Rede von
Joachim
Poß
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Aus meiner Fraktion wurden einzelne Vorschläge sehr kritisch — teilweise zu Recht — kommentiert. Das bezog sich aber nicht auf die Kommission und ihre Arbeit insgesamt.
Sie haben das als Trick benutzt, Herr Dr. Waigel, um vor der Wahl behaupten zu können, Sie könnten noch nicht so genau sagen, wie Ihre Steuerpolitik 1995/96 aussehen wird, weil Sie die Kommissionsergebnisse abwarten wollten. Sie wollten Ihre eigenen Pläne verstecken.
Das war der Hintergrund. Das Bareis-Gutachten war noch nicht einmal übergeben, da hatten Sie es schon verurteilt. So kann man mit Gutachtern nicht umgehen. Das war ein Mißbrauch des steuerrechtlichen Sachverstands der Kommission, ein mieses Spiel und ein lange geplantes Täuschungsmanöver gegenüber der Öffentlichkeit.
352 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Joachim Poß
Ich werfe Ihnen vor: Mit dem von Ihnen jetzt präsentierten Vorschlag wollen Sie sich an den Vorgaben des Verfassungsgerichts vorbeimogeln. Der von Ihnen selbst in einer Mischung aus Selbstgefälligkeit und Eitelkeit als „Quadratur des Kreises" gelobte Vorschlag erfüllt kein einziges der notwendigen oder von Ihnen selbst genannten Ziele. Zunächst ist festzuhalten: Sie wollen nur ein Einkommen bis zur Höhe von 12 000 DM freistellen. Dabei hat das Verfassungsgericht bereits für den Zeitraum von 1992 bis 1994 einen Betrag von 12 000 bis 14 000 DM für erforderlich gehalten.
Da nach Ansicht des Verfassungsgerichts das steuerfrei zu stellende Existenzminimum sich an dem Niveau der durchschnittlichen Sozialhilfeleistung zu orientieren hat, muß, wie auch die von Ihnen selbst eingesetzte Kommission festgestellt hat, für 1996 von einem Betrag von mindestens 13 000 DM ausgegangen werden.
Herr Waigel, Ihr Vorschlag führt dazu, daß die Bezieher kleiner Einkommen weiter in verfassungswidriger Weise zuviel Steuern zahlen sollen.
Sie treten heute morgen hier wie der Weihnachtsmann auf, der den kleinen Leuten eine Vorfreude verkünden kann, als würde er ihnen sozusagen nach eigenem Gusto ein Weihnachtsgeschenk offerieren. Dabei setzen Sie noch nicht einmal das Verfassungsgerichtsurteil um.
Das ist aber nicht alles, womit Sie die erstaunte Öffentlichkeit überrascht haben. Sie stellen auch eine tragende Säule unseres Einkommensteuerrechts in Frage. Sie wollen den Grundfreibetrag einfach abschaffen. Sie wollen statt dessen einen besonderen Abzugsbetrag einführen. Allerdings soll dieser Abzugsbetrag eine Steuerminderung nur bis zu einem Jahreseinkommen von 30 000 DM bewirken. Der von Ihnen vorgesehene schnelle Abbau des neuen Abzugsbetrags führt zu dem von Frau MatthäusMaier so genannten Buckeltarif mit dem KleineLeute-Berg.
Damit geben Sie faktisch den linear-progressiven Tarif auf. Die Grenzbelastung steigt für Einkommen bis 30 000 DM bzw. 60 000 DM um bis zu acht Prozentpunkte gegenüber dem geltenden Recht und sinkt für höhere Einkommen wieder.
Das heißt, zitiert nach einer für Sie vollkommen unverdächtigen Quelle, nämlich der „FAZ", in Zahlen: Der Fiskus behält bei Kleinverdienern von jeder zusätzlich verdienten Mark bis zu 33 Pfennig ein, während es bei Personen, die mehr verdienen, nur 25 Pfennig sind. Dieser Belastungsbuckel ist nicht zu rechtfertigen.
Die Versprechungen in den Wahlprogrammen von CDU/CSU und F.D.P. werden dadurch übrigens gebrochen.
In diesen Programmen hieß es nämlich: Es gibt keinen Anstieg der Grenzbelastung.
