Rede von
Christine
Scheel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf den ersten Blick, Herr Waigel, sieht es ganz gut aus; man muß schon sagen: sehr eindrucksvoll, aber leider eben nur auf den ersten Blick. Auch das Existenzminimum ist jetzt als eine Art Weihnachtsbescherung ganz nett und — wie in der Zeitung zu lesen war — das doppelte Glück des Theo Waigel. Damit war übrigens nicht Ihre Ehe gemeint — herzlichen Glückwunsch auch von unserer Seite —, sondern eher, daß Sie von einmaligen Sondereinnahmen durch die Privatisierungserlöse profitieren. Das ist nicht unbedingt auf die nächsten Haushalte übertragbar. Das wissen Sie sehr gut.
Das helle Strahlen jetzt wird nicht viel nutzen; denn für die Steuerzahler und -zahlerinnen ziehen in den nächsten Jahren sehr finstere Wolken am Himmel auf. Diese werden auch nicht an der österreichischen Landesgrenze kurz vor Bayern haltmachen, sondern sie werden leider die gesamte Bundesrepublik überziehen.
Wenn man sich dann anschaut, was gestern sogar in der FAZ mit der Überschrift „Waigels Sündenfall" stand: „Der Gesetzgeber beschäftigt sich zunehmend damit, die eigenen Fehlleistungen durch neue Fehlleistungen zu ersetzen" , dann muß man sich schon fragen, ob hier wohl wirklich etwas nicht stimmt.
Auch ein bißchen Entlastung als Ausgleich für die Mehrwertsteuererhöhung — sie wird kommen; das müssen Sie den Bürgern und Bürgerinnen ehrlich sagen —, gestiegene Sozialabgaben, die wir hatten, Versicherungssteuer, Solidaritätszuschlag — all dies wird über Maßen die niedrigeren Einkommen treffen.
Ebenso sind Sie mit den Geringverdienern und vor allem mit den Familien in den letzten Jahren auf eine Art und Weise verfahren, zu der man einmal ganz flapsig sagen muß: Die Sau vom Hof geholt und jetzt ein Kotelett zurückgegeben.
Wie die katholischen Verbände in den letzten Wochen geschrieben haben, heißt es auch: „Die Kinder zählen, und die Eltern zahlen. "
Die Lösungsansätze dieser Regierung waren sehr kurzsichtig. Sie sind wirkungslos.
Es sind Schmalspurreformen — das ist das Problem —, und Steuerhinterziehung ist regelrecht zum Volkssport geworden. 330 Milliarden DM fließen jährlich ins Ausland, laut dem Bund der Steuerzahler werden 130 Milliarden DM Steuern hinterzogen. In Bayern hat man es ja teilweise vorgemacht. Ich erinnere an Herrn Zwick und Konsorten.
Man muß sich schon fragen, was hier passiert ist.
Die Familien haben geblutet, es gibt nicht weniger Arbeitslose, den Kommunen steht das Wasser bis zum Hals, und Fakt ist — auch das muß man einmal sehen —, daß Bürgerinnen und Bürger heute mit durchschnittlich 25 % mehr Steuern und Abgaben belastet sind, als dies noch vor 10 Jahren der Fall war. Im gleichen Zeitraum stieg, das ist das Fatale, die Zahl der Millionäre z. B. in Bayern — ich komme aus Bayern — um 22 %,
von denen ein Teil — auch das muß man leider sehen — überhaupt keine Steuern bezahlt.
Es ist fazinierend, wie Sie durch die Welt der großen Zahlen benebelt sind. Es kann doch nicht nur darum gehen, Schulden zu verschieben, Steuern zu erheben oder zu senken, je nachdem, wie es gefällt, der einen oder anderen Interessengruppe einmal etwas mehr oder etwas weniger Geld zuzuweisen. Es kann doch nicht angehen, daß Opposition und Regierung — das
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Christine Scheel
sagen wir von der Opposition — sich in ewig gleichen Ritualen und Schuldzuweisungen ergehen.
Müssen wir nicht uns alle einmal grundsätzlich fragen, wie unsere ökonomische und finanzielle Leistungsfähigkeit mit den politischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen für das nächste Jahrtausend zusammengehen können? Das ist die Kernfrage, die der gesamten Situation zugrunde liegt.
