Rede von
Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Sehr geehrte Herren! „Der Rechtsstaat ist", wie schon Gustav Radbruch festgestellt hat, „wie das tägliche Brot, wie das Wasser zum Trinken, wie die Luft zum Atmen, und das beste an der Demokratie ist gerade dieses, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern. " Man kann den letzten Satz aber mit Thomas Dehler auch umkehren und sagen, daß nur der Rechtsstaat geeignet ist, die Demokratie zu sichern.
Wenn das so ist — ich bin sicher, Sie werden mir darin alle zustimmen —, dann müssen wir alles tun, diesen Rechtsstaat als liberalen Rechtsstaat zu erhalten. Das heißt, daß nicht beliebig in vorhandene Strukturen eingegriffen werden darf und bereits
382 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger getroffene Entlastungsmaßnahmen auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden müssen.
In einem Rechtsstaat, meine Damen und Herren, ist die Justiz kein Luxus, den man je nach Haushaltslage ausbauen oder schrumpfen lassen kann. Nur wenn der Staat gewährleistet, daß der Bürger zu seinem Recht gelangt, daß die schützenden Förmlichkeiten des Strafprozesses dem Verdächtigen, für den die Unschuldsvermutung auch künftig streiten soll, ein faires Verfahren garantieren,
daß die Grund- und Freiheitsrechte notfalls auch gerichtlich durchgesetzt werden können, wird der Rechtsstaat von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert werden.
In allen ihren Zweigen muß die Justiz den Standard an rechtsstaatlichen Gewährleistungen wahren. Sie darf ihre Orientierung an der Gerechtigkeit nicht vorschnell einem überzogenen Effizienzdenken opfern. Auch bei einer angespannten Haushaltssituation darf der schmale Justizetat des Bundes und der Länder keine beliebige Verfügungsmasse sein. Er ist, gemessen an allen anderen Haushalten der öffentlichen Hände und an der Bedeutung der Justiz für die Rechtsstaatlichkeit, bescheiden genug.
Es ist Gegenstand der Koalitionsvereinbarung, daß wir Verfahrensvereinfachungen in allen Gerichtszweigen erreichen und die Gerichtsverfahren für die Bürger zeitlich überschaubar machen wollen. Es darf nicht sein, daß der Bürger, wie eine jüngste Umfrage ergab, lieber zum Zahnarzt als zur Justiz geht. Ich werde einen Entwurf vorlegen, der im Bußgeldverfahren alle Entlastungsmöglichkeiten ausschöpft und den Bagatellcharakter der Ordnungswidrigkeiten besser Rechnung trägt.
Im neuen Betreuungsrecht zeigt eine dreijährige Praxiserfahrung Vereinfachungsmöglichkeiten auf, die wir bei der bevorstehenden Novellierung nutzen werden. Auch im Zivil- und Strafverfahren werde ich gemeinsam mit den Ländern vertretbare Möglichkeiten von Verfahrensvereinfachungen und -entlastungen ausloten. Aber gerade hier dürfen wir die schützenden Förmlichkeiten des Verfahrens nicht in Frage stellen. Sie dienen dem in ein Strafverfahren verstrickten Bürger ebenso wie dem Tatopfer.
Demgegenüber sollten wir die Entlastungsmöglichkeiten nutzen, die den Rechtsschutz unangetastet lassen. Ich denke an den Ausbau der außergerichtlichen Streitbeilegung. Und ich freue mich, daß sich auch die Länder auf meinen Vorschlag hin entschlossen haben, das vorgerichtliche Streitschlichtungspotential auszubauen, besser zu koordinieren und auch der Öffentlichkeit besser bekanntzumachen.
Ebenso freue ich mich, daß die von meinem Ministerium veranlaßte Strukturanalyse der Rechtspflege
von den Ländern zunehmend praktisch umgesetzt wird. In einer Modernisierung der Geschäftsabläufe und der inneren Organisation der Gerichte und Staatsanwaltschaften sehe ich ein wesentliches und zudem rechtstaatliches Mittel, unsere Justiz auf die Herausforderungen auch des nächsten Jahrhunderts vorzubereiten.
Die Organisation der Justiz muß beweglicher, wirtschaftlicher und transparenter werden.
