Rede von
Joachim
Poß
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Mir ist die Struktur der nordrhein-westfälischen Wirtschaft sehr genau bekannt. Ich kenne auch die Vor- und Nachteile einzelner Lösungen. Deswegen habe ich mich zunächst so allgemein geäußert. Ich habe in den Vordergrund
350 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Borm, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Joachim Poll
gestellt, was jetzt wichtig ist: daß die betroffenen Arbeitnehmer und ihre Familien nicht in Panik gestürzt werden.
Lassen Sie uns das an dieser Stelle genug sein. Allerdings meine ich, daß sich eine Energiesteuer nicht allein darauf beziehen darf, sondern wir auch über kurz oder lang z. B. die Finanzierung von Energieeinsparung oder regenerativen Energien sehr sorgfältig prüfen müssen, unabhängig von diesem Urteil.
In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob diese Bundesregierung noch in der Lage ist, die längst fällige Neuorientierung in der Steuer- und Finanzpolitik vorzunehmen,
oder ob sie, was leider viel wahrscheinlicher ist, weiterwurstelt wie bisher. Damit würden Sie keine Probleme lösen, sondern nur neue schaffen. Am Ende der vergangenen Legislaturperiode wurde unser Steuerrecht vielfach als Steuerchaos bezeichnet.
Wenn die Bundesregierung so weitermacht wie bisher, dann zeichnet sich zum Ende dieser Periode eine Steuerkatastrophe ab.
Bei der zukünftigen Ausgestaltung der Steuerpolitik geht es in ganz besonderem Maße auch darum, daß die Bürger wieder Zutrauen zu unserem Gemeinwesen fassen. Die Bürger haben die große Steuerlüge des Jahres 1990 nicht vergessen. Sie haben auch die vielen Steuertricks des Bundesfinanzministers satt. Doch offenbar soll alles so weitergehen wie bisher. Das von Ihnen, Herr Waigel, vorgelegte Modell zum Existenzminimum und die in den Wind geschlagenen Warnungen vor einem Solidaritätszuschlag für alle Steuerzahler sind hierfür zwei aktuelle Beispiele.
In den letzten vier Jahren war Ihre Steuerpolitik vor allem durch eine in wesentlichen Bereichen verfassungswidrige Besteuerung und durch einen ständigen Anstieg der Steuer- und Abgabenbelastung gekennzeichnet. Darunter leiden in erster Linie die normal verdienenden Arbeitnehmer. Auch das vor der Tür stehende Jahr 1995, über dessen Haushalt wir heute reden, beginnt mit einem steuerlichen Paukenschlag: mit der Einführung des Solidaritätszuschlags für alle, also auch für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen.
Dadurch steigt die Steuerbelastung schlagartig um zwei Punkte an, auf den fast einmaligen Rekordwert von fast 48 %.
Viele Bürger, Herr Faltlhauser, werden sich im neuen Jahr verwundert die Augen reiben, wenn sie netto noch weniger in der Tasche haben als in diesem Jahr.
Die Minderung der Nettoverdienste führt mit einer Verzögerung auch zu einer Minderung der Renten. Die Bürger müssen wissen, wem sie diesen Griff in ihr Portemonnaie zu verdanken haben: der Steuererhöhungskoalition aus CDU/CSU und F.D.P.
Nach der wiederholten Erhöhung der Mineralölsteuer, der Versicherungsteuer und der Mehrwertsteuer sowie den inflationsbedingten heimlichen Steuererhöhungen ist dies der vorläufige Höhepunkt einer Flut von Steuer- und Abgabenerhöhungen.
Im übrigen steht jetzt fest, daß die Regierungskoalition den Solidaritätszuschlag zumindest bis zum Ende dieser Periode in voller Höhe erheben will. Entweder hat die F.D.P. ihre Forderung nach einer baldigen Abschaffung von vornherein nicht ernst gemeint, oder sie ist vom Bundesfinanzminister bei den Koalitionsverhandlungen über den Tisch gezogen worden.
