Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ich habe Ihren Ausführungen heute sehr aufmerksam und mit großer Freude zugehört.
— Ja, Herr Geis. — Ich möchte Ihnen ausdrücklich sagen, daß Sie in einigen der Punkte, die Sie genannt haben, sehr wohl mit unserer Unterstützung rechnen können. Gleichwohl erklärt dies, Herr Geis, warum unser sozialer Rechtsstaat und damit auch die Rechtspolitik Ihrer Koalition insgesamt nicht in so gutem Zustand sind, wie wir es gerne hätten.
Die Justizministerin blockiert Gott sei Dank — da hat sie meine volle Unterstützung — einen Großteil des Unsinns, der aus Teilen der Koalition kommt.
Auf der anderen Seite verweigert dieser Teil der Koalition, nämlich die Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU, die notwendigen Erneuerungsmaßnahmen auf dem Feld der Rechtspolitik. Das bringt uns, meine Damen und Herren, in eine schwierige Situation. Das stellen Sie fest, wenn Sie sich mit Ihren Nachbarn, mit Berufskollegen und anderen Menschen darüber unterhalten.
Ich komme darauf noch zurück, werde Ihnen aber zuerst sagen, wo wir Ihnen zustimmen, Frau Bundesjustizministerin. Das fängt an bei Ihrem Vorhaben, die außergerichtliche Streitschlichtung stärker in den Vordergrund zu stellen und geht weiter mit der Harmonisierung des Sanktionensystems. Wir unterstützen, um einen dritten Punkt zu nennen, auch das, was z. B. der Richterbund vorgeschlagen hat, nämlich die Vereinfachung des Bußgeldsystems. Es muß möglich sein — und es ist auch möglich —, durch Entbürokratisierung zu vereinfachen, ohne den Sanktionszweck aufzuheben.
Wir unterstützen Sie auch in einem anderen Punkt, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, den Sie heute nicht ausdrücklich erwähnt haben, der aber mitverhandelt wird. Es handelt sich um den deutschen Beitrag dazu, daß der Internationale Gerichtshof zur Verfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien in Den Haag endlich seine Arbeit aufnehmen kann.
Ich halte das für eine sehr gute Sache: nicht wegen der technischen Einzelheiten des vorgelegten Gesetzes, sondern deswegen, weil die Kriegsverbrecher, Mörder, Folterer und Vergewaltiger sowie ihre militärischen und politischen Hintermänner bald am eigenen Leibe erfahren müssen, daß sie in der zivilisierten Welt geächtet sind und es auf Dauer bleiben und nie mehr irgendwo in Ruhe leben können, so als sei nichts gewesen.
Meine Damen und Herren, die haushaltspolitische Debatte gerade auch zur Rechtspolitik gibt uns Anlaß, über die Aufgaben des sozialen Rechtsstaates und damit auch der Rechtspolitik nachzudenken und zu prüfen, ob das, was die Regierungsmehrheit in den vergangenen zwölf Jahren gemacht hat, Erfolg hatte und ob das, was Sie jetzt vorhaben, Erfolg haben kann.
Dabei komme ich zu den Zweifeln, die ich vorhin schon angedeutet habe. Die Aufgabe einer guten Rechtspolitk muß doch sein, in einer sich ständig wandelnden und verändernden Welt die Grundwerte unseres Grundgesetzes zur Geltung zu bringen, durchzusetzen und zu sichern.
— Natürlich, ich hoffe, daß es auch bei Ihnen eine Menge vernünftiger Leute gibt, mit denen wir über so etwas reden können. — Die Grundwerte sind der Grundkonsens unserer Gesellschaft. Sie gilt es zu erhalten. Aber die Rechtspolitik muß dann auch
— genau wie Gesellschaftspolitik — die veränderte Wirklichkeit wenigstens steuern und erhalten wollen und können.
Und jetzt schauen Sie sich doch einmal an, Herr von Stetten, Frau Leutheusser-Schnarrenberger und Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wie es mit der Wirklichkeit heute aussieht: Die Wirklichkeit ist Ihrer rechtspolitischen Gestaltung längst entglitten.