Man muß einfach sehen: Innerhalb der traditionellen Justizorganisationen sind die gesetzgeberischen Maßnahmen zur Verfahrensstraffung doch weitgehend ausgeschöpft, weil wir diesen Weg schon lange beschritten haben. Deshalb müssen wir auch über strukturelle Reformen verstärkt nachdenken, auch wenn sie nicht in allen Fällen einen kurzfristigen Ertrag erwarten lassen.
In der vergangenen Legislaturperiode haben Kriminalitätsbekämpfung und insbesondere auch das Strafrecht wie nie zuvor die politische Diskussion bestimmt. Es hat den Anschein, als ob diese nicht immer ganz sachlich geführte Diskussion in gleicher Weise auch in dieser Legislaturperiode fortgesetzt werden soll. Ich sehe das mit großer Skepsis. Denn jetzt geht es wirklich darum, daß die gerade erst in Kraft getretenen Gesetze angewandt und nicht schon wieder, zwei Wochen nach Inkrafttreten, geändert werden.
Gesetze müssen auf Dauer angelegt sein. Sie brauchen Zeit, um ihre Wirksamkeit entfalten zu können. Rechtssicherheit kann nur dort entstehen, wo es Verläßlichkeit der Geltung von Gesetzen gibt. Auch dies ist eine notwendige Bedingung unseres Rechtsstaates.
Auf der kriminalpolitischen Agenda stehen die Überprüfung und Harmonisierung von Strafrahmen sowie des Sanktionenkatalogs, und wir wollen eine Verbesserung des Opfer- und des Zeugenschutzes.
Vor allem aber müssen wir Prävention und Ursachenbekämpfung stärker ins Blickfeld rücken und dürfen uns nicht nur auf das repressive Strafrecht und auf seine abschreckende Kraft verlassen.
Ich bin sicher, daß eine solche Politik, die sich nicht auf die herkömmlichen Felder der Kriminalpolitik beschränken darf, besser als ständige Forderungen nach Strafverschärfungen in der Lage ist, für den Schutz der Menschen vor Kriminalität zu sorgen.
In diesem Zusammenhang möchte ich kurz eine Bilanz der deutschen Präsidentschaft in der Europäischen Union zum justitiellen Bereich ziehen.
Wir sind auf dem Weg zu einer funktionierenden dritten Säule von Maastricht in den letzten Wochen ein erhebliches Stück weitergekommen. Nach intensiven Beratungen ist es gelungen, einige Staaten zur
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Aufgabe ihrer traditionellen Vorbehalte gegenüber gemeinsamen Regelungen im schwierigen Bereich des Auslieferungsrechts zu veranlassen. Wir haben eine politische Einigung erzielt, die den Abschluß eines Teilübereinkommens im Frühjahr 1995 realistisch macht.
Damit wird die vereinfachte Auslieferung mit Zustimmung des Betroffenen — und das sind in Deutschland etwa 60 % aller Fälle — künftig zwischen allen Mitgliedstaaten sehr viel schneller funktionieren.
Ich bin auch froh, daß die europäischen Justiz- und Innenminister mit ihrem Zwischenbericht zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit einen wichtigen Beitrag zu einer europaweiten Gesamtstrategie geleistet haben. Neben den gerade auch hier wichtigen präventiven Maßnahmen brauchen wir ein europaweit gut funktionierendes Strafrecht. Wir müssen Lücken schließen, die in einigen Ländern bestehen, damit der Druck und die Verbreitung gerade dieses hetzerischen Propagandamaterials über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinaus erfolgreich bekämpft und dann auch bestraft werden können.
Die Bemühungen einiger Mitgliedstaaten, entdeckte Lücken auf Grund einer Bilanz, die wir in dieser Präsidentschaft erstellt haben, zu schließen, machen deutlich, daß die Bereitschaft besteht, ungeachtet aller nationalen Traditionen mitzuwirken und ein Verständnis zu entwickeln, das sich an den Bedürfnissen eines zusammenwachsenden rechtsstaatlichen Europas ausrichtet und zu einer Verbesserung gerade auch der strafrechtlichen Bestimmungen führen wird.
