Kollegen richten: Zeigen auch Sie Ihre Bereitschaft zum Kompromiß. Lassen Sie uns ein gemeinsames Signal an die Gesellschaft aussenden. Mit „Gesellschaft" meine ich alle Menschen, die hier leben, egal über welchen Paß sie verfügen.
Lassen Sie uns die Brücke schlagen durch die Erleichterung der Einbürgerung, durch eine großzügigere Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft, um den Prozeß der Integration zu erleichtern.
Abschließend möchte ich bemerken: Ich denke, dieses liegt auch im Interesse der Union. Wie ich meine „Landleute" kenne — ich rede jetzt von den Landsleuten, die nicht deutscher, sondern türkischer Abstammung sind —, wären sie, wenn sie wählen dürften, mit Sicherheit eher in Ihrem Lager zu finden als in dem Lager, das meine Partei vertritt. Daran sehen Sie, daß es uns nicht darum geht, Wählerstimmen zu bekommen. Ich denke, es ist ein Akt der demokratischen Standortbestimmung, daß es Zeit ist, hier Reformen vorzunehmen.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen: Kolay gelsin! Das heißt auf deutsch: Auf gutes Gelingen!
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, es ist Sitte in diesem Hause, zu einer Jungfernrede — das ist ein komischer Name — zu gratulieren. Ich gratuliere dem Kollegen Özdemir zu dieser Rede.
Jetzt hat das Wort die Kollegin Frau Ina Albowitz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Özdemir, ich kann Sie völlig beruhigen: Meine Partei und meine Fraktion haben keine Lust, sich aus der Politik zu verabschieden. Sie haben auch keine Lust, Wolkenschieberei zu betreiben.
— Natürlich gibt es nettere Tage; das habe ich mir in der letzten Zeit auch vorgestellt. Aber manchmal muß man es halt nehmen, wie es kommt. Es war bei euch auch schon einmal besser.
Ich hatte eben bei manchen Reden streckenweise den Eindruck — das sage ich mit aller Ernsthaftigkeit —, als lebte ich in einem anderen Land. Für das Land, in dem ich lebe, stimmen ein Teil der Szenarien, die hier dargestellt worden sind, nicht.
Darauf komme ich noch einmal zurück.
Die Koalitionsvereinbarungen im Bereich der Innen- und Rechtspolitik sind von dem Gedanken getragen, den liberalen Rechtsstaat zu stärken, die Bürgerrechte zu verteidigen, aber auch die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Die liberale Bürgergesellschaft stellt an die Regierenden hohe Anforderungen. Der Bürger will wissen, daß er am demokratischen Staatsleben teilhaben kann, daß er sich sicher fühlen kann und daß ihm aus einer möglichen Bedürftigkeit herausgeholfen wird. Fragen der inneren Sicherheit, die Behandlung kultureller Angelegenheiten sowie die Politik für Minderheiten als Bestandteile der inneren Verfassung unseres Staates bieten Maßstäbe, mit denen sich die Ausrichtung der Regierungskoalition feststellen läßt.
Die Sicherheit der Bürger ist nicht zum Nulltarif zu haben. Ein Bürger, der ständig in Angst vor Bedrohung lebt, kann seine Freiheit nicht ausleben. Aber niemand darf glauben, daß man Sicherheit erkaufen kann. Es nützt nichts, eine immer weiter gehende technische Aufrüstung der deutschen Sicherheitsbehörden zu betreiben. Ein wesentliches Merkmal bei der Entwicklung technischer Geräte ist nämlich die Tatsache, daß in relativ kurzer Zeit die Entwicklung schon wieder überholt ist. Diese unendliche Spirale produziert meiner Ansicht nach ein ungesundes Kosten-Nutzen-Verhältnis.
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Ina Albowitz
Meine Auffassung von innerer Sicherheit definiert sich anders. Insoweit, glaube ich, Herr Bundesinnenminister, ist ein Teil der Szenarien, die Sie eben hier dargestellt haben, überzogen. Ich hatte den Eindruck, Sie wollen den Bürgern in diesem Land ein bißchen Angst machen. Ein Teil Ihrer Darstellungen ist Ländervollzugsangelegenheit. Wir sind weniger gefordert.
Neben einer staatlichen Pflicht zur Kriminalitätsbekämpfung ist vor allem der innere Frieden einer Gesellschaft wichtig. Die innere Sicherheit hängt dann davon ab, daß die Polizeibehörden bei der Prävention und bei der Verbrechensbekämpfung die erforderliche Unteistützung erhalten, sowohl in finanzieller und personeller als auch in ideeller Hinsicht. Hier greift die Aufstockung der Mittel für den Bundesgrenzschutz. Damit kann die noch bestehende Personallücke geschlossen werden.
Beim Bundeskriminalamt wird beim AFIS-Fingerabdrucksystem ein erheblicher Betrag zur Effizienzsteigerung aufgebracht. Ich denke, das ist zwingend erforderlich. Im übrigen hoffe ich, daß das neue Personalkonzept des Bundesministers des Innern Erfolg hat, damit beim BKA endlich wieder Ruhe einkehrt. Ein bißchen weniger Pressekonferenzen und ein bißchen mehr Eigenarbeit ständen dem BKA durchaus gut an.
Ebenso wichtig für mich und für meine Partei ist aber der innere Zusammenhalt der Bevölkerung. Eine gute Innenpolitik muß darauf achten, daß die Ränder nicht ausfransen, daß sich einzelne nicht ausgeschlossen fühlen und der Staat ihnen die kalte Schulter zeigt. Wir brauchen ein Klima der Toleranz in unserem Land, damit die Gesetze im Bereich der inneren Sicherheit dann auch akzeptiert werden können.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, der Bundesregierung und vornehmlich dem Herrn Bundeskanzler dafür zu danken, daß sie bei der wirklich schwierigen Menschenrechtslage in der Türkei einen sofortigen Abschiebestopp für Kurden bis zum 20. Januar verfügt hat.
Diese Reaktion auf die unglaublichen Urteile gegen acht Kollegen von uns — es sind Kollegen von uns — hat die volle Zustimmung meiner Partei und meiner Fraktion. Burkhard Hirsch und ich haben sie kurz vor Prozeßbeginn in Ankara besucht. Ich bin so deprimiert, daß ich es Ihnen überhaupt nicht beschreiben kann. Ich bin noch heute deprimiert, obwohl das inzwischen ein Vierteljahr her ist. Wir können einen solchen Anschlag auf die parlamentarische Demokratie gerade in mit uns befreundeten Staaten nicht schweigend hinnehmen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das als persönliche Bemerkung noch mit einfügen: Es geht um ein Land, in dem ein Mann verhaftet wird, weil er eine Rede vor dem Europarat gehalten hat, nämlich der Mann von Leyla Zana. Leyla Zana ist selbst zu 15 Jahren Haft verurteilt worden, und seit wenigen Tagen weiß ich, daß inzwischen auch ihr Sohn verhaftet worden ist, weil er seine Mutter im Gefängnis besucht hat und sich dort natürlich auch zur Autonomie der Kurden geäußert hat. Ich denke, wir können das so nicht hinnehmen. Je lauter wir von hier aus reden, desto besser ist das.
Herr Innenminister, es geht uns dabei nicht um die Aufweichung des Asylkompromisses, sondern um die Wahrung der Menschenrechte im Fall der Bedrohung von Leib und Leben.
Dieser Verantwortung kann sich kein Politiker entziehen. Das Verfahren nach dem 20. Januar werden wir in diesem Hause mit aller Ernsthaftigkeit zu prüfen haben und dann unsere Entscheidung zu treffen haben.
Der innere Frieden in diesem Land ist auch wesentlich vom Zustand einer Kultur bestimmt. Ich möchte hier ganz kurz noch einmal betonen, daß radikale Kürzungen im Kulturbereich fast nie mehr umkehrbar sind. Die Diskussion, die wir vor einem halben Jahr hier gehabt haben und in deren Verlauf die Bedeutung der Kulturförderung des Bundes deutlich herausgestrichen wurde, gibt mir Hoffnung, daß alle den Stellenwert von Kultur in unserem Land verstanden haben. Dies muß auch in Zeiten knapper Haushalte und Mittelbereitstellungen gelten. Ein Staat, der die Kultur vernachlässigt, schickt seine Bürger in die Orientierungslosigkeit. Kulturförderung ist keine fehlgeleitete Subvention, deren Abbau zur Diskussion steht, sondern sie ist notwendig, um die gesellschaftlichen Kräfte zu erhalten. Neue Initiativen, Kreativität und das gemeinsame Bemühen aller zeigen, wie Kürzungen und Einsparungen auch im Kulturbereich vermieden werden können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß noch etwas zum Beitrag der demokratischen Kultur sagen — das ist, so glaube ich, in diesem Hause zu kurz gekommen —, nämlich der politischen Bildung. In diesem Bereich kann, wenn wir uns ein bißchen intensiver damit beschäftigen, schon viel erreicht werden, was zur staatsbürgerlichen Bewußtseinsbildung insbesondere junger Menschen gehört. Unerwünschten radikalen Tendenzen, Ausländerfeindlichkeit, aber auch Politikverdrossenheit kann durch die wirklich wichtige Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung entgegengewirkt werden. Wir sollten sie dabei nicht alleine lassen, auch wenn uns die eine oder andere Publikation nicht gefällt.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Im Bundeshaushalt des BMI ist Bescherung angesagt. So erhält beispielsweise der Verfassungsschutz fast 5 Millionen DM mehr, um weiterhin schonend — ich betone: schonend — mit dem Rechtsextremismus umgehen zu können. Ein Blick in den Verfassungsschutzbericht reicht, um das zu belegen. Aber auch die Antworten der Bundesregierung auf die vielen parlamentarischen Anfragen in diesem Bereich zeigen dies.
Es paßt meiner Meinung nach auch wie die Faust auf das Auge, daß die mit 5 Millionen DM aus Steuergeldern gesponserte Zeitung „Das Parlament" den sogenannten neurechten Geschichtsrevisionisten im November gleich eine Doppelnummer zur Verfügung gestellt hat. Ansgar Graw, der diese Ausgabe des „Parlaments" mit konzipiert hat, tritt immerhin für die Regermanisierung Ostpreußens ein und dafür, unter die deutsche Nazivergangenheit einen Schlußstrich zu ziehen. Jetzt werden diese rechten Antworten auf die selbstaufgeworfenen deutschen Streitfragen kostenlos an Schulen und Bildungsstätten verteilt. Was ist schon die Gründung einer rechtsextremistischen Zeitung gegen die komplette Übernahme einer Regierungszeitung, kann man da in Abwandlung eines Brechtzitats nur sagen!