— Ich meine das keineswegs allein, Herr Geis. Wenn Sie sich einmal die Mühe machen würden, sich die Veränderungen bei der Kriminalität, bei den technischen Neuerungen oder im Arbeitsleben wirklich genau anzusehen und darüber nachzudenken, dann wissen Sie auch, wieviel an Erneuerungsbedarf sich hier aufgehäuft hat. Dann würden auch Sie die Worte meines Kollegen Fritz Rudolf Körper unterstreichen,
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Dr. Herta Däubler-Gmelin
daß das, was Sie in den Koalitionsvereinbarungen zur Innen- und Rechtspolitik geschrieben haben, außerordentlich schwach ausgefallen ist.
Zur Kriminalitätsbekämpfung: Ich beginne einmal mit der organisierten Kriminalität, über die schon gesprochen wurde. Richtig ist, daß die einzige Triebfeder dieser besonderen Kriminalitätsform das Geld ist. Richtig ist auch, daß alle unsere Initiativen und Mahnungen bei dieser Triebfeder, nämlich beim Geld, anzusetzen, nicht gefruchtet haben. Weil Sie sich, meine Damen und Herren der Koalition, gegenseitig blockieren, wird da nichts aufgegriffen und in die Tat umgesetzt.
Herr Marschewski, welches sind denn die Schlupflöcher, die — wie es vorhersehbar war — das Geldwäschegesetz nicht zur vollen Funktionsfähigkeit haben kommen lassen? Zum einen die Tatsache, daß unsere Banken Auslandsdienststellen haben, die sich prächtig als Schlupflöcher für Geldwäsche eignen. Das wissen Sie. Aber Sie haben es nicht abgestellt, obwohl wir Sie dazu aufgefordert haben.
Zum Zweiten geht es nicht nur um die Umkehr der Beweislast. Wenn Sie mit Praktikern, mit Polizeibeamten reden, sagen die Ihnen genau das gleiche wie mir, nämlich daß Mafia-Geld, Geld das — um es juristisch korrekt auszudrücken — mafiös bemakelt sein könnte, zunächst einmal aus dem Verkehr gezogen und beschlagnahmt werden kann — zunächst wenigstens einmal vorläufig! Lassen Sie uns das doch machen! Damit überwindet vielleicht auch die Koalition die Gefahr, sich gegenseitig zu blockieren. Dann wären wir im Bereich der organisierten Kriminalität, die wir gemeinsam bekämpfen müssen und wollen, einen Schritt weiter.
Jetzt komme ich zum zweiten Bereich, den auch Herr Kanther und Frau Leutheusser-Schnarrenberger angesprochen haben, zur Kriminalität, die über die Grenzen zu uns kommt. Herr Marschewski und Herr Kanther, es ist ein wenig traurig, daß Sie in diesem Zusammenhang immer so unterschwellig auf Asylbewerber oder die ausländische Wohnbevölkerung in Deutschland abheben, obwohl Sie ganz genau wissen, daß dies nicht richtig ist.
Zu dem Bereich der Kriminalität, die über die Grenzen zu uns kommt, gehört der internationale Autodiebstahl mit Versicherungsbetrug, Waffenhandel, Drogenhandel, Prostitutionshandel und Organhandel. Dies alles sind Bereiche, in denen sich z. B. durch die unterschiedlichen Gesetze, die wir in unserem Teil der Welt haben, Geld verdienen läßt, sei es bei uns oder woanders. Jeder von Ihnen weiß genau wie wir, daß dagegen nur eines wirklich hilft: die effiziente Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden über die Grenzen hinweg und eine Abstimmung der materiellen Gesetzeslage auf der Basis gemeinsamer Grundsätze.
