Meine Damen und Herren, lassen Sie uns bitte ernsthaft überlegen. Wenn es bis weit in Ihre Fraktion hinein Stimmen gibt — Frau Süssmuth, Herr Hintze und Herr Geißler —, die sagen, das gleich hohe Kindergeld sei der bessere Weg, dann frage ich: Warum, um Himmels willen, können wir es dann im Deutschen Bundestag nicht gemeinsam beschließen?
Wir hätten das nötige Geld, wenn wir uns entschlössen, ein bißchen von den über 30 Milliarden DM, die das Ehegattensplitting kostet, umzuschichten — wir sagen: etwa 12 Milliarden DM —, hin zu den Familien mit Kindern.
Ich weiß doch, daß bis weit in Ihre Fraktion die heutige Wirkung des unbegrenzten Ehegattensplittings als Ärgernis empfunden wird. Wenn z. B. ein Spitzenverdiener eine nichterwerbstätige Frau heiratet — auch umgekehrt soll es das jetzt schon einmal geben —, dann führt allein die Heirat dazu, daß dieses Ehepaar im Jahr 22 842 DM spart, auch wenn in der Ehe überhaupt kein Kind vorhanden ist. Eine Familie mit niedrigem Einkommen und einem Kind muß, wenn man Kindergeld und Kinderfreibetrag addiert,
14 Jahre lang das Kind erziehen, um auf diesen verrückten Betrag von 22 842 DM zu kommen, den bei Ihnen Spitzenverdiener allein dadurch Jahr für Jahr erhalten, daß sie heiraten. Dazu sage ich: Nein, meine Damen und Herren. Unser Angebot liegt auf dem Tisch. Beschließen Sie mit uns gemeinsam ein Kindergeld in Höhe von 250 DM und den Abzug von der Steuerschuld.
Wir verlangen das übrigens auch deswegen, damit endlich die verfassungswidrige Besteuerung der Familien mit Kindern ein Ende hat.
Denn wir sind der Ansicht, es kann doch nicht länger angehen, daß die Menschen in diesem Lande zu ihren in der Verfassung verbrieften Rechten erst dann gelangen, wenn sie nach Karlsruhe gehen. Wissen Sie denn eigentlich, daß Jahr für Jahr Millionen von Steuerbescheiden nur vorläufig ergehen, und zwar deshalb, weil diese Regierung verfassungswidrige Steuergesetze macht? Haben Sie schon einmal in Ihren Einkommensteuerbescheid geguckt? Stellen Sie sich einmal vor, was im Deutschen Bundestag los wäre, wenn ein sozialdemokratischer Finanzminister dafür verantwortlich wäre, daß Jahr für Jahr Millionen von Steuerbescheiden immer nur vorläufig ergehen? Das ist ein unglaublicher Vorgang, den Sie schnellstens beenden müssen.
Zu dieser verfassungswidrigen Besteuerung gehört das, was Sie beim Existenzminimum machen. Wie können Sie eigentlich durchs Land laufen und kritisieren, daß das sogenannte Abstandsgebot zwischen niedrigen Arbeitseinkommen und Sozialhilfe vor allem bei Familien mit Kindern nicht eingehalten werde? Der Grund dafür ist doch nicht, daß die Sozialhilfe verschwenderisch üppig wäre.
Der Grund liegt doch vielmehr darin, daß die Bundesregierung den Menschen wegen des nach wie vor viel zu niedrigen Grundfreibetrags von nicht einmal 1 000 DM im Monat und des viel zu niedrigen Kindergelds auch noch das Existenzminimum wegsteuert. Sie besteuern den Menschen das Gehalt so stark, daß sie in die Nähe der Sozialhilfe rutschen. Anschließend darüber zu jammern, daß das Lohnabstandsgebot nicht gewahrt ist, ist nun wirklich Zynismus.