Daß dies ein wirklicher Fortschritt und keine Selbstverständlichkeit ist, wurde uns durch das jüngst in der Türkei gefällte Urteil gegen acht kurdische Parlamentarier drastisch vor Augen geführt. Ich denke, daß es gerade von seiten einer Justizministerin einer klaren Stellungnahme bedarf. Die Urteile sind wirklich mehr als ein unerfreuliches Zeichen. Wie auch immer sie im einzelnen juristisch begründet sein mögen, sie widersprechen in nicht hinnehmbarer Weise den rechtsstaatlichen Grundlagen einer demokratischen, parlamentarischen und freiheitlichen Ordnung und damit eklatant dem Wertesystem all jener europäischen Staaten, denen die Türkei sich zugehörig fühlt und mit denen sie verbunden sein möchte.
Gerade als das mit der Türkei historisch so ausgeprägt verbundene und befreundete Land können wir diese Urteil nicht kritiklos hinnehmen.
Auf dem Hintergrund unserer eigenen Geschichtserfahrung wissen gerade wir Deutsche sehr gut um die in die Gegenwart hineinreichenden Wirkungen eines historischen Traumas, das die Türkei mit dem Zerfall
des alttürkischen Osmanischen Reiches politisch und rechtlich noch heute prägt.
Es ist also nachvollziehbar, daß die Türkei die unbedingte Einheit des Staates im Sinne des kemalistischen Nationalismusprinzips als übergeordnete, mit einer Ewigkeitsgarantie ausgestattete Bestimmung in ihrer Verfassung verankert hat.
Auch wissen wir um die Bedeutung der parlamentarisch demokratischen Verfassung der türkischen Republik als Bollwerk gegen fundamentalistische, dem freiheitlichen westlichen Wertekanon grundsätzlich widersprechende Tendenzen. Wir wissen dies, und wir waren und wir sind bereit, dies auch zu würdigen.
Es darf jedoch nicht sein, daß das an sich berechtigte Festhalten an der Einheit des Staates als Grundlage für willkürliche Beschränkungen politischer Betätigung und als Basis für ein politisches Gesinnungsstrafrecht herangezogen wird.
Deshalb fordern wir, die auch in der türkischen Verfassung vorhandenen Verständnis- und Interpretationsspielräume auszuschöpfen und den Minderheitenproblemen mit politischen statt mit strafrechtlichen Mitteln zu begegnen.
Ich begrüße es, daß der Deutsche Bundestag morgen durch eine Erklärung der Bundestagspräsidentin zu diesen Urteilen Stellung nehmen wird.
Die Urteile haben die Bundesregierung veranlaßt, die Abschiebung von Kurden unverzüglich auszusetzen. Es wird intensiv geprüft werden müssen, ob und wann diese Aussetzung aufgehoben werden kann; denn die Urteile gegen die kurdischen Parlamentarier lassen die Menschenrechtssituation in der Türkei auf eine deutliche Weise in einem neuen, leider sehr trüben Licht erscheinen.
Es geht nicht, schon jetzt, heute und hier, die Feststellung zu treffen, daß die Aussetzung mit Sicherheit am 20. Januar wieder aufgehoben wird. Wir werden das sorgfältig und unter Abwägung aller Gesichtspunkte gemeinsam prüfen.
Asylbewerbern ein Bleiberecht zu geben, meine Damen und Herren, selbst wenn dies im Einzelfall zu Unrecht in Anspruch genommen werden mag, muß für uns letztlich besser sein, als einen einzigen abzuschieben, der in seinem Heimatland menschenrechtswidrig behandelt wird.
Auch der mit der Opposition vereinbarte Asylkompromiß befreit uns nicht davon, das Bleiberecht von Asylbewerbern mit großer Sorgfalt zu prüfen.
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Ich stehe zu dieser Verpflichtung sowie auch zu den anderen Vereinbarungen, die Gegenstand des Asylkompromisses geworden sind.
Wir brauchen und wollen eine Politik, die nicht nur das Asyl, sondern auch die Zuwanderung regelt, kontrolliert und begrenzt und Einbürgerungen erleichtert. Die deutsche Politik darf nicht allein auf die Restriktion der Zuwanderung beschränkt sein; denn sie ist der Humanität verpflichtet und muß die integrativen Elemente stärken, die für ein harmonisches Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft unabdingbar sind.
Sie können sicher sein, daß wir uns der Aufgabe stellen werden, die dazu in der Koalitionsvereinbarung getroffenen Vereinbarungen in Angriff zu nehmen und umzusetzen.
Vielen Dank.