Wie heißt es doch so schön im Vorspann zum Haushalt der Bundeszentrale für Politische Bildung — Zitat —:
Die Politische Bildung ist wesentlicher Teil des gesamten Bildungssystems, als Lernprinzip durchdringt sie alle Bereiche des Systems.
Da ist es nur logisch, daß die sowieso schon kläglichen und manchmal auch dubiosen Ausgaben für die Aufklärungskampagne über die Gefahren des Extremismus und der Fremdenfeindlichkeit erneut um 1 Million DM gestrichen werden.
Meine Damen und Herren, die Grenzen zwischen Außen- und Innenpolitik zerfließen immer mehr, verkündet der letzte und jetzige Fraktionsvorsitzende der Union. Er hat den Einsatz der Bundeswehr im Innern gefordert und gesagt, die Bundeswehr solle auch an den Grenzen eingesetzt werden. Damals sekundierte der jetzige Zukunftsminister Rüttgers, daß dies ein Thema sei, an dem die Union festhalten werde. Man sieht es dem Haushalt an. Grenzsicherheit, so läßt Innenminister Kanther bei dieser Gelegenheit verlauten, gewinne eine Bedeutung, die weit über das polizeiliche Vorgehen an der Grenze selbst hinausgeht. Verbrechensbekämpfung im Inland und Grenzsicherheit sind untrennbar miteinander verbunden. Das läßt er sich in diesem Haushalt etwas kosten.
Dazu nur einige wenige Zahlen: Allein das sogenannte roulierende System, mit dem BGS-Einheiten zum Einsatz kommandiert werden, verursacht Mehrkosten in Höhe von 27 Millionen DM. Die Kosten für Abschiebungen steigen um 1,5 Millionen DM. Das sind alles nur Teile, sozusagen Peanuts des von Herrn Kanther beschworenen — ich zitiere — „Netzwerks polizeitaktischer, organisatorischer, personeller und ausstattungsmäßiger Maßnahmen", die ständig „an die jeweils neuen Herausforderungen angepaßt werden" .
Wie eiskalt der Innenminister sein kann, hat er kürzlich vorgeführt, als er ausgerechnet an dem Tag, als herauskam, daß sechs Menschen unter den Augen der polnischen und deutschen Grenzsicherer in der Oder ertrunken sind, dort vier Patrouillenboote für den BGS einweihte.
Zurück zum Haushalt: Wärmebildgeräte und Boote verursachen millionenschwere Sachkosten. Insgesamt erhält der BGS mit diesem Haushalt 400 Millionen DM mehr als im Haushalt zuvor. Darin sind noch nicht die 35 Millionen DM für die Maßnahmen nach dem Schengener und dem Dubliner Abkommen oder die 1,7 Millionen DM für Europol-Beiträge enthalten.
Meine Damen und Herren, daß 14 Millionen DM bei den betroffenen Asylsuchenden eingespart werden, wenn es darum geht, daß für sie Sachverständigengutachten geschrieben werden, das verwundert uns überhaupt nicht mehr. Mit diesem Haushalt wird eine Politik fortgesetzt, die Flucht- und Migration zur Hauptbedrohung der inneren und äußeren Stabilität hochstilisiert hat und weiterhin hochstilisieren wird. Das findet auf keinen Fall unsere Zustimmung.
Ich möchte zum Abschluß noch einen Satz zu den hier angesprochenen Urteilen in der Türkei und den Abschiebestopps sagen. Die heute bereits geäußerten Verurteilungen der Geschehnisse in der Türkei unterstützte ich größtenteils, glaube aber, daß es nicht nur bei moralischen und politischen Verurteilungen bleiben darf, sondern daß nach Jahren die Bundesregierung endlich Konsequenzen ziehen muß, indem sie die Waffenlieferungen dorthin stoppt und indem der Abschiebestopp — entgegen der jetzigen Absicht — über Januar hinaus verlängert wird. Allerdings glaube ich nicht, daß der Druck auf die türkische Regierung damit schon groß genug ist. Es muß mehr politischer Druck her. Nur so kann die Türkei wirklich zu neuen demokratischen Schritten gezwungen werden.
Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Inneren liegen nicht mehr vor.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz, Einzelpläne 07 und 19.
Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Sehr geehrte Herren! „Der Rechtsstaat ist", wie schon Gustav Radbruch festgestellt hat, „wie das tägliche Brot, wie das Wasser zum Trinken, wie die Luft zum Atmen, und das beste an der Demokratie ist gerade dieses, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern. " Man kann den letzten Satz aber mit Thomas Dehler auch umkehren und sagen, daß nur der Rechtsstaat geeignet ist, die Demokratie zu sichern.
Wenn das so ist — ich bin sicher, Sie werden mir darin alle zustimmen —, dann müssen wir alles tun, diesen Rechtsstaat als liberalen Rechtsstaat zu erhalten. Das heißt, daß nicht beliebig in vorhandene Strukturen eingegriffen werden darf und bereits
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger getroffene Entlastungsmaßnahmen auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden müssen.
In einem Rechtsstaat, meine Damen und Herren, ist die Justiz kein Luxus, den man je nach Haushaltslage ausbauen oder schrumpfen lassen kann. Nur wenn der Staat gewährleistet, daß der Bürger zu seinem Recht gelangt, daß die schützenden Förmlichkeiten des Strafprozesses dem Verdächtigen, für den die Unschuldsvermutung auch künftig streiten soll, ein faires Verfahren garantieren,
daß die Grund- und Freiheitsrechte notfalls auch gerichtlich durchgesetzt werden können, wird der Rechtsstaat von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert werden.
In allen ihren Zweigen muß die Justiz den Standard an rechtsstaatlichen Gewährleistungen wahren. Sie darf ihre Orientierung an der Gerechtigkeit nicht vorschnell einem überzogenen Effizienzdenken opfern. Auch bei einer angespannten Haushaltssituation darf der schmale Justizetat des Bundes und der Länder keine beliebige Verfügungsmasse sein. Er ist, gemessen an allen anderen Haushalten der öffentlichen Hände und an der Bedeutung der Justiz für die Rechtsstaatlichkeit, bescheiden genug.
Es ist Gegenstand der Koalitionsvereinbarung, daß wir Verfahrensvereinfachungen in allen Gerichtszweigen erreichen und die Gerichtsverfahren für die Bürger zeitlich überschaubar machen wollen. Es darf nicht sein, daß der Bürger, wie eine jüngste Umfrage ergab, lieber zum Zahnarzt als zur Justiz geht. Ich werde einen Entwurf vorlegen, der im Bußgeldverfahren alle Entlastungsmöglichkeiten ausschöpft und den Bagatellcharakter der Ordnungswidrigkeiten besser Rechnung trägt.
Im neuen Betreuungsrecht zeigt eine dreijährige Praxiserfahrung Vereinfachungsmöglichkeiten auf, die wir bei der bevorstehenden Novellierung nutzen werden. Auch im Zivil- und Strafverfahren werde ich gemeinsam mit den Ländern vertretbare Möglichkeiten von Verfahrensvereinfachungen und -entlastungen ausloten. Aber gerade hier dürfen wir die schützenden Förmlichkeiten des Verfahrens nicht in Frage stellen. Sie dienen dem in ein Strafverfahren verstrickten Bürger ebenso wie dem Tatopfer.
Demgegenüber sollten wir die Entlastungsmöglichkeiten nutzen, die den Rechtsschutz unangetastet lassen. Ich denke an den Ausbau der außergerichtlichen Streitbeilegung. Und ich freue mich, daß sich auch die Länder auf meinen Vorschlag hin entschlossen haben, das vorgerichtliche Streitschlichtungspotential auszubauen, besser zu koordinieren und auch der Öffentlichkeit besser bekanntzumachen.
Ebenso freue ich mich, daß die von meinem Ministerium veranlaßte Strukturanalyse der Rechtspflege
von den Ländern zunehmend praktisch umgesetzt wird. In einer Modernisierung der Geschäftsabläufe und der inneren Organisation der Gerichte und Staatsanwaltschaften sehe ich ein wesentliches und zudem rechtstaatliches Mittel, unsere Justiz auf die Herausforderungen auch des nächsten Jahrhunderts vorzubereiten.
Die Organisation der Justiz muß beweglicher, wirtschaftlicher und transparenter werden.
Man muß einfach sehen: Innerhalb der traditionellen Justizorganisationen sind die gesetzgeberischen Maßnahmen zur Verfahrensstraffung doch weitgehend ausgeschöpft, weil wir diesen Weg schon lange beschritten haben. Deshalb müssen wir auch über strukturelle Reformen verstärkt nachdenken, auch wenn sie nicht in allen Fällen einen kurzfristigen Ertrag erwarten lassen.
In der vergangenen Legislaturperiode haben Kriminalitätsbekämpfung und insbesondere auch das Strafrecht wie nie zuvor die politische Diskussion bestimmt. Es hat den Anschein, als ob diese nicht immer ganz sachlich geführte Diskussion in gleicher Weise auch in dieser Legislaturperiode fortgesetzt werden soll. Ich sehe das mit großer Skepsis. Denn jetzt geht es wirklich darum, daß die gerade erst in Kraft getretenen Gesetze angewandt und nicht schon wieder, zwei Wochen nach Inkrafttreten, geändert werden.
Gesetze müssen auf Dauer angelegt sein. Sie brauchen Zeit, um ihre Wirksamkeit entfalten zu können. Rechtssicherheit kann nur dort entstehen, wo es Verläßlichkeit der Geltung von Gesetzen gibt. Auch dies ist eine notwendige Bedingung unseres Rechtsstaates.
Auf der kriminalpolitischen Agenda stehen die Überprüfung und Harmonisierung von Strafrahmen sowie des Sanktionenkatalogs, und wir wollen eine Verbesserung des Opfer- und des Zeugenschutzes.
Vor allem aber müssen wir Prävention und Ursachenbekämpfung stärker ins Blickfeld rücken und dürfen uns nicht nur auf das repressive Strafrecht und auf seine abschreckende Kraft verlassen.
Ich bin sicher, daß eine solche Politik, die sich nicht auf die herkömmlichen Felder der Kriminalpolitik beschränken darf, besser als ständige Forderungen nach Strafverschärfungen in der Lage ist, für den Schutz der Menschen vor Kriminalität zu sorgen.
In diesem Zusammenhang möchte ich kurz eine Bilanz der deutschen Präsidentschaft in der Europäischen Union zum justitiellen Bereich ziehen.