Sehen Sie sich doch einmal an, wie weit Sie es in den letzten zwölf Jahren gebracht haben! Die Abstimmung der internationalen Grundsätze auf diesem
Gebiet, ganz zu schweigen von der Angleichung z. B. der Strafgesetze oder des Datenschutzes, steckt doch noch in den Kinderschuhen. Sie wissen auch alle, was Herr Kanther zu Europol gesagt hat. Das war die Übertreibung des Jahrhunderts!
Die EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands wäre ein Anlaß gewesen, die Existenzgründungsphase von Europol endlich zu Ende zu bringen und in die Arbeitsfähigkeit einmünden zu lassen.
— Nein, er hat es nicht geschafft,
sondern die entsprechenden Beschlüsse sind auf die Zeit der französischen Ratspräsidentschaft verschoben worden. Es wäre gut, wenn Sie hier im Bundestag wenigstens die Wahrheit sagen würden.
Dazu kommt ein Zweites: Wenn Sie heute einen Amtsrichter in Baden-Baden dazu auffordern, zusammen mit einem Kollegen im Elsaß Strafverfolgung zu betreiben, dann sehen Sie, daß wir heute noch nicht sehr viel weiter sind als vor zehn Jahren, obwohl Frankreich seit langen Jahren unser Partner und Freund ist.
Dies sind die Punkte, die eine wirksame Kriminalitätsbekämpfung und damit auch den sozialen Rechtsstaat behindern. Hier haben Sie versagt!
Herr Marschewski, wenn Sie als Forderung großartig herausstreichen, daß man nationalen Geheimdiensten, die im Ausland arbeiten, mehr Kompetenzen zur Verbrechensbekämpfung einräumen sollte, dann bitte ich Sie, noch einmal darüber nachzudenken. Das ist nun wirklich der größte Unfug.
Wenn Sie schon keine rechtsstaatlichen Bedenken haben, dann prüfen Sie das Ganze doch einmal unter dem Gesichtspunkt der Effizienz. Es muß doch darum gehen, daß die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsorgane, also Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte, über die Grenzen hinweg besser wird. Wenn aber jedes Land seinen jeweiligen nationalen Auslands-Geheimdienst mit größeren Kompetenzen ausstattet, dann gibt es immer mehr Abstimmungsprobleme, schon deshalb, weil Geheimdienste nach anderen Grundsätzen arbeiten und auch in Zukunft anders arbeiten werden als Strafverfolgungsorgane. Das tut dem gemeinsamen Ziel der Kriminalitätsbekämpfung mit Sicherheit nicht gut.
— Zu Recht, Herr Geis!
Die Wirklichkeit ist Ihnen in einem weiteren Punkt sehr entglitten, der uns allen zunehmend Schwierigkeiten macht. Die Korruption breitet sich aus. Mittlerweile greifen dieses Thema immer mehr Juristen, Juristentage und auch Journalisten auf. Ich habe es
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wirklich bedauert, daß Sie, Frau Bundesjustizministerin, und auch der Herr Bundesinnenminister kein einziges Wort dazu gesagt haben. Hier fehlt nicht nur Ihre Gesamtstrategie wie bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität; hier haben Sie überhaupt keine Strategie.
Und dabei haben wir es Ihnen einfach gemacht. Wir haben Ihnen ein Fünf-Punkte-Programm vorgelegt, das relativ präzise sämtliche Ebenen des Gesamtstaats einbezieht.
— Herr Kleinert, es ist sehr viel präziser als alles, was Sie zu diesem Punkt jemals gesagt haben.
Mir ist überhaupt nicht bewußt, daß Sie sich jemals dazu geäußert hätten. Das ist natürlich bedauerlich, weil Sie ganz genau wissen: Die Bekämpfung von Korruption ist keineswegs nur eine Frage der Moral, sondern zunehmend auch eine Frage des Geldes, das den Steuerzahler belastet. Sie wissen alle mittlerweile, daß durch Auftragsabsprachen, verbunden mit Bestechlichkeit, auf allen Ebenen staatlicher Entscheidungen dreistellige Millionenbeträge in jedem Jahr zuviel gezahlt werden.