Diese viel zu hohe Belastung der Durchschnittseinkommen mit Steuern ist übrigens einer der Gründe, warum wir Sozialdemokraten fordern, Ihren Solidaritätszuschlag für alle ab 1995 durch eine Ergänzungsabgabe nur für Einkommen oberhalb von 60 000 DM bei Ledigen bzw. 120 000 DM bei Verheirateten zu ersetzen. Wir wollen das natürlich mit einem gleitenden Übergang. Weil das auch die Massenkaufkraft stärken würde und deshalb für die Konjunktur gut
334 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ingrid Matthäus-Maier
wäre, wäre es wirklich vernünftig, wenn Sie sich diesem Vorschlag anschließen könnten.
Mit dem Vorschlag, den Herr Waigel zur Steuerfreiheit des Existenzminimums gemacht hat, ist die Bundesregierung zu kurz gesprungen. Die Kommentare in den Zeitungen sind entsprechend: Waigels Trick, Waigel versucht es mit der Magerversion, Waigels Sündenfall usw.
Wir Sozialdemokraten kritisieren an Ihrem Tarifvorschlag insbesondere folgendes: Erstens. Ihr Modell ist unglaublich kompliziert. Keiner kann danach mehr den Steuertarif durchschauen.
Zweitens. Der Steuerabzugsbetrag ist zu niedrig, weil er nur ein Existenzminimum von 12 000 DM bei Alleinstehenden bzw. 24 000 DM bei Verheirateten steuerfrei stellt. Man braucht kein Steuerexperte zu sein, um zu wissen, daß ein Mensch mit 1 000 DM im Monat seinen Lebensunterhalt inklusive Miete nicht bestreiten kann. Das ist Ihr Verfassungsrisiko Nummer 1.
Drittens. Der Abbau des Abzugsbetrages bis zu einem zu versteuernden Einkommen von 30 000 DM bei Ledigen bzw. 60 000 DM bei Verheirateten führt doch dazu, daß bei den niedrigen Einkommen ein Buckel entsteht. Ich nenne das einmal den „KleineLeute-Belastungsbuckel von Herrn Waigel".
Das hat Karlsruhe verboten. Die Richter haben gesagt: Einen gleichheitswidrigen Progressionssprung darf es nicht geben. Ich frage Sie: Wenn das kein Sprung ist, was ist dann noch ein Sprung, meine Damen und Herren?
Das ist das Verfassungsrisiko Nummer 2.
Ich persönlich möchte hinzufügen:
Ich halte die ganze Konstruktion des Auslaufens des Abzugsbetrags für einen steuersystematischen Fehler. Um es einmal klar zu formulieren: Wer beim Millionär Steuern holen will, der soll das doch bitte nicht bei seinem Existenzminimum tun, sondern bei dem, was der Millionär oberhalb des Existenzminimums verdient.
Viertens. Die Masse der Durchschnittsverdiener wird viel zuwenig entlastet. Statt dessen werden beim Waigel-Tarif auch noch Spitzenverdiener völlig überflüssigerweise entlastet.
Ich will es einmal in absoluten Zahlen sagen. Sie sagen immer: 100 % beim Kleinen und 2 % beim
Spitzenverdiener. Man lebt doch nicht von Prozenten, sondern von D-Mark in absoluten Zahlen.
Ich sage es daher in absoluten Zahlen. Eine Familie mit einem zu versteuernden Einkommen von 60 000 DM würde bei Ihnen eine monatliche Entlastung von 21 DM erhalten, Menschen mit Einkommen oberhalb von 240 000 DM aber eine monatliche Entlastung von 128 DM. Wer aber in einer Zeit, in der der Staat hinten und vorne kein Geld hat, auch noch eine Steuersenkung für Spitzenverdiener vorschlägt, der weiß doch gar nicht mehr, wie es in den Familien zu Hause aussieht.
Wir Sozialdemokraten werden in den bevorstehenden Gesetzesberatungen unsere konkreten Alternativen einbringen, wobei besonders wichtig ist: erstens die Steuerfreiheit für Einkommen von 13 000 bzw. 26 000 DM. Zweitens. Die breite Masse der Durchschnittsverdiener muß stärker entlastet werden als bei Ihnen. Außerdem darf sich das Steuerrecht nicht verkomplizieren.