Wir sind auf dem Weg zu einer funktionierenden dritten Säule von Maastricht in den letzten Wochen ein erhebliches Stück weitergekommen. Nach intensiven Beratungen ist es gelungen, einige Staaten zur
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Aufgabe ihrer traditionellen Vorbehalte gegenüber gemeinsamen Regelungen im schwierigen Bereich des Auslieferungsrechts zu veranlassen. Wir haben eine politische Einigung erzielt, die den Abschluß eines Teilübereinkommens im Frühjahr 1995 realistisch macht.
Damit wird die vereinfachte Auslieferung mit Zustimmung des Betroffenen — und das sind in Deutschland etwa 60 % aller Fälle — künftig zwischen allen Mitgliedstaaten sehr viel schneller funktionieren.
Ich bin auch froh, daß die europäischen Justiz- und Innenminister mit ihrem Zwischenbericht zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit einen wichtigen Beitrag zu einer europaweiten Gesamtstrategie geleistet haben. Neben den gerade auch hier wichtigen präventiven Maßnahmen brauchen wir ein europaweit gut funktionierendes Strafrecht. Wir müssen Lücken schließen, die in einigen Ländern bestehen, damit der Druck und die Verbreitung gerade dieses hetzerischen Propagandamaterials über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinaus erfolgreich bekämpft und dann auch bestraft werden können.
Die Bemühungen einiger Mitgliedstaaten, entdeckte Lücken auf Grund einer Bilanz, die wir in dieser Präsidentschaft erstellt haben, zu schließen, machen deutlich, daß die Bereitschaft besteht, ungeachtet aller nationalen Traditionen mitzuwirken und ein Verständnis zu entwickeln, das sich an den Bedürfnissen eines zusammenwachsenden rechtsstaatlichen Europas ausrichtet und zu einer Verbesserung gerade auch der strafrechtlichen Bestimmungen führen wird.
Daß dies ein wirklicher Fortschritt und keine Selbstverständlichkeit ist, wurde uns durch das jüngst in der Türkei gefällte Urteil gegen acht kurdische Parlamentarier drastisch vor Augen geführt. Ich denke, daß es gerade von seiten einer Justizministerin einer klaren Stellungnahme bedarf. Die Urteile sind wirklich mehr als ein unerfreuliches Zeichen. Wie auch immer sie im einzelnen juristisch begründet sein mögen, sie widersprechen in nicht hinnehmbarer Weise den rechtsstaatlichen Grundlagen einer demokratischen, parlamentarischen und freiheitlichen Ordnung und damit eklatant dem Wertesystem all jener europäischen Staaten, denen die Türkei sich zugehörig fühlt und mit denen sie verbunden sein möchte.
Gerade als das mit der Türkei historisch so ausgeprägt verbundene und befreundete Land können wir diese Urteil nicht kritiklos hinnehmen.
Auf dem Hintergrund unserer eigenen Geschichtserfahrung wissen gerade wir Deutsche sehr gut um die in die Gegenwart hineinreichenden Wirkungen eines historischen Traumas, das die Türkei mit dem Zerfall
des alttürkischen Osmanischen Reiches politisch und rechtlich noch heute prägt.
Es ist also nachvollziehbar, daß die Türkei die unbedingte Einheit des Staates im Sinne des kemalistischen Nationalismusprinzips als übergeordnete, mit einer Ewigkeitsgarantie ausgestattete Bestimmung in ihrer Verfassung verankert hat.
Auch wissen wir um die Bedeutung der parlamentarisch demokratischen Verfassung der türkischen Republik als Bollwerk gegen fundamentalistische, dem freiheitlichen westlichen Wertekanon grundsätzlich widersprechende Tendenzen. Wir wissen dies, und wir waren und wir sind bereit, dies auch zu würdigen.
Es darf jedoch nicht sein, daß das an sich berechtigte Festhalten an der Einheit des Staates als Grundlage für willkürliche Beschränkungen politischer Betätigung und als Basis für ein politisches Gesinnungsstrafrecht herangezogen wird.
Deshalb fordern wir, die auch in der türkischen Verfassung vorhandenen Verständnis- und Interpretationsspielräume auszuschöpfen und den Minderheitenproblemen mit politischen statt mit strafrechtlichen Mitteln zu begegnen.
Ich begrüße es, daß der Deutsche Bundestag morgen durch eine Erklärung der Bundestagspräsidentin zu diesen Urteilen Stellung nehmen wird.
Die Urteile haben die Bundesregierung veranlaßt, die Abschiebung von Kurden unverzüglich auszusetzen. Es wird intensiv geprüft werden müssen, ob und wann diese Aussetzung aufgehoben werden kann; denn die Urteile gegen die kurdischen Parlamentarier lassen die Menschenrechtssituation in der Türkei auf eine deutliche Weise in einem neuen, leider sehr trüben Licht erscheinen.
Es geht nicht, schon jetzt, heute und hier, die Feststellung zu treffen, daß die Aussetzung mit Sicherheit am 20. Januar wieder aufgehoben wird. Wir werden das sorgfältig und unter Abwägung aller Gesichtspunkte gemeinsam prüfen.
Asylbewerbern ein Bleiberecht zu geben, meine Damen und Herren, selbst wenn dies im Einzelfall zu Unrecht in Anspruch genommen werden mag, muß für uns letztlich besser sein, als einen einzigen abzuschieben, der in seinem Heimatland menschenrechtswidrig behandelt wird.
Auch der mit der Opposition vereinbarte Asylkompromiß befreit uns nicht davon, das Bleiberecht von Asylbewerbern mit großer Sorgfalt zu prüfen.
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Ich stehe zu dieser Verpflichtung sowie auch zu den anderen Vereinbarungen, die Gegenstand des Asylkompromisses geworden sind.
Wir brauchen und wollen eine Politik, die nicht nur das Asyl, sondern auch die Zuwanderung regelt, kontrolliert und begrenzt und Einbürgerungen erleichtert. Die deutsche Politik darf nicht allein auf die Restriktion der Zuwanderung beschränkt sein; denn sie ist der Humanität verpflichtet und muß die integrativen Elemente stärken, die für ein harmonisches Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft unabdingbar sind.
Sie können sicher sein, daß wir uns der Aufgabe stellen werden, die dazu in der Koalitionsvereinbarung getroffenen Vereinbarungen in Angriff zu nehmen und umzusetzen.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen etwas mitteilen: Die Geschäftsführer sind übereingekommen, die Ausschüsse jeweils erst eine Stunde später einzuberufen, damit die Debatte hier zu Ende geführt werden kann. Sie können also hier bleiben und weiter zuhören.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Frau Herta DäublerGmelin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ich habe Ihren Ausführungen heute sehr aufmerksam und mit großer Freude zugehört.
— Ja, Herr Geis. — Ich möchte Ihnen ausdrücklich sagen, daß Sie in einigen der Punkte, die Sie genannt haben, sehr wohl mit unserer Unterstützung rechnen können. Gleichwohl erklärt dies, Herr Geis, warum unser sozialer Rechtsstaat und damit auch die Rechtspolitik Ihrer Koalition insgesamt nicht in so gutem Zustand sind, wie wir es gerne hätten.
Die Justizministerin blockiert Gott sei Dank — da hat sie meine volle Unterstützung — einen Großteil des Unsinns, der aus Teilen der Koalition kommt.
Auf der anderen Seite verweigert dieser Teil der Koalition, nämlich die Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU, die notwendigen Erneuerungsmaßnahmen auf dem Feld der Rechtspolitik. Das bringt uns, meine Damen und Herren, in eine schwierige Situation. Das stellen Sie fest, wenn Sie sich mit Ihren Nachbarn, mit Berufskollegen und anderen Menschen darüber unterhalten.
Ich komme darauf noch zurück, werde Ihnen aber zuerst sagen, wo wir Ihnen zustimmen, Frau Bundesjustizministerin. Das fängt an bei Ihrem Vorhaben, die außergerichtliche Streitschlichtung stärker in den Vordergrund zu stellen und geht weiter mit der Harmonisierung des Sanktionensystems. Wir unterstützen, um einen dritten Punkt zu nennen, auch das, was z. B. der Richterbund vorgeschlagen hat, nämlich die Vereinfachung des Bußgeldsystems. Es muß möglich sein — und es ist auch möglich —, durch Entbürokratisierung zu vereinfachen, ohne den Sanktionszweck aufzuheben.
Wir unterstützen Sie auch in einem anderen Punkt, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, den Sie heute nicht ausdrücklich erwähnt haben, der aber mitverhandelt wird. Es handelt sich um den deutschen Beitrag dazu, daß der Internationale Gerichtshof zur Verfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien in Den Haag endlich seine Arbeit aufnehmen kann.
Ich halte das für eine sehr gute Sache: nicht wegen der technischen Einzelheiten des vorgelegten Gesetzes, sondern deswegen, weil die Kriegsverbrecher, Mörder, Folterer und Vergewaltiger sowie ihre militärischen und politischen Hintermänner bald am eigenen Leibe erfahren müssen, daß sie in der zivilisierten Welt geächtet sind und es auf Dauer bleiben und nie mehr irgendwo in Ruhe leben können, so als sei nichts gewesen.
Meine Damen und Herren, die haushaltspolitische Debatte gerade auch zur Rechtspolitik gibt uns Anlaß, über die Aufgaben des sozialen Rechtsstaates und damit auch der Rechtspolitik nachzudenken und zu prüfen, ob das, was die Regierungsmehrheit in den vergangenen zwölf Jahren gemacht hat, Erfolg hatte und ob das, was Sie jetzt vorhaben, Erfolg haben kann.
Dabei komme ich zu den Zweifeln, die ich vorhin schon angedeutet habe. Die Aufgabe einer guten Rechtspolitk muß doch sein, in einer sich ständig wandelnden und verändernden Welt die Grundwerte unseres Grundgesetzes zur Geltung zu bringen, durchzusetzen und zu sichern.
— Natürlich, ich hoffe, daß es auch bei Ihnen eine Menge vernünftiger Leute gibt, mit denen wir über so etwas reden können. — Die Grundwerte sind der Grundkonsens unserer Gesellschaft. Sie gilt es zu erhalten. Aber die Rechtspolitik muß dann auch
— genau wie Gesellschaftspolitik — die veränderte Wirklichkeit wenigstens steuern und erhalten wollen und können.
Und jetzt schauen Sie sich doch einmal an, Herr von Stetten, Frau Leutheusser-Schnarrenberger und Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wie es mit der Wirklichkeit heute aussieht: Die Wirklichkeit ist Ihrer rechtspolitischen Gestaltung längst entglitten.