Denn die vereinbarten Kriterien für ein Absenken des Solidaritätszuschlags werden, wie der Herr Kollege Waigel in einem Interview mit der „Wirtschaftswoche " eingeräumt hat, in den kommenden Jahren nicht eintreten. Das Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlag wird nämlich nicht höher, sondern wegen der beabsichtigten Änderung bei der Einkommensteuer niedriger sein, als bisher geplant. Auch hier hat also der Bundesfinanzminister mit falschen Karten gespielt.
Meine Damen und Herren, durch die bereits vorgenommenen Steuer- und Abgabenerhöhungen sind die normalverdienenden Bürger schon bis an die Schmerzgrenze belastet worden. Daß sie jetzt noch zusätzlich den Solidaritätszuschlag von 7,5 % zahlen sollen, ist nicht nur sozial ungerecht, sondern auch wirtschaftspolitisch unvernünftig.
Hierdurch wird Nachfrage geschwächt. Sehen Sie doch: Trotz aller Zahlen ist das zarte Pflänzchen Konjunkturaufschwung immer noch bedroht und könnte verkümmern.
Der Verlauf des Weihnachtsgeschäfts zum Beispiel zeigt, daß die geminderte Kaufkraft der Bürger derzeit das größte Problem ist. Auch die Verhandlungen der Tarifparteien werden durch die Einführung des Soli-
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Joachim Poß
daritätszuschlags belastet, da viele Arbeitnehmer eine weitere Verminderung ihres Reallohnes nicht hinnehmen wollen.
Die SPD hat von Anfang an vorgeschlagen, die ohnehin zu hoch belasteten Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen von dem Solidaritätszuschlag auszunehmen und statt dessen eine Ergänzungsabgabe für höhere Einkommen zu erheben. Wir haben hierzu einen Antrag formuliert und eingebracht, über den morgen abgestimmt wird. Ich bitte Sie, stimmen Sie diesem Antrag zu, damit ein erster Schritt hin zu mehr Steuergerechtigkeit und zur Sicherung des wirtschaftlichen Aufschwungs erfolgt!
Auf Dauer, meine Damen und Herren, sind die Bürger nur dann bereit, ihre Steuern zu zahlen, wenn die Steuerlasten gerecht verteilt sind, keine ungerechtfertigten Vergünstigungen und Schlupflöcher bestehen, das Steuerrecht einigermaßen überschaubar ist und der Staat vernünftig mit den Steuergeldern seiner Bürger umgeht. In all diesen Punkten hat die Bundesregierung in den letzten Jahren versagt. Ich möchte das an einigen Beispielen belegen.
Das Verfassungsgericht hat schon im September 1992 entschieden, daß der geltende Einkommensteuertarif verfassungswidrig ist, weil das Existenzminimum nicht ausreichend berücksichtigt wird. Statt diesen elementaren Verstoß gegen die Steuergerechtigkeit so schnell wie möglich zu beseitigen, haben Sie, Herr Bundesfinanzminister, eine Lösung auf die lange Bank geschoben, auf den letzten möglichen Zeitpunkt vertagt. Das zeigt, daß Sie an der Herstellung von Steuergerechtigkeit gar kein eigenes Interesse haben.
Sie müssen vom Verfassungsgericht getrieben werden. Ihnen fehlt das Engagement für soziale Gerechtigkeit, Herr Dr. Waigel.
Da setzen Sie, von Ihnen handverlesen, eine Sachverständigenkommission ein, geben ihr einen umfassend formulierten Auftrag, erzählen in der Öffentlichkeit, Sie bräuchten die Arbeitsergebnisse dieser Sachverständigenkommission. Und wenn die Sachverständigen ihre Arbeit auftragsgemäß vorlegen, hauen Sie sie in die Pfanne, und in welchem Stil! Dies ist Arroganz der Macht.
Aber die politische Wirklichkeit ist noch viel schlimmer, wie der gesamte Ablauf deutlich macht. Sie haben die Kommission doch nur deswegen so spät eingesetzt, damit ihre Arbeitsergebnisse nicht vor der Bundestagswahl herauskommen.