Damit komme ich am Schluß zu Ihren Gewerbesteuerplänen. Auf die Details wird der Kollege Jochen Poß eingehen. Eine böse Ahnung beschleicht mich doch: Die Bundesregierung will die Gewerbesteuer abschaffen, in Schritten; das ist ihr Ziel. Die Abschaffung der Gewerbesteuer würde zu einem Steuerausfall von rund 30 Milliarden DM netto führen. Einige von Ihnen fordern, diesen Steuerausfall durch eine Beteiligung der Gemeinden an der Mehrwertsteuer auszugleichen. Was heißt das denn? Sie reden immer so vornehm von der Beteiligung der Gemeinden. Sie können aber nicht von einem Kuchen 30 Milliarden DM abzwacken, ohne daß sich der Kuchen verändert. Das heißt doch auf deutsch, daß diese Bundesregierung zum Ausgleich die Mehrwertsteuer um mindestens drei Prozentpunkte anheben will. Oder aber es geht nach dem Vorschlag von Herrn Schäuble. Er sagt: Ersatz der Gewerbesteuer durch ein eigenes Hebesatzrecht bei der Lohn- und Einkommensteuer. Das würde eine dramatische Anhebung bei der Lohn- und Einkommensteuer bedeuten. Nur, damit man sich das einmal klarmacht, damit würde auf die Lohnsteuer und auch auf den 1995 in Kraft tretenden Solidaritätszuschlag zusätzlich eine Steuerbelastung in Höhe des Solidaritätszuschlages obendrauf gesattelt.
Vielleicht haben Sie das nicht durchgerechnet, Herr Schäuble. Stellen Sie sich doch hierhin und sagen den Menschen, was Sie mit dem Durchschnittsverdiener im Lande vorhaben. Diese Steuerbelastung geht nicht.
Bei der Diskussion über die Gewerbesteuer vertreten wir Sozialdemokraten mehrere Interessen: die Interessen der Verbraucher — deswegen lehnen wir eine Mehrwertsteuererhöhung ab —, die Interessen
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Ingrid Matthäus-Maier
der steuerzahlenden Bürger — deswegen lehnen wir die von Ihnen geplante massive Erhöhung der Lohn- und Einkommensteuer ab — und die Interessen des Mittelstandes. Nur 16 % aller Gewerbesteuerzahler zahlen überhaupt Gewerbekapitalsteuer, darunter z. B. die Banken, denen es offensichtlich finanziell sehr gut geht. Es gibt keinen Grund, diese durch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zu entlasten
und dafür z. B. den Mittelstand und das Handwerk durch höhere Mehrwertsteuer oder Einkommensteuer zu belasten.
Schließlich vertreten wir die Interessen der Bürgerinnen und Bürger in den Städten und Gemeinden. Nicht nur durch ihre Gewerbesteuerpläne, sondern auch durch die geplante Kürzung der Arbeitslosenhilfe will die Bundesregierung die Gemeinden in einer Milliardengrößenordnung belasten. Es sind doch aber gerade die Gemeinden, die für die Menschen notwendige Dienstleistungen erbringen. Wenn z. B. die Gebühren für Büchereien und für Bildungsveranstaltungen steigen, den Sportvereinen die Mittel gekürzt werden und das Geld für den Bau und Unterhalt von Kindergärten und sozialen Einrichtungen fehlt, dann können sich die Menschen in Zukunft bei Finanzminister Waigel bedanken.
Die Sache ist ganz einfach: Bei der Gewerbesteuer gibt es überhaupt keinen Zeitdruck. Koppeln Sie die Gewerbesteuerpläne von Ihrem Gesetzgebungsvorhaben ab, und konzentrieren Sie sich auf die wirklich dringlichen Aufgaben. Schichten Sie im Bundeshaushalt zugunsten zukunftsorientierter Vorhaben und moderner Arbeitsplätze um. Konsolidieren Sie die Staatsfinanzen, damit wir aus der Schuldenfalle herauskommen. Entlasten Sie die Familien mit Kindern, und stellen Sie das Existenzminimum von der Lohn- und Einkommensteuer frei. Das ist es, was die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande von Ihnen zu Recht erwarten.