— Ich meine das keineswegs allein, Herr Geis. Wenn Sie sich einmal die Mühe machen würden, sich die Veränderungen bei der Kriminalität, bei den technischen Neuerungen oder im Arbeitsleben wirklich genau anzusehen und darüber nachzudenken, dann wissen Sie auch, wieviel an Erneuerungsbedarf sich hier aufgehäuft hat. Dann würden auch Sie die Worte meines Kollegen Fritz Rudolf Körper unterstreichen,
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Dr. Herta Däubler-Gmelin
daß das, was Sie in den Koalitionsvereinbarungen zur Innen- und Rechtspolitik geschrieben haben, außerordentlich schwach ausgefallen ist.
Zur Kriminalitätsbekämpfung: Ich beginne einmal mit der organisierten Kriminalität, über die schon gesprochen wurde. Richtig ist, daß die einzige Triebfeder dieser besonderen Kriminalitätsform das Geld ist. Richtig ist auch, daß alle unsere Initiativen und Mahnungen bei dieser Triebfeder, nämlich beim Geld, anzusetzen, nicht gefruchtet haben. Weil Sie sich, meine Damen und Herren der Koalition, gegenseitig blockieren, wird da nichts aufgegriffen und in die Tat umgesetzt.
Herr Marschewski, welches sind denn die Schlupflöcher, die — wie es vorhersehbar war — das Geldwäschegesetz nicht zur vollen Funktionsfähigkeit haben kommen lassen? Zum einen die Tatsache, daß unsere Banken Auslandsdienststellen haben, die sich prächtig als Schlupflöcher für Geldwäsche eignen. Das wissen Sie. Aber Sie haben es nicht abgestellt, obwohl wir Sie dazu aufgefordert haben.
Zum Zweiten geht es nicht nur um die Umkehr der Beweislast. Wenn Sie mit Praktikern, mit Polizeibeamten reden, sagen die Ihnen genau das gleiche wie mir, nämlich daß Mafia-Geld, Geld das — um es juristisch korrekt auszudrücken — mafiös bemakelt sein könnte, zunächst einmal aus dem Verkehr gezogen und beschlagnahmt werden kann — zunächst wenigstens einmal vorläufig! Lassen Sie uns das doch machen! Damit überwindet vielleicht auch die Koalition die Gefahr, sich gegenseitig zu blockieren. Dann wären wir im Bereich der organisierten Kriminalität, die wir gemeinsam bekämpfen müssen und wollen, einen Schritt weiter.
Jetzt komme ich zum zweiten Bereich, den auch Herr Kanther und Frau Leutheusser-Schnarrenberger angesprochen haben, zur Kriminalität, die über die Grenzen zu uns kommt. Herr Marschewski und Herr Kanther, es ist ein wenig traurig, daß Sie in diesem Zusammenhang immer so unterschwellig auf Asylbewerber oder die ausländische Wohnbevölkerung in Deutschland abheben, obwohl Sie ganz genau wissen, daß dies nicht richtig ist.
Zu dem Bereich der Kriminalität, die über die Grenzen zu uns kommt, gehört der internationale Autodiebstahl mit Versicherungsbetrug, Waffenhandel, Drogenhandel, Prostitutionshandel und Organhandel. Dies alles sind Bereiche, in denen sich z. B. durch die unterschiedlichen Gesetze, die wir in unserem Teil der Welt haben, Geld verdienen läßt, sei es bei uns oder woanders. Jeder von Ihnen weiß genau wie wir, daß dagegen nur eines wirklich hilft: die effiziente Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden über die Grenzen hinweg und eine Abstimmung der materiellen Gesetzeslage auf der Basis gemeinsamer Grundsätze.
Sehen Sie sich doch einmal an, wie weit Sie es in den letzten zwölf Jahren gebracht haben! Die Abstimmung der internationalen Grundsätze auf diesem
Gebiet, ganz zu schweigen von der Angleichung z. B. der Strafgesetze oder des Datenschutzes, steckt doch noch in den Kinderschuhen. Sie wissen auch alle, was Herr Kanther zu Europol gesagt hat. Das war die Übertreibung des Jahrhunderts!
Die EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands wäre ein Anlaß gewesen, die Existenzgründungsphase von Europol endlich zu Ende zu bringen und in die Arbeitsfähigkeit einmünden zu lassen.
— Nein, er hat es nicht geschafft,
sondern die entsprechenden Beschlüsse sind auf die Zeit der französischen Ratspräsidentschaft verschoben worden. Es wäre gut, wenn Sie hier im Bundestag wenigstens die Wahrheit sagen würden.
Dazu kommt ein Zweites: Wenn Sie heute einen Amtsrichter in Baden-Baden dazu auffordern, zusammen mit einem Kollegen im Elsaß Strafverfolgung zu betreiben, dann sehen Sie, daß wir heute noch nicht sehr viel weiter sind als vor zehn Jahren, obwohl Frankreich seit langen Jahren unser Partner und Freund ist.
Dies sind die Punkte, die eine wirksame Kriminalitätsbekämpfung und damit auch den sozialen Rechtsstaat behindern. Hier haben Sie versagt!
Herr Marschewski, wenn Sie als Forderung großartig herausstreichen, daß man nationalen Geheimdiensten, die im Ausland arbeiten, mehr Kompetenzen zur Verbrechensbekämpfung einräumen sollte, dann bitte ich Sie, noch einmal darüber nachzudenken. Das ist nun wirklich der größte Unfug.
Wenn Sie schon keine rechtsstaatlichen Bedenken haben, dann prüfen Sie das Ganze doch einmal unter dem Gesichtspunkt der Effizienz. Es muß doch darum gehen, daß die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsorgane, also Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte, über die Grenzen hinweg besser wird. Wenn aber jedes Land seinen jeweiligen nationalen Auslands-Geheimdienst mit größeren Kompetenzen ausstattet, dann gibt es immer mehr Abstimmungsprobleme, schon deshalb, weil Geheimdienste nach anderen Grundsätzen arbeiten und auch in Zukunft anders arbeiten werden als Strafverfolgungsorgane. Das tut dem gemeinsamen Ziel der Kriminalitätsbekämpfung mit Sicherheit nicht gut.
— Zu Recht, Herr Geis!
Die Wirklichkeit ist Ihnen in einem weiteren Punkt sehr entglitten, der uns allen zunehmend Schwierigkeiten macht. Die Korruption breitet sich aus. Mittlerweile greifen dieses Thema immer mehr Juristen, Juristentage und auch Journalisten auf. Ich habe es
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Dr. Herta Däubler-Gmelin
wirklich bedauert, daß Sie, Frau Bundesjustizministerin, und auch der Herr Bundesinnenminister kein einziges Wort dazu gesagt haben. Hier fehlt nicht nur Ihre Gesamtstrategie wie bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität; hier haben Sie überhaupt keine Strategie.
Und dabei haben wir es Ihnen einfach gemacht. Wir haben Ihnen ein Fünf-Punkte-Programm vorgelegt, das relativ präzise sämtliche Ebenen des Gesamtstaats einbezieht.
— Herr Kleinert, es ist sehr viel präziser als alles, was Sie zu diesem Punkt jemals gesagt haben.
Mir ist überhaupt nicht bewußt, daß Sie sich jemals dazu geäußert hätten. Das ist natürlich bedauerlich, weil Sie ganz genau wissen: Die Bekämpfung von Korruption ist keineswegs nur eine Frage der Moral, sondern zunehmend auch eine Frage des Geldes, das den Steuerzahler belastet. Sie wissen alle mittlerweile, daß durch Auftragsabsprachen, verbunden mit Bestechlichkeit, auf allen Ebenen staatlicher Entscheidungen dreistellige Millionenbeträge in jedem Jahr zuviel gezahlt werden.
Wo ist denn nun Ihre Gesamtstrategie? Was tun Sie denn dafür, daß hier durchgegriffen wird? Meine Damen und Herren, Sie hätten es in der Hand, nicht nur im Innenbereich durch eine vernünftige Effektivierung der Kontrollmechanismen, sondern auch im Rechtsbereich — da allerdings weniger beim Strafrecht; da sind Änderungen nicht mehr so notwendig —eine Menge zu veranlassen.
Mich bedrückt dieses Thema noch aus einem ganz anderen Grund. Wir alle beklagen gelegentlich, daß in unserer immer individualistischer und pluraler werdenden Gesellschaft nicht nur der Wertekonsens schwindet, sondern auch das Rechtsbewußtsein. Richtig! Dagegen müssen wir etwas tun. Zum Wertebewußtsein gehört auch, daß in dieser Gesellschaft wieder Konsens darüber hergestellt werden muß, daß sich niemand bestechen lassen darf und daß niemand bestechen darf — beides!
Wie soll sich denn ein Wertekonsens in der Gesellschaft bilden oder auch stärken lassen, solange Sie die steuerliche Abzugsfähigkeit von Schmiergeldern nicht streichen?
Wie soll denn ein Unternehmen, das seine Leute geradezu dazu ausbildet, wie mit Schmiergeldern umzugehen ist, im Ausland ohne jede Kontrolle und im Inland — so wie die Erlasse des Finanzministeriums aussehen — mit sehr begrenzter Kontrolle, dem Grundkonsens verpflichtet sein, daß man sich nicht bestechen lassen darf und nicht bestechen darf?
Meine Damen und Herren, an diesem Punkt wird sich dann auch zeigen, ob das, was Sie hier im Parlament sagen, auch von Ihnen gewollt wird. Ich sage Ihnen: Wir werden Sie hier nicht aus der Verantwortung entlassen; wir werden darauf drängen, daß man nicht nur dann, wenn es Ihnen paßt, über schwindendes Rechtsbewußtsein redet, sondern wir werden mit großer Sicherheit Wert auch darauf legen, daß Sie, auch wenn es Ihnen nicht paßt, etwas für das Rechtsbewußtsein tun.