Die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte wird 1995 auf mehr als 2 Billionen DM — man kann sich diese Dimension kaum mehr vorstellen —steigen. Das ist eine Verdopplung innerhalb von nur fünf Jahren. Allein die Zinsbelastung des Bundes wird auf mehr als 90 Milliarden DM beziffert.
— Melden Sie sich zu Wort, wenn Sie etwas zu sagen haben. Dann verstehe ich es besser.
Was nutzt denn die Kürzung der Neuverschuldung in Höhe von 10 Milliarden DM gegenüber dem Haushaltsansatz von September? Man muß die Optik auch einmal überlegen. Sie wissen, daß durch die Erlöse aus den Privatisierungen — ich habe das vorab schon angesprochen - einige Verfälschungen enthalten sind.
Herr Schäuble selbst hat gesagt: Ab 1996 sind höhere Steuern unausweichlich. Was heißt das denn? Gibt es eine Mehrwertsteuererhöhung oder nicht? Warum wird das heute nicht gesagt? Warum wird die Wahrheit den Leuten vorenthalten? Ich denke, es ist angebracht, Ehrlichkeit walten zu lassen und den Bürgern und Bürgerinnen die Wahrheit zu sagen, nicht immer so zu tun, als ob Sie alles auf die Reihe bekämen, und dann zwischendurch einfach mal so flapsig wieder die Steuern zu erhöhen.
Zu den Gesamtschulden in Höhe von 800 Millarden DM müssen Sie seriöserweise die Lasten z. B. der Bahnreform und einige andere Posten — sie kennen das ja genauso gut wie ich — hinzuzählen. Dann kommen wir schon auf Schulden in Höhe von 1 400 Milliarden DM allein im Haushalt des Bundesfinanzministers. Das muß man sich einmal vorstellen.
— Ja, ja. — Jeder kleinere Unternehmer stünde mit dieser betrügerischen Bilanz schon längst vor dem Kadi bzw. säße eventuell auch in einem viereckigen, relativ kleinen Zimmer.
Dieses Land muß wirtschaftlich und gesellschaftlich auf das kommende Jahrtausend vorbereitet werden. Wir brauchen Reformen. Wir brauchen Reformen im Energiebereich, wir brauchen Reformen in unserem Sozialsystem, bei der Verkehrspolitik, vor allen Dingen beim Strukturwandel in der Industrie und nicht zuletzt — auch das wissen wir alle — in unserer Gesellschaft. Damit unsere Jugend, die wir nicht vergessen dürfen, eine Perspektive hat und nicht überhaupt nicht mehr weiß, wie sie diesen Wahnsinnsschuldenberg in den nächsten Jahren auf die Reihe bekommen soll. Deshalb müssen wir Reformen angehen. Dazu ist diese Regierung nicht fähig.
Eine umfassende Finanzreform ist auch für eine politische Handlungsfähigkeit notwendig. Wir brauchen kein beliebiges Sammelsurium in einem Steuerrechtsänderungspaket, wie Sie es jetzt vorhaben, dessen Inhalt Tag für Tag immer mehr an konfuse Flickschusterei erinnert. Selbst Ihre eigenen Experten sagen schon, daß das im Steuerchaos endet. Sie wissen es genauso gut wie wir, geben es bloß leider öffentlich nicht zu.
Es geht auch nicht an — das stinkt mir ganz besonders —, daß angesichts der Tatsache, daß die Gerichte überlastet sind und etwa bei den Asylverfahren Berge abgebaut werden müßten, das Bundesverfassungsgericht immer wieder Stück für Stück politische Fehlentscheidungen im nachhinein korrigieren muß, womit es der Bundesregierung — das ist nämlich die Konsequenz — im Prinzip permanent Politikunfähigkeit zudiktiert.
Sparen heißt die Devise. Darin sind wir uns alle einig. Auch DIE GRÜNEN wollen keine weitere Staatsverschuldung. Vielmehr wollen wir sie abbauen helfen. Es ist nur die Frage, wie, auf wessen Kosten und mit welchen politischen Zielen.