Wo ist denn nun Ihre Gesamtstrategie? Was tun Sie denn dafür, daß hier durchgegriffen wird? Meine Damen und Herren, Sie hätten es in der Hand, nicht nur im Innenbereich durch eine vernünftige Effektivierung der Kontrollmechanismen, sondern auch im Rechtsbereich — da allerdings weniger beim Strafrecht; da sind Änderungen nicht mehr so notwendig —eine Menge zu veranlassen.
Mich bedrückt dieses Thema noch aus einem ganz anderen Grund. Wir alle beklagen gelegentlich, daß in unserer immer individualistischer und pluraler werdenden Gesellschaft nicht nur der Wertekonsens schwindet, sondern auch das Rechtsbewußtsein. Richtig! Dagegen müssen wir etwas tun. Zum Wertebewußtsein gehört auch, daß in dieser Gesellschaft wieder Konsens darüber hergestellt werden muß, daß sich niemand bestechen lassen darf und daß niemand bestechen darf — beides!
Wie soll sich denn ein Wertekonsens in der Gesellschaft bilden oder auch stärken lassen, solange Sie die steuerliche Abzugsfähigkeit von Schmiergeldern nicht streichen?
Wie soll denn ein Unternehmen, das seine Leute geradezu dazu ausbildet, wie mit Schmiergeldern umzugehen ist, im Ausland ohne jede Kontrolle und im Inland — so wie die Erlasse des Finanzministeriums aussehen — mit sehr begrenzter Kontrolle, dem Grundkonsens verpflichtet sein, daß man sich nicht bestechen lassen darf und nicht bestechen darf?
Meine Damen und Herren, an diesem Punkt wird sich dann auch zeigen, ob das, was Sie hier im Parlament sagen, auch von Ihnen gewollt wird. Ich sage Ihnen: Wir werden Sie hier nicht aus der Verantwortung entlassen; wir werden darauf drängen, daß man nicht nur dann, wenn es Ihnen paßt, über schwindendes Rechtsbewußtsein redet, sondern wir werden mit großer Sicherheit Wert auch darauf legen, daß Sie, auch wenn es Ihnen nicht paßt, etwas für das Rechtsbewußtsein tun.
Die Entwicklung in der Technik ist Ihnen entglitten. Rechtspolitik zur Steuerung findet in diesem Zusammenhang nicht mehr statt. Tele-Banking, Tele-Shopping, auch z. B. TeleArbeit, Faxe, Telekommunikation, Datennetze, Internet — all das bestimmt vielleicht nicht das Leben der Menschen, die hier im Bundestag sitzen
— so schlimm wird's nicht sein —, aber es prägt das Geschäftsleben und vor allen Dingen das tägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger immer mehr. Aber der Verbraucherschutz, das Verbraucherrecht, der Datenschutz, das Arbeitsrecht und das Arbeitsschutzrecht sind nicht weiterentwickelt worden und nicht auf der Höhe dessen, was uns die technische Wirklichkeit ständig aufgibt. Meine Bitte ist: Es wäre wirklich sinnvoll, daß sich der Bundestag in den kommenden vier Jahren diesen Fragen stellt. Probleme und Verzerrungen zeigen sich jetzt schon an manchen Ecken. Ich denke, daß die Kolleginnen und Kollegen, die sich hier mit dem Schutz von Kindern oder von Frauen oder auch mit rechtspolitischen Fragen beschäftigen, davon schon etwas gehört haben. Heute werden Datennetze, Telekommunikationssysteme für die übelsten Auswüchse von Kinderpornographie und Kinderprostitution, von Frauenhandel und ähnlichem genutzt, alles, was in den Medien, in den Zeitungen und im Fernsehen sicher schon längst verboten wäre.
— Nur, Herr Geis, jetzt kommt es doch darauf an: Diese Netze entziehen sich dank Ihrer Untätigkeit nicht nur der Kontrolle; vielmehr kann sich jeder, jeder, der's auf solche schmutzigen Geschäfte anlegt, auch der gesetzlichen Schlupflöcher bedienen.