Die Entwicklung in der Technik ist Ihnen entglitten. Rechtspolitik zur Steuerung findet in diesem Zusammenhang nicht mehr statt. Tele-Banking, Tele-Shopping, auch z. B. TeleArbeit, Faxe, Telekommunikation, Datennetze, Internet — all das bestimmt vielleicht nicht das Leben der Menschen, die hier im Bundestag sitzen
— so schlimm wird's nicht sein —, aber es prägt das Geschäftsleben und vor allen Dingen das tägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger immer mehr. Aber der Verbraucherschutz, das Verbraucherrecht, der Datenschutz, das Arbeitsrecht und das Arbeitsschutzrecht sind nicht weiterentwickelt worden und nicht auf der Höhe dessen, was uns die technische Wirklichkeit ständig aufgibt. Meine Bitte ist: Es wäre wirklich sinnvoll, daß sich der Bundestag in den kommenden vier Jahren diesen Fragen stellt. Probleme und Verzerrungen zeigen sich jetzt schon an manchen Ecken. Ich denke, daß die Kolleginnen und Kollegen, die sich hier mit dem Schutz von Kindern oder von Frauen oder auch mit rechtspolitischen Fragen beschäftigen, davon schon etwas gehört haben. Heute werden Datennetze, Telekommunikationssysteme für die übelsten Auswüchse von Kinderpornographie und Kinderprostitution, von Frauenhandel und ähnlichem genutzt, alles, was in den Medien, in den Zeitungen und im Fernsehen sicher schon längst verboten wäre.
— Nur, Herr Geis, jetzt kommt es doch darauf an: Diese Netze entziehen sich dank Ihrer Untätigkeit nicht nur der Kontrolle; vielmehr kann sich jeder, jeder, der's auf solche schmutzigen Geschäfte anlegt, auch der gesetzlichen Schlupflöcher bedienen.
Ich sage Ihnen: Wenn wir es damit ernst meinen, daß rechtspolitische Gestaltung und Rechtspolitik den Auftrag haben, unsere Grundwerte in veränderten Wirklichkeiten umzusetzen, dann muß man an das Problem herangehen.
Ich hoffe, daß wir hier mit Ihrer Unterstützung rechnen können. Aber wir werden auch ohne Sie weiter darauf drängen.
Lassen Sie mich zur Technik noch dies sagen: Ich hätte mich gefreut, wenn es nicht so lange gedauert hätte, bevor sich unsere Bundesregierung im Zusammenhang mit der Bioethikkonvention eindeutig
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Dr. Herta Däubler-Gmelin
äußerte und wenn es nicht so mühsam gewesen wäre, diese Stellungnahmen aus ihr herauszukitzeln.
Es gibt eine ganze Menge sehr guter Aspekte in dieser Bioethikkonvention, die dem Erfordernis der Abstimmung im europäischen Bereich entsprechen. Daß man allerdings an Embryonen nicht forschen lassen darf, daß in menschliches Keimgut nicht eingegriffen werden darf, daß wir menschliches Leben nicht kategorisieren lassen dürfen und daß Eingriffe, zu welchen Zwecken auch immer, ohne Zustimmung bei hilflosen Menschen nicht erfolgen dürfen, all das sollte eigentlich klar sein.
Ich denke, das ist ein klassischer Fall für den Umgang unserer Rechtspolitik mit der Technik in diesem Haus. In diesem Haus haben die Bioethikkonvention und die Haltung der Bundesregierung keine Rolle gespielt, und als dann einige Kollegen sie noch in die Debatte einbringen wollten, wurde das auf einen Zeitpunkt verschoben, an dem alles zu spät gewesen wäre. So mußten wir mit Hilfe der Öffentlichkeit — leider nicht mit Ihrer Unterstützung — die Notbremse ziehen.
Ich komme zum Arbeitsleben. Wir alle wissen, daß unser Grundgesetz die folgenden drei Elemente als Essentialia umschließt: die Tatsache, daß Arbeitnehmer Rechte haben und auch Möglichkeit, sie durchzusetzen, Arbeitsschutzrechte und Mitbestimmungsrechte. Bezogen sind alle diese Rechte auf eine Organisation der Arbeit, die sich bei uns längst in Auflösung befindet. Es gibt mittlerweile TeleArbeit, Teilzeitarbeit, ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse in Millionenzahl. Immer mehr Menschen werden in die sogenannte unechte Selbständigkeit oder in Verträge der sogenannten freien festen Mitarbeit abgedrängt. Wo sind denn eigentlich Ihre Vorschläge, um genau für diesen wachsenden Personenkreis Recht und Schutz zu sichern? Das alles muß in unserem Parlament aufgegriffen, besprochen und beschlossen werden, auch das gehört zur Sicherung des sozialen Rechtsstaats. Das halten wir für eine Aufgabe der kommenden vier Jahre.
Lassen Sie mich einen Punkt hinzufügen: Wir alle sind immer stolz darauf, daß wir unseren Rechtsstaat loben können und sagen können, er sei verteidigenswert und schützenswert, weil das Recht bekanntlich das Schwert des Schwachen und das geschriebene Recht seine Magna Charta sei und das Schutzsystem des Rechtsstaats dem Schwachen Recht und Gerechtigkeit garantiere.
Nur, meine Damen und Herren der Regierungsmehrheit, wenn Sie sich einmal umhorchen, was daraus nach Ihren zwölf Jahren Rechtspolitik geworden ist, dann werden Sie uns zustimmen müssen, daß auch von dieser Seite her der Druck auf die Erneuerung des sozialen Rechtsstaats ständig steigt.
Nehmen Sie nur den Umgang mit den Opfern von Verbrechen in unserem Staat. Man hat zwar jetzt endlich den ersten Schritt zum Täter-Opfer-Ausgleich gemacht. Wenn Sie aber sehen, was Opfer und Zeugen, seien es mißbrauchte Kinder oder vergewaltigte Frauen, heute noch an Quälereien, weniger bei der Polizei, sondern vor Gericht, erleiden müssen, dann wissen Sie genau: Wir werden unter voller Wahrung der Rechte der Beschuldigten hier mehr tun und auch ins Verfahrensrecht eingreifen müssen.
Wenn Sie dazunehmen, daß die Opferentschädigung, die ohnehin zu gering ist, jetzt auch noch auf die Sozialhilfe angerechnet wird und daß sich Öffentlichkeit und Justizsystem insgesamt mehr um die Täter als um die Opfer kümmern, dann ist klar: Auch hier hakt es in Ihrer Rechtspolitik. Und das müssen wir ändern.
Uns alle hat der Satz von Bärbel Bohley: „Wir haben Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen" deswegen so geärgert, Herr Marschewski, weil wir vermutet haben, diesem Satz liege ein gigantisches Mißverständnis von Rechtsstaat zugrunde, weil Rechtsstaat nach unserem Verständnis ohne Gerechtigkeit ja nicht funktionieren kann, keiner ist. Aber ist es nicht doch so, daß Bärbel Bohley den Finger auf eine blutende Wunde gelegt hat? Sie drückt damit immer noch das Lebensgefühl vieler Menschen im Osten aus, die sich außerordentlich stark überfahren fühlen!
Die Forderung, dies endlich zu verändern, richtet sich keineswegs nur an die neuen Länder selber, sondern geht auch uns hier im Bundestag an. Wir werden Beratungshilfe unterstützen und die Gesetze weiter vereinfachen müssen, wir werden mit Geduld und Hilfe auch den institutionellen Aufbau unterstützen müssen. Das muß sein.
Wenn es Kritik am Zustand des Rechtsstaats nur im Osten gäbe, wäre das nicht so schlimm. Aber wir haben im Westen unseres Landes mittlerweile eine vergleichbare Lage. „Man geht lieber zum Zahnarzt als vor Gericht" war der Ausspruch, den Sie, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, zitiert haben. Er ist die Überschrift über dem Bericht von einer Tagung, die jetzt in Triberg stattgefunden hat. Da haben sich lauter Praktiker, nicht irgendwelche Spinner getroffen. Die wissen, wovon sie reden.
Sie wissen ganz genau, daß nicht nur Beschleunigung und rechtsstaatliche Vereinfachung, sondern auch die Rechtsdurchsetzung in unserem Staate dringend wieder aufpoliert werden müssen.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben heute nicht erwähnt, daß Sie dabei sind — ich hoffe, mit der Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen der Union — die Dreistufigkeit in unserem Gerichtssystem wieder ernsthaft anzustreben.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir wollten sie schon seit Anfang der 70er Jahre. Wir fordern Sie auf, diesen Weg endlich zusammen mit uns einzuschlagen, wenn Sie es mit der Erneuerung des sozialen Rechtsstaats ernst meinen.
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Dr. Herta Däubler-Gmelin
Ich denke, ich sollte Ihnen am Ende meiner Ausführungen noch einmal den Satz von Gustav Heinemann in Erinnerung rufen, den ich bereits beim letzten Mal in diesem Hause zitiert habe. Heinemann hat in voller Erkenntnis des Wertes unseres Grundgesetzes und dessen, was Rechtspolitik bedeutet, darauf hingewiesen, daß nur derjenige bewahren kann, der zu verändern bereit ist.
Meine Bitte lautet: Es wäre klug, in diesem Haus mehr über die — positiven und negativen — Erfahrungen mit den Gesetzen der letzten Jahre und mehr über die Ziele zu reden, die wir im Zuge der Erneuerung des sozialen Rechtsstaats anstreben müssen, als ständig diese vordergründigen Schlammschlachten zu führen, an denen wahrscheinlich nicht einmal mehr die Kollegen, die sie betreiben, Spaß haben. Die Zuhörer an den Radios oder Fernsehschirmen, die haben ihn schon lange nicht mehr.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Norbert Geis.
Keine Vorschußlorbeeren! — Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir Redner stimmen heute alle darin überein und jeder beginnt seine Rede damit, daß der Rechtsstaat eine der größten Errungenschaften der letzten 200 Jahre ist, weil er die Freiheit des einzelnen am ehesten gewährleistet. Wir stimmen auch darin überein, daß die Justiz im Rechtsstaat eine entscheidende Rolle spielt, weil sie dem Bürger aus dem Gewirr der Gesetze zu seinem Recht verhelfen muß.
Frau Ministerin, ich habe mit Interesse gehört, daß Sie gesagt haben, Sie wollten sich mit uns zusammen Gedanken darüber machen, wie es gelingen könnte, die Belastung der Justiz, die zweifellos vorhanden ist, abzubauen. In der Tat haben die Justizminister der Länder Ende November dieses Jahres einstimmig beschlossen, dem Bundestag und der Bundesregierung Vorschläge im Hinblick auf Abbau, auf Straffung und Verbesserung des Prozeßrechts zu machen. Wir wissen, daß dies die Rechtspolitiker natürlich nicht in Begeisterung ausbrechen läßt, lieber Herr Kleinert. Wir haben erst in der vergangenen Legislaturperiode mit großer Mühe das Justizentlastungsgesetz durch die parlamentarischen Beratungen gebracht. Wir wissen auch, daß bei allzu starker Straffung und allzu großer Beschleunigung des jeweiligen Prozesses Rechte des einzelnen nicht so geachtet werden können — jedenfalls besteht diese Gefahr —, wie wenn der Prozeß eine gewisse Zeit lang dauern kann.