Ich möchte Ihnen nur einige Dinge nennen: Da ist zum einen die Fortsetzung des Sozialabbaus zu Lasten der Arbeitslosen und der kommunalen Haushalte. Selbst wenn Sie jetzt die Befristung der Arbeitslosenhilfe ausgesetzt haben, führt diese Aussetzung zu einem späteren Zeitpunkt unter dem Strich dazu, daß die geplanten Kürzungen ab Oktober, auf das ganze Jahr umgerechnet, den gleichen Kürzungsbetrag wie vorher ausmachen. Das ist der Hammer.
Obwohl die Bundesanstalt für Arbeit in ihrem Etatentwurf bereits jetzt mit einem Defizit von 14,6 Milliarden DM in 1995 rechnet, senken Sie den Bundeszuschuß. Wir wissen aber aus den vergangenen Jahren, welche fatale Auswirkungen das gerade im Fortbildungs- und Umschulungsbereich hat. Das gilt vorwiegend für die neuen Bundesländer, aber auch, Herr Waigel, für Teile Bayerns, z. B. für die Oberpfalz oder für strukturschwache Regionen in Unterfranken.
Ein weiterer Punkt: der soziale Wohnungsbau, der Städtebau und das Wohngeld. Hierfür wollen Sie keine müde Mark mehr ausgeben, obwohl bekannt ist, daß der Bedarf täglich steigt. Das bedeutet in der Konsequenz entweder, daß immer mehr Menschen sich Wohnraum bei steigenden Mieten nicht mehr
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leisten können, oder Sie verschieben die Last letztendlich auf die Länder und Kommunen.
Auch die Devise in der Regierungserklärung, Deutschland zukunftsfähig zu machen, kommt nicht über. Was nutzt uns denn dieser Zukunftsminister, wenn gleichwohl die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der beruflichen Qualifizierung eingefroren und damit faktisch gekürzt wird? Mit dem Zukunftsministerium wird nach außen mit Mordstrara ein Zeichen gesetzt, aber es wird inhaltlich, haushaltstechnisch nicht unterfüttert.
Auch die nur 1,4 Milliarden DM für Umweltmaßnahmen sind ein faktisches Eingeständnis, daß Umweltschutz in diesem Land zum Looser der Nation geworden ist. Es geht auch nicht an, daß Sie hier 8 Milliarden DM anrechnen, die aus den Einzelplänen zusammengefaßt werden, dabei aber nicht einmal merken, daß der Einzelplan 35 überhaupt nicht mehr existiert. Das hat mich sehr verblüfft. Ich nehme einmal an, daß die Beamten im Finanzministerium nicht mit den Textbausteinen umgehen können.
Zum Thema Kohlepfennig. Wir brauchen eine Energiesteuer — daß DIE GRÜNEN das schon längst einfordern, ist kein Geheimnis —, die über eine mittelfristig erforderliche Kohlesicherung hinaus eine nachhaltige Energiesparpolitik unterstützt und uns langfristig aus der Abhängigkeit von „DinosaurierEnergien" wie Kernkraft, Kohle und auch Öl
befreit.
Im übrigen muß diese neuerliche Finanzforderung an ihren geknebelten Haushaltsansatz letztlich auch die CDU/CSU und die F.D.P. zur Verzweiflung bringen. Wo wollen Sie denn für 1996 die 7,5 Milliarden DM hernehmen? Wissen Sie das überhaupt? Ich glaube nicht.
— Das ist eine sehr gute Frage. Ich weiß. Deswegen stelle ich sie auch.
Und dann diese Trickbetrügereien bei der Steuerfreistellung des Existenzminimums. Herr Waigel sagt, es ist verfassungskonform. Wir sagen und auch die Experten und Expertinnen sagen, es ist nicht verfassungskonform,
und zwar deswegen nicht, weil Sie Berechnungen vom Jahr 1991 bzw. 1990 und nicht die Berechnungen von 1994 zur Freistellungsgrenze bezüglich des Existenzminimums zugrunde gelegt haben. Auch was die Progression mit ihrem Buckel anbelangt, verweise ich im übrigen auf Frau Matthäus-Maier. Dem kann ich mich nur anschließen.
