Keine Vorschußlorbeeren! — Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir Redner stimmen heute alle darin überein und jeder beginnt seine Rede damit, daß der Rechtsstaat eine der größten Errungenschaften der letzten 200 Jahre ist, weil er die Freiheit des einzelnen am ehesten gewährleistet. Wir stimmen auch darin überein, daß die Justiz im Rechtsstaat eine entscheidende Rolle spielt, weil sie dem Bürger aus dem Gewirr der Gesetze zu seinem Recht verhelfen muß.
Frau Ministerin, ich habe mit Interesse gehört, daß Sie gesagt haben, Sie wollten sich mit uns zusammen Gedanken darüber machen, wie es gelingen könnte, die Belastung der Justiz, die zweifellos vorhanden ist, abzubauen. In der Tat haben die Justizminister der Länder Ende November dieses Jahres einstimmig beschlossen, dem Bundestag und der Bundesregierung Vorschläge im Hinblick auf Abbau, auf Straffung und Verbesserung des Prozeßrechts zu machen. Wir wissen, daß dies die Rechtspolitiker natürlich nicht in Begeisterung ausbrechen läßt, lieber Herr Kleinert. Wir haben erst in der vergangenen Legislaturperiode mit großer Mühe das Justizentlastungsgesetz durch die parlamentarischen Beratungen gebracht. Wir wissen auch, daß bei allzu starker Straffung und allzu großer Beschleunigung des jeweiligen Prozesses Rechte des einzelnen nicht so geachtet werden können — jedenfalls besteht diese Gefahr —, wie wenn der Prozeß eine gewisse Zeit lang dauern kann.
Auf der anderen Seite wissen wir aber auch, daß viele Rechtsuchende sehr lange, oft jahrelang, auf die richtige richterliche Entscheidung warten müssen. Dies ist mit Sicherheit ein untragbarer Zustand. Der rechtsuchende Bürger verliert so das Vertrauen in die Justiz. Daher kann es schon passieren, daß eine Überschrift in eine Zeitung gesetzt wird, wonach es
schöner ist, zum Zahnarzt zu gehen als zur Justiz, obwohl dabei sicherlich auch andere Momente eine Rolle spielen mögen.
Wir müssen — das ist richtig — das Prozeßrecht gemeinsam erneut in dieser Legislaturperiode anpakken. Wir müssen das Prozeßrecht sowohl im Strafprozeß als auch im Zivilprozeß neu durchleuchten und abklopfen, ob wir nicht da und dort Erleichterungen, Straffungen, Beschleunigungen durchführen können.
Es wird auch darauf ankommen, daß wir im materiellen Recht nicht erneut den Gerichten zu viele Aufgaben zuweisen. Wir haben in der letzten Legislaturperiode das Insolvenzrecht neu geschaffen. Das Insolvenzrecht wird zweifellos — so notwendig es ist — zu einer neuen Belastung der Richter und der Gerichte führen. Das gleiche gilt für das Betreuungsrecht, das wir in der vorletzten Legislaturperiode bereits beschlossen haben und das vor drei Jahren in Kraft getreten ist; es hat natürlich ebenfalls zu einer großen Belastung der Gerichte geführt.
Es ist auch nicht einzusehen, daß beispielsweise dann, wenn die Betreuung ganz offensichtlich notwendig ist, eigens eine Verfahrensbetreuung angeordnet werden muß oder daß wir dann, wenn die Gebrechlichkeit ganz offensichtlich ist, ausgiebige gerichtliche Gutachten brauchen, obwohl eine einfache fachärztliche Bestätigung ausreichen würde.
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ungefähr 500 000 Personen, die derzeit einen Betreuer haben. Diese Zahl wird wachsen und damit natürlich zweifellos die Belastung der Gerichte. Das erfüllt uns mit Sorge. Das heißt aber nicht, daß wir das Betreuungsrecht nicht für eine im Prinzip gute gesetzliche Maßnahme halten, gerade angesichts der Altersstruktur unserer Gesellschaft. Es ist gut und richtig, daß die älteren Bürger wissen, daß ihnen ihre Rechte nicht einfach genommen werden können, sondern daß dazu jeweils ein richterlicher Beschluß und ein gewisses Verfahren notwendig sind.