Ich sage Ihnen: Wenn wir es damit ernst meinen, daß rechtspolitische Gestaltung und Rechtspolitik den Auftrag haben, unsere Grundwerte in veränderten Wirklichkeiten umzusetzen, dann muß man an das Problem herangehen.
Ich hoffe, daß wir hier mit Ihrer Unterstützung rechnen können. Aber wir werden auch ohne Sie weiter darauf drängen.
Lassen Sie mich zur Technik noch dies sagen: Ich hätte mich gefreut, wenn es nicht so lange gedauert hätte, bevor sich unsere Bundesregierung im Zusammenhang mit der Bioethikkonvention eindeutig
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äußerte und wenn es nicht so mühsam gewesen wäre, diese Stellungnahmen aus ihr herauszukitzeln.
Es gibt eine ganze Menge sehr guter Aspekte in dieser Bioethikkonvention, die dem Erfordernis der Abstimmung im europäischen Bereich entsprechen. Daß man allerdings an Embryonen nicht forschen lassen darf, daß in menschliches Keimgut nicht eingegriffen werden darf, daß wir menschliches Leben nicht kategorisieren lassen dürfen und daß Eingriffe, zu welchen Zwecken auch immer, ohne Zustimmung bei hilflosen Menschen nicht erfolgen dürfen, all das sollte eigentlich klar sein.
Ich denke, das ist ein klassischer Fall für den Umgang unserer Rechtspolitik mit der Technik in diesem Haus. In diesem Haus haben die Bioethikkonvention und die Haltung der Bundesregierung keine Rolle gespielt, und als dann einige Kollegen sie noch in die Debatte einbringen wollten, wurde das auf einen Zeitpunkt verschoben, an dem alles zu spät gewesen wäre. So mußten wir mit Hilfe der Öffentlichkeit — leider nicht mit Ihrer Unterstützung — die Notbremse ziehen.
Ich komme zum Arbeitsleben. Wir alle wissen, daß unser Grundgesetz die folgenden drei Elemente als Essentialia umschließt: die Tatsache, daß Arbeitnehmer Rechte haben und auch Möglichkeit, sie durchzusetzen, Arbeitsschutzrechte und Mitbestimmungsrechte. Bezogen sind alle diese Rechte auf eine Organisation der Arbeit, die sich bei uns längst in Auflösung befindet. Es gibt mittlerweile TeleArbeit, Teilzeitarbeit, ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse in Millionenzahl. Immer mehr Menschen werden in die sogenannte unechte Selbständigkeit oder in Verträge der sogenannten freien festen Mitarbeit abgedrängt. Wo sind denn eigentlich Ihre Vorschläge, um genau für diesen wachsenden Personenkreis Recht und Schutz zu sichern? Das alles muß in unserem Parlament aufgegriffen, besprochen und beschlossen werden, auch das gehört zur Sicherung des sozialen Rechtsstaats. Das halten wir für eine Aufgabe der kommenden vier Jahre.
Lassen Sie mich einen Punkt hinzufügen: Wir alle sind immer stolz darauf, daß wir unseren Rechtsstaat loben können und sagen können, er sei verteidigenswert und schützenswert, weil das Recht bekanntlich das Schwert des Schwachen und das geschriebene Recht seine Magna Charta sei und das Schutzsystem des Rechtsstaats dem Schwachen Recht und Gerechtigkeit garantiere.
Nur, meine Damen und Herren der Regierungsmehrheit, wenn Sie sich einmal umhorchen, was daraus nach Ihren zwölf Jahren Rechtspolitik geworden ist, dann werden Sie uns zustimmen müssen, daß auch von dieser Seite her der Druck auf die Erneuerung des sozialen Rechtsstaats ständig steigt.