Auf der anderen Seite wissen wir aber auch, daß viele Rechtsuchende sehr lange, oft jahrelang, auf die richtige richterliche Entscheidung warten müssen. Dies ist mit Sicherheit ein untragbarer Zustand. Der rechtsuchende Bürger verliert so das Vertrauen in die Justiz. Daher kann es schon passieren, daß eine Überschrift in eine Zeitung gesetzt wird, wonach es
schöner ist, zum Zahnarzt zu gehen als zur Justiz, obwohl dabei sicherlich auch andere Momente eine Rolle spielen mögen.
Wir müssen — das ist richtig — das Prozeßrecht gemeinsam erneut in dieser Legislaturperiode anpakken. Wir müssen das Prozeßrecht sowohl im Strafprozeß als auch im Zivilprozeß neu durchleuchten und abklopfen, ob wir nicht da und dort Erleichterungen, Straffungen, Beschleunigungen durchführen können.
Es wird auch darauf ankommen, daß wir im materiellen Recht nicht erneut den Gerichten zu viele Aufgaben zuweisen. Wir haben in der letzten Legislaturperiode das Insolvenzrecht neu geschaffen. Das Insolvenzrecht wird zweifellos — so notwendig es ist — zu einer neuen Belastung der Richter und der Gerichte führen. Das gleiche gilt für das Betreuungsrecht, das wir in der vorletzten Legislaturperiode bereits beschlossen haben und das vor drei Jahren in Kraft getreten ist; es hat natürlich ebenfalls zu einer großen Belastung der Gerichte geführt.
Es ist auch nicht einzusehen, daß beispielsweise dann, wenn die Betreuung ganz offensichtlich notwendig ist, eigens eine Verfahrensbetreuung angeordnet werden muß oder daß wir dann, wenn die Gebrechlichkeit ganz offensichtlich ist, ausgiebige gerichtliche Gutachten brauchen, obwohl eine einfache fachärztliche Bestätigung ausreichen würde.
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ungefähr 500 000 Personen, die derzeit einen Betreuer haben. Diese Zahl wird wachsen und damit natürlich zweifellos die Belastung der Gerichte. Das erfüllt uns mit Sorge. Das heißt aber nicht, daß wir das Betreuungsrecht nicht für eine im Prinzip gute gesetzliche Maßnahme halten, gerade angesichts der Altersstruktur unserer Gesellschaft. Es ist gut und richtig, daß die älteren Bürger wissen, daß ihnen ihre Rechte nicht einfach genommen werden können, sondern daß dazu jeweils ein richterlicher Beschluß und ein gewisses Verfahren notwendig sind.
Die Fachleute sagen uns aber, daß einige Regelungen nicht praktikabel genug sind. Wir müssen darangehen, gerade beim Betreuungsrecht, weil uns dies ständig in der Diskussion vorgehalten wird, über Möglichkeiten nachzudenken, um Regelungen zu verbessern. Ich meine überhaupt, daß wir vielleicht in der jetzigen Legislaturperiode mehr darauf achten müssen — auch unter der Überschrift schlanker Staat —, daß wir eher Regelungen streichen als neue fassen.
Ein weiteres Feld ist uns bereits jetzt vorgegeben. Wir haben natürlich durch die mögliche Schaffung der kleinen AG noch nicht die Notwendigkeit der Transparenz der AG-Organe geregelt.
— Aktiengesellschaft, Herr Fischer, falls Sie das nicht wissen.
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Norbert Geis
— Na gut! Ich nehme ja gern Ihren Zwischenruf entgegen, um Ihnen klarzumachen, was wir unter AG verstehen. AG heißt Aktiengesellschaft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen eine größere Transparenz in den Vorstandsetagen. Wir brauchen eine Regelung, die die Interessenkollision in den Vorstandsetagen verhindert. Aber wir müssen auch dafür sorgen, daß nicht zu viele Vorstandsmitglieder in dem einen und dem anderen Unternehmen im Vorstand sitzen.
Allerdings beteiligen wir uns nicht an der Polemik gegen die Banken.
Die Banken sind notwendig, und sie werden immer dann gerufen, wenn die Not am größten ist. Sie sind notwendig auch für Investitionen. Wir beteiligen uns nicht an dieser Polemik gegen die Banken.
Wir sind der Auffassung, daß es richtig ist, wenn die Banken auch in den einzelnen Aufsichtsräten sitzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein weiteres wichtiges Thema in der Rechtspolitik wird das Kindschaftsrecht sein. Hier haben wir ja bereits Gesetzentwürfe vorliegen, die in der letzten Legislaturperiode sogar schon der Bundesregierung vorgelegen haben.
Hier ist eine Vorbemerkung notwendig: Wir werden keiner Gesetzgebung, Frau Ministerin, zustimmen, die auch nur im entferntesten die Familien schwächen wird. Wir haben im Wahlkampf verkündet, daß wir die Familien stärken wollen. Wir werden dies auch in der kommenden Legislaturperiode halten. Das steht auch im Regierungsprogramm.
Es besteht ein langer Kampf gegen die Familien. Ich erinnere an den 2. Familienbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 1975, in dem den Eltern vorgeworfen wird, sie seien Ungelernte, sie seien Erziehungsamateure,
und man müsse ihnen bei der Kindererziehung helfen; ja, man müsse ihnen die Kindererziehung abnehmen.
Wir meinen, daß wir diesem späten Kulturkampf endlich ein Ende machen sollten.
Das heißt nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, Frau Ministerin, daß wir uns gegen notwendige Neuerungen sperren werden, was das Kindschaftsrecht angeht. Natürlich können wir uns Gedanken darüber machen, ob es richtig ist, daß im Falle der Scheidung die elterliche Sorge nur auf einen Elternteil bezogen werden soll, oder ob es nicht besser wäre, zunächst einmal diese elterliche Sorge beiden Elternteilen zu belassen; im Sinne des Kindes wäre dies ganz sicher. Darüber können wir reden.
Wir können auch darüber reden, wie wir es beim nichtehelichen Kind halten, etwa ob dem Vater nicht stärkere Rechte einzuräumen sind. Wir wissen ja, daß es darüber eine breite Diskussion im Land gibt. Der Vater hat bislang überhaupt keine Rechte. Die elterliche Sorge steht allein der Mutter zu.
Sicher wäre eine Regelung richtig, daß dem Vater dann die elterliche Sorge übertragen wird, wenn die Mutter aus irgendeinem Grund ausfällt und wenn dies im Interesse des Kindes ist. Das gilt auch für das Recht des Vaters auf Umgang mit seinem nichtehelichen Kind, obgleich auch hier ganz brisante Fragen auftauchen, nämlich wie es ist, wenn das Kind in einem Familienverband ist und die Mutter partout nichts mehr mit dem Vater zu tun haben will.
Hier müssen wir ganz vorsichtig vorgehen. Hier dürfen wir nicht Strukturen durch gesetzliche Regelungen — nur, weil wir meinen, das müßte unbedingt gemacht werden — zerstören. Da werden wir entsprechend reagieren. Wir werden in der Beratung darauf achten, eine gute Regelung zu finden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ob es jemandem paßt oder nicht paßt: Wer über das Kindschaftsrecht nachdenkt, kann natürlich nicht am Recht der ungeborenen Kinder vorbeigehen; zumal dies derzeit rechtspolitisch höchste Brisanz hat, wie Sie alle wissen. Ich glaube aber, daß die geplante Fristenregelung, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, den jetzigen bedauernswerten Zustand, den wir mit 300 000 Abtreibungen im Jahr haben, nur noch mehr zementieren wird.
Nach wie vor ist eine der größten Aufgaben, die wir in der Rechtspolitik haben — da stimmen wir mit den Innenpolitikern überein —, die Sorge um die innere Sicherheit. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz war ein erster Schritt, und so haben wir es immer gesehen.
Die Sorge des Deutschen Anwaltsvereins, wir hätten mit der Verbesserung des beschleunigten Verfahrens den Rechtsstaat gefährdet, teilen wir nicht.
Wir teilen auch nicht die Sorge eines Hamburger Juraprofessors, der gegen das Verbrechensbekämpfungsgesetz Verfassungsbeschwerde mit der Begründung eingereicht hat, es handele sich hier um einen Verfassungsumsturz. Wenn Professoren in solche Hysterie verfallen,
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Norbert Geis
dann darf man sich nicht wundern, daß sich Studenten ihr Examenswissen nicht in der Uni, sondern bei Repetitoren holen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Rahmen der inneren Sicherheit spielt natürlich der Kampf gegen die Mafia eine entscheidende Rolle. Die Mafia agiert international. Deutschland ist für sie ein hervorragender Standort.
Sie ist deshalb ein hervorragender Standort, weil wir eine ausgezeichnete Infrastruktur haben. — Mein lieber Herr, wir haben in Aschaffenburg immerhin die höchste Aufklärungsrate in der ganzen Bundesrepublik Deutschland, nämlich 67 %.
Wir liegen weit vor Hessen.
Aber das wird sich in Kürze ändern, wenn Herr Kanther Ministerpräsident in Hessen wird.
Ohne internationale Zusammenarbeit wird diese Gefahr für unsere Zivilisation kaum zu bannen sein. Deswegen ist es notwendig, daß wir unsere Ermittlungsorgane in die Lage versetzen, die die Ermittlungsorgane in anderen Ländern haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der F.D.P., auch ich würde lieber in einem Staat ohne technische Überwachung von Wohnraum oder ohne den verdeckten Ermittler leben. Aber ich meine, man darf um rechtspolitischer Ideale willen nicht die Sicherheit aufs Spiel setzen.
Die Weimarer Republik ist nicht zugrunde gegangen, weil die Deutschen große Sehnsucht nach Hitler gehabt hätten, sondern weil der damalige Staat nicht in der Lage gewesen ist, die gestellten Aufgaben zu lösen. An der Ohnmacht des Staates sind die Menschen verzweifelt. Deswegen kam es zur Diktatur.
Daß die Kriminalität und insbesondere die organisierte Kriminalität heute in der Tat eine Gefahr darstellen, können und dürfen wir nicht verschweigen. Wir müssen dies sehen und müssen entsprechend reagieren. Wer das nicht tut, der handelt nach meiner Auffassung verantwortungslos.