Die Fachleute sagen uns aber, daß einige Regelungen nicht praktikabel genug sind. Wir müssen darangehen, gerade beim Betreuungsrecht, weil uns dies ständig in der Diskussion vorgehalten wird, über Möglichkeiten nachzudenken, um Regelungen zu verbessern. Ich meine überhaupt, daß wir vielleicht in der jetzigen Legislaturperiode mehr darauf achten müssen — auch unter der Überschrift schlanker Staat —, daß wir eher Regelungen streichen als neue fassen.
Ein weiteres Feld ist uns bereits jetzt vorgegeben. Wir haben natürlich durch die mögliche Schaffung der kleinen AG noch nicht die Notwendigkeit der Transparenz der AG-Organe geregelt.
— Aktiengesellschaft, Herr Fischer, falls Sie das nicht wissen.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 389
Norbert Geis
— Na gut! Ich nehme ja gern Ihren Zwischenruf entgegen, um Ihnen klarzumachen, was wir unter AG verstehen. AG heißt Aktiengesellschaft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen eine größere Transparenz in den Vorstandsetagen. Wir brauchen eine Regelung, die die Interessenkollision in den Vorstandsetagen verhindert. Aber wir müssen auch dafür sorgen, daß nicht zu viele Vorstandsmitglieder in dem einen und dem anderen Unternehmen im Vorstand sitzen.
Allerdings beteiligen wir uns nicht an der Polemik gegen die Banken.
Die Banken sind notwendig, und sie werden immer dann gerufen, wenn die Not am größten ist. Sie sind notwendig auch für Investitionen. Wir beteiligen uns nicht an dieser Polemik gegen die Banken.
Wir sind der Auffassung, daß es richtig ist, wenn die Banken auch in den einzelnen Aufsichtsräten sitzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein weiteres wichtiges Thema in der Rechtspolitik wird das Kindschaftsrecht sein. Hier haben wir ja bereits Gesetzentwürfe vorliegen, die in der letzten Legislaturperiode sogar schon der Bundesregierung vorgelegen haben.
Hier ist eine Vorbemerkung notwendig: Wir werden keiner Gesetzgebung, Frau Ministerin, zustimmen, die auch nur im entferntesten die Familien schwächen wird. Wir haben im Wahlkampf verkündet, daß wir die Familien stärken wollen. Wir werden dies auch in der kommenden Legislaturperiode halten. Das steht auch im Regierungsprogramm.
Es besteht ein langer Kampf gegen die Familien. Ich erinnere an den 2. Familienbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 1975, in dem den Eltern vorgeworfen wird, sie seien Ungelernte, sie seien Erziehungsamateure,
und man müsse ihnen bei der Kindererziehung helfen; ja, man müsse ihnen die Kindererziehung abnehmen.
Wir meinen, daß wir diesem späten Kulturkampf endlich ein Ende machen sollten.
Das heißt nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, Frau Ministerin, daß wir uns gegen notwendige Neuerungen sperren werden, was das Kindschaftsrecht angeht. Natürlich können wir uns Gedanken darüber machen, ob es richtig ist, daß im Falle der Scheidung die elterliche Sorge nur auf einen Elternteil bezogen werden soll, oder ob es nicht besser wäre, zunächst einmal diese elterliche Sorge beiden Elternteilen zu belassen; im Sinne des Kindes wäre dies ganz sicher. Darüber können wir reden.
Wir können auch darüber reden, wie wir es beim nichtehelichen Kind halten, etwa ob dem Vater nicht stärkere Rechte einzuräumen sind. Wir wissen ja, daß es darüber eine breite Diskussion im Land gibt. Der Vater hat bislang überhaupt keine Rechte. Die elterliche Sorge steht allein der Mutter zu.
Sicher wäre eine Regelung richtig, daß dem Vater dann die elterliche Sorge übertragen wird, wenn die Mutter aus irgendeinem Grund ausfällt und wenn dies im Interesse des Kindes ist. Das gilt auch für das Recht des Vaters auf Umgang mit seinem nichtehelichen Kind, obgleich auch hier ganz brisante Fragen auftauchen, nämlich wie es ist, wenn das Kind in einem Familienverband ist und die Mutter partout nichts mehr mit dem Vater zu tun haben will.
Hier müssen wir ganz vorsichtig vorgehen. Hier dürfen wir nicht Strukturen durch gesetzliche Regelungen — nur, weil wir meinen, das müßte unbedingt gemacht werden — zerstören. Da werden wir entsprechend reagieren. Wir werden in der Beratung darauf achten, eine gute Regelung zu finden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ob es jemandem paßt oder nicht paßt: Wer über das Kindschaftsrecht nachdenkt, kann natürlich nicht am Recht der ungeborenen Kinder vorbeigehen; zumal dies derzeit rechtspolitisch höchste Brisanz hat, wie Sie alle wissen. Ich glaube aber, daß die geplante Fristenregelung, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, den jetzigen bedauernswerten Zustand, den wir mit 300 000 Abtreibungen im Jahr haben, nur noch mehr zementieren wird.