Nehmen Sie nur den Umgang mit den Opfern von Verbrechen in unserem Staat. Man hat zwar jetzt endlich den ersten Schritt zum Täter-Opfer-Ausgleich gemacht. Wenn Sie aber sehen, was Opfer und Zeugen, seien es mißbrauchte Kinder oder vergewaltigte Frauen, heute noch an Quälereien, weniger bei der Polizei, sondern vor Gericht, erleiden müssen, dann wissen Sie genau: Wir werden unter voller Wahrung der Rechte der Beschuldigten hier mehr tun und auch ins Verfahrensrecht eingreifen müssen.
Wenn Sie dazunehmen, daß die Opferentschädigung, die ohnehin zu gering ist, jetzt auch noch auf die Sozialhilfe angerechnet wird und daß sich Öffentlichkeit und Justizsystem insgesamt mehr um die Täter als um die Opfer kümmern, dann ist klar: Auch hier hakt es in Ihrer Rechtspolitik. Und das müssen wir ändern.
Uns alle hat der Satz von Bärbel Bohley: „Wir haben Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen" deswegen so geärgert, Herr Marschewski, weil wir vermutet haben, diesem Satz liege ein gigantisches Mißverständnis von Rechtsstaat zugrunde, weil Rechtsstaat nach unserem Verständnis ohne Gerechtigkeit ja nicht funktionieren kann, keiner ist. Aber ist es nicht doch so, daß Bärbel Bohley den Finger auf eine blutende Wunde gelegt hat? Sie drückt damit immer noch das Lebensgefühl vieler Menschen im Osten aus, die sich außerordentlich stark überfahren fühlen!
Die Forderung, dies endlich zu verändern, richtet sich keineswegs nur an die neuen Länder selber, sondern geht auch uns hier im Bundestag an. Wir werden Beratungshilfe unterstützen und die Gesetze weiter vereinfachen müssen, wir werden mit Geduld und Hilfe auch den institutionellen Aufbau unterstützen müssen. Das muß sein.
Wenn es Kritik am Zustand des Rechtsstaats nur im Osten gäbe, wäre das nicht so schlimm. Aber wir haben im Westen unseres Landes mittlerweile eine vergleichbare Lage. „Man geht lieber zum Zahnarzt als vor Gericht" war der Ausspruch, den Sie, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, zitiert haben. Er ist die Überschrift über dem Bericht von einer Tagung, die jetzt in Triberg stattgefunden hat. Da haben sich lauter Praktiker, nicht irgendwelche Spinner getroffen. Die wissen, wovon sie reden.
Sie wissen ganz genau, daß nicht nur Beschleunigung und rechtsstaatliche Vereinfachung, sondern auch die Rechtsdurchsetzung in unserem Staate dringend wieder aufpoliert werden müssen.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben heute nicht erwähnt, daß Sie dabei sind — ich hoffe, mit der Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen der Union — die Dreistufigkeit in unserem Gerichtssystem wieder ernsthaft anzustreben.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir wollten sie schon seit Anfang der 70er Jahre. Wir fordern Sie auf, diesen Weg endlich zusammen mit uns einzuschlagen, wenn Sie es mit der Erneuerung des sozialen Rechtsstaats ernst meinen.
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Ich denke, ich sollte Ihnen am Ende meiner Ausführungen noch einmal den Satz von Gustav Heinemann in Erinnerung rufen, den ich bereits beim letzten Mal in diesem Hause zitiert habe. Heinemann hat in voller Erkenntnis des Wertes unseres Grundgesetzes und dessen, was Rechtspolitik bedeutet, darauf hingewiesen, daß nur derjenige bewahren kann, der zu verändern bereit ist.
Meine Bitte lautet: Es wäre klug, in diesem Haus mehr über die — positiven und negativen — Erfahrungen mit den Gesetzen der letzten Jahre und mehr über die Ziele zu reden, die wir im Zuge der Erneuerung des sozialen Rechtsstaats anstreben müssen, als ständig diese vordergründigen Schlammschlachten zu führen, an denen wahrscheinlich nicht einmal mehr die Kollegen, die sie betreiben, Spaß haben. Die Zuhörer an den Radios oder Fernsehschirmen, die haben ihn schon lange nicht mehr.
Herzlichen Dank.