Natürlich geht es uns dabei auch um das Abschöpfen der Gewinne der Mafia. Auch hier läuft allerdings nichts ohne internationale Zusammenarbeit. Was hilft uns alle berechtigte Kritik am Geldwäschegesetz, und was hilft uns das schönste Geldwäschegesetz, wenn die Verbrecher ihr Kapital ins Ausland transferieren und die Ursprungskriminalität bei uns verbleibt?
Nach wie vor stehen wir fassungslos vor der Gewaltkriminalität vor allem bei Jugendlichen.
Wir erschrecken bei manchem jungen Täter über dessen Grausamkeit und Unempfindlichkeit, mit denen er die Taten begeht. Die Frage, woher dieser Vandalismus an manchen unserer Schulen kommt, ist sehr schnell mit der Behauptung beantwortet, es seien die schlechten sozialen Verhältnisse.
Wenn wir aber genau hinblicken und wenn wir vor allen Dingen die ausländerfeindlichen Taten betrachten, dann sehen wir, daß die Täter aus sehr guten Familienverhältnissen gekommen sind, jedenfalls nach unseren Maßstäben.
Ich glaube auch nicht, daß die irrationale Gewaltbereitschaft, die zweifellos da ist, auf ein Aufflackern des Nationalsozialismus zurückgeführt werden kann, was immer wieder behauptet wird. Es mag viele Ursachen haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Häfner?
Nein; danke. — Ganz sicher ist eine der Ursachen, daß wir in bestimmten Ländern schon vor Jahren die Erziehung einfach abgeschafft haben.
Die Erziehung an den Schulen wurde in diesen Ländern in den 70er Jahren abgeschafft. Das ist sicherlich ein Relikt aus dem Jahre 1968, lieber Herr Fischer.
Denken Sie einmal an die Frankfurter Schule, die die Emanzipation geradezu vergöttert hat!
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Norbert Geis
Die Abschaffung der Erziehung ist ein großer Fehler gewesen. Die Erziehung in den Schulen wurde diskriminiert. Sie wurde als Indoktrination hingestellt.
Dann hatten die Lehrer Angst und haben aufgehört zu erziehen.
Sicherlich liegt ein zweiter Grund darin, daß wir es mit einer Krise unserer Familie zu tun haben. Nichts kann die erzieherische Kraft einer Familie ersetzen.
Die Familie ist — vor allen Dingen dann, wenn sie intakt ist — immer noch der Ort, an dem die Erziehung am ehesten und am besten geleistet werden kann. Darauf kann die Gesellschaft nicht verzichten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinzu kommt natürlich die verheerende Wirkung der Massenmedien. Es gibt ja kein Tabu mehr, das nicht von den Massenmedien in die Wohnzimmer eingestrahlt wird.
Wir erschrecken vor Kindern, die andere Kinder ermorden — wie es in England passiert ist — und auf die Frage, warum sie das getan hätten, antworten, sie hätten einmal ausprobieren wollen, wie es ist, wenn man Menschen umbringt.
Angesichts der Jugendkriminalität können wir es uns nicht leisten, im Jugendstrafrecht und im Jugendstrafvollzug einer weichen Welle nachzugeben.
— Ich weiß, daß Ihnen das nicht paßt. Zum Jugendstrafvollzug gehört eine gewisse Härte.
Die Jugendlichen müssen wissen, daß sie nicht im Hotel untergebracht sind.
Das heißt nicht, daß der Erziehungsgedanke von der
Tagesordnung gestrichen werden müßte. Nein, wir
selbst haben den Erziehungsgedanken durch das
Jugendgerichtsgesetz im Jahre 1953 eingeführt. Er hat sich bewährt, und wir werden auch daran festhalten.
Aber Jugenderziehung in den Strafvollzugsanstalten muß immer auch wissen, daß die Strafvollzugsanstalt Endstation einer langen Kette von unglücklichen Zusammenhängen und Verfehlungen ist und daß dort Erziehung oft sehr schwer möglich ist.
Man muß der Realität ins Auge schauen. Wer oft genug in Jugendstrafvollzugsanstalten gewesen ist, wird das bestätigen.
Deshalb müssen wir neben den Erziehungsgedanken, den wir voll bejahen — daran soll kein Zweifel aufkommen —, gleichbedeutend den Gedanken der Sicherheit unserer Bürger stellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein weiteres Thema der kommenden Jahre wird zweifellos die Entkriminalisierungsdebatte sein, die immer wieder angezettelt wird. Ich scheue mich nicht, darüber zu sprechen. Es gibt in Schleswig-Holstein eine ganze Reihe von Richtern, die den Diebstahl, solange er unter einem Wert von 50 DM liegt, aus dem Strafgesetzbuch herausnehmen wollen.
Sie wollen dem Geschädigten im Bürgerlichen Gesetzbuch einen Anspruch auf pauschalierten Schadensersatz geben, als wäre es so leicht, gegen einen jugendlichen Täter, der in der Regel ja pfandlos ist, Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Der Jugendliche wird den Geschädigten auslachen und um die Ecke in den nächsten Laden gehen, um sich dort zu holen, was er braucht, aber im Wert von unter 50 DM, damit er nicht bestraft wird. An diesem Beispiel wird die ganze Lächerlichkeit des Vorschlages von Richtern deutlich, die ernstgenommen werden wollen.
Mit immer neuen Varianten wird in dieser Diskussion über die Entkriminalisierung auch die Legalisierung des Besitzes von Drogen vorgetragen. Lübecker Richter sehen in dem Besitz von 4 kg Hasch kein Verbrechen mehr, sondern nur noch eine geringe Verfehlung, die auch nur geringfügig zu bestrafen sei. So weit sind wir bereits gekommen.
Die Sozialministerin desselben Landes will nun auf Tageskarten in bestimmten Restaurants Hasch anbieten,
als hätten wir mit diesen Vorgängen in den Niederlanden nicht furchtbare Erfahrungen gemacht. Aber
392 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Borm, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Norbert Geis
offenbar will diese Dame aus dem einstmals konservativen Land ein progressives Drogenmusterland machen. Es scheint jedenfalls so.
Wir werden eine solche Irrfahrt nicht mitmachen.
In Frankfurt sollen jetzt Gesundheitsräume eingerichtet werden. Schon die Bezeichnung ist absurd, wenn man überlegt, was da passiert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir halten dies letztlich für die Kapitulation vor der Drogenmafia, denn die hat dann noch leichteres Spiel. Wir werden allerdings alles tun, um den Drogenkranken zu helfen, frei zu werden von ihrer Krankheit und ihrer Sucht und zu einem ordentlichen, geordneten, vernünftigen Leben zurückzufinden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Häfner.
Herr Abgeordneter Geis, wie Sie bin ich fassungslos, wenn Kinder Kinder ermorden. Aber anders als Sie war ich fassungslos auch über Ihre Rede und bin ich fassungslos, wenn Kinder beispielsweise aus Euthanasiegründen ermordet werden, wenn Millionen Menschen ermordet werden, wie es im Nationalsozialismus geschehen ist.
Damit so etwas nie wieder geschieht, sollten wir uns in diesem Hause einig sein darüber, was die Ursache war. Wenn in diesem Hause gesagt wird, die Ursache sei nicht die Schwäche der Demokraten gewesen, sondern die Schwäche des Staates angesichts des Verbrechens, dann ist das eine Verhöhnung unserer eigenen Geschichte. In diesem Fall war der Staat der Verbrecher, der Staat der Gewalttäter.
Sie sollten sich hüten, sich mit Worten wie „Schluß mit der weichen Welle, die Jugend braucht eine starke Hand" und auch mit Schritten wie der Kronzeugenregelung und der Vermischung der Aufgaben von Polizei und Geheimdienst usw. dem anzunähern, was in unserer Geschichte einmal passiert ist. Das wollte ich hier gesagt haben.
Das Wort zu einer kurzen Antwort erteile ich dem Abgeordneten Geis.
Herr Kollege Häfner, wenn Sie richtig zugehört hätten, hätten Sie nicht gesagt, was Sie eben gesagt haben. Ich habe nämlich wörtlich folgendes erklärt. Die Menschen in der Weimarer Zeit haben nicht aus lauter Sehnsucht nach Hitler die Demokratie aufgegeben, sondern sie sind an der Ohnmacht des Staates gegenüber den Problemen verzweifelt, die sich damals zweifellos aufgetürmt haben. Das können Sie wohl auch nicht verschweigen.
Deswegen kam es zur Diktatur. Es mögen dabei auch noch viele andere Gründe eine Rolle gespielt haben. Sie werden mir zugestehen, daß ich das nicht alles im Rahmen einer Rede erklären kann.
Ich wollte damit sagen, lieber Herr Häfner, daß jede Zeit ihre Aufgaben hat und daß heute zweifellos neben vielen anderen Aufgaben eine der wichtigsten Aufgaben die Gewährleistung der inneren Sicherheit ist. Solange wir es zulassen, daß sich Leute mit Geld private Sicherheitskräfte leisten können, während andere täglich um ihr Vermögen zumindest bangen müssen, bereiten wir den Boden dafür, daß Extremisten bei uns im Lande leichteres Spiel haben. Darauf wollte ich hingewiesen haben.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Unseren Segen haben Sie" — so lautete ein Slogan der F.D.P. im letzten Wahlkampf. Wenn ich mir Ihre Koalitionsvereinbarungen zur Rechtspolitik anschaue, kann ich nur sagen: Unseren Segen bekommen Sie dafür nicht.
Bisher funktionierte Ihr Rollenspiel noch halbwegs: Die F.D.P. diente als liberales Feigenblatt dieser Regierung und gleichzeitig als Sparringspartner der CSU. Das haben wir ja gerade erlebt. Jetzt ist sie kurz vor dem K. o.
Das ZDF-Programm hat es am Montag auf den Punkt gebracht. Es zeigte ein Lehrstück an liberaler Rat- und Profillosigkeit in der Sendung „Was nun, Herr Kinkel?"; gleich im Anschluß folgte der Film „Glück im Grünen". Meine Damen und Herren von der F.D.P., das sehen die Wählerinnen und Wähler inzwischen genauso.
Die Reden von Herrn Geis und Herrn Kanther zeigen: Sie, Frau Ministerin, und Ihre Partei stehen offensichtlich mit dem Rücken zur Wand. „Bürgerrechte" tauchen im Koalitionsvertrag gerade noch in der Überschrift auf. Dann kracht gleich die erste Salve in die Reihe derjenigen, die den starken Staat ablehnen und statt dessen nach den Ursachen für Mißstände fragen. Man kommt sich vor wie in Alexandervon-Stahl-Gewittern.