Nach wie vor ist eine der größten Aufgaben, die wir in der Rechtspolitik haben — da stimmen wir mit den Innenpolitikern überein —, die Sorge um die innere Sicherheit. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz war ein erster Schritt, und so haben wir es immer gesehen.
Die Sorge des Deutschen Anwaltsvereins, wir hätten mit der Verbesserung des beschleunigten Verfahrens den Rechtsstaat gefährdet, teilen wir nicht.
Wir teilen auch nicht die Sorge eines Hamburger Juraprofessors, der gegen das Verbrechensbekämpfungsgesetz Verfassungsbeschwerde mit der Begründung eingereicht hat, es handele sich hier um einen Verfassungsumsturz. Wenn Professoren in solche Hysterie verfallen,
390 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Norbert Geis
dann darf man sich nicht wundern, daß sich Studenten ihr Examenswissen nicht in der Uni, sondern bei Repetitoren holen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Rahmen der inneren Sicherheit spielt natürlich der Kampf gegen die Mafia eine entscheidende Rolle. Die Mafia agiert international. Deutschland ist für sie ein hervorragender Standort.
Sie ist deshalb ein hervorragender Standort, weil wir eine ausgezeichnete Infrastruktur haben. — Mein lieber Herr, wir haben in Aschaffenburg immerhin die höchste Aufklärungsrate in der ganzen Bundesrepublik Deutschland, nämlich 67 %.
Wir liegen weit vor Hessen.
Aber das wird sich in Kürze ändern, wenn Herr Kanther Ministerpräsident in Hessen wird.
Ohne internationale Zusammenarbeit wird diese Gefahr für unsere Zivilisation kaum zu bannen sein. Deswegen ist es notwendig, daß wir unsere Ermittlungsorgane in die Lage versetzen, die die Ermittlungsorgane in anderen Ländern haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der F.D.P., auch ich würde lieber in einem Staat ohne technische Überwachung von Wohnraum oder ohne den verdeckten Ermittler leben. Aber ich meine, man darf um rechtspolitischer Ideale willen nicht die Sicherheit aufs Spiel setzen.
Die Weimarer Republik ist nicht zugrunde gegangen, weil die Deutschen große Sehnsucht nach Hitler gehabt hätten, sondern weil der damalige Staat nicht in der Lage gewesen ist, die gestellten Aufgaben zu lösen. An der Ohnmacht des Staates sind die Menschen verzweifelt. Deswegen kam es zur Diktatur.
Daß die Kriminalität und insbesondere die organisierte Kriminalität heute in der Tat eine Gefahr darstellen, können und dürfen wir nicht verschweigen. Wir müssen dies sehen und müssen entsprechend reagieren. Wer das nicht tut, der handelt nach meiner Auffassung verantwortungslos.
Natürlich geht es uns dabei auch um das Abschöpfen der Gewinne der Mafia. Auch hier läuft allerdings nichts ohne internationale Zusammenarbeit. Was hilft uns alle berechtigte Kritik am Geldwäschegesetz, und was hilft uns das schönste Geldwäschegesetz, wenn die Verbrecher ihr Kapital ins Ausland transferieren und die Ursprungskriminalität bei uns verbleibt?
Nach wie vor stehen wir fassungslos vor der Gewaltkriminalität vor allem bei Jugendlichen.
Wir erschrecken bei manchem jungen Täter über dessen Grausamkeit und Unempfindlichkeit, mit denen er die Taten begeht. Die Frage, woher dieser Vandalismus an manchen unserer Schulen kommt, ist sehr schnell mit der Behauptung beantwortet, es seien die schlechten sozialen Verhältnisse.
Wenn wir aber genau hinblicken und wenn wir vor allen Dingen die ausländerfeindlichen Taten betrachten, dann sehen wir, daß die Täter aus sehr guten Familienverhältnissen gekommen sind, jedenfalls nach unseren Maßstäben.
Ich glaube auch nicht, daß die irrationale Gewaltbereitschaft, die zweifellos da ist, auf ein Aufflackern des Nationalsozialismus zurückgeführt werden kann, was immer wieder behauptet wird. Es mag viele Ursachen haben.