Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen wurden zwei Vorstandsmitglieder der angesehenen Menschenrechtsstiftung der Türkei vor dem Staatssicherheitsgericht in Ankara angeklagt. Der eine, Yavuz Önen, hatte eine Politik kritisiert, die „die kurdische politische und demokratische Bewegung verbietet" . Der andere, Fevzi Argun, hatte von einer „sich vertiefenden Kluft zwischen dem kurdischen und dem türkischen Volk" gesprochen. Für diese Äußerungen droht ihnen eine empfindliche Geldstrafe sowie eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren in der Türkei.
Derzeit laufen in der Türkei über 2 000 ähnliche Verfahren, und 117 Schriftsteller, Wissenschaftler und Gewerkschafter der Türkei befinden sich deswegen im Gefängnis.
— Das sind die, die von der Menschenrechtsstiftung belegt sind. Ich nehme bewußt die Zahlen der Menschenrechtsstiftung, weil das Zahlen sind, die, wie Sie wissen, international Anerkennung genießen. — Die meisten dieser 117 haben mit der PKK nicht den Hauch einer Gemeinsamkeit, nicht den Hauch einer Übereinstimmung.
Auch einige Tage nach der Urteilsverkündung gegen die ehemaligen Abgeordneten der Großen Nationalversammlung der Türkei sind wir in diesem Haus über alle Fraktionsgrenzen hinweg betroffen und fassungslos ob der unversöhnlichen Haltung des Generalstaatsanwalts, der Regierungsmehrheit und des Militärs in der Türkei.
Als jemand, der deutscher Staatsbürger türkischer Herkunft ist, sage ich: Die Türkei ist viel zu wichtig, als daß wir es uns leisten könnten, daß die Türkei in fundamentalistische, in nationalistische Fahrwasser abdriftet.
Ich denke, gerade als Europäer müssen wir alles daransetzen, daß diese Kräfte in der Türkei nicht mehrheitsfähig werden.
Ich füge aber hinzu: Wer die Türkei nicht den Islamisten und Nationalisten aller Couleur überlassen möchte, muß sich anschauen, welche Freunde und Freundinnen er in der Türkei hat und unterstützt.
Es gibt ein türkisches Sprichwort, das ich an dieser Stelle zum besten geben möchte. Es lautet türkisch: „Dost aci söyler" und deutsch: „Ein guter Freund sagt stets die Wahrheit". In diesem Sinne würde ich mir wünschen, Herr Marschewski, daß wir als bundesdeutsche Politikerinnen und Politiker in dieser Frage die bittere Wahrheit aussprechen und in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen, daß nur eine Politik,
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Cern Özdemir
die auf Gewaltfreiheit setzt, die ausschließlich auf Menschenrechte setzt, eine Zukunft hat.
Dies wird in der Türkei von der Mehrzahl der Menschen kurdischer und türkischer Abstammung auch so gesehen.
Der Herr Bundeskanzler sitzt hier.
— Nein, nein, er ist hier. Der Bundeskanzler schwebt stets über uns.
Es müßte Sie, Herr Bundeskanzler Kohl, doch seltsam berühren, wenn in türkischen Tageszeitungen wenige Tage vor der Bundestagswahl die Schlagzeile „Çiller betet für Kohl" zu lesen war.
Ich glaube, es ist auch ein Armutszeugnis für unseren Außenminister, wenn ihn einer der nationalistischsten türkischen Kolumnisten über alle Maßen lobt und in einer türkischen Tageszeitung deutsch schreibt: „Danke, Herr Kinkel! " Das sagt einiges darüber aus, wie deutsche Außenpolitik in der Türkei wahrgenommen wird, wie sie ankommt.
Das Versagen in der Außenpolitik paßt sehr gut zu der Politik, mit der Innenminister Kanther auf dem Rücken der Schwächsten vermeintliche Stärke demonstriert.
Es ist bezeichnend: Während bei Flüchtlingen an allen Ecken und Enden gespart und geknausert wird, hat der Bundesinnenminister genug Geld, um in den nächsten vier Jahren über 400 Millionen DM für ein erkennungsdienstliches System für Asylbewerber auszugeben, mit dem Fingerabdrücke verglichen werden können.
All dies zeigt: Statt Fluchtursachen zu bekämpfen und mit Flüchtlingen in unserem Land trotz — zugegebenermaßen — aller Schwierigkeiten human umzugehen, werden Menschen bekämpft, und dafür scheut man keine Mühen und Kosten.