„Kriminalität bekämpfen" heißt es da. Dies soll durch einen „nationalen Kriminalitätsbekämpfungsplan" geschehen. Solche nationalen Bekämpfungs-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 393
Volker Beck
pläne kennen wir von dieser Bundesregierung schon. Vor gut vier Jahren wurde der „nationale Rauschgiftbekämpfungsplan" geboren. Der „Erfolg" des Rauschgiftbekämpfungsplans: Immer mehr junge Menschen greifen zu allen möglichen Drogen. Der Gesetzgeber kommt beim Verbieten der neuen Giftcocktails in der Szene kaum noch nach. Ihre ideologisch verblendete Drogenpolitik der totalen Prohibition gefährdet das Leben und die Gesundheit nicht nur der Abhängigen, sondern auch aller anderen Bürgerinnen und Bürger, nämlich durch die zwangsläufige Beschaffungskriminalität.
Für die organisierten Händlerbanden ist Ihre Drogenpolitik eine willkommene Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Herr Geis, Ihre Drogenpolitik ist das eigentliche Sicherheitsrisiko in dieser Gesellschaft.
Aber Sie halten wider alle Vernunft an dem fossilen Rauschgiftbekämpfungsplan fest. Jetzt muß endlich Schluß sein mit dieser bankrotten Planwirtschaft. Ich fordere Sie auf: Beginnen Sie endlich eine intelligente Kriminalpolitik. Hören Sie auf, Augenwischerei durch den Abbau von Bürgerrechten zu betreiben, wie Sie es kürzlich in Ihrem Verbrechensbekämpfungsgesetz vorexerziert haben!
Meine Damen und Herren, Sie beklagen hohe Eigentumskriminalität, wachsende Gewaltbereitschaft und internationale Kriminalität, und das seit nunmehr zwölf Jahren, seitdem Union und F.D.P. regieren. Sie behaupten, Sie wollen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat stärken; gleichzeitig richten Sie diesen Rechtsstaat scheibchenweise zugrunde, indem Sie den vergilbten Wunschzettel der Sicherheitsstrategen, Polizeitaktiker und von Herrn Beckstein abarbeiten.
Mit dem Holzhammer schlugen Sie den sinnvollen und moderaten Vorschlag des Deutschen Anwaltsvereins platt, Ladendiebstahl, Schwarzfahren und andere Bagatelldelikte nach dem Grundsatz „Schadensersatz vor Strafe" zu entkriminalisieren bzw. vom Strafrecht in das Ordnungswidrigkeitenrecht zu überführen.
Ich sehe da auch eine deutliche Gerechtigkeitslücke: Wenn Wirtschaftsverbrechen wie im Fall Schneider begangen werden, Existenzen von Unternehmen und Beschäftigten gefährdet werden, dann wird das als „Peanuts" abgetan. Wer aber tatsächlich ein Päckchen Erdnüsse oder einen Lippenstift einsteckt, bekommt die ganze Härte des Gesetzes zu spüren. Da wird doch mit Kanonen auf Spatzen geschossen.
Dieser Vorschlag der Anwälte und eine Wende in der Drogenpolitik wären auch ein wichtiger Beitrag zur Justizentlastung — auf jeden Fall erfolgversprechender als Ihr gescheitertes Justizentlastungsgesetz. Aber Sie haben einfach nicht mehr die Kraft, nach solchen Erkenntnissen zu handeln.
Zum Schluß: „Unseren Segen haben Sie" — mit diesen Worten haben Sie von der F.D.P. im Wahlkampf behauptet, sich für Gleichberechtigung schwuler und lesbischer Lebensgemeinschaften einzusetzen. Und dann stimmt in der Verfassungsdebatte ein Großteil Ihrer Fraktion gegen den eigenen Antrag, auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften in Art. 6 des Grundgesetzes wenigstens „achten" zu wollen. Das ist echt F.D.P. ... Ja, auf Ihrer Partei ruht wirklich kein Segen mehr.
Vielen Dank.
Da das für den Abgeordneten Volker Beck ebenfalls die erste Rede war, möchte ich auch ihm im Namen des Hauses dazu gratulieren.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Uwe-Jens Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung die Reduzierung des Staates auf seine originären Aufgaben gefordert.
Das Interesse der Politik konzentriert sich damit auf repressive Kriminalitätsbekämpfung einerseits und den Einsatz von Krisenreaktionskräften andererseits. Wir haben das hier in den Reden von Herrn Kanther und jetzt von Herrn Geis sehr eindrucksvoll vorgeführt bekommen.
Mich erinnert das fatal an Definitionen des bürgerlichen Staates durch Stalin als Unterdrückungsinstrument nach innen und außen. Ich meine allerdings, daß diesem Staat in den letzten Jahrzehnten mit dem Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip unverzichtbar neue Aufgaben zugewachsen sind. Das ist ein Fortschritt. Ich sehe jetzt das Problem der Rücknahme dieses Fortschritts.
Kriminalitätsbekämpfung war eines der Hauptthemen im Wahlkampf, und es bewegt die Bürger zweifellos sehr. Wir sind durchaus dafür, daß dafür gesorgt wird, daß sich die Bürger nach Einbruch der Dunkelheit auch auf der Straße noch sicher fühlen können, daß in ihre Wohnungen nicht eingebrochen wird. Aber zweierlei zeigt sich bei näherer Betrachtung.
Erstens weist die Kriminalstatistik auf den Gebieten, die die Bürger in ihrer Mehrheit unmittelbar betreffen, keine außergewöhnliche Steigerung der Straftaten aus. Zweitens lassen die Veränderungen, die von der Union beabsichtigt sind, auf den für die Mehrheit der Bürger wichtigen Gebieten keine oder nur marginale Verbesserungen erwarten.
Heute ist wieder einmal von dem Abhören von Gangsterwohnungen als Hauptlösung gesprochen worden. Herr Hirsch hat dankenswerterweise ver-
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Dr. Uwe-Jens Heuer
sucht, Herrn Kanther und Herrn Marschewski darauf hinzuweisen, daß es sich eben nicht um Gangsterwohnungen handelt, sondern um Wohnungen, bei denen der Verdacht besteht.
Ich bin gegen eine solche Ausdrucksweise. Ich bin der Meinung, daß der Innenminister eines Rechtsstaates die Pflicht hat, rechtsstaatliche Sprache zu sprechen.
Wir sehen uns in der Frage des Schutzes von Errungenschaften auf diesem Gebiet in Übereinstimmung mit der Vereinigung der Strafverteidiger. Wir sind durchaus für Verfahrensbeschleunigung; aber Verfahrensbeschleunigung darf nicht auf Kosten der strafprozessualen Rechte der Beschuldigten gehen. Eine wesentliche Entlastung der Strafgerichte wäre — darüber ist hier heute schon gesprochen worden — durch eine Entkriminalisierung bestimmter Personengruppen zu ermöglichen.
In diesem Zusammenhang noch ein Wort an Herrn Geis. Herr Geis hat hier, wenn ich das recht verstanden habe, gesagt: Wenn wir nicht bereit sind, dem großen Lauschangriff zuzustimmen, droht ein neuer Hitler. Ich halte das für eine radikale — —
— Natürlich hat er darüber geredet. Herr Geis redet jedesmal darüber, wenn er das Wort hat.
Der zweite Gegenstand ist das Gebiet der Deregulierung, der Verschlankung des Staates, der Verfahrensvereinfachung. Dieses Vorhaben der Regierung ist janusköpfig. Wir begrüßen alle Vorhaben und Projekte, die zu einer Vereinfachung von Genehmigungsverfahren, zu größerer Verständlichkeit des Rechts, zu mehr Bürgernähe der Verwaltung führen. Wir sehen aber das Problem, daß es in vielen Fällen nicht um eine solche Entwicklung geht, sondern um eine Stärkung des Staates auf Kosten der Demokratie. Wir fürchten, Verfahrensvereinfachung bedeutet überwiegend, daß die Mitwirkungs- und Einwirkungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger bzw. von Bürgerinitiativen eingeschränkt werden. Das werden wir bekämpfen. Wir erleben in Berlin, daß Bezirksverwaltungen von einigen Aufgaben befreit werden sollen, z. B. von der Verantwortung für die Schulen.
Das gilt sinngemäß auch für die Privatisierung wesentlicher Teile des öffentlichen Dienstes. Natürlich begrüßen wir die Beseitigung ungerechtfertigter Privilegien der Beamten, und natürlich sind wir für
eine effektive, bürgernahe Erledigung der Dienstleistungen. Aber wenn die Privatisierung zu einer dramatischen sozialen Unsicherheit vieler öffentlich Bediensteter führt, dann können wir das nicht gutheißen.
In der Regierungserklärung ist — damit komme ich zum dritten Punkt — die Forderung des Bundespräsidenten nach einer Vereinfachung des Rechts aufgegriffen worden. Die Regierung wäre gut beraten, wenn sie bestimmte Erfahrungen der DDR wenigstens in Erwägung gezogen hätte.
1990 hat es unter Juristen in beiden deutschen Staaten ernstzunehmende Stimmen gegeben, die dies damals für wünschenswert hielten. Es gab in der DDR viele Kodifikationen, die den Bürgern zugänglich waren. Ich weiß, wie kompliziert die Gesetzgebungsmaschinerie in der Bundesrepublik ist. Das liegt am Einfluß verschiedener Interessengruppen. Es liegt auch am juristischen Perfektionswillen der Referenten des Justizministeriums.
Wir sollten meiner Meinung nach versuchen, gemeinsam ein Beispiel zu schaffen, das der Forderung nach einem für die Verbraucher verständlichen Recht besser Rechnung trägt. Dafür würde sich das Wohnungsmietrecht anbieten.
Herr Geis war ja so freundlich, von der „Hysterie der Rechtsprofessoren" zu sprechen. Ich möchte ihm sagen: Wir sollten versuchen, nicht ein Recht zu schaffen, das von Rechtsanwälten für Rechtsanwälte gemacht ist, sondern ein Recht für Bürger.
Der Rechtsprofessor Uwe Wesel hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Verständlichkeit der Sprache des Rechts und die Demokratie eng zusammengehören und daß sich die Sprache des deutschen Rechts noch im vordemokratischen Raum befindet. Ich meine, daß es die Aufgabe wäre, in der Zusammenarbeit über Fraktions- und Gruppengrenzen hinweg zu versuchen, ein bürgernahes Recht zu schaffen. Dafür wünsche ich uns viel Erfolg.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen für die heutige Sitzung nicht vor. Wir sind damit am Ende der heutigen Sitzung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, 15. Dezember 1994, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.