Einen derartigen Tarifverlauf mit willkürlichen und gleichheitswidrigen Progressionssprüngen hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Beschluß von 1992 ausdrücklich als verfassungswidrig ausgeschlossen. Der Vorsitzende Ihrer Kommission, Herr Bareis, hat dementsprechend auch nur ein vernichtendes Urteil für diesen Tarif übrig. Er erklärte: „Die Pläne sind noch schlimmer, als wir erwartet haben. Sie gehören zu den schlechtesten denkbaren Lösungen. " Und: „Ein solch verkrüppelter Tarif wäre bei der Expertenkommission unverzüglich im Papierkorb gelandet. "
Herr Waigel, Ihre „Quadratur des Kreises" ist in Wirklichkeit ein häßliches Viereck, und zwar ein Viereck aus vier Täuschungen: Sie besteuern weiterhin das Existenzminimum in verfassungswidriger Weise, Sie schaffen de facto den linear-progressiven Tarif ab, Sie erhöhen die Grenzbelastung für ca. 40 % = 8,6 Millionen Steuerbürger, und Sie können den Steuerausfall nicht, wie von Ihnen angegeben, auf 15 Milliarden DM begrenzen.
Gegenüber den bisherigen Ansätzen in der Steuerschätzung für 1996 führt Ihr Modell nämlich zu einem Steuerausfall von insgesamt fast 20 Milliarden DM. Der Grund für diesen höheren Steuerausfall liegt in der Tatsache, daß Sie unter dem Deckmantel einer Steuerfreistellung des Existenzminimums eine damit in keinem inhaltlichen Zusammenhang stehende Tarifsenkung für Spitzenverdiener vorschlagen. Diese verfassungsrechtlich überflüssige Tarifsenkung führt dazu, daß verheiratete Spitzenverdiener jährlich um 1 536 DM entlastet werden, während die verheirateten Normalverdiener eine Entlastung von jährlich nur 250 DM erhalten sollen.
Dies ist nur ein Sechstel der Entlastung der Spitzenverdiener. Daß ausgerechnet in dieser finanzpolitisch schwierigen Zeit, in der die Bundesregierung von allen Steuerpflichtigen einen Solidaritätszuschlag erhebt und das Verfassungsgebot der Steuerfreistellung des Existenzminimums unterlaufen will, der Bundesfinanzminister Geld für eine Steuersenkung auf Pump für Spitzenverdiener hat, ist ein Skandal für sich.
Eine der wenigen konkreten Festlegungen in den Koalitionsvereinbarungen lautet: Die Gewerbekapitalsteuer soll zum 1. Januar 1996 abgeschafft werden. Aber bis heute haben Sie, Herr Bundesfinanzminister, nicht dargelegt, wie Sie den hierdurch eintretenden Steuerausfall von 7 Milliarden DM jährlich — die
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Länder sagen 8 Milliarden DM — für die Städte und Gemeinden ausgleichen wollen.
Das soll nur der Anfang sein. Nach der Koalitionsvereinbarung will die Regierungskoalition die Gewerbesteuer sogar vollständig abschaffen. Das würde insgesamt einen Steuerausfall von 30 Milliarden DM bedeuten. Ich habe angesichts der großen Probleme in vielen unserer Städte, gerade in den strukturschwachen Städten, sehr großes Verständnis dafür, daß die Städte und Gemeinden diese Pläne ablehnen und sie als einen schwerwiegenden Angriff auf die kommunale Autonomie ansehen.
Daher frage ich Sie, Herr Finanzminister: Was ist Ihre Konzeption? Wie stellen Sie sich den vollen Ausgleich und den gleichwertigen Ersatz vor? Ist es der Vorschlag des Fraktionsvorsitzenden Schäuble, bei einem Wegfall der Gewerbesteuer die Lohn- und Einkommensteuer um 30 Milliarden DM jährlich anzuheben und ein Hebesatzrecht auf die Einkommensteuer für die Kommunen einzuführen? Herr Schäuble müßte wissen, daß sein Vorschlag im Klartext bedeutet: Eine Lohn- und Einkommensteuererhöhung um 30 Milliarden DM wäre eine Anhebung um rund 9 % und damit eine noch größere Steuererhöhung als jetzt der Solidaritätszuschlag mit 7,5 %.