Ich möchte an dieser Stelle, wenn Sie gestatten, auch ein paar Bemerkungen zum Schreckensszenario machen, das Bundesinnenminister Kanther im Bereich der inneren Sicherheit an die Wand gemalt hat. Ich habe schon die Angst gehabt: Was droht mir, wenn ich dieses Gebäude verlasse? Wartet dann schon die Mafia vor der Tür? Warten die Schlepperbanden? Was passiert dann?
Man sollte in aller Deutlichkeit sagen: Trotz aller Schwierigkeiten im Bereich der inneren Sicherheit gibt es nicht den archimedischen Punkt, mit dem die Frage der inneren Sicherheit zu klären wäre. Die Welt ist eben etwas komplizierter, als daß man sagen könnte, die Ausländer und das Ausland seien quasi für alle Probleme, die wir im Bereich der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland haben, verantwortlich. So einfach sollte man es sich nicht machen.
Ich würde auch einen Blick in die „Frankfurter Rundschau" von heute empfehlen. Dort steht einiges zu einem Thema, zu dem ich mir heute Ausführungen gewünscht hätte. Da ist z. B. die Tatsache, daß jeder zwanzigste Deutsche als suchtkrank gilt, daß wir in Deutschland 2,5 Millionen Menschen haben, die alkoholabhängig sind. Wir haben 1,4 Millionen Medikamentenabhängige, 150 000 Menschen sind von harten Drogen abhängig. Ich hätte mir Ausführungen dazu gewünscht, wie wir an dieses Problem herangehen, anstatt daß hier ein Horrorszenario aufgebaut wird, das mit der Realität nichts, aber auch gar nichts gemein hat.
Meine Damen und Herren, ich begrüße den vorliegenden Antrag zur Verlängerung des Abschiebestopps für Kurdinnen und Kurden. Es ist ein erster Schritt zu einer konsequenten Menschenrechtspolitik, die ich mir wünsche. Lassen Sie uns aber morgen um der Humanität willen noch einen weiteren kleinen Schritt tun: Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Antrag, einen Abschiebestopp für Wehrdienstverweigerer aus dem ehemaligen Jugoslawien zu erlassen. Es wäre ein schönes Signal, das von diesem Hause angesichts dessen ausgehen sollte, was im ehemaligen Jugoslawien zur Zeit passiert. Lassen wir nicht zu, daß diese Menschen der Kriegsmaschinerie wieder ausgeliefert werden!
Es genügt nicht, wie der F.D.P.-Generalsekretär wolkig und fern jeder realpolitischen Analyse zu erklären, was wäre, wenn seine Partei die Mehrheit im Bundestag hätte, was sie dann alles gern tun würde. Es geht hier nicht um irgendeine Milchkannenverordnung der Europäischen Union, sondern hier geht es um das Schicksal von Menschen. Es liegt an Ihnen, meine Damen und Herren von der F.D.P.— an die ich mich ganz besonders richte —, zu zeigen, ob Sie gewillt sind, etwas Konkretes für die Menschen zu tun und sich nicht aus der praktischen Politik zu verabschieden, weil die Regierungsvereinbarung anderes angeblich nicht zugelassen hat.
Ich denke — hier wende ich mich wieder gezielt an die Mehrheit dieses Hauses, an die Vertreterinnen und Vertreter, die Kolleginnen und Kollegen von Union und F.D.P. —, diesem Parlament, diesem Hohen Hause, stünde es gut zu Gesicht, wenn es uns gelänge, in dieser Legislaturperiode einen interfraktionellen Kompromiß — ich rede bewußt von einem Kompromiß — in bezug auf die Erleichterung der Einbürge-
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rung und bezüglich der großzügigeren Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft zu finden.
Ich denke, dieses Haus braucht die Koalition der Vernunft. Als Angehöriger der ersten Generation von „neuen Inländern" — oder wie man gemeinhin sagt: der zweiten Einwanderergeneration, wobei das auf mich nicht zutrifft, da ich nie eingewandert bin, sondern immer hier war; nicht in diesem Hohen Hause, aber immer in diesem Lande — kann ich mir nicht vorstellen, was die Phrase von dem „zurück in die Heimat", die offensichtlich nach wie vor in manchen Köpfen herumspukt, bedeuten soll. Das hieße für mich: zurück nach Bad Urach.