Auch der Familienlastenausgleich wird Geld kosten. Hier liegt das Problem, daß das Existenzminimum, das von Ihrer Seite für die Kinder angesetzt worden ist, viel zu gering ist. Ich kann nur hoffen, daß die katholischen Verbände, daß die Eltern in diesem
Land insgesamt auf die Barrikaden gehen. Wir werden sie heftigst dabei unterstützen.
Zu unseren Überlegungen: Wir brauchen selbstverständlich den Abbau von Steuervergünstigungen. Wir brauchen mehr Steuergerechtigkeit für die unteren und mittleren Einkommen. Das ist überhaupt keine Frage.
— Jawohl, Herr Schäuble. Wir brauchen auch die Einpassungen der heimlichen Steuererhöhungen über die Inflation z. B. Wir brauchen eine Entbürokratisierung, und wir brauchen eine Vereinfachung unseres Steuerveranlagungssystems bzw. der -praxis. Ich denke, da sind wir uns alle einig. Das Problem ist aber, daß wir, um diese Reform erst einmal angehen zu können, einen gescheiten Kassensturz brauchen, der ehrlich sein muß, der gründlich sein muß, der alle Daten offenlegt, damit man überhaupt planen kann, um dann zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zu kommen. Dazu sind Sie nicht in der Lage oder auch nicht gewillt, weil so viel auftauchen würde, was man in den letzten Jahren versucht hat zu verstecken, aber mittlerweile nicht mehr verstecken kann.
Ich muß sagen, wir verdammen nicht alles in Bausch und Bogen, was in den Koalitionsvereinbarungen steht. Das sind Kindereien; dazu haben wir keine Lust. Der Vorschlag z. B. zur Budgetierung, Verwaltung effizienter oder auch kostengünstiger zu gestalten, ist in Ordnung, aber ich warne davor, es mit der Rasenmähermethode zu versuchen. Man muß dies sehr differenziert anschauen und darf es dann nicht mit einem Prozent oder pauschal durchziehen, sondern man muß in den einzelnen Abteilungen sehr genau überlegen, wo das Leistungsprinzip in unserer Verwaltung gestärkt werden kann.
Also: An erster Stelle steht der Kassensturz, an zweiter Stelle steht die Offenlegung der staatlichen Finanzlage ohne Schönfärberei und drittens keine weitere Verschiebung von Lasten auf der föderalen Ebene. Es ist das Problem, daß eingespart und dann wieder umgeschichtet wird.
Wir müssen insgesamt eine Verteilung erreichen, die sehr ehrlich ist. Da muß der Staat bei den Einsparungen bei sich selbst anfangen und kann nicht immer nur fordern, daß die Bürger und Bürgerinnen dies tun. Wir leisten uns weltweit das größte Parlament. Wir haben eine Regierung: von Entschlackung keine Spur! Das bißchen am Wolfgangsee wird nichts nutzen. Die Reduktion der Ministerien bei gleichzeitiger Einstellung von mehr Staatssekretären kostet mehr als zuvor. Das ist auch kein Geheimnis.
Es ist notwendig, daß wir den wirtschaftlichen Strukturwandel mit allen seinen sozialen, seinen ökonomischen und ökologischen Komponenten bewältigen. Ich rede hier von einer grundlegenden sozialen
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und auch ökologischen Steuerreform, die zwingend notwendig ist. Wir haben das hier schon ausgeführt. Wir haben dezidierte Vorschläge gemacht, die wir in die parlamentarische Beratung selbstverständlich mit einbringen.
Wir sind bereit, am Deutschland der Zukunft mitzuarbeiten, dies aber mit Offenheit, mit Rücksicht auf die Schwächeren in diesem Land, im Hinblick auf eine ökologisch und ökonomisch verträgliche Zukunft.
Wir wollen kein Steuerchaos mehr. Wir wollen weg davon, daß Steuern zunehmend zu Dummensteuern werden. Hier ist Mut angesagt und kein Hofknicks vor irgendwelchen senilen Interessenverbänden.
Herr Waigel, zum Abschluß: Steuerlügen haben nun mal kurze Beine.