Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung die Reduzierung des Staates auf seine originären Aufgaben gefordert.
Das Interesse der Politik konzentriert sich damit auf repressive Kriminalitätsbekämpfung einerseits und den Einsatz von Krisenreaktionskräften andererseits. Wir haben das hier in den Reden von Herrn Kanther und jetzt von Herrn Geis sehr eindrucksvoll vorgeführt bekommen.
Mich erinnert das fatal an Definitionen des bürgerlichen Staates durch Stalin als Unterdrückungsinstrument nach innen und außen. Ich meine allerdings, daß diesem Staat in den letzten Jahrzehnten mit dem Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip unverzichtbar neue Aufgaben zugewachsen sind. Das ist ein Fortschritt. Ich sehe jetzt das Problem der Rücknahme dieses Fortschritts.
Kriminalitätsbekämpfung war eines der Hauptthemen im Wahlkampf, und es bewegt die Bürger zweifellos sehr. Wir sind durchaus dafür, daß dafür gesorgt wird, daß sich die Bürger nach Einbruch der Dunkelheit auch auf der Straße noch sicher fühlen können, daß in ihre Wohnungen nicht eingebrochen wird. Aber zweierlei zeigt sich bei näherer Betrachtung.
Erstens weist die Kriminalstatistik auf den Gebieten, die die Bürger in ihrer Mehrheit unmittelbar betreffen, keine außergewöhnliche Steigerung der Straftaten aus. Zweitens lassen die Veränderungen, die von der Union beabsichtigt sind, auf den für die Mehrheit der Bürger wichtigen Gebieten keine oder nur marginale Verbesserungen erwarten.
Heute ist wieder einmal von dem Abhören von Gangsterwohnungen als Hauptlösung gesprochen worden. Herr Hirsch hat dankenswerterweise ver-
394 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Dr. Uwe-Jens Heuer
sucht, Herrn Kanther und Herrn Marschewski darauf hinzuweisen, daß es sich eben nicht um Gangsterwohnungen handelt, sondern um Wohnungen, bei denen der Verdacht besteht.
Ich bin gegen eine solche Ausdrucksweise. Ich bin der Meinung, daß der Innenminister eines Rechtsstaates die Pflicht hat, rechtsstaatliche Sprache zu sprechen.
Wir sehen uns in der Frage des Schutzes von Errungenschaften auf diesem Gebiet in Übereinstimmung mit der Vereinigung der Strafverteidiger. Wir sind durchaus für Verfahrensbeschleunigung; aber Verfahrensbeschleunigung darf nicht auf Kosten der strafprozessualen Rechte der Beschuldigten gehen. Eine wesentliche Entlastung der Strafgerichte wäre — darüber ist hier heute schon gesprochen worden — durch eine Entkriminalisierung bestimmter Personengruppen zu ermöglichen.
In diesem Zusammenhang noch ein Wort an Herrn Geis. Herr Geis hat hier, wenn ich das recht verstanden habe, gesagt: Wenn wir nicht bereit sind, dem großen Lauschangriff zuzustimmen, droht ein neuer Hitler. Ich halte das für eine radikale — —
— Natürlich hat er darüber geredet. Herr Geis redet jedesmal darüber, wenn er das Wort hat.
Der zweite Gegenstand ist das Gebiet der Deregulierung, der Verschlankung des Staates, der Verfahrensvereinfachung. Dieses Vorhaben der Regierung ist janusköpfig. Wir begrüßen alle Vorhaben und Projekte, die zu einer Vereinfachung von Genehmigungsverfahren, zu größerer Verständlichkeit des Rechts, zu mehr Bürgernähe der Verwaltung führen. Wir sehen aber das Problem, daß es in vielen Fällen nicht um eine solche Entwicklung geht, sondern um eine Stärkung des Staates auf Kosten der Demokratie. Wir fürchten, Verfahrensvereinfachung bedeutet überwiegend, daß die Mitwirkungs- und Einwirkungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger bzw. von Bürgerinitiativen eingeschränkt werden. Das werden wir bekämpfen. Wir erleben in Berlin, daß Bezirksverwaltungen von einigen Aufgaben befreit werden sollen, z. B. von der Verantwortung für die Schulen.
Das gilt sinngemäß auch für die Privatisierung wesentlicher Teile des öffentlichen Dienstes. Natürlich begrüßen wir die Beseitigung ungerechtfertigter Privilegien der Beamten, und natürlich sind wir für
eine effektive, bürgernahe Erledigung der Dienstleistungen. Aber wenn die Privatisierung zu einer dramatischen sozialen Unsicherheit vieler öffentlich Bediensteter führt, dann können wir das nicht gutheißen.
In der Regierungserklärung ist — damit komme ich zum dritten Punkt — die Forderung des Bundespräsidenten nach einer Vereinfachung des Rechts aufgegriffen worden. Die Regierung wäre gut beraten, wenn sie bestimmte Erfahrungen der DDR wenigstens in Erwägung gezogen hätte.
1990 hat es unter Juristen in beiden deutschen Staaten ernstzunehmende Stimmen gegeben, die dies damals für wünschenswert hielten. Es gab in der DDR viele Kodifikationen, die den Bürgern zugänglich waren. Ich weiß, wie kompliziert die Gesetzgebungsmaschinerie in der Bundesrepublik ist. Das liegt am Einfluß verschiedener Interessengruppen. Es liegt auch am juristischen Perfektionswillen der Referenten des Justizministeriums.
Wir sollten meiner Meinung nach versuchen, gemeinsam ein Beispiel zu schaffen, das der Forderung nach einem für die Verbraucher verständlichen Recht besser Rechnung trägt. Dafür würde sich das Wohnungsmietrecht anbieten.
Herr Geis war ja so freundlich, von der „Hysterie der Rechtsprofessoren" zu sprechen. Ich möchte ihm sagen: Wir sollten versuchen, nicht ein Recht zu schaffen, das von Rechtsanwälten für Rechtsanwälte gemacht ist, sondern ein Recht für Bürger.
Der Rechtsprofessor Uwe Wesel hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Verständlichkeit der Sprache des Rechts und die Demokratie eng zusammengehören und daß sich die Sprache des deutschen Rechts noch im vordemokratischen Raum befindet. Ich meine, daß es die Aufgabe wäre, in der Zusammenarbeit über Fraktions- und Gruppengrenzen hinweg zu versuchen, ein bürgernahes Recht zu schaffen. Dafür wünsche ich uns viel Erfolg.
Danke schön.