Warum soll ausgerechnet die Masse der normal verdienenden Arbeitnehmer milliardenschwere Steuersenkungen für eine kleine Zahl gewinn- und kapitalstarker Großunternehmen finanzieren? Im übrigen hat das Bundesfinanzministerium, u. a. auf Fragen von mir, derartige Modelle in der Vergangenheit geprüft und verworfen.
Nachdem Herr Schäuble bereits im Frühjahr angekündigt hat, er arbeite an einem steuerpolitischen Konzept, das u. a. eine Erhöhung von Verbrauchsteuern, eine Anhebung der Vermögensteuer sowie die Einführung der Straßenbenutzungsgebühr vorsieht, muß man doch nach dem erneuten Vorstoß von Herrn Schäuble ernsthaft fragen, wer denn nun die Steuerpolitik innerhalb der Koalition bestimmt. Finanzminister Waigel, der sich in immer chaotischeren Einzelregelungen verfängt, ist offensichtlich nicht in der Lage, sich gegen die Pläne von Herrn Schäuble zu wehren.
Ich fordere daher den Herrn Bundeskanzler auf, morgen hier in der Debatte klipp und klar zu sagen, ob seine Zusagen gegenüber den Städten und Gemeinden, daß das Gewerbesteueraufkommen erhalten und die kommunale Finanzautonomie gewahrt bleiben, noch gelten.
Der Bundeskanzler muß hier verbindlich erklären, ob die Bundesregierung die Lohn- und Einkommensteuer oder die Umsatzsteuer zur Finanzierung einer Senkung der Gewerbesteuer erhöhen will.
Meine Damen und Herren von der Koalition, jetzt nach der Wahl können Sie doch offen und ehrlich sagen, was die Koalition in der Steuerpolitik tatsächlich will — wenn Sie es wissen.
— Sie wollen die Landtagswahlen in Hessen abwarten; den Eindruck habe ich auch.
Unser Steuerrecht droht im Chaos zu versinken. Die meisten Steuerpflichtigen verstehen die Steuergesetze nicht mehr. Selbst Steuerbeamte und Steuerberater sind zunehmend nicht mehr in der Lage, das steuerrechtliche Regelungsdickicht zu durchschauen. Obwohl die Bundesregierung von Steuervereinfachung redet, leistet sie keine eigenen Beiträge dazu. Sie kompliziert das Steuerrecht ständig weiter. Man hatte in der letzten Periode bei der Schaffung verschiedener Einkommensbegriffe usw. nicht selten den Eindruck, als seien im Bundesfinanzministerium auch die letzten steuersystematischen Sicherungen durchgebrannt.
Die von Steuerrechtler Professor Lang vorgenommene Bewertung „Die Chaoten machen weiter" hat sich also leider bestätigt. Denn auch die in den von Herrn Waigel vorgelegten sogenannten 20 Punkten zur Steuervereinfachung enthaltenen Vorschläge sind nicht dazu geeignet, zu einer tatsächlichen Steuervereinfachung beizutragen. Die Vorschläge sind Punkt für Punkt ein Flop.
Die SPD dagegen will das Steuerrecht in wichtigen Bereichen materiell vereinfachen und nicht nur an Symptomen herumkurieren. Frau Matthäus-Maier hat das am Beispiel des Familienlastenausgleichs erläutert; ich kann mir das sparen. Das führt dazu, daß Tausende von Stellen frei werden, die sinnvoller eingesetzt werden können. Auf dieser Ebene muß man reden. Herr Solms hat ja ein solches Angebot hier formuliert.
Bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht ist es ganz ähnlich wie bei der Steuervereinfachung: Die Bundesregierung redet zwar davon, aber wenn es ernst wird, tut sie nichts. Statt die Steuerhinterziehung nur als Kavaliersdelikt zu behandeln, muß die Bundesregierung endlich ihre Grundeinstellung ändern und konkrete Maßnahmen ergreifen.
Nur so kann die Steuerhinterziehung als Diebstahl an der Allgemeinheit geächtet werden. Zur wirksamen Bekämpfung der Steuerflucht ist es auch erforderlich, der Verlagerung von Steuern ins Ausland entgegenzuwirken und auf europäischer Ebene entschlossen
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und glaubwürdig eine Harmonisierung der Zinsbesteuerung voranzutreiben.